Musil-Forum: Band 34 2015/2016 9783110520453, 9783110518733

The thematic focus of Volume 34 of the Musil Forum is "Robert Musil and the First World War". The essays explo

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Musil-Forum: Band 34 2015/2016
 9783110520453, 9783110518733

Table of contents :
Inhalt
Themenschwerpunkt: »Robert Musil und der Erste Weltkrieg«
Einleitung
Hysteron proteron. Zur Verschränkung von Krieg und Roman im Mann ohne Eigenschaften
Literarische Ethnologie. Moderne, Primitivismus und der Erste Weltkrieg
Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text. Textgenetische Studien zu Musils Nachlass
Erfahrung und Verarbeitung des ErstenWeltkriegs bei Robert Musil und Ernst Jünger
Eine »Reihe wundersamer Erlebnisse«. Robert Musil im Ersten Weltkrieg: Vom August 1914 über das ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ bis zur »österlichen Weltstimmung«
Musils bleibende Bedeutung als Militärkritiker und Anti-Bellizist
In der Sperrgewalt der Fackel?. Karl Kraus, Robert Musil und die Tiroler Soldaten-Zeitung
Das Italienbild Robert Musils in seiner Kriegserfahrung
»Grenzdienst«. Literatur aus der deutschen Schweiz und der Erste Weltkrieg
Abhandlungen
»[Z]war Freund des tschechischen Volkes aber durchaus nicht seiner Politik«. Robert Musil und die Tschechoslowakei
Wie kann man über Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm sprechen?
Personelle Veränderungen im Vorstand der IRMG
Zur Verleihung des Ehrendoktorats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt an Karl Corino. (5. Dezember 2014)
Dankesrede
Archiv/Miszellen
Fortgesetzte Nachlese. Neu aufgefundene Korrespondenz Robert Musils
Zwei Briefe von Martha Musil an Ignazio Silone in der Fondazione Turati (Florenz)
Das Zen des Übersetzens. Karl Corinos Biographie zu Robert Musil auf Japanisch
Rezensionen
Karen Brüning: Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk
Karl Corino: Begegnung dreier Berggipfel
Karl Corino: Musil in Italien
Walter Fanta: Krieg.Wahn. Sex. Liebe
Maximilian Häusler: Die Ethik des satirischen Schreibens
Frédéric Joly: Robert Musil
Werner Michler: Kulturen der Gattung
Sergej Rickenbacher:Wissen um Stimmung
Cüneyt Arslan: Der Mann ohne Eigenschaften und die wissenschaftlicheWeltauffassung
Sven Brömsel u. a. (Hg.):Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne
Stijn de Cauwer: A Diagnosis of Modern Life
Simone Gottschlich-Kempf: Identitätsbalance im Roman der Moderne
Boris Previši´c: Literatur topographiert
Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals
Corinna Sigmund: Schreibbegehren
Sören Stange: Unentscheidbarkeiten
Norbert Christian Wolf: Eine Triumphpforte österreichischer Kunst
Kai Evers: Violent Modernists
Michael Gassenmeier: Robert Musils Roman
Benjamin Gittel: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation
Sandra Janßen: Phantasmen
Robert Musil/Nicolas Mahler: Der Mann ohne Eigenschaften
Hans-Georg Pott: Kontingenz und Gefühl
Silvia Tiedtke: Poetik des Entzugs
Wilhelm Voßkamp u. a. (Hg.): Möglichkeitsdenken
Werner Frizen: Robert Musil
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Siglen
Redaktioneller Hinweis
Register

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Musil-Forum

Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne

Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert Christian Wolf und Rosmarie Zeller

Band 34 · 2015/2016

De Gruyter

Redaktion: Harald Gschwandtner Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Klaus Amann (Klagenfurt), Karl Corino (Tübingen), Walter Fanta (Klagenfurt), Christoph Hoffmann (Luzern), Alexander Honold (Basel), Inka Mülder-Bach (München), Birgit Nübel (Hannover), Wolfgang Riedel (Würzburg), Peter Utz (Lausanne), Karl Wagner (Zürich/Wien)

ISBN 978-3-11-051873-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052045-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052017-0 ISSN 1016-1333 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Themenschwerpunkt: »Robert Musil und der Erste Weltkrieg« Norbert Christian Wolf: Einleitung . . . . . . . . . . .

1

Alexander Honold: Hysteron proteron. Zur Verschränkung von Krieg und Roman im Mann ohne Eigenschaften . . .

5

Bernd Hüppauf: Literarische Ethnologie. Moderne, Primitivismus und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . .

30

Rosmarie Zeller: Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text. Textgenetische Studien zu Musils Nachlass

59

Helmuth Kiesel: Erfahrung und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs bei Robert Musil und Ernst Jünger . . . . . .

79

Oliver Pfohlmann: Eine »Reihe wundersamer Erlebnisse«. Robert Musil im Ersten Weltkrieg: Vom August 1914 über das ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ bis zur »österlichen Weltstimmung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

Walter Fanta: Musils bleibende Bedeutung als Militärkritiker und Anti-Bellizist . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Harald Gschwandtner: In der Sperrgewalt der Fackel? Karl Kraus, Robert Musil und die Tiroler Soldaten-Zeitung

157

Luigi Reitani: Das Italienbild Robert Musils in seiner Kriegserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Dominik Müller: »Grenzdienst«. Literatur aus der deutschen Schweiz und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . .

186

Abhandlungen Karl Corino: »[Z]war Freund des tschechischen Volkes aber durchaus nicht seiner Politik«. Robert Musil und die Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210

VI

Inhalt

Christoph König: Wie kann man über Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm sprechen? . . . . . . . . . . . . . . . .

236

Internationale Robert-Musil-Gesellschaft Personelle Veränderungen im Vorstand der IRMG

. . . . . .

248

Klaus Amann: Zur Verleihung des Ehrendoktorats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt an Karl Corino (5. Dezember 2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

Karl Corino: Dankesrede . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254

Archiv/Miszellen Karl Corino: Fortgesetzte Nachlese. Neu aufgefundene Korrespondenz Robert Musils . . . . . . . . . . . . . .

260

Arturo Larcati: Zwei Briefe von Martha Musil an Ignazio Silone in der Fondazione Turati (Florenz) . . . . . . . .

275

Oliver Pfohlmann: Das Zen des Übersetzens. Karl Corinos Biographie zu Robert Musil auf Japanisch . . . . . . . .

286

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288

Karen Brüning: Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk (Silvia Bonacchi) . . . . . . . . . . . . . . Karl Corino: Begegnung dreier Berggipfel (Rosmarie Zeller) . . . . Karl Corino: Musil in Italien (Aldo Venturelli) . . . . . . . . . . Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe (Jutta Heinz) . . . . . . . Maximilian Häusler: Die Ethik des satirischen Schreibens (Christian van der Steeg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frédéric Joly: Robert Musil (Rosmarie Zeller) . . . . . . . . . . Werner Michler: Kulturen der Gattung (Peer Trilcke) . . . . . . . Sergej Rickenbacher: Wissen um Stimmung (Fred Lönker) . . . . . Cüneyt Arslan: Der Mann ohne Eigenschaften und die wissenschaftliche Weltauffassung (Tobias Gnüchtel) . . . . . . . . . . . Sven Brömsel u. a. (Hg.): Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne (Hans-Georg Pott) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stijn de Cauwer: A Diagnosis of Modern Life (David Wachter) . . . Simone Gottschlich-Kempf: Identitätsbalance im Roman der Moderne (Elisa Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288 292 293 299 303 306 311 317 323 330 334 336

Inhalt

VII

Boris Previši´c: Literatur topographiert (Thomas Traupmann). . . . Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals (Harald Gschwandtner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corinna Sigmund: Schreibbegehren (Cornelia Ortlieb) . . . . . . Sören Stange: Unentscheidbarkeiten (Andrea Albrecht) . . . . . . Norbert Christian Wolf: Eine Triumphpforte österreichischer Kunst (Elsbeth Dangel-Pelloquin) . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Evers: Violent Modernists (Mareike Schildmann) . . . . . . . Michael Gassenmeier: Robert Musils Roman (Walter Fanta) . . . . Benjamin Gittel: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation (Kevin Mulligan) . . . . . . . . . . . . . . . . Sandra Janßen: Phantasmen (Florence Vatan) . . . . . . . . . . Robert Musil/Nicolas Mahler: Der Mann ohne Eigenschaften (Giovanni Remonato) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Georg Pott: Kontingenz und Gefühl (Florens Schwarzwälder) Silvia Tiedtke: Poetik des Entzugs (Robert Krause) . . . . . . . . Wilhelm Voßkamp u. a. (Hg.): Möglichkeitsdenken (Caspar Battegay) Werner Frizen: Robert Musil (Karl Corino) . . . . . . . . . . .

340

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

348 352 362 367 372 378 380 382 388 392 396 401 404

. . . . . . . . .

407

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

410

Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

412

Siglen

Norbert Christian Wolf

Einleitung Zum Zentenarium des Beginns des Ersten Weltkriegs wurden in den kulturwissenschaftlichen Fächern zahllose Publikationen vorgelegt, deren disziplinäres, thematisches und methodologisches Spektrum für einen einzelnen Beobachter längst unüberschaubar geworden ist. Daneben haben 2014 auch verschiedenste Konferenzen, Symposien und Fachtagungen stattgefunden, die Beginn und Verlauf des europäischen Zivilisationsbruches in den Jahren 1914–1918 aus den unterschiedlichsten Perspektiven in den Blick nahmen und deren Ergebnisse danach in Form von Sammelbänden veröffentlicht wurden.1 Dass die mehr als vier Kriegsjahre auch für Leben und Werk Robert Musils eine entscheidende Rolle gespielt haben, muss nach mehreren maßgeblichen Publikationen in den vergangenen Jahrzehnten2 mittlerweile nicht mehr betont werden. Gleichwohl herrscht nach wie vor große Uneinigkeit über die Deutung und Bewertung von Musils Aktivitäten in dieser Zeit sowie über seine rückblickende Haltung zum Krieg in den Nachkriegsjahren, die sich aus heutiger Sicht nur als Zwischenkriegszeit erweisen. Die wohl prononcierteste und in vielen Punkten bedenkenswerte Anklageschrift hat Markus Joch 2015 unter dem sarkastisch-suggestiven Titel Helden der Biegsamkeit veröffentlicht, worin er Musil gleich eingangs als »namhaftesten Kriegsenthusiasten Österreichs« apostrophiert (so als hätte der Autor in Sachen Kriegsbegeisterung seinerzeit sicherlich ›namhaftere‹ Kollegen aus der Habsburgermonarchie wie Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke in den Schatten gestellt, vom heute international ›namhaftesten‹ Schriftsteller Franz Kafka einmal zu schweigen).3 Mit Blick auf Musils lange Zeit unterbelichtete Redakteurstätigkeit bei der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und der Heimat in den Jahren 1916–1918, der Regina Schaunig ein ganzes Buch 1

2

3

Pars pro toto sei hier genannt: Vahidin Preljevi´c, Clemens Ruthner (Hg.): »The Long Shots of Sarajevo, 1914« – Ereignis, Erzählung, Gedächtnis, Politik. Tübingen 2016 (= Kultur – Herrschaft – Differenz, Bd. 22). Einen Überblick gibt jetzt Alexander Honold: Krieg, in: Birgit Nübel, Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 636–642. Zur biographischen Bedeutung der Jahre 1914–1918 für Musil sowie zur Funktion des Krieges in Musils literarischen Texten vgl. die Literaturhinweise ebd., S. 642; zusätzlich neuerdings: Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Klagenfurt 2015, S. 49–195; dazu die Rezension im vorliegenden Band. Markus Joch: Helden der Biegsamkeit. Was trieb Thomas Mann und Robert Musil zur Kriegsapologetik, mit welchen Folgen?, in: literaturkritik.de 4 (April 2015), S. 1–22, hier S. 1 (http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20414, aufgerufen am 4. 10. 2015).

2

Norbert Christian Wolf

gewidmet hat,4 auf das sich Joch stützt, erklärt er den Autor schlechterdings zum »Politstrategen«5 – ohne sich um die schwierigen philologischen Fragen nach zweifelhafter Zuschreibung und problematischem Status der anonym erschienenen Texte zu kümmern, die bisher noch keineswegs überzeugend geklärt worden sind. Zwar betont Joch wohl zu Recht, dass der »Habitus des Reserveoffiziers« auf Musil »wie eine Schwerkraft« gewirkt und »einem seit fünf Jahren auf freie Schriftstellerei bedachten Akteur die Rückkehr zur Unterordnung« erleichtert habe.6 Doch reflektiert er in keiner Weise, welche Rolle dabei der habituellen Prägung durch die Militär-Realschulen in Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen (Hranice) sowie die Technische Militärakademie Wien zukommt: Ist die anfängliche und wohl bis 1918 beibehaltene Kriegsbejahung Musils aber so überraschend bei einem Menschen, der über Jahre hinweg im Geist des Militärs erzogen worden ist? Ist es nicht vielmehr bemerkenswert, dass er sich davon später – wenn auch nicht ohne sichtbare Verrenkungen – befreien konnte, was sich wohl weniger in (unterschiedlich kolportierten) Verhaltensweisen niederschlägt, sondern in privaten Notizen und vor allem in hochreflektierten essayistischen und literarischen Texten, die sich mit den Kriegsursachen auf tiefschürfende und das eigene Fehlverhalten 1914 keineswegs verdrängende Weise auseinandersetzen? Ist Musils Ablehnung bestimmter emphatischer Spielarten des Pazifismus umstandslos gleichzusetzen mit so idiosynkratischer wie unreflektierter »Pazifisten-Allergie«,7 die – so Joch weiter – einer generellen und unterschiedslosen »Konstante« in Musils Leben entspringe: nämlich der schlichten »Überzeugung, Pazifismus sei von Übel«?8 Und wenn er eine solche tatsächlich niemals überwinden hätte können – wäre das dann gleichzusetzen mit moralischer »Biegsamkeit«9 oder nicht vielmehr mit einer bei Musil überraschenden und zugleich verstörenden Sturheit? Geht es bei Musils rückblickenden Erklärungsversuchen in Essays wie Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, worin nicht allein die »vor der Entente palmwedelnden Pazifisten« (GW II, S. 1061) beiläufig ironisiert werden, tatsächlich um eine herkömmliche »moralische«10 Bewertung – oder nicht vielmehr um eine anthropologische, ideologische und politische ›Grundlagenforschung‹ im Medium des literarischen Textes, zu der man ganz unterschiedlich stehen mag, die sich von moralischen Er4 5 6 7 8

9 10

Vgl. Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Klagenfurt, Wien 2014; dazu die Rezension im vorliegenden Band. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 13. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 15. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 3 u. 18. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 13. Vgl. dagegen etwa Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011, S. 620–635, 1064–1078, 1102–1107 u. 1114–1123. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 15 u. ö. So Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 14.

Einleitung

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wägungen aber kategorial unterscheidet? Diskussionswürdig ist auch Jochs These, Musils angebliches antipazifistisches »Ressentiment«11 habe einen objektiven Blick auf manche Kollegen – insbesondere auf Heinrich Mann – und ihr pazifistisches Engagement verunmöglicht und längerfristig dazu geführt, dass bei Musil »die Spätfolgen des Kriegsengagements gravierender«12 seien als bei Thomas Mann: Sie – und nicht literaturpolitische Gründe – hätten letztlich verhindert, dass er sich 1933 von dem im Deutschen Reich an die Macht gelangten Nationalsozialismus auch öffentlich distanzierte.13 Auch um solche und weitere Fragen zu diskutieren, hat die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft eine von 8. bis 9. Mai 2014 am Literaturhaus München veranstaltete Tagung dem Thema »Robert Musil und der Erste Weltkrieg« gewidmet. Das Symposium bildete zugleich das wissenschaftliche Begleitprogramm zur vielbeachteten Ausstellung »Der Gesang des Todes«. Robert Musil und der Erste Weltkrieg,14 die von Februar bis Juni 2014 ebendort und anschließend auch im Südtiroler Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte (Schloss Tirol), im Literaturarchiv Salzburg sowie im Stifterhaus in Linz zu sehen war. Während die von Reinhard G. Wittmann und Karolina Kühn unter Mithilfe von Karl Corino kuratierte Ausstellung eher die historisch-biographische Seite des Themas fokussierte und die Stationen von Musils Tätigkeit als k. u. k. Offizier im Ersten Weltkrieg in gelungener Weise mit Bildern, Texten und Schaustücken vor die Augen der Besucherinnen und Besucher brachte, war das Programm des von Walter Fanta organisierten Symposiums anders ausgerichtet: Über die biographische Rekonstruktion hinaus sollten sozial-, mentalitätsund wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzungen bzw. literatur- und kulturhistorische sowie nicht zuletzt auch werkgeschichtliche Kontexte erarbeitet werden. Ein Ziel war es, auf dieser Grundlage die literaturwissenschaftliche Erforschung der einschlägigen Texte zu befördern und somit zur Wahrnehmung und Vermittlung des literarischen Mehrwerts beizutragen, der aus der – häufig nur impliziten, doch in ihrer Tragweite kaum zu überschätzenden – Präsenz des Krieges in Musils Œuvre entstanden ist. Von den neun – durchaus kontroversiellen – Vorträgen des Symposions fanden schließlich sieben Eingang in den Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes, der durch zwei weitere Beiträge abgerundet wurde, nämlich die Aufsätze von Bernd Hüppauf und Helmuth Kiesel; sie ergänzen den Themenschwerpunkt insofern, als sie zusätzliche Kontexte zur kulturtheoretischen Deutung des Ersten Weltkriegs und zur Vergleichbarkeit von Musils literarischer Verarbeitung seiner Kriegserfahrung erschließen und zur Diskussion stellen. Das (auch in den folgenden Artikeln) umstrittene Verständnis des Weltkriegssoldaten und Weltkriegsschriftstellers 11 12 13 14

Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 14. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 3. Vgl. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 3), S. 18–21. Vgl. Reinhard G. Wittmann (Hg.): »Der Gesang des Todes«. Robert Musil und der Erste Weltkrieg. München 2014 (= Hefte zu Ausstellungen im Literaturhaus München 5/2014).

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Norbert Christian Wolf

Robert Musil sollte durch die Ausstellung, das Symposium und die hier nun vorgelegte Publikation der für den Druck überarbeiteten Referate nicht nur biographisch vertieft, sondern auch kultur- und literarhistorisch erweitert und differenziert werden. Es wäre allerdings verfehlt, die 2014 neu entbrannte Diskussion damit bereits als abgeschlossen zu betrachten. Perspektiven für eine künftige Forschung ergeben sich in mindestens drei Bereichen: Der erste, biographische, weist vielleicht die geringsten Lücken auf. Doch selbst hier ist nicht auszuschließen, dass im Gefolge des so unerwarteten wie spektakulären Fundes zweier bis dahin unbekannter Fotos aus der Zeit der Stationierung Musils in Palai/Fersental im Jahr 191515 noch weitere Dokumente gefunden werden, welche die historischen Umstände der Fronteinsätze Musils und vor allem seiner redaktionellen Tätigkeiten bei Militärblättern in Bozen und in Wien deutlicher sichtbar werden lassen. Der zweite Bereich betrifft die literaturwissenschaftliche Deutung der Präsenz des Ersten Weltkriegs in den literarischen Texten Musils. In seiner schriftstellerischen Produktivität wurde der Autor durch seine Kriegserfahrung gleichsam ›umgepolt‹. So kann das Projekt des Romans Der Mann ohne Eigenschaften insgesamt als die Verarbeitung des Kriegs schlechthin betrachtet werden – zumindest aus Musils individueller Perspektive. Letztlich bezieht sein großer Roman noch heute genau daraus seine Sprengkraft für die Lektüre. Dazu ist längst noch nicht alles gesagt. Im dritten Bereich, Musils Tätigkeit als Redakteur der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und der Heimat, hat die gründliche Diskussion gerade erst einmal begonnen,16 wie die von 27. bis 29. September 2015 in Palai und in Bozen von Massimo Salgaro und Elmar Locher ausgerichtete Tagung »Robert Musil und die ›Tiroler Soldaten-Zeitung‹« gezeigt hat, deren Ergebnisse demnächst publiziert werden sollen. Die Frage nach Musils Autorschaft von Soldaten-Zeitungs- und Heimat-Texten der Jahre 1916–1918 impliziert eine komplexe theoretische Problematik, die mit Blick auf die von Michel Foucault diagnostizierte, historisch variable ›Autor-Funktion‹ zu diskutieren sein wird. Empirische Ansätze zur Zuschreibung der Verfasserschaft mit Hilfe computerlinguistischer Methoden sollen dabei eine Rolle spielen. Schließlich und endlich ist auch noch nicht entschieden, ob und in welcher Weise Musils Kriegspublizistik im Rahmen des gerade entstehenden Internetportals MUSIL ONLINE publiziert werden wird. Der Themenschwerpunkt des Musil-Forums 34, der ganz bewusst unterschiedliche Blickwinkel auf die komplizierte Sachlage und teils sogar konträre Interpretationen und Bewertungen versammelt, soll dazu beitragen, die Diskussion nicht nur zu dokumentieren, sondern auch von neuem zu befördern. 15 16

Vgl. Musil en Bersntol. La grande esperienza della guerra in Valle dei Mòcheni/Das große Erlebnis des Krieges im Fersental. Palai en Bersntol/Palù del Fersina 2012, S. 92–99. Zum Forschungsstand vgl. Harald Gschwandtner: Kriegspublizistik, in: Birgit Nübel, Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin, Boston 2016, S. 434–440.

Alexander Honold

Hysteron proteron Zur Verschränkung von Krieg und Roman im Mann ohne Eigenschaften Abstract: It is well-established that Musil’s major novel, The Man without Qualities, refers to a crucial historical event, namely the outbreak of World War I, in August of 1914. But in doing so, the text moves back and forth at the same time. While the narrative aims at 1914, as the final point of Austro-Hungarian prewar society (»Kakanien«), the historical issue of war and modernity is clearly perceived retrospectively. Thus, the novel’s basic framework is pulled in two different directions: Although the one-year plot leading from the very first chapter to August 1, 1914, seems to be narrated ›straightforward‹, textual analysis shows a quite important number of elements which introduce subsequent knowledge that comes to the members of prewar society retroactively. Therefore, the essay shows that the rhetorical trope of hysteron-proteron serves as a kind of micro/macro-model for the novel’s composition itself.

1. Geschichte im Widerstreit von Nachträglichkeit und Vorwärts-Erzählen Im Jahr 1922 notierte Robert Musil im Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste: »Zweifellos machen wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten Stil und können es doch eigentlich nicht wahrnehmen.« (GW II, S. 1075) Selten konnte eine Generation, konnte die Bevölkerung eines Landes oder gar eines ganzen Kontinents mit so triftigem und auch tragischem Ernst von sich sagen: ›Wir machen Geschichte‹. Was überhaupt, wenn nicht der große Krieg, der die Länder Europas und weite Teile der übrigen Welt über viele Jahre hinweg erschüttert hatte, konnte als Ausdruck der Allgewalt epochaler Umwälzungen, als weltgeschichtliches »Ereignis« kat exochen verstanden werden?1 Und doch, so der skeptische Ein1

Zur biographischen Zäsur der Jahre 1914–1918 und den Kriegserfahrungen Musils vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 497–592. Die Thematisierung des Krieges in Musils erzählender Prosa haben u. a. folgende Studien näher untersucht: Bernd Hüppauf (Hg.): Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein i. Ts. 1984; Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München 1990 (= Literatur- und Medienanalysen, Bd. 2), S. 265–288; Christoph Hoffmann: »Der Dichter

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Alexander Honold

wand Musils, dürfte sich die allgemein verbreitete Suggestion geschehender Geschichte hernach als Effekt eines grundlegenden Wahrnehmungsproblems erweisen, weil nämlich, von der grellen Dramatik auf der militärischen und ideologischen Vorderbühne überblendet, die komplexeren und abstrakteren Wirkungszusammenhänge der stattgehabten epochalen Transformationen unausgeleuchtet im Hintergrund verschwanden und somit der Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit eigentümlich entzogen blieben. Auf den zweiten Blick, der es genauer wissen will, zeigte sich deshalb zumindest für diesen Betrachter ein anderer Befund: »So sieht also Weltgeschichte aus der Nähe aus: man sieht nichts.« (GW II, S. 1076) Geschichte – so wäre das Aperçu des Europa-Essays auf die Ausgangslage des Romans Der Mann ohne Eigenschaften zu übertragen – entsteht jeweils aus dem, was man ihr nicht ansieht. Wenn vermittels der Narration eine Art Rekonstruktion von realhistorischen Entwicklungen angestrebt wird, dann zwingt in diesem Falle die noch spürbare Nähe der behandelten Vorgänge einen gestaltungsbewussten Autor wie Musil förmlich dazu, zwei spezifische Darstellungskniffe des vor allem in den 1930er Jahren wieder an Beliebtheit gewinnenden historischen Romans ausdrücklich nicht zu verwenden. Zum einen ist dies die belehrende Nachträglichkeit geschichtlichen Mehrwissens, aus der dem Darstellungsvorgang ein Gestus suggestiver Überlegenheit gegenüber dem beschriebenen Gegenstand zuwächst; zum anderen die gegenteilige Illusion, sich ganz ohne solches retrospektives Mehrwissen unmittelbar in die Innenwelt der jeweils geschilderten Epoche, Kultur oder Gesellschaftsschicht hineinversetzen zu können. Statt des retrospektiven Urteils wäre hier genau umgekehrt ein kontemporanes Miterleben angestrebt. Einerseits droht in dem Metier historischen Erzählens unweigerlich die Devise »Hinterher ist man immer klüger«, andererseits insistiert das hermeneutische Methodenverständnis des Historismus darauf, es könne und müsse sinnvollerweise stets der Versuch unternommen werden, die Handlungsbedingungen aus dem Wissenshorizont und Erfahrungsraum der jeweiligen geschichtlichen Welt zu rekonstruieren. Die beiden Haltungen sind insofern sogar komplementär, als sie gleichermaßen die Asymmetrie zwischen gegenwärtigem Darstellungsakt und vergangenem Objektbereich bewirtschaften, diese aber dabei gerade nicht als ein produktives Spannungsverhältnis aufgreifen. Genau die Darstellung dieses Hiats aber ist im Mann ohne Eigenschaften zum konstruktiven Grundprinzip avanciert, und zwar als ein Hiat zwischen dem Nachher der Erzählung und dem Vorher der Geschichte. Um auf die Vergangenheit der Vorkriegsjahre referieren zu können, müssen diese bereits Geschichte geworden, und das heißt in dem Falle, als Vorgeschichte am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997 (= Musil-Studien, Bd. 26), bes. S. 113–138 u. 187–229; Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1934. München 2006, S. 162–181.

Hysteron proteron

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des Epochenphänomens 1914–1918 erzählbar geworden sein. Es muss also, vom Geltungsanspruch des Romantextes her gesehen, die spätere Erzählung ihrem früheren geschichtlichen Gegenstande zuvorkommen. Die rhetorische Umstellungsfigur des Hysteron proteron (›das Spätere zuerst‹)2 bildet deshalb, wie hier gezeigt werden soll,3 eine Art kompositorische Grundformel dieses Erzählwerks, zumindest im Hinblick auf sein temporales Gefüge. Das Hysteron proteron lenkt nicht nur erstens auf der Makroebene der Romankomposition den Strukturzusammenhang von Nachträglichkeit des Erzählens und Vorzeitigkeit des Geschehens, sie durchwirkt zweitens ebenso konstitutiv auch den diegetischen Diskurs selbst, also den manifesten Erzählvorgang mit dem handlungsbegleitenden Ins-Werk-Setzen der darzustellenden Geschichte. Letzteres geschieht besonders durch jene üblicherweise als ironisch oder selbstreferentiell charakterisierte Stilistik des Erzählens, in der demonstrative Sofortkorrekturen, unbehaftbare Vorausdeutungen, deiktische oder temporale Paradoxa eine prominente Rolle spielen. Und drittens schließlich kennzeichnet die für zeitliche Überkreuzungen prädestinierte Figur des Hysteron proteron auch die innere Dynamik der Textgenese des unvollendet gebliebenen Romans; und zwar dergestalt, dass in der Arbeit am Mann ohne Eigenschaften unter den nachgelassenen Fragmenten einer Fortsetzung des Handlungsgeschehens die in der späten Werkphase entstandenen Kapitelentwürfe aus pragmatischen Gründen recht unmittelbar an die Chronologie der publizierten Romanteile anschließen (zunächst die »Druckfahnenkapitel« des Jahres 1938, sodann deren bis anfangs der 1940er Jahre entstandenen Fortsetzungen bis hin zu den »Atemzügen eines Sommertags«), ohne dabei an die Zielmarke des projektierten Romanendes heranzureichen. Dagegen stellen diejenigen Entwürfe und Skizzen, die inhaltlich am weitesten bis zum vorgesehenen doppelten Handlungsziel des Romans (dem Kriegsausbruch und dem Kulminationspunkt der Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe) vorangedrungen waren, zugleich eine im Entstehungsprozess vergleichsweise frühe Textschicht dar und stehen deshalb in etlichen Details (zum Teil sogar in der Fixierung von Figurennamen) noch nicht auf dem späteren Kenntnisstand des Werks. In der doppelten Zeitordnung von Geschichte und Erzählung sind nicht nur zwei gegensätzliche, aber komplementäre Richtungsvektoren miteinan2

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Der Begriff des Hysteron proteron geht »auf die Analytik des Aristoteles [. . .] zurück«, wo er »zur Kennzeichnung eines logischen Beweisfehlers geschaffen wurde«. Im Gebrauch unter den rhetorischen Figuren bezeichnet man damit »die Umkehrung der zeitlichen oder logischen Folge«. Klassische Beispiele wie Mephistos Botschaft an Frau Marthe (›Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen‹) demonstrieren »die Herkunft der Figur aus der Diabolik« und zeitigen oft »einen makabren Effekt« (Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel u. a. 2 2008, S. 190). Der Aufsatz greift auf Überlegungen und Ausführungen zurück, die in größerem Kontext entfaltet werden in: Alexander Honold: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin 2015, bes. S. 696–724.

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der korreliert (zurück und vorwärts), sondern auch die konträren Relationsmodi von scharfem Bruch einerseits und lückenloser Herleitung andererseits. Der Blick aus der Gegenwart der 1920er Jahre auf Alt-Österreich und die Endphase des Kaiserreichs musste als Ursachenanalyse gleichsam archäologisch verfahren, um unter der Oberfläche der aktuellen politischen Probleme deren Vorgeschichte freizulegen. Daraus ergaben sich zwei gegenläufige Schreibbewegungen, die beide auf den mit dem Weltkrieg markierten historischen Umbruch ausgerichtet waren: die Retrospektive aus der Erzählgegenwart, welche die Vorkriegsgesellschaft unter der Bedingung historischer Diskontinuität rekonstruiert, und die geschichtliche Progression des Romangeschehens selbst, das aus der Vergangenheit kontinuierlich auf den Fluchtpunkt des Kriegsbeginns zuläuft. Wie der Zauberberg Thomas Manns gehört auch der Mann ohne Eigenschaften in seiner Erzählstruktur zu den teleologisch orientierten Romanwerken. Deren Konstruktion ist dadurch gekennzeichnet, dass das Handlungsgefüge in emphatischer Weise auf ein bevorstehendes Ende ausgerichtet erscheint, bezogen auf einen Fluchtpunkt, in dem sich wie auf einem zentralperspektivischen Tafelbild die raumschaffenden Linien schneiden. Ziel und Ende des geschichtlichen Erzählens ist in beiden Werken der Anfang des Krieges.4 Verschiedentlich hat Musil seinen kompositorischen Ideen durch Formulierungen Ausdruck gegeben, welche dem bildperspektivischen Konstruktionsprinzip des Fluchtpunktes recht nahe kommen, etwa durch die Maxime »Alle Linien münden in den Krieg« (MoE, S. 1851) oder schon durch die verräterische Betitelung des österreichischen Planungskomitees als »Parallelaktion«. Für die Blickachsen einer Zeichnung oder eines Gemäldes aber liegt der konstruktive Angelpunkt meistens tief im Hintergrund oder sogar ganz außerhalb des repräsentierten Bildbereichs. So auch bei Musil; der Mündungs- oder Schnittpunkt der Linien im Kriegsanfang wird auch nach weit über tausend Seiten des Auf-ihn-hin-Erzählens nicht erreicht. In ihrer teleologischen Ausrichtung, die den geschichtlichen Prozess auf ein historisch markantes Ereignis zuführt, setzt die erzählte Handlung indes (trotz der hierin einzunehmenden Binnenperspektive) das nachträgliche Wissen der Schreib- bzw. Erzählgegenwart um die epochale Bedeutung des Jahres 1914 bereits voraus. »Daß Krieg wurde, werden mußte«, wie es Musil 1926 in einem Interview mit Oskar Maurus Fontana formuliert (GW II, S. 941),5 diese Einsicht ist eine elementare Form dessen, was Arthur C. Danto als narrativen 4

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Vgl. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 55 f. u. 411–418. Vgl. Hartmut Böhme: Theoretische Probleme der Interpretation von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften [1976], in: Renate von Heydebrand (Hg.): Robert Musil. Darmstadt 1982 (= Wege der Forschung, Bd. 588), S. 120–159, hier S. 126: »Diese Zielangabe enthält das narrative Grundmodell des Romans: bezogen auf einen Zeitparameter (im Roman: August 1913 bis Kriegsausbruch August 1914) werden faktische Zustandsänderungen der Gesellschaft

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Satz bezeichnete; denn hier handelt es sich um eine Sinnzuschreibung post eventum, deren Mehrwissen aber – und das ist das Entscheidende – je schon in den historischen Gegenstandsbereich semantisch integriert wird.6 In seiner morphologischen Erzähltheorie hat Clemens Lugowski mit vergleichbarer Argumentation eine solche rückwendende Ausrichtung des Handlungsaufbaus an seinem Ergebnis als »Motivation von hinten« beschrieben.7 Der Mann ohne Eigenschaften muss also auf das Ende hin, zugleich aber auch von diesem her gelesen werden. Musils Roman ist nicht nur (neben Ansätzen zu vergleichbarer Reflexion in Thomas Manns Zauberberg und Roths Radetzkymarsch) eines der wenigen epochengesättigten Romanwerke, das sich und der eigenen Erzählweise die Frage stellt, was es bedeutet, eine Romanhandlung mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu beschließen bzw. auf dieses Ende als ein historisch unausweichliches zuzusteuern. Musils Romanwerk dürfte, soweit zu sehen ist, auch die einzige geschichtsrekonstruktive Erzählanordnung im Hinblick auf Krieg und Kriegsausbruch darstellen, in welcher sowohl das Handlungsdilemma der betroffenen Objektzeit selbst wie auch das Erklärungsdilemma des den Erzählvorgang tragenden Gegenwartsstandpunktes als epistemische Probleme intellektuell und ästhetisch durchdrungen werden. Die Wissenslage, Gefühlsdispositionen und Wahrnehmungsweisen der Vorkriegsgesellschaft als in die Zukunft gerichtete zu verstehen und zu ihrem Recht kommen zu lassen, wie es gleichsam schon die erzählerische Sorgfaltspflicht gebot, war nur möglich, wenn die ex post-Perspektive des analytischen Interesses der Nachkriegsära (›Wie hatte es zum Weltkrieg kommen können?‹) narrativ unterschieden und getrennt behandelt würde von dem nach vorn ausgerichteten Vektor der jeweiligen geschichtlichen oder persönlichen Handlungsoptionen, welche sich auf die Frage ›Was tun?‹ zuspitzen lassen. Die Divergenz beider Richtungen ist für Musils Geschichtsnarrativ im Roman eine stets sprudelnde Quelle von semantischen Irritationen, von diegetischen Anspielungen und Einschaltungen. Der vollständige Wortlaut der erwähnten Interview-Bemerkung von 1926 zeigt denn auch, dass Musil bestrebt war, einen Modus der Erzählung zu finden, der trotz des kausalen Grundgerüsts den Gang der Geschichte nicht als eine nachträglich erkannte Notwendigkeit, sondern als die Resultante eines widersprüchlichen Feldes

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[. . .] in einen explikativen Zusammenhang gesetzt, der eine Rekonstruktion des explanandums ›Krieg‹ nach teleologischen Regeln [. . .] erlaubt.« Als Beispiel nennt Danto Sätze des Typs »Der Dreißigjährige Krieg begann im Jahre 1618« (Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History. Cambridge 1965; dt.: A. C. D.: Analytische Philosophie der Geschichte. Übers. v. Jürgen Behrens. Frankfurt a. M. 1980, S. 232 u. 246). Werner Schiffer: Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz. Stuttgart 1980, S. 31, modifiziert Dantos Terminologie und schlägt vor, statt von »erzählenden« von »retrospektiven« Sätzen zu sprechen. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. [1932] Mit einer Einleitung v. Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1976, S. 75–81.

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von Kräften behandeln sollte: »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.« (GW II, S. 941) Betontermaßen soll also keine einsinnige Kausalverkettung durch den Erzählvorgang statuiert werden, und schon gar nicht ein tragisch unausweichlicher Weg in die Katastrophe.

2. Die doppelte Asymmetrie: Österreich/Preußen im Vorher-Nachher-Vergleich Narratives Spannungszentrum des Epochenromans ist der konstruktive Widerstreit zweier gegenläufiger analytischer Ausrichtungen. Durch seine Thematik und Darstellungsweise wirft Musils Roman handlungsintern die Frage nach der Erzählform des Endes auf, des Endes der Vorkriegsgesellschaft. Zugleich aber soll diese Handlungsdarstellung eine implizite Antwort geben auf die angesichts von Tragweite und Folgen des Geschehenen für die Schreibsituation der 1920er Jahre sich aufdrängende Frage nach den Ursachen des Kriegs. Es ist dies eine aus literarischer Sicht mindestens so komplexe Fragestellung wie für Historiker, in etwa folgendermaßen zu umreißen: Unter welchen Ausgangsbedingungen und mit welchen Beweggründen konnte das Handeln welcher Akteure diejenigen zusammenwirkenden Effekte hervorrufen, die sich dann in dem komplexen Ereignis des Krieges Bahn brachen? Diese Ursachen-Rekonstruktion setzt zwar in einer um drei bis fünf Jahrzehnte zurückreichenden Vorzeitigkeit zur Chiffre von 1914 an, tut dies aber stets im Hinblick auf eine extern und posterior gegebene Problemstellung. En détail strebt die Narration mit ihren verschiedenen Handlungssträngen vom Vergangenen her jederzeit vorwärts und kann dabei auch Ergebnisspannung erzeugen, grosso modo ist ihr aber der retrospektive Erkenntnisrahmen und das nachträgliche geschichtliche Wissen vorgezeichnet. Um diese divergenten Ausrichtungen diegetisch miteinander zu verschränken, setzt der Romanautor eine über dem Figurenpersonal liegende Makroebene der kriegführenden Staatssubjekte ein, die als gesamteuropäische Strategie-Perspektive schon in der berühmten Eingangsszene des ersten Kapitels angespielt wird, einem (um in der Film-Narratologie zu sprechen) »establishing shot« aus ungewöhnlich hoher Beobachterwarte. Doch nicht die aus dieser meteorologischen Exposition hervortretenden kontinentalen Großräume des Atlantikraums und Russland (auch wenn diese prognostisch entscheidende Frontstellungen des kommenden Krieges ankündigen8 ) bestimmen auf Musils persönlicher Geschichtslandkarte das Geschehen, sondern die kulturgeographische Rivalität von Österreich und Preußen, den

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Vgl. Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 4), S. 43–50 u. 88 f.

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beiden lebensweltlich prägenden Milieus, aus denen Musil seine intellektuellen Fixpunkte Wien und Berlin gewonnen hatte. Ein wichtiges Element der genannten zeitgenössischen ›Rahmenbedingungen‹ der Arbeit an diesem Roman besteht unter den Nachkriegs- bzw. Zwischenkriegsbedingungen der 1920er und frühen 1930er Jahre in der für Musils Existenz zur Alternative gewordenen Frage Berlin oder Wien?, denn anders als zu Vorkriegskonstellationen haben sich diese beiden Gravitationszentren seines Lebens und Arbeitens ökonomisch, kulturell und politisch deutlich auseinanderbewegt. Die kulturelle Schere zwischen dem nun auf ein kleines Alpenland als Rückraum verwiesenen Wien und dem zunehmend kosmopolitisch geprägten, aber politisch labilen Berlin klafft in den 1920er Jahren weit auf, und Musils Romanprojekt navigiert hierbei zwischen den Motivkomplexen urbaner Modernität einerseits und altösterreichischer Vergangenheitsbewältigung andererseits; formelhaft also: »Kakanien« oder »überamerikanische Stadt«. Dass von dem diese Gegensätze pointierenden berühmten neunten Kapitel des Romans die poetische Gedankenfigur ausgeht, gerade das versunkene Kakanien als auf seine Weise vorbildlich modern, nämlich ›kontingenztolerant‹ zu würdigen, unterstreicht, wie stark Musil weiterhin an der Versöhnung (bzw. narrativen Reintegration) der beiden auseinanderklaffenden kulturellen Paradigmen interessiert war. Doch sind wir mit dieser Überlegung zu den späteren Rahmenbedingungen selbst wiederum dem Prinzip des Hysteron proteron entsprechend vorgegangen, und das durchaus mit einer gewissen sachlichen Notwendigkeit, kommt doch auch für die Arbeit an dem Roman dieses Spätere zuerst. Auch bei der in den 1920er Jahren – und mit Musils intellektueller und publizistischer Beteiligung – intensiv betriebenen Ursachendiskussion im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg stellte sich zunächst und vor allem die Frage nach dem Verursacher bzw. Aggressor, es ging mithin also um die Bewertung von Schuld. Darüber waren anlässlich der Friedensverhandlungen zu Versailles und St. Germain heftige Debatten entbrannt,9 in welchen die einseitige Zuschreibung der Kriegsschuld an die Mittelmächte verbunden worden war mit der Festsetzung der Kriegsschulden, also der Regelung von Reparationsleistungen und Gebietsabtretungen. Für Österreich indes war diese Ermittlung von Ursachen, Verantwortungs- und Schuldanteilen nicht nur eine unvermeidliche Pflichtübung des Besiegten in pragmatischer, also wirtschaftlichpolitischer Sicht. Erforderlich war darüber hinaus eine Aufarbeitung im Hinblick auf jene tiefgreifende Erschütterung des nationalen und kulturellen Selbstverständnisses, die Österreich im Gefolge des Krieges und der Niederlage durchlaufen hatte. Anders als im Falle des Deutschen Reichs waren das staatliche Gefüge und die territorialen Konturen der Habsburgermonarchie nach dem Krieg 9

Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 603.

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weithin und fast bis zur Unkenntlichkeit zerrüttet, so dass Hugo von Hofmannsthal rückblickend noch kurz vor seinem Tode von jenem »Zusammenbruch Österreichs« sprechen konnte, durch den er »das Erdreich verloren habe«, in dem er »verwurzelt« gewesen war.10 Ein »Anschluß an Deutschland« (für den u. a. Musil aus praktischen Erwägungen eintrat11 ) erwies sich zu Beginn der 1920er Jahre als ebenso wenig realisierbar wie eine Wiederherstellung der ehemaligen südosteuropäischen Hegemonialposition. Doch auch hierzu alternative Konzepte für ein unabhängiges Selbstverständnis der Alpenrepublik waren nicht in Sicht. In Reaktion auf den ungewohnten Zwischenzustand nahmen die politischen Bewertungen und Programme an Radikalität zu; das Spektrum reichte von präfaschistischen bis zu austromarxistischen Positionen. Hinzu kam der Umstand, dass sich, gerade im Vorher-Nachher-Vergleich, eine gravierende Differenz zu den Entwicklungen in Deutschland manifestierte, wo man zwar ebenfalls oder noch stärker unter dem Druck kaum erfüllbarer Reparationsleistungen litt, jedoch sich an den kulturellen und geographischen Rahmenbedingungen der staatlichen Fortexistenz viel weniger geändert hatte als beim ehemaligen Bündnispartner. Es kommt demnach in der Differenzanalyse zwischen Vor- und Nachzeit des Kriegs eine zweite Asymmetrie zum Ausdruck, diejenige der politischen Geschicke zwischen den ehemaligen Bündnispartnern im Krieg. Ohne die Berücksichtigung und Erklärung der durch den Krieg dramatisch gewachsenen Divergenz zwischen Österreich und Preußen ist m. E. die konstruktive Aporie der Unvermittelbarkeit von Vorkriegswelt und Nachkriegsschreibakt, die im Falle Musils das ›Erbgut‹ des Romans bestimmt, nicht adäquat nachzuvollziehen. Die neue Ungleichheit der beiden ehedem verbündeten Kriegsakteure wird in ihrer geschichtlichen Dramatik deutlich, wenn die klassische, gerade am Falle des Ersten Weltkriegs gerne exemplifizierte Unterscheidung von Anlass und Ursache des Krieges auf die Hauptakteure Habsburg und Preußen umgerechnet wird. Im Lichte der späteren Divergenzen treten auch die Unterschiede hinsichtlich der Ausgangsbedingungen deutlicher hervor. Schon im Momentum des Jahres 1914 war zwischen den beiden deutschsprachigen Kriegsmächten gerade nicht eine Parallelität der Umstände und Handlungsbedingungen gegeben; es herrschte eher, was Musils InterviewBemerkung später als Kräfte-Parallelogramm von »widerstrebenden Strömungen« bezeichnen sollte. Beide Staatssubjekte (zieht man ihre jeweilige innere Komplexität für einmal idealtypisch zu einem solchen narrativen Konstrukt zusammen) ergänzten einander in der kritischen Phase der Monate vor dem August 1914 aufgrund ihrer jeweiligen Besonderheiten und Pro10 11

Hugo von Hofmannsthal an Josef Redlich, 28. 11. 1928, in: Hugo von Hofmannsthal, Josef Redlich: Briefwechsel. Hg. v. Helga Fußgänger. Frankfurt a. M. 1971, S. 116. Vgl. Robert Musil: Der Anschluß an Deutschland [März 1919], in: GW II, S. 1033–1042.

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bleme in einer dann verhängnisvoll wirkenden Weise. Österreich-Ungarn hatte als auf dem südosteuropäischen Raum von zentrifugalen Gewaltschüben bedrohte, bröckelnde supranationale Hegemonialmacht ein hinreichend dringliches Motiv, den Konflikt eskalieren zu lassen und mit kriegerischen Mitteln zu führen. Allerdings fehlten der Habsburger Doppelmonarchie faktisch die militärischen, logistischen und ökonomischen Voraussetzungen, um einen sich ausweitenden Krieg (v. a. gegen die imperiale Schutzmacht Russland) erfolgreich führen zu können. Das Deutsche Reich wiederum, dessen industrielle Wachstumsraten diejenigen Englands überflügelt hatten, fühlte sich nach massiven Aufrüstungsprogrammen im Zenit seiner militärischen Schlagkraft; man konnte einen Krieg führen, für den es allerdings weder plausible Gründe noch Ziele gab. Ein als Konstruktion höchst labiles, auf Gegenseitigkeit basierendes Defizit-Bündnis braut sich zusammen: Preußen kann, was Österreich gerne würde; Österreich wiederum hat eine kulturelle Mission, die dem deutschen Bündnispartner abgeht. In heutigen historiographischen Einschätzungen erscheinen die politischen Entwicklungen der letzten Vorkriegswochen von 1914 als je kontingente, doch im Effekt sich summierende Überdehnungen des wechselseitigen Geflechts von Drohgebärden und Beistandserklärungen.12 War nach den Schüssen von Sarajevo und in der dadurch ausgelösten Julikrise der aktuelle ›Brandherd‹ eindeutig am südosteuropäischen Rand der Habsburgischen Einflusssphäre zu lokalisieren gewesen – weshalb ja auch das Szenario eines geographisch begrenzten Militärschlages gegen Serbien überhaupt erst eine handlungsleitende Suggestivkraft gewinnen konnte13 –, so verschoben sich binnen weniger Wochen im diplomatischen Abstimmungsprozess zwischen den Bündnissystemen wie auch der Bündnisse gegeneinander die Gewichte hin zu einem gesamteuropäischen Konfliktfeld, als dessen Hauptakteure Deutschland und Russland fungierten. Erst daraufhin setzte sich eine Art Kettenreaktion von eigen- und wechselseitig erteilten Angriffs-Lizenzen in Gang, nicht per se unausweichlich, aber zunehmend an Eigendynamik gewinnend. Der fatalen Blankovollmacht, die das Deutsche Reich dem massiven Vorgehen Habsburgs gegen Serbien erteilte, korrespondierte eine ebenso blanko gegebene Beistandszusage Frankreichs für die unnachgiebige Politik Russlands,14 welches wiederum seinerseits das unter den Druck eines österreichischen Ultimatums gestellte Serbien seiner bedingungslosen Unterstützung versicherte. Zu einem erheblichen Teil bestanden die Eskalationsmechanismen des Juli 1914 in einer unverantwortlichen und unkonditionierten Delegation von militärischer Handlungsermäch12 13 14

Vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 122–124. Vgl. Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Paderborn 2014, S. 75 u. 80; Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Reinbek b. Hamburg 2013, S. 38 u. 47. Vgl. Münkler: Der Große Krieg (s. Anm. 13), S. 100.

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tigung. Denn keine der europäischen Großmächte hatte vorab präzise eigene Kriegsziele definiert, für die sich nun der Griff zu den Waffen gelohnt haben würde, doch jede signalisierte in den Wochen der Konfrontation ihre Bereitschaft, es im Falle eines Falles ›darauf ankommen zu lassen‹. Während im Deutschen Reich über Jahre hin größte Uneinigkeit über die anzupeilenden Kriegsziele herrschte, konnte Österreich-Ungarn seine hegemoniale Rolle im Hinblick auf Südosteuropa weitaus klarer konturieren und hatte, nach anfänglich heftigen Rückschlägen durch reichsdeutsche Verbände entscheidend gestärkt, Mitte des Jahres 1917 an allen Fronten eigentlich eine Position erreicht, in der ein vorteilhafter Verhandlungsfrieden hätte abgeschlossen werden können.15 Doch hatten zeitgleich die inneren Spannungen zwischen den im Vielvölkergebilde verbundenen Nationen über Jahrzehnte derart an Vehemenz zugenommen, dass der Zerfall der Gesamtkonstruktion nur mehr eine Frage der Zeit war – und die im Kriege sich vollziehenden Auflösungserscheinungen lediglich als eine beschleunigte Entfesselung längst vorhandener zentrifugaler Tendenzen gesehen wurden. Der Vergleich zwischen Habsburg und Preußen ist deshalb in doppelter Weise instruktiv; zeigt er doch erstens eine innere Ungleichartigkeit in der Kriegsaufstellung der Mittelmächte, insofern Österreich-Ungarn zwar 1914 den konkreteren Anlass und die klareren Anliegen für ein militärisches Losschlagen hatte, jedoch erst mit dem Deutschen Reich derjenige Akteur hinzutrat, dessen geostrategische Lage einen Zweifrontenkrieg vorstellbar und binnen kurzem unvermeidlich machte. Ohne diese fatale Disproportionalität der Mittelmächte untereinander, was Ausgangslage und strategische Potentiale anging, wäre der Krieg nicht führbar bzw. die verhängnisvolle Fehleinschätzung seiner erfolgreichen Führbarkeit nicht möglich gewesen. Wenn dann, zweitens, am Ende der knapp viereinhalb Kriegsjahre, auch die politische Verlustbilanz innerhalb des Bündnisses der Mittelmächte so markant unterschiedlich ausfiel, wie es von den Zeitgenossen empfunden wurde, dann zeigte sich das ohnehin schon niederschmetternde Missverhältnis von Ausgangslage und Resultat durch diese massive Statusdifferenz nochmals in zusätzlicher Schärfe.

3. Die Parallelaktion: Das Unmögliche wird Wirklichkeit Dem Gesagten zufolge hatte also die Rekonstruktion jenes geschichtlichen Kräfteparallelogramms, die Musil sich mit der Arbeit am Roman vornahm, just an dem beschriebenen Divergenzpunkt anzusetzen: am aktuellen Lage15

Vgl. Münkler: Der Große Krieg (s. Anm. 13), S. 605; Manfried Rauchensteiner: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Graz u. a. 1993, S. 427.

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vergleich zwischen Österreich und Deutschland sowie an den ehemaligen Planungen der beiden schwerfälligen Kaiserreiche. Musils Modellschema für den fortgesetzten Vergleich und seine historische Durchführung mit den Mitteln der Romanerzählung ist die ingeniöse Handlungsidee der sogenannten Parallelaktion. Ihr Grundkonzept stellt der Autor im schon erwähnten Interview des Jahres 1926 folgendermaßen vor: Das Jahr 1918 hätte das 70jährige Regierungsjubiläum Franz Josef I . und das 35jährige [recte: 30jährige; A. H.] Wilhelms II . gebracht. Aus diesem künftigen Zusammentreffen entwickelt sich ein Wettlauf der beiderseitigen Patrioten, die einander schlagen wollen und die Welt, und im Kladderadatsch von 1914 enden. »Ich habe es nicht gewollt!« Kurz und gut: es entwickelt sich das, was ich »die Parallelaktion« nenne. Die Schwarzgelben haben die »österreichische Idee«, wie Sie sie aus den Kriegsjahren kennen: Erlösung Österreichs von Preußen – es soll ein Weltösterreich entstehen nach dem Muster des Zusammenlebens der Völker in der Monarchie – der »Friedenskaiser« an der Spitze. Krönung des Ganzen soll eben das imposante Jubeljahr 1918 bringen. Die Preußen wiederum haben die Idee der Macht auf Grund der technischen Vollkommenheit – auch ihr Schlag der Parallelaktion ist für 1918 geplant. (GW II, S. 939)

Musils Umriss der gesellschaftlichen Handlungsebene des Romans, die dem damaligen Gesprächspartner als »ironisch durchsetzte Materie« erschienen war (ebd.), weist eine fast konstruktivistisch zu nennende Auslegung und Anwendung des Prinzips paralleler Linienführung auf. Parallele Handlungsstränge können keine narrative Sukzession ergeben, ihr Verhältnis ist nicht temporal, sondern geometrisch. Aus dem Modus der Parallelführung entwickelt der Romanautor die Konstruktion einer disjunkten, in absurder Gespaltenheit nebeneinander herlaufenden Doppelspur, mit der ironischen Pointe ihrer unwissentlichen und unwillentlichen Ausrichtung auf ein – gemeinsames! – Ziel. Die beiden Thronjubiläen gleichen einander wie eine Monarchie der anderen, ihre Projekte treiben, durch wechselseitige Abstoßung innig verbunden, gemeinsam auf einen künftigen Schnittpunkt zu, der nach den Gesetzen der Geometrie freilich nur außerhalb des begrenzten Darstellungsbereichs liegen kann, nämlich im Unendlichen des von beiden Monarchen nicht mehr unbeschadet erreichten Jubiläumsjahres 1918. Preußische Kriegsrationalität und österreichische Völkerbeglückung waren auf dem Wege dorthin in der Tat als zentrale Kriegsideen in den beiden Kaiserreichen formuliert worden. So stand etwa die u. a. von Hofmannsthal propagierte Losung, Österreich repräsentiere gegenwärtig schon ein »Europa im Kleinen«,16 dem vermeintlich ironischen Weltösterreich-Programm der Musil’schen Romanfiguren an hybrider Realitätsverkennung kaum nach. 16

»Oesterreich bedarf mehr als alle Andern eines Europa – ist es ja doch selber ein Europa im Kleinen.« (Hugo von Hofmannsthal: [Antwort auf eine Umfrage des Svenska Dagbladet, 20. 5. 1915; vormals ediert als Krieg und Kultur], in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Rudolf Hirsch u. a. Bd. XXXIV : Reden und

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Doch die Zukunftsblindheit der Parallelaktion benennt und trifft das Ziel dieser vereinten nationalen Kraftanstrengungen sicherer, als ihren Beteiligten bewusst sein kann, indem das Unternehmen mit weitem Vorgriff in seinen Beratungen des Herbstes 1913 bereits den Termin 1918 als ihr Ende und Schicksalsjahr anvisiert. Objektiv ironisch weiß also diese Romangesellschaft, worauf sie zusteuert, und bereitet sich ihren Untergang selbst, indem sie ihrem Namen semantisch konkludent Ehre macht. Nicht Österreich bzw. der k. u. k. Monarchie allein gilt insofern Musils gesellschaftliche Bestandsaufnahme, sondern seiner schicksalhaften Bezogenheit auf den deutschen Bündnispartner, mit dem ›parallel‹ zu ziehen angesichts höchst unterschiedlicher militärischer und soziologischer Voraussetzungen von Beginn weg nur als eine schlechthin bizarre Idee gelten konnte. Warum das so ist, wird verständlicher, sobald die geschichtliche Rekonstruktion der negativen Komplementarität beider Staatssubjekte um nochmals eine Stufe zurückverlagert wird, also in die Zeit unmittelbar vor dem Verfassungsausgleich mit Ungarn, bei dem 1867 das Behelfskonstrukt der dualistischen k. u. k. Doppelmonarchie inauguriert worden war. Vorausgegangen war jenem aus Schwäche besiegelten Kompromiss, der zu vermehrter Instabilität des Habsburger Imperiums im Inneren führen sollte, seinerzeit die militärische Niederlage Österreichs gegen Preußen bei Königgrätz von 1866. Laut den Geschichtsbüchern Kakaniens, nach welchen in den einheimischen Schulen unterrichtet zu werden pflegte, hatten »die Österreicher [. . .] in allen Kriegen ihrer Geschichte zwar auch gesiegt, aber nach den meisten dieser Kriege hatten sie irgend etwas abtreten müssen.« (MoE, S. 18) Ein derart widersprüchlicher Befund aber »weckt das Denken«, wie es im Roman heißt (ebd.); den jungen Protagonisten Ulrich verwandelte diese Seltsamkeit gar in einen ziemlich renitenten Gymnasiasten, wodurch gewissermaßen schon der Keim zur späteren Eigenschaftslosigkeit in ihn gepflanzt ist. Nun aber verrät die von Musil gegebene Zusammenfassung des Plots bei genauerer Betrachtung ebenfalls, dass der ab 1914 gemeinsam mit ›Preußen‹ (bzw. dessen politischem Nachfolgerstaat) geführte Krieg im Grunde nichts anderes werden würde als eine geschickt ummäntelte Methode, den früheren Krieg gegen Preußen das nächste Mal mit dem einstigen Kontrahenten erfolgreicher fortzusetzen, um dadurch das (selbst noch über dem Wettlauf zum doppelten Thronjubiläum als dunkler Schatten schwebende) Trauma von Königgrätz endlich aus dem eigenen Geschichtsbewusstsein tilgen zu können. Die kritische Note des Konstrukts »Parallelaktion« kommt hierbei dadurch zur Geltung, dass bei der more geometrico bestimmten Relation17 zwischen Berlin und Wien kaum zu sagen ist, ob die beiden Staatssubjekte als Paral-

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Aufsätze 3. Hg. v. Klaus E. Bohnenkamp, Katja Kaluga u. Klaus-Dieter Krabiel. Frankfurt a. M. 2011, S. 159) Vgl. Manfred Requardt: Robert Musil und das Dichten »More geometrico«, in: Text + Kritik (31983), H. 21/22, S. 29–43.

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lel-Akteure im Ernstfall von 1914 nun gegen- oder miteinander Aufstellung genommen und Frontbildung betrieben haben. Gegen Ende des Einleitungsteils ist es im Roman der Vater des Mannes ohne Eigenschaften, welcher dem Protagonisten in einem handlungsentscheidenden Brief die näheren Beweggründe und Absichten jener von einflussreichen Kreisen der Hauptstadt getroffenen Anstalten unterbreitet und dabei auf die soeben angedeuteten Zusammenhänge ausdrücklich hinweist. Dem Weitblick gewissenhafter österreichischer Staatsbediensteter war nämlich nicht entgangen, welche schicksalhafte Jubiläums-Konjunktion sich da im fernen Jahre 1918 zusammenballen würde. Schwerste Bedenken erweckte dabei der Umstand, dass die viel ehrwürdigere, weil um vier Jahrzehnte frühere Thronbesteigung Franz Josephs aus schnöden kalendarischen Gründen erst im Dezember 1918 zu feiern sein würde – und damit ein halbes Jahr später als Kaiser Wilhelms II . weitaus jüngeres Kronjubiläum im Juni desselben Jahres. Die Noblesse einer 70-jährigen österreichischen Amtsführung droht also gegen die nur 30 Regierungsjahre des schneidigen preußischen Newcomers zu verblassen; solcherart sind die dräuenden Aussichten, welche auch Ulrichs Vater »befürchten« lassen, »daß wir, ich muß schon sagen, wieder einmal ein Königgrätz erleben« (MoE, S. 78). Dem könne aber durch frühzeitige und umsichtige strategische Planungen entgegengetreten werden, fährt der väterliche Brief an den bislang unterbeschäftigten Sprössling fort, um sodann endlich offenzulegen, wofür denn nun in dieser Sache an die Mitwirkung Ulrichs gedacht sei. »Glücklicherweise«, so erklärt der alte Herr, sei die dargelegte »Befürchtung« von »patriotischen Persönlichkeiten mit guten Beziehungen schon vorweggenommen« worden, und er dürfe hiermit seinem Sohne »verraten, daß in Wien eine Aktion im Gange ist, um das Eintreffen dieser Befürchtung zu verhindern« (MoE, S. 78 f.). Was möglicherweise in naher Zukunft eintreten könnte, erweckt Furcht; wird dieser Affekt durch vorausdenkendes Handeln nun frühzeitig »vorweggenommen«, so bezeichnet Ulrichs Vater dies dankbar als ein Glück; es ist dieses Glück aber nichts anderes als der Kniff des Späteren, welches zuerst kommt. Respektive die präventive Vorausschau eines Strategen, der einem absehbaren feindlichen Angriff zuvorkommt. Wenn in einem Romangeschehen, das in den Herbstmonaten des Jahres 1913 spielt, innerhalb weniger Zeilen gleich dreimal von Befürchtungen die Rede ist, darf man aufhorchen. Wird überdies, wie es hier geschieht, das ins Auge gefasste patriotische Projekt mit dem Nebenziel eines unfehlbaren Karriereplanes für einen noch traumwandlerisch am Rande des Lebens umherbalancierenden jungen Mann präsentiert, sollte man sogar durchaus beunruhigt sein. Eingeleitet hatte Ulrichs Vater dieses Anliegen nämlich mit der geradezu beschwörenden Prophezeiung, durch die bevorstehende Aufnahme des Sohnes in besagte Aktivitäten hochstehender Kreise sei nunmehr dessen

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Werdegang entscheidend vorangebracht und, »soweit es in meiner Kraft und in meinem Ermessen steht«, folglich auch Ulrichs »Zukunft gesichert« (MoE, S. 78). In Tat und Wahrheit handelt es sich bei dieser Zukunftssicherung jedoch eher um eine Art von Kreditaufnahme, welche Ulrichs weitere Karriere an den Erfolg einer noch ziemlich nebulösen Unternehmung knüpft, eben jener bald inoffiziell so genannten ›Parallelaktion‹, welche dem befürchteten Auftrumpfen Preußens im Jahre 1918 zuvorzukommen versucht. Die heikle, noch ganz und gar ungreifbare Mission des Projekts besteht von diesem Moment seiner Exposition an in dem sowohl strategischen wie temporalen Problem der Prävention, des ›Zuvorkommens‹ also. Wie kann, unter zwei parallel geführten Geraden, die eine die andere ›überholen‹? Wenn später im weniger öffentlichen zweiten Hauptteil des Romans zwischen Ulrich und seiner geliebten Schwester Agathe der vielbeschworene ›andere Zustand‹ gesucht und besprochen wird, dann manifestiert schon diese Arbeitsbezeichnung jenes Erlebens höchster mystischer Erfüllung, dass dergleichen üblicherweise nicht als Primärerfahrung eigenen Rechts gedacht wird, sondern eben je nur als der »andere«, mithin als ein sekundärer und abgeleiteter Zustand. Indes war diese ursprüngliche Einheitserfahrung bereits dem religiösen Denken und Empfinden vieler früher Kulturen so wohlvertraut, dass dieser ›andere Zustand‹ mit weit mehr Berechtigung als ›erster Zustand‹ firmieren könnte. Im herablassenden Gestus der abendländischen Vernunft, das sogenannt ›Primitive‹ nachrangig zu behandeln, spiegelt sich seitenverkehrt jenes Temporalparadox der Prävention, welchem im ersten, dem gesellschaftlichen Hauptteil des Romans, die Unternehmung der Parallelaktion verpflichtet ist. Sämtliche argumentativen Verrenkungen und ideologischen Deklarationen, welche die Parallelaktion in der Folge hervorbringen wird, entsteigen dem einem, unabweisbaren Grunddilemma der consecutio temporum. Die gesamten Umtriebe des Unternehmens sind nämlich von der simplen kalendarischen Tatsache determiniert, dass »der 2. XII . natürlich durch nichts vor den 15. VI . gerückt werden könnte« (MoE, S. 79). Folglich bleibt den österreichischen Geltungsansprüchen, um nicht erneut gegenüber dem deutschen Erzrivalen ins Hintertreffen zu geraten, nur mehr die Option einer symbolischen Ausweitung der Zukunftsplanung ins Unspezifische, und deshalb auch mit ungewissem Ausgang. Man sei, so rundet Ulrichs Vater seinen diesbezüglichen Bericht ab, »auf den glücklichen Gedanken verfallen, das ganze Jahr 1918 zu einem Jubiläumsjahr unseres Friedenskaisers auszugestalten.« (MoE, S. 79) Das Friedensjahr 1918 schwebt in der Folge nicht nur dem Handeln und Trachten der Parallelaktion als fernes Telos vor, es versieht auch das ausgebreitete altösterreichische Gesellschaftspanorama insgesamt mit einem perspektivischen Fluchtpunkt, dessen prognostische Wahrheit bemerkenswerter Weise von der Realhistorie sowohl falsifiziert wie zugleich auch verifiziert werden würde, war doch 1918 tatsächlich auch das Jahr eines

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endlich wiedererlangten Friedens, allerdings nach einem davor für mehr als vier Jahre durchlittenen Krieg.

4. Paradoxien der Konfiguration Ist es in Musils Roman also das ad hoc gebildete Konsortium der Parallelaktion, welches mit seinen Planungen und Direktiven ›Geschichte macht‹? Für diese These spricht, dass gleich in der Startphase des Unternehmens zwei weitreichende Entschlüsse fallen. Zunächst die von Seiten der regierungsamtlichen Impulsgeber getroffene Vorentscheidung, mit der Durchführung jener gesellschaftlichen Zusammenkünfte, bei welchen diverse Ideen für die Parallelaktion gesammelt und geprüft werden sollen, das offene Privathaus von Sektionschef Tuzzi aus dem Ministerium des Äußeren zu betrauen, oder genauer: seine als ›zweite Diotima‹ stadtbekannte Gattin. Ein zweiter weichenstellender Coup des Unternehmens ist darin zu sehen, dass diese geselligkeitsstiftende Salondame ihre zu bunter Vielfalt arrangierten Empfänge insgeheim dafür nutzt, eine platonische Seelenfreundschaft mit dem hochrangigen preußischen Industriellen und Schriftsteller Paul Arnheim anzuzetteln, der sich wegen undurchsichtiger Rohstoffspekulationen für längere Zeit in der österreichischen Residenzstadt aufhält. Vorgezeichnet ist mit dieser Konfiguration eine die österreichischen Bestrebungen massiv beeinflussende, widersprüchliche Gemengelage aus patriotischer Rhetorik, gefühlvoller Leichtgläubigkeit und eiskalt kalkulierendem Geschäftssinn – ein Gemisch, welches im Handlungsjahr 1913 durchaus als potentiell explosiv einzuschätzen ist. An derartige ambivalente Befunde und widerstreitende Tendenzen ist zu denken, wenn Musil als die Summenformel seines Romans angibt, alle der gesellschaftlichen Linien mündeten letztlich in den Krieg. Herleiten aber, oder beweisen gar, lässt sich die Kausalität der unterstellten Entwicklung ›zum Kriege‹ mit einer solchen Handlungsführung natürlich nicht. Im Roman fungiert das Patt zwischen teleologischem Erzählen und geschichtlicher Retrospektive als Komplexitätsgarant gegen allzu simplifizierende Schuldzuweisungen. Für den Geschehensmodus des historischen Prozesses, so räsoniert an späterer Stelle der Romanheld selbst bei einem seiner flanierenden Gänge durch die Stadt, sei ein gewisses »Sich-Verlaufen« nicht untypisch, ein digressives Ab- und Umlenken, dessen konkrete Formen jeweils kontingenten Mechanismen gehorchten. Geschichte, so erkennt Ulrich, »entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen.« (MoE, S. 361) Wie es aussehen kann, wenn aus scheinbar randständigen Faktoren folgenreiche geschichtliche Verwicklungen hervorgehen, wurde am Exempel der Schüsse von Sarajewo auf dramatische Weise deutlich. Die Haupt- und Staatsaktion in Musils Roman wird auf eine viel dezentere, wenig spektakuläre

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Weise in Richtung Kriegsplanung gelenkt, durch eine zunächst ganz harmlos wirkende Romanze und Intrige von Nebenfiguren. Denn im Windschatten des hohen Paars, der Seelenfreundschaft zwischen Diotima und Arnheim, bahnt sich im Hause Tuzzi binnen Kurzem auch ein Techtelmechtel des Dienerpaares an, dessen Figuren soziale und ethnische Marginalität verkörpern. Während der langwierigen Sitzungen vertreibt sich Diotimas jüdische Zofe Rachel auf ihre Weise die Zeit mit Arnheims dunkelhäutigem afrikanischen Diener Soliman. Dabei hecken die beiden den Streich aus, zur Gründungsversammlung der Parallelaktion einen dort gar nicht vorgesehenen Gast aufzubieten, General Stumm von Bordwehr aus dem k. u. k. Kriegsministerium. Dieser lässt sich die Gelegenheit, das Projekt ›Friedenskaiser‹ im Sinne einer Bewilligung weiterer Rüstungsvorlagen zu beeinflussen, nicht entgehen. Durchs Schlüsselloch spähend, erkennt die am Rande stehende Rachel scharfsinnig und vorauseilend: »›Daraus kann auch ein Krieg werden!‹« (MoE, S. 181) Fortschritte erzielt das Handlungsgeschehen demzufolge nicht nur aus langfristigen strategischen Planungen, sondern mindestens ebensosehr dank zufallsbedingter Störungen. Die durch den Plot der Parallelaktion vorgenommene Linienführung des Romans gestaltet sich de facto also in weniger striktem Geradeauslauf, als es das geometrische Konzept der Parallelen glauben macht. Ungeplante Modifikationen wie die Mitwirkung eines Generals, dessen ungebetene Einmischungen durchaus folgenreich sind, machen aus dem trassierten Erzählweg ein an den Rändern mehrfach ausfransendes, tendenziell anomisches Gebilde. General Stumm ist, wie eigentlich schon der Name verrät, Platzhalter und Symptom einer kommunikativen Fehlleistung. Man hätte ihn niemals einladen dürfen. Als der Repräsentant des Militärs dann auch noch das Wort ergreift, verspüren die übrigen Anwesenden durchaus, dass die Rede Stumm von Bordwehrs zwar »nicht zu der eigentlichen Aufgabe ihres Beisammenseins passe, aber als sich der General akustisch immer weiter verbreitete, hörte sich das an wie der beruhigende Marschtritt geordneter Bataillone.« (MoE, S. 180) Da einem von Musils Romanheld Ulrich aufgestellten Prinzip zufolge am Ende gerade das geschieht, was zu entstehen eigentlich keinen Grund hat,18 ist handlungsimmanent bereits absehbar, dass sich der kleine General mit seinem großen Säbel am Ende durchsetzen wird – schon in Anwendung jener poetischen Logik der Entstellung, die Ulrich aus der militärischen Erfahrung des Befehl-Weitersagens in seine Reflexionen über geschichtliche Kontingenz übernimmt. Damals ließ man, so erinnert der Held sich seiner Militärzeit, eine in Zweierreihen reitende Eskadron »›Befehl weitersagen‹ 18

Als PduG tituliert Ulrich, auf das bekannte gegenteilige philosophische Konzept antwortend, ein »Prinzip des unzureichenden Grundes«, wonach jeweils just das geschieht, »was eigentlich keinen rechten Grund hat« (MoE, S. 134).

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üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben« wurde. Lautete der vorne ausgegebene Eröffnungssatz beispielsweise »Der Wachtmeister soll vorreiten«, so kam am hinteren Ende der Formation die brutale Botschaft »heraus: ›Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‹ oder so ähnlich.« (MoE, S. 361) Obwohl das Ergebnis ohne Absicht und Urheber entstand, gilt der Befehl unter Umständen trotzdem. Ulrich zieht eine gewagte Schlussfolgerung: »Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.« (ebd.) Die allmähliche, von Station zu Station zunehmend sinnentstellende Deformierung einer weitergereichten Botschaft erhält dabei jedenfalls eine unweigerliche Schlagseite ins Martialische. Ähnliches befürchtet die schöngeistige Diotima berechtigterweise auch von der Anwesenheit des Generals, in dem sie nichts anderes sieht als eine »Hyäne«, die auf Nahrung sinnt. »›Er schleicht herum und wartet, bis unsere schönen Bemühungen tot zusammenbrechen werden!‹« (MoE, S. 466) An den bis hierher skizzierten Befunden der Zufälligkeit und Zweideutigkeit innerhalb des Figurenpersonals ist nun deutlicher zu erkennen, wie Musil den erwähnten Hiat zwischen Nachträglichkeit der (teleologischen) Erzählung und Vorzeitigkeit der (retrospektiven) Geschichte, welcher die Schreibsituation des Romanautors in den 1920er Jahren bestimmte, in der Romankonstruktion zu einem produktiven Spannungsverhältnis umzugestalten vermochte. Die Figuren besitzen naturgemäß noch nicht das historische Wissen der Nachkriegssituation, doch lädt sich ihr Reden und Handeln durch unbestimmte Vorahnungen der kommenden Katastrophe beständig semantisch auf. Der Romanautor ›infiziert‹ gleichsam seine Vorkriegspräparate mit dem Keim des Bevorstehenden, und er kann dies erzählerisch deshalb in plausibler Form durchführen, weil die handelnden Figuren ja ihrerseits tatsächlich schon auf je eigene Weise ›mitschreiben‹ an einem virtuellen Gesamttext der Geschichte, welcher ihnen selbst während ihres Tuns noch gar nicht lesbar ist. Ebenso, wie die literarische Rahmenanordnung einer vorgezogenen Nachträglichkeit Musils Erzähltext permanent irritiert (und sie tut dies in der Anlage des Erzählens oft selbst wiederum durch kleine und größere Hysteron-proteron-Wendungen), ergibt sich auch die kontingente Chrono-›Logik‹ des historischen Ursachengeflechts aus Effekten kollabierender Grammatik- und Zeichenordnungen (wie etwa den heillosen Verwirrungen, die allein schon die Konjunktion »und« in Musils Kakanien zu stiften vermag).19 Wenn, wie Ulrichs Reflexionen behaupten, sich der Weg der Geschichte fortentwickelt wie eine durch Weitergabe deformierte Botschaft, so liegt die historische Wahrheit dieses Erzählkonzeptes gerade im ästhetischen Störpotential solcher temporalen Paradoxien, die in einem Handlungsgeschehen, das ausschließ19

Vgl. hierzu Inka Mülder-Bach: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 414–422.

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lich vor dem Kriege spielt, chiffrenhaft bereits das perspektivische Wissen um den doppelten Einschnitt von 1914 und 1918 in sich aufnehmen. Musils erzählerische Kunstfertigkeit besteht im Hinblick auf diese historische und zugleich nichthistorische Materie vor allem darin, die erst später erkennbare epochale Tragweite der Vorgänge in der Beschreibung ihrer Vorkriegs-Erscheinung passagenweise schon mit anklingen zu lassen, ohne dabei ausdrückliche Anachronismen zu begehen: War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wußte es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. [. . .] Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Weltfriedens. Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Beben hatte Japan heimgesucht; die armen Japaner. Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. (MoE, S. 359)

Viele Autoren, Künstler und Gelehrte kultivierten zu jener Zeit eine herablassende Achtlosigkeit gegenüber dem Berichtsstand der Tagespresse. Auch die Romanhelden Musils werden, insbesondere aufgrund nachlässiger Zeitungslektüre, vom Kriegsausbruch vollständig überrascht. Allerdings: Hätten sie in bürgerlichem Pflichtbewusstsein häufiger durch die Gazetten geblättert, dann wäre ihnen etwa jenes Potpourri vermischter Meldungen und unklarer Lagebeschreibungen entgegengetreten, mit dem Musil seinen Protagonisten schon ein halbes Jahr vor dem Kriegsausbruch schwindelig spielt. Trotz des Gefühls der Entwirklichung, das sich durch die zufallsgesteuerte Reihung der aus dem Nachrichtenstrom gefischten Ereignisse herstellt, ergeben die Meldungen, Sensationen und Entwicklungstendenzen doch eine gemeinsame, durchaus bedrohliche Botschaft. Die scheinbar nur bunte Sequenz von Nachrichten, von Musils Erzähler auf die Jahreswende zu 1914 datiert, präludiert unzweifelhaft das Thema des bevorstehenden Krieges – wenngleich sie diese Referenz durch sachliche Verschiebungen zugleich wieder verwischt. Die Reise des französischen Präsidenten Poincaré nach Russland zu Zar Nikolaus II., dem östlichen Verbündeten der Entente cordiale, war in der Tat einer flagranten Gefährdung des Weltfriedens geschuldet; allerdings ereignete sie sich nicht etwa »um Ende 1913« oder »Anfang 1914«, sondern auf dem Höhepunkt der Juli-Krise, erst kurze Zeit vor dem finalen Kriegsausbruch. An falscher, nämlich chronologisch zu früher Stelle fallengelassen, erfüllt das zur dramatischen Endphase der Verwicklungen zählende Ereignis seine narrative Wirkung desto verräterischer, weil es dem (via ›erlebte Rede‹) mitkommentierenden Protagonisten eine Verwischung der klaren Faktenlage erlaubt (»aber ob das Krieg war«?), die das von später herangetragene Mehrwissen sogleich wieder neutralisiert. Panoramatisch breit angelegte Zeitbilder wie das des ersten Romankapitels oder die eben zitierte Nachrichten-Revue tendieren dazu, Geschichte

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stillzustellen bzw. sie in das bereits von Musils Europa-Essay konstatierte »Nichts« aufzulösen. Dann aber meldet sich wiederum die in der Nachkriegszeit angesiedelte Erzählinstanz des Romans zu Wort, welche die erzählerische Möglichkeit auktorialer Vorgriffe nutzt, um ihren historischen Informationsvorsprung zur Geltung zu bringen: Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen Ende des Jahres neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten besaß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne niemals wieder ausbrechen, allgemein war. Sie war nicht allgemein gleich stark. (MoE, S. 381)

Deutlicher kann sich die Form des historischen Erzählens eigentlich kaum noch an den Zielpunkt des Kriegsausbruchs heranschreiben, ohne ihn explizit schon vorwegzunehmen. Zur Kennzeichnung dieser Form von Indirektheit scheint hier ein – zunächst vielleicht überraschender – Vergleich angebracht: Vom Krieg wird in Musils Romanwelt unter ähnlichen Aussagebedingungen gehandelt, wie sie Sigmund Freud für das soziale Sprachspiel der Zote dargelegt hatte;20 das Sagbare und das Unsagbare, das Explizite und das Nichtexplizite beziehen dabei wechselweise Energie voneinander. Vor dem Eintreten des wirklichen Krieges schützt die Romanpersonen nicht etwa die bis dahin noch verstreichende Zeit (die in Musils Roman gegen Ende nur mehr sehr langsam voranschreitet), sondern eine überaus löchrige Barriere sprachlicher Verbrämungen, Tabus und Fehlleistungen.

5. ›Fehler‹ in der Diegese: Spuren einer performativ kollabierenden Zeitordnung Die Textbasis der zu Lebzeiten publizierten Kapitel und nachgelassenen Entwürfe des fragmentarisch gebliebenen Romans Der Mann ohne Eigenschaften lässt zwar eine Extrapolation des fehlenden Finales nicht zu; wohl aber gibt sie Aufschluss über die Bedeutung, die der Krieg für die Romankonstruktion insgesamt hat respektive hätte erhalten sollen.21 Das historische Datum des Krieges war innerhalb des Handlungsrahmens entweder durch auktoriale Vorausdeutungen indikatorischer Art anzuzeigen, die auf außerhalb der Fiktion liegendes Vorwissen verwiesen, wie es etwa in dem (allerdings ganz untypisch seltenen) Falle der Bemerkung »damals kurz vor dem großen Kriege« erfolgt (MoE, S. 520); oder dieser externe Fluchtpunkt wurde mit20

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Vgl. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905], in: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. IV : Psychologische Schriften. Frankfurt a. M. 1982, S. 9–219. Zur latenten und strukturellen Funktion des Krieges im Roman vgl. Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 4); Mülder-Bach: Robert Musil (s. Anm. 19).

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tels einer fiktionsimmanenten Stellvertretung dargestellt, eines Ersatzmotivs, welches zur Katastrophe des Kriegsausbruchs in ein ästhetisches Analogieverhältnis eintreten konnte. Ein solches literarisches Substitut hat Musil für den Kriegsbeginn und den Zusammenbruch des Habsburgerreiches gefunden; ein Motiv, das die gesellschaftliche Bedeutung des Endes einer Epoche sinnfällig macht, ohne sie ausdrücklich zu benennen. Es ist dies die im Kontext von Zivilisationskritik und Geschichtspessimismus verbreitete Rede von Apokalypse und Weltuntergang,22 jene Grundstimmung besonders des österreichischen Fin de siècle, die Hermann Broch als »fröhliche Apokalypse«23 bezeichnete und die sich bei Musil mit dem imaginativen Topos einer drohenden Vulkaneruption verbindet. Das Bild ist sowohl metaphorisch wie auch metonymisch eingesetzt: Metaphorisch besteht die Ähnlichkeit zum Kriegsausbruch im physikalischen Modell eines Aufstaus im Verborgenen brodelnder, tendenziell explosiver Kräfte; metonymisch im bereitgestellten Syntagma des bevorstehenden Ausbruchs, das eins zu eins auf die politischmilitärische Krise und den Kriegsbeginn übertragbar war. Mit den mehrfach beschworenen Vorzeichen einer Naturkatastrophe gibt sich die Vorkriegsgesellschaft des Romans als Endzeit zu erkennen und ragt der Krieg, der zwar als historisches Ereignis außerhalb des erzählten Zeitraums der fertiggestellten Kapitel verbleibt, auf semantisch wirkungsvolle Weise dennoch in die Handlung hinein. Der allgemein umlaufende Apokalypse-Topos schafft auch im Roman ein Diskursklima vager Zukunftsängste und Untergangserwartungen, in dessen atmosphärischem Grundrauschen auch konkretere, durchaus ernstzunehmende Warnungen ihren gedeihlichen Nährboden und zugleich eine optimale Tarnung finden. Dazu gehören die notorisch pessimistischen Einschätzungen des Protagonisten selbst, der wie manche seiner Freunde und Kollegen »à la baisse« zu spekulieren pflegt und mit einem untrüglichen Gespür für den nahenden Zusammenbruch der altösterreichischen Gesellschaftsordnung ausgestattet ist. »Große Kusine, erinnern Sie sich daran, daß ich Ihnen diesen Zusammenbruch seit je vorhergesagt habe?« (MoE, S. 466) Gemeint ist hier freilich noch bzw. nur der Zusammenbruch der leitenden Kommission der »Parallelaktion«, in dem allerdings immerhin die Spitzen der Wiener Gesellschaft versammelt sind. Seiner erstaunten, ob des Defätismus ihres Mitstreiters empörten Kusine Diotima kann Ulrich entgegenhalten, bislang mit seiner Skepsis meist recht behalten zu haben. Die objektive Ironie seiner Prophezeiung indes liegt darin, dass er selbst nicht weiß, wie sehr sich kurz darauf seine Rede vom Zusammenbruch bewahr22 23

Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988; Reto Sorg, Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München 2010. Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit [1947/1948], in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 9/1: Schriften zur Literatur I . Kritik. Frankfurt a. M. 1975, S. 111–284, hier S. 145.

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heiten wird. Gerade in ihren unbewussten Anteilen ist Ulrichs Prognose am hellsichtigsten, getreu dem Motto, »daß man ins Schwarze trifft, wenn man ins Blaue redet« (MoE, S. 883) – ein Muster, das Musil wiederholt zur Vorausdeutung auf den Kriegsausbruch einsetzt. Die wohl signifikanteste Szene dieser Art spielt sich im Rahmen einer gegen Ende des ausgeführten Handlungsstranges anberaumten großen Friedensdeklaration ab. Ulrich gibt hier seinem ehemaligen Regimentskameraden General Stumm, den die endlosen Debatten völlig im Unklaren darüber gelassen hatten, was er als Ergebnis der Sitzung höheren Orts berichten könne, folgenden Ratschlag: »Melde eben,« erwiderte Ulrich »das sei der Tausendjährige Glaubenskrieg. Und noch nie seien die Menschen so schlecht gegen ihn gerüstet gewesen wie in dieser Zeit [. . .]. Das Kriegsministerium darf also beruhigt dem nächsten Massenunglück entgegensehen.« / Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon keine Ahnung. (MoE, S. 1038)

Die historische Wahrheit wird in dieser unabsichtlichen Vorhersage als Textereignis inszeniert, als Entgleisung der Rede, die genau dadurch ihr wahres Ziel findet. Das Faktum des Krieges ist in diesen apokalyptischen Motiven an- und abwesend zugleich. Insofern fungiert der August 1914 in genauem Sinne als der eingangs angesprochene perspektivische Fluchtpunkt more geometrico, welcher sich außerhalb des abgebildeten Raums befindet und doch alle sichtbaren Elemente untereinander in Relation setzt. Dass die Figurenreden von einem bevorstehenden »Zusammenbruch« oder einem »Massenunglück« ihren historischen Sinn erst außerhalb des dargestellten Geschehens erhalten, ist für ihre Wirkung unerlässlich. Nur so kann die Erzählung das Paradox aller Zeitreisen umschiffen, demzufolge nämlich die sachlich adäquate Vorhersage einer bestimmten Entwicklung zu präventiven Eingriffen in deren Verlauf auffordert, die dann wiederum das vorausgesetzte historische Wissen Lügen strafen würden, welchem sie diese Möglichkeit des Eingreifens allererst verdanken. Das hinterrücks, doch nicht unerwartet Eintretende galt Musil als die eigentliche Grundform des historischen Prozesses. Dies bestätigt sich bei dem »großen Ereignis« der pazifistischen Friedensresolution, deren ungewolltes Zustandekommen gleichnishaft die ›Logik‹ des folgenden Kriegsausbruchs antizipiert oder sogar substituiert. Gleich vier der fünf Schlusskapitel des zweiten Buches des Romans tragen die (durch Zusätze jeweils leicht variierte) Überschrift »Ein großes Ereignis ist im Entstehen« (MoE, S. 994, 996, 1002 u. 1022). Dieses zweite Buch legte Musil Ende 1932 vor, doch folgten hierauf noch fast zehn Jahre der Weiterarbeit am Roman, und selbst diese vermochten die erzählte Handlung immer noch nicht ins vorgesehene Gesamtfinale hineinzusteuern, obwohl oder weil ja dieses Finale durch die Realhistorie als Weg der Geschichte längst schon vorgezeichnet war. Das geschichtliche Telos selbst bleibt notwendigerweise unerkannt, wie die letzte dieser Kapi-

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telüberschriften in sibyllinischer, aber auch resignierender Bilanz verkündet: »Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht gemerkt« (MoE, S. 1022). Solange im Handlungsgang die chronologische Stelle des Kriegsausbruchs noch nicht erreicht war – und auch nur bis dahin natürlich –, konnte es in Musils Roman bei der konstruktiv bedeutsamen Unnennbarkeit des Augusts 1914 bleiben. Aus dem biographischen Faktum des verfehlten Werkendes ergibt sich damit der wiederum paradoxe Befund, dass die realisierten Romanteile des Mann ohne Eigenschaften nur unter Absehung von der geschichtlichen Faktizität als historische Erzählung des Kriegsbeginns gelten können. Das Zu-Ende-Erzählen der Parallelaktion mitsamt der ganzen Wiener Vorkriegsgesellschaft war in gewisser Weise aber auch gar nicht mehr erforderlich. Denn eigentlich hatte schon der Beginn des Erzählens jenes als Kriegsausbruch projektierte Ende vorweggenommen, so wie das Kriegsende seinerseits für die Neuorientierung Musils anfangs der 1920er Jahre gesorgt und damit auch den Anstoß des Erzählens gegeben hatte. Eine Entfesselung der Apokalypse, wie sie die Vorahnungen der Romanfiguren etwa mit der Befreiung des Frauenmörders Moosbrugger, mit einer gewaltigen Militärvorlage oder mit einem bizarr scheiternden internationalen Friedenskongress ins Visier nehmen, findet auf stilistischer Ebene des Textes bereits durch den Erzählvorgang als solchen statt. Denn nicht nur die Rede über Diplomatie oder Naturkatastrophen hat in der erzählten Welt dieses Vorkriegs längst schon ihre Unverfänglichkeit verloren. Der Erzähldiskurs ist selbst in scheinbar nebensächlichen Ausführungen förmlich gespickt mit symptomalen Schlüsselreizen, die all dasjenige, was als geschichtliche Wirklichkeit eintreten zu lassen am Ende nicht einmal die gesamte Romanlänge ausreichen wird, ganz ungeniert bereits in die Tat umsetzen, in eine permanente rhetorische Kriegserklärung gewissermaßen. Eine präfigurierende Erklärung des Krieges etwa ist es bereits, wenn anhand dreier in Abbreviatur gegebener biographischer Erzählskizzen drei mögliche Lebensläufe Ulrichs, des Mannes ohne Eigenschaften, durchgespielt werden; als Soldat, als Ingenieur und als Mathematiker. Bekanntlich besteht das Verbindungsglied dieser Werdegänge in Ulrichs Begehren, »ein bedeutender Mann zu werden« (MoE, S. 35), mithin also auf musterhafte Weise jene agency zu erlangen, die im Felde als Kampfgeist und Heldenmut gefordert war und die aus solchen wechselnden Karriere-Kulissen schrittweise von der traditionell symbolischen Verkörperung über die technische Maschinerie bis hin zu jener abstrakten Form der Kraftanwendung emporgeführt wird, durch die das Denken über die Wirklichkeit Macht gewinnt. Es ist seine den wechselnden Verwendungen paßgenau dienstbare Eigenschaftslosigkeit, die Ulrich bei seinem Antrittsbesuch in der Wiener Hofburg dann so »tatkräftig und feurig« erscheinen lässt (MoE, S. 86). Von Ausbildung und Leistungsver-

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mögen her dem Bild eines Kriegsmannes weit ferngerückt, kommt er diesem als angehender Sonderbeauftragter in halboffizieller Mission doch wieder erstaunlich nah. Den »Soldatenberuf« seiner ersten Karriere hatte sich Ulrich als »ein scharfes und glühendes Instrument« vorgestellt, war dann aber gegen die überkommene Hierarchie des Militärwesens vergebens angerannt, hatte sich am abrupten Ende dieser Laufbahn gar als trostlose Figur eines randalierenden jungen Mannes auf leerem Kasernenhofe wiedergefunden. Die Imagination hehrer soldatischer Heraldik, gestrandet an der zeitgenössischen Wirklichkeit: Was diesen Wandel in Ulrichs Bewusstsein bewirkt hatte, war ein etwas leichtsinniges Kavaliersdelikt gewesen, bei dessen Bestrafung »ihm der Unterschied zwischen einem Erzherzog und einem einfachen Offizier klargemacht wurde« (MoE, S. 36). Wie und warum sich an dieser Stelle der im Reichsgefüge juristisch verankerte Begriff des Erzherzogs24 in den Text verirrt, ergibt sich aus den Umständen von Ulrichs nur angedeutetem Fehlverhalten keineswegs. Als eigentlicher Resonanzkörper des Stichwortes ist wohl nicht jene blasse Anekdote aus Ulrichs militärischen Jugendjahren anzusehen, sondern das spektakuläre Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand von Sarajevo, dessen Rangbezeichnung als Erzherzog im publizistischen Nachhall der Schüsse von Sarajevo mit besonderer Häufigkeit öffentlich genannt wurde. Das Menetekel des Erzherzogs gibt, so gesehen, durchaus Anlass zu der Einschätzung, dass sich die Zukunftsaussichten einer k. u. k. Offizierskarriere schlagartig verschlechtert hatten. Auch anderen Versatzstücken zeitgenössischen politischen Sprachmaterials droht im Lichte des Krieges ihre Unschuld abhanden zu kommen, etwa der in einer Wiener Denkmalsbeschreibung wie nebenbei einzitierten Preußen-Devise vom »Platz an der Sonne«. Auf jenem Platz, an dem im Wiener Ersten Bezirk realiter »Zauners mächtiges Reiterdenkmal Josefs II .«25 anzutreffen ist, posiert in der Version Musils »ein stummer Mann [. . .] aus Erz« auf dem »Platz in der Sonne« (MoE, S. 565). Gleichsam im Vorgriff auf die ungeliebte Schicksalsgemeinschaft des kommenden Krieges kollidieren hier schon die preußischen und österreichischen Nationalstereotypen, erinnert doch der »Mann aus Erz« stark an den ›eisernen Kanzler‹ Bismarck und zugleich auch an Bülows imperialistische Devise vom »Platz an der Sonne«, die wenig später nochmals explizit benannt wird.26 24

25 26

»Erzherzog« war ein »seit 1453 anerkannter Titel der Prinzen des Hauses Österreich wegen ihrer angeblich von Kaiser Friedrich I . 1156 (Privilegium maius [recte: Privilegium minus]) ausgesprochenen Gleichstellung mit den Kurfürsten, die als Verwalter von Erzämtern auch Erzfürsten hießen« (Helmut Arntzen: Musil-Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1982, S. 148 f.). Karl Konrad Polheim: Das Bild Wiens im Werk Robert Musils, in: Literatur und Kritik 20 (1985), H. 191/192, S. 37–48, hier S. 41. Vgl. Polheim: Das Bild Wiens im Werk Robert Musils (s. Anm. 25), S. 41; vgl. MoE, S. 595.

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Als ein symbolisches Vorzeichen der ungleichen Konjunktion von Preußentum und Österreich kann überdies die schwelgerische Liebesaffäre zwischen Arnheim und Diotima betrachtet werden, deren Liaison so diskret verläuft, dass der Erzähler sie fast sogar vor sich selbst geheim halten zu müssen glaubt. Kaum nämlich war dem ersten Kapitel die Nennung dieses Figurenpaars entschlüpft (»Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen [. . .]«), lässt der Diskurs des Erzählers hierzu bereits ein – damit allerdings erst recht irritierendes – Dementi verkünden, das die Anwesenheit der beiden vermeintlich in Wien als Passanten identifizierten Figuren dortselbst ausdrücklich bestreitet: »denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel« (MoE, S. 10). So wird ex negativo, und noch bevor die geneigte Leserschaft hätte Verdacht schöpfen können, unter dem Klartext des Romans die subkutane Lesart etabliert, dass da womöglich eben doch vertrauliche Kanäle zwischen dem Berliner Industriellen und der Wiener SektionschefGattin bestanden – mithin also: zwischen deutscher Rüstungsindustrie und österreichischer Außendiplomatie. Der im Nachhinein vorweggenommene Kriegsausbruch ist in der Erzählökonomie zwar ein Sonderfall, aber beileibe keine Ausnahme von den Regeln der kalkulierten diegetischen Fehlleistung.27 Aufgrund der makrostrukturellen Rahmenbedingungen dieses Erzählwerks weisen letztlich alle Hysteronproteron-Wendungen im Roman (und das sind etliche) auf den einerseits längst erfolgten Einsatz des andererseits noch gar nicht erreichten Krieges. Sie erinnern daran, was den geschichtlichen Gegenstand unüberbrückbar von seiner Erzählung trennt. Die allmähliche Verfertigung der erzählten Welt durch die Sprachkraft erzählender Rede ist eine der Literatur altvertraute Schöpfungsfiktion. Während das Leben, einer vielzitierten Einsicht Kierkegaards zufolge, stets nach vorne gelebt werden muss, aber erst rückwärts verstanden werden kann, vermag sich das Handwerk des Erzählens der List nachträglicher Vorgriffe zu bedienen – das epische Gegenwartstempus des Präteritums gestattet dies. Um etwa anzuzeigen, dass eine zufällige Damenbekanntschaft Ulrichs sich über Nacht in eine neue Eroberung des Mannes ohne Eigenschaften verwandelt (hat), springt die Diegese voraus in eine nahe Zukunft, indem sie von dort belehrt am Vergangenen kommentierenden Anteil nimmt. Hieraus entsteht, am Ende des siebten Romankapitels, der narrative Satz: »Zwei Wochen später war Bonadea schon seit vierzehn Tagen seine Geliebte.« (MoE, S. 30) Es liegt zwar in diesem Falle gewiss kein casus belli zugrunde, doch unterliegt der geglückte dolce assalto als sprachloses Echtzeit-Ereignis einem vergleichbaren Tabu diskursiver Nicht-Repräsentierbarkeit. 27

Vgl. auch Alexander Honold: Der Erzähler als Fehler. Zu den Auftrittsbedingungen einer unzuverlässigen Instanz, in: Felix Philipp Ingold, Yvette Sanchez (Hg.): Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität. Göttingen 2008, S. 202–220.

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Die retrospektive Vorgängigkeit des Erzählens und seiner je schon bereitstehenden Handlungsmuster wird in Musils Prosa mit Vorliebe bis zum Extrem des Paradoxons ausgereizt. Im Mann ohne Eigenschaften nimmt die Figur des Hysteron proteron eine für das aporetische Gesamtgerüst grundlegende Funktion ein. Der gesamte Roman ruht, indem er aus der Nachkriegsperspektive in die historische Immanenz einer Vorkriegssituation eintaucht, auf ›unmöglichen‹ Zeitverhältnissen; er muss auf der Ebene des Handlungsganges erst noch erreichen, was ihm als Bedingung des Erzählvorgangs je schon als Telos vorausgeht, aber für die Vorstellungswelt seiner Figuren noch jenseits des Horizontes liegt. Zeitsprünge und Zeitstürze, wie sie Musil insbesondere bei der Einführung seiner Figuren geschehen lässt, geben somit einem grundlegenden Dilemma der Romankonstruktion Ausdruck. Wohl in keiner Passage ist der unmögliche Eingriff aus einer vergangenen Zukunft (oder künftigen Vergangenheit) so pointiert auserzählt wie am Ende des ersten Buches, als den Helden ein Telegramm von der Hand seines Vaters ereilt. Das Schreiben meldet ihm »in einer ausführlichen, aus halb unterdrückten Vorwürfen und voller Todesfeierlichkeit wunderlich gemischten Weise, die sein Vater offenbar selbst noch auf das genaueste geregelt und aufgesetzt hatte, das Ableben seines Erzeugers.« (MoE, S. 655) Der alte Herr hatte vorsorglich seinen eigenen Tod in der Vergangenheitsform berichtet. Er hatte in seinem finalen Telegramm dem unverfügbaren Lebensende mit einer Vorausverfügung ein Schnippchen zu schlagen versucht. Dieser skurrile Einfall trifft den Protagonisten in einer ohnehin schon reichlich verwirrten Gemütsstimmung, denn bei seiner Heimkehr hatte ihn die Gefahr eines vermeintlichen Einbrechers alarmiert, der sich sodann als Ulrichs Bekannte Clarisse herausstellt, die im Dunkel heimlich auf ihn gewartet hatte. Auch deren Entschuldigung ist von selbstreflexiver Zweideutigkeit. »›Ich habe einmal sehen wollen, wie du nach Hause kommst, wenn du glaubst, daß du allein bist‹« (MoE, S. 654). Eine Figur wie den Mann ohne Eigenschaften aus ihrer Geschichte herauszulösen, das bedeutet im vorliegenden Falle, sie in die Vaterlosigkeit zu begleiten. Wenn Ulrich sich, ganz wörtlich, seines »Erzeugers« entledigt sieht, dann ist er zu einem Helden ohne Autor geworden. Wie Hände, die sich selbst zeichnen, verlässt der Mann ohne Eigenschaften eine geschichtsbildende Fabel, welcher die auktoriale Reichweite seines Urhebers nicht mehr gewachsen war. »›Ich lebte hier über seine Verhältnisse‹« (MoE, S. 655), kommentiert der Protagonist, ebenso schuld- wie selbstbewusst.

Bernd Hüppauf

Literarische Ethnologie Moderne, Primitivismus und der Erste Weltkrieg Abstract: The discovery of primitive art and civilization in France and Germany around 1900 meant a serious disruption of modernity in terms of both theory and artistic practice. At a time of widespread disillusionment with modernity, ethnology emerged as a key discipline for arts and literature. Robert Musil was deeply involved in the novel ethnology of contemporary society. A combination of primitivism and gestaltpsychology informed his attempt to understand the world, including the outbreak of unprecedented violence in World War I . This specific perspective distanced Musil and other modernist writers from the common interpretation of the war as a catastrophe. In his novel and essays he conceived the war as a period characterized by a simultaneity of rationality and magic, leading to productive destruction.

1. Krise der Moderne, Primitivismus und Erster Weltkrieg: ein komplexer Zusammenhang Dass die Zeit um 1900 und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ›nicht geheuer‹ waren, ist seit langem eine allgemeine Überzeugung, die auf die historischen Quellen selbst zurückgeht.1 Auf der Grundlage literarischer Texte Rainer Maria Rilkes, Fritz Mauthners sowie Hugo von Hofmannsthals, insbesondere seines fiktiven Briefs des Lord Chandos – »Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«2 –, bezeichnete die ältere Literaturwissenschaft die frühe Moderne als Periode der Sprachkrise. Seit der Mitte der 1960er Jahre führte eine disziplinär erweiterte Perspektive, vor allem gestützt auf Psychologie und Psychoanalyse, zur Diagnose einer Bewusstseinskrise, die 1

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Karl Bleibtreu sprach von einer Revolution der Literatur (1896), meinte allerdings speziell den Naturalismus. Auch viele andere Zeitgenossen um 1900 empfanden das Bedürfnis nach kritischer Gegenwartsdiagnose und haben zahlreiche Beschreibungen, Analysen und Manifeste publiziert. So unternahm Hermann Bahr um 1890 mehrere einschlägige Versuche. Andere Autoren wie Samuel Lublinski, der eine Bilanz der Moderne (1904) zog, waren radikaler; vgl. Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Berlin 1904 (neu hg. v. Gotthart Wunberg. Tübingen 1974). Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: ders.: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (= Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 461–472, hier S. 465.

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über Sprache und Literatur hinaus die mentale Verfassung der Zeit um 1900 erfasst hätte.3 Die Skepsis gegenüber dem Wort im Fin de Siècle könne nur verstanden werden im umfassenderen Kontext einer unverständlich werdenden Welt, in der das Selbst und das Wissen problematisch geworden waren. Der Mensch habe sich – so wurde in einer frühen Analyse formuliert – »durch seine hoch getriebene Intellektualität aus seinem früheren, unmittelbaren Verhältnis zur Welt hinausräsoniert.«4 Die eigene Zeit erschien plötzlich rätselhaft fremd und erhielt Eigenschaften, die Sigmund Freud unter dem Signum des ›Unheimlichen‹ analysierte (1919).5 Inzwischen hat die neuere Kulturwissenschaft begonnen, die Problematik dieser Jahre noch weiter und fundamentaler zu fassen und im Rahmen einer krisenhaften europäischen Moderne zu beschreiben.6 Der folgende Aufsatz schließt sich diesem Verständnis der Zeit nach 1900 an und stellt einen Zusammenhang her zwischen Moderne, Primitivismus und Erstem Weltkrieg, der auf andere Weise als Kriege der vorausliegenden Jahrhunderte als massiver Einschnitt im Leben und Denken, in gesellschaftlicher Praxis und vorgestellter Welt erfahren wurde. Hatte bereits die ältere Diagnose einer Bewusstseinskrise, gestützt auf den Zusammenhang von Literatur und Schizophrenie, Freuds Analyse des ›Unheimlichen‹ aufgegriffen, so macht die Einbeziehung des Bekenntnisses zum ›Primitiven‹ sowie des Kriegs die Interpretation dieser historischen Periode noch einmal ›unheimlicher‹. Ins Zentrum der vorliegenden Ausführungen stelle ich Robert Musils Auseinandersetzung mit dem Krieg in einem literarisch-philosophischen Gedankenexperiment zur Krisenbewältigung,7 in dem das ›Unheimliche‹ und die schizophrene Spaltung aus

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Vgl. Winfried Kudszus (Hg.): Literatur und Schizophrenie. Theorie und Interpretation eines Grenzgebiets. Tübingen 1977 (= Deutsche Texte, Bd. 45). Vorausgegangen war Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965 (= Sprache und Literatur, Bd. 25). Theodore Ziolkowski: James Joyces Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 594–616, hier S. 598. Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud u. a. Bd. 12: Werke aus den Jahren 1917–1920. Frankfurt a. M. 61986, S. 229–268; auch in: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. IV : Psychologische Schriften. Frankfurt a. M. 1982, S. 241–274. Vgl. Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München 2009; Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2012; Florian Giese: 1913 – oder das Ende der Menschheit: Countdown in die Krise des 20. Jahrhunderts. Berlin 2016. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften ist ein Kriegsroman, der nicht vom Krieg spricht. Nach wenigen Vorarbeiten – besonders von Hartmut Böhme – hat Alexander Honold Pionierarbeit für eine solche Lektüre des Romans geleistet, ohne sich vom Fehlen expliziter Aussagen beirren zu lassen: »Aus ihrem Fehlen unbedingt den Fluchtpunkt der Interpretation gewinnen«, ist das mutige Motto seiner Untersuchung (Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 [= Musil-Studien, Bd. 25], S. 17). Vgl. Hartmut Böhme: Anomie

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ethnologischer Sicht mit der Rationalität des 20. Jahrhunderts korreliert werden.

2. ›Moderne‹ als soziologischer Begriff: für ästhetische Phänomene ungeeignet Der Begriff ›Moderne‹ hat bald nach seiner epochalen Bestimmung im späten 19. Jahrhundert8 den künstlerisch-philosophischen Diskurs verlassen, wurde ›soziologisiert‹, an die Industrialisierung geknüpft und dient seitdem dem Versuch, die Exklusivität der Entwicklung der europäischen Gesellschaften auf soziologische und ökonomische Begriffe zu bringen. Nachdem die Moderne in den Metropolen Wien und Berlin von Künstlern, Kritikern und Schriftstellern ausgerufen worden war, verschwand in ihrer ›Soziologisierung‹ viel von der hochgespannten Phantasie des künstlerischen Neubeginns um 1900. Der Wechsel in soziologische und politische Definitionen hat die Atmosphäre abgekühlt, die Bedeutungsfülle eingeengt und die Dimension des ›Unheimlichen‹ zurückgedrängt.9 Aus systemtheoretischer Perspektive bilden Kunst und Literatur ein System unter anderen Systemen, die nach gleichen Regeln ablaufen.10 Wenn wir in der Terminologie Luhmanns von einer Gesellschaft der funktionalen Ausdifferenzierung in Teilsysteme, die voneinander abgeschlossen sind, sprechen, bleibt das ›Subsystem Kunst und Literatur‹ eigentümlich starr und fremd.11 Das Differenzierungsmodell ordnet die immanente Widersprüchlichkeit den homogenisierenden Forderungen eines ›Subsystems‹ unter anderen Systemen unter. Der entsprechende Modernebegriff glättet elementare Spannungen von Kunst und Literatur und führt in der Folge dazu, trotz einer eminenten Heterogenität des Gegenstands Einheitlichkeit wahrzunehmen.12 Das ›Subsystem Kunst und Literatur‹ unterscheide sich von anderen Subsystemen durch das Vermögen der Wahrnehmung, argumentiert Dirk Baecker. Die Wahrnehmung werde, ohne der Frage nach

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und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Kronberg i. Ts. 1974. Ein knappes Referat der Vorgeschichte der Begriffe liefert Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93–131. Vgl. Benjamin Nelson: Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß. Frankfurt a. M. 1977, S. 172–179. Vgl. Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Wiesbaden 1992 (2. Aufl. 2006). Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995. Exemplarisch sei genannt: Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1989. Ambivalenzen vermeiden diese Einführungen. Eine Popularisierung von Adornos Theorie der ästhetischen Moderne bietet Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 2005.

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›Ja‹ oder ›Nein‹ ausgesetzt zu sein, in einem zweiten Schritt gesellschaftlich kommuniziert.13 Ein einheitlicher Begriff der Moderne und die Trennung von Wahrnehmung und Kommunikation verdeckt indes, dass der Begriff ›Moderne‹ eine in sich widersprüchliche Welt bezeichnet, in der Literatur nicht funktioniert. Ein solches Verständnis von ›Moderne‹ trennt Praktiken der Destruktion wie Krieg und organisierte Gewalt vom Zivilisationsprozess und seinen Diskursen, konstruiert einen schematischen Gegensatz zu Produktion, Markt, Handel, Heimat, Archiv und Museum und schließt im Übrigen auch Praktiken des ›Primitiven‹ aus dem kulturellen Gedächtnis aus. Die Spannung zwischen Gegensätzen wie Provokation und Anpassung, forcierte Innovation und Tradition, ›primitiv‹ und ›rationalistisch‹ wird im verbreiteten Gebrauch des Modernebegriffs in ein Entweder-Oder überführt und geht damit verloren. ›Moderne‹ behindert in diesem Verständnis die Wahrnehmung der Besonderheit einer künstlerischen und literarischen Periode, in der Kunst und Literatur inkonsistente und aporetische Verhältnisse schufen. Betrachten wir die poetischen und ästhetischen Praktiken der Zeit nach 1900, so ist es offensichtlich, dass der Begriff ›Moderne‹ die Wahrnehmung intrinsischer Widersprüchlichkeit und von Paradoxie erschwert oder gar verhindert. Die ihm ansonsten inhärenten künstlerischen und literarischen Paradoxien werden aufgelöst oder verdeckt und der Beobachter letztlich getäuscht. Wir können eine ästhetische, künstlerische oder literarische Moderne unterscheiden und stellen fest, dass diese Formationen nicht deckungsgleich mit der soziologisch definierten Moderne sind. Auch die Unterschiede zwischen Kunst und Literatur sind signifikant. Die Wiener Moderne unterscheidet sich in vielen Hinsichten von der Berliner Moderne. Über die Frage, worin die Ästhetik der Moderne besteht, gibt es nicht einmal eine annähernde Übereinstimmung. Oppositionen, von denen Luhmann spricht, die ›Schön‹-›Hässlich‹-Dichotomie, die bewertende Trennung von Ornament und Kunst oder die Täuschung durch Realismus, hatte bereits das 19. Jahrhundert überwunden. Dem Verständnis von Kunst und Literatur der Moderne als Subsystem von gelungener oder verfehlter Kommunikation liegt eine Anschauung zugrunde, die vor dem Einbruch des ›Primitiven‹ in die europäische Ästhetik, Kunst und Literatur stehen bleibt. Ohne die Entdeckung des ›Primitiven‹, die von Anfang an eine Provokation bedeutete, lässt sich kein angemessenes Bild der ästhetischen Moderne entwickeln. Sie liefert ein bemerkenswertes Beispiel für die Defizite soziologischer Modernetheorien. Sie schließen den Primitivismus meist aus oder verwerfen ihn als Gegensatz. Für die Zwecke 13

Vgl. Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin 2 2001; ders.: Die Adresse der Kunst, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 82–105; ders.: Zu Funktion und Form der Kunst, in: Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller (Hg.): Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozio-ästhetischen Deutungsmusters. Wiesbaden 2007, S. 13–36.

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des vorliegenden Aufsatzes, der die Krise und Erneuerung der Moderne um 1900 mit dem Primitivismus verknüpft, ist eine solche Definition der Moderne unbrauchbar.

3. Enttäuschung um 1900 und Neubeginn Sobald wir ›Moderne‹ nicht mehr primär als einen soziologisch-politologischen Begriff verstehen, sondern von einem ästhetisch-moralischen Terminus sprechen, lässt sich ihr Anfang auf die Zeit um 1800 datieren, und Friedrich Schiller wird zum Diskursbegründer. In seinen Schriften zur Ästhetik entwickelte er das Programm der Moderne, das im bürgerlichen 19. Jahrhundert herrschte.14 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts drehte sich der Wind im Denken von Kunst und Literatur in der Geschichte. Politik und Kultur eines Jahrhunderts hatten das idealistische Programm ›Moderne‹ nicht bestätigt, und das ›Modell Schiller‹ geriet um 1900 in eine Krise. Dem Modell der Konsistenz und gesellschaftlichen Teilnahme hatte sich die Literatur von Anfang an nicht widerstandslos eingefügt. Der Linearität und Logik des Fortschritts widerstrebte sie bereits seit dem Sturm und Drang und der Romantik und in offener Opposition seit dem späten 19. Jahrhundert.15 Im Angesicht der gescheiterten politischen Revolutionen, der katastrophalen Wirklichkeit Europas – vom sozialen Elend zum Krieg – und der Herrschaft der neuen Wissenschaften breitete sich Enttäuschung aus, die von Zeitanalytikern beobachtet und unter anderen von Sigmund Freud suggestiv formuliert wurde. Versuche, »die geistige oder wenigstens die Seelenlage der Zeit« um und nach 1900, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart fortwirken, zu beschreiben, sind überaus zahlreich. Norbert Bolz etwa stellt fest, die Moderne habe »uns mit idealistischen Zumutungen überlastet und mit humanistischen Idealen geködert.«16 Das gilt für den Modernebegriff nach 1800, aber nicht für jene Moderne, die sich um 1900 grundsätzlich neu formierte. Um 1900 lässt sich der Beginn einer grundlegenden Erneuerung der Moderne ausmachen, deren Theorie und Eigenbild sowohl auf den Praktiken der Wissenschaften als auch auf dem gleichzeitigen elementaren Zweifel an ihnen 14

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Nachdem die Bedeutung von Schillers Ästhetik und Kunstphilosophie im 20. Jahrhundert nahezu vergessen war, ist sie vor kurzem wieder hervorgehoben worden; vgl. Jacques Rancière: Le partage du sensible. Esthétique et politique. Paris 2000, dt.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin 2006; Georg Bollenbeck, Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln u. a. 2007. Einige wegweisende Beiträge zum Thema enthält die Aufsatzsammlung von Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung, Bd. 40). Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 38–66. Norbert Bolz: Theorie der Müdigkeit – Theoriemüdigkeit, in: Telepolis, 9. 6. 1997.

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beruht. Die Zeit der Ambivalenz begann, unberechenbare Zufälle kehrten zurück und wirkten nicht nur als Kontingenz in der Zivilisation, sondern griffen wie eine Naturgewalt in das Leben ein. Die Auflösung der Kausalität wurde als Existenzform verstanden. Die Präferenz des Handelns gegenüber der Vorstellung wurde abgebaut.17 Paradoxien, immanente Oppositionen, Inkonsistenz und inkompatible Zeitlichkeiten wurden die auszeichnenden Merkmale. Literatur und Kunst gewannen Autonomie gegenüber einer unmittelbaren Verwertungslogik. Das Fiktionale, das »Als-ob« (Vaihinger) der vorgestellten Wirklichkeit, wurde als autonome Existenzform verstanden. Wenn sich die Moderne um 1900 mit gänzlich anderen Mitteln konzipierte als ihre Vorgängerin, so ist eine Verschiebung von der ›Theorie der Poetik‹, um 1800 entworfen, zu einer ›Poetik der Wahrnehmung‹ zu beobachten. Damit verschwand die Grundlage für das Verhältnis von Kunst und Ethik, das seit dem 18. Jahrhundert gegolten hatte. Die Dichotomie ›gut‹ vs. ›böse‹ versank in die Banalität des Alltags und wurde durch die Opposition ›Mimesis‹ vs. ›Konstruktion‹ abgelöst bzw. durch die Opposition von ›gut‹ vs. ›schlecht gemacht‹ ersetzt. In seinem kurzen Prosatext Triëdere behandelt Musil ein Medium als eine Technik, die bisher verborgene Aspekte der Wirklichkeit sichtbar macht. Die erste Grundfrage der Moderne, von Kant in der denkbar einfachsten Form gestellt, wurde nun aufgeteilt: Aus »Was kann ich wissen?« wurden die Fragen ›Was kann ich wissen?‹ und ›Was kann ich wissen?‹. Die Trennung der einen Frage in zwei war ein Akt des Neubeginns aus der Desillusionierung. Sie löste das Problem aus dem Rahmen der Philosophie und unterstellte es der Forschung durch methodische Disziplinen. Auf die erste Frage reagierten Psychologie und Neurologie. Auf die zweite reagierten Phänomenologie und Ethnologie.18 Die Reaktionen vermieden Eindeutigkeit, pflegten die Ambivalenz und machten das Wissen perspektivisch. Einzig die Neurologie hielt an der Einheit von Kants Satz fest und ging weiterhin davon aus, dass sowohl das Ich als auch das Wissen objektiv bestimmt werden könnten. Auch diese Position hat in der Gegenwart ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Für Benn, Musil und andere Schriftsteller, die über die sich erneuernde Moderne nach 1900 reflektierten, war Literatur kein »soziales System, das in der Gesellschaft auf ausgezeichnete Art und Weise die Funktion wahrnimmt, sich an die Wahrnehmung psychischer Systeme [. . .] zu wenden.«19 Ausdrücklich verwahrte sich auch Benn dagegen, Dichtung unter den Be17

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Gleichzeitig mit der Autonomie von Literatur und Kunst entstanden allerdings neue Arten des eingreifenden Handelns, l’art engagé, Feminismus, Pazifismus, Syndikalismus und ein neuer Anarchismus. Kunst wurde dort als Waffe in der Politik entwickelt. Aspekte dieser Reaktion behandelt Hans Peter Hahn: Ethnologie. Eine Einführung. Berlin 2013. Baecker: Zu Funktion und Form der Kunst (s. Anm. 13), S. 13, unter Verweis auf Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (s. Anm. 11).

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griff der Kultur zu subsumieren. Sie sei vielmehr deren Störung. Als Beitrag zu einem internen Komplexitätszuwachs ist Literatur aus dieser Sicht missverstanden. Im Unpassenden und Unangepassten zeigte sich gemäß Benns Anschauung von Literatur die Moderne. In Paradoxien und Antinomien liege das Wesen der Kunst. Musils »Möglichkeitssinn« (MoE, S. 16) liefert im Gegensatz zum »Seinesgleichen geschieht« (MoE, S. 81) einen Ausdruck für die Nicht-Funktionalität der Kunst, die eine konstitutive Antinomie der Moderne bildet.

4. Primitivismus Das ›Primitive‹ ist ein offener und durch Definitionen im Lauf des 20. Jahrhunderts nur vage festgelegter Begriff.20 Er löste zunächst eine veritable Faszination aus, und der nach ihm benannte Primitivismus war nach 1900 ein wesentliches Element des Nicht-Funktionalen. Die Primitivismus-Debatte kann als Vorbotin der Postmoderne gelten. Die gegenwärtige Diskussion über die Frage, was Europa zusammenhält und wie seine Werte zu bestimmen sind, setzt den Krisendiskurs des frühen 20. Jahrhunderts in gewisser Weise nur fort. Zu seinem Ursprung gehörte unter anderem die Frage, was wir eigentlich vor dem inneren Auge haben, wenn wir von ›Zivilisation‹ sprechen. Das Verhältnis zum ›Wilden‹ oder – in neuerer Diktion – ›Primitiven‹ wurde dafür zu einer Art von kulturellem Lackmustest und unterscheidet die erste Moderne nach Schiller grundsätzlich von der neuen Konzeption der Moderne um und nach 1900.21 Desillusionierung lenkte den Blick, der das ›Primitive‹ entdeckte. Gemessen am Ideal der europäischen Geistes- und Kunstgeschichte wirkte im ›Primitiven‹ eine Kraft, die die Autorität des europäischen Diskurses stürzte oder zumindest erschütterte. Die Tradition der europäischen Antike hatte cultura und barbaria in einen ausschließenden Gegensatz gestellt. Die Entdeckung des ›Primitiven‹ um 1900 markierte nun das Ende dieser Opposition. Sie erhielt sich nur in kulturkonservativen Kontexten.22 Aus ›Wilden‹ wurden nun ›Primitive‹, aus einer überwundenen Stufe der Zivilisation am ›Rand der Welt‹, wo die ›Wilden‹ wohnten, wurde nun die Welt der ›Primitiven‹ als ein Ort der Sehnsucht für enttäuschte Europäer.23 Das Bedürfnis nach Erneuerung Eu20

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Vgl. Wolfgang Riedel: Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900, in: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr, Roger Paulin (Hg.): Das schwierige 19. Jahrhundert. Tübingen 2000 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 77), S. 467–485. Vgl. zum Kontext Jörg Robert, Friederike Felicitas Günther (Hg.): Poetik des Wilden. Wolfgang Riedel zum 60. Geburtstag. Würzburg 2012. Der Zusammenhang mit dem Schönheitsideal des Faschismus ist komplex, wie u. a. die Bildästhetik Leni Riefenstahls zeigt. Vgl. Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie 1870–1960. München 2005, S. 359 u. ö.

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ropas leitete das Interesse an den Kulturen Afrikas und der Südsee. Der neue Blick führte eine neue Wertung des ›Barbarischen‹ ein, betrieb aber weder eine Gleichsetzung der Zivilisationen mit ihm noch den Versuch einer Rückkehr zum ›Barbarischen‹. Die Begeisterung für das ›Primitive‹ setzte einen Primitivismusdiskurs in Gang, in dem das ›Primitive‹ nicht die Kopie des Lebens in frühen Gesellschaften war und der die Kunst, dem Anschein zum Trotz, nicht in das Aboriginäre einzutauchen suchte.24 Das Gemeinsame aller als primitiv, ursprünglich, authentisch oder archaisch bezeichneten Kulturen existiert nicht. Eine gemeinsame Frühkultur aller Menschen hat es nicht gegeben. Sie entstand in einer mentalen Operation in der Neuzeit Europas. Das ›Primitive‹ war die Folge eines bewusst gelenkten Blicks, der die Unterschiede nicht verwischte, aber klaffende (zeitliche und strukturelle) Abstände übersprang. Primitivismus entwickelte sich im Rahmen der modernen Zivilisation. Es ging den Künstlern, Malern und Intellektuellen nicht darum, zu leben, zu empfinden und zu produzieren wie die Menschen einer ›primitiven‹ Gesellschaft. Sie träumten nicht von einer einfachen Regression, sondern von der Erweiterung des Lebens in der modernen Welt, wollten Zauber erleben, ohne aber die aufgeklärte Kritik dieses Zaubers zu vergessen. Künstler beabsichtigten nicht, Experten für ›primitive‹ Kulturen zu werden. Sie wollten nicht mit Ethnologen konkurrieren, auch wenn sie, wie Gauguin, Europa verließen und in eine der als primitiv bezeichneten Gesellschaften zogen. Was war ›primitive Kunst‹ für ihre Entdecker, und was wollten sie?25 Gauguin zog in die Südsee. Die Südseemenschen um ihn herum lebten das ›Primitive‹, aber sie wussten es nicht. Denn sie hatten keine Ahnung von anderen Gesellschaften und von der Komplexität der Gesellschaft der europäischen Moderne. Das alles brauchten sie nicht. Gauguin aber brauchte den Sinn für Unterschiede und das Gedächtnis als erinnerte Sphäre, um überhaupt wahrzunehmen, was um ihn herum den Namen des ›Primitiven‹ verdiente. Er zog in die Südsee, um die Städte, die Landwirtschaft, die Bequemlichkeiten des Alltags und die Akademien hinter sich zu lassen. Aber im Kopf trug er all das mit sich. Das ›Primitive‹, besser: das Interesse Europas an außereuropäischen Kulturen, das unter dem Wort ›Primitivismus‹ zusammengefasst wurde, entwickelte sich zu einer mentalen Einstellung, in der sich die Enttäuschung über die eigene Welt in Neugier auf die fremde Welt transformierte und ein neues Verständnis beider auslöste. 24 25

Es gibt Beispiele für eine naive Universalisierung des ›Primitiven‹. Sie sind marginal und können unberücksichtigt bleiben. Ein aufschlussreiches neueres Beispiel liefert der Reisebericht eines Sprachwissenschaftlers, der sieben Jahre im südamerikanischen Dschungel gelebt hat und danach nach Europa zurückgekehrt ist: Daniel Everett: Das glücklichste Volk. München 2010. Vgl. Hartmut Zinser: Zur Faszination des Schamanismus, in: Michael Kuper (Hg.): Hungrige Geister und rastlose Seelen. Texte zur Schamanismusforschung. Berlin 1991, S. 17–26; die Gegenposition entwickelt Roger Uchtmann: Schamanisches Sein als dialektischer Modus, in: ebd., S. 151–180.

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Das ›Primitive‹ in Kunst und Literatur um 1900, das sollte nicht vergessen werden, gehört zu den großen Unwahrscheinlichkeiten der Geistesgeschichte. Seit der Ausstellung im MoMA (1984) hat es keinen Überraschungswert mehr, sondern nach dem Abebben der Proteste eine gewisse Natürlichkeit gewonnen. Wir haben uns inzwischen an die Unwahrscheinlichkeit gewöhnt,26 in der entwickelten Kunst der Moderne die Anfänge der Kunst wiederzufinden. Man hat zu Recht von einer Wahlverwandtschaft gesprochen.27 Carl Einsteins Negerplastik war ein Meilenstein. In seiner Archäologie des Wissens betont Foucault die »Diskontinuität«, die er an die Stelle einer »kontinuierlichen Chronologie der Vernunft« setzt,28 und knüpft dabei implizit bei Nietzsche und Lévy-Bruhl an; in diesem Zusammenhang wird es möglich, die plötzliche und tiefe Wirkung des ›primitiven Denkens‹ auf die europäische Moderne zu erklären. Man kann vom Versuch sprechen, Distanz in eine produktive Beziehung zu überführen. Im Primitivismusdiskurs bemerken wir eine Faszination durch das Fremde, aber im Hintergrund stand die Frage nach der eigenen Wirklichkeit. Aus der Berührung mit der Kunst und dem Denken der ›Primitiven‹ versprachen sich einige offene Geister, die Enttäuschung über die Entwicklung Europas empfanden, eine Erneuerung des eigenen Denkens und Lebens. Malerei und Literatur erhoben das nicht-expressive und nichtpsychische Wirklichkeitsverhältnis von Kulturen, die bis dahin als brutal, wild, unentwickelt gegolten hatten (auch die positive Bewertung des ›Wilden‹ durch Rousseau änderte nicht die Charakterisierung), zum Prinzip der eigenen Kunst und Lebensverhältnisse.29 Eine Implikation des Primitivismus war der Fall der Ethik und der Aufstieg des Artistischen. Die ethisch grundierte Kategorie des ›Wahren‹ wurde von bloßer ›Widerspruchsfreiheit‹ ersetzt. Mit dieser Verschiebung ging die Neubewertung von Gewalt und Krieg einher. Dieser Bewertungswandel bildet bis heute eine Herausforderung. Der Primitivismus um 1900 ist als Regression verstanden werden. David Pan hat ihn in einen Gegensatz zum Modernismus gestellt und als Anti-Moderne gedeutet.30 Die Moderne identifiziert er mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihrer Nachwirkung. 26

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Vgl. William Rubin (Hg.): »Primitivism« in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern. New York 1984; dt.: ders. (Hg.): Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. München 1984. Vgl. Surrealismus und primitive Kunst. Eine Wahlverwandtschaft. Hg. v. d. Fondation Pierre Arnaud. Ostfildern 2014. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 17. Der Primitivismus führte diese kulturelle Neuorientierung auf derselben Grundlage ein, die zu Völker- und Heimatkundemuseen führte. Vgl. David Pan: Primitive Renaissance. Rethinking German Expressionism. Lincoln 2001; Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich. Cambridge 1986, vermeidet die Opposition, bleibt aber in der Wertung von ›modern‹ und ›reaktionär‹ befangen.

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Er vermeidet die enge Interpretation der Bewegung als Opposition von Mythos und Aufklärung, doch interpretiert er die primitivistische Ästhetik als Negierung der Moderne und betont ihre Kritik am modernistischen Lebensentwurf. Maßgebliche Werke der Kunst und Literatur dieser Zeit erscheinen aus dieser Optik als regressiv. Künstler wie Picasso, Paul Klee, Joan Miró, Max Ernst und Kandinsky interpretiert er als eine Gegenmoderne, die Kunst und Phantasie über die Wissenschaft gestellt und zu einem antimodernen Irrationalismus beigetragen habe. Diese Gegenüberstellung von ›modern‹ und ›primitiv‹ wird der Komplexität und Ambivalenz des Verhältnisses jedoch keineswegs gerecht.

5. Das ›Primitive‹ in der Literatur Die Kunst der ›Primitiven‹ ließ sich »visuell umsetzen«, d. h. zitieren, montierten und variieren, so dass »durch prinzipiell analoge visuelle Vergleiche die Schaffung eines eigenen Personalstils« möglich wurde.31 Eine analoge Umsetzung war in sprachlichen Kunstwerken nicht möglich. Ein literarischer Primitivismus, der dem Primitivismus in der Kunst entsprechen würde,32 konnte nicht entstehen. Dennoch war der Primitivismus auch in der Literatur folgenreich. Nicht die Gegenstände und Inhalte, sondern die Form und die Struktur der Wahrnehmung machten die Wirkung aus. In diese Richtung wiesen bereits frühe Gedankengänge zu dem irritierenden Verhältnis vom ›Primitiven‹ und der Moderne.33 31 32 33

Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven (s. Anm. 23), S. 360. William Rubin wurde wegen der Ausstellung im MoMA von Kunsthistorikern heftig kritisiert. Erwähnen will ich zwei Arbeiten der 1930er Jahre, die zum erstenmal systematisch die Frage nach der Beziehung der Moderne zu den Kulturen ›primitiver Gesellschaften‹ stellten. Robert Goldwaters Primitivism in Modern Art (1938) untersuchte die enge Beziehung zwischen der Kunst der Gegenwart und jener ›primitiver Kulturen‹. Der Erfolg seiner Arbeit war mäßig. Ein Grund dürfte darin gelegen haben, dass er die Gemeinsamkeit der beiden weit auseinanderliegenden Phasen der Kunstproduktion in der ›Suche nach dem Einfachen‹ vermutete. Das war weder damals, noch ist es heute eine überzeugende Erklärung des Anknüpfens der Moderne an die ersten Anfänge. Das ›Einfache‹ ist eine unbegründete Zuschreibung, die weder der frühen noch der modernen Kunst, etwa der Pseudo-Kindlichkeit Paul Klees, gerecht wird. Das ›Primitive‹ ist das Gegenteil des ›Einfachen‹, aufgeladen mit komplexen Umweltbeziehungen durch den Mythos und kulturelle Techniken der Kontakte zu Ahnen und Geistern. Kurz zuvor hatten Arthur O. Lovejoy und George Boas das Buch Primitivism and Related Ideas in Antiquity (1935) über Theorie und Geschichte des Primitivismus publiziert. Sie beschränkten sich auf die Antike, stellten allerdings Grundsätze der Theoretisierung des ›Primitiven‹ auf, das sie generell als Vor-Moderne verstanden. Primitivismus sei in den frühen Zeiten der Kultur aus einer philosophischen Reflexion (meditations) der menschlichen Entwicklung entstanden. Sie unterscheiden zwischen einem chronologischen und einem kulturellen Primitivismus und sprechen von einem weichen Primitivismus, der oft als Wiederbelebung des Mythos vom Goldenen Zeitalter auftrete. Den weichen Primitivismus haben – so lässt sich ergänzen – die Lebensreformer und Aussteiger von Gauguins Idealisierung der Insel Martinique bis zum Monte Verità

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Franz Boas und Lucien Lévy-Bruhl waren die ersten Ethnologen, die die Ausnahme des Kausalitäts- und Teleologiedenkens, den weltgeschichtlichen Sonderweg, betonten und Gerechtigkeit für das Denken der ›Primitiven‹ forderten. Den Gedanken einer auf die Autonomie des Subjekts zielenden Entwicklung relativierten sie durch die Betonung der Geltung des Denkens der ›primitiven Kulturen‹, für die die Entwicklung des Selbst bedeutungslos war. Das ›primitive Denken‹ ist – argumentierten sie konsistent (LévyBruhl allerdings mit Einschränkungen) – nicht historisch eine Vorstufe des modernen, subjektzentrierten und wissenschaftlichen Denkens, sondern epistemologisch eine Variante des Denkens. Nietzsche hatte kurz zuvor vom »Erbfehler der Philosophen« geschrieben, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an’s Ziel zu kommen meinen. [. . .] Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes. [. . .] Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch sein Erkenntnissvermögen geworden ist [. . .].34

Diese Lektion der Genealogie ohne Wertung lernten die Ethnologen, und Künstler der Zeit wollten über sie belehrt werden. Eine Neigung der Literatur zu Formen des Denkens und Schreibens entstand, die dem Bild, das sich die Ethnologen von ›primitiven‹ Gesellschaften machten, korrespondierte.35 Das ›Primitive‹ war in der Literatur nicht durch Objekte bestimmt, sondern durch die Methoden der Wahrnehmung und Kunstproduktion, durch den Weg zum Bild von Welt und nicht durch das Bild. Das ›Primitive‹ wurde nicht allein an afrikanischer, ozeanischer und anderer außereuropäischer Kunst studiert, sondern auch in der eigenen Nähe gesucht, etwa in Gauguins Bretagne oder – wie Musils Erzählung Grigia zeigt – im einem abgelegenen Alpental, in das der Protagonist Homo eine ›Expedition‹ macht, um das ›Primitive‹ in der eigenen Gegenwart und geographischen Nähe zu erleben. Eine Wirkung des Primitivismus war die Ästhetisierung von Kunst und Literatur: Die aus Schillers Moderne-Konzept überkommene Harmonie von Ästhetik und Ethik war aufgehoben. Das Problem des Materials stellte sich neu. Eine Folge der Disjunktion, die Schiller in harmonischen Ausgleich überführen wollte, war Distanz bzw. Differenz. Diese sollte um 1900 durch die Verwerfung des Gedankens einer Trennung in ›natürlich‹ und ›sublimiert‹ und der Bewertung von ›wild‹ und ›verfeinert‹, Herrschaftsdenken und Sinneswahrnehmung zurückgenommen werden.

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praktiziert, und er lebte – wie wir heute hinzufügen könnten – in Margaret Meads und Ruth Benedicts idealisiertem Bild der Südseekulturen weiter. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II . München 1988, S. 9–366, hier S. 24. Vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven (s. Anm. 23), S. 366 f.

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Die Tendenz zur Eindeutigkeit, zur vernunftgeleiteten und ethischen Zielsetzung und zur Unumkehrbarkeit von Zeit wurde durch Unschärfe, neue Formen des Nicht-Rationalen und Spiritismus und im Primitivismus durch phantastische Ungleichzeitigkeit nicht eigentlich erweitert, sondern ersetzt.36 In der Literatur und Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, die sich explizit als modern verstand, löste sich Eindeutigkeit auf, Zusammenhang zerfiel in unzusammenhängende Dinge, und der wissenschaftlichen Präzision widersprach Unschärfe. Grenzen fielen, Gattungen lösten sich auf, und das Neue entstand in der Auseinandersetzung mit der Kunst der ›Primitiven‹, die als fremd wahrgenommen wurde, aber nicht als ›entfremdet‹ oder gar als Beitrag zur ›Zerstörung der Vernunft‹ und ›Weg in den Irrationalismus‹, wie Lukács argumentierte. Vom Fin de Siècle zum Surrealismus zieht sich das Programm einer Befreiung der Oppositionen, die zur Grundlage der Klassischen Moderne gehört hatten. Das Ende der Opposition von Form und Material, aktivem Denken und passiver Wahrnehmung, von zivilisiert und barbarisch, primitiv und modern fand zahllose Formulierungen. Der Versuch, objektive Kriterien für das Geschmacksurteil zu finden und es zu universalisieren, dem Kant in der dritten Kritik viel Energie gewidmet hatte, wurde aufgegeben und das Urteil durch Ambivalenz suspendiert. Der geschichtliche Prozess verlor an Bedeutung, und Kunst eroberte sich Freiheit aus Synchronizität. Bis dato als ungleichzeitig und hierarchisch aufgefasste Differenzen und subjektive Verhältnisse zur Welt wurden durch Gleichzeitigkeit und Gleichheit ersetzt. Umschloss der Prozess in Schillers Konzept gleichermaßen Autonomie und die Funktionalität von Kunst, so unterbrachen nun Synchronizität und Wiederholung die Bindung an gesellschaftliche Evolution. Es ging um das Strukturelle der Ereignisse, und sie setzten die Bestimmung der Kunst im Jetzt absolut – zumindest als Tendenz. Das Ethos der Mimesis wurde von den Prinzipien der Konstruktion und Wiederholung abgelöst. Man kann mit Kierkegaard von einer anti-teleologischen Suspension (Furcht und Zittern) sprechen. Musils Texte korrespondieren der Sakralisierung des Augenblicks durch die Surrealisten und Avantgarden. Elemente dieses Denkens waren: Abkehr von Ethik, von ethno- und androzentrischen Konzepten, vom universalen Wahrheitsanspruch in Geschichte und Wissenschaft, von Zweckrationalität, von der Konzeption des autonomen Subjekts sowie die Wendung zum Perspektivismus und einer Welt der Zeichen und Medien und zugehörigen Kulturtechniken, zur Ambivalenz und Toleranz des Außermoralischen, zu Affekten und zur Emotionalität. Mit dieser Abkehr wuchs die Bedeutung der Welt der Dinge. 36

Vgl. Bernd Hüppauf: Clare et distincte. Vergangenheit und Gegenwart einer Maxime, in: Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller (Hg.): Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozio-ästhetischen Deutungsmusters. Wiesbaden 2007, S. 51–79.

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6. Wahrnehmung Die krisenhaft formierte, zerfallende Wahrnehmung, die Georg Simmel und Walter Benjamin am klassischen Ort der Moderne, der Großstadt, beschrieben haben, korrespondiert mit der wahrgenommenen Welt in Romanen wie Döblins Berlin Alexanderplatz und Musils Mann ohne Eigenschaften als Symptom des Kriegs, ohne dass von ihm ausdrücklich gehandelt würde.37 Musil schreibt in Triëdere das Lob des im Krieg neu eingeführten Prismenfernglases, weil es »die gewohnten Zusammenhänge auflöst« und eine andere als die vertraute Welt der Alltagsorientierung zeigt. Er setzt hinzu: »und die wirklichen entdeckt« (GW II, S. 522).38 Wie kommt der Apparat dazu, Dinge und ihre unsichtbaren Beziehungen, die hinter den gewohnten Zusammenhängen liegen, sichtbar zu machen? Er zeigt, dass die Wirklichkeit nicht die vom Blick scheinbar direkt wahrgenommene Welt ist, sondern durch Medien entsteht. Das Fernglas ist – direkter als Fotoapparat und Filmkamera – ein Mittel, die Welt medial zu machen. Es zeigt die Welt der technischen Medien und in ihr die wahre Welt der Gegenwart. Die ist variabel zusammengesetzt, und ihre Wahrheit ist unbeständig. Musils Triëder holt Entferntes in die Nähe und verändert Proportionen. Es unterstützt zwar die Beobachtung, aber es macht die beobachtete Welt zu einer anderen, da Abstände einschrumpfen, als ob das Ferne nahe wäre, da die Formen Geheimnisse preisgeben, wie wenn, in einer Analogie zur räumlichen Veränderung gesprochen, das Archaische in der größten Nähe zu beobachten wäre und schamanische Praktiken in die Moderne gezoomt würden. Es macht verborgenen Schrecken sichtbar: Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer. Ein Hut [. . .] entartet augenblicklich zu etwas Wahnsinnsähnlichem, wenn das Triëder seine romantischen Beziehungen zur Um37

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Die Präsenz des Kriegs, über den nicht gesprochen wird, ist auch am anderen großen Versuch, die Grundlagen des frühen 20. Jahrhunderts aufzudecken, Thomas Manns Zauberberg, beobachtet worden. Den Schlüssel für die Beziehung liefert bei Mann nicht die Ethnologie, sondern die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft von Hegel bis Freud. Vom Triëder-Effekt sprechen zahlreiche Texte Musils, z. B. die Novelle Tonka (1924): »Man geht zwischen Kornfeldern, [. . .] man ist fern aller Wahrheit, man ist in einer Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt.« – »Aber alle diese Dinge hatten etwas Schiefes, Vornübergeneigtes, fast Fallendes in ihrer Aufrechtheit, sie erschienen ihm unendlich und sinnlos. Er drückte seine Augen, sah umher, aber es waren nicht die Augen. Es waren die Dinge. Von ihnen galt, dass der Glaube an sie früher da sein musste als sie selbst; wenn man die Welt nicht mit den Augen der Welt ansieht und sie schon im Blick hat, so zerfällt sie in sinnlose Einzelheiten, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der Nacht.« (GW II, S. 289 u. 298)

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welt unterbindet und die richtigen optischen herstellt. [. . .] Und wie beängstigend wird das Zähnefletschen der Liebenswürdigkeit [. . .]. (GW II, S. 520 f.)

Musil präsentiert das Fernglas als eine verzaubernde Apparatur, die die Welt dämonisiere, aber dadurch zugleich ihren wahren Charakter zeige. Die mit dem Unheimlichen und dem Schrecken durchsetzte Welt ist in diesem Verständnis der Moderne grundlegend. Die Beziehung zu E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, auf die sich Freuds Analyse des Unheimlichen stützt, ist offensichtlich. Zauber schließt die Theorie der Moderne, die sich seit der Soziologsierung als Theorie der Entzauberung versteht, ausdrücklich aus. Eine Wahrnehmung, die zu einer Übereinstimmung von Technik und Zauber führte, sorgte für Ambivalenz und lieferte einen neuen Fluchtpunkt der Theoriebildung.

7. Primitivismus und die Suche nach Wirklichkeit Die Bedeutung der ›primitiven Kunst‹ und des ›primitiven Denkens‹ für die Kultur nach 1900 wird seit einigen Jahren erforscht, zunächst für die Kunst und nun auch für die Literatur.39 Nicola Gess verfolgt den Primitivismus in der Literatur nach 1900 und stellt drei Figuren der Alterität ins Zentrum: Wilde, Kinder und Wahnsinnige.40 Sie stehen für unterschiedliche, aber miteinander verbundene Wissensfelder: Ethnologie und Anthropologie, Psychopathologie und evolutionäre Psychologie sowie Psychoanalyse und die Theorie von Dissoziation und Schizophrenie.41 Sie erhalten die Funktion, ein jeweils disziplinspezifisches Wissen von der eigenen Kultur, ihren Ursprüngen und ihrem ›Anderen‹ hervorzubringen, das jedoch zu einer integrierten Theorie der modernen Welt zusammengesetzt werden kann. In der Literatur erschließen sie einen neuen Fragehorizont und initiieren die Entwicklung innovativer Formen des Schreibens und Zeigens. In Musils Roman führen drei Versionen der Alterität zur Auflösung der festen Beziehungen. Sie weichen von Gess’ Trias ab, denn der Erfahrungs- und Wissensmangel des Kindes spielt keine Rolle. Musils Trias bilden das Primitive, der Wahnsinn und der Krieg. Dabei entwickelt er das Innere der Erfahrung von Welt aus dem Abweichenden und Primitiven. Verursacht durch 39

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Vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven (s. Anm. 23); Sven Werkmeister: Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900. München 2010. Vgl. Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München 2013. Eugen Bleuler: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Leipzig, Wien 1911 (Neuausgabe: Gießen 2014). Vgl. Brigitta Bernet: Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbildes um 1900. Zürich 2013; sie spricht von einem weiten Schizophrenie-Begriff, »dessen Referenzpunkt das Soziale bildete« (ebd., S. 333).

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den Krieg, schiebt sich der Irrsinn in den Vordergrund der Wirklichkeitsanalyse. Die Entdeckung des ›Primitiven‹ wurde zu einem konstitutiven Gegenpol in der Konzeption der Moderne. Fragen der Wahrnehmungstheorien wurden aufgeworfen und mit dem Wissen der Zeit in Ethnologie und Anthropologie verbunden.42 Die Ethnologie hielt Einzug in die Literatur. Das Denken der ›Primitiven‹ war nicht allein Thema der akademischen Theorie. Es lässt sich in der Mentalität der Zeit aufspüren und erfasste die Produktionsweise von Kunst und Literatur.43 Wenn das moderne Denken die ›primitiven‹ Anfänge nicht überwunden hat, kann die Aufmerksamkeit sich auf den Weg richten, um dort das ›Primitive‹ aufzuspüren und aus dem Kontrast zu lernen, zu lernen, mit anderen Sinnen die Welt neu zu sehen. Literatur entfernte sich von der Narration und Entwicklungspsychologie. Für die Konstruktion eines Ichs verlor die Narration ihre konstitutive Bedeutung. Sie wurde funktional. Diesen Unterschied betonte die Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert und radikalisierte ihn. Sie schuf ein neues Verhältnis zu den Objekten der Wahrnehmung, zu den Dingen, deren Platz in der Ontik sich veränderte. Beziehungslosigkeit entstand und zog auf eine irritierende Weise den Blick auf sich. Er zeigte Geheimnisvolles, nicht die Welt nach Drogenkonsum und nicht die Welt der Realismus-Ideologen, sondern es war das (vorgestellte) Denken und Wahrnehmen des ›primitiven Geistes‹, von dem sich Musil und die Künstler und Autoren der literarischen Avantgarde anregen und leiten ließen. Musils Lektüre von Lévy-Bruhl war seit langem bekannt. Von Gess wissen wir, dass seine Kenntnisse umfassender waren und er mit Werken von Franz Müller-Lyer (Entdecker einer nach ihm benannten geometrisch-optischen Illusion) und Erich Jaensch bekannt war. Ästhetisch bezog sich nicht mehr auf die Art und Weise, wie Gegenstände im Kunstwerk oder der Narration zu etwas gemacht werden, sondern auf die veränderliche Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden. Eine Ästhetik der Lebenswelt begann sich zu bilden, und Kunst und Literatur waren als Medien dabei instrumentell. Der Anfang dieser Entwicklung geht in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, in die Lebensreform-Bewegung, die Wiener Werkstätten und andere Bewegungen, die mit dem Beginn von Design als Einstellung zur produzierten Umwelt korrespondierten. Nach dem Krieg 42

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Vgl. Franz Boas: The Mind of Primitive Man. New York u. a. 1911; ders.: Anthropology and Modern Life. New York 1928 (Neuaufl. mit Einführung v. Ruth Bunzel: New York 1962); ders.: Primitive Art. Oslo 1927 (Nachdruck: Mineola 2010). Vgl. Rubin (Hg.): »Primitivism« in 20th Century Art (s. Anm. 26); zur Kritik vgl. Bärbel Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900. Berlin 2003. Sie plädiert dafür, Primitivismus nach 1900 nicht als einen Stil in der Kunst zu verstehen, sondern als eine »kulturelle Praxis« aufzufassen, die theoretisch und praktisch mit der Anthropologie und Ethnographie ihrer Zeit verknüpft war (ebd., S. 172); vgl. Mark Münzel: Das fromme Lachen über den bärtigen Barbar, in: ders. (Hg.): Die Mythen sehen. Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt a. M. 1988, S. 173–241.

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kam eine militärische Formsprache hinzu, etwa der Stahlhelm und verwandte Mittel, die Welt kriegerisch zu designen. Der literarische Primitivismus richtete sich im Rahmen der frühen Medientheorie auf die Suche nach der Wirklichkeit der ›zweiten‹ Moderne nach dem Krieg. Der Blick »auf die archaische Kultur der Primitiven verbindet sich mit einer in die Zukunft gewandten Reflexion der europäischen Moderne als einer historischen Situation des medialen Umbruchs«.44 Modernisten und Avantgardisten ging es nicht um Kampf gegen die Moderne oder das Ersetzen des kapitalistischen Systems, sondern zunächst um den Versuch zu verstehen, was um sie herum und mit ihnen geschah. Eine Phänomenologie des Kriegs entstand, in der nicht die Revolution, sondern die Erweiterung um seinen komplementären Gegenpol, das ›Primitive‹, mitgedacht wurde. Ethnologie und Primitivismus sollten Orientierungspunkte für alternative Zivilisationsentwürfe nach dem Krieg liefern. Bei Modernisten und Avantgarden konnte trotz Revolutionsrhetorik von einer revolutionären Veränderung der Welt nicht die Rede sein. In ihrem Geschichtsbild war der Krieg die Bestätigung eines vorhersehbaren Zusammenbruchs.45 Er mochte grotesk, unvernünftig oder irrsinnig gewesen sein und die aufgeklärte Moderne ad absurdum geführt haben, aber einen Zivilisationsbruch, das Ende der Kultur Europas nahmen sie nicht wahr. Nichts grundsätzlich Neues hatte sich aus ihrer Sicht ereignet. Die Grausamkeiten waren – als Folge der modernen Technik – erschreckender als die der primitiven Kriege. Aber sie waren die Wiederholung der alten Grausamkeit, abstoßend, aber nicht umstürzend.46 Die Zahl der Kriegsopfer war ins Unvorstellbare gewachsen. Diese Quantität war verstörend, aber sie machte nicht den Kern des Verhältnisses der Avantgarden zum Krieg aus. Es kam trotz des persönlich erfahrenen Schreckens und Leidens vielen Künstlern der Zeit, Dix, Grosz, Richter, Beckmann, Hubbuch, Jünger, Dadaisten, Surrealisten und Musil eingeschlossen, nicht in dem Sinn, den Krieg als Bankrotterklärung Europas zu verstehen. Er besiegelte das Ende der Moderne Schillers. Darin lag für viele eine tiefe Enttäuschung und für andere eine geschichtliche Kränkung. (Das war eine verbreitete Reaktion unter Intellektuellen in Großbritannien.) Aber für andere wirkte der Krieg an einem Neuanfang mit. Die neue Wirklichkeit bildete die intellektuelle Herausforderung. Sie sahen keine Katastrophe und keine Revolution, sondern die Aufgabe, an der Entwicklung eines neuen Lebens in Wörtern und Bildern, Vorstellungen und 44 45

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Werkmeister: Kulturen jenseits der Schrift (s. Anm. 39), S. 321. Ein transnationaler Vergleich der moralischen Bewertung wäre interessant. Der Zynismus, der die britische Propaganda leitete, darf wohl modern genannt werden. Wertkonservativ war dagegen die dominante Haltung in Frankreich, wo Moralisten wie Maurice Barrès oder Léon Bloy die Tonlage bestimmten und der literarisch moderne Céline ein Außenseiter blieb. Vgl. Tb I, S. 673: »Schlimmer noch als der Krieg sind die Grausamkeiten der verschiedenen Revolutionen und schlimmer als diese die der Gegenrevolutionen zu bewerten.«

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Phantasien mitzuarbeiten. Diese Aufgabe war gleichsam eine mentale Hinterlassenschaft des Kriegs.

8. Die Welt der ›Primitiven‹ als Schlüssel zum Verständnis des Kriegs der Moderne Musils keineswegs selbstverständliche Entscheidung, den Ersten Weltkrieg zum mentalen Bezugsrahmen zu stilisieren, ist erklärungsbedürftig. Man kann eine gewisse Spannung zwischen dieser Entscheidung und der Zivilität des Österreichers nicht übersehen. Wir assoziieren die Person mit dem urbanen Wien und Berlin, mit Ironie und dem mentalen Abstand eines wissenschaftlichen Instituts und nicht mit Befehl und Gehorsam auf dem Kasernenhof. Diese Gegensätze galten für den literarischen Ethnologen Robert Musil nicht. Die Welt ist undurchsichtig geworden, empfindet Ulrich, Gegensätze verwischen sich. Der einst klare Unterschied von Krieg und Frieden ist opak geworden. Die rigide Ordnung des Militärischen und die zivile Welt der Möglichkeiten mischen sich, wie General Stumm von Bordwehr und Ulrich im Roman demonstrieren. Der General entdeckt militärische Ordnung und Hierarchie in der Universitätsbibliothek. Ulrich blickt auf die Welt, und ob Ende 1913, Anfang 1914 Krieg herrsche, weiß er nicht sicher: Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber [. . .] [e]s bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der Höhenflugrekord war wieder gebrochen worden. [. . .] Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert [. . .]. Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von der Gefährdung des Weltfriedens. Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. [. . .] Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit [. . .]. (MoE, S. 359)

Dieser Vorstellung von Wirklichkeit aus der parodistischen Zusammenstellung von zusammenhanglosen Zeitungsmeldungen steht der immer wieder zitierte Satz von 1932 gegenüber: »Alle Linien münden in den Krieg.« (MoE, S. 1851) Musil, der Anti-Teleologe, bricht hier mit seiner Grundanschauung. In das Spannungsverhältnis aus einem anarchischen »Gefilz« (MoE, S. 13) aus Gleichzeitigkeiten und einer im Diskurs konstruierten Ordnung greift Musils Projekt ein. Aber es nimmt nicht Partei. Es entwickelt Ambivalenz. Sein Fokus ist auf das Problem der Wahrnehmung gerichtet. Wie sieht die Welt aus, die aus den zusammenhanglosen Ereignissen besteht, aus denen die Medien die Realität konstruieren? Der ethnologische Blick auf die eigene Gegenwart machte die Welt eines verborgenen Kriegs sichtbar. Der Krieg war für Musil nicht der Rückfall in vorzivilisierte Wildheit, sondern bot die Chance, etwas Verlorenes zu finden.

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Er legte nach dem Modell des Triëders etwas in der gewohnten Ordnung der Welt Verborgenes offen. Diese produktive Beziehung zum Krieg führt nicht zu dessen Rehabilitation, sondern zu unerwarteter Einsicht und zum Stillstellen des Fortschrittsdenkens. Als Beispiel für den distanzierenden und enthüllenden ethnologischen Blick will ich auf die kleine Erzählung Fischer an der Ostsee hinweisen. Am Ostseestrand herrscht kein Krieg, aber der Krieg ist, getarnt wie durch Camouflage, in die Alltagswelt eingezogen. Der Blick auf harmlose Angler zeigt sie in einem Krieg gegen die Natur, gegen Würmer und Fische. In ihnen verbergen sich die Menschen des Kriegs, die Freud 1914 analysiert hatte. Musil entdeckt das ›Primitive‹ in den Handlungen der Fischer auf Usedom. Sie zerstückeln Lebewesen, ohne sich durch ein moralisches Gefühl gestört zu fühlen. »Der eine nimmt einen fetten Regenwurm [. . .] und reißt ihn in drei Stücke, so gemächlich und genau, wie ein Schuster das Papierband abknipst, nachdem er Maß genommen; der andere stülpt dann diese sich bäumenden Stücke sanft und achtsam über die Angel.« (GW II, S. 480) Die sich windenden Würmer in Musils Geschichte sind Freuds Fremde, deren Tod man herbeiführt.47 Der Tod des anderen machte dem primitiven Menschen der Frühzeit keine Not, schreibt Freud. Eine Tötungshemmung »brauchen wir ihm nicht zuzuschreiben«, und diese Hemmungslosigkeit hatte sich, wie der Krieg gezeigt hatte, bis in die Gegenwart erhalten. Die Fischer am Ostseestrand demonstrieren am Kleinen diese Kontinuität im Seelenleben. Kein Gewissen drückt die Täter, wenn sie einen stählernen Haken durch den lebenden Leib ziehen. Sie sind in dem Sinn authentisch, dass sie von keinem Zweifel berührt werden. Zwei Jahrtausende christliche Mitleidsethik bleiben ohne Wirkung. Sie handeln wie Menschen der Frühzeit. Im Mann ohne Eigenschaften ist einmal die Rede von der eigenen Gegenwart als einer »Gesellschaft von Wilden« (MoE, S. 769), die in eine »Uranfänglichkeit«48 zurückgehe, die Tausende von Jahren alt sei. Die außermoralische Perspektive und die von den ›Wilden‹ inspirierte, freilich eher aus der Literatur über die ›Primitiven‹ erschlossene Sicht auf die Welt fließen in der Erzählung zusammen.

9. Der Erste Weltkrieg Die nur scheinbar triviale Frage Was ist Krieg? (Clausewitz) ist seit 1800 auf unterschiedliche Weise beantwortet worden. Gemeinsam war aber allen Antworten, dass ein Ganzes, das in der Gestalt eines räumlich organisierten inneren Bildes vorgestellt wird, über die Zeit hinweg erhalten blieb. Wenn 47

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Vgl. Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. IX : Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt a. M. 1982, S. 33–60, hier S. 52. KA/Transkriptionen/Mappe II/5/134.

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wir den gegen die Erwartung der Vernunft ausbrechenden Ersten Weltkrieg als den ersten wahrhaft modernen Krieg zusammenfassen, so subsumieren wir ihn unter die Herrschaft von Industrie, Wissenschaft, neuen Kommunikationstechniken und einer Öffentlichkeit der Massenmedien. Dafür sprechen gute Gründe. Aber diese Sicht bildet auch eine Verzerrung. Die Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts hatte bereits Zweifel gesät. Sie phantasierte einen durch fortschreitende Wissenschaft und Technologie, internationale Verflechtung von Handel und Produktion errichteten Globalraum, in dem der Krieg keinen Platz mehr finde (Durkheim, Spencer). Im Raum der entwickelten Moderne bieten sich andere Ziele als die durch Krieg zu erreichenden, so dass die Kriegsmentalität ihre materielle Grundlage verliere. Dieses Vertrauen auf die Kraft des von Vernunft errichteten Raums der Moderne erwies sich im August 1914 als Irrtum. Er zerfiel in Räume emotionaler Identifikation, und das Paradox der Gleichzeitigkeit von Rationalität und Pathologie entstand. Die Herrschaft des Rationalitätssystems lässt die Phänomenologie der Erlebnisse nicht zu: Erfahrungen wie das an die vormoderne Welt gemahnende Raumverhältnis auf den modernen Schlachtfeldern, das Leben in der Erde (als Troglodyten bezeichneten Soldaten sich) und unter freiem Himmel wie zu Zeiten vor dem Häuserbau, auch unter dem bestirnten Himmel, der mit dem moralischen Gesetz im Inneren auf vormoderne Weise korrespondierte (Benjamin hat auf diese verborgene Nähe zu Kant hingewiesen), sowie – ganz zentral – die hemmungslose Gewalt, die faszinierte und, wenn auch häufig verschämt, in Literatur und Quellen des Alltags (Briefe, Tagebücher) ausgesprochen wurde. Die Allgegenwart ›moderner‹ Rationalität und Waffentechnik muss jedoch gleichzeitig mit diesen scheinbar atavistischen Erfahrungen gedacht werden. Das ›Primitive‹ war mit dem Krieg untrennbar verbunden – empirisch und konzeptionell.49 In der Ambivalenz kann man den Krieg der Moderne sehen. Ambivalenz ermöglicht den Zusammenhang von industrialisiertem Krieg und Primitivismus, und Primitivismus bietet einen Rahmen für das Kriegsverständnis aus dieser Sicht. Die Avantgarden reflektierten sich im Verhältnis zu psychologischer Pathologie, die als die eigene Gegenwart verstanden wurde, und gingen von deren Verwandtschaft zum ›Primitiven‹ aus. Sie waren von dem Irrtum der Moderne weniger geschockt, als ihre spektakulären Taten erwarten lassen, und sie empfanden den Krieg als Ausbruch brutaler Gewalt in der eigenen Zivilisation, aber nicht als Regression. Wenn sie ihn ›Irrsinn‹ nannten, so erkannten sie denselben Irrsinn im Alltag der Gesellschaft. Der Krieg exponierte den Irrsinn der Normalität. Kontrast und Ähnlichkeit führten zu 49

Vgl. Benedikt Burkard (Hg.): Gefangene Bilder. Wissenschaft und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarbeit v. Céline Lebret. Petersberg 2014 (= Schriften des Historischen Museums Frankfurt a. M., Bd. 35).

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Fragen nach der Eigenart des Jetzt und verwiesen die Theorien der Soziologie und die Schiller’sche Moderne ins Reich der Phantasie. Aus dieser Sicht gewann das ethnologische Denken eine neue Bedeutung. Der eigene Krieg forderte den Vergleich mit den militärischen Konflikten früher Gesellschaften heraus. Die Frage nach ihrer Vergleichbarkeit zerlegte sich in zwei Fragen: Für Freud war die Beziehung vom Krieg der Gegenwart zu Kriegen der Archaik inhaltlich bestimmt. Es waren dieselbe Triebe, dieselbe Psyche, die zur Gewalt in zeitlich weit auseinanderliegenden Kriegen führte. Die Avantgarden und Musil fragten jedoch nicht nach Inhalt und Ursachen, sondern nach Form und Funktion, nach der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Was tun wir, wenn wir sehen und hinsehen? Der Krieg sprengte die gewohnten Beziehungen zwischen Auge und Umwelt auf und ermöglichte einen Einblick in ihr Entstehen. Ihr Interesse nahm die spätere Begrifflichkeit um den Blick (Lacan) vorweg. Der Krieg schuf den Abstand für einen ethnologischen Blick auf die eigene Welt. Er war für Musil eine ›Sprengung‹ der Normalität, der ›Formelhaftigkeit‹ der Existenz, der gesellschaftlichen Konventionen und eingeübten Formen der Wahrnehmung, um einen zentralen Gedanken aus dem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) zu adaptieren (vgl. GW II, S. 1140 f., 1146 f. u. 1152 f.). Das Fremde und Unbekannte der Welt, der Krieg eingeschlossen, wurden mit den Mitteln der neuen Medien, Fotografie, Film, illustrierte Zeitschriften, kodiert und der gesellschaftlichen Anschauung verfügbar gemacht. Gleichzeitig wurde in der Theorie der Medien die Verbindung der neuen Techniken mit dem Unerhörten und Unheimlichen des Schlachtfeldes reflektiert und zu einer kollektiven Erfahrung verwandelt.50 Die kollektive Erinnerung unter den Bedingungen der neuen Medien und die Deutung des Kriegs im Rahmen des Primitivismus ergänzten sich wechselweise. Folglich intensivierte der Krieg die Neugier auf Kulturen der ›Primitiven‹.51 Eine Lektion aus dieser Perspektive auf den Krieg war, die Dichotomie von Zerstörung und Konstruktion zu verwerfen und die später von Schumpeter entwickelte Vorstellung einer schöpferischen Zerstörung im Umgang mit dem Krieg zu praktizieren. Das Vorbild war Nietzsche: »Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen.«52 Der Krieg – so eine Ansicht, der auch Musil 50 51

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Vgl. Michael Taussig: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Hamburg 1997, S. 219 u. ö. Paul Virilios Rhetorik der Übertreibung, die im Satz ›Kino ist Krieg‹ gipfelt, ist kein bloßes Phantasma, sondern hat hier ihren Anfang; vgl. Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München 1986. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra II, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 4: Also sprach Zarathustra I – IV . München 1988, S. 103–190, hier S. 149.

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anhing – führe zur Zerstörung der gewohnten Lebenssituationen und biete daher günstige Bedingungen für die Beobachtung dieses Zusammenspiels von Vernichtern und Schöpfern. Aus der Ausnahmesituation des Kriegs, aus seiner Pathologie ließ sich lernen, was Leben ist. Daraus folgte eine Beurteilung des Kriegs als Zeit der konstruktiven Destruktion. Die rekonstituierte Moderne erfand sich im Krieg den Ort für einen Weg in die Erneuerung. Durch den Primitivismus wurde hundert Jahre nach Schiller und fast hundert Jahre vor dem postmodernen Ausbruch der Skepsis gegenüber den Versprechungen der Moderne ihre immanente Widersprüchlichkeit erkannt. Der Primitivismus wurde zum Ansporn. Er sollte für die Erneuerung von Kunst und Leben fruchtbar gemacht werden.

10. Ekstase 1914 und zehn Jahre später Musil, der sich der Augustbegeisterung von 1914, also der Identifikation mit der Nation nicht hatte entziehen können, interessierte später am Krieg nicht das Nationale oder das kollektive Ereignis der Makrogeschichte, sondern eine andere Ebene: Im Abstand von zehn Jahren und vom Wissen der Ethnologie und der Wahrnehmungstheorien informiert, erkannte er in den Ideen von 1914 eine verbreitete Irrlehre. Die Begeisterung des August 1914, nicht anders als die hoffnungsfrohe Einschätzung des Aufbruchs in die Welt der neuen Medien, erschien ihm im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik als Beispiel allzu optimistischer »Befreiungsversuche« (GW II, S. 1147). Die Lektion war sehr viel komplexer. Der Krieg hatte für ihn und viele Autoren und Philosophen kein ökonomisches oder politisches Ziel. Er werde, argumentierte der Mehrheitsdiskurs, um die Kultur gekämpft, für die Bewahrung des Volkscharakters und der deutschen Seele. Von einem »Wunder« der Einheit sprach Gustav Roethe: »Das ungeheure Erlebnis, es bindet uns zusammen, es reinigt uns, es erhebt uns«.53 In Sakralsprache war von der »Erlösung von der politischen Zwietracht der Vergangenheit« die öffentliche Rede. Nicht nur Nationalisten stimmten in die Sakralisierung und Essentialisierung des Kriegs um die deutsche Kultur ein, sondern auch liberale Philosophen wie Paul Natorp.54 Auch 53

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Gustav Roethe: Wir Deutschen und der Krieg. Rede am 3. September 1914, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit. Gehalten von den Professoren an der Universität Berlin. Hg. v. der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und dem Verein für volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern. Bd. 1. Berlin 1915, S. 15–46, hier S. 18. Vgl. Paul Natorp: Deutscher Weltenruf. Geschichtsphilosophische Richtlinien: die Seele des Deutschen. Jena 1918; ders.: Der Tag der Deutschen. Vier Kriegsaufsätze. Hagen 1915; ders.: Krieg und Friede. Drei Reden. München 1915; Reinhard Buchwald (Hg.): Der Heilige Krieg. Gedichte aus dem Beginn des Kampfes. Jena 1914. Ein näherer Blick zeigt, dass die Sakralisierung eine subtile Form der Spaltung der Gesellschaft war. Widerstand gegen den Krieg, für den es ausreichend Zeugnisse gibt, wurde nicht nur juristisch verfolgt, sondern auch

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christliche Theologen wie Reinhold Seeberg und Adolf von Harnack sprachen von einem Kulturkrieg, in dem das deutsche Christentum gegen eine Welt von Feinden, die anders denken und leben, zu schützen sei. Die Enttäuschung durch die Moderne nach 1800 führte diese einflussreiche Sammlung von Intellektuellen auf den Weg nach innen. »In den von vielen Gelehrten verwendeten Religionsmetaphern zeigt sich der Erlösungscharakter, der dem August 1914 zugeschrieben wurde. Die neue innere Eintracht war das Entscheidende. Das deutsche Volk sei jetzt, schrieb Friedrich Meinecke, ›eine einzige, mächtige, tief atmende Gemeinschaft‹ geworden.«55 Von der Innerlichkeit distanzierte sich der Ironiker. Aber an der Besonderheit des Kollektiverlebnisses der Wochen im Sommer 1914 hielt er fest. Musil erkannte diese Wochen später als den Auftakt zu einer Orgie der Destruktion, von der er allerdings kaum je sprach. Seine Erinnerung hielt sie als einen Aufbruch fest. Die Ernüchterung hielt ihn nicht davon ab, das Augusterlebnis als das Modell für den ›anderen Zustand‹ zu benutzen. Über die Geschichte und die Wirklichkeit von 1914 erfahren wir in Musils Essays wenig. Darin bestand nicht die Aufgabe. Für das »andre[ ] Verhalten zur Welt« (GW II, S. 1141), dem Normalverhalten des Alltags entzogen, lieferte das Augusterlebnis des Ersten Weltkriegs die Probe aufs Exempel. Zerstörung und Konstruktion des Neuen liegen nahe beieinander, und das Augusterlebnis ist Musils biographischer Bezug zu dieser schmerzlichen Einsicht.

11. Musils Krieg als Experiment Musil spricht wiederholt von einer Ekstase der Gemeinsamkeitsempfindung. Er versteht sie als Teil eines Experiments mit dem Leben in der Imagination. Es führt aus der gesicherten Sprache hinaus ins Unbekannte und macht das Unbekannte zum Noch-Nicht-Bekannten. Das Experiment hat Modellcharakter. Eine Rede über »Gewalt als attraktive Lebensform« beschließt Jan Philipp Reemtsma mit einer Vermutung über das Entstehen von organisierter

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verteufelt. Auch in Frankreich war der Topos von der l’âme française (Barrès) verbreitet. Die union sacrée (von Raymond Poincaré 1914 ausgerufen) hatte eine ähnliche Wirkung. Als Ausnahme unter den verbreiteten Reden und Broschüren zum Thema Krieg und (deutsche) Philosophie sei der Neukantianer Gustav Radbruch, Kriegsgegner und Soldat, genannt: Gustav Radbruch: Zur Philosophie dieses Krieges. Eine methodologische Abhandlung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 44 (1917), S. 139–160; vgl. die kenntnisreiche und viele Misskonzeptionen korrigierende Darstellung von Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2004. Steffen Bruendel: Die Geburt der »Volksgemeinschaft« aus dem »Geist von 1914«. Entstehung und Wandel eines »sozialistischen« Gesellschaftsentwurfs, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, Mai 2004: https://edoc.hu-berlin.de/histfor/3/PHP/Artikel_3-2004.php (aufgerufen am 12. 9. 2016).

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Gewalt. »Vielleicht lässt sich derlei auf diesen Nenner bringen: Hass auf die Symbolisierungen der Fähigkeit zur Sublimation.«56 In der Radikalität trifft dieser Satz auf die Jahre nach 1900 nicht zu. Aber den Grundgedanken der Zurückweisung einer Kunst und Kultur, die als die verdeckte Fähigkeit zur Sublimation von Gewalt enttarnt werden kann, entdecken wir bereits in dieser Zeit. Die Symbolisierungen in Kunst und Literatur, auf die die Gesellschaft der Zeit besonders stolz war, zeichneten sich durch ihre Nähe zum Ideal von Schillers Zivilisationsprozess aus.57 Sie zogen die Abwehr der jungen Generation auf sich, und ihre Wendung zum ›Primitiven‹ war Ausdruck der Verachtung dieser Sublimation. Eine solche Wende zeichnet Musils Verhältnis zum Krieg aus. Dieser hat tiefe, aber verdeckte Spuren in Musils Werk hinterlassen. Es gibt einen ›unsichtbaren Krieg‹ in seinem Œuvre.58 Musils Auffassung von Literatur kann die Kriegserfahrung als einen Ursprung nicht verleugnen, auch wenn sie nicht explizit gemacht, sondern in der Sprache der Gestalttheorie ausgesprochen ist. Für Musil bildete der Krieg kein Motiv und keinen Gegenstand der Beobachtung und Bewertung. Es war nicht so, dass Musil für Fragen der Moral blind gewesen wäre. Die moralische Wertung war jedoch wohlfeil. Vom Krieg ging für ihn eine andere Herausforderung aus: Provozierend war die Frage, was Krieg mit der Weltbeziehung der Menschen macht. Er wollte bestimmen, was die vertraute kulturelle Signifikationspraxis nicht erfasste. Musil machte den Krieg zu dem, was in der Ästhetik, im Sinn der aisthesis, wirksam blieb. Die Faszination durch den Krieg, die offen aus Jüngers und verdeckt aus Musils Schriften spricht, wird als Neigung zum Bellizismus nicht angemessen verstanden. Aus der moralischen Perspektive wird die Faszination als Mangel an Humanität abgewertet. Der Blick wird nicht als ein verfremdender Blick, der nach Wirklichkeit sucht, wahrgenommen, sondern als falsches Bewusstsein denunziert. Einzelbeobachtungen werden nur aufgenommen, sobald sie in die moralische Perspektive konvertiert, gleichsam von einer in eine andere, richtige Sprache übersetzt werden. In dieser Übersetzung geht das Entscheidende verloren.59 Für Musil wirkte der Krieg als Medium der Zerstörung 56 57

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Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet, in: Mittelweg 36, 14. Jg. (September 2015), H. 4, S. 4–20. Nietzsches Diktum über Schiller als »Moraltrompeter von Säckingen« (1888) zeigt keinen Hass, aber Verachtung seiner Sublimationen. Nietzsche war einer der Enttäuschten. Er war mit Schillers Werk vertraut. Er hatte in frühen Jahren die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen geschätzt, las sie aber nun als Beginn des verhängnisvollen Programms der Erziehung durch Kunst und wurde damit zum Stichwortgeber der Avantgarden um 1900. – Die Kritiken des wankelmütigen Hermann Bahr gehören zu den populären Beispielen dieser Distanzierung. Ohne auf Primitivismus und das ›wilde Denken‹ zu verweisen, hat bereits Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 7) dessen strukturelle Beziehung für den Mann ohne Eigenschaften herausgearbeitet. Ein prominentes Beispiel ist Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität (1974), zuerst veröffentlicht als The Anatomy of Human Destructiveness (1973). Er spricht von De-

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und zugleich der Befragung der eigenen Zivilisation, die die Wirklichkeit in einem ›anderen Zustand‹ sichtbar machte. Das »halluzinative und irrationale Schauen« und die »Irrationalisierung und Primitivierung der Kultur«60 im modernen Krieg interpretierte Musil als Anfang und Aufbruch. Symptomatisch sind »isolierte optische Erlebnisse«, Momentaufnahmen in kurzen Texten im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) und zuvor in Die Amsel (1928). Musil überträgt die phänomenologische und gestalttheoretische Konzeption des inneren Raumempfindens auf die Kriegserfahrung: »Treten die formalen Beziehungen einer Kunst plötzlich isoliert hervor, so entsteht [. . .] jenes schreckhafte Staunen vor einer irrsinnigen Welt.« (GW II, S. 1140) Der Satz ist umkehrbar: Aus dem schreckhaften Staunen angesichts der irrsinnigen Welt (des Kriegs) treten die formalen Beziehungen der ›normalen Welt‹ ins Bewusstsein und können in die Sprache des Kunstwerks übertragen werden. Die Konstruktion aus dem Geist der Archaik und Moderne führte nicht in eine Vorgeschichte, sondern in eine Wirklichkeitsbeziehung der Gegenwart, die sich von den banal gewordenen modernen Ideen von Realismus und Objektivität verabschiedete. Die Verwandtschaft zwischen dem Krieg und der Welt der ›Primitiven‹ befreite von der deprimierenden Empfindung der Dekadenz, vom Determinismus und setzte dem Fortschrittsglauben eine Gegenwelt entgegen. Krieg wurde für Musil zu einem mentalen Experimentierfeld der Vernunftkritik und Zeitdiagnose. Die emotionale Energie, die zunächst in die Identifikation geflossen war, wurde umgelenkt und Identität in eine ethnologisch angeleitete Multiperspektive verschoben. Nach der Kriegserfahrung gewährleistete die Rationalität für Musil endgültig nicht länger eine Anatomie der modernen Gesellschaft und stellte die vom Idealismus ersonnene Gesellschaft der Vernunft nicht länger die historische Endstufe in der geschichtlichen Verwandlung institutionalisierter Macht dar. Der Erste Weltkrieg stellte Bedingungen des intellektuellen Experimentierens her. Musil übersetzte den Krieg aus einem geschichtlich-militärischen Ereignis in eine Anschauungsform. Der Krieg lieferte einen ins Gigantische gesteigerten Raum für Experimente nach dem Modell des Triëders. Diese mentale Operation hat mit Kriegsmentalität nichts zu tun. Eine aus dem Krieg gewonnene Einstellung, bei Musil durch Ironie gebrochen, verdrängte das Vertrauen auf Aufklärung und Fortschritt. Im Roman werden einmal die Philosophen als »Gewalttäter« bezeichnet, »die keine Armee zur Verfügung

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struktivität als ›bösartiger Aggression‹, die in die Charakterstruktur des Menschen gehöre und zugleich eine spezifische Eigenschaft des kranken Kapitalismus bilde. Es geht ihm nicht um genetische Kodierung, sondern um das Wesen des Menschen, das er aus der neurologischen und physiologischen Konstitution sowie aus anthropologischen Lebensbedingungen ableitet. Carl Einstein: Georges Braque, in: ders.: Werke. Hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar. Bd. 3. Berlin 1996, S. 251–516, hier S. 268.

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haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.« (MoE, S. 253) Im Krieg handelten andere Gewalttäter, die echten und unverstellten. Sie sorgten dafür, dass die reale Welt in Trümmer gelegt wurde. Als unbeabsichtigten Effekt lieferten die Gewalttäter den Stoff für Philosophen und Schriftsteller zur Analyse des menschlichen Verhaltens. Sie konnten, wie der Ethnologe aus den Beobachtungen einer fremden Kultur, nun aus der fragmentierten eigenen Gesellschaft, die als die eigene kaum noch zu erkennen war, Hypothesen und Theorien (etwa Musils ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹) entwickeln und Gedankenexperimente entwerfen, die sich dem Verhältnis zur Welt widmeten. Die Poetik stellte die Aufgabe, künstlerische Mittel zu entwickeln, die der sich neu konstituierenden Realität angemessen waren. Es ging nicht um Fragen der Repräsentation des Kriegs als eines Objekts, nicht um die Debatte unter Historikern und Ideologen über die richtige Darstellung des Kriegs. Die Fixierung auf Ereignisse banalisiert den Krieg. Um der Banalisierung der bloßen Faktizität zu entkommen, wurde kurz nach Kriegsende das Wort Kriegserlebnis eingeführt, das in der neueren Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs wiedergekehrt ist.61 Musil fragt nicht nach dem Kriegserlebnis, sondern danach, was wir wissen können. Er stellt die Frage nach dem Objekt selbst. Was war es, das die Augenzeugen, Ohrenzeugen und emotional beteiligten Zeitgenossen als Krieg wahrnahmen? Wie soll der Mensch aus dem neuen Sehen und Wissen das Verhältnis zum Fremden, zur Natur und schließlich zu sich einrichten? Wie richtet man das Leben unter den Bedingungen der Moderne nach dem Krieg ein?, fragt Musil mit Blick auf den ›anderen Zustand‹, einer Situation der menschlichen Beziehungen, die aus einer Strukturähnlichkeit mit dem Krieg in ethnologischer und phänomenologischer Betrachtung geboren wurde.

12. Krieg und Der Mann ohne Eigenschaften: Zeit der Ambivalenz Der Mann ohne Eigenschaften ist ein Buch des Zeitalters der Ambivalenz. Damit ist nicht eine subjektive Unentschiedenheit, sondern objektive Unentscheidbarkeit gemeint: Möglichkeiten sind offen, aber die Fähigkeit zur Entscheidung bleibt so unterentwickelt, wie Eugen Bleuler sie durch den 61

Das Kriegserlebnis als Kategorie der Rekonstruktion banalisiert die Frage nicht minder und ist mit der medientheoretischen Konzeption von Literatur und Kultur nicht kompatibel. Die Bewertung baut das Kriegserlebnis nicht nur in den konventionellen Anti-Kriegs-Diskurs ein, sondern macht Musils Krieg zu einem anderen. Wenn Musil von dem Irrtum spricht, »den Geist des Menschen vom Verstand zu befreien« (GW II, S. 1145) und im Erlebnis eine unvermittelte Kategorie zu finden, entzieht er bereits der Kriegsgeschichte der vergangenen 20 Jahre, die sich auf das Erlebnis kapriziert hat, den Boden. Ihr Erlebnisbegriff ist unterkomplex.

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Begriff der Ambivalenz für die Schizophrenie beschrieben hat (1911). Die ethnologische Unterscheidung zwischen kalten und heißen Kulturen entspricht der Struktur des Romans und bezeichnet Ulrichs forschenden Blick auf das Leben. Generell eröffnen Ethnologie und Primitivismus einen Deutungshorizont auf den Roman.62 In der Auseinandersetzung mit dem Krieg der Moderne stellt er das ›Primitive‹ ins Zentrum eines Gedankenexperiments. Musils Freund Robert Müller, auch Gottfried Benn, Walter Benjamin oder Carl Einstein, stellen die gleichen Beziehungen her, gewichten aber die Verhältnisse anders. Das im Roman entworfene Eigenbild basiert auf den modernen Wissenschaften und dem gleichzeitigen elementaren Zweifel an ihnen. Ulrich ist Mathematiker, hoch rational, und stellt die Wissenschaft nicht in Frage. Aber gleichbedeutend wirkt im Roman ein anderes Wirklichkeitsmodell: Die unberechenbaren Zufälle kehren zurück und wirken nicht nur als Kontingenz in der Zivilisation, sondern wie eine Naturgewalt. Die Auflösung der Kausalität wird im Roman zu einer Existenzform. Ulrichs »Urlaub vom Leben« (MoE, S. 256; vgl. MoE, S. 47) verkehrt die moderne Präferenz des Handelns über Vorstellung und Imagination. Paradoxie ersetzt Dialektik, immanente Oppositionen und inkompatible Zeitlichkeiten werden die auszeichnenden Merkmale. Zusammenhänge zerfallen in unzusammenhängende Dinge, und der wissenschaftlichen Präzision widerspricht das Vielleicht. Eindeutigkeit, ethische Zielsetzungen und die Unumkehrbarkeit von Zeit werden im Roman durch Unschärfe, das Nicht-Rationale und neue Formen des Spiritismus ersetzt. Grenzen fallen, und das Neue entsteht in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten und Unheimlichen, das nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Musil verwickelt sich in einen Widerspruch. 1926 spricht er den oft zitierten Satz über den Mann ohne Eigenschaften aus: »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.« (GW II, S. 941) Der Roman soll die Mannigfaltigkeit der Zeit so bündeln, dass sie, wie ein Fluss im Meer mündet und dort verschwindet, aufgehoben wird: »Alle Linien münden in den Krieg.« (MoE, S. 1851) Dem widerspricht die anti-teleologische Ansicht von Geschichte, die Musil von Nietzsche übernahm und als sein Credo vertrat. Die Welt sei zu einem »Gefilz von Kräften« geworden, stellt Ulrich am Fenster stehend mit 62

Ein neuer Versuch, Musils Projekt in einen theoretischen Horizont zu stellen, liegt vor mit Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20). Es ist bemerkenswert, wie nahe die »erzählerische Sozioanalyse« der kakanischen Gesellschaft, die Wolf mit Hilfe von Pierre Bourdieus Feldtheorie überzeugend entwickelt, im Detail dem literarischen Ethnologen Musil steht. Allerdings will Wolfs Analyse im Roman die »Wurzeln der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhundert« offen legen und unterscheidet sich damit von der Sicht der Ethnologie, die Musils Krieg als ein Versuchsfeld des Fremden und der gesellschaftlichen Innovation erscheinen lässt.

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dem Blick auf die ungeordneten Bewegungen der Stadt fest (MoE, S. 13) und wendet sich von dem Bild ab. Mit Agnostizismus kann er sich aber nicht abfinden, so dass er nach einer Alternative sucht, um Unordnung zu überwinden. Der Mann ohne Eigenschaften setzt die Suche nach einem Dritten zwischen Ordnung und Anarchie in Szene. Krieg, Musils Erzählungen umkreisen den Zusammenhang, ist die gleichzeitige Erfahrung von Rationalität und Zauber. Die Entdeckung der Übereinstimmung von Technik und Zauber im Krieg sorgt für Ambivalenz und liefert einen neuen Blick auf die Welt der Moderne, der im Widerspruch zur (soziologischen) Modernetheorie steht und zur Phantasie des ›anderen Zustands‹ führt. Der Grundzug des ›anderen Zustands‹ ist anarchistisch. Es wäre verfehlt, den Roman als einen anarchistischen Text zu lesen. Aber eine Tendenz zum Anarchismus, der jedoch der Wunsch nach einer neuen Ordnung widerspricht, gehört zu den konstitutiven Prinzipien des Mann ohne Eigenschaften. Der ›andere Zustand‹ entspringt der Ambivalenz, durch die die Ordnung in Frage gestellt, aber unfeste Ordnungen, wie sie im Primitivismus gedacht werden, als eine Chance zum Anfang des Neuen begriffen werden. Der ›andere Zustand‹ ist aus dieser Perspektive betrachtet zweierlei: ein langfristiger und dem Zeitraum der subjektiv erlebten Zeit entrückter Zustand und zugleich therapeutisch, Medium der Bewältigung der eigenen Probleme. Diese Welt der Spaltung verbindet das ›Primitive‹ und die Technologie der medialisierten Wirklichkeit. Musil spricht von einer »Abspaltung« der Kunst (GW II, S. 1139). Sie ist nicht aus der Psychologie und einem naiven Verständnis von Erlebnis zu interpretieren, und so bildet der Roman eine Reflexion gesellschaftlicher Dissoziation, die sich im Krieg gezeigt habe. Der schizophrene Prostituiertenmörder Moosbrugger ist exemplarisch und kann, wie Musil etwas missverständlich formuliert, als »Verneinung des wirklichen Lebens« (GW II, S. 1140) verstanden werden. Die Formulierung klingt, als ob er Moosbrugger aus dem wirklichen Leben ausschließen möchte. Das würde seiner Absicht widersprechen. Die »vorzivilisatorische[ ] Phase der Menschheit« (GW II, S. 1141) versteht er als eine Variante der psychischen Verfassung der Irren und der Normalen und nichts anderes als eine »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins«, wie der Krieg, der von der Literatur als »irrsinnige Welt« der Gegenwart gezeigt wird, die doch zugleich die große Hoffnung auf die Gedankenexperimente mit der Wirklichkeit sprechen lässt (GW II, S. 1140).

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13. Der Abbau von Sicherheit in der Welt lehrt Zauber und Möglichkeitssinn Krieg ist nicht Thema oder Objekt des Romans, sondern Fluchtpunkt der Theoriebildung über Wirklichkeit und Ausgangspunkt für Methoden der Wahrnehmung, für den Weg zum Bild von Welt und nicht ihr Bild. Krieg aus der Perspektive des Primitivismus beendete die Harmonie aus Ästhetik und Ethik und führte fort von Fragen der Moral und hin zur Ästhetisierung. Man kann den Mann ohne Eigenschaften als literarisches Experiment mit dem ›anderen Zustand‹ als einem mentalen Feld, das sich durch den Abbau von Sicherheiten, Definitionen und Konventionen auszeichnet, lesen. Es ist offen und ohne Zeithorizont. Der Zustand muss, Ulrichs Biographie und Musils Kommentare über Geschichte in den Essays lassen keinen Zweifel, synchron gedacht werden. Es geht Musil nicht um die Zeitlosigkeit von Naturgesetzen, aber um langzeitige Invarianz, die es ermöglicht, ›primitive‹ Kulturen als gegenwärtig und die Gegenwart aus dem Primitivismus zu denken. Der ›andere Zustand‹ ist weniger harmlos, als der blasse Name nahelegt. Er ist eine Rebellion und bezeichnet einen Angriff auf den Zustand von Welt in der Konstruktion der Moderne nach 1800. Er ist in Opposition zu dessen Idealismus eine leiblich-kognitive Konstruktion, die aus subjektivem Erlebnis geboren, aber universal gedacht ist. Im ›anderen Zustand‹ lebt, wer die Paradoxien des Lebens nicht aufzulösen und in Dialektik zu überführen sucht. Für die kulturelle Ordnung ist der ›andere Zustand‹ eine sprengende Kraft. Er ist unökonomisch und leidenschaftlich. Er bildet ein Verhältnis zur Welt, in dem das instrumentelle Denken überwunden wird und nichtrationales Denken das Kalkül der Zweck-Mittel-Relation überlagert. Er ist das imaginierte Gegenüber der Ordnung, faszinierend und beängstigend, zugleich heilig und destruktiv. Musil teilt die Zeitdiagnose der Dissoziation als Zustand der Welt. Wenn der Krieg den Irrsinn der Dissoziation steigert, stellt das mentale Experiment die Frage nach der Welt als Irrsinn. Ist der einzelne, noch nicht irre Mensch für diesen Irrsinn prädestiniert? »Durch ständigen Kontakt, indem er beständig den Stoß wirrer und regelloser Ideen empfängt, gelangt er dahin wie sein Gefährte zu handeln und allmählig [sic] stellt sich der gleiche Wahnsinn bei ihm ein.« (MoE, S. 1796)

14. Ein Roman für die Zukunft? Was die Postmoderne als cognitive mapping bezeichnet, gehört in die räumliche Konstruktion von Musils Roman, verlässt aber im Unterschied zu den Erwartungen der Theorie den fiktionalen Raum nicht. Musils Grundannahme,

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dass die Moderne, die hundert Jahre nach ihrer Geburt das Versprechen einer Zukunft der vernünftigen Zivilisation nicht eingehalten hatte, dennoch einen verborgenen Weg für den Übergang in eine gesellschaftliche Formation der Freiheit bereit halte, hat sich nicht bestätigt. An dieser Erwartung der mentalen Karte hat Musil trotz der Kriegserfahrung zeitlebens festgehalten. Er hat sie womöglich aus dieser Erfahrung abgeleitet. So nahe Musils Position der Postmoderne steht, lässt sich hier ein fundamentaler Unterschied feststellen. Auf den Wegen des Primitivismus, der erdacht wurde, um Europa über sich selbst hinaus zu entwickeln – das lässt sich über Musils Versuch sagen –, sollte die Lebenswirklichkeit erneuert werden. Gesucht wird der Bezug zu einer Wirklichkeit, die nicht mehr ist als eine permanent aufgelöste Ordnung, eine Ordnung des Anarchismus. In diesem Widerspruch kann man eines der Grundprobleme von Musils Projekt sehen. Ob Der Mann ohne Eigenschaften, aus der Perspektive des Primitivismus gelesen, ins Zeitalter der elektronischen Medien, Ökologie und Globalisierung passt? Seine Forderung an die ethnologische Einbildungskraft entspricht einer Ästhetik des Alltags. Der Roman steht auf der Grenze zwischen Kunstwerk und Philosophie des Lebens und wirft die Frage auf, ob sich ein Unterschied zwischen Kunstwerk und Leben erhalten lasse. Oder sollte dieser Unterschied fallen? Schlägt der Roman den Weg zu einer Ästhetik des Alltags ein, in der Kunst und Literatur keine besondere Stellung mehr beanspruchen und in der die Wahrnehmung untergeht? In einer frühen Fassung hieß Musils kleiner Text Triëdere! (1926). Das Ausrufungszeichen ist ein Indikator: Die Zeichen der Zeit standen nicht auf Ästhetisierung, sondern zielten auf die Aufgabe der Beobachtung. Sie sollte zu einer neuen Welt führen. Der Mann ohne Eigenschaften schloss daran an. Damit gab Musil eine Richtung vor, die sich bis in unsere Gegenwart erhalten hat. Sie wird herausgefordert durch die »progressive Ästhetisierung der Realität, d. h. des Alltags, der Politik, der Ökonomie und [. . .] der Frage nach einem anderen Verhältnis zur Natur.«63 Musil schrieb, durch den Primitivismus herausgefordert, aus einem erst vage entwickelten Wunsch über Ansätze zu neuer Ästhetik. Die Probleme einer Ästhetik des Alltags für die Gegenwart werden durch gesteigerte Abstraktion, die kaum noch vorstellbare Geschwindigkeit und Kapazität der Informationsverarbeitung potenziert. Sie betreffen, meint Gernot Böhme, »ontologische, sprachphilosophische und anthropologische Voraussetzungen der traditionellen Ästhetik und schließlich ihre gesellschaftliche Rolle selbst.«64 Mit diesen Fragen setzte sich Musils Roman auf einer frühen Stufe auseinander. Eine neue Ästhetik, von der seit Jahren gehandelt wird, muss auf radikal weiter entwickelte Bedingungen reagieren. Kann Musils Roman noch immer als ein Beitrag zum cognitive mapping gelesen werden? 63 64

Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2013, S. 7. Böhme: Atmosphäre (s. Anm. 63), S. 7.

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Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text Textgenetische Studien zu Musils Nachlass Abstract: The article analyzes the notes that Musil made during the First World War and how he later transformed them in his texts (Grigia, Die Portugiesin, Die Amsel). Musil took only very sparse notes during the war that are not comparable to the numerous extant war diaries from World War I. In transforming the notes into literary texts, he quickly omitted the war, most notably in Grigia, where the war situation is replaced by the adventurous gold mining history. Musil was not interested in the representation of the war per se, but in the states of consciousness that the experience of war creates.

1. Einleitung Die Musil-Forschung hat immer wieder festgestellt, dass Musil – im Gegensatz zu anderen Autoren, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, wie Ernst Jünger oder Alfred Döblin – keinen Kriegsroman geschrieben hat, obwohl er dies durchaus vorhatte. In Heft II, das er 1915 in Gebrauch nahm und dann für den Roman, der damals noch »Der Anarchist« hieß, verwerten wollte, notierte er 1918 oder 1919: »Roman: In einem II[.] Teil den Krieg behandeln. I bis zur part.[iellen] Mob.[ilmachung] geg.[en] Serbien in Österreich. Einlenken des Anarchisten in das Gemeinsame.«1 In diesem Teil sollten offensichtlich Musils Notizen zu Beobachtungen aus dem Krieg eingebaut werden, wie aus einem im Nachlass überlieferten Blatt hervorgeht,2 das eine Art Inhaltsverzeichnis zu jenen Aufzeichnungen in den Heften I und II enthält, die als Grundlage von Kriegsdarstellungen im Roman hätten dienen können.3 Das Blatt wurde bezeichnenderweise aus dem Romankomplex, zu dem es einmal gehörte, ausgeschieden, als Musil sich entschloss, den Krieg im Roman nicht darzustellen.4 1 2 3

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KA/Transkriptionen/Heft II/52. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/201. Das Blatt gehört zu der von Musil so genannten Kategorie »Notizen und Anfänge«, welche dem Roman dienen sollten, dann aber ausgeschieden wurden. Es wird nun von den Herausgebern dem Komplex Ein Soldat erzählt zugeordnet, was nicht einleuchtet. Im Komplex Ein Soldat erzählt geht es um die ›Fliegerpfeil-Episode‹ und nicht um die von Musil im Krieg notierten Erlebnisse, die hier aufgelistet werden. Siehe dazu die Entstehungsgeschichte des Romans in KA/Kommentare/Bd. 4 Der Mann ohne Eigenschaften – Die Vorstufen/Aus dem Nachlass Ediertes/Übersicht: Romanprojekte 1904–

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Musil hat den Krieg nicht nur aus der ursprünglichen Konzeption des Mann ohne Eigenschaften entfernt, sondern auch aus anderen Textkomplexen, zu denen er ursprünglich gehörte, wie etwa aus dem Stoffkomplex der Novelle Grigia. Die Darstellung des Krieges als solchen interessiert Musil offensichtlich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr. Er ist vielmehr Anlass für gewisse Beobachtungen der Umwelt, die möglich werden, weil der Mensch im Krieg aus den gewöhnlichen Lebenszusammenhängen herausgerissen wird, was die Voraussetzung für die besonderen Erlebnisse, die Musil interessieren, ist. Im Folgenden sollen die sogenannten Tagebuch-Einträge und die Nachlass-Mappen auf das hin untersucht werden, was Musil überhaupt im Krieg und über den Krieg notierte, und in einem zweiten Schritt soll gefragt werden, wie er diese Notizen verwertete, wie er die Erlebnisse des Krieges im Prozess der literarischen Bearbeitung transformierte. Die Texte, für die Musil Aufzeichnungen aus dem Krieg benützte, sind längst bekannt: Grigia, Die Amsel, Die Portugiesin, »Panama« und das »Idyllen«-Projekt, aus dem später der Nachlaß zu Lebzeiten wurde. Diese Texte sollen, was dank der Klagenfurter Ausgabe nun möglich ist, im Licht ihrer Entstehung und Transformation im Kontext des Krieges untersucht werden. Es geht hier also nicht wie in den meisten Arbeiten zum Thema »Musil und der Erste Weltkrieg« um die Frage von Musils Haltung zum und im Krieg,5 sondern es geht darum, welche Beobachtungen er im Krieg überhaupt notierte und wie er sie später literarisch verwertete.

2. Vorbemerkung zum Begriff der Tagebücher und der Datierungen Da Adolf Frisé die Notizhefte und anderes Material aus dem Nachlass unter dem Titel Tagebücher herausgegeben hat, kann leicht der Eindruck entstehen, dass Musil regelmäßig Tagebuch geführt hat.6 Dazu hat er zwar mehrfach An-

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1928. Musil scheint Anfang der 1920er Jahre die Idee, den Krieg ausführlich im zweiten Teil des Romans zu behandeln, aufgegeben zu haben. Siehe etwa die informative Darstellung von Alfred Doppler: »Seinesgleichen führt zum Krieg«. Robert Musils Auseinandersetzung mit dem Krieg, in: Michael Klein, Sieglinde Klettenhammer, Elfriede Pöder (Hg.): Literatur der Weimarer Republik. Kontinuität – Brüche. Innsbruck 2002 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd. 64), S. 59– 68; Paul Zöchbauer: Der Krieg in den Tagebüchern und Essays Robert Musils. Stuttgart 1996 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 316). Zum biographischen Hintergrund siehe Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 497–592. Zur Frage, ob sich Musils Hefte überhaupt als Tagebücher betrachten lassen vgl. Walter Fanta: Die Erfindung der Tonka. Eine textgenetische Lektüre des Tonka-Dossiers, in: Musil-Forum 32 (2011/2012), S. 1–41, hier S. 6 f. Siehe auch Constanze Breuer: Werk neben dem Werk. Tagebuch und Autobiographie bei Robert Musil. Hildesheim u. a. 2009 (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 82), S. 1–39.

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läufe genommen, aber er hat nie über längere Zeit wirklich Tagebuch geführt, wenn man darunter regelmäßige, zeitnahe Einträge mit Datum versteht, wie sie uns etwa im Kriegstagebuch Ernst Jüngers überliefert sind, um ein Beispiel zu nennen, an dem wir die Umwandlung des Tagebuchs in einen literarischen Text nachverfolgen können.7 Bezeichnend dafür, wie Musil datierte Einträge gemacht hat, ist Heft 5, das mit der vorgedruckten Etikette »Diarium« versehen ist.8 Musil hat es offenbar am 8. August 1910 in Gebrauch genommen und von ganz wenigen Seiten abgesehen nur die rechte Seite beschrieben. Die linke Seite blieb frei für Erweiterungen und Umarbeitungen, was er auch genutzt hat, so hat er am 20. Januar 1911 Einträge auf der linken Seite gemacht. Schon die Art dieser Aufzeichnungen zeigt, dass er das Heft nicht als gewöhnliches Tagebuch geführt hat. Unter dem Datum des 14. August 1910 schreibt er in Klammern: »(es kann auch 12.–15. sein)«.9 In Heft 7, welches er 1913–1914 benützte, schreibt er bezeichnenderweise als ersten Satz: »Ich will hier nicht wieder den Versuch machen, ein Tagebuch zu führen, wohl aber Dinge aufzuzeichnen, die ich nicht gerne vergessen möchte.«10 Man würde also wohl, wenn man diese Bemerkung, welche mit den Befunden übereinstimmt, ernst nimmt, besser von Notizheften als von Tagebüchern sprechen.11

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Siehe etwa die Zusammenstellung der Kriterien für ein Tagebuch in: Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin u. a. 2009, v. a. S. 85 f. Ernst Jünger schreibt: »Fast jeder Soldat führte damals ein Tagebuch. Bei mir kam vielleicht ein Trieb zum Dokumentarischen hinzu, aber nur in Bezug auf die Fixierung des eigenen Erlebnisses. Ich konnte ja auch fallen – das war sogar wahrscheinlicher. Da denkt man nicht an Literatur.« (Ein abenteuerliches Herz. Ernst-Jünger-Lesebuch. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart 2011, S. 84) Siehe auch: Ernst Jünger. Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010, bes. das Nachwort »Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg. Übersicht und Dokumentation«, S. 617–623, über die Art, wie Jünger notierte. Teilweise haben wahrscheinlich die verschiedenen Bearbeiter des Nachlasses den Titel »Diarium« gesetzt, s. etwa Heft 7 (»Diarium 7«), was noch zusätzlich irreführend ist (vgl. KA/ Transkriptionen/Heft 7/0a). KA/Transkriptionen/Heft 5/6. KA/Transkriptionen/Heft 7/1. In der Musil-Forschung ist der Tagebuchbegriff für die Hefte, die er selbst nicht als Tagebücher bezeichnete, nach wie vor sehr beliebt, was wahrscheinlich auch mit dem Titel, den Frisé der Edition dieser Hefte gegeben hat, zusammenhängt. Zwar reflektieren die neueren Arbeiten durchaus den Tagebuchbegriff, halten aber seltsamerweise doch an ihm fest, auch wenn sie erkennen, dass Musil selbst nicht von Tagebüchern sprechen wollte; vgl. Beate Sommerfeld: Zwischen Augenblicksnotat und Lebensbilanz. Die Tagebuchaufzeichnungen Hugo von Hofmannsthals, Robert Musils und Franz Kafkas. Frankfurt a. M. u. a. 2013 (= Studien zur Germanistik, Skandinavistik und Übersetzungskultur, Bd. 5), S. 109–111. Breuer: Werk neben dem Werk (s. Anm. 6) möchte lieber den Gattungsbegriff erweitern (S. 29) als ihn in Bezug auf Musil aufgeben. Wenn man für Musils Notate am Tagebuchbegriff festhält, verbaut man sich Einsichten in den Schreibprozess, der in der vorliegenden Untersuchung vor allem interessiert.

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3. Die Einträge in Heft I und II Zunächst einige Bemerkungen zur Materiallage, auch wenn hier keine vollständige textgenetische Analyse geliefert werden kann und soll. Eine gewisse Analyse ist aber nötig, um wegen falscher Datierungen falsche Schlüsse zu vermeiden, wie sie zum Teil in der Forschung zu finden sind.12 In Musils Nachlass sind aus der Kriegszeit vor allem die Hefte I und II erhalten, die er selbst als »Kleines graues Notizheft« bzw. »Klein Grau I und II« bezeichnete.13 Der erste datierte Eintrag in Heft I stammt vom 1. Juni 1915,14 der letzte datierte vom 23. Oktober 1915. Die ersten zehn Seiten sind sehr schön mit Tinte geschrieben, also kaum im Feld entstanden. Das Datum des 23. Oktobers 1915 für den letzten Eintrag deutet darauf hin, dass er das Heft nach der Versetzung an die Isonzofront – er wurde um den 20. November herum an die Front abkommandiert – nicht mehr benutzte.15 Ab Seite 29 beginnen Reflexionen zu einem autobiographischen Romanprojekt mit dem Titel »Der Archivar«, den die Herausgeber der Klagenfurter Ausgabe auf 1919–1920 datieren. Heft II beginnt mit dem Wort »Rückblicke: Alarm in Christof nach langer Ruhe«, der zweite Abschnitt beginnt mit »Einwaggonierung«, womit klar ist, dass Musil dieses Heft an der Isonzofront zu schreiben begonnen hat, mit einem Rückblick auf die Zeit kurz vor der Ankunft an der Front. Die Einträge sind mit Blaustift geschrieben und flüchtiger als die ersten in Heft I, auffällig ist auch, dass das Wort »Tod« häufiger vorkommt als in Heft I . Auf Seite 11 von Heft II fällt bereits das Stichwort »Prag«, wo sich Musil Anfang April 1916 aufhielt. Das heißt, die Aufzeichnungen von der Front umfassen in beiden Heften zusammen lediglich 38 relativ kleine Seiten.16 Die Aufzeichnungen sind meistens so dicht, dass es den Anschein hat, sie seien schon im Hinblick auf eine literarische Verwertung gemacht worden.

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So wird das »Idyllen«-Projekt (siehe dazu unten) teilweise in den Krieg datiert. Corino: Robert Musil (s. Anm. 5), S. 1893, datiert die Gorki-Lektüre in das Jahr 1915, was auf einer falschen Datierung von Heft I/29 beruht. Musil hat zwar in dieses Heft, wie unten gezeigt wird, im Mai 1915 zu schreiben begonnen, er hat es aber nach dem 23. 10. nicht mehr benützt, sondern in Heft II geschrieben und beide Hefte dann nach dem Krieg wieder bearbeitet. Daher kommt auch die verschiedene Beurteilung von Musils schriftstellerischer Fruchtbarkeit im Krieg. Musil selbst sagt, er sei nicht fruchtbar gewesen im Krieg, während Dinklage, der öfters zitiert wird, aufgrund falscher Datierungen behauptet: »In dieser Zeit [i. e. während des Kriegs] sind die Idyllen für ein geplantes Tierbuch entstanden [. . .].« (Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, in: ders. (Hg.): Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 187–264, hier S. 225) Vgl. KA/Transkriptionen/Heft I bzw. II . Musil kam nach dem 23. 5. 1915 als Adjutant von Major Graf Alberti de Poja nach Palai. Grundlage für die biographischen Angaben ist immer Corino: Robert Musil (s. Anm. 5). Vgl. KA/Transkriptionen/Heft I/1–27. Heft I hat die Maße 83 x 185 mm, Heft II 88 x 135 mm.

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Der erste nicht datierte, vor dem 1. Juni 1915 anzusetzende Eintrag in Heft I beginnt mit dem Wort »Krieg«: Krieg. Auf einer Bergspitze. Tal friedlich wie auf einer Sommertour. Hinter der Sperrkette der Wachen geht man wie Tourist. Fernes Duell schwerer Artillerie. In Intervallen von 20, 30 Sekunden u. mehr; erinnert an Knaben, die auf große Entfernungen einander mit Steinen bewerfen. Ohne Bestimmtheit des Erfolgs lassen sie sich immer zu noch einem Wurf verleiten.17

Der Eintrag ist durchaus typisch für Musils Wahrnehmung. Es ist zwar Krieg, aber er beschreibt die Situation als idyllisch: Er kommt sich eher wie ein Tourist auf einer Bergspitze vor, der ein friedliches Tal zu seinen Füßen sieht. Die friedliche Atmosphäre wird sogar in Bezug auf das Artillerie-Duell wieder aufgenommen, indem dieses mit einem Knabenspiel verglichen wird. In einer nächsten Notiz werden die fernen Kanonenschläge mit dem Zuschlagen eines Tenntors verglichen, also wieder ein abschwächender Vergleich, der der Kriegshandlung das Bedrohliche nimmt.18 Während die erste Passage nicht mehr zur weiteren Verwertung vorgesehen war, erscheinen die »Fernen Kanonenschläge« auf dem Manuskriptblatt,19 auf welchem die Stellen aus Heft I und II zusammengestellt sind, die der Kriegsdarstellung im Mann ohne Eigenschaften dienen sollten. Auffällig ist, dass Musil neben kurzen Notizen, die direkt mit dem Krieg zu tun haben, von Anfang an auch fast ethnologische Beobachtungen über die Bewohner des Tals und ihre Gewohnheiten, über Tiere, über die Natur macht und sich selbst die Rolle eines Touristen zuschreibt.20 Die Beobachtungen der Kriegshandlungen zeugen von einer gewissen Distanziertheit.21 Er notiert denn auch mehrmals, dass er nichts empfindet, wenn er Kampfhandlungen beobachtet. So am 4. Juli 1915: Beschießung des Werks Mte Verena durch 30 × 5 Mörser gesehn. Wo das Geschoß einschlägt steigt senkrecht eine Fontäne von Rauch und Staub auf, die oben wie eine Pinie breit wird. Man hat ein neutrales Gefühl wie beim Scheibenschießen. [. . .] Eine ital. Batterie schwerer Geschütze sucht mit Schrapnells unsren Mörser. Staubwolke in der Luft, kein anderer Eindruck.22

Im September notiert er: »Die Gefechte, Toten usw., die sich vor den Stellungen abspielten[,] haben mir bisher keinen Eindruck gemacht.«23 Am 28. Ok17 18

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KA/Transkriptionen/Heft I/1. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft I/11: »Ferne Kanonenschläge: Kaum zu entscheiden, ob nicht irgendwo weit ein Tor zufiel oder auf das Holz einer Tenne geschlagen wurde. Doch ist der blasse Eindruck geschlossener, runder, leis bestimmt. Mit der Zeit unverkennbar.« KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/202. Diese Beobachtungen sind bekanntlich größtenteils in Grigia eingegangen. Kiesel: Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg (s. Anm. 7), S. 627, stellt auch bei Jünger diese Distanziertheit fest. KA/Transkriptionen/Heft I/14 f. Zu dieser Stelle und den folgenden siehe auch Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 223–257. KA/Transkriptionen/Heft I/22.

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tober 1915 kommentiert er die Beschreibung der in Zeitungspapier eingewickelten Habseligkeiten eines Toten mit: »Eine schwere Traurigkeit strömt davon aus . . .«24 Aber auch hier wieder keine persönliche Formulierung wie: ›Ich wurde traurig, als ich das sah‹ oder ähnlich. Selbst wenn er ganz nahe am Geschehen ist, drückt er keine Emotionen aus, wie sich im folgenden Beispiel zeigt: »Der kurze Knall der Gebirgsgeschütze. Ein Zögern des Schritts, als ich ihn auf wenige Schritte um einen Fels herum hörte und dachte, eine Granate hat eingeschlagen.«25 Nur im Zögern des Schritts ist die Gefährlichkeit der Situation angedeutet. Dieselbe Distanziertheit findet sich auch in einer Notiz mit dem Titel: »Berlin, August, Krieg«26 in Heft 17. Die Einträge sind schwer zu datieren, weil das Heft nur kleinere, undatierte Prosatexte und Einträge zu komplexen Zahlen enthält. Die vielzitierte, aber kaum analysierte Notiz beschreibt Aspekte des Verhaltens der Menschen beim Kriegsausbruch und in den Tagen danach. In der Musil-Forschung wird der Text meistens so gelesen, wie wenn Musil ihn sogleich bei Kriegsbeginn niedergeschrieben hätte. Dass dies nicht stimmen kann, zeigen Formulierungen wie »nach einer Weile«,27 »In den allerersten Tagen«,28 aber auch die Erzählung von Carl Einstein, wie es in den Kasernen zugehe,29 eine Information, die Musil zuerst einmal erhalten haben musste. Schließlich weist auch der Schluss des Textes darauf hin, dass er einige Zeit nach Kriegsbeginn notiert worden sein muss: »Die Verlustlisten: . . tot . . . tot . . . tot . . . so untereinandergedruckt, niederschmetternder Eindruck.«30 Das ist aber auch fast die einzige Stelle, wo Musil eine emotionale Wertung einfügt, sonst gibt er sich als Beobachter, der das eigenartige Benehmen der Menschen notiert. Erst der Fliegerpfeil von Tenna am 22. September 1915 wird einen Eindruck hinterlassen, auf den zurückzukommen ist. Am 10. Oktober findet sich wieder eine Wertung angesichts der Beschießung österreichischer Stel24 25 26

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KA/Transkriptionen/Heft I/26. KA/Transkriptionen/Heft I/21. Dahinter mit Bleistift nachgetragen, vielleicht von anderer Hand 1914. Im Registerheft wird es als »Schw. Heft (Berlin 1914)« geführt (KA/Transkriptionen/Heft 37/22). Es handelt sich um eine Reinschrift in schwarzer Tinte ohne Korrekturen. »Die, welche nach einer Weile erklären, das[s] sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden haben und nichts an ihren Anschauungen zu ändern brauchen zb. Bie.« (KA/Transkriptionen/Heft 17/8) »In den allerersten Tagen, als Abends [sic] auf der Straße alles um ein Extrablatt drängt, das verlesen wird[,] und eine Elektrische ganz langsam durchfahren will, der große Mensch, Ende der zwanzig, der zu schreien anfängt: Stehenbleiben, sage ich ihnen, bleiben Sie stehen!« (KA/ Transkriptionen/Heft 17/10) »Gegensatz und Parallele dazu, was Einstein erzählt: in den Kasernen Unordnung, Entfesselung. Mit Ausnahme des Dienstes. Zentimeterhoher Schmutz, Notlager, Trinken. Es wird wie verrückt gestohlen. Koffer erbrochen.« (KA/Transkriptionen/Heft 17/10) KA/Transkription/Heft 17/10. Corino datiert sie auf eine Periode zwischen 1. und 20. 8. 1914, man könnte sie aber auch später datieren, wenn man annimmt, dass sie zum Romanprojekt gehört. Vgl. Karl Corino: Die Flucht aus dem Frieden. Robert Musil und der Erste Weltkrieg, in: Das Plateau 25 (Oktober 2014), H. 145, S. 4–17, hier S. 6.

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lungen durch die Italiener, wobei überhaupt keine Menschen vorkommen, sondern die Beschießung als Naturereignis wahrgenommen wird: »Der Eindruck war der eines unheimlichen Aufruhrs der Natur. Die Felsen rauschten und dröhnten. Gefühl einer bösartigen Sinnlosigkeit.«31 Durch den Vergleich und das inkompatible Prädikat (Felsen rauschen) wirkt der Text sehr poetisch. Wie hier und in dem Vergleich des Geschützlärms mit dem Tennentor notiert Musil sehr häufig akustische Phänomene, was insofern nicht weiter erstaunlich ist, als man sich im Krieg meistens über das Akustische orientieren musste, wie gerade auch Jüngers Aufzeichnungen bzw. seine Darstellung in In Stahlgewittern zeigen.32 Jünger beschreibt die akustischen Phänomene vor allem im Hinblick auf die Orientierung: Es geht meistens darum festzustellen, ob die Schüsse von feindlicher oder eigener Artillerie stammen.33 Musil bemüht sich immer, das Akustische sprachlich sehr genau zu erfassen, ja sogar lautmalerisch nachzuahmen, was meine These unterstützt, dass die Aufzeichnungen immer schon im Hinblick auf eine literarische Verwertung gemacht werden:34 Der Laut des Geschosses ist ein anschwellendes und, wenn der Schuß über einen fortgeht, wieder abschwellendes Pfeifen, in dem der ei-Laut nicht zur Bildung gelangt. Große Geschosse nicht zu hoh über der eigenen Stellung lassen den Laut zum Rauschen anschwellen, ja zu einem Dröhnen der Luft, das einen metallischen Beiklang hat.35

Der Versuch lautmalerischer Wiedergabe ist im folgenden Eintrag, der sich auf die vierte Isonzoschlacht bezieht, noch deutlicher: »4 Beschiessung: Zusammenfassung: Der singende Tod singt hier. Über unsern Köpfen singt es, tief, hoch. Man unterscheidet die Batterien am Klang. tschu i ruh oh – pim puimm. Wenn es in der Nähe einschlägt: tsch – sch – bam. Es pfaucht ein, zweimal kurz und springt dich an.«36 Der Eindruck lässt ihn nicht los, so dass er nach einem anderen Eintrag darauf zurückkommt: »Dieses Singen und Fauchen hat etwas Urwaldhaftes, man fühlt Flattern von Kolibris um 31 32 33

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KA/Transkription/Heft I/25. Siehe zu diesem Aspekt Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914– 1934. München 2006. Es möge ein Beispiel für Jünger genügen: »Gegen Mittag schwoll das Artilleriefeuer zu wüstem Tanze an. Ununterbrochen flammte es um uns auf. Weißes, schwarzes und gelbes Gewölk mischte sich. [. . .] Dazwischen zwitscherten zu Dutzenden die Zünder mit eigenartigem, an Kanarienvögel erinnerndem Gesang.« (Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Mit einem Nachwort v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2014, S. 29) Daran scheint selbst Martha beteiligt zu sein. Sie schreibt in einem Brief über eine Zugfahrt, wo die Leute über den Krieg gesprochen haben: »ich habe mir einiges notiert.« (KA/Lesetexte/ Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 16. 6. 1915) KA/Transkriptionen/Heft I/25. KA/Transkriptionen/Heft II/7. Siehe eine lautmalerische Stelle bei Jünger: »Dazwischen immer ssst-bum! ssst - - - ein Blindgänger.« (Jünger: Kriegstagebuch [s. Anm. 7], S. 86, s. auch S. 123)

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sich und den Ansprung großer Katzen.«37 Auch hier wieder der Vergleich mit Naturerscheinungen, die für Musil etwas Unzivilisiertes, Unheimliches haben, wie sich an einer Stelle in Grigia zeigt: »Es blieb immer etwas Grauen vor der Natur in diesem Eindruck enthalten, und man darf sich nicht darüber täuschen, daß die Natur nichts weniger als natürlich ist; sie ist erdig, kantig, giftig und unmenschlich in allem, wo ihr der Mensch nicht seinen Zwang auferlegt.« (GW II, S. 245) Die Beschießungen wird, obwohl hauptsächlich akustisch wahrgenommen, als eine Art außerzivilisatorisches Ereignis beschrieben. Wenn die Forschung in Musils Essays zum Krieg wenig Originalität feststellt,38 so gilt dies nicht für seine Aufzeichnungen aus dem Krieg, die höchst originell und subjektiv, jedoch in der Darstellung von Emotionen sehr zurückhaltend sind. Diese Zurückhaltung zeigt sich auch in einer erstaunlichen brieflichen Äußerung gegenüber Hedwig Fischer, der Gattin von Samuel Fischer, von 1916: »[I]ch war am Isonzo und habe ein hübsches Stückchen Krieg mitgemacht. Jetzt stecke ich wieder in der alten Gegend, ganz vorn am Ferner, in einem namenlosen Ort und führe ein Räuberdasein voll Schmutz und Romantik. Frage aber doch schon täglich meinen Gott, wann ich wieder ich sein werde.«39 In den Isonzoschlachten ging es alles andere als »hübsch« zu. Interessant ist die Äußerung auch darum, weil Musil die Entfremdung des Ichs im Krieg thematisiert. Die Aufzeichnungen in den Heften I und II, soweit sie kriegerische Ereignisse betreffen, bedienen sich einer schon verfremdeten, poetischen Darstellungsweise, welche sich nicht für das Faktische des Ereignisses interessiert und auch nicht für oberflächliche Gefühlseindrücke, sondern nur für das, was ihn innerlich mehrt, wie Ulrich sagen würde.40 Wie Musil dieses Material später poetisch verwertet hat, wird im Folgenden zu zeigen sein.

4. Grigia Musil hat Grigia bekanntlich in Palai angesiedelt, wo er die Zeit von Ende Mai 1915 bis im November 1915 stationiert war und wo er seine Eintragungen in Heft I machte. In die Novelle eingegangen sind Landschaftsbeschreibung und Beobachtungen von Menschen und Tieren in einer als archaisch emp-

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KA/Transkription/Heft II/8. Siehe dazu den Beitrag von Oliver Pfohlmann in diesem Band. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz/Robert Musil an Hedwig Fischer, 5. 1. 1916. »Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten [. . .].« (MoE, S. 397) Vgl. auch die Notiz: »Ich merke mir auch selten Einzelheiten, sondern immer nur irgend einen Sinn der Sache.« (KA/ Transkriptionen/Heft I/30)

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fundenen Welt.41 Er hat jedoch die Kriegssituation völlig eliminiert und den Text in einer nicht näher bezeichneten Gegenwart angesiedelt, die durchaus auch jene der 1920er Jahre, in der der Text erschien, sein könnte. Den Aspekt »Abenteuer«, der in der Kriegssituation enthalten ist, hat er durch die Goldgräbergeschichte ersetzt. Durch diese Transponierung in eine friedliche, zivile Welt handelt er sich einige poetologische Probleme vor allem auf dem Feld der Motivierung ein, welche er nicht gehabt hätte, wenn sein Held ein Offizier im Krieg gewesen wäre. So ist zum Beispiel das Empfinden Homos im Wald, »daß er da, zwischen Anemonen, Vergißmeinnicht, Orchideen, Enzian und dem herrlich grünbraunen Sauerampfer, tot liegen werde« (GW II, S. 240), auf den ersten Blick unmotiviert.42 Im Kriegskontext, wo der Tod allgegenwärtig ist, ist es hingegen naheliegend, an den Tod zu denken, wie es Musil in Heft I vom 9. Juni 1915, das dieser Stelle zugrundeliegt, notiert. Musil beschreibt eine Art mystisches Erlebnis und macht sich zugleich klar, dass er in diesem Krieg sterben könnte: »Dachte – immerhin – daß ich da, zwischen Anemonen, Vergißmeinnicht, Orchideen, Enzian und (herrlichem grünbraunen) Sauerampfer bald liegen werde. [. . .] Diese persönliche Vorsicht, die in diesem Krieg bisher meine Schicksale gelenkt hat, berührt mich schon lange.«43 Im Gegensatz zu den oben analysierten Beschreibungen der Kriegshandlungen ist dieser Eintrag sehr persönlich, ja intim.44 Ein ähnliches Problem mit der Motivation ergibt sich durch die Übernahme der Episode mit einem italienischen Standschützen, der zurückgeblieben und daher von der Patrouille eingebracht worden war – und nun, als er den Zugführer mit dem Strick sieht, fürchtet, er werde aufgehängt, was nur in der Kriegssituation verständlich ist. In Grigia wird der Standschütze durch einen Burschen ersetzt, der Wein gestohlen hat, und als der Werkführer »zum Spaß eindrucksvoll« mit dem Strick »hin und her schwenkte«, fürchtete, aufgehängt zu werden.45 Was in der Kriegsnotiz bitterer Ernst ist, wird im Kontext von Grigia Spaß und Spiel. Es gibt eine einzige Stelle in Grigia, wo vom Krieg die Rede ist, nicht von einem bestimmten Krieg, sondern vom Krieg schlechthin, was im Kontext unmotiviert ist, da in Grigia kein Krieg herrscht. Ort und Personal werden bereits militärisch konnotiert: Der Ort ist das »Kasino« im Pfarrhof und anwesend ist unter anderem ein Major. Der Beschreibung der etwas trostlosen Stimmung, des rädernden Grammophons und der sterbenden Fliege liegt eine Notiz von Ende Juli 1915 zugrunde: 41 42 43 44 45

Für die textgenetische Analyse von Grigia siehe Rosmarie Zeller: Musils Arbeit am Text. Textgenetische Studie zu Grigia, in: Musil-Forum 32 (2011/2012), S. 41–64. Das hat die Musil-Forschung auch mehrfach festgestellt. Musil hat an dieser Stelle sehr intensiv gearbeitet, siehe Zeller: Musils Arbeit am Text (s. Anm. 41), S. 59–61. KA/Transkriptionen/Heft I/5 f. Es geht darin auch um seine Beziehung zu Martha. KA/Transkriptionen/Heft I/3 bzw. GW II, S. 241.

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Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg. Das Grammophon hat sich schon durch viele Abendstunden gearbeitet. Rosa wir fahrn nach Lodz, Lodz, Lodz. Und: Komm in meine Liebeslaube. Dazwischen manchmal tschechische Volkslieder und Slezak oder Caruso. In den Köpfen wolkt Traurigkeit und Tanz. Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhängen, ist eine Fliege heruntergefallen. Sie liegt am Rücken. In einem Lichtfleck am Wachstuch. Neben einem hohen Glas mit kleinen Rosen. Sie macht Anstrengungen sich aufzurichten. Ihre sechs Beinchen legen sich manchmal spitz zusammengefaltet in die Höhe. Sie wird schwächer. Stirbt ganz einsam.46

Musil übernimmt in den Text der Grigia das Grammophon samt den beiden Liedern und die sterbende Fliege. Gegenüber dieser Passage ist aber der Text der Novelle stark erweitert, er umfasst fast zwei Druckseiten, auf denen ständig von Konflikt, Gewalt, Töten, also metaphorisch – denn die Situation ist unernst – von dem die Rede ist, was den Krieg ausmacht: Die Anwesenden streiten »unnötig lebhaft über irgendeine Frage, die keinen etwas anging, beleidigten einander sogar, und am nächsten Tag gingen Kartellträger hin und her.« (GW II, S. 244) Es stellt sich heraus, dass eigentlich nichts gewesen ist. »Sie hatten es nur getan, weil sie Zeit totschlagen mußten, und wenn auch keiner von ihnen je wirklich gelebt hatte, kamen sie sich doch roh wie die Schlächter vor und waren gegeneinander erbittert.« (GW II, S. 244) Alle diese Konflikte sind nicht wirklich, nicht ernst, man schlägt nicht einander tot, sondern nur die Zeit. Die Witze »zerknallen«, aber in Gelächter, so wie die Drohung gegenüber dem Weindieb mit dem Strick nicht ernst gemeint ist, wird hier das kriegerische Gehabe unernst. Trotzdem denkt Homo an Krieg: Homo fühlte, es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr unterscheiden kann, – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war Abenteuersucht, – nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem Himmel niederfahrendes Messer, ein Würgengel, Engelswahnsinn, der Krieg? (GW II, S. 244)

Darauf folgt die Beschreibung des Sterbens der Fliege, die vom Fliegenpapier gefallen ist, und Homo sagt leise vor sich hin: »Töten, und doch Gott spüren; Gott spüren, und doch töten?« (GW II, S. 245) Wollust, Krieg, Abenteuersucht, Religion, das alles gehört in Musils semantischem System zum Bereich des Irrationalen, oder wie er selbst sagt: des Nicht-Ratioïden, dem der Ingenieur Homo in der als märchenhaft gezeichneten, eigenartigen Welt von Palai begegnet. Der Krieg ist hier latent vorhanden, zugleich ist er aber nur ein Phänomen unter anderen, die von Totschlag bis Automobilrennen reichen. Diese Stelle scheint mir auch der Schlüssel zur Erklärung, warum Musil in Grigia die Identitätskrise Homos nicht als Kriegserlebnis eines Offiziers, der in die fremde Welt Südtirols versetzt wird, schildert: Er will dem Krieg als Krieg nicht zu viel Gewicht geben; er ist vielmehr nur eines unter anderen Erleb46

KA/Transkriptionen/Heft I/16.

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nissen, welches dem Menschen die Begegnung mit dem Irrationalen erlaubt, dem, was von Homo Gott genannt wird, was manchmal auch mit Mystik bezeichnet wird – nicht zufällig notierte Musil, als er zum ersten Mal an den Tod denkt: »Fange überhaupt an, mystisch zu werden.«47 Auch Homos Tod in der alten Kaverne hat einen unerwarteten Bezug zum Krieg: Im »Panama«Projekt findet sich auf einem Blatt eine nachträgliche Bleistiftnotiz Musils, welche lautet: »Wonne unter einer zusammengestürzten Kaverne begraben zu liegen«.48 Musil verschafft Homo einen metaphorischen Kriegstod. Die Forschung hat schon lange darauf hingewiesen, dass Krieg und ›anderer Zustand‹ zusammenhängen.49 Die Stelle in Grigia ist darum besonders aufschlussreich, weil sie zeigt, wie das ursprüngliche Erlebnis im Krieg von Musil verallgemeinert wird, indem er Homo einen Ausdruck durch einen anderen ersetzen lässt – bis hin zu »der Krieg«, um das Irrationale zu umschreiben, das letztlich nicht benannt werden kann und das in der paradoxen Situation gipfelt, dass man Gott spüren kann, indem man gegen sein Gebot ›Du sollst nicht töten‹ verstößt (vgl. GW II, S. 245). Wichtig scheint mir aber gerade am Beispiel von Grigia zu betonen, dass Musil alles tut, um dem Krieg nicht eine besondere Stellung in der Erzeugung eines irrationalen Zustands zuzuschreiben. Im Gegenteil: Mit den negativen Ausdrücken »Eifersucht, Totschlag, Wahnsinn« deutet er darauf hin, dass dieser Zustand der Irrationalität graduell zu sehen ist – bis hin zu ›Gott spüren‹. Die Portugiesin ist durch ihre Lokalitäten ebenfalls mit dem Aufenthalt Musils im Südtirol verbunden. Die beiden Texte hängen durch ihre Lokalisierung im deutsch-italienischen Grenzbereich und durch die Konstruktion einer Welt, wo Archaisches und Modernes, Exotisches und Vertrautes, Rationales und Irrationales nebeneinander existieren, zusammen. Man kann sie auch als zwei gegensätzliche Varianten derselben Grundkonstellation lesen: Wenn Homo durch das Abenteuerleben, das an den Krieg erinnert, aus seiner gewohnten Welt herausgerissen wird und in eine Krise gerät, so ist umgekehrt bei von Ketten gerade das Ende des Krieges der Anlass für eine tiefgreifende Identitätskrise. Bezeichnenderweise stirbt keiner aus dem Geschlecht der von 47 48 49

KA/Transkriptionen/Heft I/6. KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/17. Siehe etwa Arno Rußegger: »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige«. Erster Weltkrieg und literarische Moderne – am Beispiel von Robert Musil, in: Uwe Schneider, Andrea Schumann (Hg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Wien u. a. 2000, S. 229– 245, bes. S. 234 f.; Sebastian Hüsch: Der Normalzustand als Ausnahmezustand. Moderne, Langeweile und Krieg in Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Oliver Ruf (Hg.): Ästhetik der Ausschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie, Medien und literarischer Fiktion. Würzburg 2009 (= Film – Medium – Diskurs, Bd. 25), S. 199–210; Kai Evers: »Krieg ist das gleiche wie aZ«. Krieg, Gewalt und Erlösung in Robert Musils Nachkriegsschriften, in: Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 227–250.

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Ketten im Krieg. Der Krieg in der Portugiesin wird nicht dargestellt. Die Wunde, die von Ketten im Krieg erlitten hat, ist weniger gefährlich als der Mückenstich nach Kriegsende. Der Krieg repräsentiert das Normale, die Ordnung, die über Generationen fortdauert. Das Irrationale in der Portugiesin sitzt auf der Burg, die der kranke von Ketten, um wieder gesund zu werden, am Ende zurückerobern muss, während in Grigia das Abenteuerleben, das teilweise mit dem Krieg äquivalent gesetzt wird, zum Eindringen des Irrationalen führt. Diese Ambivalenz der Wertung des Krieges als Ordnung oder als Einbruch des Irrationalen zeigt sich auch im Mann ohne Eigenschaften, wo Stumm von Bordwehr als Repräsentant des Militärs zugleich ein Repräsentant der Ordnung ist, während mehrmals betont wird, dass diese militärische Ordnung in Totschlag und damit in Irrationalität umschlagen kann, was am Schluss des Romans dargestellt werden sollte, wenn sich die Welt im Chaos der Kriegsausbruchs auflösen sollte.50

5. Todesfurcht – Todesfreude Die Begegnung mit dem Tod wird von Musil in den Heften immer wieder thematisiert. Offensichtlich wollte er dies in einem zusammenhängenden Text darstellen, wie aus Notizen in Heft II hervorgeht, in denen er sich nach dem Kriegsende Gedanken machte zu einem Projekt, das er »Tierbuch« bzw. »Idyllen« nennt. In diesem beabsichtigte er offensichtlich, die Notizen, die er in Palai gemacht hatte und von denen einige später in Grigia eingehen werden, zusammen mit früheren Tier-Beobachtungen, die er vor allem 1913 in Rom aufgezeichnet hatte, zu publizieren. Dazu gehört auch die Skizze »Die kleine Geisterkatze von Bozen«, welche in die Portugiesin eingehen wird. Auffällig ist, dass am Schluss dieser Aufzählung eine Reihe von Einträgen aus Heft I genannt wird, die nichts mit Tieren, wohl aber mit dem Tod zu tun haben: »Krankheit und Gott (Lärchenwald, Wasserfall, Gridschi)«, »Der heilige Berg (Col die Lana)«, »Lawine und Hoblicht«, »Die Proprietäten des Toten«, »Der Deserteur«, »Gott am Isonzo«.51 Von diesen Titeln sind »Lawine und Hoblicht« und »Der Deserteur« keinen Einträgen in den Heften zuzuordnen.52 Musil hat einmal ein Lawinenunglück erlebt, dieses ist aber 50

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Siehe MoE, S. 370–380 u. 465. Zum Chaos am Ende siehe Walter Fanta: Krieg & Sex – Terror & Erlösung im Finale des Mann ohne Eigenschaften, in: Feger u. a. (Hg.): Terror und Erlösung (s. Anm. 49), S. 209–225. Teilweise wieder aufgenommen in: Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Klagenfurt 2015. KA/Transkriptionen/Heft II/55. Der Deserteur kommt in einem Brief von Martha an Robert Musil aus dem Juni 1915 vor (vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 16. 6. 1915).

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nur in den Briefen dokumentiert.53 Lawinen haben für ihn trotz oder wegen der Lebensgefahr eine erotische Komponente.54 Ungefähr zur selben Zeit notiert er: Man könnte die Tierskizzen auch zu einer einzigen Erzählung machen. Dann wäre Hauptperson ein Mann, der sich vorher auch oft in Lebensgefahr begeben hat (Im Gebirge, beim Schwimmen, Segeln, Autofahren) Aber immer war ihm das nur ein Sportreiz. Im Krieg ist es die Erweckung. Und nachhause kommt er mit einer nicht mehr einschlafenden Angst vor dem Tode, weil er nicht weiß, wie es ist. – 55

Offenbar soll dieser Mann im Krieg ähnlich wie Homo auf seiner Abenteuerreise ein Erweckungserlebnis haben, allerdings mit dem Ergebnis, dass er in der Folge von Todesfurcht geplagt wird. Diese Variante hat Musil nicht ausgeführt. In Grigia hat er die umgekehrte Variante gewählt, nämlich, dass Homo von seiner Todesfurcht befreit wird in dem zeitenthobenen Erlebnis einer Wiedervereinigung mit seiner Frau/Geliebten: »Von diesem Tag an war er von einer Bindung befreit, wie von einem steifen Knie oder einem schweren Rucksack. Der Bindung an das Lebendigseinwollen, dem Grauen vor dem Tode.« (GW II, S. 241) Das Thema hat Musil offensichtlich weiter beschäftigt, denn in seinen autobiographischen Notizen, welche er 1939/40 ins Heft 33 schrieb, erscheinen die Themen nochmals, nun aber unter der Zusammenfassung »Todesfreude«: »Im Krieg selten Augenblicke der Todesfurcht. [. . .] Häufiger als die Augenblicke der Todesfurcht waren die der Todesfreude. S. die Beschreibung in Grigia. Lawine u. Hoblicht. Anmarsch zu den Isonzostellungen.«56 Die Spannung zwischen Todesfreude und Todesfurcht lässt sich an zwei Notizen und Entwürfen Musils zeigen. In Heft I berichtet er ganz sachlich von einem Ausflug im Boot zu einem Feigenbaum: »17. 10. Im Boot hinausgerudert, angelegt, den Feigenbaum geplündert. Man muß sich bücken, um unter seine Äste zu schlüpfen. Dann steht man drinnen, sie hängen über einen und ein fremder, sinnlicher Geruch überströmt einen.«57 In Heft II nimmt er diese Episode wieder auf und führt sie weiter aus: 53

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In den Briefen von Martha, Alfred und Hermine Musil ist mehrfach von der drohenden Lawinengefahr die Rede (z. B. KA/Autographensammlung der ÖNB/Schachtel 1005/Mappe 1005/ 22/6, 1005/24/2, 1006/2/11 u. 1006/3/3. Zum konkreten Erlebnis vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 5), S. 548 f. Das Erlebnis wird Ulrich zugeschrieben (vgl. MoE, 678). Vgl. einen Brief an Bruno Fürst, in dem er schreibt: »Über Lawinen kann ich eine Viertelstunde lang reden, ohne aufzuhören; aber für heute nur so viel [. . .], daß die Unmöglichkeit, sich eine ausreichende Vorstellung von diesen männerverzehrenden Sphinxen zu machen, eben zu ihrem Wesen gehört [. . .]. Ich habe schon viele Lawinen mitgemacht und mich dabei einigemal in unmittelbarer Todesnähe befunden, aber noch immer eine beinahe erotische Neugierde für diese vielartigen Erlebnisse bewahrt [. . .].« (KA/Lesetexte/Bd. 19/Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Bruno Fürst, 21. 2. 1935) KA/Transkriptionen/Heft II/71. KA/Transkriptionen/Heft 33/86. Der Anmarsch zu den Isonzostellungen wird in Heft II/5–7 beschrieben, es ist dort mehrmals vom Tod die Rede. KA/Transkriptionen/Heft I/26.

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Rosmarie Zeller

Zuvor: Rudern im blauen See. Die Weitgänger von Cima. V[ezzana] fallen in die schmale Ebene zwischen Felswand u Wasser. Ein wenig weiter und es kann einer voll ins Boot fallen und es in Splitter zerstauben. So könnte es uns auch beim Schwimmen erwischen, – wie man mit Dynamitpatronen Fische fängt. \Mit aufgerissenem Bauch blinkt man dann silbern auf der Wasserfläche. | Die Ebene ist gar nicht so schmal, aber . . . Man glaubt immer, daß man im Angesicht des Todes das Leben toller genießt, voller trinkt. So erzählen es die Dichter. Es ist nicht so. Man ist nur von einer Bindung befreit, wie von einem steifen Knie oder einem schweren Rucksack. Der Bindung an das Lebendigsein wollen, dem Grauen vor dem Tode. Man ist nicht mehr verstrickt. Man ist frei. Es ist Herrlichkeit.58

Hier haben wir die Formulierungen, wie sie in Grigia erscheinen. Obwohl Musil in Heft II den Tod häufiger erwähnt, hat er in seinen Werken die Todesangst ebenso selten dargestellt wie – im Gegensatz etwa zu Jünger – die konkreten Verletzungen. Neben dem oben zitierten Plan, dass er die »Idyllen« einem Mann mit Todesangst unterschieben könnte, gibt es, wenn ich richtig sehe, nur noch einen solchen Text, der den Titel Der singende Tod trägt.59 In diesem Text führt Musil einen Maler ein, der aber von Beruf eigentlich Ingenieur ist und der »den Zweifel und einen mutigen Unglauben liebt«. Der Mann nimmt am Krieg teil und hat zunächst keine besonderen Empfindungen. Musil hat hier offensichtlich seine eigene Erfahrung eingebracht: »Als der Krieg ausbrach, machte er die seltsame, ans Religiöse streifende Aufregung mit wie jeder andre und kam als Reserveoffizier mit seinem R[e]g[imen]t. nach Galizien. Er machte die blutigen ›Wellenbrecherschlachten‹ des Anfangs mit und erlebte nichts besonderes dabei [. . .].«60 Trotzdem befindet er sich in jener Ausnahmesituation, wie sie auch für die Männer in den Novellen Drei Frauen typisch ist, in der die gewohnten Bindungen abfallen: »Ausgelöst war man wie ein Knöchelchen aus dem Fleisch von Intelligenz, Beruf, Kunst, Weibersehnsucht und dergleichen.«61 Der Mann wird einmal von einem Geschoss getroffen und liegt hilflos im Gras: »Shrapnels zerissen [sic] die Luft, von Granaten aufgeworfene Erde überstäubte ihn, er konnte nicht flüchten, noch Schutz suchen; eine namenlose Angst, Einsamkeit und Verachtung quälten ihn machten ihn erstarren, dann verlor er das Bewußtsein.«62 Er erwacht erst im Eisenbahnwagen wieder. Der Text bricht an dieser Stelle abrupt ab. Mit dem Verlust des Bewusstseins ist auch der Text zu Ende, die 58 59 60

61 62

KA/Transkriptionen/Heft II/64 f. Der Ausdruck kommt bereits einmal in Heft II/7 vor. Musil schrieb zuerst: »Der singende Tod« und hat nachher korrigiert zu: »Der Tod singt hier.« KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/195. In der Klagenfurter Ausgabe wird der Text auf 1914– 1918 datiert, zugleich wird aber gesagt, dass die Mappe »AN« Notizen aus den Jahren 1919– 1923 enthält. Das scheint mir richtiger zu sein. Es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass Musil diese Erzählung während des Kriegs aufgeschrieben hat. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/195. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/196.

Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text

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Situation scheint nichts mehr herzugeben. Musil hat offenbar nicht gesehen, wie er die so entstandene Situation für das, was er eigentlich darstellen wollte, nämlich die Erreichung eines höheren Bewusstseinszustand, nutzen konnte. Der Situation fehlt es an semantischem Potential im Gegensatz zu jener Variante, in der die Person von der Todesfurcht befreit wird, wie zum Beispiel in Grigia, wo diese Erfahrung als Außerkraftsetzen des Lebens bezeichnet wird (vgl. GW II, S. 240), welche offensichtlich mehr semantisches Potential enthält. Jedenfalls hat er das ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ in diesem Sinn bearbeitet.

6. Das ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ Zwischen dem 5. und dem 22. September 1915 hat Musil nichts in Heft I eingetragen. Am 22. September notiert er das ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹. Wie öfters beginnt er mit der akustischen Wahrnehmung des Geräusches, das der Fliegerpfeil verursacht.63 Es folgt die Beschreibung, wie er neben ihm in die Erde fährt, und erst dann wird die Wirkung des Erlebnisses geschildert, obwohl er es nicht bewusst wahrgenommen hat und sich »instinktiv« verhalten hat. Von einer Luftwelle nichts erinnerlich. Von plötzlich anschwellender Nähe nichts erinnerlich. Muß aber so gewesen sein, denn instinktiv riß ich meinen Oberleib zur Seite und machte bei feststehenden Füßen eine ziemlich tiefe Verbeugung. Dabei von Erschrecken keine Spur, auch nicht von dem rein nervösen wie Herzklopfen, das sonst bei plötzlichem Choc auch ohne Angst eintritt. – Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe. – – 64

Der Eintrag ist, wie fast alles Einträge in dem Heft, ohne Korrekturen und – wie aus dem »nichts erinnerlich« hervorgeht – hinterher in einer ruhigen Minute geschrieben. Musil hat hier zum ersten Mal die Nähe des Todes erlebt, ohne erschrocken zu sein, ja er ist stolz, »es« erlebt zu haben. Auf dem oben erwähnten Blatt mit dem Register zu den in den Heften I und II notierten Kriegserlebnissen erscheint das Erlebnis unter dem Begriff »Fliegerpfeil«.65 Umgekehrt hat Musil mit Rotstift auf einem Blatt66 mit dem Titel »Der Fliegerpfeil« »Idyllen« geschrieben, also das Blatt dem »Idyllen«Projekt zugeordnet. In diesem Fall wäre das vielleicht das Ereignis gewesen, welches dem Mann, der der Held des »Idyllen«-Projektes sein sollte, die To63

64 65 66

Dies hat auch das Interesse der Forschung geweckt, siehe etwa: Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München 1990 (= Literatur- und Medienanalysen, Bd. 2), S. 265–288, und die oben zitierte Arbeit von Julia Encke (s. Anm. 32). KA/Transkriptionen/Heft I/23 f. KA/Transkription/Mappe IV/2/201. Vgl. KA/Transkription/Mappe IV/2/197.

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desfurcht eingejagt hätte. Musil hat das Erlebnis später in dem in den Nachlaß zu Lebzeiten eingegangenen Text Die Amsel verwertet, dabei wiederum die typischen Transformationen vorgenommen und den Bezug zum Krieg abgeschwächt. Bevor er den Text in die Amsel integriert hat, hat er verschiedene Varianten ausprobiert, in denen der Kriegskontext noch durchaus vorhanden war und mit verschiedenen Erzählformen experimentiert, wie die Blätter im Nachlass zeigen. Es kann hier keine vollständige genetische Analyse geleistet werden, schon darum nicht, weil die einzelnen Blätter schwer zu datieren sind und ihre chronologische Reihenfolge keineswegs feststeht. Allerdings ist die grobe Chronologie von der Notiz in Heft I über das Blatt mit dem Titel »Der singende Tod« und »Ein Soldat erzählt« bis zur Aufnahme in Die Amsel einigermaßen klar. Es soll gezeigt werden, wie das Erlebnis in neue Kontexte gestellt und der Kontext des Krieges allmählich unwichtig wird. Alle überlieferten Blätter, welche von den Herausgebern der Klagenfurter Ausgabe dem Konvolut »Ein Soldat erzählt« oder »Die Amsel« zugeordnet werden, sind nach dem Krieg entstanden, sie befinden sich in einer von Musil angelegten Mappe »AN« (Anfänge und Notizen), welche Blätter enthält, die zwischen 1919 und 1923 entstanden sind.67 Musil hat zunächst vorgesehen, das Erlebnis in den zweiten Teil des Romans einzubauen, der damals noch »Der Anarchist« hieß, wie ein Eintrag in Heft II zeigt: Kommt Frühjahr 1915 nach Tirol. Beginn des Empfindens für Unerträglichkeit des Zusammenlebens. Bedrückung wegen Verlust von STirol. Unterschied geg. das größere Gefühl in Deutschland. Wiederbeginn des Kriegs. Palai der blumige Tod. Tenna der Fliegerpfeil usw. Erkrankung. Schlechte Behandlung durch Ärzte (anders empfunden als in Galizien, wo keine bessere Möglichkeit) Einteilung bei Kdo. – Panama. Schwester wieder bei sich. Aber Beziehung ganz ungeschlechtlich.68

Der Fliegerpfeil wird hier in unmittelbare Nachbarschaft mit dem Motiv »blumiger Tod«, also mit dem oben erwähnten Eintrag vom 6. Juni 1915 in Heft I, gestellt und somit dem Motiv »Nähe des Todes ohne Todesangst« zugeordnet. Auf einem aus einem Notizblock herausgerissenen Blatt erzählt ein Ich das Erlebnis, jetzt aber sehr viel emotionaler als Musil selbst in Heft I : Wie er sich mir näherte und perspektivisch größer wurde, war es doch zugleich als stiege ein silberner Strahl in mir auf. Als schwölle der Stachel einer Wollust im Fleische. Der Laut war so fein und einfach wie der einer Stimmgabel. Aber es war außerdem vom ersten Augenblick an etwas Unirdisches an ihm, weshalb er sich nicht beschreiben läßt.69 67 68 69

Die Klagenfurter Ausgabe datiert einzelne Blätter früher, was sich aber nicht halten lässt. Generell werden die Blätter in der Ausgabe zu früh datiert. KA/Transkriptionen/Heft II/52. KA/Transkription/Mappe IV/2/200.

Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text

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Und zum Schluß dieser wenigen Augenblicke war eine neue Vorstellung in meinem Leib, die er nie zuvor beherbergt hatte: Gott.70

Bemerkenswert ist, dass in dieser Passage nicht mehr vom Tod die Rede ist, dafür aber von Wollust und Gott, die Musil auch an andern Stellen mit den Kriegserlebnissen assoziiert, besonders in der Kasino-Szene in Grigia (vgl. GW II, S. 244). Musil versucht in dieser Version, die noch näher bei seinem eigenen Erlebnis zu sein scheint, weil er darin als Vergleich auf das Gefühl anspielt, das er hatte, als er auf einer Bahre aus dem Bahnhof von Innsbruck getragen wurde, die durch den Fliegerpfeil hervorgerufene Erschütterung durch Metaphern für den Leser nachvollziehbar zu machen.71 Die Blätter der Mappe IV/2/197–198, auf die hinterher mit Bleistift »Ein Soldat erzählt« notiert wurde, sind stark korrigiert, sogar mit verschiedenen Schreibmitteln (Tinte, Bleistift, Rotstift), was einmal mehr belegt, wie intensiv Musil an der Schilderung solcher Erlebnisse arbeitete.72 Der Soldat schildert zuerst die Landschaft, in der sich das Ereignis abspielte und stellt fest: »In dieser für ein froheres Ereignis geschaffenen Landschaft wurde ich in die unsichtbare Kirche aufgenommen und erhielt meine Feuertaufe.« Er beschreibt, wie das Flugzeug auftaucht, wie er den dünnen singenden Laut hört, aber nicht warnt, weil er das Erlebnis festhalten will. Er beschreibt ausführlich die körperliche Wirkung des Erlebnisses: »Ich richtete mich auf, wie man aus einem Rausch, unverstehbaren Leidenschaft erwacht. [. . .] Ich glaube, daß ich am ganzen Körper errötete. [. . .] Rein körperlich seelig. Und tiefer: eine persönliche Weihe empfangen zu haben.«73 In der literarischen Gestaltung versucht Musil die Emotionen mit Vergleichen wiederzugeben, welche in seiner Notiz ausgespart sind. Zugleich wird mit dem Titel klar, dass es ein Erlebnis ist, das so wohl nur im Krieg möglich ist. Bei der Aufnahme in Die Amsel wird zwar das Erlebnis auch noch als Kriegserlebnis geschildert. Die Einleitung mit der ausführlichen Beschreibung der Landschaft, welche genau wie in Grigia etwas Märchenhaftes hat, nimmt dem Krieg den Schrecken. Bemerkenswert ist, dass das Ich zunächst das Nahen des Fliegerpfeils allein hört, dass aber nachher alle von dem Erlebnis ergriffen werden, sie seien alle wie eine »Gruppe von Jüngern [. . .] die eine Botschaft erwarten« dagestanden (GW II, S. 556). Das Erlebnis hat so gar keinen Schrecken, dass das Ich »etwas von dieser Art noch einmal deutlicher erleben!« möchte. Das scheint mir genau der Punkt zu sein, warum für Musil die Darstellung des Krieges und der Kriegserlebnisse in der Art von Ernst Jünger oder 70 71 72 73

KA/Transkription/Mappe IV/2/199. KA/Transkription/Mappe IV/2/199. Das bezieht sich auf die Erkrankung Musils im März 1916, wo er nach Innsbruck transferiert wurde. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 5), S. 551. Siehe Zeller: Musils Arbeit am Text (s. Anm. 41), S. 59–62, zu Grigia, wo Homos Erlebnis im Märchenwald auch sehr stark überarbeitet ist. Ich nehme nur die erste Schicht der Handschrift.

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Rosmarie Zeller

Erich Maria Remarque nicht das primäre Ziel war. Der Krieg wird von Musil im Laufe der Bearbeitung seiner Notizen aus dem Krieg immer unwichtiger, weil die spezifische Erfahrung des zugleich Außer-sich- und Bei-sich-Seins auch durch andere Erlebnisse hervorgerufen werden kann, wie die Reihung solcher Erlebnisse in der Amsel zeigt. Das macht verständlich, warum Musil in der Bearbeitung seiner Texte den Krieg eliminiert bzw. jene Texte, wo er im Mittelpunkt gestanden wäre, nicht weiter bearbeitet hat.

7. »Panama« Das »Panama«-Projekt, mit dem sich Musil nach dem Krieg 1918/1919 beschäftigte, muss hier ebenfalls kurz erwähnt werden, weil es einen anderen Aspekt der Kriegswahrnehmung durch Musil zeigt. Wie aus dem in Heft II notierten Plan für den zweiten Teil des Romans hervorgeht, sollte nicht nur der »Rausch« der Mobilmachung, die Kriegserlebnisse – »Wiederbeginn des Kriegs. Palai der blumige Tod. Tenna der Fliegerpfeil« usw. – dargestellt werden, sondern eben auch Panama. »Panama steht«, wie Walter Fanta schreibt, »für die Korruption und Schieberei der Versorgungsoffiziere, für den Nepotismus und die tägliche Mißwirtschaft innerhalb der Logistik der österreichisch-ungarischen Armee.«74 Erhalten geblieben sind von diesem Projekt lediglich ein paar Blätter eines Dramenentwurfs, welche bald als »Panama«, bald als »Der kleine Napoleon« bezeichnet werden. Die meistens Szenen sind stark satirisch und erinnern zum Teil an Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Sie spielen im Generalhauptkommando der Front in Südtirol. In der Tat hat Musil bereits am 29. Juni 1915 in Heft I notiert: Unordnung beim General-Armee-Kommando vierzig periodische Meldungen im Monat. Bis hoch hinauf keine Stelle, die diese Meldungen verarbeitet, man verlangt in x Zusammenstellungen das gleiche. Stabsoffiziere wie Oberstleutnant Th. Die Kompagnien zerrissen. Die Proviantur zur Proviantur des General-Armee-Kommandos gemacht. Eine vierte Kompagnie wird aufgestellt und das Bataillonskommando erfährt zufällig durch ein durchlaufendes Dienststück davon. Hauptmann von R. wird von seiner Kompagnie weg nach Sommo kommandiert. Beförderungen werden vollzogen ohne Wissen des Bataillonskommandos.75

Was Musil hier offenbar interessierte, ist das, was er im Mann ohne Eigenschaften als die Widersprüche der kakanischen Bürokratie darstellen wird: 74

75

Walter Fanta: Das Österreichische in den Texten von Robert Musil, in: Annette Daigger, Peter Henninger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern u. a. 2008 (= Musiliana, Bd. 14), S. 13–33, hier S. 22. Doppler: »Seinesgleichen führt zum Krieg« (s. Anm. 5), S. 63, spricht von »Packelei«. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Hefte/I. Klein Grau/29. Juni 1915. Der Originaltext ist stark abgekürzt, weshalb hier ausnahmsweise der Lesetext wiedergegeben wird.

Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text

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fehlende Hierarchien und ungeklärte Zuständigkeiten, die Tendenz, alles auf die lange Bank zu schieben und nichts zu erledigen. Dies wird an verschiedenen Episoden vorgeführt, die illustrieren, wie Zuständigkeiten verwischt werden, Schuld auf andere abgeschoben wird, Abläufe so gestaltet werden, dass am Ende niemand schuld ist, bzw. »niemand [. . .] verantwortlich gemacht werden« kann, wie es einmal heißt.76 In anderen Szenen wird das widersprüchliche Verhalten der Menschen vorgeführt, je nachdem, ob es sie persönlich angeht oder die Allgemeinheit betrifft. Im Prinzip ist man gegen Panama, aber wenn es einem persönlich hilft, drückt man die Augen zu und beansprucht gewisse Vorteile.77 Musil führt hier das widersprüchliche Verhalten der Menschen vor, wie er es später im Mann ohne Eigenschaften den von Räubern zusammengeschlagenen Ulrich reflektieren lässt (vgl. MoE, S. 26–28). Der größte Teil des »Panama«-Stoffes sollte aber wohl dem Thema »Ordnung – Unordnung« und strategischen Überlegungen gelten. Das Drama beginnt damit, dass ein Akt gesucht wird, der verlegt wurde und der nichts weniger als ein zu unterschreibendes Todesurteil enthält. Den Akt findet Marietta, die Gattin von B., nachdem ihn ein aktiver Major mit sechs Offizieren vergeblich gesucht hat, wie man zufällig ein vierblättriges Kleeblatt findet.78 Die Anordnungen, wie man Akten abzulegen hat, werden nicht ausgeführt. Es dürfte klar sein, dass solche Überlegungen das Vorbild für jene Szenen sind, in denen Ulrich erklärt, wie er die Vorschläge für die Parallelaktion archiviert (vgl. MoE, S. 224–227 u. 271 f.). Musil konnte die »Panama«-Thematik aufgeben, als er auf den Einfall der Parallelaktion kam. Die Parallelaktion erlaubte ihm, alles das darzustellen, was ihn an Panama interessierte. Die Erfindung der Parallelaktion hat zudem den Vorteil, dass Musil nicht auf den Kriegsbereich beschränkt war, um Phänomene der bestehenden Hierarchien und Ordnungen, die im Alltag aber umgangen werden, darzustellen, sondern zu Beispielen aus dem Bereich des »Zivilverstandes«, wie General Stumm von Bordwehr sagen würde, greifen kann. Damit kann er erst darstellen, worum es ihm letztlich auch im »Panama«-Text geht, nämlich nicht um eine Satire über den Krieg, wie sie Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit realisiert hat, sondern um die Darstellung der »Widersprüche[ ], der Inkonsequenz und Unvollkommenheit des Lebens«, wie es im Mann ohne Eigenschaften einmal heißt, welche dazu führt, dass man »Klöster zu Kasernen« macht, aber den Kasernen wiederum Feldgeistliche zuteilt (MoE, S. 27), dass man von Frieden spricht und zugleich aufrüstet. Es geht ihm ferner auch um die Darstellung der Tatsache, dass in der modernen Welt letztlich niemand mehr das Ganze beherrscht, dass das Ergebnis nicht voraussehbar ist, oder wie es General Stumm ausdrückt: Jeder 76 77 78

KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/15. So wird die Frau von B., welche wie viele Soldaten an Tuberkulose erkrankt ist, besser behandelt als diese (vgl. KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/13). Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/19.

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bringt vor, »was er [. . .] für das Richtige hält, und zum Schluß ergibt sich etwas daraus, das keiner ganz gewollt hat« (MoE, S. 777).

8. Schluss Wenn man Musils Kriegsnotizen und seine »Panama«-Entwürfe liest, wird deutlich, dass es ihm – mit Ausnahme des Textes in der Tiroler SoldatenZeitung, Aus der Geschichte eines Regiments79 – im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen nie darum ging, Kampfhandlungen, den Krieg an sich bzw. die Grausamkeit des Krieges darzustellen. Er scheint bei der literarischen Arbeit schon ziemlich bald erkannt zu haben, dass der Krieg zwar eine außerordentliche Situation ist, aber eine, die ihn nur insofern interessiert, als deren Wirkung auch in anderen Lebensumständen auftreten kann, wie er es auch dargestellt hat: als Abenteuer oder, wenn man an von Ketten denkt, als Krankheit oder mystisches Erlebnis. Treffend bemerkt Kai Evers, Musil vermeide »jegliche Darstellung eines Gemeinschaft stiftende[n] Fronterlebnisses. Musils berühmte Fliegerpfeil-Episode erweist sich als atypische Darstellung der Gewalterfahrung im Nachkriegsdiskurs«, weil das Ereignis nicht als kollektives sondern als individuelles, ja intimes Erlebnis beschrieben werde.80 Schon bei der Arbeit an Grigia hat Musil die Hinweise auf den Krieg eliminiert bzw. transformiert. Je mehr literarische Werke über den Krieg publiziert wurden, bereits 1919 waren Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit erschienen, 1920 Alfred Döblins Wallenstein und Ernst Jüngers In Stahlgewittern, muss es Musil klar geworden sein, dass der Krieg in vielen Varianten – als Massenphänomen, als tragisches Erlebnis Einzelner, satirisch und pathetisch – schon dargestellt war und dass ihn letztlich am Krieg nicht der Krieg interessiert, sondern das, was er im Individuum bewirkt, die Verhaltensweisen – wenn man an das »Panama«-Projekt denkt –, die er hervorbringt. Der Verlust der Hierarchien, die Auflösung der Werte der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, die Begegnung mit dem Irrationalen, die Reflexion über den Zufall, die Erfahrung intensiven Lebens und auf der anderen Seite der Sinnlosigkeit, existentielle Krisen, dies alles konnte Musil auch am Beispiel des zivilen Lebens darstellen, dafür hat er Kakanien und die Parallelaktion erfunden. Kakanien wollte er zwar am Ende im Krieg untergehen lassen, zugleich hat er aber von ihm behauptet, es sei der »fortgeschrittenste Staat« (MoE, S. 35) und damit ein Abbild der modernen Welt, jener, die erst durch die Krise des Ersten Weltkriegs entstand. 79 80

Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Kriegspublizistik 1916–1918. Evers: »Krieg ist das gleiche wie aZ« (s. Anm. 49), S. 241 f. Vgl. eine ähnliche Beobachtung von Mathias Meyer: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. München 2010 (= Ethik – Text – Kultur, Bd. 4), S. 238. Siehe auch die in eine ähnliche Richtung gehenden Beobachtungen von Helmuth Kiesel in diesem Band.

Helmuth Kiesel

Erfahrung und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs bei Robert Musil und Ernst Jünger Abstract: In order to profile the specificity of Robert Musil’s involvement in the First World War, as well as his diaristic and essayistic reflections of the war experience, secondary literature has repeatedly compared them with those by Ernst Jünger. After all he, too, was in active service for the full duration of the war and reflected on its various aspects in a diary and other texts. Yet such comparisons often limit themselves to rather sporadic observations, which do not pay justice to the respective affinities or differences between both writers. The following analysis offers for the first time a systematic comparison of both authors’ military engagement and their literary reflections on warfare.

Wenn man – weit davon entfernt, ein Musil-Kenner zu sein – sich mit Hilfe der Forschungsliteratur über Robert Musils Teilnahme am Ersten Weltkrieg und über seine nachträgliche Auseinandersetzung mit ihm unterrichten will, so stößt man rasch auf den Namen Ernst Jünger. Auf den knapp hundert Seiten, die Karl Corino in seiner großen Biographie für Musils Kriegsjahre verwendet, wird Jünger nicht nur einmal erwähnt, wie das Register anzeigt, sondern dreimal vergleichsweise herangezogen: Es sei »bezeichnend für den Oberleutnant Musil«, heißt es da, »wie er – ähnlich Ernst Jünger – auch in der bedrohlichen Situation seine Eindrücke festzuhalten sucht.«1 Einige Seiten später wird ein Beitrag Musils zur Tiroler Soldaten-Zeitung etwas possierlich als »eine kleine bellizistische Parallelaktion zu den Kriegstexten Ernst Jüngers« bezeichnet,2 und wiederum einige Seiten später wird die Gefährlichkeit von Musils Kriegseinsatz durch den Hinweis verdeutlicht, dass man »das – von Ernst Jünger verklärte – Generationserlebnis der Materialschlacht« nicht nur in Frankreich, sondern auch am Isonzo haben konnte.3 Auch in Wolfgang Schramls Studie Relativismus und Anthropologie liest man gleich zu Beginn des Kapitels »Die Tagebuchhefte der Kriegs- und Nachkriegszeit«: Der Offizier Musil war fast während der gesamten Dauer des Ersten Weltkriegs aktiver Soldat; in dieser Hinsicht kann er nur mit einem Autor wie Ernst Jünger verglichen werden. Dieser biographische Hintergrund wird in der Musil-Literatur nicht immer ausreichend beachtet. Dies erklärt sich allerdings auch daher, daß Musil, der 1 2

3

Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2 2005, S. 545. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 562; vgl. dazu Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Mit zwei Beiträgen von Karl Corino und 87 Musil zugeschriebenen Zeitungsartikeln. Klagenfurt, Wien 2014. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 572.

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Helmuth Kiesel

darin Jünger nun in keiner Weise vergleichbar ist, den Krieg nicht als »Stahlgewitter« oder als Gelegenheit für heroische Bewährungsproben dargestellt hat. Deshalb sind auch seine Kriegsaufzeichnungen von eher unspektakulärem Charakter. Für Musil war der Krieg vielmehr eine kollektive Regression, die das kultivierte Europa und seine Bürger in einen vorgeschichtlichen, nur noch in biologisch-anthropologischen Kategorien beschreibbaren Zustand zurückversetzt hatte.4

Jünger, so scheint es, setzte Maßstäbe für die Bewertung von Musils Kriegseinsatz: Musil war so lange im Krieg wie Jünger, er notierte ebenso unerschrocken wie dieser, was ihm widerfuhr, und er erlebte Materialschlachten, die nicht weniger schrecklich waren als die, denen Jünger ausgesetzt war. Die sozusagen normative Verwendung Jüngers ist für diesen jedoch nicht nur schmeichelhaft, denn im Handumdrehen tauchen Formulierungen auf, die zu erkennen geben, dass Musil doch nicht so war wie ›dieser‹ Jünger, konkret, dass er die Materialschlacht nicht »verklärt« und nicht »als Gelegenheit für heroische Bewährungsproben dargestellt« und auch nur das eine oder andere Mal »eine kleine bellizistische Parallelaktion« zu Jüngers Kriegsschriften (die doch erst Jahre später erschienen) getätigt habe. Jünger wird an diesen Stellen zur negativen Norm, der Musil erfreulicherweise nie nahegekommen ist. Das alles ist nicht falsch, beruht aber – bedingt und legitimiert durch die Konzentration auf Musil – auf sporadischen Beobachtungen unter Verdrängung einiger Aspekte von Musils Kriegseinsatz5 und entbehrt der Aussagekraft, die ein breiter angelegter Vergleich haben könnte. Die eine oder andere Studie – genannt sei vor allem Stephan Baumgartners Aufsatz Intensitäten des Kriegs6 – tendiert auch dazu, ohne dass indessen die Differenzen zwischen den Kriegserfahrungen Musils und Jüngers so deutlich markiert würden, wie es meines Erachtens geboten ist. Dem gilt der erste Teil der folgenden Ausführungen. Ein zweiter Teil widmet sich dann der weiteren Auseinandersetzung der beiden Autoren mit dem Krieg. 4 5

6

Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994 (= Grenzen & Horizonte), S. 111. Hierzu Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 2), S. 54 f.: »Seinen patriotischen ›Fieberanfall‹ im Jahr 1914 bewerten viele Germanisten als peinlichen, doch angesichts allgemeiner Verwirrung entschuldbaren Fauxpas – seine anschließende Propagandaschlacht als Chefredakteur zweier Soldatenzeitungen wird durch den pazifistisch orientierten westlichen homo academicus, der Musils Werk als persönliches Identifikationsinstrument benützt, aus dem offiziellen Schriftstellerimage nur allzu gern ausgeklammert.« Schaunig weist (S. 39 f.) auch darauf hin, dass Musil im Gespräch mit dem Schriftsteller Soma Morgenstern noch zu Beginn der 1920er Jahre bellizistische Positionen vertreten habe. Vgl. Soma Morgenstern: Musils Bellizismus in den frühen 1920er Jahren, in: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010 (= En face, Bd. 2), S. 113. – Vgl. zu Musils Haltung nach dem Krieg auch Schaunig, S. 69–74. Vgl. Stephan Baumgartner: Intensitäten des Kriegs. Zu Robert Musil und Ernst Jünger, in: ders., Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich 2014 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 28), S. 147–167.

Erfahrung und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs bei Robert Musil und Ernst Jünger

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Musil stand, als der Krieg begann, im vierunddreißigsten Lebensjahr, Jünger im neunzehnten. Musil hatte sein Studium mit Erfolg abgeschlossen, sich als Wissenschaftler und Autor hervorgetan, verschiedene Berufstätigkeiten ausgeübt und geheiratet. Jünger war ein notorisch schlechter Schüler, der im Sommer 1914 mit Angst und Bange dem Abitur entgegensah. Beide meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst: Musil, der Ende 1913 dem Reglement entsprechend aus dem Reserveoffizierskader entlassen worden war, zum einen wohl aus patriotischen Gefühlen,7 zum andern aber auch, um sich aus der unbefriedigenden Lebenssituation, in der er sich befand, zu befreien;8 Jünger, weil er keinen größeren Wunsch hatte, als der schulischen »Presse« zu entkommen, und weil ihm das Kriegsabitur einen anständigen Abgang ermöglichte.9 Von Musil erschien im Septemberheft der Neuen Rundschau unter dem Titel Europäertum, Krieg, Deutschtum eine Rechtfertigung des Kriegs als Notwehr gegen eine »Verschwörung« der europäischen Nachbarn gegen die Mittelmächte, ein Bekenntnis zu Tugenden wie »Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit«, eine Beteuerung, »wie schön und brüderlich der Krieg ist«, und eine Distanzierung von »unsrer Kunst«, in der dies »eine geringe Rolle gespielt hat« (GW II, S. 1020 f.). Jünger hat dergleichen während der Kriegsjahre nie geäußert. Warum es zum Krieg gekommen war und wofür er geführt wurde, interessierte ihn nicht. Er wollte »Abenteuer« erleben, Heldentaten vollbringen und sich, nachdem er im November 1915 zum Leutnant ernannt worden war, als vorbildlicher Führer erweisen: durch Vorangehen, Sorgfalt bei der Lagebeobachtung und Einsatzplanung, Kameradschaftlichkeit und Fürsorge für die untergebenen Soldaten. Ein Blick auf den Verlauf der beiden Kriegseinsätze ergibt folgendes Datengerüst: Jünger kam nach der Grundausbildung in Hannover als Angehöriger des Füsilier- oder Infanterieregiments Nr. 73 am 31. Dezember 1914 an die nordostfranzösische Front und blieb dort bis zu seiner schweren Verwundung am 25. August 1918, unterbrochen nur durch zwei Offizierslehrgänge, einige Lazarettaufenthalte und anschließende Erholungsurlaube. In diesen dreidreiviertel Jahren hat Jünger zunächst als einfacher Schütze, dann als Zug- und schließlich als Kompanieführer an acht großen Schlachten teilgenommen, darunter an der verheerenden Schlacht um Guillemont, in der Jüngers Kompanie stark dezimiert und eine andere seines Bataillons von der englischen Artillerie bis auf den letzten Mann »zu brei und klumpen« geschlagen wurde (wie es

7 8 9

Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 497 ff. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 494: »Der Krieg [. . .] kam Musil gerade recht [. . .].« Zu Jüngers Kriegseinsatz vgl. den Kommentar in Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010, S. 596–647: »Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg. Übersicht und Dokumentation«.

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in Stefan Georges Gedicht Der Krieg heißt).10 Jünger war mehrfach schweren Artilleriebeschießungen ausgesetzt und hat an blutigen Sturmangriffen teilgenommen. Er hat feindliche Soldaten getötet und wurde selber vierzehn Mal verwundet, und zwar mehrheitlich bei Infanteriekämpfen, wie Jünger gegen Ende seines Erinnerungsbuchs In Stahlgewittern betont: »In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf von diesen [vierzehn] Geschossen auf mich persönlich gezielt waren.«11 Für Jüngers Selbstwahrnehmung als Kriegsheld ist dies von einiger Bedeutung. Trotz der »überragenden Bedeutung der Materie« oder des Materials, die Jünger im Vorwort zu den Stahlgewittern konstatierte,12 betonte und exemplifizierte er die Möglichkeit erfolgreichen heldenhaften Handelns13 und hielt daran fest, »daß aller Erfolg der Tat des Einzelnen entspringt«.14 Den Vorschlag seines Vaters, sich um eine sichere Funktion im Stab zu bewerben, lehnte er mit der Bemerkung ab, er wolle keinen »Posten für Etappenschweine«.15 Im Frühsommer 1916 hatte Jünger ein Verhältnis mit einer jungen Französin im Frontgebiet, danach auch sexuelle Kontakte mit anderen Frauen; einmal stellte sich – fälschlicherweise – der Verdacht auf eine luetische Infektion ein und ängstigte ihn für eine Weile. Musil wurde nach Kriegsbeginn nicht, wie befürchtet, nach Galizien kommandiert, sondern kam im September 1914 zum »Grenzschutzdienst« nach Südtirol, wo es keine Kampfhandlungen gab, weil Italien sich als Mitglied des 1882 geschlossenen »Dreibunds« mit Deutschland und ÖsterreichUngarn für neutral erklärt hatte. So erlebte Musil die ersten Monate des Kriegs, begleitet von seiner Frau, in einer idyllischen Landschaft fast wie einen Urlaub mit »Ausflugsplänen« und »angeschlossenem Damenprogramm«, wie Alexander Honold in seiner differenzierten Darstellung schreibt.16 Der wirkliche Krieg begann an der Alpenfront erst, als Italien nach Geheimverhandlungen mit den Alliierten den »Dreibund« verließ und Österreich am Pfingstsonntag 1915 den Krieg erklärte. Im Sommer 1915 nahm Musil an den 10 11

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Vgl. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. IX : Das Neue Reich. Stuttgart 2001, S. 24 (Strophe 5, Vers 6). Vgl. Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. 2 Bde. Bd. 1: Die gedruckten Fassungen unter Berücksichtigung der Korrekturbücher. Hg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2013, S. 639. Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 11), S. 18. Vgl. Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 11), S. 378–395 (erfolgreiche Verteidigung der Steenbach-Linie). Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 11), S. 612. – Es scheint mir, dass Baumgartner in seinem ansonsten sehr zutreffenden Aufsatz Intensitäten des Kriegs (s. Anm. 6) diesen Aspekt etwas zu wenig berücksichtigt hat. Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918. Mit ausgewählten Antwortbriefen der Eltern und Friedrich Georg Jüngers. Hg. v. Heimo Schwilk. Stuttgart 2014, S. 88. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 226. – Zu Musils Kriegseinsatz vgl. auch Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 2), S. 15–34.

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Gefechten auf dem Monte Salubro und der Cima Cista teil, ohne sich jedoch »in wirklicher Todesgefahr« zu sehen.17 Dasselbe gilt wohl auch für die vierte Isonzoschlacht vom November/Dezember 1915. Seinen Dienst als Offizier scheint Musil, der einen militärischen Habitus pflegte,18 mit Sorgfalt und Strenge ausgeübt zu haben. Zwei Episoden – Musils schroffe Härte gegenüber einer Entlastungsbitte des Schriftstellerkollegen und Gruppenführers Josef Luitpold Stern19 und seine (nicht ganz durchschaubare) Beteiligung an der Meldung eines »Defaitisten« Ende Juli 191820 – weisen auf eine Indolenz oder ›Kälte‹ hin, für die es bei Jünger, dem ›Kälte‹ – unter Verleugnung seiner emotionalen Vielschichtigkeit – permanent nachgesagt und vorgehalten wird, kein Beispiel gibt. Jünger ließ in entsprechenden Fällen Milde walten.21 Im Sommer 1915 scheint Musil in Palai eine Affäre mit einer Bäuerin gehabt zu haben.22 Ab Dezember 1915 bemühte er sich mit Hilfe eines Kameraden im Generalstab, »aus der Front herausgezogen zu werden und einen ›Druckposten‹ im Hinterland zu bekommen«.23 Im März 1916 musste er sich aufgrund körperlicher Schwächung infolge der Strapazen des Winterkriegs und wegen einer Entzündung im Mund und Rachen, die auf eine venerische Infektion hindeutete, in ärztliche Untersuchung begeben, doch wurde der Lues-Verdacht ausgeräumt.24 Am 6. April wurde Musil zur weiteren Behandlung nach Prag »transferiert« (Tb II, S. 192) und bald danach, am 20. April, dank der Bemühungen eines Bekannten in die Etappenstadt Bozen kommandiert, wo er zunächst in der Auszeichnungs- oder Ordensabteilung Gutachterdienst leistete, dann die Redaktion der Tiroler Soldaten-Zeitung übernahm. Corino spricht von »fast eindreiviertel Jahren Frontdienst« vor der Abkommandierung nach Bozen;25 die Zeit unter Kriegsbedingungen (Mitte Mai 1915 bis Ende Februar 1916) schrumpft allerdings auf neun Monate. Das Bozener Etappenleben wurde Ende April 1917 durch die Abordnung ins Hauptquartier der Isonzoarmee in Adelsberg/Postojna beendet. Am 12. Mai begann die zehnte Isonzoschlacht, die Corino zu Recht mit den von Jünger erlebten Materialschlachten vergleicht; aber er schreibt auch: »Musil in Boroevi´cs Hauptquartier nahe der Adelsberger Grotte war wohl mehr Ohrenals Augenzeuge dieser Stahlgewitter.«26 Auch bei den folgenden Vorstößen der österreichischen Truppen bis zum Piave gehörte Musil als »›kunsthisto17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 540. Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 2), S. 35–45. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 547 f.; [Josef] Luitpold Stern: Robert Musil als Bataillonsadjutant, in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 5), S. 83 f. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 585. Vgl. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 128 u. 356. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 528 f. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 546. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 549. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 552. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 572.

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rischer Sachverständiger‹« zum Tross.27 Danach wurde er – im Januar 1918 – ins Kriegspressequartier nach Wien versetzt, wo er, unterbrochen durch einen Aufenthalt in Brünn, die restliche Kriegszeit erlebte. Vergleicht man die beiden kleinen Chroniken miteinander, so ergibt sich als Befund, dass Jünger sehr viel länger an der Front war als Musil (nämlich, die Lazarett-, Lehrgangs- und Urlaubszeiten herausgerechnet, etwa 34 Monate gegenüber 9 Monaten bei Musil) und den Krieg in einer sehr viel größeren Intensität erlebt hat. Während Jünger an acht großen Schlachten teilgenommen hat und lange Monate unter permanenter Beschießung durch Infanteriegewehre, Maschinengewehre, Granatwerfer und Artilleriegeschütze lebte, blieb Musil davon weitgehend verschont. Die Differenzen zwischen Musils und Jüngers Kriegserfahrungen spiegeln sich zunächst einmal in den persönlichen Aufzeichnungen oder Dokumentationen wider, die in beiden Fällen in der authentischen, unredigierten Form vorliegen. Musil begann in den Tagen nach der italienischen Kriegserklärung am 23. Mai 1915 mit Eintragungen in ein kleines Notizheft (Heft 1: Tb I, S. 303–321), das er im Uniformrock leicht mit sich tragen konnte (8,8 × 13,5 cm, Wachstuchdeckel; vgl. Tb II, S. 177). Die Aufzeichnungen setzen sich in einem zweiten Büchlein gleichen Formats fort (Heft ohne Nummer: Tb I, S. 323–352). Zusammen ergeben die sporadischen und meist knappen Aufzeichnungen nicht ganz fünfzig Druckseiten. Jünger steckte am Tag der Abkommandierung an die Front, also am 30. Dezember 1914, ein ähnliches Notizbuch ein, begann noch während der Fahrt mit Notizen und führte diese dokumentarische Tätigkeit bis zum Ende seines Kriegseinsatzes zwar nicht täglich, aber doch kontinuierlich fort. Er brauchte dafür fünfzehn Notizbücher mit insgesamt etwa 1800 Seiten; im Druck sind es etwa 420 Seiten.28 Inhaltlich gibt es einige frappierende Übereinstimmungen. Musils Bemerkung, er habe bei der Beobachtung einer Beschießung »ein neutrales Gefühl wie beim Scheibenschießen« (Tb I, S. 309), und seine Feststellung, die »Gefechte, Toten usw.« vor den Stellungen hätten »keinen Eindruck« auf ihn gemacht (Tb I, S. 312), finden Parallelen in Jüngers Aufzeichnungen, wo es heißt: »Der Anblick der von Granaten Zerrissenen hat mich vollkommen kalt gelassen, ebenso die ganze Knallerei, trotzdem ich einige Male die Kugeln sehr nah habe singen hören.«29 Die Geräusche von Projektilen, deren genaue Einschätzung lebensrettend sein konnte, hat Musil ebenso differenziert wie Jünger beschrieben (vgl. etwa Tb I, S. 312 f. u. 324 f.; GW II, S. 758), nur dass es bei Jünger am Ende des dritten Hefts in einem eigenen Kapitel 27 28 29

Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 574. Siehe Anm. 9. Die originalen Hefte sind Bestandteil von Jüngers Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 10.

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ausführlicher und in systematischer Weise geschieht.30 Bei beiden Autoren finden sich Exempel für die teils schockierende, betäubende und bannende, teils verstörende und Panik auslösende Einwirkung von Geschossen auf die Sinne.31 Zahlreicher und vielfältiger als solche Gemeinsamkeiten sind indessen die Unterschiede. Aus Jüngers Kriegstagebuch ergibt sich ein komplettes, dichtes und differenziertes Bild seines Kriegseinsatzes in der ganzen Breite und Nuanciertheit der Erfahrungen. Alles wird in großer Detailliertheit und mit ebenso großer Beobachterschärfe beschrieben: der zermürbende Grabenkrieg, der einschläfernd und doch jeden Augenblick lebensgefährlich war; die artilleristischen Feuerüberfälle, denen man fast schutzlos ausgesetzt war; das Zerschmettertwerden von Kameraden in nächster Nähe; das Schreien und Jammern der Verwundeten; das Anwehen von Gas und die Erstickungsängste in der Gasmaske; das grausige Biwakieren auf Leichenfeldern; das bange und zugleich aufreizende Antreten zu Gefechten; die rauschhafte Kampfes- und Tötungslust nach dem Sprung aus dem Graben und im Sturmlauf; ebenso die unerhörte Verwüstung der Somme-Landschaft. Bewusst ausgespart ist das Leid der Verbandplätze und Lazarette, das Jünger sehr wohl kannte, dem er aber in seinen Aufzeichnungen wie in seinen späteren heroisierenden Kriegsdarstellungen keinen größeren Platz einräumen wollte. Jüngers Aufzeichnungen dienten zwei Zwecken: Für den Fall seines Todes wollte er der Familie einen ›Heldenbericht‹ hinterlassen; für den Fall seines Überlebens wollte er Material für ein Kriegsbuch haben. Zweifellos war sein Tagebuchschreiben aber auch ein Mittel, gegenüber den permanenten Erfahrungen plötzlicher und brutalster Destruktionen den Zusammenhalt der Persönlichkeit zu wahren.32 Gegenüber der ›dichten‹ Beschreibung von Jüngers Kriegstagebuch wirkt der Krieg in Musils Aufzeichnungen seltsam fern. Eine der ersten Eintragungen von Ende Mai 1915 lautet: »Ferne Kanonenschläge: Kaum zu entscheiden, ob nicht irgendwo weit ein Tor zufiel« (Tb I, S. 303). Die folgenden Eintragungen betreffen vorzugsweise die Frauen von Palai, einen Besuch in Bozen und einige aus der Ferne beobachtete Beschießungen. Dann wird es für einen Moment dramatisch: »14/VIII . Feu . . . . . er – Alles läuft in Deckung; hinter dem Haus wird ein Stein gesprengt für den Bau der Kommandobaracke.« (Tb I, S. 311) Einige Wochen später scheint Musil einer Beschießung einmal so nahe gewesen zu sein, dass eine Granate in großer Nähe vorbeirauschte, den Tod 30 31 32

Vgl. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 75–78. Vgl. dazu Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1934. München 2006. Dies hat als erster John King herausgearbeitet; vgl. John King: »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?« Writing and Rewriting the First World War. Schnellroda 2003 (= Das Luminar, Bd. 2), S. 129–158.

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spüren ließ und im nächsten Moment das »Glücksgefühl« des Entronnenseins erzeugte (Tb I, S. 325). Der Höhepunkt der in den Notizheften festgehaltenen Kriegserfahrung ist aber die »Feuertaufe« durch jenen »Fliegerpfeil auf Tenna«, der Musil fast das Leben gekostet hätte und dessen unheimliches Ansausen von ihm mehrfach autobiographisch beschrieben (Tb I, S. 312; vgl. Tb II, S. 997–1001 = GW II, S. 751–756) und für die Erzählung Die Amsel genutzt wurde (vgl. GW II, S. 555–557). Schon die erste Schilderung unmittelbar nach dem Ereignis hat unter den sonst eher nüchternen Tagebucheintragungen einen außergewöhnlichen Charakter, der von der Forschung schon mehrfach analytisch ausgelotet und interpretatorisch profiliert wurde.33 Die sinnlichen Wahrnehmungen und körperlichen Reaktionen dieses kurzen Augenblicks werden auf eine auffallend nuancenreiche Weise wiedergegeben, und die Vergegenwärtigung des Ereignisses wird mit einer sich steigernden und am Ende hochpathetischen Bedeutungszuschreibung abgeschlossen: »Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe.« (Tb I, S. 312) Die hier nur metaphorisch ins Spiel gebrachte religiöse Dimension dieses militärischen Initiationserlebnisses34 wird in den beiden bald danach entstandenen Versionen der Prosaskizze Ein Soldat erzählt zum eigentlichen Kern des Ereignisses erhoben: Man befindet sich auf den Anhöhen des durch Laub und Sonne »heroisch« eingefärbten SuganerTals, das »[v]on Gott wie ein Posaunenstoß geschaffen ist« (GW II, S. 752). In dieser gleichsam für eine Offenbarung bestimmten Landschaft erlebt der Berichterstatter die »Feuer Taufe«, durch welche er in eine »unsichtbare Kirche aufgenommen« wird (ebd.). Er lauscht »verzückt« (ebd.) dem sowohl »tödliche[n]« als auch »himmlische[n]« »Gesang« des anschwirrenden Pfeils und fühlt sich nach dessen Einschlagen in die Erde »[r]ein körperlich seelig« (GW II, S. 753), wie jemand, der »eine persönliche Weihe empfangen« hat (ebd.), oder auch »wie ein Mädchen, das der Herr angesehen hat« (ebd.). Er, der sein »ganzes Leben lang Atheist war« (ebd.), hat etwas erlebt, was er fast nur als Offenbarung Gottes beschreiben kann. In der ersten Version heißt es: »Und zum Schluß dieser wenigen Augenblicke war eine neue Vorstellung in meinem Leib, die er nie zuvor beherbergt hatte: Gott.« (GW II, S. 754) Das wird an dieser Stelle gleich wieder in Frage gestellt, indem angefügt wird: »Oder war es Astrologie«; aber die zweite, besser ausgearbeitete Version benennt ausschließlich die religiöse Erfahrung: »Ich habe mir nie etwas aus Gott gemacht und war stolz darauf gewesen, aber jetzt mußte mir 33

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Vgl. Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München 1990 (= Literatur- und Medienanalysen, Bd. 2), S. 265–288; Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 16), S. 240–248; Encke: Augenblicke der Gefahr (s. Anm. 31), S. 162–172. So Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 16), S. 242.

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irgendwann eingefallen sein, ohne daß ich es gleich merkte: so ist es, wenn Gott etwas verkünden will.« (GW II, S. 756) In der 1928 erschienenen Erzählung Die Amsel wird der Charakter der Gotteserfahrung zunächst bestätigt, dann aber wieder zurückgenommen. Nach einer ersten Schilderung der PfeilAttacke heißt es dort: »[I]ch muß einfach sagen, ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen. Das ist immerhin nicht wenig bei einem Menschen, der seit seinem achten Jahr nicht an Gott geglaubt hat.« (GW II, S. 556) Am Ende einer zweiten Schilderung heißt es aber: »Wenn einer da gesagt hätte, Gott sei in meinen Leib gefahren, ich hätte nicht gelacht. Ich hätte es aber auch nicht geglaubt. Nicht einmal, daß ich einen Splitter von ihm davontrug, hätte ich geglaubt.« (GW II, S. 557) Musil wurde, so wird man wohl sagen dürfen, durch die Kriegserfahrung nicht zum homo religiosus oder Gottgläubigen; wohl aber gehört zu seiner Kriegserfahrung, dass diese einen zumindest quasi-religiösen Charakter annehmen konnte. Eine ähnlich nuancierte und religiös eingefärbte Schilderung einer lebensbedrohlichen Erfahrung gibt es bei Jünger nicht. Vergleichsweise wäre an die Schilderung des Einschlags einer schweren Granate zu denken, die Jünger am 28. Juli 1915 wohl fast das Leben gekostet hätte und ihm jedenfalls dermaßen zusetzte, dass er zur Schilderung nicht mehr fähig war, sondern mit dem Schreiben aufhörte und zwei Tagebuchblätter mit schwarzer Schraffur bedeckte.35 Ein Totenkopfemblem mit der Unterschrift »Memento!« bezeugt das Gefühl, dem Tod begegnet zu sein; eine religiöse Perspektivierung gibt es indessen nicht. Dafür war Jünger, durch seinen Vater in der »monistischen Weltanschauung« erzogen,36 zu nüchtern. Vielleicht spielt aber auch noch ein anderer Umstand eine Rolle. Musils ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ hat einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Charakter. Fliegerpfeile wurden in den ersten Monaten des Kriegs verwendet, erwiesen sich aber als ineffektiv und wurden durch Bord-Feuerwaffen abgelöst. Jünger hat den Abwurf eines Fliegerpfeils anscheinend nie erlebt oder auch nur beobachtet; wenigstens findet sich in seinen Kriegsbüchern keinerlei Hinweis darauf. Auch in den vielen weiteren Kriegsbüchern, die mir bekannt sind, spielen Fliegerpfeile keine Rolle, und allem Anschein nach hat kein anderer Autor die Bedrohung durch einen Fliegerpfeil so intensiv erfahren wie Musil. Dazu mag auch die spezifische Situation beigetragen haben. Wenn man davon ausgeht, dass die Darstellungen der Prosaskizze Ein Soldat erzählt und der Erzählung Die Amsel eine gewisse Wirklichkeitsnähe haben, erlebte Musil die Fliegerpfeil-Attacke in einem sozusagen ästhetischen Augenblick der gesteigerten Aufmerksamkeit oder Empfänglichkeit, welche die Wahrnehmung des anschwirrenden Pfeils überhaupt erst ermöglichte. Und selbst dann, wenn man sich an die Erstbeschreibung im 35 36

Vgl. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 70 f. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 90.

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Tagebuch hält, die weder die Offenbarungslandschaft noch das Farbenspiel am Himmel erwähnt, muß man annehmen, dass Musil sich in einer Situation befand, in welcher die Wahrnehmung des »windhaft« pfeifenden oder rauschenden Geräuschs überhaupt möglich war, also nicht etwa durch Fluggeräusche anderer Projektile oder durch Explosionsgeräusche überdeckt wurde. Es war, anders gesagt, eine in jedem Fall ganz außerordentliche, isolierte und deswegen so intensive Wahrnehmung, deren psychische Wirkungskraft sich zudem voll entfalten konnte, weil sie durch keine weitere Beschießung überholt und überdeckt wurde. Für den Ersten Weltkrieg, in dem weit mehr als die Hälfte der ›Ausfälle‹ durch Artilleriegeschosse und der Rest zum größten Teil durch Maschinengewehre und Handfeuerwaffen unter Gefechtslärm verursacht wurde,37 ist dies ein außergewöhnlicher Vorgang. Charakteristisch für den Ersten Weltkrieg und prägend für die Kriegserfahrung der Infanteristen waren Bombardements, die den betroffenen Soldaten schwer zusetzten und wohl in den wenigsten den Gedanken an »Musik von Mozart« (GW II, S. 555) und »Gottes Nähe« (GW II, S. 556) aufkommen ließen. Jünger hat neben der physischen Zerstörungskraft solcher Bombardements vor allem auch die psychische Verstörungskraft beschrieben. Nachdem er am 27. Juni 1916 während des einwöchigen Dauer- und Flächenbombardements, mit dem die Engländer ihren Angriff an der Somme vorbereiteten, bei einem Erkundungsgang von einem Trommelfeuer überrascht worden war und sich nur in eine primitive Deckung hatte retten können, notierte er: Nun war der Teufel los. Es pfiff, heulte und krachte, leichte, schwere Granaten, »Rattcher«, Shrapnells und so weiter, man wurde ganz blödsinnig. Dieses Aushalten im Feuer ist eine starke Nervenprobe, ich habe mich bemüht, diese Situation anschaulich zu schildern und dabei einen ganz passenden Vergleich gefunden. Es ist als ob man angebunden ist und ein Kerl will einen mit einem Hammer auf den Kopf schlagen, öfters holt er aus und bedroht einen bald mehr bald weniger.38

Der Eindruck, dass man mit schweren Schmiedehämmern bedroht werde, scheint für den Ersten Weltkrieg charakteristisch gewesen zu sein. Auch Henri Barbusse vergleicht in seinem Buch Das Feuer die Tätigkeit der Artillerie »mit den klingenden Schlägen eines Riesenhammers auf dem Amboss«,39 und ebenso spricht Roland Dorgelès in seinem Roman Die hölzernen Kreuze an entsprechender Stelle von einem »schreckliche[n] Eisenhammer«, der »mit rasendem Toben« näher kam.40 Es scheint, dass Musil dergleichen nie erlebt hat, auch nicht beim Einsatz in der Nähe von Britof (Britovo), von dem das Tagebuch berichtet (vgl. Tb I, S. 323–325); die dort beschriebene 37 38 39 40

Vgl. Benjamin Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern. Essen 2013, S. 28. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 137 f. Henri Barbusse: Das Feuer. Zürich 1918, S. 245. Roland Dorgelès: Die hölzernen Kreuze. Horw-Luzern, Stuttgart, Leipzig o. J. [Original 1919], S. 311.

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»Beschießung« erlaubte es noch, »ohne äußern Grund« »spazieren[zu]gehn« (Tb I, S. 325). Die 1915/1916 entstandene Prosaskizze Der Gesang des Todes/Der singende Tod (GW II, 757–759), die vom Einsatz in einer Schlacht unter Artilleriefeuer handelt, spielt in Galizien und beruht offensichtlich nicht auf eigenen Erfahrungen Musils, sondern auf Fremdberichten, und die mehrfachen Anzeigen unerschrockenen Verhaltens bei Beschießungen, die sich im »Heft ohne Nummer« finden (vgl. Tb I, S. 329–333), betreffen nicht Musil, sondern zwei Erzherzöge, die sich durch mutige Besichtigungen Tapferkeitsmedaillen verdienen mussten. Dies festzustellen ist aber nur wichtig, um auf gravierende Differenzen zwischen den Kriegserfahrungen Musils und Jüngers hinzuweisen und um zu verstehen, warum das ›FliegerpfeilErlebnis‹, das Jünger vermutlich als Kuriosität im Krieg der Maschinengewehre verbucht hätte, für Musil eine solch nachhaltige Bedeutung haben konnte. Gegenüber der Kontinuität und Ausführlichkeit, Differenziertheit und Dramatik von Jüngers Aufzeichnungen sind Musils Notizen bemerkenswert spärlich. Auch Corino kam darüber ins Sinnieren. Im Anschluss an die Mitteilung, Musil habe in Boroevi´cs Hauptquartier die »Stahlgewitter« der zehnten Isonzoschlacht beobachtet, bemerkte er: »Verblüffend, daß er sich nicht zum Chronisten berufen fühlte und nichts über jene auch im Hauptquartier nervenzerfetzenden Tage hinterlassen hat.«41 Vielleicht ist dies aber gar nicht so verwunderlich. Corinos Darstellung von Musils Kriegsjahren handelt zum großen Teil von privaten Angelegenheiten – Frauen, Ehe, Schriftstellerei, Auseinandersetzung mit den Eltern – und lässt den Eindruck aufkommen, dass Musil – was ihm nicht zu verdenken ist – vor allem mit der Fortführung seiner schriftstellerischen Existenz beschäftigt war und sich dem Krieg emotional möglichst verschloss. Im Übrigen wäre es aber gänzlich verfehlt, Jüngers exzessive Beschreibung des Kriegs zum Maßstab zu erheben, an dem andere Schriftsteller zu messen wären. Es gibt auch andere Formen der Auseinandersetzung mit dem Kriegseinsatz. Carl Zuckmayer, der ebenfalls den ganzen Krieg als Artillerist an der Front mitzumachen hatte, führte kein Tagebuch, schrieb 1916 zwar einige Gedichte auf gefallene Kameraden,42 aber weder eine Kriegserzählung noch einen autobiographischen Kriegsbericht – bis die Autobiographie, die er 1964 zu schreiben begann, ein Kapitel über den Ersten Weltkrieg verlangte.43 Eine etwas längere Notiz Musils wohl aus dem Jahr 1918 (vgl. Tb I, S. 338 f.) zeigt an, dass er spätestens zu dieser Zeit den Plan hatte, den Krieg im zweiten Teil eines größeren und autobiographisch grundierten Romans zu behandeln. Dazu kam er bekanntlich nicht. 41 42 43

Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 572. Vgl. Ulrich Ott, Friedrich Pfäfflin (Hg.): Carl Zuckmayer. Marbach a. N. 1996, S. 34. Vgl. Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt a. M. 1966, S. 211–292.

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Indessen war für Musil nach dem Ende des Kriegs deutlich, dass dieser eine Aufarbeitung verlangte. »Geht man aber«, heißt es in dem fragmentarischen Essay Das Ende des Krieges in Form einer rhetorischen Frage, »von einer so grausamen, vernichtenden Sache wie dieser Krieg vernünftigerweise weg wie von einer Prügelei?« (GW II, S. 1341) Im selben Essay benannte Musil drei Möglichkeiten der Kriegsbewältigung: Wenn ein Mensch für die Erreichung eines Ziels jahrelang kaum mehr erträgliche Opfer bringt: hungert, verarmt, seine Familie ruiniert, den Tod wagt, alle geistigen Güter preisgibt: so muß er dieses Ziel erreichen (und im Ziele noch einen gewissen Überschuß an Lebenskraft haben) oder er wird für den Rest seiner Tage mit gebrochenem Rückgrat herumkriechen. Eine dritte Lösung wäre nur die, daß er sein Trachten als verfehlt erkennt und ein besseres neues, mit den verbliebenen Kräften noch erreichbares Ziel erblickt. Man setze statt Mensch das Wort Menschheit und man hat – ohne daß die Giltigkeit dieser Sätze berührt würde – das Problem des Kriegsendes. (GW II, S. 1341 f.)

Musil selbst ist den dritten Weg gegangen und hat die ideellen oder ideologischen Voraussetzungen jenes »verfehlt[en]« Trachtens, das sich im Krieg entfaltete, in seinen Essays und in seinem Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften einer anhaltenden und tiefschürfenden Kritik unterzogen,44 dabei aber weder deren historische Wirkungsmacht, die sich im Sommer 1914 zeigte, noch deren bleibende und vielleicht unauflösbare Virulenz verleugnet. In dem Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, der im Dezember 1921 in der Neuen Rundschau erschien, widersprach Musil mit Verweis auf das Erlebnis des Kriegsausbruchs der vorschnellen Verwerfung der Nation zugunsten eines reinen Individualismus oder Internationalismus. Es heißt dort: Dieser individualistische Separationsgeist übersieht aber noch eines: jenes bekannte Sommererlebnis im Jahre 1914, den sogenannten Aufschwung zur großen Zeit, und ich meine das durchaus nicht nur ironisch. Im Gegenteil, was man anfangs stammelte und später zur Phrase entarten ließ, daß der Krieg ein seltsames, dem Religiösen verwandtes Erlebnis gewesen sei, kennzeichnet unzweifelhaft eine Tatsache; Entartung beweist nichts gegen den ursprünglichen Charakter. Es ist zu einer Phrase gemacht worden, in der üblichen Weise eben dadurch, daß man es ein religiöses Erlebnis nannte und ihm damit eine archaische Maske gab, statt zu fragen, was da eigentlich an einen doch längst entschlafenen Vorstellungs- und Gefühlsbereich so heftig seltsam poche: dennoch läßt sich nicht leugnen, daß der Menschheit zu jener Zeit (und natürlich alle Völker in der gleichen Weise) von etwas Irrationalem, Unvernünftigem, aber Ungeheurem berührt worden ist, das fremd, nicht von der gewohnten Erde, war und deshalb, noch bevor die eigentlichen Kriegsenttäuschungen kamen, einfach weil es sich bei seiner atmosphärisch unbestimmten Natur nicht fassen und halten ließ, schon als eine Halluzination oder ein Gespenst erklärt wurde. (GW II, S. 1060) 44

Vgl. zuletzt Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20); Alexander Honold: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin 2015, bes. S. 696–724.

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Auch in dem Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, der 1922 in Julius Meier-Graefes Ganymed erschien, verwies Musil – im 17. Kapitel, das sich mit den Ursachen für Kriege und den Möglichkeiten der Kriegsvermeidung befasst – auf die Macht einer irrationalen Motivation zum Krieg: Heute sind schlichtende Kräfte aus dem Bereich des common sense am Werk, um den Krieg als nutzlos und unvernünftig zu entwerten, und das sind gewiß schwere Argumente in einer auf Nutzen und Vernunft gerichteten Zeit; aber ich glaube, diese Art Pazifisten unterschätzt das explosiv-seelische Moment, das zu Kriegen jener zweiten [in ›kultivierten‹ Zeiten ausbrechenden und um sich greifenden] Art gehört, das offenbar menschliche Bedürfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreißen und in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe. Dieses Bedürfnis nach »metaphysischem Krach«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, häuft sich in Friedenszeiten als unbefriedigter Rest an. Ich vermag darin in Fällen, wo weit und breit keine Unterdrückung, keine wirtschaftliche Verzweiflung, sondern rings nur Gedeihen vorhanden war, nichts zu sehn als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung; in manchen Zeiten führt sie zu religiösen Erhebungen, in andren zu kriegerischen. (GW II, S. 1090)

Richtet man den Blick nun wieder auf Jünger, so ist zunächst einmal festzustellen, dass sich in seinem umfangreichen Kriegstagebuch und in seiner Feldpost-Korrespondenz mit der Familie nichts von all dem findet. Nationale Begeisterung war ihm fremd, überkam ihn weder in den Augusttagen45 noch während des Kriegs.46 Ebenso fremd waren ihm religiöse Gefühle, die durch den Krieg eine Modifizierung und Intensivierung hätten erfahren können. Kein Wort davon, dass er für Gott, Kaiser und Vaterland oder für die deutsche Kultur Waffendienst leiste. Noch in der ersten, 1919 geschriebenen Fassung seines autobiographischen Kriegsbuchs In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers und in seinem zweiten, 1922 erschienenen Kriegsbuch Der Kampf als inneres Erlebnis spielen nationale Gefühle keine nennenswerte Rolle. Erst in der dritten, 1923 überarbeiteten und 1924 gedruckten Fassung der Stahlgewitter und im folgenden, Ende 1924 (mit Vordatierung auf 1925) publizierten Kriegsbuch Das Wäldchen 125 bekommt die Idee der Nation Bedeutung, will Jünger im Krieg den Wert der Nation entdeckt und mithin auch für die Nation gekämpft haben.47 Ebenso konstatiert Jünger im Wäldchen 125, dass die »Anlagen«, die im Krieg zum »Opfer« drän-

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In Jüngers 1934 niedergeschriebenem und publiziertem Bericht Kriegsausbruch 1914 ist von Massentaumel und eigener nationaler Begeisterung keine Rede. Vgl. Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 1: Tagebücher I: Der Erste Weltkrieg. Stuttgart 1978, S. 541–545. Die Feiern zu des Kaisers Geburtstagen werden im Kriegstagebuch nur knapp erwähnt. Patriotische Bekenntnisse fehlen völlig. Lapidare Rühmungen »deutscher Kraft« und »deutscher Soldaten« gibt es an zwei Stellen, die zusammen drei Zeilen ausmachen. Vgl. Jünger: Kriegstagebuch (s. Anm. 9), S. 376 u. 386. Vgl. Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 11), S. 642 ff. – Die betreffenden Stellen wurden 1924 eingefügt und 1934 wieder gestrichen.

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gen, »religiöser Natur« seien.48 So ergibt sich die paradoxe Situation, dass der 1914 patriotisch enthusiasmierte Musil 1918 zur Dekonstruktion dieser Begeisterung ansetzt, auch wenn er sie nicht verleugnet, während Jünger, dem sie während der ganzen Kriegszeit fremd war, 1923 beginnt, seinen völlig unreflektierten Kriegseinsatz nationalistisch zu verbrämen. Dafür gibt es wohl zwei Erklärungen. Die eine ist in den politischen Umständen des Jahres 1923 zu sehen. Es war das Krisenjahr der Weimarer Republik, geprägt durch die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets und die Anstachelung des rheinländischen Separatismus, die Hyperinflation mit Massenarbeitslosigkeit und Hungerrevolten sowie die drei Putschversuche im Herbst (»Schwarze Reichswehr«, Hamburger Kommunisten, Münchener Nationalsozialisten). Das »Deutsche Reich«, wie die Weimarer Republik offiziell hieß, drohte zu zerbrechen. Jünger, der im Sommer 1923 aus der Reichswehr ausschied, begann sich zu politisieren und wurde zum Nationalisten – der aber nicht, wie Musil in dem Essay von 1918 schrieb, wegen des verlorenen Kriegs »für den Rest seiner Tage mit gebrochenem Rückgrat herumkriechen« und nicht – wie Erich Maria Remarque – als Exponent einer »zerstört[en] Generation«49 erscheinen, sondern die Niederlage verkraften und zum Ausgangspunkt eines neuen nationalen Aufschwungs machen wollte (so, kurz gesagt, das Ziel von Jüngers »Politischer Publizistik« der Jahre 1923 bis 1930).50 Damit war aber auch ausgeschlossen, dass Jünger den von Musil 1918 gewiesenen Weg einer kritischen Revision der mit dem Krieg »verfehlt[en]« Ziele ging. Jünger ging den entgegengesetzten Weg und schrieb bis zum Beginn der 30er Jahre immer neue Apologien des Kriegs, verklärte ihn als Möglichkeit der nationalen Bewährung in der Geschichte und feierte ihn zugleich als anthropologisch bedeutsame Entfesselung elementarer menschlicher Anlagen und Steigerungsmöglichkeiten. Damit wurde Jünger zum Exponenten eines Denkens, das Musil im Mann ohne Eigenschaften teils in der Gestalt des Hans Sepp, teils in der des Philosophen Meingast in Erscheinung treten ließ und mit dem er sich in Exzerpten und Notizen kritisch auseinandersetzte, allerdings nur auf der Basis der Jünger-Referate in Hermann Rauschnings Buch Die Revolution des Nihilismus (1938).51

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49 50 51

Ernst Jünger: Das Wäldchen 125. Berlin 1925, S. 143. – Der Abschnitt wurde bei der Überarbeitung 1935 gestrichen. – Ähnlich auch im Artikel Der Frontsoldat und die wilhelminische Zeit vom 20. 9. 1925, in: Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hg., kommentiert u. mit einem Nachwort v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001, S. 79. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin 1919, S. 5 (Motto). Vgl. Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 282–297. Vgl. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (s. Anm. 44), bes. S. 1102 f. u. 1107–1130; Gunther Martens: Argumente für die ›Gestalt‹ des ›neuen Soldaten‹? Musils Mann ohne Eigenschaften und Jüngers Der Arbeiter im sprachlich-rhetorischen Vergleich, in: Neophilologus 92 (2008), S. 279–297.

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Unter diesen Notizen findet sich eine Bemerkung, die unter dem Aspekt dieses Aufsatzes besondere Beachtung verdient. Im Sommer 1939 notierte Musil: »Der Krieg als ein Urelement – nach Ernst Jünger, dem tapferen Offizier, – ist es nicht, was Bd. I . sagt: daß sich konsequente Schuhmacher den Himmel als ein Schusterparadies vorstellen müssen?!«52 Einerseits ist dies eine klare Ablehnung des Jünger’schen Bellizismus als eine Art von déformation professionelle: als eine unzulässige Verallgemeinerung einer partikularen Sicht. Andererseits findet diese Auffassung Verständnis im Sinne psychologischer Erklärbarkeit: Es ist die Sichtweise eines »tapferen Offizier[s]«, dem der Krieg gleichsam zur zweiten Natur geworden war und dessen Auffassung von Mensch und Geschichte für längere Zeit durch die Kriegserfahrung bestimmt blieb, während Musil sich nach dem Krieg relativ rasch von seinem Bellizismus53 verabschiedet hatte. Mit der Erzählung Auf den Marmorklippen, die in ebender Zeit, in der Musil sich via Rauschning mit Jünger befasste, rückte allerdings auch Jünger von seiner Idealisierung des Kriegs ab, und es scheint, dass er sich den Himmel nicht mehr als Heerlager vorstellte, sondern als Gelehrtenklause mit Büchersammlungen und Herbarien in der klösterlichen Umgebung des oberschwäbischen ›Pfaffenwinkels‹.54 Man kann fragen, worin diese unterschiedliche Entwicklung begründet ist. Alter, Lebenserfahrung und Lebenssituation dürften eine Rolle gespielt haben. Musil war am Ende des Kriegs 38 Jahre alt, Jünger 23. Musil konnte seine Existenz als kritischer Intellektueller und Schriftsteller fortsetzen; der Krieg war für ihn wohl eine beschwerliche, unerfreuliche und entfremdende Zeitvergeudung; Corinos Überschrift für das Kriegskapitel heißt (in Anlehnung an Musils Tagebuch) »Fünfjährige Sklaverei«.55 Für Jünger sah dies anders aus: Er verdankte dem Krieg die Befreiung aus einer einengenden Lebenssituation, den Ausweg aus dem schulischen Versagertum, den Aufstieg zum Offizier und den höchsten preußischen Militärorden, den »Pour le Mérite«, dessen Besitz ein gesellschaftliches Kapital darstellte. Allein aus seiner militärischen Leistung und aus den Strapazen, Gefahren und Leiden, die damit verbunden waren, bezog er sein Selbstbewusstsein, und allein daraus konnte er seinen Anspruch ableiten, die »Frontsoldaten« in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 20er Jahre zu vertreten. Der Krieg hatte für Jünger eine ganz andere lebensgeschichtliche Bedeutung als für Musil. Zudem lebte er, da er nach dem Krieg in das äußerst elitäre, nur 4000 Mitglieder zählende Offizierskorps der durch den Friedensvertrag von Versailles extrem 52

53 54 55

KA/Transkriptionen/Mappe V/2/12. Zit. nach Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (s. Anm. 44), S. 1108. Wolf verweist dazu allerdings nicht auf den ersten Band des Mann ohne Eigenschaften, sondern auf verschiedene Nachlassstellen. Martens: Argumente (s. Anm. 51), S. 290, verweist auf die Seite 288 des Mann ohne Eigenschaften. Siehe die Hinweise in Anm. 5. Zur Lokalisierung der Marmorklippen vgl. Kiesel: Ernst Jünger (s. Anm. 50), S. 465 f. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 497. Vgl. Tb I, S. 527.

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reduzierten Reichswehr übernommen worden war, in einem Umfeld, in welchem selbstverständlich nicht kriegskritisches Denken entwickelt, sondern der Bellizismus gepflegt wurde, der zur Zeit der Weimarer Republik überhaupt noch weit verbreitet war.56 Jünger hat sich davon erst in den mittleren 30er Jahren gelöst; die 1939 in Erwartung eines neuen Kriegs geschriebene und publizierte Erzählung Auf den Marmorklippen ist das Dokument dieser Abwendung vom Bellizismus. Zu den geschichtlichen Umständen, die Jüngers positive Einstellung zum Krieg begünstigten, kommt ein weiteres Moment hinzu, das ihn wiederum von Musil unterscheidet und als Resultat seiner sehr viel intensiveren Destruktionserfahrungen zu betrachten ist. Vieles deutet nämlich darauf hin, dass Jünger trotz körperlicher Unversehrtheit traumatisiert aus dem Krieg hervorging. An potentiell traumatisierenden Erfahrungen fehlte es in seinem Fall ja gewiss nicht; außer an die allgemeinen Beschießungen, die ihn immer wieder in äußerste Lebensgefahr brachten, ist an seine Verwundungen zu denken, aber auch an ein Ereignis wie die Auslöschung seiner halben Kompanie durch eine einzige feindliche Granate beim Anmarsch zur Michaeloffensive in der Nacht vom 19. auf den 20. März 1918, ein Ereignis, das bei Jünger zunächst einmal zu einer Art von Nervenzusammenbruch führte und von ihm – dem Musil’schen ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ vergleichbar – dreimal dargestellt wurde, zunächst im Kriegstagebuch, dann in den Stahlgewittern (1920) und erneut in seinem letzten Kriegsbuch Feuer und Blut (1925). Hier die mehrfach überarbeitete Version der Stahlgewitter in der letzten Fassung von 1978: Die Gruppen setzten die Gewehre zusammen und drängten sich in einen gewaltigen Trichter, während ich mit dem Leutnant Sprenger auf dem Rande eines kleineren saß, von dem man wie aus einem Balkon in den großen Krater hinuntersah. Schon seit einiger Zeit waren ungefähr hundert Schritt vor uns einzelne Einschläge aufgeflammt. Ein neues Geschoß schlug in geringerer Entfernung ein; Splitter klatschten in die Lehmwände. Ein Mann schrie auf und behauptete, am Fuß verwundet zu sein. Während ich mit den Händen den schlammigen Stiefel des Getroffenen nach einem Einschuß untersuchte, rief ich den Gruppen zu, sich in die umliegenden Trichter zu verteilen. Da pfiff es wieder hoch in der Luft. Jeder hatte das zusammenschnürende Gefühl: die kommt hierher! Dann schmetterte ein betäubender, ungeheurer Krach – die Granate war mitten zwischen uns geschlagen. Halb betäubt richtete ich mich auf. Aus dem großen Trichter strahlten in Brand geschossene Maschinengewehrgurte ein grelles rosa Licht. Es beleuchtete den schwelenden Qualm des Einschlages, in dem sich ein Haufen schwarzer Körper wälzte, 56

Vgl. Jost Dülffer, Gerd Krumeich (Hg.): Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918. Essen 2002 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N. F., Bd. 15); Rüdiger Bergien: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und »Wehrhaftmachung« in Deutschland 1918–1933. München 2012 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 35); Frank Reichherzer: »Alles ist Front!« Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg. Paderborn u. a. 2012 (= Krieg in der Geschichte, Bd. 68).

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und die Schatten der nach allen Seiten auseinanderstiebenden Überlebenden. Gleichzeitig ertönte ein vielfaches, grauenhaftes Weh- und Hilfegeschrei. Die wälzende Bewegung der dunklen Masse in der Tiefe des rauchenden und glühenden Kessels riß wie ein höllisches Traumbild für eine Sekunde den äußersten Abgrund des Schreckens auf. Nach einem Augenblick der Lähmung, des starren Entsetzens sprang ich auf und rannte wie alle anderen blindlings in die Nacht. Erst in einem Granatloch, in das ich kopfüber gestürzt war, erfaßte ich, was vorgegangen war.57

Vermutlich sind Jüngers Kriegsbücher auch Versuche, solch traumatisierende Erfahrungen durch wiederholte Darstellungen zu bearbeiten oder zu bewältigen. Bernhard Wutka und Peter Riedesser sehen in Jüngers Schriften über den Ersten Weltkrieg die »sukzessive Entfaltung eines literarischen Traumascripts«, »das auf der Dissoziation traumatischer Kriegserfahrung[en] beruht«, und erläutern dies folgendermaßen: Indem Jünger seine empathischen Affekte von den Leidenserfahrungen abspaltet, stellt er eine psychische Distanz zu dem Kriegsgeschehen her, die es als irreal erscheinen läßt, als ein Schauspiel, dessen existentieller Sinn nur jenem offenbar wird, der sich der militärischen Vernichtungslogik durch »heroische Überwindung« des psychischen und physischen Schmerzes entzieht.58

Dieter Nitzgen greift dies auf und interpretiert Jüngers Schriften darüber hinaus als Versuch einer »nachträgliche[n] Umschrift eines ›historischen‹ in ein ›strukturelles‹ Trauma« oder, anders gesagt, die »Verwandlung eines spezifischen historischen ›Ereignisses‹, des Ersten Weltkrieges und seiner traumatischen Folgen, in ein zeitenthobenes, transhistorisches Fatum«.59 Ob man Jünger deswegen – wie Albrecht Koschorke – als Faschisten bezeichnen und ihm unterstellen muss, er habe sich damit auf Dauer gegen die Wahrnehmung des Schmerzes anderer und zumal der Opfer faschistischer Gewalt gewappnet,60 scheint mir sehr fraglich zu sein, und ich möchte einige Einwände dagegen vorbringen, obwohl damit die Dimension des Vergleichs von Jünger und Musil verlassen wird. Jüngers Werk endet nicht mit dem Essay Über den Schmerz (1934), auf den sich Koschorke vor allem beruft. In weiteren Schriften wird das Leid von Opfern von kriegerischer und totalitärer Gewalt an bedeutungsvollen Stellen 57 58

59

60

Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 11), S. 503 u. 505 (ohne Auslassung: S. 504 ist Paralleldruck der ersten Fassung). Bernhard Wutka, Peter Riedesser: Ernst Jünger: Heroisierung und Traumasucht, in: Wolfram Mauser, Carl Pietzcker (Hg.): Trauma. Würzburg 2000 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 19), S. 151–161. Dieter Nitzgen: Erwartungsangst und Schmerzgewißheit. Traumatische Aspekte im Werk von E. Jünger, in: Günter H. Seidler, Wolfgang U. Eckart (Hg.): Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen 2005, S. 107–124, hier S. 114. Vgl. Albrecht Koschorke: Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay »Über den Schmerz«, in: Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien 2000 (= Edition Parabasen), S. 211–227, hier S. 225 f.

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in den Blick gerückt und im einen, fiktiven Fall als handlungsbestimmend, im anderen, dokumentarischen Fall als bewusstseinsbestimmend gezeigt. In der Erzählung Auf den Marmorklippen (1939) nehmen die beiden Protagonisten, in denen sich unschwer Ernst und Friedrich Georg Jünger erkennen lassen, Abschied vom Militär, weil ihnen, so sagt der Erzähler im 13. Kapitel, »die Gabe [. . .] versagt geblieben [war], auf das Leiden der Schwachen und Namenlosen herabzusehen, wie man vom Senatorensitze in die Arena blickt.«61 Wie kein anderer hat Jünger danach in seinen beiden Pariser Tagebüchern (1941–1944) und in den eingeschobenen Kaukasischen Aufzeichnungen die kursierenden Gerüchte über Judenmorde festgehalten, und nach der ersten Verhaftung von Pariser Juden notierte er am 18. Juli 1942: Gestern wurden hier Juden verhaftet, um deportiert zu werden – man trennte die Eltern zunächst von ihren Kindern, so daß das Jammern in den Straßen zu hören war. Ich darf in keinem Augenblick vergessen, daß ich von Unglücklichen, von bis in das Tiefste Leidenden umgeben bin.62

Ebenso schrieb er am 31. Dezember 1942 im Kaukasus, als er von Giftgastunneln hörte: Das sind Gerüchte, und ich notiere sie als solche; doch sicher finden Ausmordungen im größten Umfang statt. Ich dachte dabei an die [deportierte] Frau des guten Potard [i. e. des jüdischen Pariser Apothekers Erich Silberberg], um die er sich damals so ängstigte. Wenn man in solche Einzelschicksale hineingeblickt hat und dann die Ziffern ahnt, in denen die Meintat in den Schinderhütten sich vollzieht, eröffnet sich die Aussicht auf eine Potenzierung des Leidens, vor der man die Arme sinken läßt. Ein Ekel ergreift mich dann vor den Uniformen, den Schulterstücken, den Orden, den Waffen, deren Glanz ich so geliebt habe.63

Im Zweiten Weltkrieg hat der berühmteste Stoßtruppführer des Ersten Weltkriegs, der im Frühjahr 1939 reaktiviert und zum Hauptmann befördert worden war, keinen Schuss abgegeben. Er erhielt eine Auszeichnung, das Eiserne Kreuz, und zwar für die Bergung eines Soldaten, den die Franzosen am Westwall tödlich verwundet hatten; Jünger führte diese gefährliche Aktion selber an und kam auch unter Beschuss.64 Während seiner Zeit im Pariser Hauptquartier hat er die Vorgänge um die Geiselerschießungen vom Herbst 1941 dokumentiert und die Abschiedsbriefe der am 22. Oktober in Nantes erschossenen Geiseln übersetzt.65 Er pflegte Beziehungen zu Joseph Breitbach und Paul Ravoux, die wiederum Kontakte zur Résistance hatten. 61

62 63 64 65

Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 15: Erzählende Schriften I . Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 287 (Kap. 13, womit die frühere, in Kap. 8 benannte Anmaßung von Superiorität ausdrücklich widerrufen ist). Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 2: Tagebücher II : Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 347. Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 2 (s. Anm. 62), S. 470. Vgl. Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 2 (s. Anm. 62), S. 119 f. (Bergung) u. 188 (Auszeichnung). Vgl. Ernst Jünger: Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Mit einem Vorwort v. Volker Schlöndorff. Stuttgart 2011.

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Von all dem abzusehen und zu schreiben, man wolle »Gestalten wie Ernst Jünger« nicht mit dem »moralischen Kapital ausstatten«, das für die Wahrnehmung des Leidens der »faktischen Opfer« von Gewalt nötig sei,66 zeugt von einer eingeschränkten philologischen Wahrnehmung und zugleich von der moralischen Unschuld eines glücklich Nachgeborenen. Es sei aber an Brecht erinnert, der in dem berühmten Gedicht, das er uns Nachgeborenen widmete, bat: »Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind [. . .] Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.«67 Und mit Jünger sei auch an Musil erinnert. Am 21. Januar 1988 notiert Jünger in seinem Journal: »›Wir irren vorwärts.‹ (Musil)«68

66 67

68

Koschorke: Der Traumatiker als Faschist (s. Anm. 60), S. 225 f. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller. Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938–1956. Berlin u. a. 1988, S. 87. Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 21: Strahlungen VI . Stuttgart 2001, S. 264.

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Eine »Reihe wundersamer Erlebnisse« Robert Musil im Ersten Weltkrieg: Vom August 1914 über das ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ bis zur »österlichen Weltstimmung« Abstract: Was Robert Musil a bellicist or a pacifist? Above all, he considered himself a »writer«, and it was as a writer, propelled by an appetite for »experience« and mired in personal and literary crisis, that he went to war in the summer of 1914. Luckily for him, the Alpine theatre of war satisfied this hunger with the productive inspiration that would ensure the worldliness of his writing in the 1920s (and incidentally save his marriage). An examination of the so-called flechette incident reveals that the emergence of neo-mystical qualities to his experiences – when confronting death, for instance – occurred, at least to some extent, only later at his desk. In the post-war years, Musil’s perception of himself as an »exceptional person« and writer allowed him to view his participation in the war as predominantly positive.

1. Nur eine »beliebige ethische Behauptung«? Der Dichter, schrieb Robert Musil in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters, ist »nur insofern Ausnahmsmensch als er der Mensch ist, der auf die Ausnahmen achtet.« (GW II, S. 1029) In seinem programmatischen Essay wird ein Kunst und Literatur eigenes ›nicht-ratioïdes‹ Gebiet abgegrenzt von dem des ›Ratioïden‹, für dessen Phänomene die Wissenschaften zuständig seien. Hier der Bereich der wiederholbaren, eindeutigen, gesetzförmigen Tatsachen – dort jener Bereich der (gerade in ethischer Hinsicht) singulären, vieldeutigen, fragwürdigen Erlebnisse: Musils Legitimierung der Literatur in der Moderne ist schon so oft untersucht worden, dass an dieser Stelle wenige Stichworte genügen.1 Bemerkenswert erscheint ihr Erscheinungsdatum: Der Beitrag erschien 1918 in der Zeitschrift Summa und war neben einem Franz Blei gewidmeten Porträt2 die erste öffentliche Wortmeldung des Dichters Robert Musil nach seiner Rückkehr aus dem Krieg.3 Man könnte meinen, dass zu diesem Zeit1 2 3

Vgl. z. B. Mathias Mayer: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. München 2010, S. 239. Vgl. GW II, S. 1022–1025. Streng genommen war Musil im Herbst 1918 freilich noch nicht gänzlich aus dem Krieg zurückgekehrt, stand er doch noch in Wien als verantwortlicher Redakteur der Soldatenzeitung

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punkt drängendere Fragen nach Antworten suchten als die, warum Literatur trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte noch immer ihre Berechtigung haben sollte. Tatsächlich könnte die Skizze ebenso gut ein Vorkriegstext Musils sein, knüpft sie doch nahtlos an Fragestellungen des Frühwerks an. Die Ausblendung der jüngsten Vergangenheit in diesem Text erscheint so merkwürdig, dass man darin schon fast eine Bestätigung für Musils wenige Jahre später formulierte Behauptung sehen könnte: »Wir waren [. . .] [in den Kriegsjahren; O. P.] vielerlei und haben uns dabei nicht geändert, wir haben viel gesehen und nichts wahrgenommen.« (GW II, S. 1076) Wer jedoch genau hinsieht, vermag in der Skizze doch Spuren von Musils Kriegserlebnis zu finden. Damit ist durchaus nicht das vom Dichter angeführte Tötungsverbot gemeint mit seinen diversen Ausnahmen, worunter er neben Duell oder Hinrichtung auch den »Krieg« nennt (GW II, S. 1028). Denn das Tötungsverbot diente Musil bereits in seinen Vorkriegsreflexionen über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik dazu, die Untiefen und Paradoxien auf dem Gebiet der Moral zu veranschaulichen.4 Gemeint ist vielmehr sein Beispiel dafür, warum »ethische Erlebnisse«, wie er es nennt, bzw. »Ideen« abhängig seien von den Umständen und vom Erlebenden und sich daher einem eindeutigen Werturteil entzögen: Ein Begriff, ein Urteil sind im hohen Grade unabhängig von der Art ihrer Anwendung und von der Person; eine Idee ist in ihrer Bedeutung in hohem Grade von beiden abhängig, sie hat immer eine nur occasionell bestimmte Bedeutung und erlischt, wenn man sie aus ihren Umständen loslöst. Ich greife eine beliebige ethische Behauptung heraus: »es gibt keine Meinung, für die man sich opfern und in die Versuchung des Todes begeben darf –« und jeder von den Spuren ethischer Erlebnisse Beschlagene und Behauchte wird wissen, daß man ebenso leicht das Gegenteil behaupten kann und daß es einer langen Abhandlung bedarf, bloß um zu zeigen, in welchem Sinn man es meint [. . .]. (GW II, S. 1028)5

Eine »beliebige« ethische Behauptung?6 Wohl kaum: Denn das Letzte, was der Dichter Robert Musil vier Jahre zuvor seinen Lesern kundgetan hatte, ehe er in die Uniform eines k. u. k. Landsturm-Offiziers schlüpfte, war eben seine Bereitschaft gewesen, sein Leben hinzugeben. »Der Tod hat keine Schrecken

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Heimat in Dienst. Zu Musils Tätigkeit als Propagandaredakteur vgl. Harald Gschwandtner: Dienst und Autorschaft im Krieg. Robert Musil als Redakteur der Zeitschrift Heimat, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 101–124; Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Klagenfurt, Wien 2014. Vgl. die Essayfragmente Die gesuchte Moral (1908–1913; KA/Transkriptionen/Mappe IV/1/ 24) u. Quantificierbarkeit der Moral/Die Moral des Dichters (1908–1913; KA/Transkriptionen/ Mappe IV/1/27). Zu Musils Ideal einer »lebendigen Erkenntnis« vgl. Benjamin Gittel: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation. Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie. Münster 2013 (= Explicatio). Mathias Mayer erkennt eine subversive Verbindung zwischen Musils Skizze und dem ebenfalls 1918 entstandenen Essayfragment Das Ende des Krieges (KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/ 492–497). Vgl. Mayer: Der Erste Weltkrieg (s. Anm. 1), S. 341.

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mehr, die Lebensziele keine Lockung« (GW II, S. 1022), hatte er im September 1914 in dem Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum verkündet und mit quasireligiösem Pathos Sätze formuliert, die sich durchaus als Aufforderung, mit in den Krieg zu ziehen, lesen ließen: »Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.« (ebd.) Seine ›beliebige‹ ethische Behauptung vier Jahre später entpuppt sich somit als Krypto-Apologie in eigener Sache mit der Botschaft: Eine bellizistische oder eine pazifistische Haltung, beides kann legitim sein, je nachdem, wer sie unter welchen Umständen vertritt oder erlebt. Ich komme darauf zurück.

2. Musils ›Sommererlebnis‹ Es war nicht zuletzt das Erlebnis der Opferbereitschaft,7 das den Dichter in der Nachkriegszeit die kollektiv anmutende Kriegseuphorie im Sommer 1914 trotz aller Folgen verteidigen und etwa vor pathologisierenden Deutungen wie »Psychose« oder »Massensuggestion« (GW II, S. 1061) in Schutz nehmen ließ.8 In dem 1927 entstandenen Essayfragment Das Gute in der Literatur heißt es: Der Rausch des Kriegs und der Straßenkämpfe – diese Verquickung, welche in dem einen Fall Millionen Menschen, im andern tausende aus allen Angeln ihres Lebens herausriß, waren Erlebnisse, wo die Menschen vom Guten getroffen oder gestreift worden sind. In den Phrasen von der großen Zeit, vom Stahlbad, vom Aufschwung von den Brüdern im Feld[,] vom Sterben für eine große Sache erstarrte ein Funken7

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Zwei exemplarische Musil-Äußerungen dazu: »Will man nun glauben, daß es nichts gewesen sei, wenn Millionen Menschen, die zuvor nur für den Eigennutz und in übertünchter Angst vor dem Tode gelebt hatten, plötzlich mit Jubel dem Tod für die Nation entgegenliefen?« (GW II, S. 1060 f.) – »Das ›große Erlebnis‹. Ohne Kritik darstellen; den Rausch. Etwas, das Gott nahebringt, das Gefühl einen Göthe u. u. u. zu verteidigen, das die Inversion von Todesunbehagen zu Lebenshingabe bewirkt, ist nichts Geringes. In Schutz nehmen gegen andere Auffassung.« (KA/Transkriptionen/Heft II/52) Die verbreitete Vorstellung einer allgemeinen, klassenübergreifenden Kriegsbegeisterung der Bevölkerung im August 1914, wie sie sich auch in Musils Nachkriegsschriften findet, bedarf allerdings erheblicher Differenzierungen: Auf Ablehnung und Skepsis stieß die Kriegseuphorie etwa in den Arbeiterschichten und in der Landbevölkerung, weshalb sich vermuten lässt, das ›Sommererlebnis‹ sei vorrangig ein Phänomen im Großbürgertum sowie unter den Intellektuellen gewesen. Vgl. zu diesem Aspekt Wolfgang Kruse: Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: ders. (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918. Frankfurt a. M. 2 2000, S. 159–166; Helmuth Kiesel: Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg. Übersicht und Dokumentation, in: Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010, S. 596–647, bes. S. 602 f.; Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin 2013, S. 222–229; Tillmann Bendikowski: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten. München 2014.

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regen der Güte, der damals über die Völker niederging. Es klingt paradox in der sogenannten Kriegspsychose einen Sturm der Güte zu sehen; aber man wird sich wohl erinnern, daß die eigentliche, umfassende Empfindung ein Opferwille war und der Haß eigentlich erst später, durch allerhand intellektuelle Reizungen, durchaus nicht allgemein hinzutrat und ein blinder Haß war, da man ja den Gegner gar nicht kannte. Im übrigen ist es falsch, sich die Güte als notwendig friedlich vorzustellen; es hat immer auch ihre kriegerische und orgiastisch religiöse Form gegeben.9

Gerichtet war dies gegen all jene, die nach 1918 den Krieg als Folge einer von Materialismus, Rationalismus und Maschinengeist beherrschten Epoche betrachteten. Dass sich der Mensch nur wieder an das Gute erinnern müsse, um den Krieg zu überwinden, oder daran, dass alle Menschen Brüder seien, wie es der Expressionismus behauptete, hielt der Weltkriegsveteran Musil nicht nur für naiv, sondern für eine gefährliche Fehleinschätzung: Denn für ihn hatte sich gerade in der anfänglichen Kriegsbegeisterung nichts anderes manifestiert als ein plötzlich lebendig gewordener Idealismus. Sie war ein »dem religiösen verwandtes Erlebnis« (GW II, S. 1060) gewesen, wie es im Nationen-Essay heißt: ein Ausnahmezustand, in dem selbst solitäre Geistesaristokraten wie er – Stichwort »rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen« (GW II, S. 1026) – plötzlich bereit gewesen waren, ihr Leben für eine vermeintlich höhere Sache zu opfern und sich, dem jäh ausgebrochenen Gemeinschaftsgefühl entsprechend, erstmals als »Teilchen« eines größeren Ganzen empfanden, »demütig aufgelöst in ein überpersönliches Geschehen« (GW II, S. 1060). Dabei störte es ihn offenbar nicht, dass an seinem eigenen ›Sommererlebnis‹ nur wenig singulär gewesen war, wie ein Vergleich seines kriegsapologetischen Essays Europäertum, Krieg, Deutschtum, erschienen in der berühmtberüchtigten Ausgabe der Neuen Rundschau vom September 1914, mit den Reaktionen anderer Dichter und Denker in jenen Tagen – von Thomas Mann bis Max Scheler – zeigt. Niemals vorher oder nachher wies Musils Denken ein auch nur annähernd ähnliches Maß an Konformismus auf wie in diesem Text: vom Jubel über revitalisierte traditionell-bürgerliche Werte wie »Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit« (GW II, S. 1020) über die Absage an die Friedenswelt bis zur Übernahme der großen Verschwörungstheorie, mit der gegenüber der Bevölkerung die Mobilmachung legitimiert wurde: So hätte nach Musil »das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas«, die Deutschen, erkennen müssen, »daß von allen Rändern dieses Weltteils eine Verschwörung herbrach, in der unsre Ausrottung beschlossen worden war« (GW II, S. 1021). Einzig Musils Argumentation, warum sich die literarische Avantgarde auch und gerade jetzt nach Kriegsausbruch noch immer als Avantgarde, als Vorhut, fühlen durfte, erscheint einigermaßen originell – wenn auch aus heutiger Sicht besonders deprimie9

KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur.

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rend. So hätten die modernen Dichter einen neuen Menschen ja keineswegs mit friedlichen Mitteln gesucht, behauptete Musil im Sommer 1914: Das Wenden, Durchblicken und zu diesem Zweck Durchlöchern überkommener, eingesessener und verläßlicher seelischer Haltungen: es besteht kein Grund zu verschweigen, daß dies eine der Haupterscheinungen unserer Dichtung war. Dichtung ist im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung [. . .]. (GW II, S. 1021)10

In dieser martialischen Reaktion auf den Kriegsausbruch nachträglich einen ›Sturm der Güte‹ zu sehen, erscheint mindestens gewagt – umso mehr vor dem Hintergrund der Straßenszenen, die Musil im Berlin jener Augusttage beobachtete. Seine Einträge in Heft 17 vermitteln in ihrer Gedrängtheit bereits formal die um sich greifende Erregung und lassen eher an Tucholskys Wort von der »Gassenbesoffenheit von 1914«11 denken: Musil vermerkt Nottrauungen, Laienprediger und »das häßliche Singen in den Cafés«; Menschen, die sich vor Züge werfen, »weil sie nicht ins Feld dürfen«,12 andere, die sich Straßenbahnen »wahnsinnig«13 schreiend und mit dem Stock fuchtelnd in den Weg stellen – und endlich einen über die eigene Kühnheit staunenden Diaristen, der sich »einem ziemlich rasch fahrenden Automobil ins Dach« hängt, »um ein Extrablatt zu erlangen.«14 Auch was der schon eingerückte Carl Einstein Musil in jenen Augusttagen berichtete, zeugt nicht gerade von Güte oder Idealismus – wohl aber von Chaos und Anomie: [. . .] in den Kasernen Unordnung, Entfesselung. Mit Ausnahme des Dienstes. Zentimeterhoher Schmutz, Notlager, Trinken. Es wird wie verrückt gestohlen. Koffer erbrochen. Liegen lassen darf man überhaupt nicht. Er [i. e. Carl Einstein; O. P.] sagt, er weiß nicht, was es ist, es sitzt auch in ihm, er braucht keine Bürste, aber er stiehlt zwei, sieht eine dritte und stürzt auf den Mann los: Du hast meine Bürste, nimmt sie mit Gewalt. Ganzen Abteilungen werden die Gewehrverschlüsse entwendet, sinnlos versteckt, verstreut. Selbst die Offiziere sagen nur: wenigstens nicht in 10

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Thomas Mann veröffentlichte in der Neuen Rundschau vom November 1914 – inspiriert von Musils Essay? – seine Gedanken im Kriege, in denen eine ähnliche Analogisierung von Kunstschaffen und Soldatentum vorgenommen wird: »Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation – es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der Kunst. Das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung; Systematik; das strategische Grundlagen schaffen, weiter bauen und vorwärts dringen mit ›rückwärtigen Verbindungen‹; Solidität, Exaktheit, Umsicht; Tapferkeit, Standhaftigkeit im Ertragen von Strapazen und Niederlagen, im Kampf mit dem zähen Widerstand der Materie; Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben ›Sicherheit‹ heißt [. . .]: Dies alles ist in der Tat zugleich militärisch und künstlerisch.« (Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15.1: Essays II . 1914–1926. Hg. u. textkritisch durchgesehen v. Hermann Kurzke unter Mitarbeit v. Jöelle Stoupy, Jörn Bender u. Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 2002, S. 29 f.) Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. [1929] Reinbek b. Hamburg 2000, S. 35. KA/Transkriptionen/Heft 17/8. KA/Transkriptionen/Heft 17/10. KA/Transkriptionen/Heft 17/8.

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der eigenen Kameradschaft stehlen! Richter und Rechtsanwälte sagen einander, als wäre es nichts, [. . .] hast du nicht meine Koppel geklaut? Man hat das Gefühl, paßt man nicht sehr auf, fallen alle übereinander her.15

Offenbar am meisten beeindruckte Musil dabei der tranceartige Zustand des mobilisierten Schriftstellerkollegen, verbunden mit einer markanten Verlagerung seiner Interessen: »Einstein begeistert; alles andere ausgelöscht. Schläft er bei seiner Frau, hat er nur Interesse für sein Knopfputzmittel. Sein Arbeitszimmer betritt er überhaupt nicht.«16 Seine Beobachtungen aus der Reichshauptstadt im August 1914 schließen mit einer Notiz, die im deutlichen Kontrast zur Zuversicht und Opferbereitschaft seines Deutschtum-Essays steht: »Die Verlustlisten: . . tot . . . tot . . . tot . . . so untereinandergedruckt, niederschmetternder Eindruck.«17 Die Feier der kollektiven und eigenen Opferbereitschaft auf der einen Seite, die ernüchternde Feststellung des allzu realen, womöglich auch ihn selbst betreffenden Sterbens im Krieg auf der anderen: Was sich bei Musil hier widerspiegelt, sind die zwei Bedeutungen des Begriffs Opfer im Deutschen – die des passiven, schicksalhaften Zum-Opfer-Werdens und die des Sich-Opferns, um andere zu retten –, die sich mit Herfried Münkler als victima und sacrificium bezeichnen lassen. Mit dieser Unterscheidung lassen sich manch paradoxe Phänomene bei Kriegsausbruch verstehen: Es gab am 1. August Versammlungen und Menschenaufläufe, in denen eine victime Grundstimmung dominierte, und es gab solche, in denen sich eine sakrifizielle Gestimmtheit durchsetzte. Beispiele für das Erstgenannte sind die Aufläufe in den Kleinstädten, wo man voll Furcht auf die neuesten Nachrichten aus Berlin wartete; hier überwog das Gefühl des Ausgeliefertseins. Dagegen war Letzteres der Fall, wo die Versammlungen Festcharakter annahmen und sich die Anspannung im gemeinsamen Gesang religiöser und patriotischer Lieder löste. [. . .] Im gemeinsamen Gesang vollzog sich die Selbstverwandlung der victima in sacrificia. Was sich zunächst in den Cafés im Kleinen abspielte, holte wenig später das Augusterlebnis im Großen nach: die Transformation der viktimen Gesellschaft in eine sakrifizielle Gemeinschaft.18

3. Dieser Hunger nach »unerhörten Erlebnissen« Wie bereits bemerkt, beharrte der aus dem Krieg heimgekehrte Dichter nach 1918 darauf, dass das »Sommererlebnis« ein »Erlebnis« war, »das nicht erledigt ist« (GW II, S. 1060 f.) – freilich nicht im Sinne einer kruden Rechtfertigung, sondern mit dem Ziel einer vertieften Reflexion über Bedeutung und Funktion solch problematisch-ambivalenter Phänomene. Wer nämlich so tat, 15 16 17 18

KA/Transkriptionen/Heft 17/10. KA/Transkriptionen/Heft 17/10. KA/Transkriptionen/Heft 17/10. Münkler: Der Große Krieg (s. Anm. 8), S. 225 f.

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als wäre das ›Sommererlebnis‹ ›erledigt‹, riskierte nach Musil – im Rückgriff auf psychoanalytisches Gedankengut – eine kollektive Verdrängung, die »die Ursprünge einer ungeheuerlichen Hysterie in die Seele der Nation« (ebd.) senkte. In seinen Reflexionen in der Zwischenkriegszeit führte Musil das ›Sommererlebnis‹ auf ein sich periodisch entladendes allgemeines »Bedürfnis nach ›metaphysischem Krach‹« (GW II, S. 1090) zurück. Verursacht wurde dieses Bedürfnis von einem Defizit an sinnstiftenden Erlebnissen, das er als ein strukturelles Problem für das Leben in der modernen Gesellschaft ansah. Diese kultursoziologische Diagnose Musils setzte deutlich tiefer an als die damals wie später beliebten politisch-ideologischen Antworten wie ›Nationalismus‹ oder ›Kapitalismus‹. In ihnen sah Musil wenig mehr als die entlastende Suche nach einem Sündenbock und hielt stattdessen dem Leser die unbequeme Einsicht vor: »Wie falsch, die leider oft in Deutschland zu hörende Schulbubenausrede: Wir haben’s nicht getan! Sondern die Kaiser, die Generäle, die Diplomaten! Natürlich haben wir’s getan: wir haben es gewähren lassen« (GW II, S. 1062). Diese Einschätzung wird von der heutigen Forschung bestätigt. Der Politologe Herfried Münkler etwa deutet die Kriegseuphorie im August 1914 nach dem von der Religionssoziologie entworfenen Modell des in archaischen Gesellschaften gefeierten großen Festes, ein Akt kollektiver Psychohygiene, in dem vorübergehend alles ›auf den Kopf‹ gestellt wurde: Auch die Versammlungen und Aufmärsche vom 1. August 1914, die sich als Inauguration des Sakrifiziellen verstehen lassen, folgten der strukturellen Logik archaischer Erneuerungsfeste – nur wurden die Opfer nicht sofort gebracht, sondern sollten zeitlich nachgelagert vollzogen werden. Im Augusterlebnis wurde analog zum archaischen Fest vor allem die Überwindung von Zwist und Streit, die moralische Erneuerung und schließlich die Rückverwandlung der heterogenen Gesellschaft in eine homogene Gemeinschaft gefeiert. Gegen diese Deutung der Ereignisse hatten die bloße Anspannung, die Sorge um die Zukunft und die Angst vor dem Kommenden wenig auszurichten.19

Auf das seinerzeit von vielen empfundene Defizit an sinnstiftenden Ereignissen weist der Literaturwissenschaftler Thomas Anz hin: Die literarische Kriegsmetaphorik jener Jahre war Ausdruck eines kollektiven Unbehagens an zivilisatorischen Modernisierungsprozessen, die sich in Deutschland seit der Reichsgründung rapide beschleunigt hatten. Anomische Erfahrungen der Sinnleere, Motivationslosigkeit, Langeweile und Beengung schlugen um in einen zerstörerischen Hunger nach Vitalität, Aktivität und Abenteuer.20

Musil erkannte bereits 1918 in dem allgemeinen »Mangel eines höheren Lebensinhaltes« die eigentliche Ursache für den Kriegsausbruch vier Jahre zu19 20

Münkler: Der Große Krieg (s. Anm. 8), S. 227 f. Thomas Anz: Vitalismus und Kriegsdichtung, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996, S. 235–247, hier S. 237.

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vor – so das Essayfragment Das Ende des Krieges. Eine »ungeheure Flaute« habe damals über ganz Europa gelegen, schrieb er: Dieser Mensch von 1914 langeweilte sich buchstäblich zum Sterben! Deshalb kam der Krieg mit dem Rausch des Abenteuers über ihn, mit dem Glanz ferner unentdeckter Küsten. Deshalb nannten ihn solche, die doch nicht geglaubt hatten, ein religiöses Erlebnis, nannten ihn die Vermauerten ein einigendes Erlebnis. Die im Innersten ungern ertragene Organisationsform des Lebens zerging [. . .].21

Im Nachlass zu seinem Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften (1930/ 1932), das dieses kollektive Unbehagen in der Moderne literarisch analysiert wie kein zweiter Roman seiner Epoche, findet sich die Einsicht: »Hauptquelle aller Gewalttaten: daß man nicht weiß, wozu man da ist.«22 Daraus, dass diese Diagnose auch für die Nachkriegswelt unverändert gültig war, solange die moderne Gesellschaftsordnung nicht vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrungen modifiziert wurde, und sich deshalb das ›Sommererlebnis‹ jederzeit wiederholen konnte, bezog Musil gerade seine Legitimation dafür, nach dem Krieg einen als historischen Roman verkleideten Gegenwartsroman zu schreiben.23 Vom mentalen Zustand des Protagonisten Ulrich um 1913/14 heißt es später im Roman: Er sehnte sich manchmal danach, in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf, und seien es sinnlose oder verbrecherische, nur gültig sollten sie sein. Endgültig, ohne das dauernd Vorläufige, das sie haben, wenn der Mensch seinen Erlebnissen überlegen bleibt. (MoE, S. 738)

Auch Musils persönlicher ›Erlebnishunger‹ vor dem Krieg lässt sich auf solche anomischen Erfahrungen zurückführen, wie ihm selbst später nur zu gut bewusst war: »Ich war 1914 in einer Krise«, heißt es in einem bekannten Arbeitshefteintrag aus der Exilzeit: »Der Krieg kam wie eine Krankheit, besser wie das begleitende Fieber, über mich.«24 In einer Krise befanden sich offenbar viele Intellektuelle der Zeit, doch wie genau sah sie im Fall Musils eigentlich aus? Schließlich hätte das Jahr 1914 für ihn selbst kaum besser beginnen können als mit seiner neuen, mit großem Engagement angetretenen Stelle als Literaturredakteur in Berlin, mit der Aufgabe, den S. Fischer Verlag und die jüngste Generation, die Frühex21 22

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KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/495 f. KA/Transkriptionen/Mappe II/2/15. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/495: »Das gleiche, was den Krieg verursacht hat, verursacht auch sie [i. e. Nationalismus und Kapitalismus; O. P.], der Mangel eines höheren Lebensinhaltes. Man kann den Krieg auf die Formel bringen: Man stirbt für seine Ideale, weil es sich nicht lohnt für sie zu leben.« Vgl. dazu Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 8 f. KA/Transkriptionen/Heft 8/105–107. Ähnlich formulierte Musil in seinem Essay Das hilflose Europa: »Ich glaube, daß der Krieg ausbrach wie eine Krankheit an diesem Gesellschaftskörper« (GW II, S. 1088).

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pressionisten, zusammenzubringen.25 Doch konnte er sich mit dem renommierten Posten nur vorübergehend darüber hinwegtäuschen, dass es mit dem Dichter Robert Musil 1914 nicht gut aussah. Seine literarischen Projekte wie etwa sein Drama stagnierten;26 und dass er schon bei seinem zweiten Buch Vereinigungen auf fremde Erlebnisse, nämlich die seiner Frau Martha, hatte zurückgreifen müssen,27 war für einen, wie die Ergebnisse des Musil-Biografen Karl Corino gezeigt haben, so sehr von realem Input abhängigen Dichter wie ihn kein gutes Zeichen. Was noch an eigenen Stoffen da war, wie seine tragische Beziehung zu Herma Dietz (als Modell für die Frauenfigur der Novelle Tonka) oder »die Geschichte dreier Personen«,28 seine Jugendfreundschaft mit Gustav und Alice Donath,29 wollte nicht zur Form gerinnen; dem Projekt eines autobiographischen Romans fehlte in der Vorkriegszeit noch der zündende Funke. Vor diesem Hintergrund liest sich Musils erlebnisbasierte Novellentheorie, wie er sie noch im August 1914 in der Neuen Rundschau formuliert hatte, wie das unfreiwillige Eingeständnis seines literarischen Burnouts: In diesem einen Erlebnis [des Novellisten] vertieft sich plötzlich die Welt oder seine Augen kehren sich um; an diesem einen Beispiel glaubt er zu sehen, wie alles in Wahrheit sei: das ist das Erlebnis der Novelle. Dieses Erlebnis ist selten und wer es öfters hervorrufen will, betrügt sich. [. . .] Es ist ohne weiters sicher, daß man große innere Umkehrungen nur ein- oder ein paarmal erlebt; die sie alle Monate erlebten (es wären solche Naturen denkbar), hätten ihr Weltbild nicht so fest verankert, daß seine Losreißung von Bedeutung sein könnte. (GW II, S. 1465)30

Vom Fehlen sinnspendender Erlebnisse hätte auch die nächste Folge seiner für die Neue Rundschau geschriebenen Literarischen Chroniken künden sollen. Der essayistische Beginn der Sammelrezension entstand im Juli 1914, also bereits vor dem Hintergrund der schwelenden politischen Krise in Europa nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni. In die25

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Vgl. dazu Oliver Pfohlmann: »Ein Mann von ungewöhnlichen Eigenschaften« – Robert Musil, die Neue Rundschau, der Expressionismus und das »Sommererlebnis im Jahre 1914«, in: Weimarer Beiträge 49 (2003), H. 3, S. 325–360; ders.: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 64–67; ders.: »Glücklich und feldzugsplanend«? Robert Musil, die Neue Rundschau und die »Jüngste Generation«, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 82–100. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 33/105: »Die Schwärmer waren [1914] ein Nebel geistiger Materie, ohne dramatisches Skelett«. Vgl. dazu Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, Kap. 12 u. 13. KA/Transkriptionen/Mappe I/7/36. Aus der dann im Mann ohne Eigenschaften die Konstellation Ulrich–Walter–Clarisse wurde; vgl. Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Klagenfurt 2015, S. 202. Über ein Defizit an mystischen Erlebnissen klagte Musil bereits während seines Studiums, vgl. seinen Hefteintrag vom 6. 4. 1905: »Da ich augenblicklich nicht reich an solchen Erkenntnissen bin, so ist es meine Aufgabe, bei der Romantik und Mystik in die Lehre zu gehen.« (KA/ Transkriptionen/Heft 11/4)

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sem Text wird die anomische Erfahrung der Sinnleere von Musil bereits der modernen Gesellschaft angelastet: Der Einzelne als Mensch steht heute in einer unerfaßbar großen Gemeinschaft, mit der ihn Beziehungen wie Staatsgefühl, Rassengleichheit, humanitas verbinden, die, von Ausnahmsstunden abgesehen, trotz aller gutgemeinten Beteuerungen unempfindbar bleiben. Er fühlt widerwillig, daß er in etwas Übergroßem aufgeht, von dem er an greifbarer Gegenleistung, außer einigen Bequemlichkeiten, gegen die er rasch abstumpft, eigentlich nur die Garantie erhält, daß es ohne Störung auch weiter so bleiben dürfe. Von all den unerhörten Erlebnissen, die er als Kind auf sich warten glaubte, erlebt er nichts oder ein weniges, das zufällig an seinem Lebensstandort vorbeitreibt.31

Die daraus resultierende persönliche Sehnsucht Musils nach einem »Sprung ins Abenteuer«, einer »Flucht vor dem Frieden«, bedeutete zugleich eine »Absage an das bürgerliche Leben« (GW II, S. 1071). »Familienleben zum Gähnen (aufrichtig gestanden!)«,32 notierte Musil in dem schon erwähnten Essayfragment Das Ende des Krieges (1918) über die Zeit vor 1914. Marthas wiedergefundene Briefe aus den Kriegsjahren33 zeugen – ebenso wie die erste Erzählung Azweis in der Novelle Die Amsel (1928), in der der Protagonist mitten in der Nacht seine schlafende Frau verlässt – davon, wie sehr sich ihre 1911 geschlossene Ehe bei Kriegsausbruch in einer Krise befand.34 Man kann nur spekulieren, ob sie ohne die Erfahrungen der Kriegsjahre gehalten hätte. Das Zusammenleben mit Frau und Stieftochter empfand der Dichter jedenfalls als so beengend und für sein Schreiben hinderlich, dass er seiner noch in Berlin weilenden Gattin im November 1914 aus Südtirol für die Nachkriegszeit offenbar getrennte Wohnverhältnisse vorschlug – nicht gerade das, was seine sich in diesen Tagen schwanger glaubende Frau hören wollte.35 »Vielleicht stören Dich die Briefe in Deiner Einsamkeit – sag es mir ruhig, dann halte ich sie zurück«, beschied sie ihm, gekränkt von seinen immer zurückhaltenderen Antworten, und unterschrieb trotzig mit »Meine Martha«.36 Dass Musil die Mobilmachung als Erlösung und Befreiung empfand, lässt sich nicht zuletzt an ihrer vitalisierenden Wirkung auf die Physis des Dich-

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KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/14. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/496. Musil hatte diese Korrespondenz, die vor allem aus Briefen und Karten seiner Frau und seiner Eltern bestand, im April 1917 in Bozen zurückgelassen, wo sie 1980 in einem Keller gefunden wurde (vgl. Corino: Robert Musil [s. Anm. 27], S. 1606). Die Briefe wurden in Band 18 der Klagenfurter Ausgabe ediert. Vgl. v. a. Marthas Briefe vom 2., 3. u. 4. 11. 1914. Zu Musils Fluchttendenzen und der gefühlten Befreiung aus dem bürgerlichen Leben durch die Abkommandierung nach Südtirol wie auch zur (möglicherweise Schein-)Schwangerschaft vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 502–506. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 2. 11. 1914.

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ters ersehen, die ja auch von anderen mobilisierten Intellektuellen belegt ist:37 Musil war noch ein Jahr zuvor wegen Herzrasens und Neurasthenie unfähig gewesen, als Bibliothekar der Technischen Hochschule Wien zu arbeiten. Nun verwandelte er sich – nach seiner Einrückung als Kriegsfreiwilliger zum k. u. k. Landsturm am 20. August 1914 in Linz38 – offenbar ohne gesundheitliche Probleme in einen kletternden, skifahrenden und reitenden Gebirgskrieger.

4. Im Märchenwald Seinen ›Erlebnishunger‹ im Sommer 1914 teilte Musil mit vielen Intellektuellen, die den Krieg als »qualitativ neue Erlebnisquelle«39 begrüßten: »Erlebnis« gehörte zu den Leitbegriffen der Epoche und galt im Zuge der Dilthey-Rezeption40 vielen als Substrat künstlerischer Kreativität. Nur ist dieser Hunger den meisten angesichts des Grauens an der Front rasch vergangen. Doch gab es auch Ausnahmen. Zu ihnen gehörte Ernst Jünger, der vom Krieg auch nach seiner sechsten Verwundung, einem Schuss durch die Brust aufgrund von friendly fire, nicht genug hatte,41 zu ihnen gehörte aber auch, freilich auf 37

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Erinnert sei an Max Weber, der nach Kriegsausbruch im Alter von 50 Jahren mit dem Aufbau mehrerer Reservelazarette beauftragt wurde. »Hatte er noch am 27. Juli 1914 – vier Tage vor Kriegsbeginn – an den Verleger Paul Siebeck geschrieben: ›ich bin seit 2 Monaten sehr schlechter Gesundheit [. . .] Wann ich endlich wieder arbeiten kann, weiß ich nicht‹, so erwachen nun ganz offensichtlich alle seine Kräfte, wie etwa der mit Max Weber befreundete Heidelberger Kunsthistoriker, Carl Neumann, registriert: ›Es war, wie wenn ein alter Löw, der das Reißen schon fast verlernt hat, plötzlich wieder zu Sprung und Schlag ansetzt und vollends zum Menschenfresser wird, wenn er erst einmal gehörig Blut geleckt hat.‹« (Dirk Kaesler: Der alte Löwe leckt Blut. August 1914. Max Weber und der Erste Weltkrieg, in: literaturkritik.de, Februar 2014, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18873, aufgerufen am 20. 8. 2014) Diese Einrückung war eine aktive Entscheidung Musils: Der am 31. 12. 1912 als Leutnant der Reserve in den nichtaktiven Stand der k. u. k. Landwehr versetzte Autor hatte sich Anfang August 1914 bei der österreichischen Botschaft in Berlin zum Militärdienst gemeldet. Aufgrund einer Verwechslung bot sich Musil 1914/15 die unerwartete Möglichkeit, sich dem weiteren Kriegsdienst zu entziehen, die er jedoch ausschlug, was Martha Musil ihrem Mann in der Folgezeit vorwarf; vgl. dazu KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 29. 11. 1915, sowie Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 1606 f. Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart 2002, S. 135: »Nicht als politisches, ökonomisches oder militärstrategisches Geschehen, sondern als qualitativ neue Erlebnisquelle wurde der Krieg [von der expressionistischen Generation; O. P.] begrüßt.« Vgl. dazu Gittel: Lebendige Erkenntnis (s. Anm. 5); Anz: Literatur des Expressionismus (s. Anm. 39), S. 160–163. Für die Zeit Ende September 1918 im Hannoveranischen Clementinenstift (nach seiner schweren Verwundung im August bei Cambrai) notierte Jünger (zugleich der vielsagende Schluss seiner Stahlgewitter): »Da unsere baldige Kriegstüchtigkeit angezweifelt wurde, fühlten Wenzel und ich das unbedingte Bedürfnis, verschiedentlich über einen gewaltigen Sessel zu eskaladieren. Es bekam uns jedoch sehr schlecht [. . .]. Trotzdem fühlten wir uns recht bald wieder in Form für eine neue Winterkampagne. Diese wurde vorläufig vertagt.« (Ernst Jünger: In

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andere Weise, Robert Musil. Bei ihm hielt der Hunger nicht nur lange an,42 sondern wurde auch nachhaltig und produktiv gestillt: Das ›Sommererlebnis‹ sollte sich nur als der »Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse« (MoE, S. 1081) erweisen, und die sich dem Dichter in den folgenden Jahren bietenden Erlebnisstimuli sicherten in den 1920er Jahren die Welthaltigkeit seines Werks.43 Voraussetzung dafür war allerdings der glückliche Umstand, dass Musil im September 1914 nicht auf die Schlachtfelder Galiziens geschickt wurde, sondern zur Grenzsicherung nach Südtirol, das ihm einen ebenso faszinierenden wie riskanten Erfahrungsraum bot.44 Dort erlebte oder besser gesagt genoss Musil zunächst eine Art alpinen Abenteuerurlaub, der eine stimulierende Mischung aus berückenden Naturerlebnissen und vorerst eher latentirrealer Todesgefahr bot, freilich mit der Aussicht auf eine Abkommandierung nach Galizien als weiterhin über ihm hängendem Damoklesschwert.45 Abgelegene Orte wie Trafoi am Fuße des Ortlers, wo Musil am 29. November 1914 als Abschnittskommandant eingesetzt wurde, erschienen ihm als »Bärenidyll«, und die Erfahrung eines »so weite[n] Wegsein[s] von der Welt« als mit seinem »Begriff von Glück identisch«, wie er der Verlegersgattin Hedwig Fischer schrieb.46 Gestört wurde dieses Glück nur von dem Ziehen und

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Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Berlin 121930, S. 283) Eine Liste von Ernst Jüngers Verwundungen findet sich bei Kiesel: Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg (s. Anm. 8), S. 611–615. Und war weit mehr als nur eine in den Essays der Zwischenkriegszeit beschworene nachträgliche »Deckerinnerung« des Dichters, um sich und dem Leser »sein Ja zum Krieg zu erklären«, wie jüngst Markus Joch behauptete (Markus Joch: Helden der Biegsamkeit. Was trieb Thomas Mann und Robert Musil zur Kriegsapologetik, mit welchen Folgen?, in: literaturkritik.de, April 2015, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20414, aufgerufen am 12. 6. 2015). In dem Prosastück Slowenisches Dorfbegräbnis im Nachlaß zu Lebzeiten (1936), zuerst erschienen als Begräbnis in A. (1921), das zurückgeht auf Musils Stationierung in Adelsberg im Dezember 1917, heißt es: »Von solchen Erlebnissen hatte ich damals viele.« (GW II, S. 491) Musils Glück war, bis er nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 selbst bei Kampfhandlungen eingesetzt wurde, ein Topos in der Korrespondenz seiner Eltern und Bekannten: Seine Mutter sprach angesichts einer vorteilhaften Adjutantenstelle von einer »jener unbegreiflichen Schicksalsfügungen, die manchem Liebling der Götter passieren« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Hermine Musil an Martha Musil, 4. 3. 1915), Ea von Allesch bezeichnete Musil als »Glückskind« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Ea von Allesch an Martha Musil, 2. 6. 1915). Auch Musil selbst notierte am 9. 6. 1915: »Diese persönliche Vorsicht, die in diesem Krieg bisher meine Schicksale gelenkt hat, berührt mich schon lange.« (KA/Transkriptionen/ Heft I/6) Musils Kompanie war die einzige des Bataillons, die vorerst in Südtirol blieb, alle anderen wurden um den 1. 1. 1915 nach Galizien abkommandiert; vgl. dazu KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Robert Musil an Hedwig Fischer, 19. 12. 1914. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Robert Musil an Hedwig Fischer, 19. 12. 1914. Zu Musils Glückserfahrungen im Krieg vgl. auch Harald Gschwandtner: Ekstatisches Erleben. Neomystische Konstellationen bei Robert Musil. München 2013 (= Musil-Studien, Bd. 40), S. 65–83.

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Zerren seiner sich sorgenden bzw. Sorgen machenden Angehörigen. Man könnte sagen: Ganz so einfach wollte ihn das bürgerliche Leben denn doch nicht loslassen, vielmehr begann es gegen den auf inspirierende Erlebnisse hoffenden Dichter eine Art Zweifrontenkrieg um seine Aufmerksamkeit. In Berlin glaubte sich Martha, wie erwähnt, ausgerechnet jetzt schwanger; und aus Angst, »ein kleiner Robi«47 würde das endgültige Ehe-Aus bedeuten, nahm sie Chinin als Abtreibungsmittel ein.48 Die Folge war offenbar ein »Abortus incompletus«,49 weshalb sich in den folgenden Tagen und Wochen ein anschwellender Strom an Mitteilungen, teils mehrmals täglich, über ihr gesundheitliches und emotionales Auf und Ab in Richtung Südtirol ergoss. Und in Brünn blühten Musils Eltern in ihrer angestammten Rolle regelrecht auf und begannen, ihr »Robscherl«, ihr »Schneckerl«, mit Liebesgaben und praktischen Ratschlägen zu überschütten, dass man sich fragen muss, für wie unselbstständig sie ihren Sohn eigentlich hielten: vom richtigen Tragen von Wickelgamaschen50 bis zur Pflege des Allerwertesten mit Salyciltalg, um sich nicht aufzureiten.51 Das Schweigen, in das Musil immer häufiger verfiel, lässt sich mit Karl Corino als »späte[r] Versuch der Abnabelung«52 charakterisieren, mit der Ergänzung, dass auch Musil selbst in alte Rollenmuster zurückfiel, als er sich von seiner Mutter zum 34. Geburtstag ein »Eßpaket wie in der Kinderzeit«53 in der Militär-Unterrealschule Eisenstadt wünschte. Aber vielleicht war das auch nur ironisch gemeint. Sofern keine Aufzeichnungen verloren gegangen sind, beginnen Musils Einträge in sein mit »I« gekennzeichnetes Heft jedoch erst mit dem überraschenden Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, d. h. als die Gefahr sprunghaft anstieg.54 Im abgelegenen Fersental, wo Musil inzwischen als Adjutant diente, konnte die Gefahr aber vorerst noch immer als irreal empfunden werden:55 »Krieg. Auf einer Bergspitze«, beginnen Musils Aufzeichnungen lakonisch. 47 48 49 50 51 52 53 54

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KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 22. 7. 1915. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 6./7. 11. 1914. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 9. 11. 1914. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Hermine Musil an Robert Musil, Ende Januar 1915. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Hermine Musil an Robert Musil, 4. 3. 1915. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 511. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Hermine Musil an Robert Musil, 6. 11. 1914. Im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold erinnerte sich Ernst Jünger: »Fast jeder Soldat führte damals ein Tagebuch. Bei mir kam vielleicht ein Trieb zum Dokumentarischen hinzu, aber nur in Bezug auf die Fixierung des eigenen Erlebnisses. Ich konnte ja auch fallen – das war sogar wahrscheinlicher. Da denkt man nicht an Literatur.« (Heinz Ludwig Arnold [Hg.]: Ein abenteuerliches Herz. Ernst-Jünger-Lesebuch. Stuttgart 2011, S. 84) Musil offenbar schon. Zu Musils Zeit im Fersental vgl. auch Nanao Hayasaka: Robert Musil und der genius loci. Die Lebensumstände des »Mannes ohne Eigenschaften«. München 2011, S. 233–254. Im Übrigen freilich wurde in dem im Mai 1915 ausgebrochenen Gebirgskrieg zwischen Österreich-Ungarn und Italien ebenso erbittert gekämpft wie an der Westfront oder auf den Schlachtfeldern Galiziens. Vgl. Uwe Nettelbeck: Der Dolomitenkrieg. [1976] Mit einem Nachwort v. Detlev Claussen. Berlin 2014.

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»Tal friedlich wie auf einer Sommertour. Hinter der Sperrkette der Wachen geht man wie ein Tourist.«56 In einem bald nach Kriegsende entstandenen Fragment beschrieb er die bizarr wirkende militärische Situation in dem urweltlich anmutenden Tal: Situation: Wie eine halbe Gugelhupfform von 4 km. Radius. Der Wall der Berge, der Graben, der Kernhügel. Dazwischen Kare mit Knieholz u[nd] versprengten Rehen. Zwei große, hingesetzte vom Wald bewachsene Kappen, in denen der Spielhahn balzte. Wiesen mit großen gelben blauen u[nd] weißen Sternen, – so groß wie ich sie nie in meinem Leben gesehen habe[.] – Es wurde nachsichtig Krieg geführt. Formhalber tötete man gegenseitig täglich ein paar Leute, aber fast nach der Uhr. Wenn die Sonne über der . . . . . stand kamen 20 Schuß herüber, [. . .] zur Zeit der Menage wurde das Feuer pünktlich abgebrochen und um 6 h 30' wurde Feierabend gemacht.57

Die trügerische Friedlichkeit um die Ortschaft Palai, wo Musil bis zum August 1915 stationiert war, ließ ihn an einem Bergsee, dem Lago d’Ezze, »auf ›eingesehener‹ Lichtung«,58 also ungeschützt, einschlafen oder auch, wie er Martha bekannte, »allein in Wiesen« träumen.59 Dass im Fersental die Action auf sich warten ließ, hatte jedoch Folgen: Der Landsturm-Oberleutnant Dr. Robert Musil begann sich wieder zu langweilen und musste von seiner Frau gebremst werden: »Sei nicht so ungeduldig, sonst wirst Du den Italienern noch vor Freude entgegenlaufen, vergiß nur nicht, daß sie doch manchmal treffen können.«60 Vom Umfang her sind Musils Einträge in das Heft I eher knapp bemessen; das führte jüngst Detlev Claussen dazu, in Musils Kriegsaufzeichnungen einen Beleg für Walter Benjamins These vom Erfahrungsverlust und Verstummen der Kriegsteilnehmer zu sehen.61 Dabei handelt es sich jedoch m. E. um ein Missverständnis, denn von einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis waren Musils Hefte nie geprägt,62 für die die in der Forschung lange Zeit gängigen Begriffe wie ›Tagebücher‹ oder ›Tagebuchhefte‹ wenig treffend scheinen. Denn sie dienten stets auch, wenn nicht sogar vor allem als Sammelstätte für Materialien und Erlebnisse.63 An der Front zumindest sollte diese 56 57 58 59 60 61

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KA/Transkriptionen/Heft I/1. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/198a. KA/Transkriptionen/Heft 33/86. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 7. 8. 1915. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 22. 6. 1915. Vgl. Detlev Claussen: Weltgeschichte aus der Nähe. Nachwort, in: Nettelbeck: Der Dolomitenkrieg (s. Anm. 55), S. 137 ff. Vgl. dazu Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1928–1936], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II . 2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 438–465, hier S. 439. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 33/39: »Ich habe ein sehr geringes Mitteilungsbedürfnis: Eine Abweichung vom Typus des Schriftstellers.« Zur Frage, ob sich Musils Hefte als Tagebücher betrachten lassen, vgl. Walter Fanta: Die Erfindung der Tonka. Eine textgenetische Lektüre des Tonka-Dossiers, in: Musil-Forum 32 (2011/ 2012), S. 1–40, hier S. 6 f.

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Funktion dominant werden: Der als k. u. k. Landsturm-Offizier getarnte Dichter verwandelte sich in einen (um eine Wortschöpfung von Silvia Bovenschen aufzugreifen) »Erlebnisvampir«,64 der von seiner Beute nach dem Krieg noch lange zehren konnte, vor allem bei der Arbeit an den Novellen Grigia65 und Die Amsel. Die Einträge bieten ein Kaleidoskop von Fronteindrücken: darunter erotisch konnotierte Beobachtungen der weiblichen Landbevölkerung wie die »offenbar ohne Hosen« in ihren Tragsätteln »leise schaukelnde[n]« Mädchen,66 Beschreibungen der Angst eines italienischen Kriegsgefangenen,67 der Habseligkeiten eines nach einem Patrouillengefecht getöteten Italieners68 oder der Akustik nahender Geschosse: Der Laut des Geschoßes ist ein anschwellendes und, wenn der Schuß über einen fortgeht, wieder abschwellendes Pfeifen, in dem der ei-Laut nicht zur Bildung gelangt. Große Geschosse nicht zu hoch über der eigenen Stellung lassen den Laut zum Rauschen anschwellen, ja zu einem Dröhnen der Luft, das einen metallischen Beiklang hat. So gestern auf dem Monte Carbonile, als die Italiener von der Cima Manderiolo auf den Pizzo di Vezzena schossen und die Panorotta über uns weg auf die italienischen Stellungen. Der Eindruck war der eines unheimlichen Aufruhrs in der Natur. Die Felsen rauschten und dröhnten. Gefühl einer bösartigen Sinnlosigkeit.69

Relativ ausführlich festgehalten werden von Musil Reflexionen und Stimmungen, die vom Erlebnis der – durch die räumliche Trennung ja erst möglich gewordenen – Fernliebe zu seiner Frau ausgelöst wurden sowie von ihren erotisch-mystischen Wiederbegegnungen in Bozener Pensionszimmern oder auf Bergwiesen bei Palai (die, wie Marthas Kriegsbriefe zeigen, zusätzlich stimuliert wurden vom wechselseitigen und zumindest von Marthas Seite aus wohl auch berechtigten Verdacht der Untreue): Du: Du lädst den Raum um dich zunehmend stark mit deiner Gegenwart. Intensitätsunterschied zwischen Vorstellen und Dasein wird zu einem Glück, das ich fühle. / Eine Menge von Grazie, Duft, Wohlordnung umgibt mich. In die Vornehmheit deines Körpers trete ich wie ein Bauer ein. Ich bin selig mit dir zu plaudern. Ich kann es überhaupt nur mit dir. Kamerad. Einziger Mensch, den ich liebe. Mit dem ich mich verstehe. Verlaufe, verliege; ohne einen Schatten von Sich-nicht-Mögen.70

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Vgl. Silvia Bovenschen: Wie geht es Georg Laub? Roman. Frankfurt a. M. 2011, S. 241: »[Schriftsteller] sind Erlebnisvampire, weil man in einem einzigen Leben kaum so viel erleben kann, daß es für viele Bücher reicht.« Vgl. dazu Rosmarie Zeller: Musils Arbeit am Text. Textgenetische Studien zu Grigia, in: MusilForum 32 (2011/2012), S. 41–64. KA/Transkriptionen/Heft I/3. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft I/3 f. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft I/26. KA/Transkriptionen/Heft I/25. Zum Zusammenhang von Akustik und Krieg vgl. Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1934. München 2006, S. 111–193. KA/Transkriptionen/Heft I/8.

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Dass Musil dabei vorübergehend sogar zum Lyriker, ja Minnesänger71 wurde, zeigt, dass es sich hier um eine Wiederholung des für ihn prägenden ›ValerieErlebnisses‹ seiner Jugendzeit handelte:72 Märchenwald von alten Lärchenstämmen, zart behaarten, auf grüner Schräge. [. . .] In dieser geheimnisvollen Natur, als hinge es damit zusammen, unser Zusammengehören. Die Scharlachblume: wunderbares Wissen[,] daß diese Stelle einer Frau nur da ist, dich mit ihr zu vereinen. Es ist nämlich unsinnig, so unpraktisch, direkt eine religiöse Tollheit. Länge des sich nicht Wiedersehens: eine solche Außerkraftsetzung des Zusammengehörens, Bankerotterklärung, daß man nachher gedemütigt sein und neu beginnen muß. Muß dich neu erwerben, nachdem ich das zugelassen habe. Schwur. / Dachte – immerhin – daß ich da, zwischen Anemonen, Vergißmeinnicht, Orchideen, Enzian und (herrlichem grünbraunem) Sauerampfer bald liegen werde. Wie dich hinübernehmen? Glauben können, daß hier es nicht zu Ende. Fange überhaupt an, mystisch zu werden. Diese persönliche Vorsicht, die in diesem Krieg bisher meine Schicksale gelenkt hat, berührt mich schon lange. Wie herrlich nun: Wiedervereinigung. Neugewonnene Jugend. Die kleinen Entstellungen, die die Jahre der Geliebten zufügen, von ihr genommen. Mit der Hoffnung auf die Ewigkeit eines Verhältnisses ist die Liebe unerschütterlich. Wer wird sich zur Untreue verleiten lassen und die Ewigkeit für eine Viertelstunde opfern.73

Solche Offenbarungen haben Musil aber offenbar nicht daran gehindert, im Fersental ein Verhältnis mit der Bäuerin Magdalena Lenzi (1880–1954) anzufangen, die Erlebnisgrundlage seiner Novelle Grigia.74 Politische Reflexionen, etwa über den Kriegsverlauf oder gar den Sinn des Kriegs, sind in den Aufzeichnungen dieser Monate nicht zu finden. Dafür gibt es Einträge, die in ihrer moralischen Indifferenz und scheinbaren Kälte oder in ihrer Faszination für grausige oder bizarre Details – wie die aus dem Schnee ragenden starren Stahlnägel gefallener Soldaten75 – an die Kriegstagebücher von Ernst Jünger erinnern.76 Doch war Musil gerade kein Vertreter der ›Verhaltensleh71 72

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Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 30/119. Zu dem lyrischen Duett, das Robert und Martha Musil in dieser Zeit aufführten, vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 529–536, zum ›Valerie-Erlebnis‹ vgl. ebd., S. 154–170, sowie Hayasaka: Robert Musil (s. Anm. 55), S. 177–192. KA/Transkriptionen/Heft I/5 f. Vgl. zu diesem Erlebnis Marthas Briefe an ihren Mann: KA/ Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 6. 6. 1915 u. 19. 11. 1915. Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 527–529. Ungeachtet seines mutmaßlichen Seitensprungs scheinen die Kriegsjahre für das Ehepaar Musil alles in allem wie eine Art Paartherapie gewirkt zu haben. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/17: »Tote: Liegt einer ganz zugedeckt oder von Erde und Schnee vergraben und du siehst nur die Füße, nur die genagelten Schuhsohlen: an den Schuhsohlen merkst du, daß es ein Toter ist. (Dieses Starre, Stahlnägel, ist in irgendeiner Weise noch starrer, darüber erschrickst du.)« Zu den Kriegsauszeichnungen Jüngers und Musils vgl. Kiesel: Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg (s. Anm. 8), S. 627; vgl. auch Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 243. Vgl. dazu auch den Beitrag von Helmuth Kiesel im vorliegenden Band.

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ren der Kälte‹ (Helmut Lethen) oder ein sich emotional panzerndes Subjekt wie der deutsche Stoßtruppführer:77 Jünger zündete sich, der ihm eigenen Haltung der ›Désinvolture‹ entsprechend, nachdem seine Kameraden gerade von Granaten zerrissen worden waren, erst mal »für alle Fälle«78 eine Zigarre an79 oder räumte nach dem markigen Spruch »Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus«80 in Jack-Bauer-Manier in den feindlichen Gräben auf. Freilich ähnelte Musil deshalb noch lange nicht einem Ernst Toller, für den beim Anblick eines zerfetzten toten Franzosen im Graben alle Menschen zu Brüdern wurden;81 Musil notierte dagegen eher frustriert als befriedigt: »Die Gefechte, Toten und so weiter, die sich vor den Stellungen abspielten, haben mir bisher keinen Eindruck gemacht.«82 Musils ›Erlebnishunger‹ war einfach noch immer nicht gestillt, weshalb Martha Musil Angst bekam, ihr Mann könnte »vor lauter Langeweile den Italienern in den Rachen spazieren«,83 und sie in ihren Briefen an seine Vernunft appellierte. Selbst als er ab August 1915 zunehmend selbst an Kampfhandlungen beteiligt war,84 zeigte sich dieser Hunger nicht etwa endlich gestillt, vielmehr sehnte er sich nach dem ultimativen Thrill. Seiner entsetzten Frau kündigte er fröhlich an, »zwischen den Kugeln herumtanzen« zu wollen,85 und empfand gerade das Beschossenwerden – nicht das Schießen wohlgemerkt! – »als eine Art Glück«86 : Dieses Singen und Fauchen hat etwas Urwaldhaftes, man fühlt Flattern von Kolibris um sich und den Ansprung großer Katzen. – Wenn man allein geht. Zum Beispiel morgens bei klarer Sicht, wenn alles in den Deckungen steckt, spazierengehn ohne 77

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Vgl. dazu Ijoma Mangold: Das Ideal des Ganzkörperstahlhelms. Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen über den Soldaten Ernst Jünger, der ohne Überbau in den Krieg zog [Interview], in: Die Zeit, Nr. 40, 30. 9. 2010, www.zeit.de/2010/40/Interview-Juenger/ (aufgerufen am 22. 8. 2014). Vgl. Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 41), S. 122. Zu Jüngers Haltung der ›Désinvolture‹ vgl. auch Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Reinbek b. Hamburg 2014, S. 303–309. Jünger: In Stahlgewittern (s. Anm. 41), S. 229. Vgl. Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Reinbek b. Hamburg 19 2006, S. 52. KA/Transkriptionen/Heft I/22. Wohl in Bezug auf diese Textstelle in Musils Tagebüchern notierte Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Mit einem Nachwort v. Peter von Matt. München 2014, S. 130: »Musil hat sich als Offizier im Krieg daran gewöhnt, Tote zu sehen. Ich habe mich bis heute geweigert, mich daran zu gewöhnen, und jeder Tote, den ich sehe, ist für mich noch immer der erste Tote.« Überraschenderweise scheint sich Canetti am »Erlebnis des Todes« (s. u.) des von ihm bewunderten Musil nicht gestört zu haben, obwohl dieses doch im diametralen Gegensatz zu Canettis Sicht auf den Tod als Erzfeind des Lebens steht. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 24. 6. 1915. So nahm Musil in seiner Zeit im Fersental an Gefechten auf dem Monte Salubro und der Cima Cista teil, wobei er und sein Landsturm-Bataillon gemeinsam mit zwei StandschützenRegimentern 30 Kilometer Gebirgsfront gegen eine ganze italienische Division hielten. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 540. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 29. 8. 1915. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 9. 12. 1915.

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äußern Grund. Man hat doch bei jedem Schritt eine gewisse Überwindung nötig. Dann kommt irgendwo auf hundert Meter etwas vorbei, im nächsten Augenblick überströmt einen ein Glücksgefühl. Der Tod ist etwas ganz Persönliches. Du denkst nicht an ihn, sondern – zum erstenmal – spürst ihn. Dann liegt in diesem Vortreten des Willenhaften im Krieg, gegenüber dem Rezeptiven des Friedens auch eine kleine Annehmlichkeit. (Willen im Frieden meist auf Unpersönliches, Weites gerichtet, Geld, Studium und so; im Krieg auf Bewegungen der Beine, fortwährend eng mir dir zusammenhängende Entschlüsse.)87

5. »Eine sonderbare innere Freiheit« – Todeserlebnis und Fliegerpfeil Das bedeutendste Erlebnis, das die Kriegsjahre Robert Musil bescherten, war das sogenannte ›Erlebnis des Todes‹. Im Unterschied zur morbid-kaltblütigen Todesfaszination und -verachtung Ernst Jüngers war Musils ›Erlebnis des Todes‹ allerdings eher ein Erlebnis des Lebens, ging es doch um eine gesteigerte Erfahrung desselben aufgrund der gefühlten lustvollen Befreiung von allen unlustvollen Bindungen des bürgerlichen Lebens, der Erfahrung einer ›Ersparungslust‹ im Sinne Sigmund Freuds.88 Es war das Erlebnis »eine[r] sonderbare[n] innere[n] Freiheit«, wie es in der Novelle Die Amsel heißt, die »in der unbestimmten Nähe des Todes blühte« (GW II, S. 555): Man glaubt immer, daß man im Angesicht des Todes das Leben toller genießt, voller trinkt. So erzählen es die Dichter. Es ist nicht so. Man ist nur von einer Bindung befreit, wie von einem steifen Knie oder einem schweren Rucksack. Der Bindung an das Lebendigseinwollen, dem Grauen vor dem Tode. Man ist nicht mehr verstrickt. Man ist frei. Es ist Herr-lichkeit.89 87 88

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KA/Transkriptionen/Heft II/8 f. Zu diesem Begriff konstatiert Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998, S. 180: »›Ersparungslust‹ oder mit Lust verbundene ›Aufwandsersparnis‹ sind zentrale, doch von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft und wohl überhaupt von der Psychoanalyse in der Nachfolge Freuds wenig beachtete Begriffe in dessen Schrift über den Witz. Sie stellen ein fundamentales Erklärungsmuster, einen geradezu universalen Beschreibungsschlüssel für Unlust- und Lustgefühle bereit. Nach dieser Erklärung wird die Lust dann empfunden, wenn ein anstrengender, dauerhaft geleisteter Aufwand an psychischer Energie mehr oder weniger plötzlich ›überflüssig‹ bzw. ›gespart‹ wird, z. B. der Aufwand an logischer Denk- und sprachlich korrekter Formulierungsarbeit, der Aufwand zur Unterdrückung verbotener Wünsche oder der belastende ›Affektaufwand‹ etwa des Mitleids, der Angst oder der Scham.« KA/Transkriptionen/Heft II/65. Dieser Hefteintrag ging später in die Novelle Grigia ein: »Von diesem Tag an war er von einer Bindung befreit, wie von einem steifen Knie oder einem schweren Rucksack. Der Bindung an das Lebendigseinwollen, dem Grauen vor dem Tode. Es geschah ihm nicht, was er immer kommen geglaubt hatte, wenn man bei voller Kraft sein Ende nahe zu sehen meint, daß man das Leben toller und durstiger genießt, sondern er fühlte sich bloß nicht mehr verstrickt und voll einer herrlichen Leichtheit, die ihn zum Sultan seiner Existenz machte.« (GW II, S. 241)

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Neben dem ›Sommererlebnis im Jahre 1914‹ war es für Musil in der Nachkriegszeit gerade das damit eng verwandte ›Erlebnis des Todes‹, das ihn den Krieg auch nach 1918 noch rechtfertigen ließ, wie er in den 1920er Jahren Soma Morgenstern wissen ließ: Es stellte sich heraus, daß er [i. e. Musil] für den Krieg war, weil er im Krieg »das große Erlebnis des Todes« erfahren hatte. [. . .] [Ich hielt] es nicht aus und sagte zu ihm: »Sie denken also, daß es gut ist, wenn Menschen getötet werden, damit der Schriftsteller Musil ›das große Erlebnis des Todes‹ auskoste? Was mich betrifft, stehe ich auf dem Standpunkt, daß es für den Schriftsteller, der ›das große Erlebnis des Todes‹ haben möchte, nur eine rechtschaffene Gelegenheit gibt, nämlich: seinen eigenen Tod.« Musil errötete bis in die Haarwurzeln – damals hatte er noch viel Haar – und schwieg eine sehr peinliche Zeit. Dann sagte er: »Es ist nicht meine Schuld, daß ich den Krieg überlebt habe. Aber Sie haben das Recht so zu reden, ohne einen banalen Eindruck zu machen, weil Sie selbst ein Soldat im Krieg waren – wenn auch als Schriftsteller noch zu jung, um das Erlebnis des Todes richtig einzuschätzen.«90

Das ›Erlebnis des Todes‹ stand im Kontrast zu der von Musil im bürgerlichen Alltag von Augenzeugen berichteten Ängstlichkeit und Über-Vorsicht91 und war für ihn bis zu seiner Versetzung in die Etappe im Frühjahr 1916 in Südtirol teils ein begleitendes Grundgefühl, teils – nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 – konkrete Erfahrung: etwa auf Patrouillengängen im Fersental, bei einem Artillerieangriff auf eine italienische Stellung am Monte Carbonile, bei Lawinenabgängen, für die er eine »erotische Neugierde« entwickelte,92 oder während seiner Teilnahme an der 4. Isonzoschlacht im November/Dezember 1915.93 »Häufiger als die Augenblicke der Todesfurcht waren die der Todesfreude«,94 erinnerte sich Musil im Schweizer Exil. Am prägnantesten erlebte Musil diese ›Todesfreude‹ aber wohl, als ihn am 22. September 1915 bei Fort Tenna möglicherweise ein Fliegerpfeil knapp verfehlte,95 abgeworfen aus einem der wenigen italienischen Flugzeuge, die von den Österreichern 90

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Soma Morgenstern: Musils Bellizismus in den frühen 1920er Jahren, in: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010 (= En face, Bd. 2), S. 113. Die Verlässlichkeit dieser Anekdote ist umstritten, vgl. Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 1073 f., wonach Musils Äußerung, sollte sie wirklich in dieser Form gefallen sein, allenfalls als »extremer Sarkasmus angesichts eines ostentativen gesinnungsethischen Pazifismus à la Werfel vorstellbar« sei. Zieht man dagegen etwa den 1919/20, also in Zeitnähe zur Morgenstern-Anekdote, entstandenen Hefteintrag über den Krieg als ›religiöses Erlebnis‹ heran (vgl. KA/Transkriptionen/Heft 19/ 20), erscheint Morgensterns Erinnerung durchaus als authentisch. Vgl. Bernard Guillemin: Eine erste Begegnung mit Musil, in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 90), S. 169–170, hier S. 169. KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Bruno Fürst, 21. 2. 1935. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 33/87 u. 86 bzw. Heft II/6 f. KA/Transkriptionen/Heft 33/86. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 541.

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spöttisch »Franzl«, »Seppl« oder »Bombenschani« genannt wurden.96 Für Musil sollte dieses Ereignis zum exemplarischen Ausnahmeerlebnis werden, für die der »Ausnahmsmensch« (GW II, S. 1029) Dichter zuständig war, wie er 1918 in der eingangs zitierten Skizze der Erkenntnis des Dichters geschrieben hatte.97 Überliefert sind vom ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ drei Bearbeitungsstufen: 1. der diaristische Eintrag im Heft I vom 22. September 1915 als unmittelbarste Erinnerung,98 2. das unveröffentlicht gebliebene Fragment Ein Soldat erzählt, das 1919/20, also relativ bald nach Kriegsende, entstand,99 3. sowie als Endstufe die Schilderung in der Novelle Die Amsel, die zuerst 1928 in der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde, dann 1936 im Prosaband Nachlaß zu Lebzeiten. Blickt man auf die basalen Kriegs- und Todesszenarien in literarischen Texten und die Regeln ihrer literarischen Emotionalisierung, so ist zunächst zu fragen, welchem Szenario diese drei Darstellungen Musils entsprechen. Nach Thomas Anz ist zu unterscheiden zwischen – Szenario 1: Tod als zukünftige Möglichkeit, ein Bedrohungsszenario, verbunden mit der Emotion Angst, – Szenario 2: Tod als gegenwärtiger Vorgang, ein Sterbe-, Trennungs- bzw. Abschiedsszenario, verbunden mit variierenden Emotionen und der Komponente Hoffnungslosigkeit, sowie – Szenario 3: Tod als vergangenes Ereignis, ein Erinnerungs- und Verlustszenario, verbunden mit der Emotion Trauer.100 96

Vgl. Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Wien 2013, S. 413. 97 Zu Musils ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ und seiner literarischen Verarbeitung vgl. Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 76), Kap. 3.2 u. 6.3; Manfred Moser: Ing. Dr. phil. Robert Musil. Ein Soldat erzählt, in: ders.: Schreiben ohne Ende. Letzte Texte zu Robert Musil. Wien 1991, S. 43–66; Christoph Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997 (= Musil-Studien, Bd. 26), S. 187–229; Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 540 ff.; Encke: Augenblicke der Gefahr (s. Anm. 69), S. 162–172; Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (s. Anm. 46), Kap. III .2. 98 KA/Transkriptionen/Heft I/23. 99 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/197 f. Datierung lt. mündlichem Hinweis von Karl Corino und Rosmarie Zeller. In der Klagenfurter Ausgabe findet sich zur Datierung die (wohl falsche) Angabe »August 1914–Ende 1917«. 100 Vgl. Thomas Anz: Freunde und Feinde. Kulturtechniken der Sympathielenkung und ihre emotionalen Effekte in literarischen Kriegsdarstellungen, in: Søren R. Fauth, Kasper Green Krejberg, Jan Süselbeck (Hg.): Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuelle Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 335–354, hier S. 343. Vgl. auch ders.: Tod im Text. Regeln der literarischen Emotionalisierung, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), H. 3, S. 306–327, hier S. 312.

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Abb. 1: Abwurfvorrichtung für Fliegerpfeile, in: Das Neue Universum 37 (1916), S. 242–245, hier S. 244.

Da in allen drei Bearbeitungsstufen Musils ein Ich-Erzähler von einem herannahenden, nur akustisch wahrnehmbaren Fliegerpfeil bedroht wird, der potenziell tödlichen Gefahr aber am Ende entgeht, muss man sie zu Szenario 1: ›Bedrohungsszenario‹ rechnen, mit dem Unterschied freilich, dass alle drei Ich-Erzähler Musils, auch schon das Ich des diaristischen Hefteintrags, gerade keine Angst empfinden, sondern ab Stufe 2 den nahenden Tod ganz im Gegenteil euphorisch begrüßen.101 »Und weißt du, wie das war?«, erzählt in Die Amsel Azwei seinem Zuhörer Aeins. »Nicht wie eine schreckende Ahnung, sondern wie ein noch nie erwartetes Glück!« (GW II, S. 556) Zugleich weisen die drei Darstellungen jedoch markante Unterschiede auf. Zunächst zum tagebuchartigen Hefteintrag, der hier vollständig wiedergegeben wird:

101 Da sich sowohl in Ein Soldat erzählt als auch in Die Amsel das erlebende Ich sicher ist, gleich tödlich getroffen zu werden, seinen Tod also als unabwendbar erlebt, wäre zu diskutieren, ob sich diese beiden Bearbeitungsstufen nicht partiell auch dem Szenario 2 (›Sterbeszenario‹) zurechnen ließen.

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22. September 1915: Das Schrapnellstück oder der Fliegerpfeil auf Tenna: Man hört es schon lange. Ein windhaft pfeifendes oder windhaft rauschendes Geräusch. Immer stärker werdend. Die Zeit erscheint einem sehr lange. Plötzlich fuhr es unmittelbar neben mir in die Erde. Als würde das Geräusch verschluckt. Von einer Luftwelle nichts erinnerlich. Von plötzlich anschwellender Nähe nichts erinnerlich. Muß aber so gewesen sein, denn instinktiv riß ich meinen Oberleib zur Seite und machte bei feststehenden Füßen eine ziemlich tiefe Verbeugung. Dabei von Erschrecken keine Spur, auch nicht von dem rein nervösen wie Herzklopfen, das sonst bei plötzlichem Schock auch ohne Angst eintritt. – Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe.102

Der gefährliche Augenblick wird von Musil im Heft als Initiationserlebnis im Sinne einer Feuer-»Taufe« vermerkt, durch die er sich in »eine Gemeinschaft«, offenbar der Kämpfenden oder Kameraden, aufgenommen fühlt. Der titelartige Anfang des Eintrags – »Das Schrapnellstück oder der Fliegerpfeil auf Tenna« – legt nahe, dass sich der überlebende Soldat gar nicht sicher ist, was genau ihn da knapp verfehlt hat: ein Schrapnell, also Metallstück oder -kugel einer explodierenden Fliegerbombe oder auch Artilleriegranate – oder eben ein Fliegerpfeil (s. Abb. 1). Da das Geschoss vom Erdboden verschluckt wurde, blieb die Frage im Nachhinein unbeantwortbar. Beide Waffen ähnelten einander insofern, als ihre Wirkung jeweils auf dem Prinzip der (zufälligen) Streuung beruhte. So wurden die im Ersten Weltkrieg von fast allen teilnehmenden Nationen eingesetzten Fliegerpfeile wegen ihrer geringen Trefferquote von Flugzeugen oder Zeppelinen aus stets in großer Zahl auf gegnerische Bodentruppen abgeworfen: Der Fliegerpfeil wird nicht abgeschossen, sondern nur abgeworfen und erhält seine Durchschlagskraft durch sein Gewicht und die Wucht des Falles. Er besteht aus Stahl, besitzt eine längliche Form und ist vorn zugespitzt. An seinem hinteren Ende ist er [. . .] kantig gekerbt, wodurch er hinten leichter wird und sich beim Fall lotrecht stellt. / Da das Treffen bei der großen Eigengeschwindigkeit des Flugzeuges sowie bei dessen nicht unbeträchtlicher Flughöhe sehr schwierig ist, kann nur mit einem Erfolg gerechnet werden, wenn viele Pfeile zur Verfügung stehen und eine große Streuung dafür sorgt, daß sich die Pfeile über einen verhältnismäßig weiten Raum verteilen.103 102 KA/Transkriptionen/Heft I/23. Zum Phänomen der empfundenen Zeitdehnung bei außergewöhnlichen Bewusstseinserfahrungen vgl. auch Marc Wittmann: Wenn die Zeit stehen bleibt. Kleine Psychologie der Grenzerfahrungen. München 2015. 103 Abwurfvorrichtung für Fliegerpfeile, in: Das Neue Universum 37 (1916), S. 242–245, hier S. 244. In Musils Amsel heißt es erläuternd: »Das waren spitze Eisenstäbe, nicht dicker als ein Zimmermannsblei, welche damals die Flugzeuge aus der Höhe abwarfen; und trafen sie den Schädel, so kamen sie wohl erst bei den Fußsohlen wieder heraus, aber sie trafen eben nicht oft, und man hat sie bald wieder aufgegeben.« (GW II, S. 555) Zu diesem Waffentyp vgl. auch: Der Erste Weltkrieg in 100 Objekten [Begleitpublikation zur Sonderausstellung des Deutschen Historischen Museums: »Der Erste Weltkrieg. 1914–1918«. 29. Mai bis 30. November 2014]. Hg. v. d. Stiftung Deutsches Historisches Museum. Darmstadt 2014, S. 130.

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Auffallenderweise entfiel jedoch in der weiteren poetischen Verarbeitung Musils die Alternative ›Schrapnellstück‹, und zwar m. E. aus zwei Gründen: Erstens bringt ein auf den Erzähler abgeschossener bzw. abgeworfener Pfeil schon aufgrund seiner Symbolkraft einen poetischen Mehrwert gegenüber einem Schrapnellstück mit sich.104 Zweitens kann, anders als ein Schrapnellstück, ein Fliegerpfeil, sofern es sich um ein Einzelexemplar handelt, eben jenes Motiv der Intentionalität mit sich führen, das in der weiteren Ausarbeitung für Musil mit Blick auf das besondere Emotionalisierungspotenzial dieses Erlebnisses zentral wurde.105 Musils Entscheidung gegen die Alternative ›Schrapnellstück‹ erwies sich als so ästhetisch überzeugend, dass die biographische Forschung unisono davon ausgeht, der Dichter sei an jenem Tag von einem Fliegerpfeil verfehlt worden,106 obwohl es doch eher unwahrscheinlich anmutet, dass ein Pilot nur einen einzelnen Pfeil abgeworfen haben sollte.107 Erst ab der zweiten Stufe, dem Fragment Ein Soldat erzählt,108 wird nun die ursprünglich erlebte initiierende Feuertaufe zu einem neo-mystischen109 Erlebnis (wie auch dann später in der Novelle Die Amsel von 1928) stilisiert, wobei die sakral anmutende Schönheit des einem Todesvogel ähnelnden, herannahenden feindlichen Flugzeugs den Ich-Erzähler in einen situationsinadäquaten ästhetischen Zustand versetzt: Ein Aeroplan glitt wunderbar mit ausgespannten Flügeln in der Luft. Die Unterseite seiner Tragflächen war in italienischem Rot-Weiß-Grün bemalt und die Sonne schien hindurch wie durch das Glasfenster einer Kirche. »Es hat mit Geist wenig zu tun«, dachte ich mir, »das zu bewundern; aber wie schön ist es!« [. . .] Im nächsten Augen104 So steht der Pfeil als Symbol sowohl für Schnelligkeit wie für den rasch eintretenden Tod und besitzt zugleich eine phallische Bedeutung, er versinnbildlicht den Strahl der Sonne und damit Erkenntnis und hängt kunstgeschichtlich mit Sinnlichkeit, Wollust und Liebe zusammen. Vgl. Herder Lexikon Symbole. Basel, Wien 1978, S. 124. 105 Vgl. auch Encke: Augenblicke der Gefahr (s. Anm. 69), S. 175: »Musil exponiert den Fliegerpfeil [. . .] als archaische Waffe, die sich in ihrer Gerichtetheit von der unberechenbaren Streuung explodierender Schrapnellgeschosse oder Granaten unterscheidet.« 106 So auch der Verfasser, vgl. Pfohlmann: Robert Musil (s. Anm. 25), S. 75 f. 107 Interessanterweise fehlt im tagebuchartigen Hefteintrag auch der Hinweis auf ein feindliches Flugzeug. – Eine weitere Auffälligkeit: Der zitierte Artikel Abwurfvorrichtung für Fliegerpfeile schildert, wie eine Kompanie deutscher Soldaten an der Westfront erstmals der damals noch neuen Waffe begegnet: Ähnlich wie in Musils Ein Soldat erzählt bzw. Die Amsel kreist in diesem Bericht zuerst ein einzelnes feindliches Flugzeug über den sich in dem Moment sicher glaubenden Soldaten, die »das prachtvolle Schauspiel, das eine Flugmaschine im Sonnenlicht am tiefblauen Sommerhimmel immer bietet, mit Freuden« (Abwurfvorrichtung für Fliegerpfeile [s. Anm. 103], S. 243 f.) ansehen, als plötzlich einzelne Männer wie aus dem Nichts getroffen werden und zu schreien beginnen. »Man hatte doch gar keine Schüsse gehört! Sollten es Querschläger, verirrte Geschosse gewesen sein?« (ebd., S. 244) Diesem Bericht zufolge zeichneten sich Fliegerpfeile gerade durch eine unheimlich anmutende Lautlosigkeit aus. 108 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/197 f.; vgl. GW II, S. 751–756. 109 Zum Begriff Neo-Mystik vgl. Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn u. a. 1997, S. 25 ff.

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blick hörte ich ein leises Singen. [. . .] »Er hat einen Pfeil abgeworfen«, dachte ich mir, denn ein Schuß war es nicht; aber ich erschrack [!] nicht, sondern wurde noch mehr verzückt. Ich wunderte mich bloß, daß niemand etwas hörte. Dann dachte ich, daß der Laut wieder verschwinden würde. Aber er verschwand nicht. Wie er sich mir näherte und perspektivisch größer wurde, war es doch zugleich, als stiege etwas in mir ihm entgegen. Ein Lebensstrahl. Ebenso unendlich. (GW II, S. 755)

Musils Ich-Erzähler fühlt sich von dem »(himmlische[n]) Gesang« (GW II, S. 753) des nahenden Pfeiles so ›verzückt‹, dass ihm das Erlebnis nicht nur wichtiger ist als der eigene Schutz, sondern provokanterweise auch als die Sicherheit seiner Kameraden, deren Schicksal ihm in diesem Augenblick gleichgültig ist. Moral und soldatische Pflicht werden somit vom ästhetischen Erlebnis außer Kraft gesetzt: »Ich fragte mich: soll ich warnen? Sollen wir in die Deckungen stieben wie Erdmäuse? Ich wollte nicht; ich war egoistisch in einem Erlebnis festgehalten, mochten die andren getroffen werden, ohne etwas davon gehabt zu haben.« (GW II, S. 753)110 Der dem von oben nahenden »hohe[n], dünne[n], singende[n] Laut« (GW II, S. 752) gebannt lauschende Soldat steht, wie Julia Encke bemerkt, für die Passivität des Hörsinns, während etwa in Jüngers In Stahlgewittern der aktive Sehsinn dominiert.111 Eine Parallele zu Ernst Jünger findet sich jedoch im Hinblick auf die von Musils Ich-Erzähler ekstatisch empfundene Intentionalität des Erlebnisses: Denn es handelt sich um einen »Gesang, der nur für mich da war. Auserwählt« (GW II, S. 754).112 Ähnlich notierte Jünger im Krankenlager befriedigt: »In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf von diesen Geschossen auf mich persönlich abgegeben wurden.«113 Die dritte Bearbeitungsstufe, die Schilderung Azweis gegenüber Aeins in Die Amsel (1928), weist gegenüber der zweiten zahlreiche Übereinstimmungen auf. Sie betreffen die für Kriegsdarstellungen eher ungewöhnliche 110 Nach Harald Gschwandtner vermeidet Musil dabei, in Kontrast zum ursprünglichen Hefteintrag, jegliche Darstellung eines gemeinschaftsstiftenden Fronterlebnisses, vielmehr handelt es sich um die subjektive Erfahrung eines einzelnen Soldaten – im Unterschied zur zeitgenössischen Verherrlichung kriegerischer Bewährung (etwa bei Ernst Jünger). Vgl. Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (s. Anm. 46), S. 76. 111 Vgl. Encke: Augenblicke der Gefahr (s. Anm. 69), S. 162. 112 An anderer Stelle setzt Musil die gefühlte Intentionalität in Gegensatz zur realen Zufälligkeit von Tod oder Überleben: »Das persönliche Auserwähltsein trotz der Statistik.« (KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/188) 113 Zit. nach Kiesel: Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg (s. Anm. 8), S. 616. Psychoanalytiker würden hinter dieser Feier der – für den vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen bestimmten Ersten Weltkrieg ja eher untypischen – Intentionalität der erlittenen Gewalt wohl eine das Traumageschehen verleugnende Identifikation mit dem Aggressor vermuten. Zur Intentionalität der erlittenen Gewalt vgl. Encke: Augenblicke der Gefahr (s. Anm. 69), S. 175. Die von Musil und Jünger beschriebene ekstatisch empfundene Intentionalität des Beschossenwerdens steht im markanten Kontrast zu dem von den sogenannten ›Kriegszitterern‹ erfahrenen ›Shell Shock‹. Zu Letzterem vgl. Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre. 1918–1938. München 2014, S. 31–54.

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Abb. 2: Tympanon des Nordportals der Würzburger Marienkapelle. © Hannelore Piehler, Bamberg.

positive Stilisierung des feindlichen Flugzeugs, dessen Erscheinen für den IchErzähler ausschließlich von Schönheit und Mystik geprägt ist,114 ebenso wie die sakrale Überhöhung und Intentionalität des herannahenden Fliegerpfeiles. Doch gibt es, wie gesagt, auch auffallende Unterschiede. So wird in der Novelle das egoistisch-unmoralische Verhalten des Ich-Erzählers, der um seines Erlebnisses willen darauf verzichtet, seine Kameraden zu warnen, partiell zurückgenommen – vielleicht aus Sorge, der Ich-Erzähler könnte andernfalls die Antipathien des Lesers evozieren: Mir ging zwar der Gedanke durch den Kopf, daß wir wie eine Gruppe von Rennbesuchern beisammenstanden und ein gutes Ziel abgaben. Auch sagte einer von uns: Ihr solltet euch lieber decken! Aber es hatte offenbar keiner Lust, wie eine Feldmaus in ein Erdloch zu fahren. [. . .] Ich hatte mich einigemal gefragt, ob ich warnen solle; aber mochte ich oder ein anderer getroffen werden, ich wollte es nicht tun! (GW II, S. 555) 114 »Über unsere ruhige Stellung kam einmal mitten in der Zeit ein feindlicher Flieger. Das geschah nicht oft, weil das Gebirge mit seinen schmalen Luftrinnen zwischen befestigten Kuppen hoch überflogen werden mußte. Wir standen gerade auf einem der Grabkränze, und im Nu war der Himmel mit den weißen Schrapnellwölkchen der Batterien betupft wie von einer behenden Puderquaste. Das sah lustig aus und fast lieblich. Dazu schien die Sonne durch die dreifarbigen Tragflächen des Flugzeugs, gerade als es hoch über unseren Köpfen fuhr, wie durch ein Kirchenfenster oder buntes Seidenpapier, und es hätte zu diesem Augenblick nur noch einer Musik von Mozart bedurft.« (GW II, S. 555)

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Die zweite Änderung betrifft den in Ein Soldat erzählt vorhandenen Zusammenhang von Sexualität und Gewalt, der in der Amsel fast vollständig getilgt wurde,115 mit Konsequenzen für die Forschung: So erkennt Christoph Hoffmann in seiner einflussreichen diskursanalytisch-medienarchäologischen Studie »Der Dichter am Apparat« (1997), in der allein Die Amsel, also die publizierte Endfassung, untersucht wird, in Musils säkularer Epiphanie neben experimentalpsychologischem Wissen auch Anspielungen auf die »jungfräuliche Empfängnis des Gottessohnes durch das Ohr Marias«.116 Hoffmann bezieht sich dabei u. a. auf folgende Amsel-Passage: »ich muß einfach sagen, ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen« (GW II, S. 556) sowie auf die dem Text eingeschriebene Metaphorik vom »Lebensstrahl« (ebd.), der dem von oben kommenden Laut entgegenkommt. Illustrierend verweist der Medienarchäologe dabei auf eine Darstellung der unbefleckten Empfängnis, die sich am Tympanon des Nordportals der Würzburger Marienkapelle befindet (s. Abb. 2). Diesem biblischen Übertragungsmodell folgend, bei dem metaphorisch das Jesuskind durch den Sprech-Hör-Schlauch von Gott zu Maria rutscht (man beachte die Verdickung!), übernimmt Musils Protagonist in der Amsel, während ihn der Fliegerpfeil anvisiert, die Rolle Marias und bestimmt sich »als der Auserwählte, der empfängt und durch den zugleich das Empfangene sich ins Werk setzt und zur Welt kommt.«117 Zieht man jedoch die Vorstufe, Ein Soldat erzählt, heran, kommt ein ganz anderes religionshistorisches bzw. ikonographisches Vorbild in den Blick, das in der Endstufe zwar vermutlich ebenfalls aus Gründen der Sympathielenkung unterdrückt wurde, aber dennoch als Krypto-Modell auch den verzückten Zustand Azweis in der Amsel bestimmen dürfte. Denn anders als die Darstellung in der Amsel zeichnet sich die in dem Fragment Ein Soldat erzählt durch die ihr eingeschriebene Verschränkung von Gewalt und Sexualität aus.118 Im Unterschied zur Amsel wird in der früheren Fassung der Laut von oben nicht nur lauter, sondern er »wurde körperlicher«, wie es heißt, »schwoll an« (GW II, S. 756). Unmissverständlich heißt es: »Als schwölle der Stachel einer Wollust im Fleische.« (GW II, S. 753) Und nachdem der auf den Ich-Erzähler persönlich gerichtete Pfeil, der ihn bis zur »Fußsohle« (GW II, S. 751) hätte durchbohren können, von der Erde verschluckt wurde, 115 Zur Verschränkung von Gewalt und Sexualität in der Literatur der Zeit vgl. Anz: Literatur des Expressionismus (s. Anm. 39), S. 57 f. 116 Hoffmann: »Der Dichter am Apparat« (s. Anm. 97), S. 226; vgl. dazu Encke: Augenblicke der Gefahr (s. Anm. 69), S. 175. 117 Hoffmann: »Der Dichter am Apparat« (s. Anm. 97), S. 227. 118 Auf diese Verschränkung hat bislang, soweit ich sehe, nur Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 76), S. 249, aufmerksam gemacht: »[A]us der Verschränkung der BlickVektoren wurde ein ›Koitus‹ im Wortsinne, ein Zusammenkommen zweier anschwellender Intensitäten, das an seinem Höhepunkt den Berichtenden [. . .] seiner Zurechnungsfähigkeit enthebt.«

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Abb. 3: Giovanni Lorenzo Bernini: Die Verzückung der heiligen Teresa. © Jastrow, Wikipedia.

errötet der Soldat »am ganzen Körper« (GW II, S. 756): »Ich glaube: wie ein Mädchen, das der Herr angesehen hat.« (GW II, S. 753) Ähnlich berichtet zwar auch in der Amsel Azwei seinem Zuhörer Aeins: »In diesem Augenblick überströmte mich ein heißes Dankgefühl, und ich glaube, daß ich am ganzen Körper errötete.« (GW II, S. 557) Weitere erotische Assoziationen verbinden sich mit seinem Zustand jedoch nicht. Die Sexualisierung der Gefahr, wie sie in Ein Soldat erzählt manifest wird, in der Amsel aber nur noch latent vorhanden ist, lässt Marias jungfräuliche Empfängnis mittels akustischer Einflüsterung als Modell als nicht überzeugend erscheinen. Ein Blick auf Musils Posse Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1923) enthüllt das eigentliche Modell für diese literarische neo-mystische Beinahe-Penetration, nämlich die »vom Pfeil des Himmels getroffene heilige Therese« (GW II, S. 428), genauer gesagt: Berninis Skulptur der orgiastisch-mystischen Verzückung der heiligen Teresa von Ávila (s. Abb. 3). Diese könnte Musil bei seinen Rom-Besuchen 1910 und 1913 in der Kirche Santa Maria della Vittoria mit eigenen Augen gesehen haben. Nachweislich begegnete ihm die heilige Teresa in den Arbeiten des Berliner Psychologen Traugott Konstantin Oesterreich.119 Musil rezipierte 119 Noch ein zweites Modell kommt in Frage: der heilige Sebastian. Auch für ihn findet sich in Musils Texten ein Hinweis: »das schmale Büchergestell gegenüber, an dem Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand« (MoE, S. 56). Die übereinstimmende Richtung des ›Him-

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dessen Ich-Theorien u. a. für seinen Novellenband Vereinigungen (1911); im Nachlass finden sich Teresa von Ávila betreffende Exzerpte aus Oesterreichs Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen (1910)120 sowie Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem (1915),121 die allerdings aus den frühen 1930er Jahren stammen:122 Für Oesterreich stand die heilige Teresa für einen mystischen Zustand, der gleichermaßen von Aktivität wie Kontemplation gekennzeichnet war123 – eine Vorstellung, die in Musils Konzeption des ›anderen Zustands‹ eingehen sollte. Die »sonderbare innere Freiheit«, die für Musil »in der unbestimmten Nähe des Todes« (GW II, S. 555) blühte, ermöglichte ihm folglich in der späteren Verarbeitung seines Kriegserlebnisses eine Imagination seiner Weiblichkeitswünsche, wie sie sich auch in anderen Werken Musils, vom Törleß bis zum Mann ohne Eigenschaften, manifestieren.124 Diese Imagination wurde jedoch in der Amsel unterdrückt, und zwar, betrachtet man die unterschiedlichen Fassungen im Hinblick auf das Problem ›Literarische Kommunikation‹, vermutlich aus Gründen der Sympathielenkung: Die Figur eines Soldaten, der sich von einem feindlichen Projektil wollüstig penetrieren lassen will, läuft leichter Gefahr, beim zeitgenössischen Leser nach dem verlorenen Krieg auf Unverständnis und Ablehnung zu stoßen, als eine Figur, für die dieser Vorgang – delikat genug – ein primär mystisches Erlebnis darstellt.125 Die in diesem Fall nachweisbare Unterdrückung des sexuellen Aspekts, um die Anschlussfähigkeit des Textes beim Publikum nicht zu gefährden, bestätigt dabei zugleich Walter Fantas Beobachtung, wonach der späte Musil im Schreib-

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melspfeiles‹ von oben spricht m. E. jedoch eher für Berninis Skulptur als ikonographisches Vorbild. (Mit Dank für den Hinweis an Luigi Reitani.) Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/78–80. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/74 f. Diese Exzerpte entstanden bei der Arbeit an der Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften, Musils Oesterreich-Rezeption lässt sich jedoch bereits für 1907/08 nachweisen (vgl. KA/Transkriptionen/Heft 11/58). »Traugott Konstantin Oesterreich stellt für Musil wohl die größte Anregung für die Herausarbeitung einer auf Gefühl basierenden Ichpsychologie dar.« (Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern u. a. 1998 [= Musiliana, Bd. 4], S. 250) Zur mystischen Gefühlsspaltung, bei der zwei sich normalerweise ausschließende Zustände, Aktivität und Kontemplation, koexistieren, der heiligen Teresa und Musils Oesterreich-Rezeption vgl. ebd., S. 255 ff. Oesterreich rühmte Teresas Schriften als die »neben denen Augustins psychologisch bei weitem [. . .] wertvollsten aus der ganzen christlichen Religionsgeschichte« (Traugott Konstantin Oesterreich: Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen. Bd. 1. Leipzig 1910, S. 426). Vgl. Oesterreich: Die Phänomenologie des Ich (s. Anm. 122), S. 427. Zu Musils Weiblichkeitswünschen vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 31 f. Hier scheint mir zugleich der markanteste Gegensatz zwischen der Kriegsprosa Musils und der Ernst Jüngers zu liegen, der in In Stahlgewittern die Gefahr mit einer ›männlichen‹ Lust am Erhabenen verbindet: »Die Gefahr ist der vornehmste Augenblick seines [i. e. des Offiziers; O. P.] Berufs, da gilt es, gesteigerte Männlichkeit zu beweisen. Ehre und Ritterlichkeit erheben ihn zum Herrn der Stunde.« (Jünger: In Stahlgewittern [s. Anm. 41], S. 24) Zum Aspekt Emotionalisierung und Sympathielenkung in literarischen Kriegsdarstellungen vgl. Anz: Freunde und Feinde (s. Anm. 100), S. 346 f.

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prozess oft »das Krude, oft vordergründig Sexuelle und Gewalttätige, bloß Mimetische der Rohentwürfe in eine sublime Sphäre schillernder Vieldeutigkeit der fertigen Texte [hebt], ins subtil Erotische«126 – ein Vorgang, der frappierend an jene in Freuds Essay Der Dichter und das Phantasieren (1908) skizzierte Technik der Milderung, Verhüllung und Erzeugung einer formalästhetischen ›Vorlust‹ erinnert, mit der dem Analytiker zufolge Autoren zu verhindern suchen, ihr Publikum durch den allzu egoistischen Charakter ihrer Tagträume abzustoßen.127 Wie hatte Musil noch in Ein Soldat erzählt geschrieben: »ich war egoistisch in einem Erlebnis festgehalten, mochten die andren getroffen werden, ohne etwas davon gehabt zu haben.« (GW II, S. 753) – wenn schon nicht die Kameraden, so sollten aber doch zumindest Musils Leser etwas von diesem Erlebnis haben, und dazu mussten Musils Weiblichkeitswünsche im Fall der ›Fliegerpfeil-Episode‹ in der Amsel bis zur Unkenntlichkeit verhüllt werden.

6. Krieg und Frieden »Glücksgefühl[e]«128 sollten den Dichter auch dann noch überströmen, als er sich wenige Wochen nach seinem ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹, Ende November/Anfang Dezember 1915, während der 4. Isonzoschlacht – einer Materialschlacht vergleichbar jener an der Westfront – als taktischer Aufklärer im Trommelfeuer der italienischen Artillerie wiederfand.129 Und doch muss diese Erfahrung Musils ›Erlebnishunger‹ endlich gestillt haben: Denn erstmals bat er Martha diskret um die Adresse seines Brünner Kameraden Maximilian von Becher in der Hoffnung, dieser könne ihm zu einem Posten in der Etappe verhelfen.130 Man darf vermuten, dass der Mathematiker in ihm, der am Isonzo vor dem Einschlafen die »Wahrscheinlichkeitsquote des Aufwachens«131 zu berechnen versuchte, zu einem immer beunruhigenderen Ergebnis kam:132 Schließlich wurden während dieser Schlacht allein auf öster126 Fanta: Die Erfindung der Tonka (s. Anm. 63), S. 38. 127 Vgl. Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren [1908], in: ders.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Einleitung v. Peter Gay. Frankfurt a. M. 1993, S. 39 f. 128 KA/Transkriptionen/Heft II/8. 129 Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 545 f. Zur 4. Isonzoschlacht vgl. auch Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie (s. Anm. 96), S. 426. 130 Vgl. dazu KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Robert Musil, 1., 2. u. 7. 12. 1915. 131 KA/Transkriptionen/Heft II/6. 132 In der Amsel heißt es später: »Jeden Tag holt sie [i. e. die Gefahr; O. P.] sich ihre Opfer, einen festen Wochendurchschnitt, soundsoviel vom Hundert, und schon die Generalstabsoffiziere der Division rechnen so unpersönlich damit wie eine Versicherungsgesellschaft. Übrigens man selbst auch. Man kennt instinktiv seine Chance und fühlt sich versichert, wenn auch nicht ge-

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reichisch-ungarischer Seite zwischen 50 000 und 100 000 Mann getötet oder verwundet133 – und schließlich galt es ja auch noch, ein Werk zu schreiben. 1919 notierte der glücklich und hochdekoriert aus dem Krieg Heimgekehrte, auch er sei Pazifist, »aber«, fügte er hinzu, »nicht aus Ideologie«,134 denn die sei eine Beschränktheit.135 Dies zielte wohl auf Kriegsgegner wie Karl Kraus, dessen Pazifismus Musil an anderer Stelle als »steril« bezeichnete.136 Ein offenbar nicht-steriles pazifistisches Erlebnis hatte der Dichter selbst, als sich bei Kriegsende für kurze Zeit eine »österliche Weltstimmung« (GW II, S. 1061) in Europa verbreitete – für Musil wurde der kollektive Friedenswille Ende 1918 zum Gegenstück der anfänglichen Kriegseuphorie. Ungeachtet ihres jeweiligen Ausganges137 sah er das Wertvolle in beiden Erlebnissen in dem in ihnen wohnenden utopischen Potenzial (vgl. GW II, S. 1061): »Können Utopien plötzlich Wirklichkeit werden? / Ja. Siehe den Kriegsschluß. Beinahe wäre eine andre Welt dagewesen. Daß sie ausblieb war keine Notwendigkeit.«138 Klaus Amann hat betont, es sei eine Konstante des Musils der Nachkriegszeit gewesen, »nicht noch einmal in die Falle des Affekts tappen, nicht noch einmal jener ›Krankheit‹ von 1914 verfallen«139 zu wollen. Das stimmt – dürfte jedoch nur die halbe Wahrheit sein, erinnert man sich an Musils oben zitierte Äußerung aus den 1920er Jahren gegenüber Soma Morgenstern: »Ich bin für Krieg«, habe ihm dieser doch das ›Erlebnis des Todes‹ beschert.140

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rade unter günstigen Bedingungen. Das ist jene merkwürdige Ruhe, die man empfindet, wenn man dauernd im Feuerbereich lebt.« (GW II, S. 555) Die Angaben dazu differieren, vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 27), S. 545, sowie den Eintrag zu dieser Schlacht auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Vierte\_Isonzoschlacht (aufgerufen am 13. 6. 2016). KA/Transkriptionen/Heft 19/20. Manifestiert hat sich Musils Pazifismus, als er Ende 1918 neben Heinrich Mann, Magnus Hirschfeld, Kurt Pinthus, Annette Kolb und anderen das Programm des »Politischen Rates geistiger Arbeiter« unterzeichnete, in dem klassische sozialistische Forderungen nach Vergesellschaftung, aber auch die Beteiligung eines »Rates der Geistigen« an der Regierung gefordert wurden, sowie in seiner Mitgliedschaft in der aktivistischen Geheimgesellschaft »Katakombe« in den frühen 1920er Jahren (zusammen mit Robert Müller). KA/Transkriptionen/Heft 21/126. Zu den psychologischen Motiven von Musils Aversionen gegen pazifistische Intellektuelle nach 1918 vgl. Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 42). »Für uns sind die Friedensverträge unentschuldbarer als es die Kriegserklärungen waren. Denn der Krieg war die Katastrophe einer alten Welt, die Friedensverträge die Verhinderung der Geburt einer neuen.« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Arne Laurin, 23. 4. 1921) KA/Transkriptionen/Heft 19/22. Amann: Robert Musil – Literatur und Politik (s. Anm. 23), S. 42. Dass es mit Musils Pazifismus nicht allzu weit her gewesen sein kann, zeigt schon der Umstand, dass er wenige Monate nach seinem Bekenntnis, im September 1920, Fachbeirat im Staatsamt für Heereswesen wurde, wo er Offizieren vermittelte, wie man mittels moderner Psychotechnik selbst aus untalentierten Intellektuellen noch tüchtige Soldaten machen konnte.

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Musil war eben nicht nur deshalb ein »Ausnahmsmensch«, weil er als Dichter auf die Ausnahmen achtete, wie er in Skizze der Erkenntnis des Dichters geschrieben hatte (GW II, S. 1029); sondern auch weil er in Nietzsches Fußstapfen eine vitalistisch-eudämonistische »Ausnahmenmoral« (GW II, S. 971) vertrat, wonach Moral für den Einzelnen »etwas Abenteuerliches und Erlebnishaftes« (GW II, S. 1003) sein sollte.141 Vom Frühwerk bis zum Mann ohne Eigenschaften wird von Musil einer kantianischen Sollensethik oder anderen Formen interpersoneller Moral eine Absage erteilt: »Er könnte glücklich sein, weil er nicht tötet, oder glücklich sein, weil er tötet, aber er könnte niemals der gleichgültige Eintreiber einer an ihn gestellten Forderung sein« (MoE, S. 255), heißt es im Roman über den Protagonisten Ulrich: Das individuelle Erleben des Einzelnen, der den nicht-ratioïden »Gefühlswert«142 einer Handlung oder eines Erlebnisses evoziert, trennte nach Musil einen gewöhnlichen Liebenden von einem Franz von Assisi (vgl. GW II, S. 989 u. 1000), die ›abgeschmackte Rohheit‹ (vgl. GW II, S. 125) eines Reiting oder Beineberg von Törleß’ nicht weniger brutaler Erkenntnissuche,143 die tauben Kameraden bei Tenna vom hellhörigen Erzähler oder die ›sterile‹ Friedensliebe eines Karl Kraus von Musils eigener österlicher Weltstimmung. Hier liegt m. E. der Grund dafür, warum der Robert Musil der 20er und 30er Jahre über das Sommer- und Kriegserlebnis des Musil der Jahre 1914/15 ähnlich solidarisch urteilte wie der Erzähler seines Debütromans über die moralischen und sexuellen Verwirrungen des Zöglings Törleß.144 Und ebenso, warum er in der Amsel Azwei nach seiner Erzählung vom ›Fliegerpfeil-Erlebnis‹ bekennen lässt: »Und trotzdem, jedesmal, wenn ich mich daran erinnere, möchte ich etwas von dieser Art noch einmal deutlicher erleben.« (GW II, S. 557)145

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Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 10 Wissenschaftliche Veröffentlichungen/Wissenschaftliche Beiträge/ Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere. Vgl. Wolfgang Ranke: Leserlenkung und Moral in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Scientia Poetica 17 (2013), S. 118–149. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/118. Vgl. Oliver Pfohlmann: Kommentar, in: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Text und Kommentar. Berlin 2013 (= Suhrkamp BasisBibliothek), S. 253–257. Vgl. Honold: Die Stadt und der Krieg (s. Anm. 76), S. 210. Pointiert urteilt Joch: Helden der Biegsamkeit (s. Anm. 42): »Für Musil war der Krieg immer auch ein Selbsterfahrungs-Trip und Die Amsel das Selfie vom schönsten Tag.«

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Musils bleibende Bedeutung als Militärkritiker und Anti-Bellizist Abstract: Musil’s reprocessing of the First World War saw three approaches: 1914–1917 he was uncritical and journalistic. The second approach, critical and essayistic, began in 1918 with the sketch The End of the War and comprises his post-war essays. Starting in 1918, in the fragment »Panama«, Musil’s third approach, anti-bellicist and literary, determines the telos of The Man without Qualities. The satire on the army in the First Book (1930) revolves around the figure of Stumm. 1932/1933 designated a turning point in the discourse on war in the novel. Musil conceived the Second Book as a warning-tale. »General von Stumm on Ingeniousness« (1940) shows Musil shifting the memory of being a soldier from Ulrich to his shadow image Stumm.

1. Wer ist der Autor dieser Texte? Was suchen wir? Das Thema »Robert Musil und der Erste Weltkrieg« löst viele Fragen aus und erlaubt unterschiedliche Antworten. Historisch, biographisch und literatursoziologisch orientierte Fragestellungen richten sich auf eine Einordnung des Autors Robert Musil in das Spektrum vom Kriegsbegeisterten bis zum Pazifisten. Es geht diesen Ansätzen mitunter darum zu erkunden, wer Musil wirklich war und was er wirklich dachte, jenseits seiner Texte. Aber worin liegt der Mehrwert von solchen Untersuchungen, wenn sie den persönlichen Standpunkt von Künstler/inne/n im öffentlichen Diskurs so sensibler Fragen wie Krieg und Frieden verorten wollen und sich nicht damit begnügen können, die zu diesem Diskurs gehörende Botschaft im Kunstwerk zu dechiffrieren? »Habituelle Anpassungen eines Autors in Uniform«1 konstruiert Regina Schaunig, sich methodologisch auf Bourdieu berufend, aus biographischer Kolportage und ihrer Verklitterung mit dem literarischen Œuvre, um aus Musil einen bis in seine späten Jahre durch und durch militäraffinen »Autor im Dienst eines positivistischen Dichtungsbegriffs« zu formen; er habe »sein Werk quasi in ›Uniform‹, der Uniform eines Gelehrten, eines Beamten und Staatsdieners, geschrieben.«2 In ihrer exzessiven Weise bildet die 1 2

Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Klagenfurt, Wien 2014, S. 35. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 1), S. 41. Schaunig richtet alles im Leben und Werk Musils in die Richtung ethisch gerechtfertigter Militärtugenden zurecht: »Denn nachdem er 1920 die Uniform wieder mit seiner Zivilkleidung vertauscht hatte, adjustierte er sich wei-

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Position Schaunigs die Spitze eines Eisbergs, doch niemand, auch nicht der Verfasser dieses Beitrags,3 ist dagegen gefeit, die vermeintliche Meinung des biographischen Studienobjekts an die eigene Meinung anzupassen und ihr dabei gehörig Gewalt anzutun. Wäre es nicht an der Zeit, im Falle von Künstler/inne/n, die durch ihr Werk wirken wollen, von Meinungsbefragungen dieser Art ganz abzusehen? Auch ein Text Musils legt dies nahe, das einschlägige »Meinung«-Kapitel im Nachlass zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften. Darin untersucht Ulrich mit General Stumm von Bordwehr »den merkwürdigen Begriff der Meinung« und gelangt zur Schlussfolgerung: »Denn nicht das Urteil, sondern das Vorurteil, nicht die Wahrheit, sondern der Glaube und die Meinung, also das, was seinem Wesen nach unbedingt zum Teil falsch ist, treibt das Leben an; die Wahrheit, ja die Notwendigkeit selbst, dient nur zur Berichtigung und Regelung.«4 [W]er zum Frieden einlädt[,] muß drauf gefaßt sein, daß der Krieg kommt / Man soll den Frieden nicht an die Wand malen / [. . .] / Der Friede hat es nicht gern, daß man von ihm spricht / Was in der Liebe die Mitgift ist, ist im Frieden das Heer / Wenn man den Frieden nennt, kommt der Krieg gerennt[.]5

Was sich da zum Stichwort ›Frieden‹ in einer handschriftlichen Notiz im Nachlass Musils findet, stellt grundsätzliche Aporien des Kriegsdiskurses dar. Die Sätze hat Musil vermutlich 1934 notiert, um sie General Stumm in den Mund zu legen. In die Endfassung des Druckfahnen-Kapitels 49 des Zweiten Buchs geht davon als Verkündung des Generals ein, dass »Friedens- und Menschenliebe [. . .] nämlich in Wirklichkeit nicht so einfach«6 seien. Die Basis für meine Untersuchung bildet die Annahme, dass Robert Musil in seinem literarischen Werk, allem voran im Mann ohne Eigenschaften, den Kriegsdiskurs seiner Zeit inszeniert. Die literarischen Inszenierungen aus ihrer intertextuellen und textgenetischen Herkunft zu verstehen, ist das eine Ziel. Davon getrennt zu sehen ist das zweite Untersuchungsgebiet, die Stimme des Autors im Diskurs. Aus Sicht der Diskursanalyse zerfällt die Stimme des Autors in eine Tiefen- und Oberflächenstruktur, die gedanklichen Bausteine, in unveröffentlichten Texten im Nachlass aufbewahrt, und die essayistische oder

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terhin auffallend korrekt, nämlich mit weißem Hemd, Schlips und Sakko.« (S. 40) Schaunig verwendet nicht beweisbare Erinnerungen von Zeitgenossen an Robert Musil und vermischt sie methodologisch ungeniert mit dem »Lebensstil des Protagonisten des Mann ohne Eigenschaften« (S. 42), ohne sich darum zu kümmern, dass Ulrich schon am Ende von Kapitel 9 des Mann ohne Eigenschaften aus tiefstem Empfinden für alle Zeiten »Abschied von dieser undankbaren Laufbahn« (KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/54) genommen hat. Das Bildnis des k. u. k. Generalmajors Julius Fanta hängt mir bei meiner beruflichen Schreibarbeit im Rücken, aus Abschreckungsgründen; ich möchte ganz und gar nicht so enden wie er, mir ist das Militärische ekelhaft – und wichtig, dies eingangs offenzulegen. KA/Transkriptionen/Mappe V/3/136. KA/Transkriptionen/Mappe II/3/102. KA/Lesetexte/Bd. 3 MoE/Zwischenfortsetzung 1937–1939/Druckfahnen-Kapitel/49. General Stumm läßt eine Bombe fallen. Weltfriedenskongreß.

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literarische Inszenierung im ausgestalteten, veröffentlichten Text. Einige wesentliche Stationen bei der Ausformung von Musils Kriegsdiskurs sollen in diesem Beitrag exemplarisch beleuchtet werden, dem Autor bei der Ausformulierung quasi über die Schulter blickend, den Status der Texte genau beachtend, ob literarisch oder publizistisch, unveröffentlicht, anonym veröffentlicht oder namentlich gekennzeichnet. Wir hüten uns vor Vereinfachung und Verwechslung der Funktion von Literatur mit der eingebildeten Rolle des Autors als eines weltanschaulichen Predigers. Als müsse Musils Roman, der die geistigen Wurzeln freilegt, wie es zum großen europäischen Krieg 1914–1918 gekommen sei, so sein Anspruch in den Worten des Autors, eine ideologisch geprägte einfache Botschaft enthalten. Die Erwartung zeugt von einem falschen Verständnis von der schriftstellerischen Aufgabe, wie es Musil in seiner Paris-Rede 1935 formuliert hat: Ich habe mich zeitlebens der Politik ferngehalten, weil ich kein Talent für sie spüre. Den Einwand, daß sie jeden für sich anfordere, weil sie etwas sei, das jeden angehe, vermag ich nicht zu verstehen. Auch die Hygiene geht jeden an, und doch habe ich mich niemals über sie öffentlich geäußert, weil ich zum Hygieniker ebenso wenig Talent verspüre wie zum Wirtschaftsführer oder zum Geologen.7

Im lebenslangen intellektuellen und kreativen Prozess Robert Musils, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 zu verarbeiten, erkenne ich mehrere Abschnitte und Ansätze. Die erste Phase von 1914 bis 1917 betrifft den unkritisch-publizistischen Ansatz. Der zweite, der kritisch-essayistische Ansatz, beginnt Anfang 1918 mit dem Essay-Entwurf Das Ende des Kriegs und umfasst die Nachkriegsessays, die Formulierung des ›Theorems der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, aber auch als Residuum die Psychotechnik. Der dritte, der antibellizistisch-literarische Ansatz geht 1918 vom Dramenfragment »Panama« aus und bestimmt das Telos des Romanprojekts, wie im Fontana-Interview formuliert, wo ja nicht nur gesagt wird: »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige«, sondern auch: Ich schildere da eine große Sitzung, aber keiner von beiden erhält das Geld, das zu vergeben ist, sondern ein General, Vertreter des Kriegsministeriums, das ohne Einladung einen Delegierten entsandte. Das Geld wird für Rüstungen aufgewandt. Was gar nicht so dumm ist, wie man gewöhnlich glaubt, weil alles Gescheite sich gegenseitig aufhebt.8

Die Stimme, die in diesem Interview im April 1926 spricht, ist die tatsächliche Stimme des Autors. Er gibt sein Programm bekannt. Der Kriegsausbruch als Telos des Romans wird fixiert. Aber wichtiger noch: Die Funktion des Militärs, im Romanplot zentral angelegt, verweist auf grundsätzliche Aporien 7 8

KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/89. KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil.

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der militärischen Gewalt. Warum ist es nicht so dumm, wie man gewöhnlich glaubt, das Geld für Rüstungen aufzuwenden? Um schon in den 1920er Jahren ein Gleichgewicht der Abschreckung zu erzeugen? Oder liegt im gegenseitigen Aufheben von allem Gescheiten bereits die »konstruktive Ironie«9 dessen, der über seinen Text nicht mehr verfügt, weil das Gespenstische, das um den Schreibenden geschieht und geschehen wird, den Gewaltausbruch von 1914 permanent wiederholt: »Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistige Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.«10 Damit macht Musil deutlich, worum es ihm zu tun ist, die Verwandlung des geschichtlich Geschehenen in »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt«, in einem künstlerisch ausgestalteten (»Stil ist für mich exakte Herausarbeitung eines Gedankens«) Beitrag zum Diskurs über militärische Gewalt.

2. Das Ende des Kriegs – essayistische Grundlegung Zwischen den Brückenköpfen diesseits und jenseits des reißenden Flusses Erster Weltkrieg, die mit Beiträgen Musils zum Kriegsdiskurs markiert sind, dem militanten, aber in seinem Pathos auch schon die Grenzen der Militanz aufzeigenden11 Europäertum-Aufsatz von 1914 und eindeutig friedenspolitischen Statements in der Nachkriegsessayistik, ragt ein Text wie ein freistehender Pfeiler heraus. Den unfertigen, titellosen Entwurf im Nachlass,12 von Frisé und in der Klagenfurter Ausgabe unter Das Ende des Kriegs ediert, wird Musil Anfang 1918 verfasst haben. Der Aufsatz verarbeitet politische Informationen, die nach der Ankunft in Wien zugänglich waren, möglicherweise sollte er in der von Musil für das Kriegspressequartier in Wien herausgegebenen Zeitschrift Heimat publiziert werden. Anders als die Veröffentlichungen dort spannt der Text jedoch einen freien Reflexionsraum auf; er schafft die Grundlage für Musils essayistisches Schreiben über den Krieg. In Verbindung mit gedanklichen Versatzstücken in Heftnotizen zu den aktuellen Romanpro9 10 11

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KA/Transkriptionen/Mappe II/1/65. KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Vgl. Renate Schröder-Werle: Europa auf der Affeninsel? Musils Beitrag zur Identitätsproblematik, in: Marie-Louise Roth (Hg.): Literatur im Kontext Robert Musil/Littérature dans le contexte de Robert Musil. Bern u. a. 1999 (= Musiliana, Bd. 6), S. 345–366. Schröder-Werles Text erklärt, wie »Musils kleiner Essay von radikaler Ehrlichkeit« den Autor »im Kern getroffen und seltsam hilflos« zeigt, wie der »dargestellte Verlust des inneren Gleichgewichts [. . .] ein Vakuum entstehen« lässt, es gehe »dabei um einen Identitätswandel mit Folgen für Leben und Tod« (S. 352). Es existieren zwei Fassungen: die annotierte Blaustiftfassung (KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/93–98) und ein Durchschlag (KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/492–497).

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jekten sind im Essayentwurf von 1918 die Kerngedanken der Essays des Jahre 1919 bis 1922 bereits ausgebildet: a) Der Kriegsausbruch wird nicht als einmaliges Ereignis gesehen, sondern als wiederholbare Situation erkannt. Die Situation ist eindeutig als Krise interpretiert, Musil grenzt sie allerdings von der Vorstellung eines allgemein fortschreitenden Werte-Zerfalls, dem kulturhistorischen Pessimismus, der sich in der Nachkriegszeit breit macht, ab. Nicht ein Verfallsprozess, sondern ein Umschlagen omnipräsenter latenter Gewalt liegt der Krise zugrunde, die mehr und mehr als »stationärer Zustand«13 erscheint, indem sich nach Kriegsende herausstellt, dass die Elemente bestehen bleiben: »Alles, was sich im Krieg und nach dem Krieg gezeigt hat, war schon vorher da«.14 b) Über die Wurzel des Phänomens, »die Massenseele«, glaubt Musil 1918 erst »sehr unsichere Annahmen«15 machen zu können. Unter Ablehnung sozial-ökonomischer Kausalitäten entwickelt er aus dem Ansatz von 1918 in den folgenden Jahren mit seinem ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ allerdings einen anthropologischen, massenpsychologischen Erklärungsversuch. In ihm formuliert er, dass »der Mensch ethisch etwas nahezu Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges ist; Gutes und Böses schlagen bei ihm gleich weit aus, wie die Zeiger einer empfindlichen Waage«.16 Auch in dem Aufsatz Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) findet sich später eine Formulierung dafür, was der Krieg mit dem Menschen macht: »[W]ir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch eigentlich nichts erlebt.«17 Klaus Amann streicht in seiner Studie über die Bedeutung des ›Theorems‹ heraus: »In seiner offenen Struktur wirkt das ›Theorem‹ wie eine Versuchsanordnung. Sie fungiert zum einen als Apparat zur Schärfung der Wahrnehmung in psychologischer, sozialer und politischer Hinsicht und sie bereichert zum anderen Musils literarische Darstellungsmöglichkeiten.«18 Das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ erfüllt die Funktion einer Brücke zwischen Musils Kriegsausbruchserfahrung, ihrer intellektuellen Verarbeitung, die mit dem Aufsatzfragment von 1918 beginnt, und ihrer literarischen Ausgestaltung im Romanprojekt. c) Gegen die Vorstellung von geschichtlicher Zwangsläufigkeit entwickelt er das Konzept des Möglichkeitssinns, dessen Kontur sich in der Friedensperspektive von der »Auflösung des Staats in einer europäischen oder Welt13 14 15 16 17 18

KA/Transkriptionen/Heft 35/19. KA/Transkriptionen/Heft 8/4. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/495. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit/1245 f. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Das hilflose Europa/217. Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 237–254, hier S. 246.

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gemeinschaft«19 im Manuskript von 1918 abzeichnet. Wesentlich wird die Unterscheidung einer Tiefen- und einer Oberflächenstruktur der Geschichte. Kapitalismus und Nationalismus gehören der Oberfläche an, es gilt zu »beweisen, daß die Geschichte ideelle Triebkräfte hat«.20 d) Der Krieg erscheint als »religiöses Erlebnis«21 und Erlösung, als das »Hinzutreten einer neuen Kraft«,22 eine mystische Seinserweiterung – »Mensch verschmolz mit Mensch« – und kollektive Ekstase. Doch schon in den Formulierungen von 1918 wird diese »Revolution als Ende einer gestockten Evolution« als fragwürdig ausgewiesen: im »Rausch des Abenteuers« »verschmolz [. . .] Unklarheit mit Unklarheit«.23 Vom vorübergehenden Eintritt der europäischen Gesellschaft in einen Zustand kollektiver Ekstase im Sommer 1914 zieht Musil schon bald eine Verbindungslinie zur Erfahrung des bis dahin als Steigerung individueller Sensitivität notierten ›anderen Zustands‹. Dass der ›andere Zustand‹ zur ästhetischen Kategorie wird, die Anregungen aus dem Film bezieht, ist nachgewiesen worden.24 Musils Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) ruhen, wie in der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg jede Ästhetik, im Kriegserleben; von dessen vordergründiger Ästhetisierung nimmt Musil jedoch Abstand; er bekennt sich zu einem ästhetischen Gegenkanon, der die scharfen Ränder und Schatten der Massenpsychose ins Zentrum rückt. e) Die Verbindungslinie zwischen Krieg und Eros ist im Entwurf von 1918 erst angedeutet, indem die Mobilisierungshysterie als »Leidenschaft«, »Erregungszustand« und das »Familienleben zum Gähnen«25 beschrieben wird. Aus den Andeutungen setzt Musils Vorstellungskraft später zu einem unausgeführt gebliebenen Modell ekstatischer Kollektiverotik an. In Verwandtschaft damit steht der Konnex von Krieg und Wahn, obwohl die Annahme, dass die Massenseele »einem gewissen zirkulären Irrewerden unterworfen sei«, noch als »sehr unsicher«26 bezeichnet wird. Auch diesen Gedankengang führt Musil später bei der Arbeit am Mann ohne Eigenschaften weiter. f) Musil kommt nicht als vorbehaltloser Pazifist aus dem Krieg. Auffallend ist der kritische Ton gegenüber dem Pazifismus in dem Aufsatzentwurf. Der Krieg »begeisterte mit wenigen (durchaus nicht durchwegs besseren) Ausnahmen alle«.27 Dass diejenigen, welche sich von der Kriegsbegeisterung nicht haben anstecken lassen, nicht besser gewesen seien, wird zu einem 19 20 21 22 23 24 25 26 27

KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/493. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/95a. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/496. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/495. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/496. Vgl. Arno Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des »Bildes« bei Robert Musil. Wien u. a. 1996 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 40), S. 37–60. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/496. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/496. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/494.

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weiteren Markstein der Kriegsreflexion Musils. »Ich bin Pazifist, aber nicht dumm«28 und »nicht aus Ideologie, denn das ist eine Beschränktheit«.29 Daraus resultiert die Satire auf den Pazifismus, seine Repräsentanten und Institutionen im Mann ohne Eigenschaften. Es macht aber auch das persönliche Verhaftetsein des Autors deutlich, eines Nicht-Pazifisten der ersten Stunde. Der Kriegsausbruch, ein persönliches Erweckungserlebnis, und die Erfahrungen im Krieg haben den bis dato unpolitischen jungen Musil politisiert. Im Schreiben darüber geht es Musil nicht um die Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie oder sozialphilosophischen Position, sondern um die Verarbeitung einer Erfahrung zu Literatur. Trotz aller Theoreme bleibt die Mobilisierung von 1914 ein persönliches Erlebnis, in dem sich ein Entfremdungs- und Sinnlosigkeitsgefühl plötzlich und in elementarer Weise aufgehoben hat, um dann erneut umzuschlagen und in Desillusionierung zu münden. Vielleicht mehr als die aktive Kriegsteilnahme 1915–1917 hat das Sommererlebnis von 1914, vorerst noch im Untergrund wirkend, die Zerstörung eines rationalistisch geprägten Urvertrauens in die Welt mit sich gebracht: »Mit einem Mal war die Gewalt da und hat die Menschheit seitdem nicht mehr verlassen«, äußert Musil noch 1934 in seiner Rede vor dem Schutzverband deutscher Schriftsteller: »Was man europäische Kultur nannte, hatte plötzlich einen Riß erhalten.«30 Die Empfindung des plötzlichen Umschlags bleibt Ausdruck persönlicher Betroffenheit, wenn sie auch nach dem Krieg, zuerst in den Essays, dann im Roman, soziologisch orientierter Analyse und Systemkritik unterworfen wird. Im Zug einer persönlichen Trauerarbeit am Sommererlebnis 1914, als welche die Arbeit am Roman auch betrachtet werden kann, wird der Blick auf das Ereignis und das Ich immer kritischer, immer distanzierter. In der zeitlich parallel geführten Arbeit an den Essays gelingt der Schritt zur Theoriebildung mit dem ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, wobei die Essays den Roman in dieser Phase an gedanklicher Schärfe überholen und zu seiner Voraussetzung werden.

3. Der Wolf schlüpft in den Schafspelz – Verwandlung in den Antikriegsdichter Einen der Ausgangspunkte für die literarische Kriegsverarbeitung Musils stellt gewiss seine Tätigkeit als leitender Redakteur der (Tiroler) SoldatenZeitung 1916–1917 und der Zeitschrift Heimat 1918 dar. Regina Schaunigs Behauptung einer Kontinuität zwischen den angeblich von Musil verfassten Soldaten-Zeitung-Texten und seinem literarischen Œuvre erscheint als 28 29 30

KA/Transkriptionen/Mappe I/6/122. KA/Transkriptionen/Heft 19/20. KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/44.

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zu voreilig und allzu sehr (von Musils militäraffinem Pro-Kriegs-Habitus) voreingenommen.31 Das Plädoyer »dafür, dass auch Musils im Soldatenrock entstandene Texte, auch wenn es sich dabei in der Mehrzahl um tendenziöse Zeitungsartikel handelt, im Image des Dichters besser verankert zu werden verdienen«,32 lässt sich qua Edition33 und Interpretation schwer einlösen. Die Texte der Soldaten-Zeitung, die Musil als Offizier der österreichischungarischen Armee redigierte, offenbaren jede Menge vaterländische Gesinnung, Demagogie gegen den Feind, Verurteilung von Defätismus, Anpreisung soldatischen Heldentums usw. Doch können diese namentlich nicht gekennzeichneten Texte mit wenigen Ausnahmen kaum eindeutig Musil als Autor zugewiesen werden. Die bisherigen Zuordnungsbemühungen sind letztlich kläglich gescheitert, wie die Herausgeberin der jüngst erschienenen Auswahl indirekt selbst einräumt.34 Es steht zu bezweifeln, ob stil-vergleichende Untersuchungen mit den Methoden der forensischen Linguistik je eindeutig und endgültig Klärung erbringen können. Jenseits der Frage, ob es einen Individualstil denn überhaupt gibt,35 müssten die Spezifika von 31

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Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 1), S. 14: »Die Eingangsthese lautet, dass die politischen und feuilletonistischen Beiträge der von Musil herausgegebenen Soldatenzeitungen und das damals ›gesetzgebende‹ militärisch-redaktionelle Umfeld für seine moralische und pragmatisch-pädagogische Haltung als Schriftsteller von nachhaltiger Bedeutung waren und wesentlich zum Verständnis des Gesamtwerkes beitragen können.« Vgl. im Unterschied dazu die differenzierende, auf historische und institutionelle Kontexte bezogene Analyse von Harald Gschwandtner: Dienst und Autorschaft im Krieg. Robert Musil als Redakteur der Zeitschrift Heimat, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 101–124. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 1), S. 34. Die nicht mehr zur Veröffentlichung freigegebene Update-Version 2015 der Klagenfurter Ausgabe enthält zu Musils Kriegspublizistik im Lesetext nur mehr jeweils zwei »Musil sicher zugeschriebene Beiträge« in der Soldaten-Zeitung und in der Heimat. Im Apparat befindet sich eine von Regina Schaunig zusammengestellte »Textauswahl« (durchsuchbarer Text) und ein »Gesamtverzeichnis unsignierter Beiträge der Soldaten-Zeitung unter Musils redaktioneller Verantwortung« (einschließlich sämtlicher Faksimiles als elektronische Bilddateien). Auf der Internetseite der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft befindet sich quasi als Appendix ein Verzeichnis der Beiträge, »die bisher Musil zugeordnet wurden« (vgl. http://www. musilgesellschaft.at/texte/musilforum\%20online/Soldatenzeitung-Tabellen.pdf). Vgl. auch Regina Schaunig: Viribus unitis. Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität, in: MusilForum 31 (2009/2010), S. 202–223. Die editorische Situation kann ohne Zweifel nur als höchst unbefriedigend bezeichnet werden, sie zeigt indes an, wie weit von einer Lösung entfernt die Status-Diskussion um die Soldatenzeitungstexte sich selbst in forschungsmethodologischer Hinsicht noch befindet. Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 1), S. 96 f.: »Von der Notwendigkeit editorischer Entscheidungen und der Annahme ausgehend, dass beim Versuch, Musils Kriegspublizistik zu identifizieren, in jedem Fall eine Grauzone niemals eindeutig zuschreibbarer Texte bestehen bleiben wird, entschied sich die Verfasserin des vorliegenden Buches daher dazu, von der bisherigen punktuellen Auswahl zunächst einmal abzusehen und ohne editorische Vorentscheidungen das Gesamtkorpus der Zeitungsartikel zu untersuchen.« (Hervorhebung W. F.) Vgl. dazu etwa Christian Grimm: Zum Mythos Individualstil. Mikrostilistische Untersuchungen zu Thomas Mann. Würzburg 1991 (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 6).

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Musils Schreiben – die Verfahren permanenten Umschreibens, die auf jeder Elaborationsstufe jeweils Texte höchst unterschiedlicher Qualität, also viele Stile Musils, hervorbringen – genauso in Rechnung gestellt werden wie die Produktionsabläufe in der Bozener Redaktionsstube. Welche Quellen, welche Hilfskräfte standen Musil zur Verfügung und wie setzte er sie ein? Und kann die Position eines verantwortlichen, aber dienstzugeteilten Offizier-Chefredakteurs in einem Organ der Militärpublizistik mit der Rolle eines freien Autors gleichgesetzt werden? Vielleicht hilft Michel Foucaults Ausdifferenzierung von Autorschaftsfunktionen wie Schriftsteller, Verfasser, Schreiber beim Finden einer methodologischen Basis für die Bestimmung der Stellung dieser Texte im Kriegsdiskurs des Autors Musil.36 Die Kluft zwischen der keinen Autornamen37 tragenden Soldaten-Zeitung-Prosa (sowie der ähnlich gearteten der Zeitschrift Heimat, für die Musil 1918 im Auftrag des Kriegspressequartiers in Wien verantwortlich zeichnete) und den fast gleichzeitig mit der Übernahme der Herausgeberschaft der Heimat einsetzenden kriegskritischen literarischen Ansätzen Musils von 1918/1919 erlaubt die Spekulation nicht, dass sich hier einer vom bellizistischen Saulus zum pazifistischen Paulus gewandelt habe. Es kann zu gefährlichen hermeneutischen Zirkel-/Fehlschlüssen führen, Musil der Autorschaft von Texten mit stilistisch-thematischen Argumenten zu verdächtigen, die er nicht mit seinem Autornamen zeichnete, für die er bloß redaktionelle Verantwortung hatte, und zugleich Verwandlungsreichtum, Spiel mit Doppelexistenzen38 und »Schizophrenie«39 festzustellen. Dennoch sagen die Soldaten-Zeitungund Heimat-Texte wohl etwas über die literarische Entwicklung des Autors Musils aus, und sie haben seine Stimme im literarischen Diskurs zu Krieg oder Frieden mitgeformt. Als Musil sich 1918 an die Planung eines in großen epischen Zirkelbewegungen Vorkrieg, Kriegsausbruch, Krieg und Kriegsfolgen umfassenden Zeitromanzyklus macht, hält er einiges an Notizen, Entwürfen und Vorarbeiten für Bilder aus dem Krieg bereit, nicht zuletzt den eindeutig ihm zuzuschrei36 37

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Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2001, S. 1003–1041, hier S. 1012–1015. Man beachte die Bedeutung des Autornamens für den Diskurs bei Foucault: Was ist ein Autor (s. Anm. 36), S. 1013, »die paradoxe Besonderheit des Autornamens«. Den Aspekt der namentlichen Kennzeichnung als Vorsichtsmaßnahme der Autorisierung im sensiblen Kriegsdiskurs berücksichtigt auch Regina Schaunig bei ihrer Argumentation, vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 1), S. 112 f. Vgl. dazu Gschwandtner: Dienst und Autorschaft (s. Anm. 31), S. 117–119. Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 1), S. 71 f., 76 u. 112. Vgl. ebd., S. 76: »Und über all seinen literarisch-ästhetischen Metamorphosen bewahrt er sich seine moralisch ›uniformierte‹ Haltung.« Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 581: »Musil praktizierte in jenem letzten Kriegsjahr eine bemerkenswerte Schizophrenie: die Aufspaltung in den willfährigen Durchhalte-Journalisten und in den Schriftsteller, der an die Vorstellungen der Friedensjahre anknüpfte und Zugeständnisse an den Geist der Zeit ablehnte.«

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benden Soldaten-Zeitung-Text Aus der Geschichte eines Regiments,40 eine mit Texten Ernst Jüngers aus dieser Zeit vergleichbare Kriegsschilderung.41 Wie sich Musil die Kriegsdarstellung im Roman denkt, geht aus zwei Exposés hervor: Das erste von 1918 steht unter dem Titel »Die doppelte Bekehrung«.42 Es sind zwei Teile vorgesehen, in »Der Anarchist« soll die Vorkriegsepoche dargestellt werden, in »Panama« der Krieg. Unter dem Titel »Panama« bzw. »Der kleine Napoleon« liegt ein Dramenentwurf im Nachlass,43 der die Desillusioniertheit und Korruption im Kriegsalltag in der Etappe mit dem Frontdasein am italienischen Kriegsschauplatz konfrontiert. Der Titel »Die doppelte Bekehrung« bezieht sich allem Anschein nach auf eine zweifache Neuorientierung des Protagonisten: erst »Einlenken des Anarchisten in das Gemeinsame« bei Kriegsausbruch, dann angesichts der desillusionierenden Erfahrungen im Krieg »degoût. Rückbildung in den Anarchisten«44 bis zum Kriegsende. In den späteren Projekten werden die teleologischen Verhältnisse umgedreht, der Roman spielt im Vorkrieg und der Krieg bildet das Telos. Darin äußert sich der schrittweise Wandel vom »autobiographisch-dokumentarischen Charakter des Kriegsthemas hin zur umfassenden Nutzung als Telos für die Geschehnisse der Vorkriegszeit im Mann ohne Eigenschaften«.45 Im zweiten Exposé »Spion II« (1920) ist der geplante zweite Romanteil umrissen.46 Auch »Der Spion« soll zur Hälfte noch im Krieg spielen; Idyllen der Stationierung im Dolomitengebiet sind ebenso noch eingeplant wie Bozen, der Schauplatz von »Panama« (leitet sich vom internationales Aufsehen erregenden Skandal beim Bau des Panama-Kanals 1892–1897 her). Musils »Panama«-Projekt im Zusammenhang mit der Tätigkeit als leitender Redakteur der Soldaten-Zeitung entwickelt eine Perspektive von zwei Seiten des Kriegs. Musil verhält sich selbst in seiner Redakteurstätigkeit prinzipiell loyal und patriotisch; er kommt seiner Aufgabe nach, mit der Soldaten-Zeitung die Kampfmoral der Frontsoldaten zu stärken. Dem Heroismus der Männer an der Front wird in der Soldaten-Zeitung und im Dramenentwurf die korrupte Existenz in der Etappe kritisch gegenübergestellt. Diesen Eindruck ergibt etwa ein Vergleich der ersten Szene des Dramenentwurfs beim Chef der Operationskanzlei, wo ein Proviantoffizier mit dem sprechenden Namen Coitkovic um eine Gefälligkeit bittet und sie »selbstverständlich« erhält, 40

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Vgl. eine kritische Würdigung der literarischen Qualitäten dieses Texts bei Corino: Robert Musil (s. Anm. 39), S. 561, als »in manchen Hinsichten das Extremste, was Musil an Kriegsprosa geliefert hat«. Vgl. Paul Zöchbauer: Der Krieg in den Essays und Tagebüchern Robert Musils. Stuttgart 1996 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 316), S. 21. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/52 f. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe III/1/6–45. KA/Transkriptionen/Heft II/53. Zöchbauer: Der Krieg in den Essays (s. Anm. 41), S. 124. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 8/20.

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was mit »Panamistisch – Gegensatz gegen die Front«47 glossiert wird, mit der folgenden Frontszene »Kaverne. Trommelfeuer«.48 In den Armeestab sind Geschäftsgeist, Kriegsgewinnlertum und politisches Machtstreben eingedrungen – und Frauen! Marietta, die zentrale Frauenfigur im Dramenentwurf, taucht im Armeekommando auf, gewinnt Macht über die Offiziere, indem sie ihnen Versprechungen macht und sie hinhält, wird vergewaltigt, rächt sich aber mit einem Mord.49 Sie ist die »einzige, welche explodieren will, ohne alle Ausreden [. . .], das sind die Gründe des Kriegs«,50 und wird zur eigentlichen Exponentin von Zusammenbruch und Chaos. Die Figur erscheint als zeittypische Männerfantasie im Sinne von Theweleits roter Hure51 und des Femme-fatale-Typs im Nachkriegstheater etwa eines Arnolt Bronnen.52 An ihr wird deutlich, wie Kriegstraumata vom unverwirklichten wahren Soldatentum zu kollektiven erotischen Projektionen führen, an die Musils Entwürfe anschließen. Die von Regierungsseite geduldete Kritik in der Soldaten-Zeitung an den Missständen in der Etappe und ihre satirische Behandlung im unter Verschluss gehaltenen »Panama«-Entwurf antizipieren die Welt des »Seinesgleichen geschieht« mit ihrem falschen Prinzip des »Gewährenlassens« im späteren Mann ohne Eigenschaften. Dem steht die blutige, ernste und authentische Front-Erfahrung, etwa in der »Kavernen«-Szene, als ›anderer Zustand‹ im Sinne der Terminologie der Romanarbeit gegenüber. Im Grunde liefert Musils Antagonismus von ehrlich-schönem Krieg und bürokratischem Filz im Hintergrund eine Variante des Dolchstoß-Mythos, wobei der schöne Krieg bei ihm augenblickshafte Erfahrung oder mehr eine utopische Idee, eine Sehnsucht bleibt, denn zur beschreibbaren Wirklichkeit wird. Nach der momenthaft aufgetauchten und wieder in sich zusammengefallenen Ekstase des August 1914 ist »Panama« das zweite Desaster, der negative Abdruck der ständig gesuchten, stets sich verflüchtigenden ekstatischen Kriegserfahrung. Anders als jüngere Offizierskollegen wie Ernst Jünger, Ludwig Renn oder Arnold Zweig schreibt Musil den großen Kriegsroman nicht, den er 1918 noch im Visier hat. Er verabschiedet sich in seinen Werkfantasien bereits im zweiten Nachkriegsjahr von der Möglichkeit direkter Kriegsdarstellung. Der Entschluss bereitet sich 1920 in einer Hefteintragung vor.53 Das Vorhaben schließt die Fortführung des Vorkriegs- in einem Kriegs- und Nachkriegsroman nicht aus, ist es doch für die »Zwanzig Romane« notiert, wo »Panama« (Krieg) und »Die Katakombe« (Nachkrieg) noch enthalten sind. 47 48 49 50 51 52 53

KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/8. KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/16. KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/44. KA/Transkriptionen/Mappe III/1,2/43. Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt a. M. 1977, S. 88. Vgl. Friedbert Aspetsberger: ›arnolt bronnen‹. Biographie. Wien 1995, S. 328–354. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 8/4.

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Die Grundidee des »Spion«-Projekts, die Vorkriegsepoche aus der Perspektive des Zusammenbruchs zu zeigen, ist jedoch schon gefunden. 1923 gibt Musil den Plan der Fortsetzungsromane auf, er konzentriert sich nun auf die Vorkriegsdarstellung. Fortan ist Musil bei der Entfaltung seiner Zeitschilderung der Monate vor dem Kriegsausbruch darauf konzentriert, den Krieg im Frieden zu zeigen. Der Krieg ist als Endpunkt der Entwicklung vorgesehen, der in der Erzählung zuerst in Unsichtbarkeit gehüllt werden soll. Eine frühe Notiz bringt 1920 den »Unernst des Krieges« auf skurrile Weise zum Ausdruck: »Achilles hat zuhause aus Spaß in einem eigenen Reisekorb einen kompletten, sorgfältig ausstaffierten Kriegsmenschen liegen.«54 Was sagen die Planungsnotizen weiter? Erst wird man sich in den Kreisen der Patriotischen Aktion mit Gedanken an einen Krieg »lächerlich« machen.55 Er gilt dort als Anachronismus, personifiziert durch den wenig in Diotimas Salon passenden Rittmeister Horn, aus dem in der endgültigen Fassung General Stumm von Bordwehr wird.56 Eben aus den falschen Kundgebungen der Friedensliebe wird der Krieg emergieren. »Nichts ist so gefährlich wie das unsachliche Reden vom Frieden. Jedesmal entsteht ein Krieg daraus«.57 Die »Zähmung des Kriegspferdes«58 wird die verborgene, jedoch einzige Aktivität der Parallelaktion sein. Der Kriegsausbruch ist zu der Zeit im Denken Musils längst als ein Umschlagen struktureller Gewaltverhältnisse, die bereits in der Friedenszeit herrschen, erkannt und der Krieg als solcher als manifest gewordene kollektive Gewalt negativ stigmatisiert. Die folgende Romannotiz verbildlicht das Prinzip in exemplarischer Weise: Nur das Mittel erleben. Anders sah Diotima oder eine andre auf der Schnepfenjagd hinter dem angeschossenen Tier in den Wald brechen, mit gebogenen Knien unter den Zweigen danach haschen und dann mit einem ängstlichen Ausdruck der Grausamkeit dem Tier unter den Flügeln den Brustkasten eindrücken. Das Symbol der absoluten Konzentration auf den Zweck erfaßte ihn (es ist das gleiche wie das Schießen mit dem Zielgewehr auf dem Cadin). Er lief ihr nach, faßte sie bei der Hand und zerrte sie tiefer in den Wald. Sie waren bös. Sie stand vor ihm mit Gewehr und Vogel in der Hand wie ein Schuljunge. In einem grotesken Aufzug, mit Hosen, die hinten etwas hingen. Sie erwartete, er erwartete, daß er ihr eine Ohrfeige gebe. Die Situation schien es zu fordern, oder weil sie bös waren. Aber es geschah nichts und sie gingen langsam und grollend zurück. (Vor dem Krieg kann man nicht schlagen.) Am Rand des Waldes gaben sie sich beide einen Ruck und richteten sich für die andern her, woraus sie noch einmal erkannten, daß etwas vorgefallen war und nicht war.59

54 55 56 57 58 59

KA/Transkriptionen/Heft 8/11. KA/Transkriptionen/Mappe II/3/94. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/1/243. KA/Transkriptionen/Mappe II/7/32 u. II/9/68. KA/Transkriptionen/Heft II/7/84 f. KA/Transkriptionen/Mappe I/6/77.

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Musils Stimme bleibt im aufgeregten literarischen (Anti-)Kriegsdiskurs der 1920er Jahre weitestgehend ungehört. Sein Wirken als psychologischer Fachbeirat im Heeresministerium zugunsten des österreichischen Bundesheeres ist zwar verbürgt, 1922 wurde der Vortrag Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere in den Militärwissenschaftlichen und Technischen Mitteilungen auch unter seinem Namen veröffentlicht, doch ist diese flüchtig zusammengeschriebene Publikation des seine Heeresbeamtenstellung für die Schriftsteller- und Kritikertätigkeit arg missbrauchenden Musil außer vielleicht in Fachkreisen wohl von niemandem bemerkt worden. Inhaltlich stellt die Psychotechnik-Einlassung eine ziemlich zynische Umsetzung des ›Theorems der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ dar; immerhin beschreibt der Autor die Psychotechnik an einer Stelle »wohl richtiger [als] PsychoÖkonomie« bzw. »die planvolle Bewirtschaftung menschlicher Kräfte«,60 die das »menschliche Material«61 zu Kampfmaschinen formt. Einen offenbar symptomatischen Widerspruch dazu stellt die Glosse Kriegsdämmerung dar, 1925 in Franz Bleis Zeitschrift Roland anonym veröffentlicht. In ihr wird die Forderung nach der Abschaffung des österreichischen Bundesheeres mit vehementen pazifistischen Argumenten vorgetragen. Schaffte Österreich seine Armee ab, wäre es vor dem Einfall eines Einfalls feindlicher Truppen sicherer als wenn es dagegen eine Wehr parat hält. Denn dadurch wird es ein »militärischer Gegner«. Mit guten Gründen, und nur solche gibt es, könnte es seine militärische und kriegerische Kompetenz durch die Auflösung seiner Armee ablehnen und damit ein vortreffliches Beispiel der Abrüstung geben, von der man immer nur redet. Das Beispiel könnte ansteckend wirken. Vielleicht auch auf Deutschland. Will man den Frieden, so muß man etwas tun, nicht nur darüber konferenzieren. Es gibt kein radikales Mittel gegen den Krieg. Weil es kein radikales Mittel gegen die Dummheit, Phantasie und Bestialität des Menschen gibt.62

Fast symptomatisch scheint die Tatsache, dass gerade dieser Beitrag nicht namentlich gekennzeichnet ist.63 Dies entspricht Musils Intention, in diesem Diskurs nicht mit der eigenen Stimme zu sprechen, sondern sich darauf zu konzentrieren, ihn als Dichter literarisch zu inszenieren, hintergründig, zurückhaltend, zurücknehmend. Die boshafte Militär-Satire »Panama« blieb 60 61 62 63

KA/Transkriptionen/Mappe VII/7/83. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/42. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Feuilleton 1914–1932/1925–1927/Kriegsdämmerung. Musils Autorschaft ist indirekt durch die Korrespondenz mit dem Roland-Herausgeber Blei und durch eine Stilanalyse erschlossen; vgl. Jürgen Thöming: Wie erkennt man einen anonym veröffentlichten Musil-Text?, in: Études germaniques 25 (1970), H. 2, S. 170–183. Just Regina Schaunig hat in dem von ihr verfassten Kommentar in der Klagenfurter Ausgabe Zweifel an Musils Autorschaft angemeldet: »Zu bedenken ist: Als militärisch erzogener und auch nach dem Krieg noch im Staatsamt für Heereswesen verwendeter Offizier vertrat Musil an keiner anderen Stelle einen derart bedingungslosen Pazifismus wie ihn dieser Text mit seiner Forderung nach einer Abschaffung der Armee postuliert.« (KA/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/ Feuilleton 1914–1932/Kriegsdämmerung/Textgenese und Kommentar)

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unfertig und unveröffentlicht, und Musil versucht in seinen literarischen Kriegsbildern, wenn er sie später veröffentlicht, den Krieg selbst zu löschen. Dies geschieht zum Teil im »Schrapnellstück«, das zur Episode in der Kriegsund Muttertrauma miteinander verbindenden Erzählung Die Amsel wird, und in Die Maus. In Slowenisches Begräbnis, in Grigia und in Die Portugiesin ist das Kriegserlebnis fast unsichtbar gemacht. Die Scharlachblume in »Palai, der blumige Tod«64 mit ihrer Verschmelzung der Wahrnehmung von Krieg, Todesangst, Vagina und Mystik wird zwar in Grigia zitiert;65 wie Thomas Pekar feststellt, ist die Todesangst Homos aber »aus der Novelle heraus nicht zu motivieren«;66 Vagina und mystische Liebe sind autobiographische »Entlastungsvorstellungen«, mit der Todesdrohung im Krieg zurechtzukommen. Eine merkwürdige Stellung hat das Fliegenpapier inne. Musils erste Notizen zu diesem Text entstehen unter dem Eindruck Tuberkulose-Kranker eines römischen Hospitals im Oktober/November 1913;67 eine erste Fassung wird Anfang 1914 veröffentlicht. 1935 spricht Musil im Vorwort des Nachlaß zu Lebzeiten von »Vorausblick« und »Weissagungen«.68 Den endgültigen Text entwickelt er 1918, er ist damit nicht nur ein Vorausblick auf den Krieg, sondern auch ein Bild aus dem Krieg. Wie Renate Schröder-Werle festgestellt hat, fungieren in ähnlicher Weise auch Die Affeninsel und Hasenkatastrophe als Reflexe auf die Dehumanisierung und die Instrumentalisierung von menschlicher Identität im Krieg.69 Musil veröffentlicht die subtilen Kriegsbilder in den Nachkriegsjahren weit verstreut im deutschsprachigen Feuilleton, um 1935 mit der Sammlung als Buch unter dem Titel Nachlaß zu Lebzeiten zu einer konzentrierten Offensive gegen die nächste Katastrophe zu schreiten, mit einer Warnschrift in der Hand, welche zu dem Zeitpunkt den Mann ohne Eigenschaften entlasten soll.

4. Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über Die Militärsatire im Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften liefert die Fortsetzung des literarischen Kriegs gegen den Krieg mit anderen Mitteln, nämlich denen der Militärsatire. In Kapitel 85 legt General Stumm von Bordwehr Ulrich, seinem Freund und Berater bei der »Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen«, »eine ganze Anzahl loser, mit sonderbaren Auf64 65 66 67 68 69

KA/Transkriptionen/Heft II/52. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft I/6; KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/24. Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989 (= Musil-Studien, Bd. 19), S. 117. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 7/24 f. KA/Lesetexte/Bd. 8 Nachlaß zu Lebzeiten/Vorbemerkung/10. Vgl. Schröder-Werle: Europa auf der Affeninsel (s. Anm. 11), S. 356–366.

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zeichnungen und Strichen bedeckter Blätter« vor, einen »Aufmarschplan« des »mitteleuropäischen Ideenvorrats«.70 In entstehungsgeschichtlicher Ironie finden sich zwei doppelt beschriebene Blätter in Musils Nachlass,71 welche diesem »regelrechten Generalstabselaborat«72 mehr oder weniger die konkrete Anschauung liefern, zugeschrieben aber noch Stumms Vorgängerfigur, dem »R[itt]m[eister] v[on] H[orn]«.73 Musil legte diese Zeichnungen 1921 oder 1922 an, als der Roman noch den Titel »Der Erlöser« tragen sollte.74 Gemeint ist mit diesem Titel in allerdings ironischer Weise auch die Erlösung der Welt durch das Militär bzw. den Militär. Entstanden sind die Zeichnungen, während Musil im Staatsamt bzw. Bundesministerium für Heerwesen als Fachbeirat angestellt war und die Aufgabe hatte, das Offizierskorps in den Methoden der Geistes- und Arbeitsausbildung zu unterrichten. Wahrscheinlich fertigte er die Zeichnungen in der Dienstzeit an, die er intensiv für die Romanarbeit zu nutzen pflegte. Jedenfalls verwendete er auch das Papier des Ministeriums für Heerwesen dafür.75 Für die Entwürfe der Frühstufe des Romans ist charakteristisch, dass Anders, wie die Hauptfigur im »Erlöser«Projekt noch heißt, bei den Bemühungen Horns, die Verhältnisse im Zivilgeist in Aufmarschplänen abzubilden, selbst Hand anlegt, auch er ist ja in militärischer Logistik ausgebildet. Hier leuchtet ein gerüttelt Maß an Selbstironie durch: Die Ideen-Aufstellungen, welche der Rittmeister mit Anders’ Hilfe produziert, sehen den Blättern zum Verwechseln ähnlich, die Musil selbst zur literarischen Ideen-Verwaltung bei der Arbeit an seinem Roman produziert. Er entwirft auf Blättern, die er mit ›L‹ (= Linien) sigliert, von 1923 an ähnliche Aufmarschpläne, in denen er seine Romanfiguren verschiebt.76 Worin besteht eigentlich der Witz dieser pseudo-militärwissenschaftlichen Zugangsweise zum »Zivilverstand«77 mit Hilfe der Aufmarschpläne? In Notizen aus dem Jahr 1927 legt Musil fest, dass Anders’ epistemologische Kritik am Apparat der Wissenschaft zur Erkenntnis führt: »Die höchste Ordnung ist eine rein formale«.78 Aus der Konfrontation mit dem ärarischen Ordnungsdenken des Rittmeisters ergibt sich der satirische Effekt. Er besteht darin, dass das Ordnungsdenken des Militärs einer Logik gehorcht, die von völlig anderen Prämissen ausgeht als die Logik von Zivilisten, also zum Beispiel von Forschern in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, oder 70 71 72 73 74

75 76 77 78

KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/593. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/203–205. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/597. KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/202. Zur textgenetischen Interpretation dieser Skizzen in Musils Nachlass vgl. Sabine Mainberger: Ordnungen des Gehens. Überlegungen zu Diagrammen und moderner Literatur. Mit Beispielen von Claude Simon, Robert Musil u. a., in: Poetica 39 (2007), H. 1/2, S. 211–241. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/206. Vgl. z. B. KA/Transkriptionen/Mappe VII/12/8. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/589. KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/144.

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von Kunst- und Kulturschaffenden, wie sie als Vertreter des Zivilverstandes in Diotimas Salon erscheinen. Die Logik des Militärs ist auf einen Zweck gerichtet, auf den Ernstfall, den Krieg, die gewaltsame Auseinandersetzung, ihre positive (siegreiche) Bewältigung. Die wissenschaftlichen Logiken der Zivilisten sind zwar teilweise auch auf einen Zweck gerichtet, zum Beispiel die der Medizin auf Heilung. Doch sie haben eine andere, nicht auf einen fertigen Zweck gerichtete Seite, mit dem Instrument der Induktion Wirklichkeit, im Fall der Medizin den menschlichen Körper, erfahrbar zu machen. Die Logik in der zivilen Ordnung von Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Kultur erscheint dem Rittmeister bzw. General unverständlich, fremd, ja als feindliches Terrain. Doch das ist auch umgekehrt der Fall. Als General Stumm von Bordwehr bei der Salonniere Diotima, die im Roman die Zivilisation repräsentiert, seine Aufwartung macht, löst er geradezu einen Schock aus: »Dieser liebenswürdige General versetzte Diotima in tödlichen Schreck.«79 Die beiden Ordnungen, die des Militärs und die der zivilen Gesellschaft, scheinen unverbunden nebeneinander zu existieren, wie zwei getrennte Kreislaufsysteme in einem Organismus, also zum Beispiel das Blut- und das Lymph-Kreislaufsystem im menschlichen Körper. Verbunden sind sie durch das tertium comparationis im vergleichenden Diskurs zwischen dem General und Ulrich, in dem Begriff der Ordnung und dem Begriff der Logik, der in Musils Schreiben in eine merkwürdige, ironische Verbindung mit dem der Logistik tritt, repräsentiert durch die Hauptfigur des Romans. Ulrich in der Endfassung des Mann ohne Eigenschaften ist ja Mathematiker von Beruf. Seine Vorgänger Achilles und Anders in den diversen Vorstufen des Romans aber sind Dozenten der Philosophie, Spezialgebiet Logik, noch genauer Logistik, wobei auf die Doppelbedeutung des Begriffes verwiesen sei: »Die Logistik sorgt für die Sicherstellung der Verfügbarkeit insbesondere von Gütern, Ressourcen und Informationen«.80 Heute wird der Begriff in der Wirtschaft angewendet (»Logistik ist Steuerung des Warenflusses«81 ), zu Musils Zeit war Logistik vor allem ein wichtiger ärarischer Begriff. Heute noch definiert sich militärische Logistik als »Lehre von der Planung, der Bereitstellung und vom Einsatz der für militärische Zwecke erforderlichen Mittel und Dienstleistungen zur Unterstützung der Streitkräfte und/oder die Anwendung dieser Lehre«.82 In ihrer Ableitung von Logik bezeichnete Logistik in der Philosophie oder Wissenschaftstheorie aber – zu Musils Zeit, heute nicht mehr – auch das praktische Instrument der Wissenschaftslogik, wie in der Sprachphilosophie von Rudolf Carnap grundgelegt, etwa in dem Buch 79 80 81 82

KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/426. http://www.factbook.org/wikipedia/de/l/lo/logistik.html (Stand: 31. 3. 2016). http://logistik.at/ (Stand: 31. 3. 2016). http://www.wirtschaftslexikon24.com/d/militärische-logistik/militärische-logistik.htm (Stand: 31. 3. 2016).

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Abriß der Logistik (1929), welches Musil sorgfältig studiert hat.83 Musil selbst hatte also mit beiden Logistiken zu tun gehabt, mit der militärischen als Offizier im Krieg und mit der zivilistischen in seinen philosophischen Studien. Das Gemeinsame der beiden Logistik-Begriffe liegt in der Deduzierung der Logik auf einen praktischen Zweck innerhalb eines kohärenten Ordnungsgefüges, im Militär auf die Erfordernisse des Krieges, in der Philosophie auf die Erfordernisse des Denkens. Mit dem ihm eigenen Sinn für die ironische Ausleuchtung von Doppelbedeutungen und mit autobiographischer Ironie überschreibt er den ambivalenten Logistik-Begriff auf die Romanfigur Ulrich: Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathematikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten. Aber er hielt auch die Logik der Logistiker nicht für ganz richtig. Hätte er weitergearbeitet, er würde nochmals auf Aristoteles zurückgegriffen haben; er hatte darüber seine eigenen Ansichten.84

Den General bringt der Logistiker Ulrich mit seinen Umkehrschlüssen völlig durcheinander. Ulrich beharrt auf der Wesensähnlichkeit der zivilen und militärischen Logik, er vertauscht aber die Charakteristiken der beiden Ordnungen: »[. . .] Und du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, daß wir Militärs ganz ordentlich denken; daß der Zivilverstand – also daß wir sein Vorbild sein sollen, das muß ich ablehnen, das ist wohl nur ein Witz von dir! – aber daß wir den gleichen Verstand haben [. . .].« / »Ich habe vorhin erstens gesagt, und das hast du vergessen; ich habe erstens gesagt, daß der Geist beim Militär zu Hause ist, und nun sage ich zweitens: beim Zivil das Körperliche –« / »Aber das ist doch Unsinn?« lehnte sich Stumm mißtrauisch auf. Die körperliche Überlegenheit des Militärs war ein Dogma genau so wie die Überzeugung, daß der Stand des Offiziers dem Thron am nächsten stehe; und wenn sich Stumm auch nie für einen Athleten gehalten hatte, so meldete sich in dem Augenblick, wo man daran zu zweifeln schien, doch die Gewißheit, daß ein Zivilbauch, bei gleichem Vorhandensein, noch um einiges weicher sein müsse als der seine.85

General Stumm von Bordwehr scheint sich als lernfähig zu erweisen. Als »ironischer Bildungsroman des Generals«86 wird der Lernprozess in einer Notiz zur Fortsetzung des Romans in den 1930er Jahren sogar einmal bezeichnet. Welchen Erkenntnisprozess der General gegen Ende des Ersten Buchs in Überwindung seiner naiven Ordnungskonzepte bereits durchgemacht hat, kommt in Kapitel 108 zur Sprache:

83 84 85 86

Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz/Robert Musil an Otto Pächt, 20. 9. 1935. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/322. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/604 f. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/155.

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Stumm von Bordwehr hatte das Zivilistische schon ein wenig satt. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß die Bibliotheksdiener die einzigen Menschen sind, die einen verläßlichen Überblick über den Zivilverstand besitzen. Er hatte die Paradoxie des Übermaßes der Ordnung entdeckt, daß ihre Vollendung unvermeidlicherweise Untätigkeit nach sich ziehen müßte. Er hatte etwas Komisches im Gefühl, wie eine Erklärung dafür, warum beim Militär die größte Ordnung und gleichzeitig die Bereitschaft zur Lebenshingabe zu finden sei. Er hatte herausbekommen, daß durch irgendeinen unaussprechlichen Zusammenhang Ordnung zu einem Bedürfnis nach Totschlag führe.87

Dass gerade der bildungshungrige General den Kausalzusammenhang zwischen Ordnung und Totschlag entdeckt, gilt als eine der großen Ironien des Romans. Eine vordergründig pazifistische Lektüre, wonach der Krieg aus dem Vorhandensein militärischer Logistik resultiere, greift entschieden zu kurz. Die Herkunft des Bedürfnisses nach Totschlag, also nach gewaltsamen, militärischen Konfliktlösungen, beschreibt der Roman gerade nicht als Konsequenz der Präsenz einer militärischen Ordnung, sondern als Folge eines gefährlichen Mangels im Zivilverstand. Die zivilistische geistige Ordnung manifestiert sich im Roman vorrangig im Wissenschaftsbetrieb. Die Satire auf den Zurechnungsfähigkeitsdiskurs im Fall des Frauenmörders Moosbrugger zum Beispiel versteigt sich bis in Anmerkungen und Abkürzungen in rechtswissenschaftlichen Abhandlungen, um zu zeigen, wie sich die Apparatur verselbstständigt, was am Ende die Exekution des Lustmörders zur Folge haben wird: »Und wenn man Moosbruggers Fall alles individuell Romantischen entkleidete, das nur ihn und die paar Menschen anging, die er ermordet hatte, so blieb von ihm nicht mehr als ungefähr das übrig, was sich in dem Verzeichnis von zitierten Schriften ausdrückte, das Ulrichs Vater einer jüngsten Zuschrift an seinen Sohn beigelegt hatte.«88 Der pazifistische General indessen hat sich redlich bemüht, die Größte Friedensidee zu finden, um sie seiner Muse Diotima für die Große Vaterländische Aktion zu präsentieren; am Ende resigniert er, nachdem er die Bibliographie der Bibliographien als die höchste Quintessenz der Logik des Zivilverstands kennen gelernt hat und ihm klar geworden ist, dass das Wissensbegehren der Zivilisten in ein gefährliches Vakuum führt: Aber ich will eigentlich nichts mehr lesen. Ich habe so etwas Komisches im Gefühl: ein Verständnis dafür, warum wir beim Militär, die wir die größte Ordnung haben, gleichzeitig bereit sein müssen, in jedem Augenblick unser Leben hinzugeben. Ich kann nicht ausdrücken, warum. Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. Und ich bin jetzt ehrlich besorgt, daß deine Kusine mit ihren Bestrebungen am Ende noch etwas anrichtet, das ihr sehr schaden kann, während ich ihr weniger helfen kann als je! Kannst du mir folgen?89 87 88 89

KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/834. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/854. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/742.

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5. Musils Säbel und der Herd des Weltkriegs Die Jahre 1932/1933 markieren einen Umschlagpunkt bei der Inszenierung pazifistischer Diskurse im Mann ohne Eigenschaften. Nun endlich wäre der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in den der Roman in seinem Finale münden würde, nicht länger auf der symbolischen Ebene des Romans in subtilen Vorausdeutungen behandelt, sondern explizit angesprochen. Ein Schritt zur Einlösung dieser Vorgabe in direkter Fortsetzung der Kapitel 34–38 sollte in der Gestaltung der Aussage eines Kapitels liegen, das der Autor in seinen arbeitstechnischen Notizen stets als »Nationen-Kapitel« bezeichnet, nämlich dass der Geburtsort des Dichters Feuermaul auch der Herd des Weltkriegs sei. Den Entwurf fertigte Musil im Frühsommer 1933 an, nach dem Rückzug aus dem nationalsozialistisch gewordenen Berlin. Bereits am Neujahrstag des Jahres 1932 beschloss Musil, »das Lehrmoment im Buch zu verstärken«.90 Die Erfolge der Nationalsozialisten im Deutschen Reich bestimmen ihn dazu, es als eine Warnschrift vor einem neuerlichen Krieg zu verfassen, die Ereignisse von 1933 betrachtet er als Wiederholung von 1914. Steht Musil nun im Begriff, die Struktur seines Romans als ironische »Diskurs-Enzyklopädie«91 zugunsten eines engagierten pazifistischen Statements aufzubrechen? Im ersten Teil des »Nationen-Kapitels« erfolgt die »Beschreibung einer kakanischen Stadt« (so als Kapiteltitel vorgesehen), im zweiten Teil informiert General Stumm Ulrich und Agathe über die Entwicklungen in der Parallelaktion; er prägt den Begriff der »Eingeistigkeit«92 als Ausdruck rational unbegründeten kollektiven Handelns. Musil setzt damit sein Programm fort, die Kriegsausbruchsstimmung von 1914 mit den aktuellen Vorgängen im Deutschen Reich in eins zu setzen. Im ersten Entwurfsteil möchte er es mit den Mitteln der Beschreibung erfüllen: Die historisch-soziologische Einlassung mit den nationalen Kämpfen in der Stadt B. ist als Erinnerung Ulrichs an die Stadt seiner Jugend gestaltet. Dahinter verbirgt sich Musils eigene BrünnReminiszenz; mit der Tendenz, die kakanische Vergangenheit noch um einen Ton stärker im Sinn des habsburgischen Mythos zu gestalten und gegen den ungebremsten nationalstaatlichen Chauvinismus der Schreib-Gegenwart auszuspielen. Hinter Stumms Prägung »Eingeistigkeit« steht »Gleichschaltung«,93 das Kennwort für die Vorgänge im Deutschland von 1933. Musil greift es in seinen Notizen für den Roman auf, nicht nur um Vorgänge in der Gefühlspsychologie zu benennen, sondern auch um das Sommererlebnis des 90 91

92 93

KA/Transkriptionen/Mappe II/8/17. Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 170–197, hier S. 188. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/11. KA/Transkriptionen/Mappe III/5/71. Dort hat Musil das Wort für den aphoristischen Gebrauch definiert.

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Jahres 1914 mit diesem Begriff zu assoziieren. Im Entwurf ist »Gleichschaltung« zu »Eingeistigkeit« übersetzt, wohl um die Direktheit der Anspielung auf die NS-Machtergreifung zu mildern. Der Mann ohne Eigenschaften ist gespickt mit Subtilitäten, die auf den Krieg als externes Telos der Romanerzählung hinweisen. Ich widme mich zwei dieser Subtilitäten und beginne mit dem Säbel; es fügt sich gut, dass der Musil’sche Paradedegen mit der geheimnisvollen eingravierten Zahl 13, der in den Ausstellungen zu »Robert Musil und der Erste Weltkrieg« zu bewundern war, auch im Mann ohne Eigenschaften in zwei Nachlasskapiteln vorkommt. Das erste ist die »Beschreibung einer kakanischen Stadt«, mehrfach setzt sie zur Verklärung Kakaniens an, in dem sich Vergangenes und zugleich Zukünftiges oder durch die Gegenwart verhindertes Zukünftiges ausdrückt: [D]ie Polizei war mit Säbeln ausgerüstet, die so lang waren wie die der Offiziere und bis an die Erde reichten, niemand wußte mehr warum, es sei denn aus Mäßigung, denn die Polizei war nur mit der rechten Hand die der Gerechtigkeit, mit der anderen mußte sie ihre Säbel festhalten. [. . .] Keinesfalls durfte das für Militarismus gehalten werden, dessen man das alte Kakanien leichtfertig beschuldigt hat; es war nur Lebensweisheit und Vorsicht [. . .]. Diese Ordnung war [. . .] in Kakanien zur Natur, ja fast schon zur Landschaft geworden, und ganz bestimmt hätten dort bei längerer Andauer der stillen Friedenszeit auch noch die Geistlichen ebensolange Säbel bekommen wie sie die Universitätsprofessoren nach den Finanzräten und Postbeamten schon hatten, und wäre nicht eine Weltveränderung zu ganz anderen Auffassungen dazwischengekommen, so hätte sich der Säbel vielleicht in Kakanien zu einer geistigen Waffe entwickelt.94

Der Säbel symbolisiert die staatliche Gewaltausübung. Der Staat bindet zur Etablierung des Gewaltmonopols einen Gutteil seiner Machtressourcen (die Polizei muss mit einer Hand ihre Säbel festhalten) und verschwendet enorme Energien darauf, das Machtmonopol gegen Angriffe von außen zu erhalten. Das Bild verlängert sich zur Zukunftsvision eines unbewaffneten Machtmonopols, zur Philosophenherrschaft, der zentralen Idee politischer Utopie seit Platons Politeia und Morus’ Utopia: In Utopia wird konsensuale Konfliktlösung praktiziert, die Machtfrage ist dauerhaft geregelt, geschichtliches Geschehen als Kriegs- und Interessenkonfliktsgeschehen zu einem Ende gekommen. Kämpfe bestehen als Ringen um geistige Organisation des Gemeinschaftslebens weiter, reale Machtgesichtspunkte sind zu realisierten Ordnungsgedanken mutiert. Solche Beruhigung und Vergeistigung des Politischen wäre in Kakanien zur Verwirklichung gelangt, wo der Säbel sich zur geistigen Waffe entwickelt hätte: Wenn nicht . . . Die Stelle, an der die Vision von Kakanien abbricht, würde, wenn Musil bei diesem Textverlauf geblieben wäre, einen großen Übergang im Roman markieren: Die Erinnerung an das Einst hat sich ins Utopische verloren. Die sich einschaltende Rede General Stumms holt das Gespräch in die Realität zurück: 94

KA/Transkriptionen/Mappe I/8/8.

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»Das hat übrigens der Leinsdorf schon gesagt, daß nämlich die Priester eigentlich Säbel bekommen müßten, beim nächsten Konkordat und zum Zeichen, dass auch sie ein Amt im Staat bekleiden. Er hat es dann mit der weniger paradoxen Bemerkung eingeschränkt, dass auch kleine Degen genügen möchten, mit Perlmutter- und Goldgriff, weißt du, wie sie früher die Beamten getragen haben.«95

Die Kakanien-Illusion wird lächerlich gemacht und als solche aufgehoben, zerstört. Indem er den Schein der kakanischen Utopie erst zum Aufblitzen, dann zum Erlöschen bringt, deutet der Entwurf eine Lösung für die Aufgabe an, episch zu integrieren, wie sich Kriege an Bildern entzünden. Die zweite Säbel-Passage befindet sich im Kapitel »Frühspaziergang«, dessen letzte Fassung auf 1935 zu datieren ist. Walter wird vor der Mobilisierung bei seiner Behörde in den Hauptmannsrang erhoben, er erhält eine Uniform mit einem Säbel. Dieser wird für den kleinbürgerlichen Kunstbeamten zum Fetisch; sich allein und unbeobachtet glaubend, versucht er in Uniform zu malen und zu komponieren und ergeht sich dabei in infantilen Allmachtsphantasien. Musil möchte eine essayistische Brücke von der Instrumentalisierung der Kunst im bürgerlich-staatlichen Kunstbetrieb zu ihrer Instrumentalisierung für den Krieg schlagen, die den »Untergang der Kultur« bedeute, »schon damals deutlich zu spüren, als Walter mit einem Säbel und Sternscheiben auf den Achseln die Kunst hütete«.96 Und in Randglossen: »Säbel hat später Forts[etzung]«97 und »Säbel ist heute Wirklichkeit!«98 Das bezieht sich auf die Gegenwart des Schreibenden, die faschistische Kulturpolitik. Clarisse versagt Walter allerdings die Bewunderung, die sie statt dessen dem echten Säbel zollt, den General Stumm mit sich trägt, wenn er Clarisse zum Frühspaziergang trifft. Gekränktheit und Eifersucht treiben Walter dazu, seine Frau zu vergewaltigen. Nun würde der ironisch zu erzählende Höhenflug Walters einsetzen, der den ersten Anlauf nimmt, als er den Säbel in den Händen hält und fühlt, dass »in seinem Verhältnis zu Ulrich die Abneigung nachgelassen«99 habe. In der Reaktion auf das MobilisierungsMassengeschehen vollendet sich die Umkehrung der Freundschaft Walters und Ulrichs. Das Überdauern in der Masse kommt für Ulrich nicht in Frage, ein »W[alter]-Triumphkapitel«100 steht am Ende, Walter bekommt gegen Ulrich recht. Walter will kein Genie mehr sein, aber Ulrich ist auch keines, ihm fehlt der Glaube und das Werk, er geht in den Krieg, um sich zu töten. Durch eine Neuinszenierung des Erzählstrangs der Parallelaktion in den sogenannten Druckfahnen-Kapiteln von 1938 ersetzt Musil die erzählerische Substanz des »Nationen-Kapitels« schließlich. General Stumm berichtet in 95 96 97 98 99 100

KA/Transkriptionen/Mappe I/8/8. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/220. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/219. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/220. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/219. KA/Transkriptionen/Mappe I/3/11.

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Kapitel 49 von dem Beschluss der Parallelaktion, »daß wir auf den Feuermaul künftighin verzichten, weil seine Ansichten zu unbrauchbar sind«.101 Bereits in Notizen aus dem Jahr 1934 ist der Entschluss dokumentiert, die Figur Feuermaul wieder aus dem Roman zu eliminieren. Der Grund liegt wohl in der Notwendigkeit, den Juden und Pazifisten Feuermaul angesichts der negativen Zeichnung im Romanteil von 1932 wegen der Verwechselbarkeit mit der nationalsozialistischen Hetze aus dem Schussfeld zu nehmen. Der Preis, der dafür bezahlt wird, liegt im Verlust an analytischer Schärfe bei der Inszenierung pazifistischer Diskurse in den Druckfahnen; die Gespräche zwischen Ulrich und dem General bleiben auf der symbolischen Ebene impliziter Anspielungen, was den Krieg und seine Ursachen betrifft. Aus Musils Studium zeitgenössischer pazifistischer Diskurse geht die Lektüre des Buchs von Julius Moór, Professor für Rechtsphilosophie in Budapest, in die späten Gestaltungsabsichten im Mann ohne Eigenschaften ein.102 Als zentralen Gedanken nimmt Musil aus Moórs historisch und rechtsphilosophisch angelegter Darlegung auf, dass Pazifismus eine auf das Zwischenstaatliche bezogene Sonderform des Anarchismus bleibt, solange nicht mit militärischer Gewalt ausgestattete internationale Institutionen einen gerechten Frieden sichern. Vom institutionalisierten, militarisierten, dem gerüsteten Pazifismus ist in späteren Notizen zum Roman auch noch die Rede. In Anwendung auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kehrt Musil in einer Notiz von 1937 das rationale Argument der militärischen Friedenssicherung allerdings um: »Zeitbedürfnis, irrationaler Zug der Zeit. Wozu Rüstungen, Ziele, Muskeln, wenn man sie nicht unmittelbar gebraucht. Der gerüstete Pazifismus als Form der Unentschiedenheit.«103 Das Moór-Exzerpt liegt im Nachlass übrigens in einer Mappe mit den vorbereitenden Notizen und Fassungen des Pariser Vortrags auf dem Kongress zur Verteidigung der Kultur vor dem Faschismus und der Rede Über die Dummheit. In den Notizen konstatiert er eine Spielart der Dummheit, die »mit der natürlichen Liebe zum Frieden und seinen Werken streng umspringt«. Er stellt fest, »wer diese Weltanschauung nicht liebt, muß gegen seine natürliche Liebe überhaupt vorsichtig sein«, und setzt hinzu: »Ich habe dieses Beispiel nur gewählt, um anzudeuten, wie lang der Weg der Wahrheit ist und wie kurz der des Gefühls«.104 In der Endfassung der Rede, die 1937 publiziert wird, fehlt die Passage über das Verhältnis zwischen Friedensliebe und Dummheit, als hätte die besagte Vorsicht es geboten, sie fallen zu lassen. Musils Pazifismus-Reflexion der 1930er Jahre und die geplante Umsetzung im Mann ohne Eigenschaften wird politisch denkende Leser nicht unbedingt zufriedenstellen. Das vereinigende Rausch-Erlebnis von 1914 bleibt eine unantastbare Größe, von pazifistischer Emotion getrage101 102 103 104

KA/Transkriptionen/Mappe I/8/13. Vgl. Julius Moór: Zum ewigen Frieden. Leipzig 1930. KA/Transkriptionen/Mappe II/3/7. KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/88.

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nes Engagement hingegen wird als ideologisch punziert der Ironie ausgesetzt und abgesetzt. Ein legitimer Pazifismus müsste den Bedingungen hochgradiger Reflektiertheit und machtpolitischen Voraussetzungen standhalten, deren Erfüllbarkeit nicht zu erwarten ist, das heißt, er fällt in den Bereich der Utopie. Der Entstehungszeit nach bringt das Druckfahnen-Kapitel 49, »General Stumm läßt eine Bombe platzen. Weltfriedenskongreß«, die letzte Einlassung mit dem Kriegsdiskurs. Auf der Erzählebene des Romans sind es aber die Mobilisierungskapitel des finalen Romanteils »Eine Art Ende«, die Musil 1936 nur in flüchtigen Skizzen entworfen hat. Es geht in ihnen darum, das Zerbersten der Welt des »Seinesgleichen geschieht« zu zeigen. Die Parallelaktion enthüllt sich endgültig als Pseudo-Geschehen, das sich zwar für geschichtsmächtig hält, im wirklichen Geschehen, das in darstellerische Unsichtbarkeit gehüllt bleibt, aber zerplatzt wie eine aufgestochene Blase. Die Parallelebene im Roman verliert am Ende ihre Balance und kippt in den Krieg. Die Fiktion in der Fiktion, dass eine Vaterländische Aktion im Jahr 1918 ihrem Friedenskaiser eine Huldigung bereiten würde, muss am Ende der Erzählung förmlich widerrufen und durch das andere Wirkliche ersetzt werden. Ans apokryphe Ende der Parallelaktionserzählung rückt das Kapitel mit dem Stichworttitel »Schlußsitzung«. Der Aufstellung von Frühjahr 1936 zufolge plant Musil, darin das inszenierte Finale der Parallelaktion unterzubringen. Als abschließendes der zwölf vorgesehenen Schlussteil-Kapitel würde es zum letzten Kapitel des Romans überhaupt werden. Ein fertiger Entwurf liegt nicht vor, nur drei Manuskriptseiten einer Kapitelstudie, in der der Rahmen festgelegt ist. Eine Schlussrede Graf Leinsdorfs würde, dem bei den Sitzungsteilnehmern vorherrschenden Tenor entsprechend, die Haltung ausdrücken: »Wir sind im Recht; nach den Regeln der Vernunft und Moral sind wir die Angegriffenen [. . .]. Wir verteidigen das Unsre (Heimat, Kultur)«.105 Dass endlich doch »das Größte« gefunden worden sei (Krieg) und die Vernunft sich nun als »in den Bereich des Bösen« gehörend entlarvt habe. Der Kriegsausbruch wäre die »gelingende Befreiung der Seele von der Zivilisation«. Ironie als erzählerische Grundhaltung bliebe bei der Darstellung der Parallelaktion im Prinzip bis zu ihrem äußersten Ende aufrecht. Ulrich würde in das Eingeständnis des ethischen und intellektuellen Bankrotts, das die in Kriegsausbruchshysterie fallenden Teilnehmer unfreiwillig ablegen, zunächst rhetorisch einstimmen: »Moral und Vernunft sind die Gegensätze der Güte. (Das könnte, hinzugetreten, eventuell auch Ulrich sagen)«. Die zynische Haltung, die Ulrich an den Tag legt, hat damit zu tun, dass er in den Krieg geht: »Aber durchaus nicht mit Überzeugung«, wie es im letzten Satz des Entwurfs heißt.106 In der Kapitelstudie finden sich Ansätze, die allgemeine 105 KA/Transkriptionen/Mappe II/7/119. 106 KA/Transkriptionen/Mappe II/7/122.

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Stimmung reflexartig in Sprachbildern zu erfassen, die die geschichtliche Negativität dieses Ereignisses gleichnishaft wie abstrakt zum Ausdruck bringen würden. Du gehst durch dieses Volk [. . .] Das Schattende des Todes wird plötzlich sichtbar. [. . .] Häuser – Hauchartige Masse, Niederschlag an sich darbietenden Flächen. Außerhalb der Bindungen deformiert jeder Impuls augenblicklich den Menschen. Der Mensch, der erst durch den Ausdruck wird, formt sich in den Formen der Gesellschaft. Er wird vergewaltigt und erhält dadurch Oberfläche [. . .] Er wird geformt durch die Rückwirkungen dessen, was er geschaffen hat. Zieht man sie ab, so bleibt etwas Unbestimmtes, Ungestaltes. Die Mauern der Straßen strahlen Ideologien aus [. . .].107

Mit der zentralen Haus-Metapher (Haus = Kultur) versucht Musil eine Vorstellung von Kultur zu unterlegen, die im domestizierten Menschen eben nicht den vom Triebpotential, das zur Aggression führt, befreiten erkennt. Im Gegenteil, Sozialisation bedeutet Vergewaltigung und Züchtung des Aggressionspotentials, das umso gefährlicher ist, je mehr die zivilisatorische Oberfläche geglättet erscheint. Kultur erzeugt durch die in ihr herrschenden kollektiven Verdrängungsmechanismen Überdruck. Der Kulturprozess wäre auf permanente Selbstzerstörung angelegt. Der Einfluss von Gedanken aus Das Unbehagen in der Kultur (1930), von Freuds Konzeption des Todestriebs und der Ausbildung eines bei der Abwehr der menschlichen Aggression versagenden Kultur-Über-Ichs wird aus einem zweiseitiges Exzerpt von Freuds Buch in Musils Aufzeichnungen nachweisbar. Die kulturzerstörende Wirkung von Ideologien bei Musil, hier für die »Schlußsitzung« ausdrücklich vorgemerkt, deckt sich mit der aggressiven Wirkung der Partialtriebe am Individuum bei Freud. »Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen für einander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht«,108 schreibt Freud in Das Unbehagen in der Kultur, wo er in diesem Zusammenhang auch die Annahme eines Todestriebs begründet, »daß es außer dem auf Erhaltung der organischen Substanz gerichteten Trieb auch einen auf Zerstörung gerichteten geben müsse«, wie Musil in seinem Exzerpt vermerkt.109 Die pessimistische Engführung des pazifistischen Diskurses ist bei Freud wie bei Musil der politischen Finsternis der 1930er Jahre geschuldet. In seinem offenen Brief an Albert Einstein, Warum Krieg? (1933), spricht Freud der im »Prozeß der Kulturentwicklung« ablaufenden »Verinnerlichung der Aggressionsneigung«110 sowohl vorteilhafte wie auch gefährliche Folgen zu. Eben die Frage, ob zuletzt die rein pessimistische Perspektive triumphieren sollte – ein ironisch-zynischer Ausklang der »Schlußsitzung« – oder ob in einer Weise 107 KA/Transkriptionen/Mappe VII/7/119. 108 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Studienausgabe. Bd. IX : Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt a. M. 1974, S. 197–286, hier S. 241. 109 KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/157. 110 Freud: Das Unbehagen in der Kultur (s. Anm. 108), S. 286.

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das Prinzip Hoffnung aufrecht erhalten werden könne, bleibt auch für Musil 1936 in der Schwebe.

6. Der General: das Genie! Im letzten einschlägigen Kapitelprojekt »General von Stumm über die Genialität«111 von Anfang 1940 tritt der General als ein Wissender auf, nicht mehr als einer, der sich unterrichten lassen will. Die pointierten Auslassungen Stumms über die Psychoanalyse und die Wirkungen der Relativitätstheorie am Exerzierplatz werden benützt, um an der Frage nach dem Genie die Konstruiertheit alles Bedeutenden zu demonstrieren. Stumm lernt eine Sonderform des Genialen kennen, den Superlativ des Bedeutenden, den »universalen Spezialisten«.112 Aus einer Textstellen-Entsprechung als Adolf Hitler identifiziert,113 ist der universale Spezialist die Ironisierung des Genies an sich und meint nicht nur Hitler, sondern auch den General. Der negative Bildungsroman führt am Ende zur Wiedereinsetzung des Generals in seinen militärischen Rang, »der G[e]n[eral] wird [ein] G[e]n[eral]«,114 zu einer »Rehabilitation«115 nach dem eskapadenhaften Ausflug ins Reich des Zivilverstands. Parallel zu dem die Wirklichkeit abschaffenden Utopismus Ulrichs entsteht der Konstruktivismus des Generals, dem sich alles zu der Klarheit zusammenfügt, die für die Gleichschaltung zum Krieg nötig ist. Nachdem er neu gelernt hat, jede Sache unter militärischem Gesichtspunkt zu betrachten, berichtet er Ulrich und Agathe über seine Gespräche mit Clarisse: »Aber sie sagt manches, was ganz ausgezeichnet ist! Nietzschejahr? Das ist eine von ihren Ideen. Nietzsche war ein Irrsinniger, aber Wille zur Macht! Weißt du, ich schau mir jetzt alles nur unter dem militärischen Gesichtspunkt an.«116 Stumm instrumentalisiert nicht nur die Wahnparolen Clarisses zur Befreiung Moosbruggers für seinen Militarismus, ebenso wird Nietzsches »Wille zur Macht« ins Spiel gebracht, eine Anspielung auf den ideologischen Missbrauch der Morallehre Nietzsches. Ulrich würdigt im Entwurf von 1940 das Denken seines ›Freundes‹ – ironisch? – mit einem Kompliment: »Und wie er alles so verdreht, daß man der Wahrheit ordentlich auf den Grund sieht«.117 Gebetsmühlenartig lässt Musil in allen Kapitelentwürfen den General am Ende seiner Besuche bei den Geschwistern die Aufforderung an Ulrich wiederho111 Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe V/1/128–136. 112 KA/Transkriptionen/Mappe V/1/136. 113 Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 39), S. 1354. – Dazu: Hermann Rauschning: Hitler m’a dit. Confidences du Führer sur son plan de conquête du monde. Paris 1939, S. 24: »Hitler est un génie, c’est un spécialiste universel«. 114 KA/Transkriptionen/Mappe II/1/163. 115 KA/Transkription/Mappe III/6/43. 116 KA/Transkriptionen/Mappe III/6/43. 117 KA/Transkriptionen/Mappe V/1/125.

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len, wieder in die Parallelaktion zurückzukehren, damit er »die Sache in die Hand nimmt«.118 Doch Ulrich verhält sich wie immer ablehnend und bleibt die Begründung für seine Verweigerung auch weiter schuldig. Im »GenieKapitel« von 1940 unternimmt der General den letzten dieser Versuche: »[. . .] Übrigens bist doch gerade du auch so eine Art universaler Spezialist. Du solltest deshalb den Arnheim nicht so vernachlässigen; denn am Ende empfängt dann die Parallelaktion noch von ihm eine rettende Idee, und das könnte gefährlich sein! Ich möchte es immer noch viel lieber sehen, wenn sie von dir käme!«119

Die Rückbeziehung auf Arnheim, eine zu diesem Zeitpunkt der Romanarbeit bereits erledigte Figur, bedeutet bloß ein Ablenkungsmanöver; er, der General, sieht sich selbst als Spezialist und zugleich als Universalist. So rückt die Figur in die Position des Doppelgängers von Ulrich, als der ›an allem Reiche‹ zu etymologisieren, – ›General‹ bedeutet eben das! Der Roman verrät den Vornamen Stumms genauso nicht wie den Familiennamen Ulrichs, die Figuren treten in eine symbolische Bruderschaft der Namenlosigkeit, wie auch das Du-Wort zwischen den Offizieren der kakanischen Armee Bruderschaft stiftet; wo sonst außerhalb der Familie gäbe es die vertraute Anrede zwischen Männern verschiedenen Alters, von denen der eine übrigens längst nicht mehr Offizier ist? »Gewalt und Liebe ist ein General-Problem«120 – in zahlreichen Notizen erscheint auch die Mischung von »Liebe und Roheit«121 als dem General und dem Krieg zugeordnet. Zurück bis an den Uranfang der Romangenese reicht die Imagination der Doppelgestalt, bis zum »Gesicht einer Frau«122 des nach dem Krieg friedlich seine Gemüsebeete bestellenden »Blutgenerals«123 Pflanzer-Baltin. Für Militär und Mann-Sein kann der General als Ersatzmann aufs Feld geschickt werden, wenn Ulrich aus dem Spiel gelassen werden soll. Das aus der autobiographischen wie aus der kollektiven Erinnerung »Feststehende[ ]«124 vom Soldat-Sein verteilt sich vom Mann ohne Eigenschaften Ulrich auf sein Schattenbild, den Mann mit Eigenschaften Stumm. Es existiert kein Hinweis, dass Ulrich, der viele abgewiesen hat, die Freundschaft des Generals je zurückweisen würde. Umgekehrt mag »bald eine Erwähnung der Abwendung Stumms von Ulrich«125 kommen: Und erst als der Wagen davonrollte, kam Ulrich der Einfall, daß Stumm vielleicht auch die Absicht haben könnte, ihn selbst unschädlich zu machen, den man früher

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KA/Transkriptionen/Mappe II/8/76. KA/Transkriptionen/Mappe V/1/136. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/24. KA/Transkriptionen/Mappe II/7/95. KA/Transkriptionen/Heft 8/39. KA/Transkriptionen/Heft 8/42. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/35: »Es gibt nichts Feststehendes«. KA/Transkriptionen/Mappe II/5/138.

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verdächtigt hatte, daß er den Geist des Grafen Leinsdorf einmal noch zu einem ganz ungewöhnlichen Einfall verleiten könnte.126

Es wird auf die Spion-Qualität Ulrichs angespielt: Seine Rückkehr zur Tätigkeit schlösse die Möglichkeit des Verrats ein, die Musil sich zum Weiterschreiben als reine Möglichkeit vielleicht noch vorstellt. Im Fontana-Interview von 1926 erzählt er über den Romanverlauf: »[D]as Geld, das zu vergeben ist, [erhält] ein General, Vertreter des Kriegsministeriums [. . .]. Aus Opposition gegen eine Ordnung, in der der Ungeistigste die größten Chancen hat, wird mein junger ›Held‹ Spion.«127 Der Erfolg des Generals wird als direkter Auslöser für Anders’ Verrat bezeichnet; davon setzt sich Musils späte Konzeption ab. Es scheint keinen Grund zu geben, weshalb der untätige Ulrich unschädlich gemacht werden sollte, es sei denn, man setzt die Rolle des Generals im Roman in Analogie zu Polizeistaatmethoden, wie sie ab 1933 im Deutschen Reich herrschten.

7. Neros Unsterblichkeit Die Pistolenschüsse eines Verse schreibenden Gymnasiasten, des Schülers Princip, haben den Weltkrieg zur Entzündung gebracht. Der wohlmeinende Universitätsprofessor Wilson ist unfreiwillig die Ursache davon geworden, daß dieser Krieg bis heute noch kein Ende gefunden hat. Georges Clémenceau, der siegreiche Advocatus diaboli in den Prozessen von Versailles, S. Germain, Trianon u. s. w., die Wilson als Advocatus dei verloren hat, ist ein an der Antike orientierter Geist gewesen, der manchmal zu seinem Vergnügen dichtete. Das schriftstellerische Werk Lenins und Trotzkis ist weltbekannt geworden, Lunatscharski hat Dramen geschrieben und Mussolini außer Dramen auch Romane.128

Überzeugte Pazifisten mögen eine rosarote einfache Vorstellung von der Wirkung der Kunst für den Frieden hegen. Man denkt an Beethovens Neunte Symphonie, an das unbedingte Friedensplädoyer, das aus dem berühmten Roman von Musils Zeitgenossen Remarque spricht, und an Picassos Guernica. Oder an die öffentliche Enttäuschung über die gefallene Lyrikerin, als Ingeborg Bachmann sich nicht nur in ihrer Prosa der Analyse des alltäglichen, privaten Faschismus zuzuwenden begann, sondern auch noch Abrüstungsappelle unterschrieb. Oder an die Empörung über Peter Handke, als dieser nach seinen luziden essayistischen Beobachtungen zum Bosnienkrieg und zum Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag am Begräbnis des serbischen Kriegstreibers Slobodan Miloševi´c eine Rede hielt. Mit seinem Aphorismus 126 KA/Lesetexte/Bd. 3 MoE/Zwischenfortsetzung 1937–1939/Druckfahnen-Kapitel/53. Die Referate D und L. 127 KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. 128 KA/Transkriptionen/Mappe III/5/67.

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Neros Unsterblichkeit fügt Musil den Aporien des Kriegsdiskurses eine weitere hinzu. Kurt Hiller, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, oder auch Karl Kraus, Schriftstellerkollegen in seiner Zeit oder Kämpfer gegen den Krieg, Menschen, »die Geschichte machen«, oder nur »gewissen Nebenbeschäftigungen« nachgehen?129 »Bilde, Dichter, rede nicht!«130 Dies schreibt sich Musil, Goethe zitierend, schon 1911 in einem Vorwort-Entwurf zu den Vereinigungen auf seine Fahnen. Als Mythos im modernen Sinn (von Roland Barthes) zu gestalten, »wie sich Kriege an Bildern entzünden«,131 das hat er sich für die von 1918–1942 ein Vierteljahrhundert währende Romanarbeit vorgenommen: »Der Weltkrieg ist wegen eines Bilds entstanden (wie der Trojanische wegen einer Frau)«.132 Musils Kriegserfahrung mündet in das Romanschreiben. Der Roman ist sein persönliches Vermächtnis für die Welt, das, was von Robert Musil überbleibt. Indem er unter Aufbietung aller konstruktiven Ironie den Krieg, in den tieferen Ursachen seiner Entstehung, in seiner vernichtenden Nichtswürdigkeit, in der gegenseitigen Aufhebung alles Gescheiten, in seiner grenzenlosen dehumanisierten Dummheit zeigt, ist der Mann ohne Eigenschaften einer der wichtigsten Antikriegsromane der Weltliteratur. Am Prüfstand steht das Verhältnis zwischen der historischen und biographischen so genannten Wahrheit und der Wahrheit der Literatur. Für die reale Geschichte der Weltkriege mit ihren Schlachten und Verkehrstoten ist die Person Robert Musil bedeutungslos, er war nicht mehr als einer von tausenden Offizieren! Nicht weil er eine Soldatenzeitung redigiert hat, nicht weil er erziehungsbedingt vielleicht auch eine militäraffine Seite hatte, sondern weil er der Autor des Mann ohne Eigenschaften ist, in dem der Zusammenbruch der europäischen Kultur in seinen tiefsten Ursachen dargestellt wird – nur deswegen beschäftigen wir uns mit ihm.

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KA/Transkriptionen/Mappe III/5/68. KA/Transkriptionen /Mappe IV/3/399. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/233. KA/Transkriptionen/Mappe VII/14/32.

Harald Gschwandtner

In der Sperrgewalt der Fackel? Karl Kraus, Robert Musil und die Tiroler Soldaten-Zeitung

Abstract: Robert Musil had been working for the Tiroler Soldaten-Zeitung (›The Tirolian Soldier’s Paper‹) for several weeks when the newspaper received some critical attention in Karl Kraus’ journal Die Fackel (issue 431–436, August 1916). Recent research on Musil has tended to assume that Kraus was criticizing Musil’s role as editor of this wartime newspaper. However, this paper argues that contemporary institutional assumptions and media networks make a direct reference to the editorial practice of the Tiroler Soldaten-Zeitung – and thus Musil’s role – highly improbable. Rather, newly discovered material suggests that the newspaper’s reliance on the Viennese »War Exhibition« was a central point of Kraus’ attacks on the journal.

1. Einleitung Im Frühjahr 1918 inseriert der Gefreite Artur Wolf im Wiener Briefmarken-Anzeiger – als Adresse gibt er die Stadt Mitau an, die zu dieser Zeit im deutschen Besatzungsgebiet »Ober Ost« lag und heute unter dem Namen Jelgava zur Republik Lettland gehört: Er suche, so Wolf, für seine »Sammlung« nicht nur Exemplare der Feldzeitung des Deutschen Alpenkorps, sondern auch »[s]ämtliche Nummern der italienischen Ausgabe der ›Tiroler Soldatenzeitung‹« sowie »[s]ämtliche Nummern des ›Abendblatt der Tiroler Soldatenzeitung‹, das während der Kriegsausstellung [. . .] in Wien erschienen ist.«1 (s. Abb. 1) Studiert man die Annoncen einschlägiger Presseorgane aus den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, so zeigt sich, dass schon während des Ersten Weltkriegs seltene Ausgaben bestimmter Soldatenzeitungen zu hohen Preisen gehandelt wurden.2 Nicht nur militärische Devotionalien von der Front waren bei Sammlern beliebt, sondern bereits früh auch die Dokumente einer meist von staatlichen Stellen gesteuerten und überwach1

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Briefmarken-Anzeiger, Nr. 7, 22. 4. 1918, S. 16; die Anzeige ist erneut abgedruckt in: Briefmarken-Anzeiger, Nr. 8/9, 22. 5. u. 22. 6. 1918, S. 18. Beim Briefmarken-Anzeiger handelt es sich um ein Beiblatt der Wiener Kriegssammler-Zeitung, die für die Geschichte deutschsprachiger Soldatenzeitungen eine wichtige Quelle darstellt. Vgl. exemplarisch M. Brg.: Gefälschte Kriegszeitungen, in: Kriegssammler-Zeitung, Nr. 6, 8. 4. 1917, S. 45.

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Harald Gschwandtner

ten Berichterstattung – eine Verquickung ökonomischer, bellizistischer und journalistischer Sphären, die Karl Kraus in der Folge in vielfacher und insistierender Variation publizistisch an den Pranger stellen sollte. Kurz nach Wolfs Inserat im Briefmarken-Anzeiger findet sich in der ebenfalls in Wien hergestellten Kriegssammler-Zeitung eine Annonce mit verwandter Interessenlage: »Mir wurde ein vollständiges Exemplar der Tiroler Soldatenzeitung aus erster Hand zu 1000 Kronen angeboten. Ich bitte die Sammler, sich äußern zu wollen, ob man einen derartigen Preis fordern darf. Mir erscheint er doch etwas zu hoch.«3 Bedenkt man, dass im Mai 1918 ein Ganzjahresabonnement der von Robert Musil im Auftrag des Kriegspressequartiers redigierten Wochenzeitung Heimat für vier Kronen zu beziehen war, handelt es sich dabei um einen tatsächlich stolzen Preis.4 Gleichzeitig können die beiden Inserate aber auch als erste Hinweise darauf gelesen werden, dass die Tiroler Soldaten-Zeitung nicht bloß im engeren regionalen Umfeld rezipiert, sondern auch außerhalb Tirols interessiert wahrgenommen wurde. Als das seit Mitte August 1916 in gekürzter Form Soldaten-Zeitung betitelte Medium schließlich im April 1917 eingestellt wurde, sollte sogar die Wiener christlich-konservative Reichspost dessen Arbeit in einem kurzen Artikel mit freundlichen Worten würdigen.5 Als Beleg dafür, dass die Tiroler Soldaten-Zeitung, für die Robert Musil ab Juni 1916 tätig war,6 selbst in der Reichshauptstadt Wien gelesen wurde, galt in der Musil-Biographik durch die Recherchen von Karl Corino bislang ein im Sommer 1916 erschienenes Heft von Karl Kraus’ Zeitschrift Die Fackel. Tatsächlich taucht der Name der Tiroler Militärzeitung in Nr. 431–436 vom 2. August 1916 gleich viermal auf: zweimal in von Kraus aus anderen 3

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F. Bgm.: Sammlerschutz, in: Kriegssammler-Zeitung, Nr. 14–17, 8. 5. bis 22. 6. 1918, S. 75. Vgl. zur Tiroler Soldaten-Zeitung als Sammelobjekt auch N. N.: Drucke für Sammler. In: Kriegssammler-Zeitung, Nr. 1/2, 22. 10. u. 8. 11. 1917, S. 8. Ein Einzelheft der Tiroler Soldaten-Zeitung kostete 1916 meist 20 Heller, umfangreichere Hefte, in denen mehrere Nummern zusammengefasst wurden, waren entsprechend teurer, wobei kein einheitliches Preisschema auszumachen ist. Mit der neuen Zählung ab 6. 8. 1916 bzw. der Änderung des Titels auf Soldaten-Zeitung am 18. 8. 1916 wurde erstmals ein Jahresabonnement um 2,50 Kronen angeboten, der Preis für eine wöchentlich erscheinende Nummer der Soldaten-Zeitung blieb bis zur letzten Ausgabe Nr. 45 (15. 4. 1917) bei 20 Heller. Zur Preisgestaltung der (Tiroler) Soldaten-Zeitung vgl. Nikolaus G. Kogler: Zwischen Freiheit und Knebelung. Die Tagespresse Tirols von 1914 bis 1947. Innsbruck 2000 (= Tiroler Wirtschaftsstudien, Bd. 53), S. 183. Vgl. N. N.: Einstellung der Tiroler »Soldatenzeitung«, in: Reichspost [Nachmittagsausgabe], Nr. 177, 17. 4. 1917, S. 2. Vgl. auch die Artikel Die Tiroler Soldatenzeitung – eingestellt sowie Enttäuschungen und Erfahrungen in zwei Ausgaben der Marburger Zeitung vom 19. 4. (Nr. 89) bzw. 21. 4. 1917 (Nr. 91). Vgl. Roman Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte«? Die (Tiroler) Soldaten-Zeitung 1915–1917, in: eForum zeitGeschichte 3/4 (2001), http:// www.eforum-zeitgeschichte.at/3_01a8.pdf (aufgerufen am 14. 8. 2015), S. 9 f. Ausführlicher zu Musils Rolle vgl. ders.: Schriftführer Musil. Der Jahrhundertschriftsteller als Redakteur der Soldaten-Zeitung, in: Quart-Heft für Kultur Tirol 5 (2005), S. 54–67.

In der Sperrgewalt der Fackel?

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Abb. 1: Briefmarken-Anzeiger, Nr. 7, 22. 4. 1918, S. 16.

Drucksorten übernommenen und typographisch entsprechend markierten Zitaten, zweimal in vom Herausgeber und Alleinautor selbst verfassten Kommentaren. Kraus habe, so Corinos auf diesem Befund aufbauende These, »offenbar regelmäßig« die Tiroler Soldaten-Zeitung gelesen und in der Fackel kommentiert: »Allein drei Glossen der ›Fackel‹ vom 2. August 1916 sind diesem militärischen Blatt gewidmet.«7 Zuletzt hat Regina Schaunig in ihren Arbeiten zu Musils Redakteurstätigkeit im Ersten Weltkrieg Corinos Interpretation ausdrücklich beigepflichtet: Die Soldaten-Zeitung habe sich, so Schaunig, unter Musils Ägide »zu einer journalistisch anspruchsvollen Wochenzeitschrift entwickelt, die auch in Wien, beispielsweise von Karl Kraus, gelesen und kommentiert« worden sei.8 Aber handelt es sich bei den entsprechenden Texten in der Fackel tatsächlich um direkte Bezugnahmen auf die journalistische Praxis der Tiroler Soldaten-Zeitung?9 Oder anders gefragt: Hatte Karl Kraus mit seiner – wie es Musil später in einer Theaterkritik formulierte – »ungeheuer scharfe[n] Witterung für das Unreinliche«10 im Sommer 1916 wirklich Exemplare der 7 8

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Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2 2005, S. 562. Regina Schaunig: Viribus unitis. Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität, in: Musil-Forum 31 (2009/2010), S. 202–223, hier S. 212. Vgl. dazu auch die fast identische Passage in Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Mit zwei Beiträgen von Karl Corino und 87 Musil zugeschriebenen Zeitungsartikeln. Klagenfurt, Wien 2014, S. 102. Schaunigs Behauptung, Karl Kraus habe auch den Musil zugeschriebenen Prosatext Aus der Geschichte eines Regiments in der Fackel kommentiert (vgl. ebd., S. 149, Anm. 255), lässt sich nicht belegen. So die Vermutung in Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 8), S. 212, Anm. 38. Robert Musil: Wiener Theater [9. 5. 1924], in: GW II, S. 1659–1661, hier S. 1660. Zu Kraus’ Phantasma sprachlicher ›Reinheit‹ vgl. Michael Pollak: Aktionssoziologie im literarischen Feld. Die

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Tiroler Soldaten-Zeitung auf seinem Schreibtisch liegen, um sie dem redaktionellen Regime der Fackel zu unterwerfen?11 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Kraus nicht zwangsläufig ein regelmäßiger Leser der Tiroler Soldaten-Zeitung sein, ja dass er sie im Grunde nicht ein einziges Mal physisch in Händen halten musste, um sie in der Fackel mehrmals im Kontext pressekritischer Kommentare zu nennen. Sämtliche Erwähnungen der Tiroler Soldaten-Zeitung in der Fackel lassen sich als Resultate anderer, indirekter Rezeptionswege rekonstruieren; für diese spielte Kraus’ Aversion gegen die Neue Freie Presse, deren Chefredakteur Moriz Benedikt in den Letzten Tagen der Menschheit als »verantwortlicher Redakteur des Weltkriegs« gezeichnet wird,12 wohl eine größere Rolle als die Achse Wien–Südtirol. Eher am Rande soll dabei auch das virulente »Problem der Zuordnung«13 eine Rolle spielen, also die Frage, ob Kraus’ Kommentare in der Fackel zumindest auf Umwegen mit dem ›Schreiber‹ Robert Musil, wenn nicht gar mit dem literarischen Autor gleichen Namens in Verbindung stehen.14 Als aufmerksamer wie kritischer Leser der Wiener Presse wusste Kraus wohl spätestens seit dem 7. September 1915 von der Existenz der Tiroler Soldaten-Zeitung, da die Neue Freie Presse an diesem Tag dem Tiroler Militärblatt einen kurzen Bericht gewidmet hatte.15 Der floskelhafte, das Kriegsgeschehen verharmlosende Duktus des Artikels hätte Kraus schon damals eine Glosse wert sein können: »Mit der Herausgabe der ›Tiroler Soldatenzeitung‹ hat das Landesverteidigungskommando in Tirol eine glückliche Idee verwirklicht, die ihr den Dank aller im Felde stehender Tiroler und auch der anderen Truppenangehörigen sichert«, finde der Soldat doch darin »Bildungs- und Unterhaltungsstoff, der die Zeit, die in der Reservestellung oder in der Kampfpause im Unterstand verbracht werden muß, angenehm und

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Kämpfe des Karl Kraus, in: Louis Pinto, Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz 1997, S. 235–282, hier S. 252. Vgl. dazu die Ausführungen in Juliane Vogel: Materialbeherrschung und Sperrgewalt. Der Herausgeber Karl Kraus, in: Uwe Hebekus, Ingo Stöckmann (Hg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. München 2008, S. 459–471. Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 10: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a. M. 1986, S. 504. – Zur Neuen Freien Presse als »häufigste[s] Angriffsziel« der Fackel vgl. Aleksandra Stepanów: Die Fackel und die Neue Freie Presse. Vom Verhältnis zwischen der satirischen Zeitschrift Wiens und dem Weltblatt der habsburgischen Monarchie, in: Studia niemcoznawcze (2013), H. 51, S. 199–209, Zit. S. 200. Elena Giovannini: Robert Musils Beiträge in der Soldatenzeitung. Propaganda und kritische Ironie im Vergleich. Diss. Univ. Pescara 1986/1987, S. 41. Vgl. dazu erste Überlegungen in Harald Gschwandtner: Dienst und Autorschaft im Krieg. Robert Musil als Redakteur der Zeitschrift Heimat, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 101–124, bes. S. 123, Anm. 97. Die erste Nummer der Tiroler Soldaten-Zeitung war am 2. Juni 1915 erschienen. Schon in mehreren Nummern der Reichspost aus dem Juni und Juli 1915 finden sich Hinweise auf die Berichterstattung der Tiroler Soldaten-Zeitung – auch diese könnte Kraus bereits wahrgenommen haben.

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geistanregend verkürzt.«16 Anfang Januar 1916 berichtete das Neue Wiener Journal eingehend von einer anlässlich des Jahreswechsels publizierten »Festnummer« der Tiroler Soldaten-Zeitung;17 im Mai des Jahres lobte das Wiener Fremden-Blatt eine »vorzüglich ausgestattete Osternummer« der zu dieser Zeit in Trient beheimateten18 Zeitung, »die unseren braven Soldaten sicher große Freude bereitet haben wird.«19 Die Tiroler Soldaten-Zeitung scheint im Sommer 1916 in Wien jedenfalls kein unbekanntes Medium mehr gewesen zu sein, zumal Mitte des Jahres die Kriegsausstellung im Prater eröffnet wurde,20 die nicht nur zur Popularisierung der Tiroler Soldaten-Zeitung beigetragen haben dürfte, sondern auch für deren erste Erwähnung in der Fackel eine entscheidende Rolle spielte.21

2. Eine Tiroler Hütte im Prater: Kriegsausstellung Die Kriegsausstellung des Jahres 1916, die 1917 in adaptierter Form erneut zu sehen war, sollte im Wiener Prater als aufwändige Schau die Leistungsfähigkeit der k. u. k. Armee demonstrieren. Bereits in den ersten zwei Monaten zählte die Ausstellung 500 000 Besucher;22 sie präsentierte sowohl tägliche Theater- und Filmaufführungen als auch ausgedehnte Bereiche, in denen verschiedene thematische Aspekte des Weltkriegs behandelt wurden: Kriegsfürsorge und Versorgung von Kriegsversehrten; eine Sammlung eroberter Trophäen; Kunst, Literatur und Fotografie im Krieg. Mit der Errichtung von Gefechtsstellungen und Schützengräben folgten Teile der Ausstellung einem

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N. N.: »Tiroler Soldatenzeitung«, in: Neue Freie Presse [Morgenblatt], Nr. 18335, 7. 9. 1915. N. N.: Ernstes und Heiteres aus der Tiroler Soldatenzeitung, in: Neues Wiener Journal, Nr. 7969, 7. 1. 1916. Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte« (s. Anm. 6), S. 6. N. N.: Eine Osternummer der »Tiroler Soldatenzeitung«, in: Fremden-Blatt [Morgen-Ausgabe], Nr. 130, 11. 5. 1916. Zu den Sondernummern der Tiroler Soldaten-Zeitung vgl. Kogler: Zwischen Freiheit und Knebelung (s. Anm. 4), S. 184. Ursprünglich sollte die Kriegsausstellung bereits im Mai 1916 eröffnet werden, der Termin musste jedoch verschoben werden; die offizielle Eröffnung fand schließlich am 1. Juli 1916 unter Beisein von Erzherzog Franz Salvator statt. Vgl. N. N.: Die Wiener Kriegsausstellung. Ein Rundgang durch die Ausstellung, in: Reichspost [Morgenblatt], Nr. 298, 29. 6. 1916. – Zu den historischen Kontexten der Wiener Kriegsausstellung vgl. Maureen Healy: Entertainment, propaganda and the Vienna War Exhibition of 1916–17, in: M. H.: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I. Cambridge u. a. 2004, S. 87– 121; Monika Sommer: Zur Kriegsausstellung 1916 im Wiener Prater »als mächtige Antwort der Monarchie an das feindliche Ausland«, in: Alfred Pfoser, Andreas Weigl (Hg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien 2013, S. 502–513. Auf diese Verbindung hat bisher, soweit ich sehe, nur Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte« (s. Anm. 6), S. 4 u. 11, aufmerksam gemacht. Vgl. Healy: Entertainment (s. Anm. 20), S. 88.

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Abb. 2: [Karl Kraus:] Kriegsausstellung, in: Die Fackel, Nr. 431–436, 2. 8. 1916, S. 26–27, hier S. 26.

Prinzip des »Reenactment«23 – und verliehen ihr, so Maureen Healy, in der prekären Verbindung von Propaganda, Information und Unterhaltung den Charakter eines »war theme park«.24 Die Glosse, mit der Kraus auf die journalistische Berichterstattung zu den Eröffnungsfeierlichkeiten in der Fackel vom 2. August 1916 reagierte, folgt einem den Lesern der Zeitschrift vertrauten Verfahren: Zuerst werden zwei Textblöcke aus rezenten Ausgaben der Wiener Presse inhaltlich und stilistisch unverändert, aber ohne Angabe der entsprechenden Quelle abgedruckt (s. Abb. 2), um anschließend deren intellektuelle wie sprachliche Dürftigkeit in einem Kommentar des Herausgebers Kraus genüsslich vorzuführen. Bei der linken Spalte handelt es sich um ein Zitat aus einem Bericht zur Eröffnung der Kriegsausstellung, der in der Neuen Freien Presse vom 2. Juli publiziert worden war;25 die rechte Spalte gibt den zweiten Teil eines in der Neuen Freien Presse vom 3. Juli abgedruckten Lokalberichts wieder.26 – Kraus selbst war, wenn man seinem auf die beiden Zitatblöcke folgenden Kommentar Glauben schenken darf, als Pressevertreter zur Eröffnung der Ausstellung eingeladen worden, hatte jedoch wenig überraschend abgelehnt und die Einladung postwendend zurückgeschickt: »Ich würde eine Friedensausstellung besuchen, in der aber nichts zu sehen sein dürfte als aufgehängte Kriegsgewinnler«, so Kraus in seiner drastischen Replik, um sogleich einen 23 24 25 26

Sommer: Zur Kriegsausstellung 1916 (s. Anm. 20), S. 510. Healy: Entertainment (s. Anm. 20), S. 91. Vgl. N. N.: Die Eröffnung der Kriegsausstellung, in: Neue Freie Presse [Morgenblatt], Nr. 18628, 2. 7. 1916. Vgl. N. N.: Kriegsausstellung Wien 1916, in: Neue Freie Presse [Nachmittagsblatt], Nr. 18629, 3. 7. 1916.

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Gegenvorschlag zu formulieren: »Lockte die Menschheit nicht doch noch mehr eine Kriegs-Einstellung? Ich würde die Einladung annehmen.«27 In der redaktionellen Bearbeitung der Berichte aus der Neuen Freien Presse setzt Karl Kraus – in ähnlicher Weise wie in seinem monumentalen Weltkriegsdrama Die letzten Tagen der Menschheit – die typographische Sperrung bestimmter Passagen und Wörter als subtile »Störung« des ursprünglichen textuellen Gefüges ein – und aktiviert damit, wie Juliane Vogel an Beispielen aus der Fackel gezeigt hat, die »exekutive Dimension des Wortes sperren«.28 Der Herausgeber übt insofern eine »Sperrgewalt über die Zeitungstexte«29 aus, als er die zitierten Beiträge durch die typographische Hervorhebung von Begriffen und Formulierungen neu perspektiviert und sie somit nicht nur in ihrer formalen Gestaltung, sondern auch inhaltlich-konzeptionell in spezifischer Weise modifiziert.30 Kraus selbst hat dieses SperrVerfahren schon in einer frühen Nummer der Fackel vom 18. April 1902 als Möglichkeit beschrieben, auf die »penetrante Gemeinheit« bestimmter Passagen in einem »wörtlichen Citate« besonders hinzuweisen:31 Typographie als subtile Form redaktioneller Kommentierung. Indem Kraus etwa in der linken Spalte der Glosse Kriegsausstellung im Gegensatz zum ursprünglichen Text den Begriff »Persönlichkeiten« vorderhand unmotiviert durch eine Sperrung akzentuiert, wird die in der Neuen Freien Presse – im Rahmen einer eingeschliffenen journalistischen Topik – verwendete Bezeichnung für die anwesenden militärisch-politischen Honoratioren hervorgehoben und ostentativ in Zweifel gezogen. Die Tiroler Soldaten-Zeitung spielt für Kraus’ Kommentierung der Wiener Kriegsausstellung nun insofern eine Rolle, als der zitierte Bericht der Neuen Freien Presse vom 3. Juli sie explizit als Attraktion derselben erwähnt: »Die ›Tiroler Soldatenzeitung‹, die in der im Blockhause der genannten Zeitung befindlichen Druckerei gleichsam vor den Augen des Ausstellungspublikums gedruckt« werde, habe »reißenden Absatz« gefunden32 – für Kraus offenbar keine besonders erhebende Vorstellung, waren ihm doch Geschwindigkeit und Popularität gleichermaßen zuwider. Der offizielle Katalog der Wiener Kriegsausstellung gibt genauere Auskunft über diese ›Schau-Druckerei‹ auf dem Ausstellungsgelände, in der allerdings nicht eine vollständige Ausgabe der Tiroler Soldaten-Zeitung hergestellt wurde, sondern nur ein 27 28 29 30

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[Karl Kraus:] Kriegsausstellung, in: Die Fackel, Nr. 431–436, 2. 8. 1916, S. 26–27, hier S. 27. Vogel: Materialbeherrschung (s. Anm. 11), S. 467. Vogel: Materialbeherrschung (s. Anm. 11), S. 467. Vgl. Vogel: Materialbeherrschung (s. Anm. 11), S. 467, Anm. 43: »Diese durch die Fackel [sic] angeordneten Sperrungen kollidieren jedoch notwendiger Weise mit den Sperrungen, die Kraus in der Zeitung bereits vorfindet.« – Kraus habe damit, so Vogel weiter, »eine typographische Einrichtung in eine autoritäre Maßnahme« transformiert (ebd., S. 468). [Kommentierung von Zuschriften an die Fackel], in: Die Fackel, Nr. 100, 18. 4. 1902, S. 21. N. N.: Kriegsausstellung Wien 1916, in: Neue Freie Presse [Nachmittagsblatt], Nr. 18629, 3. 7. 1916.

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Abb. 3: Postkarte zur Wiener Kriegsausstellung 1916.

zweiseitiges »Abendblatt«, auf das bereits eingangs in der Wolf’schen Annonce Bezug genommen wurde: Die Ausstellung präsentiere, so vermerkt der Katalog, einen »Unterstand mit der Schaustellung der Tiroler Soldaten-Zeitung, enthaltend eine Felddruckerei, in welcher die täglichen Heeresberichte als Abendausgabe der Tiroler Soldaten-Zeitung gedruckt und verkauft werden.«33 (s. Abb. 3) Das offenbar täglich erschienene, im Zeitungskopf nicht datierte »Abendblatt« der Tiroler Soldaten-Zeitung bestand lediglich aus einem Foto auf dem Titelblatt sowie einem aktuellen Bericht der Obersten Heeresleitung auf der Rückseite des Blattes (s. Abb. 4 u. 5).34 Ein Artikel, 33

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Offizieller Katalog der Kriegsausstellung Wien 1916. Hg. v. Arbeits-Ausschuss. Wien 1916, S. 137. Die dritte, ebenfalls 1916 erschienene und deutlich erweiterte Auflage des Katalogs ist vollständig als Digitalisat der Wienbibliothek verfügbar: http://www.digital.wienbibliothek. at/wbrobv/content/pageview/459146?query=soldaten-zeitung (aufgerufen am 10. 8. 2015). Der bereits erwähnte Bericht der Reichspost spricht von einer »ganz primitiven Felddruckerei« (N. N.: Die Wiener Kriegsausstellung. Ein Rundgang durch die Ausstellung, in: Reichspost [Morgenblatt], Nr. 298, 29. 6. 1916). Vgl. dazu auch die Anmerkungen in Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte« (s. Anm. 6), S. 4: »Die Wiener Kriegsausstellung bot der Tiroler Soldatenzeitung ab 1. Juli 1916 die Gelegenheit, sich mit einem Bilderpavillon und einem eigenen Unterstand aus Holz einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Besonderen Zuspruch fanden hierbei die allabendlich herausgegebenen Extraausgaben mit den neuesten Heeresberichten, die vor den Augen der Besucher ›in einer ganz primitiven Felddruckerei‹ hergestellt wurden. Mit Fotografien, Bildern und in Vitrinen ausgelegten Kriegszeitungen warb das Tiroler Blatt um neue Abnehmer.« Aus dem Heeresbericht lässt sich das Druckdatum schließlich doch annähernd bestimmen. – Zum Aufbau des Abendblattes vgl. die entsprechenden Angaben in: Offizieller Katalog der

In der Sperrgewalt der Fackel?

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der im Dezember 1916 in der Kriegssammler-Zeitung gedruckt wurde, bietet weitere Informationen zu diesem »Abendblatt«: Aus technischen Gründen änderte es seinen Namen nicht, als die in Tirol herauskommende »Tiroler Soldatenzeitung« seit 18. August 1916 »Soldatenzeitung« benannt wurde. Das Abendblatt der »Tiroler Soldatenzeitung« trat im Juli ins Leben. Mit Schluss der Ausstellung am 29. Oktober 1916 ging es ein. Auf den Blättern, die für je 10 h verkauft wurden, fehlte die fortlaufende Nummernangabe. Das kleine Tiroler Häuschen, in dem es auf der Schnellpresse gedruckt wurde, steht nun leer.35

Die Wiener Dependance der Tiroler Soldaten-Zeitung verfolge die Idee, so der Ausstellungskatalog, »die Kämpfe, die charakteristischen Eigenschaften ihres Schauplatzes und der Kämpfer sowie den patriotischen Geist des ganzen Landes Tirol auch den übrigen Völkern der Monarchie in der Reichshauptstadt vor Augen zu führen«, und habe deshalb »in ihrem nach den Vorbildern in den Tiroler Gebirgen gebauten Unterstande alles ihr derzeit zur Verfügung stehende Materiale an Originalgemälden, Zeichnungen, Photographien usw. zur Schaustellung gebracht«.36 Die Liste der Materialien verzeichnet darüber hinaus eine umfangreiche Sammlung österreichisch-ungarischer und deutscher Kriegszeitungen, worunter auch die »zeitweilig« erschienenen »italienische[n] und ungarische[n] Ausgaben« der Tiroler Soldaten-Zeitung angeführt werden:37 die Tiroli Katona Ujság sowie das Giornale del soldato tirolese.38 Die exponierte Präsentation der Tiroler Soldaten-Zeitung auf der vielbesuchten und in der Presse vielbesprochenen Kriegsausstellung im Wiener

35

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Kriegsausstellung [1. Aufl.] (s. Anm. 33), S. 140 [in der 3. Aufl. 1916: S. 193 f.]: »Fliegende Felddruckerei. / Bestehend aus einem einfachen Setzkasten und einem amerikanischen Tiegel. Hier wird vor den Augen des Publikums täglich Nachmittag die Abendausgabe der ›Tiroler Soldatenzeitung‹ hergestellt, welche auf dem Titelblatte der ›Tiroler Soldaten-Zeitung‹ täglich ein anderes Bild vom Tiroler Kriegsschauplatze und auf der Rückseite die Heeresberichte der Verbündeten bringt.« – In den für das ANNO-Portal der Österreichischen Nationalbibliothek gescannten Nummern sind zurzeit immerhin zwei Exemplare des Abendblattes aus dem Juli 1916 verfügbar. G. W.: Kriegszeitungen, die kamen und verschwanden, in: Kriegssammler-Zeitung, Nr. 2, 1. 12. 1916, S. 7–8, hier S. 8; vgl. den wortgleichen Bericht in: Oesterreichisch-ungarische Buchhändler-Correspondenz, Nr. 52, 27. 12. 1916, S. 649–650, hier S. 650. Offizieller Katalog der Kriegsausstellung [1. Aufl.] (s. Anm. 33), S. 139 f. Offizieller Katalog der Kriegsausstellung [1. Aufl.] (s. Anm. 33), S. 139. Vgl. Offizieller Katalog der Kriegsausstellung [1. Aufl.] (s. Anm. 33), S. 141. – Zur italienischen Ausgabe vgl. auch die Angaben in W.: Kriegszeitungen, in: Kriegssammler-Zeitung, Nr. 7–8, April/Mai 1917, S. 52–53, hier S. 52: »Ganz kurze Zeit, zum Anfang ihres Erscheinens, hatte sie eine Ausgabe in italienischer Sprache, die aber nicht über die ersten Nummern hinauskam.« – Hinweise zu den italienischen und ungarischen Ausgaben der Tiroler Soldaten-Zeitung finden sich in Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte« (s. Anm. 6), S. 2 f. u. 27. – Der ungarischen Ausgabe, von der zwischen Februar und Mai 1916 zumindest fünf Nummern erschienen, widmet sich jetzt ausführlich Davide Zaffi: Eine Ungarin in Tirol. Die Tiroli Katona Ujság. Einführung v. Fernando Orlandi. Levico Terme 2010; dort finden sich auch alle erhaltenen Ausgaben der Tiroli Katona Ujság als Faksimile. – Auf eine erhaltene Nummer des Giornale del soldato tirolese weist Fernando Orlandi: Das Ergebnis einer langen Arbeit, in: ebd., S. 7–11, hier S. 10, hin.

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Harald Gschwandtner

Abb. 4: »Abendblatt« zur Tiroler Soldaten-Zeitung, [25. 7. 1916], S. [1].

Prater (s. Abb. 6) erhöhte mit Sicherheit ihren Bekanntheitsgrad.39 Während die Zeitung im Juli 1916 nach Bozen übersiedelte und – ab August unter verändertem Namen – eine redaktionelle Neuausrichtung erfuhr, inszenierte die Wiener Kriegsausstellung die Idyllik eines Tiroler Blockhauses und ließ 39

Im Lageplan der 1917 adaptiert wieder eröffneten Kriegsausstellung scheint die Abteilung der Tiroler Soldaten-Zeitung im Übrigen nicht mehr auf. Vgl. die Abbildung in Healy: Entertainment (s. Anm. 20), S. 110.

In der Sperrgewalt der Fackel?

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Abb. 5: »Abendblatt« zur Tiroler Soldaten-Zeitung, [25. 7. 1916], S. [2].

»Abendblätter« ohne redaktionelle Anteile drucken, die mit der zunehmend kritischen und von den (Militär-)Behörden argwöhnisch beobachteten Berichterstattung der Soldaten-Zeitung recht wenig zu tun hatten. Ob im Zuge dieser PR-Maßnahmen auch eine vollständige Ausgabe der Tiroler SoldatenZeitung in Karl Kraus’ Hände gelangte, lässt sich aufgrund der vorliegenden Indizien nicht eruieren.

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Abb. 6: Postkarte zur Wiener Kriegsausstellung 1916.

3. Sprachkritik: Blätter und Folgen Eine weitere Erwähnung im August-Heft der Fackel findet die Tiroler Soldaten-Zeitung in der Glosse Blätter und Folgen:40 Wiederum bezieht sich Kraus’ Kommentar nicht direkt auf die Tiroler Soldaten-Zeitung, sondern auf einen in zahlreichen Wiener Zeitungen abgedruckten Text, der auf die Berichterstattung der Tiroler Soldaten-Zeitung über die Einnahme und Sprengung des italienischen Panzerwerks Forte Casa Ratti durch Truppen der k. u. k. Monarchie Ende Mai 1916 aufmerksam macht. Die beiden einschlägigen Artikel über die Eroberung des Forts waren in zwei Nummern der Tiroler Soldaten-Zeitung vom 30. Mai bzw. 8. Juni 1916 erschienen.41 Der mit dem Hinweis »Innsbruck, 9. Juni« versehene, also womöglich von einem Innsbrucker Korrespondenten stammende Pressetext wurde in übereinstimmender Fassung am 10. Juni sowohl in der Neuen Freien Presse42 als auch im Fremden-Blatt, im Deutschen Volksblatt, der Wiener Zeitung sowie der Reichspost abgedruckt; er rekapituliert, mit geringfügigen Ergänzungen und Umstellungen, den zweiten, neueren Bericht der Tiroler Soldaten-Zeitung. 40 41

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[Karl Kraus:] Blätter und Folgen, in: Die Fackel, Nr. 431–436, 2. 8. 1916, S. 108. N. N.: Die Einnahme des Panzerforts »Barcarola« (Casaratti), in: Tiroler Soldaten-Zeitung, Nr. 171, 30. 5. 1916; N. N.: Die Einnahme des Panzerwerkes Casa-Ratti, in: Tiroler SoldatenZeitung, Nr. 172–175, 8. 6. 1916. N. N.: Die Einnahme des Panzerwerkes Casa Ratti, in: Neue Freie Presse [Morgenblatt], Nr. 18607, 10. 6. 1916.

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Demnach bildet nicht die Tiroler Soldaten-Zeitung selbst den konkreten Anlass für die Kommentierung in der Fackel, sondern ein aus dem ursprünglichen Artikel kompilierter, in dieser Gestalt nicht in der Tiroler SoldatenZeitung abgedruckter Agenturbeitrag. Kraus übernimmt in seiner Glosse jeweils Halbsätze aus dem Text und attackiert mittels subversiver Interpolationen am Beispiel der mehrdeutigen Begriffe »Folge« und »Blätter« – diese sind wiederum durch Sperrung hervorgehoben – die seiner Einschätzung nach defizitäre sprachliche Faktur des Artikels.43 Wie im ersten Fall geschieht Kraus’ Bezugnahme auf die Tiroler Soldaten-Zeitung nur vermittelt über andere Textträger, weshalb auch hier nicht auf eine direkte Lektüre des Tiroler Militärorgans durch Karl Kraus geschlossen werden kann.44

4. Musils Populärwissenschaft? Granaten gegen Sterne Der letzte Beitrag des August-Heftes der Fackel aus dem Jahr 1916 trägt den Titel Granaten gegen Sterne. Traum und Verzicht des Fortschritts.45 Fast die gesamte Seite nimmt dabei ein zitierter Textblock mit der Überschrift Der Weg zu den Sternen ein, den Kraus mit einer knappen, bloß aus zehn Wörtern bestehenden Sentenz abschließend kommentiert (s. Abb. 7).46 Obschon hier weder textuelle noch paratextuelle Marker auf eine Herkunft aus der Tiroler Soldaten-Zeitung hinweisen, hat Karl Corino eruiert, dass ein Beitrag unter diesem Titel am 8. Juli 1916 in der »Literarischen Beilage« der Tiroler Soldaten-Zeitung abgedruckt worden war, und führt dies als weiteren Beleg für seine These an, wonach Karl Kraus in Wien die (Tiroler) Soldaten-Zeitung direkt rezipiert habe (s. Abb. 8). In seinem populärwissenschaftlichen, auf Anschaulichkeit zielenden Duktus liest sich der Artikel wie die kriegstechnisch modernisierte Variante einer Hebel’schen Kalendergeschichte:47 43 44

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Vgl. zu dieser im Textregime der Fackel bewährten Abfolge von Zitat und Kommentar Pollak: Aktionssoziologie im literarischen Feld (s. Anm. 10), S. 247. Auch der »Gebrauch germanischer Ortsnamen« für italienische Orte, den Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1626, Anm. 163, als Hinweis auf Kraus’ direkte Bezugnahme auf die Tiroler Soldaten-Zeitung im Rahmen der Glosse Blätter und Folgen anführt, lässt sich nicht zweifelsfrei mit dieser in Verbindung bringen, erschienen im Juni 1916 doch sowohl in der Tiroler Soldaten-Zeitung als auch in der Neuen Freien Presse oder der Reichspost jeweils mehrere Artikel, »die Lafraun für Lavarone oder Rovreit für Rovereto« verwenden. Granaten gegen Sterne. Traum und Verzicht des Fortschritts, in: Die Fackel, Nr. 431–436, 2. 8. 1916, S. 132. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 562, spricht von einem kurzen, »aber wirkungsmächtige[n] Zusatz«. Vgl. etwa Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Hg. v. Gertrud Fussenegger. Salzburg 1975, S. 22 f.: »Wenn auf der Sonne eine große scharf geladene Kanone stünde, und der Konstabler, der hinten steht und sie richtet, zielte auf keinen andern Menschen als auf dich, so dürftest du deßwegen in dem nämlichen Augenblick, als sie losgebrannt wird, noch herzhaft anfangen, ein neues Haus zu bauen [. . .].«

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Abb. 7: [Karl Kraus:] Granaten gegen Sterne. Traum und Verzicht des Fortschritts, in: Die Fackel, Nr. 431–436, 2. 8. 1916, S. 132.

Abb. 8: N. N.: Der Weg zu den Sternen, in: Tiroler Soldaten-Zeitung [Literarische Beilage], Nr. 188–190, 8. 7. 1916.

In der Sperrgewalt der Fackel?

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Ein Flieger, der in der Sekunde etwa 28 Meter zurücklegt, würde nach fünfmonatiger, ununterbrochener Fahrt den Mond erreichen, während er 5800 Jahre unterwegs sein müßte, um zum Abendstern zu gelangen. Wollte er dagegen der Sonne einen Besuch abstatten, so brauchte er nicht weniger als 17 000 Jahre zu dieser Reise, die ein Lichtstrahl bei einer Geschwindigkeit von 300 000 die Sekunde in knapp 8 1/3 Minuten bewältigen könnte. Der gleiche Lichtstrahl, der 1 1/4 Sekunde den Mond und in etwas über 4 Stunden den Neptun, den der Erde fernsten Planeten, erreichen würde, müßte doch rund 10 000 Jahre das unermeßliche Weltall durcheilen, um zu den äußersten Sternen der Milchstraße zu gelangen, die von einer von der Erde abgefeuerten Granate erst nach Verlauf von 3 bis 4 Milliarden Jahren getroffen würde. 5 Jahre brauchte sie allein bis zur Sonne, dagegen nur 4 1/2 Tage bis zum Mond, der unser nächster Nachbar im Weltraum ist. In die Tat lassen sich derartige Berechnungen freilich nicht umsetzen, denn dazu reicht unsere schwache Kraft nicht aus, aber sie geben uns immerhin ein anschauliches Bild von der ungeheuren Ausdehnung des unsere winzige Erde umschließenden Universums.48

Der Abdruck des Textes in der Fackel stelle, so Corino, vermutlich »eine direkte Replik auf einen kleinen populärwissenschaftlichen Beitrag des Ingenieurs Musil« dar, »der den Landsern vorrechnete, wie lang ein Flugzeug, eine Granate oder ein Lichtstrahl bräuchten, um den Mond, die Sonne, den Neptun oder die fernsten Gestirne der Milchstraße zu erreichen.«49 Aber handelt es sich bei diesem Feuilletonartikel tatsächlich um einen Text aus Musils Feder,50 der folglich auch in einem naturwissenschaftlich-literarischen Werkzusammenhang zu verorten wäre? Und hat sich Kraus, wie Corino suggeriert, in seiner Glosse wirklich auf den Druck des Textes in der Tiroler SoldatenZeitung bezogen? Beide Fragen können, wie abschließend zu zeigen ist, mit einem eindeutigen ›Nein‹ beantwortet werden. Erstens erschien ein Text gleichen Titels und Inhalts – und ebenfalls ohne Verfasserangabe – bereits am 18. Juni im Abendblatt des Pester Lloyd, am 22. Juni im Teplitz-Schönauer Anzeiger und am 23. Juni in der Wiener Neuen Zeitung, was eine Autorschaft Musils im Grunde ausschließt.51 Es handelt sich bei Der Weg zu den Sternen um einen jener austauschbaren journalistischen Textbausteine, deren Ursprung und Verfasserschaft durch beständige Weitergabe womöglich nicht mehr endgültig zu klären ist. Was zweitens bei den unterschiedlichen Drucken des Beitrags ins Auge fällt, sind Abweichun48 49

50 51

N. N.: Der Weg zu den Sternen, in: Tiroler Soldaten-Zeitung [Literarische Beilage], Nr. 188– 190, 8. 7. 1916. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 562. Vgl. ebd.: »Der Illusion, die menschliche Technik werde binnen kurzem in der Lage sein, solche Reisen durch den Kosmos tatsächlich ins Werk zu setzen, beugte Musil [!] mit der Schlußwendung vor, solche Berechnungen ließen sich nicht in die Tat umsetzen, denn dazu reiche unsere schwache Kraft nicht aus [. . .].« So auch die rezente (und editionsphilologisch problematische) Zuschreibung bei Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 8), S. 63 u. 356. Weitere Drucke des Textes finden sich etwa in der Vorarlberger Landes-Zeitung v. 1. 7. 1916, in der Nordmährischen Rundschau v. 2. 7. 1916, im Prager Tagblatt v. 16. 7. 1916, im FremdenBlatt v. 18. 7. 1916, in der Lagerzeitung für Wagna v. 23. 7. 1916, im Znaimer Tagblatt v. 26. 7. 1916 und in der Salzburger Chronik v. 11. 8. 1916.

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Abb. 9: N. N.: Der Weg zu den Sternen, in: Prager Tagblatt [Abendausgabe], Nr. 195, 16. 7. 1916.

gen im Detail, die es äußerst unwahrscheinlich machen, dass Kraus für seine Glossierung des Textes in der Fackel auf die Tiroler Soldaten-Zeitung zurückgegriffen hat. Gleich an vier Stellen stimmt der von Kraus zitierte und mit den ›ortsüblichen‹ Sperrungen versehene Text nicht mit jenem in der Tiroler Soldaten-Zeitung überein, weist dieser doch nicht nur zwei grammatikalische Fehler, die Kraus im Sinne einer Entlarvung sprachlicher Missstände wohl nicht stillschweigend korrigiert hätte, sondern auch eine signifikante inhaltliche Abweichung auf: Während in der Fackel das Licht von der Sonne bis zur Erde »8 1/2 Minuten« benötigt, sind es in der Soldaten-Zeitung »8 1/3 Minuten« – Fehler, die dem als hochgradig penibel bekannten Kraus kaum als Abschreibeversehen unterlaufen wären. Sichtet man die früheren Drucke im Pester Lloyd und anderen Zeitschriften, ist freilich meist eine ähnliche Anzahl an Abweichungen festzustellen.52 Eine synoptische Lektüre der bisher aufgefundenen Drucke legt nun die Vermutung nahe, Kraus habe für seine Glosse die Abendausgabe des Prager Tagblatts vom 16. Juli 1916 52

Vgl. etwa die vier geringfügigen Abweichungen zwischen dem Druck in Die Neue Zeitung. Illustriertes unabhängiges Tagblatt v. 23. 6. 1916 und dem Text, der in der Fackel zitiert wird: »von 300 000 Metern pro Sekunde« vs. »von 300 000 Metern in der Sekunde«; »in knapp 8 1/2 Minuten« vs. »in knapp acht und einer drittel Minute«; »Lichtstrahl, der in 1 1/4 Sekunden« vs. »Lichtstrahl, der in fünfviertel Sekunden«; »doch 10 000 Jahre« vs. »doch rund 10 000 Jahre«.

In der Sperrgewalt der Fackel?

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herangezogen (s. Abb. 9);53 ist dort doch zum einen die größte Nähe zur Textgestalt der Fackel-Version festzustellen,54 und zum anderen zählte das Prager Tagblatt zu jenen Zeitungen der Habsburgermonarchie, die Kraus – wie zahlreiche Erwähnungen des Blattes in der Fackel belegen – regelmäßig rezipierte.55 Auch anhand weiterer, zuletzt von Schaunig allzu optimistisch Musil zugeschriebener Beiträge aus der Soldaten-Zeitung lässt sich nachweisen, dass sie auf zuvor in anderen Zeitungen gedruckten Artikeln basieren bzw. diese sogar vollständig ohne Nennung der Quelle übernehmen: Der am 4. März 1917 in der Soldaten-Zeitung gedruckte Text Aus der Sturm- und Drangzeit des Tabaks56 etwa war bereits drei Wochen zuvor unter dem Titel Die Leidensgeschichte des Tabaks im Wiener Neuigkeits-Welt-Blatt erschienen;57 Ein Riesen-Zeppelin aus der Soldaten-Zeitung vom 27. August 1916, der kürzlich ebenfalls als Musil-Text eingeordnet worden ist,58 stellt eine gekürzte Version eines im Juni des Jahres in mehreren Zeitungen veröffentlichten Aufsatzes vor, der wohl ursprünglich aus dem Berner Bund übernommen wurde.59 Es handelt sich um eine gängige Praxis der mehrfachen Verwendung journalistischer Beiträge, die im Übrigen auch in die Gegenrichtung üblich war:60 So wurden Texte aus der (Tiroler) Soldaten-Zeitung nicht nur in der KarnischJulischen Kriegszeitung,61 sondern auch in zahlreichen anderen Zeitschriften und Zeitungen abgedruckt, allen voran in der Tageszeitung Der Tiroler,62 die mit einem zeitlichen Abstand von einigen Tagen bis Wochen eine erhebliche 53 54 55

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58 59

60 61 62

Vgl. N. N.: Der Weg zu den Sternen, in: Prager Tagblatt [Abendausgabe], Nr. 195, 16. 7. 1916. Die einzige Abweichung in diesem Fall: Während das Prager Tagblatt »doch rund 10 000 Jahre« schreibt, lautet die entsprechende Passage in der Fackel lediglich »doch 10 000 Jahre«. Im Fackel-Heft Nr. 431–436 vom 2. 8. 1916 sind u. a. zwei Artikel abgedruckt, die aus dem Prager Tagblatt v. 18. 6. bzw. 29. 6.1918 übernommen wurden: Ludwig Bauers Erzählungen Kriegsgefangener sowie ein Text Peter Altenbergs. Vgl. N. N.: Aus der Sturm- und Drangzeit des Tabaks, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 39, 4. 3. 1917. Vgl. N. N.: Die Leidensgeschichte des Tabaks, in: Neuigkeits-Welt-Blatt, Nr. 34, 13. 2. 1917. – Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 8), S. 137 u. 318, weist den Artikel als Musil-Text aus. Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 8), S. 136 u. 173. Vgl. z. B. N. N.: Ueber-Zeppeline, in: Neue Freie Presse [Morgenblatt], Nr. 18614, 18. 6. 1916; N. N.: Riesen-Zeppeline, in: Deutsche Presse, Nr. 133, 10. 6. 1916. Dort finden sich jeweils Hinweise auf einen Abdruck im Bund am 1. 6. 1916; der Artikel in der Soldaten-Zeitung gibt als Quelle die Ostdeutsche Rundschau an. – Solche hier nur in Stichproben erhobenen Befunde müssen für die zukünftige editionsphilologische Bearbeitung von Musils Kriegspublizistik viel stärker als bisher beachtet werden, um problematische Zuschreibungen wie jene Schaunigs kritisch zu überprüfen. Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 8), S. 93. Vgl. Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 8), S. 58 f. Vgl. exemplarisch: Eine welthistorische politische Komödie (TSZ, 8. 7. 1916), wieder abgedruckt in Der Tiroler v. 14. 7. 1916; Bilder von der Irredenta (TSZ, 20. 7. 1916), wieder abgedruckt in Der Tiroler v. 25. 7. 1916; Aus der Geschichte eines Regiments (TSZ, 26. 7. 1916), wieder abgedruckt in Der Tiroler v. 3. 8. 1916. Die Liste ließe sich erheblich erweitern, was einer zukünftigen kritischen Ausgabe der Texte vorbehalten sein mag.

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Anzahl von Artikeln, meist mit Nennung der Erstpublikation in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung, erneut veröffentlichte.63

5. Fazit Das vorliegende Material verweist nicht zuletzt auf das virulente Problem der Zuschreibung anonym erschienener Beiträge, zumal in jenen Fällen, in denen sich Interpreten auf die Suche nach »Musils Handschrift« machen, die etwa, so Schaunig, in der »populärwissenschaftliche[n] und feuilletonistische[n] Prosa« der (Tiroler) Soldaten-Zeitung »deutlich« werde.64 Michel Foucault hat in seinem berühmten Vortrag Qu’est-ce qu’un auteur? (1969) unter anderem gezeigt, wie die Rubrizierung verschiedener und verschieden gearteter Texte unter einem Autornamen nicht bloß eine auf das einzelne Dokument beschränkte editorische Operation darstellt, sondern darüber hinaus auch »ein In-Beziehung-Setzen der Texte untereinander« bewirkt.65 Fasst man Texte aus unterschiedlichen generischen und publizistischen Kontexten unter demselben Autornamen zusammen, liegt, so Foucault, rasch die Vermutung nahe, zwischen ihnen bestehe auch »eine Beziehung der Homogenität, der Abhängigkeit, der wechselseitigen Beglaubigung, der gegenseitigen Erklärung oder der gleichzeitigen Verwendung«.66 Der Eigenname oder Autorname erfüllt demnach »nicht nur Bezeichnungsfunktionen«,67 indem er etwa einem einzelnen Text eine physische Person als Verfasser zuordnet, sondern stiftet – gerade dort, wo literarische und pragmatische Genres aufeinandertreffen – auch die Illusion eines stimmigen Werkzusammenhangs: Corinos Feststellung, ein »komischer Reflex« des Artikels Der Weg zu den Sternen, dem er zuvor explizit den Autornamen Robert Musil zugewiesen hat, finde sich in der Novelle Grigia, »und zwar in der Frage, wieviel Rattenschwänze man von der Erde bis zum Mond brauche«,68 mag dafür als anschauliches Beispiel 63

64 65

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Mit der Nummer 9 vom 6. 8. 1916 wurde im Titelblatt der Tiroler Soldaten-Zeitung ein Hinweis eingefügt, wonach der »Nachdruck sämtlicher Artikel nur mit genauer Quellenangabe gestattet« sei. Neben dem Tiroler wurden entsprechend gekennzeichnete Artikel aus der SoldatenZeitung etwa im Vorarlberger Volksfreund, im Teplitz-Schönauer Anzeiger, in der in Wien und Graz erscheinenden Deutschen Zeitung, aber auch in der Wiener Reichspost abgedruckt; selbst die deutschnationale Deutsche Presse wollte im November 1916 einen Artikel der SoldatenZeitung drucken, musste aber am folgenden Tag in einem redaktionellen Kommentar erläutern: »Die Zensur hat in unserer gestrigen Folge Teile eines in der ›Tiroler Soldatenzeitung‹ erschienenen Aufsatzes [. . .] gestrichen.« (Deutsche Presse, Nr. 264, 18. 11. 1916) Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 8), S. 99. Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: M. F.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270, hier S. 244. Foucault: Was ist ein Autor? (s. Anm. 65), S. 244. Foucault: Was ist ein Autor? (s. Anm. 65), S. 243. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1628, Anm. 164.

In der Sperrgewalt der Fackel?

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dienen: zeigt sie doch deutlich, in welchem Grad die Zuschreibung von Texten das gesamte Beziehungs- und Verweissystem eines ›Gesamtwerks‹ neu konfiguriert.69 Es steht außer Zweifel, dass Karl Kraus in seinem »Kampf gegen den Mißbrauch der Sprache«70 sowohl in der Kriegsberichterstattung als auch in der »Literarischen Beilage« der (Tiroler) Soldaten-Zeitung reiches Anschauungsmaterial zur entlarvenden Sezierung in der Fackel gefunden hätte. Für sein vernichtendes Urteil über den Zusammenhang von Presse und Krieg71 wären stichhaltige Indizien in Südtiroler Redaktionsstuben ebenso zu registrieren gewesen wie an der Wiener Sirk-Ecke oder auf der Ischler Esplanade, wo sich in den Letzten Tagen der Menschheit die Verehrer der Reichspost und Abonnenten der Neuen Freien Presse herumtreiben. Zweifelsohne hätte die Tiroler Soldaten-Zeitung ein ergiebiges Opfer der Kraus’schen ›Sperrgewalt‹ abgegeben – ein direkter Bezug im Sinne einer tatsächlichen Lektüre der Zeitung durch Karl Kraus lässt sich aufgrund des vorliegenden Materials aber nicht belegen. Vielmehr entsteht der Eindruck, als handle es sich bei der Erwähnung der Tiroler Soldaten-Zeitung in der Fackel vom August 1916 im Grunde um einen Kollateralschaden in Kraus’ publizistischem Kampf gegen die Neue Freie Presse,72 gegen Kriegsausstellung und Kriegsgewinnlertum, ja als sei sie eher zufällig in die Schusslinie von Karl Kraus geraten. Die Publikationsgeschichte jener drei Texte aus dem Umkreis der Tiroler Soldaten-Zeitung, die Eingang in die Fackel gefunden haben, lässt außerdem nicht den Schluss zu, Kraus’ Kommentierung habe auch nur am Rande etwas mit der Person Robert Musils zu tun, stammen die Artikel, die Kraus zumindest auf Umwegen in den Fokus seines redaktionellen Regimes nimmt, das »dem zirkulierenden Zeitungsmaterial durch Aussonderung und Kürzung auf den Leib rückt«,73 doch mit großer Sicherheit nicht von Musil. Weder war dieser nach momentanem Wissensstand an der Wiener Dependance der Tiroler Soldaten-Zeitung im Rahmen der Kriegsausstellung beteiligt noch ist es plausibel, eine Mitarbeit Musils an der Entstehung der beiden ›Casa-Ratti‹69

70 71

72

73

Vgl. Marcus Krause: Beitrag zur Beurteilung der Autorschaften Musils, in: Sprache und Literatur 43 (2012), H. 110, S. 66–80, bes. S. 72. Vgl. dazu auch die Überlegungen am Beispiel der Kriegspublizistik in Gschwandtner: Dienst und Autorschaft im Krieg (s. Anm. 14), S. 117–119. Pollak: Aktionssoziologie (s. Anm. 10), S. 251. Vgl. exemplarisch Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (s. Anm. 12), S. 210: »Das gedruckte Wort hat ein ausgehöhltes Menschentum vermocht, Greuel zu verüben, die es sich nicht mehr vorstellen kann, und der furchtbare Fluch der Vervielfältigung gibt sie wieder an das Wort ab, das fortwährend Böses muß gebären.« Die Reichspost wurde im Wesentlichen erst nach dem Krieg zu einem wichtigen Angriffsziel Kraus’scher Pressepolemiken. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Die Fackel und der Erste Weltkrieg, in: Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos, Marcus G. Patka (Hg.): »Was wir umbringen«. Die Fackel von Karl Kraus. Wien 1999, S. 113–123, hier S. 119. Vogel: Materialbeherrschung (s. Anm. 11), S. 461.

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Artikel anzunehmen;74 und zuletzt ist der populärwissenschaftliche Artikel Der Weg zu den Sternen nachweislich nicht originär aus der Redaktion in Trient oder Bozen hervorgegangen. Die ohnehin überschaubare Beziehungsund Konfliktgeschichte zwischen Karl Kraus und Robert Musil75 ist damit wohl um eine Episode ärmer geworden.

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75

Der zweite ›Casa-Ratti‹-Artikel in der Tiroler Soldaten-Zeitung erschien am 8. Juni 1916; der erste Kontakt Musils zur Tiroler Soldaten-Zeitung im Rahmen einer »Neuformulierung der publizistischen Strategie« fand nach Angaben von Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte« (s. Anm. 6), S. 10, jedoch erst am 12. Juni 1916 statt. Vgl. dazu zuletzt die Bemerkungen bei Stéphane Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus, in: Kevin Mulligan, Armin Westerhoff (Hg.): Robert Musil. Ironie, Satire, falsche Gefühle. Paderborn 2009, S. 225–238, und Christian van der Steeg: 50 Jahre Karl Kraus. Robert Musils Differenzierung Dichtung/Satire, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 162–176. Ein anschauliches Beispiel findet sich auch in Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 280 f.

Luigi Reitani

Das Italienbild Robert Musils in seiner Kriegserfahrung Abstract: During the First World War Robert Musil served as an officer on the South Front. His notebooks provide much information about Italian landscapes and soldiers which later can be found in his literary works, for instance his novellas Grigia and Die Amsel. My paper considers this particular image of Italy in relation to the tradition of the Italian journey and its aesthetic categories. Both an erotic and a dangerous experience of the sublime play a major role here; in contrast, however, the writer seems to show no interest towards Italian social reality during the hard times of war.

Von September 1914 bis Januar 1918, als er zum Wiener Kriegspressequartier abkommandiert wurde, diente Robert Musil als Offizier an der südlichen Front, in unmittelbarer Nähe zum Königreich Italien. In diesen dreieinhalb Jahren wurden ihm mehrere Aufgaben zugeteilt: Propagandaarbeit als verantwortlicher Redakteur der (Tiroler) Soldaten-Zeitung in Bozen, Sicherung der Grenzen in Südtirol und im Trentino (u. a. im abgelegenen Fersental), Büroarbeit im Kommando der Isonzoarmee in Adelsberg. Er nahm aber auch an der vierten Isonzoschlacht teil und erlebte den extrem schwierigen Stellungskrieg in den Dolomiten. Mit dem Tod und der Todesgefahr wurde er mehrmals konfrontiert. Er erkrankte und machte dabei die Erfahrung der dramatischen Situation der Krankentransporte und der Militärspitäler in der Etappe.1 In den Tagebüchern und in den Briefen gibt es dazu mehrfach Informationen und Notizen, die später teilweise als Grundlage literarischer Arbeiten dienten, wie im Fall der Novelle Grigia, die im Fersental spielt. Trotzdem ist die Kenntnis dieses wichtigen Abschnitts im Leben Musils nicht lückenlos. Auch die Liste der vom Autor erstellten und anonym erschienenen Artikel in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung ist bis auf einen sicheren Fall schwer rekonstruierbar.2 Welches Italienbild der Autor in dieser Zeit gehabt haben mag, ist daher 1

2

Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 497–592; vgl. ferner die Dokumentation in Reinhard G. Wittmann (Hg.): »Der Gesang des Todes« – Robert Musil und der Erste Weltkrieg. München 2014. Aufgrund von stilistischen Merkmalen hat Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Mit zwei Beiträgen von Karl Corino und 87 Musil zugeschriebenen Artikeln. Klagenfurt, Wien 2014, S. 138–348, versucht, Musil eine ganze Reihe von Artikeln zuzuschreiben, die sie in einem Band editiert hat. Vorsichtiger sind in ihrer Auswahl Alessandro Fontanari und Massimo Libardi, die in ihrer schon 1987 erschienenen italienischen Ausgabe 38 Artikel veröffentlicht haben: Robert Musil: La guerra parallela. Traduzione di Claudio Groff. Con un saggio di Alessandro Fontanari e Massimo Libardi. Trento 1987.

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nicht eindeutig zu bestimmen. Viele Orte, an denen er sich im Krieg aufhielt, galten damals in keiner Hinsicht (weder politisch noch sprachlich oder kulturhistorisch) als »italienisch« und lassen sich noch heute schwer als solche bezeichnen. Das betrifft nicht nur Bozen oder Adelsberg/Postojna, sondern auch Palai und das Fersental, wo die Bevölkerung noch heute einen deutschen Dialekt spricht. Anders verhält es sich freilich mit dem kurzen Aufenthalt des Autors in Udine im Jänner 1918, nach der desaströsen italienischen Niederlage in Karfreit (welche für Österreich die siegreiche Durchbruchsschlacht von Flitsch-Tolmein war). Gerade über diese Station der Kriegserfahrungen Musils sind wir aber schlecht informiert, weil die Briefe an seine Frau, in denen er sich über sein Unbehagen im besetzten Udine äußert, nicht erhalten sind.3 So ist bei einem Thema wie dem hier ausgeführten Vorsicht vonnöten. Dennoch lassen sich kulturgeschichtlich einige Punkte fixieren. Zu Italien hatte Robert Musil einen vielfältigen Bezug,4 nicht zuletzt wegen der früheren Ehe seiner Frau Martha mit dem römischen Kaufmann und Unternehmer Enrico Marcovaldi. Die obligate Reise nach Venedig hat er allerdings erst mit 27 Jahren absolviert. In Rom war er in Begleitung Marthas 1910 und 1913 mehrmals gewesen.5 Das klassische Programm der Antike und der Renaissance scheint ihn jedoch nicht interessiert zu haben; zumindest meidet er sorgfältig, davon Notiz zu nehmen. Mit anderen Autoren seiner Generation litt Musil unter der Last des italienischen Kulturerbes als zentrales Pflichterlebnis für die Bildung eines deutschsprachigen Dichters.6 Es ist auffällig, dass der dazu neigte, in Rom eher naturwissenschaftlichen als künstlerischen Interessen nachzugehen. So besuchte er das Irrenhaus und ein Krankenhaus für Typhuspatienten und Lungenkranke im letzten Stadium.7 In der Villa Borghese studierte er nicht die architektonische Gestalt der Fontänen, wie es Rilke tat, sondern das Verhalten der Affen im Tiergarten, wie in den »Bildern« aus dem Nachlaß zu Lebzeiten nachzulesen ist.8 Die italienische Literatur war ihm nicht vertraut, wenn man von D’Annunzio absieht9 – und von Svevo, den er erst in den 1930er Jahren mit Begeisterung gelesen hat.10 3

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7 8 9 10

Von diesem Aufenthalt zeugen nur die Briefe Martha Musils an ihre Tochter aus erster Ehe, Annina Marcovaldi, im Januar 1918 (vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz). Vgl. Karl Corino: Musil in Italien. Ein Itinerar in Bildern und Texten. Klagenfurt, Wien 2015. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 413 u. 444–448. Vgl. Luigi Reitani: Italien in der österreichischen Literatur: Eine Annäherung, in: ders., Manfred Müller (Hg.): Von der Kulturlandschaft zum Ort des kritischen Selbstbewusstseins. Italien in der österreichischen Literatur. Wien u. a. 2011 (= Transkulturelle Forschungen an den Österreich-Bibliotheken im Ausland, Bd. 6), S. 9–19, bes. S. 9 f. u. 16 f. Vgl. die entsprechenden Notizen im »italienischen Tagebuch 1913«, in: Corino: Musil in Italien (s. Anm. 4), S. 46–52 u. 54–57. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 8 Nachlaß zu Lebzeiten/I. Bilder/Die Affeninsel. Vgl. Corino: Musil in Italien (s. Anm. 4), S. 8–12. Vgl. die Anmerkung im Tagebuch am 6. 1. 1930 in: KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Hefte 1928– 1942/I. Wien/Berlin (1927–1939)/30: Schwarzes Heft steif (1929–1942).

Das Italienbild Robert Musils in seiner Kriegserfahrung

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Der Sommeraufenthalt mit Martha am italienischen Meer in Anzio wirkte hingegen auf ihn nachhaltig und bildete vermutlich die autobiographische Grundlage für jenes berühmte Nachlasskapitel aus dem Mann ohne Eigenschaften, das Adolf Frisé unter dem Titel »Reise ins Paradies« ediert hat.11 Die Natur – und nicht die Kunst – stellte daher den Kern seiner Auseinandersetzung mit dem tradierten Bild Italiens dar: die italienische Landschaft als Initiation und Zugang zur Schönheit, als höchstes ekstatisches, ja mystisches Moment. Konnte sich ein solches Erlebnis noch in den fatalen Umständen des Kriegs wiederholen? In den Monaten, welche dem Ausbruch der militärischen Auseinandersetzungen mit dem Königreich Italien vorausgingen, verbrachte Musil eine relativ ruhige Zeit. Die neutrale Rolle Italiens in diesen ersten Kriegsmonaten gab zwar zu Bedenken Anlass, wirkte aber im Vergleich mit den blutigen Schlachten in Galizien geradezu harmlos. In der Tat galt Italien in der österreichischen Öffentlichkeit politisch immer noch als »Erbfeind«, obwohl seit 1882 durch den sogenannten Dreibund beide Staaten zusammen mit Deutschland einen Defensivvertrag abgeschlossen hatten. Umgekehrt sah die italienische Öffentlichkeit Österreich-Ungarn meist als ein repressives System, welches die legitime Forderung der Völker nach nationaler Unabhängigkeit unterdrückte.12 Es entstand somit das Paradox, dass zwei Staaten, die durch eine militärische Allianz verbunden waren, sich in der öffentlichen Meinung als Feinde gegenüberstanden. Insofern konnte die provisorische Neutralität Italiens nicht wirklich als verlässlich betrachtet werden. Nichtsdestotrotz wurden der Ausbruch des Kriegs mit Italien und die Eröffnung einer neuen Front von vielen für eher unwahrscheinlich gehalten. Dazu mag beigetragen haben, dass weder die italienische noch die österreichische Regierung – wenn auch aus verschiedenen Gründen – die militärische Auseinandersetzung befürworteten. Auch Deutschland versuchte mit allen Mitteln, eine dritte Front zu verhindern und übte Druck auf Österreich aus, um zu territorialen Konzessionen zu gelangen, die die Neutralität Italiens hätten sichern sollen.13 Gegen einen Krieg waren zuletzt auch die militärischen Führungen beider Länder. Der oberste General Cadorna war sogar der Meinung, dass Italien sich Vorteile eher von einem Krieg gegen Frankreich hätte erwarten können.14 Dass ungeachtet dieser Warnungen und politischen 11 12

13

14

Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 444 f. Vgl. Holger Afflerbach: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Wien u. a. 2002, S. 788–874; Angelo Ara: Italien und Österreich (1861–1918): eine Erbfeindschaft und eine Vernunftehe, in: Luigi Reitani, Karlheinz Rossbacher, Ulrike Tanzer (Hg.): Italia – Österreich. Sprache, Literatur, Kultur. Udine 2006, S. 23–34. Vgl. Gustavo Corni: Il contesto europeo. Gli imperi centrali, in: Mario Isnenghi, Daniele Ceschin (Hg.): La Grande Guerra. Uomini e luoghi del ’15–’18. Torino 2008, S. 45–59, hier S. 48 f.; Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Wien u. a. 2013, S. 371–376. Vgl. Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg (s. Anm. 13), S. 370.

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Vorstellungen der Krieg gleichwohl ausbrach und dass sich in Italien die Interventionspartei schließlich emotional durchsetzen konnte, ist wahrscheinlich eines der größten Versagen der Diplomatie aller Zeiten. Die österreichische Reaktion auf die Kriegserklärung Italiens war entsprechend emotionsgeladen. Obwohl der Konflikt längst voraussehbar war, löste der Angriff eine Welle von erschütterter Empörung aus. Die Italiener wurden nun als Verräter bezeichnet, obwohl sie schon davor als unverlässlich und sogar als »Erbfeinde« galten.15 Auf diese Weise hat sich Robert Musil über die Italiener freilich nicht geäußert; zumindest ist uns nichts Derartiges bekannt. Soweit ich es überblicken konnte, gibt es selbst in den Artikeln der (Tiroler) Soldaten-Zeitung keine Schimpftiraden gegen den vermeintlichen Treubruch. Vielmehr versucht das Blatt, immer wieder die Argumente der Irredentisten zu schwächen und die territorialen Ansprüche Italiens lächerlich zu machen.16 Vor allem sind aber einige Aufzeichnungen im Tagebuch interessant, welche einmal mehr die scharfe Beobachtungsgabe Musils beweisen. Hier versucht der Autor, das Verhalten der italienischen Soldaten neutral und distanziert zu schildern. In einer Notiz vom 23. Oktober 1915 heißt es: Italienische Ansichtskarten, den Gefangenen abgenommen: Nicht wahrscheinlich, daß die Kriegslust dieses Volkes schon erschöpft ist; sie bilden ihre Soldaten in den geliebten Heldenposen ab; sie sind noch ganz Soldatenspiel. Besonders nett eine Karte – die Vernichtung der Grenzen Österreichs. Da steht ein Offizier – ganz klein hinter ihm die Mannschaft – auf einem umgestürzten schwarz-gelben Grenzpfahl. Ungefähr in »Ausfall«-Stellung. Mit der Linken die Fahne, in der Rechten den vorgesenkten »spadone«: und schreit. Schreit einfach ins Leere hinein . . . Ein Zeichen, wie sie den Krieg noch lieben, ist auch, daß sie »la patria« und »l’Italia« sehr erotisch abbilden; immer ein junges, weiches, etwas trauriges Mädchen, das eigentlich gar nicht italienisch aussieht. Hier bricht irgend ein Gefühl durch, das vordem unbekannt war.17

Musil hütet sich davor, moralische Kategorien zu verwenden. Die italienischen Soldaten sind weder mutig noch feige, sondern einfach in das Kriegsspiel verliebt, Kinder, die sich einer Illusion hingeben. Patriotismus und Heldentum werden als Verkleidung von primär erotischen Trieben kenntlich gemacht. Was am Beispiel des Feindes feststellbar ist, lässt sich freilich 15 16

17

Vgl. Corni: Il contesto europeo (s. Anm. 13), S. 51; Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg (s. Anm. 13), S. 395. Vgl. z. B. den Musil zugeschriebenen Artikel Wie das Büblein Irredentist wird in: Schaunig: Der Dichter im Dienst (s. Anm. 2), S. 174–177. Zur Geschichte der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und zu ihrer politischen Positionierung unter der Leitung Musils vgl. Maria Rita Murgia: »So schlagen wir mit ganzer Wucht / Die Feinde krumm und klein«. La costruzione della propaganda nei Supplementi letterari della Tiroler Soldaten-Zeitung. Diss. Univ. di Cagliari 2009/ 2010, S. 49–54. Vgl. ferner Roman Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte«? Die (Tiroler) Soldaten-Zeitung 1915–1917, in: eForum zeitGeschichte 3/4 (2001), http://www.eforum-zeitgeschichte.at/3_01a8.html (aufgerufen am 12. 8. 2016). KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Hefte 1898–1926/III . Erster Weltkrieg (1914–1918)/I: Klein Grau (1915–1919/20)/Vorstufen zu weiteren literarischen Projekten.

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auf die eigenen Kameraden übertragen. Musils kühne Analyse des Verhaltens der Menschen unter den extremen Bedingungen des Kriegs ist mit dem Vaterland-Diskurs, welcher die Opferbereitschaft der Menschen für die höheren Ideale der Heimat feiert, schlicht unvereinbar. Sogar in einem Text wie Aus der Geschichte eines Regiments, der für die Tiroler Soldaten-Zeitung, also für ein Propagandablatt, bestimmt war, und der gewiss Konzessionen in Hinblick auf die übliche Rhetorik des Heldentums machen musste, ist weniger die moralische Wertung als die psychologische Schilderung bedeutend. Der Drang der Soldaten nach dem blutigen Angriff, auf den sie lange gewartet haben, wird so beschrieben: »Es wirkt wie Erlösung, wie ein Bad, das man nach staubiger Wanderung erblickt. Die Leute sind nicht mehr zu halten; so wie einer sich auskleidet, fliegen die Rucksäcke zu Boden und ein ungestümes Vorarbeiten beginnt.«18 Tatsächlich fällt es einem schwer, in dieser Erzählung eine Glorifizierung des Todes für das Vaterland zu erblicken. Der Akzent liegt auf der Dynamik der Triebe, auf der Änderung des Bewusstseinszustands. Selbst die Wahrnehmung der Dinge ist im Kampf nicht mehr die gleiche. Das Ende der Schlacht bedeutet eine Rückkehr aus einem anderen Zustand in die Wirklichkeit: »Dann setzt das Feuer aus. Irgend etwas verraucht. Augen, die lange nur einen Flug von Undeutlichem gesehen haben, kehren zurück zu festen Dingen; Gesichtern, Toten, der Sonne, die hoch und rund am Himmel steht, dem liegen gelassenen Rucksack.«19 Diese Beobachtungskunst hat Musil auch auf sich selbst angewandt. Das erste zu untersuchende Objekt in dem außerordentlichen psychologischen Feldlabor, das der Krieg war, war sein eigenes Verhalten. Das betrifft auch seine Reaktionen angesichts der Todesgefahr. Berühmt ist jene Aufzeichnung im Tagebuch, in der Musil am 22. September 1915 davon berichtet, wie ein italienisches Flugzeug einen »Pfeil«, d. h. einen spitzen Metallstab, auf ihn abwirft. Der Autor spricht vom Fehlen jeder Angst und von einem »angenehme[n] Gefühl«, fast von einem »Stolz«, in »eine Gemeinschaft« aufgenommen worden zu sein.20 Dabei ist vor allem die Hervorhebung der instinktiven Reaktion wichtig, die gleichsam den Verstand ausschaltet. Der Kriegsmensch reagiert auf die Todesgefahr, ohne zu denken. Er ist kein Produkt der Zivilisation mehr, sondern ein primitives Wesen, das seinen Trieben folgt.21

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KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Kriegspublizistik 1916–1918/Beiträge in der Soldaten-Zeitung/Aus der Geschichte eines Regiments. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Kriegspublizistik 1916–1918/Beiträge in der Soldaten-Zeitung/Aus der Geschichte eines Regiments. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Hefte 1898–1926/III . Erster Weltkrieg (1914–1918)/I: Klein Grau (1915–1919/20)/Vorstufen zu weiteren literarischen Projekten. Eine detaillierte Analyse und Interpretation dieser Episode und deren Literarisierung findet sich in Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 241– 257.

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Bekanntlich hat Musil später diese persönliche Feuertaufe literarisch bearbeitet. Zunächst im kurzen Prosaentwurf Ein Soldat erzählt und dann in der Erzählung Die Amsel spielt die Episode mit dem Fliegerpfeil eine zentrale Rolle.22 Zwischen den verschiedenen Bearbeitungen dieses autobiographischen Erlebnisses gibt es allerdings signifikante Unterschiede. Ist in der Amsel ausdrücklich von einem »feindliche[n] Flieger« die Rede,23 so wird in der Vorstufe Ein Soldat erzählt das Flugzeug vor allem durch die italienischen Farben gekennzeichnet.24 Entscheidend bei dieser Beschreibung ist, dass der Flieger als ein Element der Naturlandschaft erscheint. Was nämlich das erzählende Subjekt zum Ausdruck bringt, ist ein ekstatisches Schönheitserlebnis, das den einsamen Spaziergängen in der nächtlichen italienischen Landschaft gleicht: Ich denke aber dabei immer auch an spätere Nächte, als wir ganz unten im Tal eine vorgeschobene Stellung hielten. Mit Steinen hätten sie uns damals erschlagen können; wir konnten uns nicht rühren. Aber wenn ich mich etwas hob und die Nase über meine Schulter drehte, sah ich die Brentagruppe hellhimmelblau wie aus Glas steif gefaltet. Und in den Nächten waren die Sterne gross und wie aus Goldpapier gestanzt und flimmerten fett wie aus Teig gebacken und der Himmel war noch in der Nacht blau und die dünne mädchenhafte Mondsichel, ganz silbern oder ganz golden, lag auf dem Rücken mittendrin und schwamm in Entzücken. Und man ging nur in der Nacht spazieren, aber zwischen schwarzgrünen Bäumen wie im Gefieder von Nachtpapageien. In solcher Landschaft war es. Ein Aeroplan glitt wunderbar mit ausgespannten Flügeln in der Luft. Die Unterseite seiner Tragflächen war in italienischem Rot-WeissGrün bemalt und die Sonne schien hindurch wie durch das Glasfenster einer Kirche. »Es hat mit Geist wenig zu tun,« dachte ich mir, »das zu bewundern; aber wie schön ist es!«25

Die traditionsreiche Assoziation der italienischen Landschaft mit einer ästhetischen Grunderfahrung lebt im Ausnahmezustand des Kriegs weiter. Sie wird sogar durch die Todesgefahr potenziert. Schön und erhaben, die zwei zentralen Kategorien der klassischen Ästhetik, fallen zusammen. Das Schöne ist das Erhabene: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und Ohnmacht, mit dem Tod, führt zum mystischen Einklang mit dem Kosmos.26 22

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Für die komplexe Genese der Novelle vgl. Marie-Louise Roth: Robert Musil: Les œuvres préposthumes. 2 Bde. Paris 1980, S. 217–221; dazu die wichtigen Korrekturen von Massimo Salgaro: La difficoltà del narrare. Forme e strutture in Die Amsel di Robert Musil. Verona 2003 (= Tesi della Facoltà di Lingue e Letterature Straniere, Bd. 6), S. 17–22. Eine von Ingo Breuer herausgegebene synoptische Wiedergabe der Fassung letzter Hand samt ihren Vorstufen befindet sich in Walter Busch, Ingo Breuer (Hg.): Robert Musil: Die Amsel. Kritische Lektüren – Letture critiche. Materialien aus dem Nachlaß. Innsbruck u. a. 2000 (= Essay & Poesie, Bd. 11), S. 253–335. KA/Lesetexte/Bd. 8 Nachlaß zu Lebzeiten/IV . Die Amsel/201. So noch in den Vorstufen. Vgl. die synoptische Wiedergabe Breuers (s. Anm. 22), S. 294 f. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/344. So kommentiert Walter Busch: Die »Sekunde einer gelungenen Gebärde«. Robert Musils Novelle Die Amsel, in: Busch/Breuer (Hg.): Robert Musil: Die Amsel (s. Anm. 22), S. 183–224, hier

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Eine solche Zusammenstellung lässt sich auch in der 1921 erschienenen Novelle Grigia wiederfinden, welcher autobiographisch die Beziehung des 34-jährigen Leutnants Robert Musil mit einer gleichaltrigen Bäuerin aus dem Fersental zugrunde liegt.27 In der Erzählung hat der Autor alle Bezüge zum Krieg, die im Tagebuch vorkommen, sorgfältig gestrichen. So wird z. B. der junge gefangengenommene italienische Soldat, der »am ganzen Körper zittert, weil er denkt, dass er aufgehängt werden wird«,28 in der Novelle durch einen Bauernburschen ersetzt, der einen kleinen Diebstahl begangen hat. Beide sind übrigens Opfer eines bösen Scherzes, da ihnen bloß spielerisch ein Strick gezeigt wird. Anders ist jedoch die Bedeutung dieser Geste in den unterschiedlichen Kontexten. Mag die bäuerliche Szenerie an eine gewiss grauenhafte, aber pädagogisch intendierte Warnungsaktion denken lassen, so ist der schlimme Soldatenstreich eine arrogante Bekundung von Macht: Das Leben der Gefangenen hängt von der Willkür ihrer Wächter ab. Dass das erste literarische Projekt Musils, in dem er das Erlebnis an der italienischen Front verarbeitet, ausgerechnet eine erotische Geschichte ist, kann genauso befremden wie die Tatsache, dass der höchst kultivierte Autor gleich nach dem Ausbruch des Kriegs eine Affäre mit einer Bäuerin in einem von Gott und den Menschen verlassenen Tal hatte. Im Denksystem Musils hat dies dennoch seine Logik, wenn nicht seine Rechtfertigung. Das magische Wort »Wiedervereinigung« zieht sich durch die ganze Erzählung und verleiht der Liebesgeschichte eine mystische Komponente. Vor allem spielt die Natur eine entscheidende Rolle. Die Novelle verbreitet sich über Wiesen, Blumen, Heufelder, und selbst die merkwürdigen Frauen des Ortes erscheinen als »stillgewordene[ ] Tiere«.29 Die Natur, heißt es jedoch, ist »nichts weniger als natürlich, sie ist erdig, kantig, giftig und unmenschlich in allem, wo ihr der Mensch nicht seinen Zwang auferlegt«.30 In dieser Hinsicht ist Grigia zweifellos ein repräsentatives Dokument des Primitivismus in der Literatur der 1920er Jahre. Andererseits zeigt die Erzählung erstaunliche Anknüpfungspunkte gerade an eine Reihe erotischer Novellen, die in Italien spielen. Um meine These provokativ zuzuspitzen: Mitten im Krieg,

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S. 201, die Episode in der Fassung letzter Hand: »Als Angst und als Seligkeit erlebt, als Zwang und zugleich innere Freiheit, ist dies Erlebnis nichts anderes als Ekstase, in der das Selbst den Boden seiner Welt einbüßt und sich zum Leben öffnet. [. . .] Es ist ein Geschehen, das zunächst erschüttert und dann auf paradoxe Weise Geborgenheit bedeutet. In einem unerhörten Freiheitserlebnis genießt Azwei ein Gefühl der Lebenssteigerung[.]« Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 1), S. 520–529. Zum biographischen Hintergrund der Erzählung vgl. auch Alessandro Fontanari, Massimo Libardi: Il richiamo ingannevole, in: Robert Musil: La valle incantata. Traduzione di Paola Maria Filippi. Con un saggio di Alessandro Fontanari e Massimo Libardi. Trento 1986, S. 67–144; dies.: Musil en Bersntol. La grande esperienza della guerra in Valle dei Mòcheni / Das große Erlebnis des Krieges im Fersental. Palai 2012. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Hefte 1898–1926/III . Erster Weltkrieg (1914–1918)/I: Klein Grau (1915–1919/20)/Vorstufen zur Novelle Grigia. KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/17. KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/36.

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an der italienischen Front, sucht Musil ein zugleich ästhetisches und erotisches Abenteuer, das durchaus in der Tradition der italienischen Reise steht. So entsteht später eine Novelle, welche dem Ausnahmezustand des Kriegs verpflichtet ist und ihn dennoch bis zu einem gewissen Grad zu verwischen sucht. Denn der italienische Titel lässt sich anders deuten, vor allem wenn man ihn mit deutschem Akzent liest: Die Lautebene verrät hier die verblüffende Verwandtschaft des fremden Namens mit dem deutschen Wort »Krieg«.31 Hat sich Musil während seiner Militärzeit über die italienische Natur sowie über italienische Frauen und Kriegsgefangene geäußert, so fehlt hingegen jegliche Spur von den italienischen Kunstwerken und Städten, die er nach der österreichischen und deutschen Besatzung des Friaul kennenlernen konnte. In einem Brief an seine Stieftochter Annina Marcovaldi spricht er nur von »den endlosen ebenen Mais-, Zuckerrohr- und Weinfeldern« der friaulischen Landschaft.32 Mit dem Hauptkommando der Isonzoarmee zog er spätestens am 11. Jänner 1918 nach Udine. Aus den Briefen Marthas wissen wir, dass ihm die Stadt nicht gefiel und dass er sich bemühte, eine andere Anstellung zu finden, was auch rasch geschah. Die Hauptstadt Friauls befand sich damals in einem großen Wirrwarr. Seit dem Ausbruch des Kriegs war sie der Sitz des italienischen Hauptkommandos gewesen, selbst der König Italiens hatte sein Quartier in eine Villa in der Umgebung von Udine verlegt. Mit dem Generalstab und dem Hof kamen auch die mondäne Gesellschaft und der Luxus in die Stadt. So erlebte Udine gerade in den Jahren 1915 bis 1917 eine glänzende Epoche seiner Geschichte. Vom Hügel des Schlosses aus bewunderten die hohen Offiziere und ihre Damen abends die Bombenexplosionen am Karst, als wären sie Feuerwerke.33 Ganz anders war die Situation nach der Niederlage von Karfreit, der Flucht des Königs sowie des Hauptkommandos und nach der österreichisch-deutschen Besatzung. Tausende Udineser waren geflüchtet, Teile der Stadt zerstört, Waffen und Hausrat waren auf den Straßen liegengelassen worden. Die Lebensmittel wurden knapp, die Beleuchtung fehlte. Italienische Soldaten wurden von der österreichischen Armee gefangen genommen und in Lagern interniert.34 Aber in den Monaten der Besatzung versuchten die Deutschen und Österreicher das besetzte Gebiet nicht nur militärisch zu verwalten. So wurde z. B. die langobardische Pfalzkapelle in Cividale restauriert. Ab Juni 1918 und bis Ende Oktober erschien in Udine sogar regelmäßig 31

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In den Tagebüchern erwähnt Musil zunächst die Varianten »Gridja«, »Gridji« und »Gridschi«, die (im Fall der letzten zwei Varianten, ohne den Vokal am Ende) der Lautung von »Krieg« noch näher sind. Vgl. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz/Robert Musil an Annina Marcovaldi, 1917 Eine solche Szene bietet das Bild Notturno sul castello di Udine durante un’azione des Kriegsmalers Italico Brass. Vgl. die Abb. in: Arte e guerra 2. La Grande Guerra di Italico Brass [Katalog der gleichnamigen Ausstellung]. Udine 2008, S. 44. Vgl. Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg (s. Anm. 13), S. 822–825.

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ein Tagblatt für Venetien und Friaul, das für die deutschsprachigen Truppen gedacht war und das neben Informationen zum Krieg und zur Politik auch noch ein Feuilleton bot. Eine solche magmatische Situation zu beschreiben, sie zum Stoff einer literarischen Arbeit zu machen – wäre dies nicht eine Herausforderung für einen anspruchsvollen Schriftsteller gewesen? Musil aber zog so früh wie möglich aus Udine weg und ließ sogar von seinem Adjutanten seine dort gebliebenen Sachen nach Wien bringen.35 Mit dem italienischen Alltag und seinen Problemen, wenn auch in einer außerordentlichen Situation, wollte er sich nicht beschäftigen. In Italien bevorzugte er den Ausnahmezustand der Liebe und des Todes.

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Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 29. 3. 1918.

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»Grenzdienst« Literatur aus der deutschen Schweiz und der Erste Weltkrieg Abstract: After the First World War had set in, the Swiss Army was being mobilized in order to secure the confederation’s borders. This mobilization created a sense of national community which can be regarded as the Swiss version of the war excitement spreading throughout neighboring countries. Literature played its role in this development: borders that had previously been open acquired new significance and meaning for the authors who now found themselves cut off from the surrounding German-speaking countries. Texts by the writers Ernst Zahn, Rudolf von Tavel, Carl Spitteler, Robert Walser, Heinrich Federer, and Paul Schaffner are a testimony to literature’s reflection on and reaction to Switzerland’s changing role in the European context, its contribution to this very role, as well as to its function of commenting both implicitly and explicitly on the war situation – comments that occasionally strike a highly ironic note.

Draußen war der furchtbare, Völker und Länder verwüstende Krieg. Drinnen in der Hütte des Michael Brand im Schattdorfer Berg war der bange Friede. Es herrschte Dämmerung, die Wohnstube war schon fast dunkel, aber man sparte das Licht, man sparte überhaupt; denn wer wußte, was noch kam! Eine dumpfe Schwüle lastete in der Stube, obwohl alle die kleinen Fenster sperrangelweit offen standen und den schweren Duft des Heus hereinließen, das die Brandschen Frauen draußen auf der Hausmatte in der Sonnenglut des gesegneten heißen Tages gewendet hatten. [. . .] In dem westlichsten der Fenster brannte noch ein geheimnisvolles Licht, das von einer roten Wolke herstammte. Die flammte ganz am Horizont über den Vierländerseebergen, als wollte sie zeigen, daß draußen in der Nacht Feuer und Blut sei.1

Kriegszeit heißt die 1916 veröffentlichte Erzählung, die mit dieser bedeutungstriefenden Schilderung des Schweizer Schauplatzes beginnt. Ihr Verfasser ist der im ganzen deutschen Sprachraum höchst erfolgreiche, in der Innerschweiz als Gastwirt tätige Heimatschriftsteller Ernst Zahn. Einem kriegerischen Draußen wird pointiert ein friedliches Drinnen gegenübergestellt. Hier der bergende Schatten, dort das Feuer. Hier und dort stoßen indessen nicht unmittelbar aneinander. Das Feuer des Kriegs ist nicht zu sehen, sondern nur 1

Ernst Zahn: Einmal muß wieder Friede werden. Erzählungen und Verse. Stuttgart, Berlin 1916, S. 11. Ich verdanke den Hinweis auf dieses Buch der Studie von Hendrik Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung. Text- und Kontextstudien zu Robert Walser. Würzburg 2013 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 793), S. 166.

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an einer roten Wolke, die es zu reflektieren scheint, zu erahnen. Die grundsätzliche Gegenüberstellung, die der erste Satz vornimmt, deckt sich nicht mit den konkreten Raumverhältnissen, die danach geschildert werden. Wer vor die Türe der dämmrigen Wohnstube tritt, ist nicht schon im Krieg. Wo genau liegt die Grenze? Die pathetische und gleichzeitig inkonsistente Raumschilderung und die Ungewissheit, wo die Grenze liegt, sind symptomatisch. Der Erste Weltkrieg erzwang, dass die Schweiz ihren Ort in Europa neu bestimmte. Die politischen Grenzen, die das Land umgaben, aber auch die kulturellen Grenzen, die es durchschnitten, erschienen nach Kriegsausbruch schlagartig in einem anderen Licht und mussten uminterpretiert werden. Die Literatur spiegelt diese Neuvermessung und wirkte an ihr mit. Das war in anderen Ländern Europas nicht anders, nur dass die Schweizer das, was außerhalb lag, nicht einfach zum Freundes- oder Feindesland erklären konnten. In welches Verhältnis man sich dazu, insbesondere zu den kriegsführenden Nachbarländern zu setzen hatte, gab die offizielle Neutralitätsdoktrin vor. Doch worin bestand neutrales Verhalten – politisch, wirtschaftlich2 oder gar emotional? Diese Fragen entfesselten eine intensive Debatte, an der die Literatur mit ihren Mitteln partizipierte. Dem Ersten Weltkrieg wurde in den geschichtlichen Darstellungen der Literatur aus der Schweiz bisher kein eigenes Kapitel eingeräumt: Man setzte lediglich 1914 oder 1918 eine Zäsur zwischen Zeitabschnitten, in denen die Kriegszeit dann entweder am Anfang oder am Ende steht.3 Die nachfolgenden Überlegungen haben Skizzencharakter. Sie konzentrieren sich auf Werke, die während des Kriegs entstanden und publiziert worden sind und von Autorinnen und Autoren aus der deutschsprachigen Schweiz stammen; kurze Seitenblicke auf Robert Musil und Karl Kraus sind dem Publikationsorgan geschuldet. Wichtige literarische Werke der Schweizer Literatur, die zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielen, aber später entstanden sind – Inglins Schweizerspiegel (1938) steht da an erster Stelle – bleiben so ausgeklammert. Für die Auswahl der besprochenen Werke war weniger die literarische Qualität ausschlaggebend als ihre Repräsentativität, geht es doch im Folgenden auch darum, die unterschiedlichen Funktionszusammenhänge zu beleuchten, die zwischen der Literatur und dem epochalen Ereignis des 2 3

Es war »offensichtlich«, dass »eine ›wirtschaftliche Neutralität‹ gar nicht praktiziert werden konnte« (Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München 2015, S. 137). Zum Forschungsstand s. Peter Utz: Urkatastrophe, Ohropax und ferner Donner. Zur Literatur aus der Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 59 (2015), S. 268–284, hier S. 270. Bei dieser Studie handelt es sich um die bisher einzige Darstellung des Sachverhalts, die sich zudem dadurch auszeichnet, dass sie auch die französische Schweiz in Betracht zieht. Peter Utz hatte eine kürzere Fassung dieses Beitrags unter dem Titel Hinhören auf den fernen Donner bereits in der Neuen Zürcher Zeitung (18. 10. 2014) veröffentlicht.

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Kriegs bestanden oder – eine Eventualität, mit der hier auch gerechnet wird – aus späterer historischer Warte hergestellt wurden. Obwohl die Grenzen mit dem Kriegsausbruch schlagartig einen gänzlich anderen Stellenwert und eine neue Wichtigkeit erlangten, blieben sie erstaunlich durchlässig: »Der kosmopolitische Charakter ihrer Städte, die liberale Einwanderungspolitik, die neutrale Aussenpolitik und die bis 1917 fehlende bundesstaatliche Überwachung öffneten in der Schweiz grosse Freiräume für ein breites Spektrum global vernetzter politischer Aktivitäten.«4 Über die Schweizer Tourismusindustrie brachen mit dem Kriegsbeginn zwar schwierige Zeiten herein, doch zeigt das Beispiel von Karl Kraus, der 1917 im Hotel Tödi zuhinterst im Glarnerland am Schluss seiner Kriegsdokumentation in Dramenform Die letzten Tage der Menschheit schrieb, dass es immer noch möglich war, die Schweizer Hotellerie in Anspruch zu nehmen, um Urlaub vom Krieg zu nehmen.5 Neben den Touristen gab es in der Schweiz nach wie vor viele literarisch oder publizistisch tätige Ausländer, die hier – nur in vereinzelten Fällen als Emigranten – ihren festen Wohnsitz hatten, wie etwa Hermann Hesse, der in Bern lebte und dort zwischen 1914 und 1919 bei der deutschen Botschaft angestellt war.6 Weil die Grenzen nach dem Ausbruch des Kriegs so sehr an Bedeutung gewonnen hatten, verstärkte sich das Bedürfnis, eine Schweizer Literatur einzugrenzen: Die Literaturgeschichten der Schweiz von Josef Nadler und Emil Ermatinger, die 1932 und 1933 erscheinen werden,7 können durchaus als Folgeerscheinungen betrachtet werden. Doch auch gerade die literarische Produktion der Kriegsjahre führt vor Augen, wie prekär eine solche Eingrenzung ist. Viele der Werke, die Schweizer Autorinnen und Autoren verfassten, wurden in Deutschland verlegt und waren auch nicht bloß an ein Schweizer Publikum adressiert. Dem wird im Folgenden 4 5

6

7

Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert (s. Anm. 2), S. 133. In einer Notiz in der Fackel rühmt sich Kraus, in polemischer Abgrenzung gegen den in der Schweiz lebenden Friedensaktivisten Romain Rolland, als Feriengast, der sich alle öffentlichen Verlautbarungen verbiete: »Ich lebe also in der Schweiz als ein Privatmann, der sich aus unüberwindlicher Abneigung gegen die Ringstraße in die Berge begeben hat, entschlossen, diese Antipathie vor den Bergen zu verheimlichen und erst der Ringstraße wieder zu verraten.« (Notizen, in: Die Fackel 20 [Oktober 1918], Nr. 484–498, S. 127–128, hier S. 127) Vgl. Anna Stüssi: Politik und Mystik. Aus dem Leben und Denken einiger Emigranten in Bern 1912–1920, in: Josef Helfenstein, Hans Christoph von Tavel (Hg.): »Der sanfte Trug des Berner Milieus«. Künstler und Emigranten 1910–1920. [Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern] Bern 1988, S. 169–195. Vgl. Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Schweiz. Leipzig, Zürich 1932; Emil Ermatinger: Dichtung und Geistesleben der Schweiz. München 1933. Dazu: Hans-Georg von Arburg: Schweizer (National)-Literatur? Die Schweizer Literaturgeschichten von Josef Nadler (1932) und Emil Ermatinger (1933) und ihre Vorgeschichte, in: Corina Caduff, Michael Gamper (Hg.): Schreiben gegen die Moderne. Beiträge zu einer kritischen Fachgeschichte der Germanistik in der Schweiz. Zürich 2001, S. 225–242; Dominik Müller: Der mehrfache Ort. Überlegungen zu einer raumorientierten Literaturgeschichtsschreibung über die deutschsprachige Schweiz, in: Fabian Lampart, Maurizio Pirro (Hg.): Atlanti, rete, topografie/Atlanten, Netzwerke, Topographien. Napoli 2015 (= Cultura Tedesca, Bd. 49), S. 121–141, hier S. 123–128.

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sorgfältig Rechnung zu tragen sein. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander.

1. »Grenzdienst« Die Erzählung Ernst Zahns, deren erste Sätze eingangs zitiert worden sind, beschreibt einen Bauernbetrieb, der von den Frauen geführt wird, nachdem die Generalmobilmachung die militärtauglichen Männer unter die Fahnen gerufen hat. Spezifisch schweizerisch ist an dieser Situation, dass die Männer keiner unmittelbaren Todesgefahr ausgesetzt waren. Sie werden nicht zu Schlachten aufgeboten, sondern zum »Grenzdienst«, oder – in der Terminologie der Zeit, die eine reaktive zu einer aktiven Handlung umstilisiert – zur »Grenzbesetzung«.8 Zahn ist nicht der einzige Schriftsteller, der schildert, wie Menschen im Gefolge des Kriegs neue Rollen zu übernehmen haben, der den doppelten Arbeitseinsatz der Frauen zur Darstellung bringt und dabei in ein verklärendes Licht rückt.9 Frauen, die zuhause das Zepter führen, und Männer, die an der Grenze stehen, sich langweilen und mit der Eventualität eines Kriegseinsatzes auseinandersetzen, liefern neue Stoffe für die Literatur.10 Für diese Kriegswirtschaft, diese ganze tiefgreifende Umorganisation der Gesellschaft stehen die Wörter »Grenzbesetzung« oder »Grenzdienst«, die viel mehr bezeichnen als ein militärisches Dispositiv. Das spiegelt sich im Untertitel des wohl wirkungsmächtigsten literarischen Textes unseres Untersuchungsfeldes, Robert 8

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Charles Linsmayer umschreibt den im Vergleich zu den Kriegseinsätzen in ausländischen Armeen unspektakulären »Grenzdienst«, der auch die Erinnerung an den Krieg von Autoren wie Meinrad Inglin und Kurt Guggenheim prägte, die später darüber schrieben, so: »[E]r bestand daraus, dass man in regelmässigen Abständen zu einem mehrmonatigen Grenzdienst aufgeboten wurde, der sich aus Wache-Stehen, Gräben ausheben, Exerzieren, Marschieren und Banalitäten wie Kantonnement putzen, Gewehr reinigen, Essen fassen usw. zusammensetzte. All das in einer Situation, in der weder die Löhne gesichert waren, noch für die daheim gebliebenen Angehörigen ein genügender materieller Schutz bestand, so dass zum Frust des Nichtstuns die Sorge um die berufliche und soziale Zukunft hinzukam und auch der Gegensatz zwischen den gewöhnlichen Soldaten und den häufig aus besseren Kreisen stammenden Offizieren zunehmend zu Spannungen führte, die dann 1918 mit ein Grund für den Generalstreik sein sollten.« (Charles Linsmayer: Kaddisch für einen Juden, auf dessen Grab ein Kreuz stand. Wie der Erste Weltkrieg zwischen 1914 und 2006 in der Schweizer Literatur zur Darstellung gelangte, in: http://www.linsmayer.ch/weltkrieg.php, aufgerufen am 20. 7. 2016) Erst 1934 erschien ein Sammelband, der Erinnerungen an die Grenzdienstzeit von Frauen vereinigt: Der Grenzdienst der Schweizerin. Hg. v. Frau M. Schmid-Itten u. a. Bern [1934]. Vgl. dazu Linsmayer: Kaddisch für einen Juden (s. Anm. 8). Eine Auswahl davon enthält der Sammelband: Grenzwacht. Der schweizerischen Armee gewidmet vom Schweizerischen Schriftstellerverein. Frauenfeld 1915. Vgl. dazu Martin Stern: Literarischer Expressionismus in der Schweiz 1910 bis 1925. Nachwort, in: ders. (Hg.): Expressionismus in der Schweiz. 2 Bde. Bern, Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 223–291, hier S. 239, sowie Linsmayer: Kaddisch für einen Juden (s. Anm. 8).

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Abb. 1: Felix Moeschlin: Grenzbesetzungsverse. Bern 1914, Titelblatt.

Faesis Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem schweizerischen Grenzdienst. Die Erzählung schildert nicht nur Militärerfahrungen des Titelhelden, sondern mit dessen Rollentausch vom schüchternen Coiffeurgesellen zum selbstbewussten Soldaten auch eine positive Nebenwirkung des Kriegs,11 wobei, wie Beatrice von Matt zutreffend bemerkt, die Situation »putzig verharmlost«12 wird. Bei der Verallgemeinerung der Bedeutung von »Grenzdienst« gehen die vorliegenden Überlegungen, die dieses Wort zu ihrem Schlüsselbegriff machen, noch einen Schritt weiter, indem sie es auch als Chiffre für die umfassende Neudefinition der die Schweiz umgebenden und durchschneidenden Grenzen verwenden, die der Große Krieg erzwang. 11

12

Robert Faesi: Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem schweizerischen Grenzdienst. Frauenfeld, Leipzig 1917. Zu ihrer enormen Bekanntheit gelangte die Erzählung allerdings erst in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der ›Geistigen Landesverteidigung‹ dank Leopold Lindtbergs Verfilmung von 1938, dem erfolgreichsten Schweizer Film aller Zeiten. Dazu: Peter Utz: Helvetische Heroik im Huber-Verlag: Robert Faesi, Paul Ilg, Robert Walser, in: Karl Wagner, Stephan Baumgartner, Michael Gamper (Hg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich 2014 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 28), S. 81–97, hier S. 83–88. Beatrice von Matt: Kriegsverherrlichung und Kriegsverneinung. Die Sprache des Widerstandes – wie Intellektuelle und Schriftsteller in der Schweiz auf die Ereignisse zwischen 1912 und 1918 reagierten, in: Neue Zürcher Zeitung, 22. 6. 2013, S. 61.

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Ein sehr frühes Beispiel für die Literatur, die der »Grenzdienst« hervorbrachte, ist eine kleine Sammlung von »Grenzbesetzungsversen«, die Felix Moeschlin schon im Herbst 1914 veröffentlichte.13 Die Wolken, die bei Ernst Zahn diffus die Bedrohung des Kriegs symbolisieren, dräuen uns hier schon auf der Titelillustration des Buchs entgegen, das in kleinem Tornisterformat veröffentlicht wurde (s. Abb. 1). Wie das omnipräsente Donnergrollen14 gehört dessen optisches Pendant, die Gewitterwolke, zum Arsenal der Verbildlichungen, mit denen weit über die Literatur und die Künste hinaus die Bedrohungssituation zur Darstellung gebracht wurde. Moeschlin sieht den »Sinn der Grenzbesetzung«15 weniger in ihrer militärisch-strategischen Funktion als in der Wirkung auf die aufgebotenen Soldaten: Wir müssen an der Grenze stehen, auf daß von gleichem Feuer wir entbrennen, an gleicher heißer Liebe fast vergehen, und unseres Volkes Wesen erst erkennen.

Das Feuer des Kriegs jenseits der Grenze entzündet das patriotische Feuer in den Herzen der Soldaten. Die Verse sind repräsentativ für die literarischen Beschwörungen der »Grenzbesetzung« als eine Kollektiverfahrung, die die Bedeutung des Privaten zum Verblassen bringen soll. Erstaunlich ist, dass in der Schweiz, deren Trachten darauf gerichtet war, neutral zu bleiben und sich defensiv zu verhalten, der Kriegsausbruch ein ähnliches Hochgefühl auslöste wie in den kriegsführenden Staaten, so dass wohl mancher Schweizer Robert Musil beigepflichtet hätte, der diesen Enthusiasmus in seinem Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) als das »Erlebnis« beschrieb, »wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der Einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen.« (GW II, S. 1021 f.) Der »Grenzdienst«-Literatur zuzurechnen ist in gewissem Sinn der 1917 erschienene Roman Die heilige Flamme.16 Sein Autor, Rudolf von Tavel, hatte sich mit einer Reihe von meist historischen Romanen und Erzählungen in Stadtberner Mundart einen Namen gemacht. Es bleibt Gegenstand von Spekulationen, ob er mit dem Entscheid, sein neues Buch in Hochdeutsch zu schreiben, den Ernst der Sache unterstreichen wollte oder ob er damit den Kreis seiner Leserinnen und Leser ins deutschsprachige Ausland oder in die romanische Schweiz ausweiten wollte, wo der Dialekt eine doppelte Sprachhürde darstellte. Von seinen früheren Büchern unterscheidet sich 13

14 15 16

Felix Moeschlin: Grenzbesetzungsverse. Bern 1914. Der Autor wird später seine Erfahrungen als Grenzsoldat auch noch in Prosaform gestalten: Felix Moeschlin: Wachtmeister Vögeli. Leipzig, Zürich 1922; Ausführlicheres dazu: Linsmayer: Kaddisch für einen Juden (s. Anm. 8). Vgl. Utz: Urkatastrophe (s. Anm. 3), passim. So der Titel des Gedichts, von dem im Folgenden die erste von zwei Strophen zitiert wird. Moeschlin: Grenzbesetzungsverse (s. Anm. 13), S. 14. Rudolf von Tavel: Die heilige Flamme. Eine Erzählung aus dem Bernerland. Bern 1917.

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das neue auch dadurch, dass es zwar wieder im Kanton Bern spielt, aber in der Gegenwart und im Bauernmilieu eines Voralpendorfs, und nicht in den Patrizierkreisen, als deren Chronist von Tavel berühmt geworden ist. Voraussetzung der Handlung ist, dass die Männer im arbeitsfähigen Alter an der Grenze Militärdienst leisten. Was ihnen dort widerfährt, bleibt ausgeblendet, obwohl von Tavel als hoher Milizoffizier darüber genau Bescheid wusste. Was als Romanhandlung zur Sprache kommt, spielt sich ausschließlich im Hinterland ab. Von Tavels Heilige Flamme ist wohl die breiteste romanhafte Darstellung schweizerischen Alltags im Krieg, die bereits während dessen Verlauf veröffentlicht wurde. (Meinrad Inglins Schweizerspiegel von 1938 bringt auch viele Details dieses Alltags zur Darstellung, konzentriert sich aber stärker auf weltanschauliche Auseinandersetzungen.) Von Tavels Streben nach Repräsentativität zeigt sich etwa in der geschickt konzipierten Szene, anhand derer der Kriegsausbruch erzählt wird: Eine fröhliche Schülergruppe besucht die Schweizerische Landesausstellung in Bern, als sich die Nachricht von dem Ereignis wie ein Lauffeuer herumspricht, was zum Ausdruck bringen mag, wie naiv die Menschen dem umwälzenden Ereignis anfänglich gegenüberstanden. Im Zentrum der Romanhandlung steht der Konflikt zweier Brüder. Während der ältere der beiden eine bewahrende Einstellung vertritt und seinen Bauernbetrieb in traditioneller Manier führt, hat sich der jüngere, der Erbe des elterlichen Hofs, einem modernen Unternehmergeist verschrieben. Er ist in der Politik aktiv und betreibt neben seinem Hof auch ein kleines Kieswerk. Die Feindschaft wird dadurch beigelegt, dass der ältere der Brüder, der das militärpflichtige Alter überschritten zu haben scheint, der Frau des jüngeren, der mitsamt seinem Sohn an der Grenze steht, unter die Arme greift. Während man rund um das Land die Grenzen befestigt, werden diese im Hinterland abgebaut.17 Der Schweizer Schriftsteller kann so den Krieg als Friedensbringer darstellen, als große integrative Kraft. Sie vereinigt sich mit einer inneren Kraft des Volkes, die das Titelmotiv – eher diffus – allegorisiert. Die Einschätzung, dass die Geschichte von den zwei Männern, die sich über ihre antagonistischen Ansichten hinweg wieder als Brüder anzuerkennen lernen, von paradigmatischer Bedeutung ist, dürfte sich den zeitgenössischen Lesern schon aufgedrängt haben und nicht erst dem Interpreten, der nach Zusammenhängen von Literatur und Krieg fahndet. Von Tavel lieferte mit seinem Roman ein breites Narrativ zur Brüderlichkeitsrhetorik, die der Krieg nicht nur in der Schweiz hervortrieb, die man hier aber besonders gern auf das Verhältnis zwischen Deutschschweizern und Romands anwandte. Von Tavel war selber vom Grad der Animositäten zwischen den Landesteilen überrascht worden, als er Anfang 1915 das Präsidium des 17

Auch Felix Moeschlin erzählt in seinem 1922 erschienenen Roman Wachtmeister Vögeli (s. Anm. 13), wie während des »Grenzdienstes« ein Familienkonflikt geschlichtet wird.

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Abb. 2: X. Wehrli: La Suisse comme île. Quelle: Postkarte Verlag K. Essig, Basel [1916]: http://14-18.ch/index.php?/project/suisse/ (aufgerufen am 25. 7. 2016).

Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes nach nur vierzehn Tagen wegen einer hämischen Bemerkung über die französischsprachigen Landsleute schon wieder abgeben musste. Trotz eines etwas süßlichen Happy-Ends, das neben der Versöhnung der verfeindeten Brüder auch noch – man fühlt sich an Gotthelf erinnert – die Eheschließung des Hoferben mit einem Mädchen aus verarmtem Haus bringt, vermag von Tavels Buch als Ganzes dem Kitschverdacht einigermaßen standzuhalten. Es stellt die sozialen Ungleichheiten im Dorf und die weltanschaulichen Differenzen zwischen den Brüdern samt den daraus erwachsenden psychischen Verstörungen ungeschminkt dar und enthält sich auch der Verklärung der Tatkraft der auch noch die Männerarbeit bewältigenden Frauen, wie sie Zahn betreibt. Umso erzwungener erscheint dann allerdings der Versöhnungsschluss des Romans.

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Dass sich die »Grenzbesetzungsliteratur« so schnell und in solcher Fülle ausbreitete, dürfte sich damit erklären lassen, dass der rein defensive Militäreinsatz, dem die Bewährung erspart blieb, moralisch unanfechtbar war und die Betroffenen, die zwar nicht mit dem Leben, aber mit beträchtlichen Unannehmlichkeiten dafür einstehen mussten, für eine Verklärung und patriotische Überhöhung empfänglich waren. Man vernahm von der Literatur gerne die tröstenden Beteuerungen, dass der böse Krieg ja doch auch seine positiven Effekte habe. Weil der »Grenzdienst« im internationalen Vergleich eine so harmlose Form eines Militäreinsatzes darstellte, war die ihn thematisierende Literatur indessen kaum exportfähig. Deshalb wohl ließen sich Autoren wie Robert Walser, Ernst Zahn oder Jakob Christoph Heer, die auch ein Publikum außerhalb der Schweiz im Auge behielten, nicht auf das Thema ein. Die »Grenzbesetzungsliteratur« rückte mit den Landesgrenzen etwas ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dem wenige Monate vorher noch niemand Beachtung schenkte. Dass sie unangetastet blieben, sollte zwar erst am Ende des Kriegs zur Gewissheit werden, begann sich aber schon vorher abzuzeichnen. So griff man gerne auf das im 18. Jahrhundert entstandene Bild von der Schweiz als einer den kriegerischen Konflikten enthobenen Insel zurück (s. Abb. 2).18 Georg Kreis misst dem Bild eine so große Bedeutung zu, dass er im Titel seiner Darstellung der »Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918« darauf zurückgreift, nicht ohne es aber durch eine Spezifizierung zu relativieren: »Insel der unsicheren Geborgenheit«.19 Die Grenzlinie wird hier zur Uferlinie, was – wie die Bilder von Wolken und Donner – etwas vom Menschen Ein- und Angerichtetes als Natur imaginiert; ein Verfahren, das in der Zeit höchste Konjunktur hatte.

2. Grenzstreitigkeiten zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich Der mit großem Pomp inszenierte Staatsbesuch Kaiser Wilhelms II . hatte die enge Zusammengehörigkeit zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich erst 1912 noch lebhaft bekräftigt.20 Gab es überhaupt noch eine Grenze zwischen den beiden Ländern? Nachdem vereinzelte Stimmen schon Jahre 18

19 20

Vgl. François Walter: La Suisse comme île, in: Armin Heinen, Dietmar Hüser (Hg.): Tour de France. Eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann. In Zusammenarbeit mit Anne Günther. Stuttgart 2008 (= Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees, Bd. 4), S. 419–428. Georg Kreis: Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918. Zürich 2014. Meinrad Inglin stellt dessen Schilderung nicht zufällig an den Anfang seiner literarischen Darstellung der Schweiz im Ersten Weltkrieg. Vgl. Meinrad Inglin: Der Schweizerspiegel, in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. Georg Schoeck. Bd. 5. 1. Zürich 1987, S. 7–18.

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vor Kriegsausbruch auf die tiefgreifenden politischen Differenzen zwischen der Schweiz und dem Reich hingewiesen hatten,21 waren solche Zweifel bei jenen, die als Soldaten an der Grenze standen, sofort gründlich ausgeräumt. Andere wollten die Grenze auch jetzt noch nicht wahrhaben. Das zeigte sich an den höchst kontroversen Reaktionen auf die wichtigste Intervention eines Schriftstellers in die öffentliche Debatte in der Schweiz der Kriegsjahre, auf Carl Spittelers Rede Unser Schweizer Standpunkt. Man kann die am 14. Dezember 1914 vor der Zürcher Sektion der Neuen Helvetischen Gesellschaft gehaltene Ansprache als Appell an das bereits im »Wir« des Redesubjekts pathetisch beschworene helvetische Kollektiv auffassen, angesichts des Kriegs die Grenzen neu zu überdenken. Spitteler konstatiert, dass die Front zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich sich in die Schweiz verlängert habe und die Nation zu spalten drohe. Demgegenüber gelte es inne zu werden, »daß die Landesgrenzen auch für die politischen Gefühle Marklinien bedeuten. Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn, und bis auf weiteres liebe Nachbarn; alle, die diesseits wohnen, sind mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder.«22 Die Wirkungsmacht der sogleich in allen vier Landessprachen verbreiteten Rede zeigte sich zuerst an einer vehementen Debatte, später, im Umfeld des Zweiten Weltkriegs, an deren Kanonisierung zu einem Leittext der ›Geistigen Landesverteidigung‹.23 Die polemischen Stimmen, die sich – neben den zustimmenden namentlich in der französischen Schweiz – gegen Spittelers Rede im deutschsprachigen In- und Ausland erhoben, verwahrten sich gegen eine Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz und richteten an die Deutschschweizer das Ansinnen, sich bedingungslos an die Seite der Mittelmächte zu stellen. Dies lässt sich in einer mit Unser Deutschtum und der Fall Spitteler betitelten »Flugschrift des Dürerbundes« nachverfolgen, mit der Ferdinand Avenarius und Wolfgang Schumann die Debatte Anfang 1915 dokumentierten und in abwägender Weise zu kommentieren versuchten.24 Das Integrationsangebot, das in der Ausrufung eines gemeinsamen »Schweizer Stand21

22 23

24

Vgl. dazu das Kapitel »Allmähliche Abkehr vom Deutschdenken in der deutschen Schweiz« in: Darius Komorowski: Ein Intellektueller im Narrenhabitus. Carl Albert Looslis Publizistik in der nationalen Identitätsdebatte der Schweiz um 1900. Würzburg 2014, S. 127–130. Carl Spitteler: Gesammelte Werke. Bd. 8: Land und Volk. Hg. v. Werner Lauer. Zürich 1947, S. 580 f. Zur Vorgeschichte und zur Rezeption von Spittelers Rede s. Werner Stauffacher: Carl Spitteler. Biographie. Zürich, München 1973, S. 681–697, sowie François Vallotton: Ainsi parlait Carl Spitteler. Genèse et réception du »Notre point de Vue Suisse« de 1914. Lausanne 1991 (= Histoire et société contemporaines, Bd. 11). Unser Deutschtum und der Fall Spitteler. Belege und Betrachtungen. Im Auftrage des Dürerbundes zusammengestellt v. Wolfgang Schumann. Mit einem Nachwort v. Ferdinand Avenarius. München o. J., S. 135 (= Flugschrift des Dürerbundes). Zu der Debatte um die Rede ausführlicher: Komorowski: Ein Intellektueller (s. Anm. 21), S. 130–136.

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punkts« lag, glaubten die beiden Autoren mit demjenigen des Titels noch überbieten zu können. Sie nahmen offenbar an, dass »Unser Deutschtum« »Unseren Schweizer Standpunkt« einschließe. Sie hatten noch nicht wahrgenommen, dass mit dem Ersten Weltkrieg, an dessen Anfang man stand, die Annahme, die bis vor kurzem noch viele teilten, endgültig unhaltbar geworden war. Deutsche Spitteler-Freunde wie Ferdinand Avenarius oder der Verleger Eugen Diederichs mussten einsehen, dass die veröffentlichte Meinung in Deutschland ein mit noch so vielen Vorbehalten geäußertes Verständnis für Spittelers Verlautbarung nicht tolerierte. Sie suspendierten deshalb ihre Kontakte zu Spitteler für die Zeit des Kriegs.25 Binnen kurzem war Carl Spitteler im Deutschen Reich – nicht dagegen in Österreich26 – zur Unperson geworden. Wenig vorher hatte das Gleiche schon der bedeutendste Maler der Schweiz, Ferdinand Hodler, erleben müssen, weil er es gewagt hatte, die »Protestation de Genève« gegen die Bombardierung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen zu unterschreiben, was auch in der deutschen Schweiz auf Unverständnis stieß.27 Diffamierungen in Deutschland sahen sich, neben Hodler selber, auch diejenigen ausgesetzt, die seine Intervention öffentlich verteidigten. Zu ihnen hatte auch Carl Spitteler gehört,28 der also nicht erst, wie er an deren Anfang behauptet, mit der Rede Unser Schweizer Standpunkt in die politische Arena trat. Dabei traf der Boykott den Maler wohl stärker als den Dichter, weil sich der Verkauf von Büchern weniger leicht staatlich dirigieren lässt als das Ausstellen und Ankaufen von Kunstwerken durch meist staatliche Museen. Wie sehr die Kulturschaffenden der Schweiz unter reichsdeutscher Beobachtung standen, musste schließlich auch Paul Ilg erfahren, der in seinem 1917 veröffentlichten Roman Der starke Mann die preußische Mentalität von Deutschschweizer Offizieren bloßstellte und so seinerseits einforderte, dass eine deutliche Grenze zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich gezogen werde.29 Mit einem großen Agentenstab versuchten die kriegsführenden Nachbarstaaten die öffentliche Meinung in der Schweiz zu ihren Gunsten zu beeinflussen.30 Selbst dies hat Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit dokumentiert und zwar anhand des Gesprächs von zwei deutschen Schiebern in einer »Schweizer Hochbahn«. Die beiden sind sich einig, dass »[u]nsere Propaganda versacht«: »Wir müssen die Schweiz säubern! Auf der Zürcher 25 26 27 28 29 30

Vgl. Stauffacher: Carl Spitteler (s. Anm. 23), S. 692 f. Vgl. Stauffacher: Carl Spitteler (s. Anm. 23), S. 691. Dazu: Erwin Marti: Carl Albert Loosli 1877–1959. Bd. 3: Im eignen Land verbannt (1914–1959). Erster Teil. Zürich 2009, S. 82–84. Zu Spittelers Einsatz für Hodler s. Carl Albert Loosli: Ferdinand Hodler. Leben, Werk und Nachlass. Bd. 1. Bern 1921, S. 184 u. 188 f. Vgl. Utz: Helvetische Heroik im Huber-Verlag (s. Anm. 11), S. 88–91. Vgl. Marti: Carl Albert Loosli (s. Anm. 27), S. 35–40.

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Straßenbahn hat einer neulich französisch jesprochen! Da habe ich denn jleich Krach jemacht und dem Mann auf den Kopf zujesagt, daß Neutralitätsbruch vorliege.«31 Durch die Neudefinition der Grenze zwischen der Schweiz und dem Reich erhielt auch das einen neuen Charakter, was man heute als den »doppelten Ort der Schweizer Literatur« zu bezeichnen pflegt.32 Die politische Nichtzugehörigkeit zu Deutschland trat zur kulturellen Teilhabe am deutschen Sprachraum in ein viel schärferes Spannungsverhältnis, als dies fünfzig Jahre früher zu Zeiten Gottfried Kellers noch der Fall gewesen war.33

3. Grenzüberschreitende Empathie Carl Spitteler argumentiert am Anfang seiner Rede nüchtern und durchaus politisch, schaltet für das sehr eindringliche Finale dann aber noch ein deutlich emotionaleres Register dazu. Dabei nimmt er Bezug auf sein eigentliches Metier, die Literatur: Die richtige Haltung zu bewahren, ist nicht so mühsam [. . .]. Wenn ein Leichenzug vorüber geht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Nicht wahr, das brauchen Sie nicht erst zu lernen? Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache. Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab. Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.34

Für die starke Wirkung auf die Zuhörer, den Spittelers Appell ausübte,35 dürfte dieser Schluss ausschlaggebend gewesen sein. Dabei ist die Wirkung ästhetisch gestalteter Rede hier auch ihr Thema. Spitteler metaphorisiert den 31 32

33

34 35

Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 10: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt a. M. 1986, S. 664 (5. Akt, 30. Szene). Gemeint ist damit, was Ursula Amrein unter Rückgriff auf Überlegungen von Peter von Matt und Michael Böhler als »die doppelte Zugehörigkeit zur Schweiz und zum umfassenden Sprachgebiet« umschreibt (Ursula Amrein: »Weg von Berlin!« Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das »Dritte Reich«. Zürich 2004, S. 11). Vgl. dazu: Dominik Müller: »Wo, ungestört und ungekannt, ich Schweizer darf und Deutscher sein!« Gottfried Keller im Spannungsraum zwischen der Schweiz und Deutschland, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 24 (1997), H. 1, S. 85–104. Spitteler: Gesammelte Werke (s. Anm. 22), Bd. 8, S. 594. Dazu Stauffacher: Carl Spitteler (s. Anm. 23), S. 687.

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Krieg nicht, wie im allgegenwärtigen Bild vom Gewitter, als Natur-, sondern als Kunstereignis, als Trauerspiel, und erklärt, bevor er selber mit dem Reden aufhört, das Schweigen und die stumme Geste des Hutziehens zum angemessenen Verhalten. Indem der Redner diese noble Haltung anempfiehlt, erhebt er den Hörer, aber auch sich selber. Mitfühlende Anteilnahme statt Parteinahme, Schweigen statt lautem Meinungsstreit: Spitteler zieht damit auch auf dem diskursiven Feld Grenzlinien. Für die Empathiebekundungen, die die Zuschauerrolle der Schweizer Bevölkerung abverlangte, den richtigen Ton zu finden, war eine Aufgabe, welche die Literatur in besonderem Maße herausforderte. Dass das Schweigen, das gerade von Spitteler als besonders adäquat angesehen wird, dazu gehören kann, wird im Zusammenhang mit Robert Walser noch zu besprechen sein, da sich dadurch die Möglichkeit ergibt, dass auch Werke, die den Krieg nicht thematisieren, als Stellungnahmen zum Krieg betrachtet werden müssen. Ein Buch, in dem es nur so wimmelt von Respektbekundungen gegenüber den Leidtragenden des Kriegs, ist der Sammelband mit Gedichten und Erzählungen von Ernst Zahn, an dessen Anfang die schon zitierte Novelle Kriegszeit steht. Der Autor wählte als Titel für das 1916 in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart erschienene Buch einen Stoßseufzer, den man diesseits und jenseits der Schweizer Grenze gleichermaßen ausstoßen mochte: Einmal muß wieder Friede werden. Die aufdringliche Beredsamkeit, die Zahn für seine Verneigungen vor dem Kriegsleid aufbietet, hätte es ihm verboten, sich auf Spittelers Rede zu berufen. Spitteler, der über ein viel größeres literarisches Renommee und eine viel begrenztere Leserschaft verfügte als Zahn, nahm mit seiner Rede bewusst in Kauf, dass damit der Absatz seiner Bücher in Deutschland gefährdet wurde; darum war er dazu auch nicht sofort bereit.36 Zahn dagegen ging ein solches Risiko nicht ein. Sein Buch dokumentiert das angestrengte Bemühen, im Krieg sowohl das inländische wie das ausländische deutschsprachige Publikum zu bedienen. Im August 1914 war Zahn von der Erkenntnis überrumpelt worden, dass sich sein bisher homogenes Absatzfeld mit einem Mal aufgespalten hatte und er sich plötzlich auf divergierende Lesersensibilitäten einzustellen hatte. Er hatte der deutschen Zeitschrift Über Land und Meer ein mit Sturmlied betiteltes Gedicht eingesandt, dessen Anfangsstrophe lautete: Nun steht die ganze Welt in Brand. Die Trommeln, sie gehen. Doch sei getrost, mein Vaterland, Dir soll nichts geschehen.

36

Vgl. Stauffacher: Carl Spitteler (s. Anm. 23), S. 686, sowie Magnus Wieland: Carl Spittelers Schreibtischgefechte. Zur Entstehung der epochalen Rede »Unser Schweizer Standpunkt«, in: Neue Zürcher Zeitung, 18. 10. 2014, S. 68.

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Dass ein prominenter Schweizer Autor in den deutschen Kriegstaumel einstimmte und das Deutsche Reich als »mein Vaterland« ansprach (auf eine Unterscheidung zwischen lyrischem Ich und Autor-Ich durfte man in dieser bekenntnissüchtigen Zeit nicht insistieren wollen), löste in der Schweizer Presse einen Proteststurm aus, ganz besonders wegen eines für die Redaktion bestimmten, von dieser aber mitveröffentlichten Begleitkommentars: »Mein Herz schlägt hoch für Deutschland. Ich weiss, dass es in gerechter Sache siegen wird!«37 Zahn sah sich in der Folge genötigt, von seinem Amt als Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes zurückzutreten (der designierte Nachfolger, Rudolf von Tavel hatte, wie schon erwähnt, nicht mehr Glück). Der Band Einmal muß wieder Friede werden mutet wie der Versuch an, diese Scharte auszuwetzen, einen erneuten Skandal zu vermeiden und auch in der Literatur eine Art Neutralitätspolitik zu verfolgen. In der historischen Erzählung Kriegszeit schildert die Urgroßmutter den Frauen, die jetzt allein den Bauernhof führen müssen und auch ihr eigenes Freizeitverhalten entwickelt haben, die Nachstellungen durch einen Offizier der napoleonischen Armee, denen eine Vorfahrin einst ausgesetzt war. Zahn konnte mit dieser Geschichte beim deutschen Publikum auf die Ressentiments gegen Frankreich und beim schweizerischen gegen die »Franzosenzeit« (zwischen 1798 und 1815) bauen. Weniger plakativ verfährt die Erzählung Kameraden, die ausschließlich in der Gegenwart spielt. Sie handelt von einem der zahlreichen deutschen Studenten, die vor Kriegsausbruch in Zürich studierten. Die junge Liebesbeziehung zu der Tochter seiner Zimmervermieterin hindert ihn nicht daran, bei Kriegsausbruch dem zu folgen, was er als Ruf seines Vaterlandes zu vernehmen glaubt, und Soldat zu werden. Es dauert nicht lange, bis seine Mutter mit der Nachricht von seinem Tod in Zürich erscheint. Sie ist aber nicht bereit, ihre Trauer mit den beiden Zürcherinnen zu teilen, was in einer Weise geschildert wird, die ihr alle Sympathien raubt. Das macht den Text zu einem Plädoyer dafür, dass auch die vom Krieg nicht Betroffenen zur Trauer zugelassen sind. Wenigstens auf dem Feld der Literatur, der Empathie, stehen Schweizer und Deutsche Seite an Seite.38 Jakob Christoph Heer war ein weiterer Schriftsteller, der, vor allem dank zweier, in den Schweizer Alpen spielender Romane – An heiligen Wassern (1892) und König der Bernina (1900) –, wie Zahn im ganzen deutschen Sprach37

38

Zit. – wie auch schon der Gedichttext – nach Ulrich Niederer: Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Kulturpolitik und individuelle Förderung: Jakob Bührer als Beispiel. Tübingen, Basel 1994 (= Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 61), S. 56. Die Schweiz partizipierte an der Trauer über die Gefallenen mit der Errichtung von erstaunlich vielen Denkmälern, die neben den im Grenzdienst gestorbenen (und nicht gefallenen!) schweizerischen und den in der Schweizer Internierung gestorbenen ausländischen auch den auf den Schlachtfeldern Europas gefallenen Soldaten gedachten. Dazu: Sébastien Farré: Commémorer les morts de la première gueèrre mondiale en terre de paix, in: Christophe Vuilleumier (Hg.): La Suisse et la guerre de 1914–1918. Actes du colloque tenu du 10 aud 12 septembre 2104 au Château de Penthes. Genève 2015, S. 495–509.

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raum große Popularität erlangte. Er veröffentlichte 1918 einen neuen Roman, Heinrichs Romfahrt, dem erneut ein Schweizer Bergdorf, das zur Abwechslung allerdings in der italienischen Schweiz liegt, als Schauplatz dient. Der Titelheld ist ein junger Deutscher, der während einer Romreise auf Goethes Spuren hier strandet und sich unverzüglich in die schöne Tochter des Bürgermeisters verliebt. Obwohl die Liebe durchaus gegenseitig ist und die junge Frau samt ihrem Vater, der einst als Steinmetz in Deutschland arbeitete, liebend gern in den Norden auswandern möchte, wird den jungen Leuten durch die katholische Kirche und einen gewaltbereiten Nebenbuhler der Weg zum Glück versperrt. Heer verkehrt das traditionelle Bild eines verlockenden Südens in sein Gegenteil. Die junge Frau flieht ins Kloster und Heinrich, vom Erzähler angestrengt idealisiert, kann sich nur angewidert abwenden von diesem verdorbenen, gewalttätigen Süden. Es liegt auf der Hand: Heer schmeichelt mit dieser krass parteiischen Darstellung seinen deutschen Lesern und schlachtet die Aversion gegen Italien aus, das 1915 an der Seite der Entente in den Krieg eingetreten war.

4. Die Macht des Kontexts: die durchlässige Grenze zwischen impliziter und expliziter Rede über den Krieg – Robert Walser Von Robert Walser gibt es keinen einzigen Text, der so ohne Weiteres in eine Anthologie Schweizer Literatur und der Erste Weltkrieg hineinpassen würde. Die zahlreichen Prosastücke, die Walser zwischen und teilweise auch während seiner sechs, zusammen knapp zehn Monate dauernden GrenzdienstEinsätze als Füsiliersoldat zwischen August 1914 und Oktober 1918 schrieb, nehmen nur ganz punktuell explizit auf den Krieg Bezug. Viele von ihnen scheinen dem Zeitgeschehen den Rücken zu kehren, was in ein Bild des Autors als Idylliker zu passen schien. Bei näherem Hinsehen sind immer mehr Passagen zu entdecken, die sich als versteckte Anspielungen lesen lassen. Peter Utz spricht von einer »leise[n] Alternative zur lauten Kriegsliteratur, die in der kriegsführenden Hauptstadt den Ton angibt«.39 So kann man sich schließlich fragen, ob sich nicht auch – im Sinne jener von Spitteler propagierten Rhetorik des Schweigens – gerade das Abstandhalten zur Kriegsrealität als eine Stellungnahme deuten ließe. Jedenfalls lässt sich nur so ein Walser konstruieren, der den Krieg mehr als in Randbemerkungen kommentiert. Walser scheint sich selber schon bewusst gewesen zu sein, dass Zeitkontexte an seinen Texten mitschrieben. Als er im Frühjahr 1918 seine um 1900 entstandenen Märchen-Dramolette, die mehr als alles andere von seiner Feder außerhalb der Zeit zu stehen scheinen, in einer als Komödien betitelten 39

Utz: Urkatastrophe (s. Anm. 3), S. 279.

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Sammlung vereinigen wollte, warb er in einem Brief an den Huber-Verlag mit der mehr als kühnen Behauptung für das Buchprojekt: »Sein Inhalt steht in einem Zusammenhang mit allem, was heute rund um uns vorgeht.«40 Wie der aktuelle Kontext einem älteren Text neue Bedeutungsdimensionen zuführen kann, zeigt sich etwa am Wiederabdruck von Das Vaterland aus der Sammlung Fritz Kocher’s Aufsätze in der Zeitschrift Die Ähre.41 Die höchst ungelenken Reflexionen, die Walser in seinem Erstlingswerk Fritz Kocher, dem altklug naiven Schüler, über die republikanische Verfassung in den Mund gelegt hat, erscheinen nun plötzlich als eine freche Ironisierung all der Denkschriften, Essays und Vorträge über die politische Verfassung und die Neutralität der Schweiz, die der Krieg hervortrieb.42 Als eine indirekte Intervention kann man auch das Prosastück Haarschneiden interpretieren, das am 9. April 1916 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien. Eine Ich-Figur berichte davon, wie sie – bereits dies eine schiefe Gegenüberstellung – »mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, dafür aber schwerer Masse von Haar auf dem Kopf« in einen Coiffeursalon tritt. Den Lehrling, der sich anschickt, den Kunden zu bedienen, scheint diese Mähne zu erschrecken: Eine prächtige Fülle von Arbeit stand dem Menschen bevor, der mir noch nie irgend etwas Böses zugefügt hatte, und dem auch ich daher nichts Böses zufügen sollte, dem ich aber nichtsdestoweniger jetzt etwas Leides und Böses antat und zufügte, indem ich ihm mit äußerst sanfter und gutmütiger Stimme sagte, daß ich mir gefällig den hohen und massiven Turm von Haar, den ich auf dem Kopf trug, fortschneiden und wegscheren lasse möchte.43

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Robert Walser an den Verlag Huber & Co., 14. 6. 1918, in: Robert Walser: Briefe. Hg. v. Jörg Schäfer unter Mitarbeit v. Robert Mächler. Zürich 1979, S. 132 f., hier S. 133. Eine ähnliche Formulierung findet sich im Brief an den Rascher-Verlag vom gleichen Tag und mit dem gleichen Zweck: »›Komödie‹ liest sich gut und steht in mehr als einer Hinsicht zu all dem sonstigen Geschehen in einem originellen, durchaus unbeabsichtigten Zusammenhang.« (Ebd., S. 132) In einem anderen Brief an Rascher hatte er am 17. 4. 1918 zu einem anderen Werk bemerkt: »›Seeland‹ trägt in der Tat den internationalen Stempel und verleugnet allerlei Einflüsse aus gegenwärtigen europäischen Geschehnissen keineswegs.« (Ebd., S. 127) Vgl. Die Ähre 3 (1. 8. 1915), H. 39/40, S. 4 f.; vgl. das Elektronische Findbuch der Kritischen Robert Walser-Ausgabe, Version 2. Es findet sich auf der DVD beispielsweise zu: Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Bd. I .1. Frankfurt a. M., Basel 2010. Allein der Rascher-Verlag veröffentlichte davon in seiner Reihe Schriften für Schweizer Art und Kunst, in der als Band 2 auch Spittelers Unser Schweizer Standpunkt erschien, eine ganze Anzahl. Linsmayer: Kaddisch für einen Juden (s. Anm. 8) bezeichnete Max Rascher (1883–1962) als »den Verleger der Stunde«. Rascher stellte seinen Verlag insbesondere auch pazifistischen Autoren zur Verfügung und betreute 1916/1917 René Schickeles Zeitschrift Die Weißen Blätter; vgl. dazu von Matt: Kriegsverherrlichung (s. Anm. 12). Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Bd. III .3: Drucke in der Neuen Zürcher Zeitung. Hg. v. Barbara von Reibnitz u. Matthias Sprünglin. Basel, Frankfurt a. M. 2013, S. 62.

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Obstinat wiederholt der Text die Feststellung, dass sich da im Friseursalon zwei in einer Konfliktsituation gegenüberstünden, die sich vorher ›noch nie etwas Böses zugefügt‹ hätten. Wird da auf das immer wieder beklagte Skandalon Bezug genommen, dass sich auf den Schlachtfeldern des Kriegs junge Menschen gegenseitig zu morden gezwungen sind, die einander persönlich nichts vorzuwerfen haben? Die Vermutung wird zusätzlich geschürt, wenn es von dem überforderten Lehrling später heißt: »Er klapperte vor Angst und Bestürzung mit den Zähnen, derart, daß ich ein Maschinengewehr knattern zu hören glaubte.«44 Vor allem ist es aber die auffällige Wiederholung der Formel vom Bösen, das zwei sich ganz ungewollt zufügen, die stutzig macht. Sie steht in keinem Verhältnis zu dem harmlosen Vorfall in einem Coiffeursalon und zieht so – als etwa Unpassendes, Deplatziertes, das nach einer Erklärung ruft – die Aufmerksamkeit auf sich. Herbst, abgedruckt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Oktober 1918, ist einer der unzähligen Jahreszeitentexte, die Robert Walser seit den Anfängen mit Fritz Kocher’s Aufsätzen veröffentlicht hat.45 Der erste Abschnitt beschwört in schon fast aufreizender Konventionalität fallende Blätter und überlässt es hier noch dem Leser, dabei an fallende Soldaten zu denken. Die gar nicht mehr konventionelle Reflexion über die Unvorhersagbarkeit der Reihenfolge, in der die einzelnen Blätter eines Baumes herabfallen, mögen solchen Assoziationen Vorschub leisten. Der zweite Abschnitt bringt einen Neueinsatz: Da uns allzu viel Gedankliches arg drückt und schwerfällt, so schütteln wir es ab und wollen fortfahren, vom Herbst zu parlieren, der als etwas Mildes, Mittleres, Gemäßigtes zwischen brennender Hitze und beißender Kälte liegt und sich neutral verhält, indem er einerseits noch manches vom Sommer hat, wo alles blüht und grünt und Insekten heftig stechen, und anderseits schon manches vom Winter, wo Schneegefletsch herumschwimmt, wofür man sich bedankt, und Hudelwetter sudelt, wovon man glaubt, es komme früh genug, um Schauder einzuflößen.46

Mit dem Adjektiv »neutral« wird ein Schlüsselwort der staatspolitischen Debatte, die der Krieg in der Schweiz anheizte, in die Naturschilderung geschmuggelt. Soll das nun heißen, dass der Herbst ein Bild für die Lage der friedfertigen Schweiz im kriegsversehrten Europa sei? Und sollen die stechenden Insekten und das »Schneegefletsch« verdeutlichen, dass der Sommer und der Winter, die sich durch diese Begleiterscheinungen auszeichnen, zwei aggressive Mächte sind, die den friedfertigen Herbst umgeben? Eine Spur ist gelegt, doch gibt der Text keine weiteren Hinweise, welche die Bedeutung des Herbsts als Allegorie auf den neutralen Staat erhärten würden. An seinem Ende geht das Prosastück dann allerdings, anders als Haarschneiden, 44 45 46

Walser: Kritische Ausgabe (s. Anm. 43), Bd. III .3, S. 116. Utz: Urkatastrophe (s. Anm. 3), S. 277–279, beobachtet eine Vorliebe für die Landschaftsschilderung, aber auch deren Neucodierung in der Literatur aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Walser: Kritische Ausgabe (s. Anm. 43), Bd. III .3, S. 115.

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doch noch explizit auf das politische Geschehen ein: »Warum könnte sich der Herbst nicht für Friedensverhandlungen eignen? Weshalb sollte nicht die harte Umklammerung zersplittern und Einigung zum Vorschein kommen? Wie lange soll die angstvolle Welt noch in Erwartung verharren, daß diese schlimmen Dinge endlich aufhören?«47 Die Bemerkungen zur schweizerischen Neutralität und zu den Friedenshoffnungen, die, wie ein Beitrag Hermann Hesses in der gleichen Nummer der Neuen Zürcher Zeitung bestätigt,48 zum fraglichen Zeitpunkt besonders virulent waren, wirken in Walsers Herbstidyll merkwürdig deplatziert. Und genau das gilt für viele der unvermittelten Verlautbarungen Walsers zum Krieg, die durch seine Texte irrlichtern. Das Wort »deplatziert« hat eine beschreibende und eine wertende Bedeutung. Die beschreibende meint hier, dass in sachfremden Kontexten Kriegsthemen aufgerufen werden, die wertende, dass gängige Wertmaßstäbe dabei missachtet werden. Walser setzt sich über die Grenzen zwischen dem ernsten, ja pathetischen Ton, den man im Zusammenhang mit Kriegsfragen – auch von Seiten der Pazifisten – anzuschlagen gewohnt war, und einem verspielt ironischen hinweg. So steht er, trotz des treuherzigen Anstrichs, der seine bevorzugte Tarnfarbe ist, den Dadaisten, die ja bekanntlich 1916 ihr Wesen bzw. Unwesen ausgerechnet in Zürich zu treiben begannen, näher als Erbauungsschriftstellern wie von Tavel und Zahn. Auch die Texte Walsers über das Militär und das Soldatenleben, die verblüffend affirmativ sind, vergreifen sich provokativ im Ton, indem sie alles Martialische ausblenden und dem Militär so in freundlicher Subversion das Militärische absprechen. Der Anfangssatz des Prosastücks Beim Militär, erschienen am 5. September 1915 in der Neuen Zürcher Zeitung, muss hier als Beleg genügen: »Beim Militär ist manches ohne Frage riesig nett und hübsch, wie z. B. mit Musik durch friedliche, freundliche Dörfer marschieren, wo Kindergruppen, Gruppen von Frauen und blühenden Bäumen am Weg stehen.«49 Walser rühmt die Soldatenexistenz in einer Armee, die nicht zum Kriegseinsatz gekommen ist.50 Militär bedeutet dabei eine Art von institutionalisiertem Müßiggang. Deswegen muss man vorsichtig sein, wenn man dem Wohlleben in der Kollektivordnung, wie es Walser skizziert, »jenes bekannte Sommererlebnis im Jahre 1914, den sogenannten Aufschwung zur großen Zeit« (GW II, S. 1060), den Robert Musil in Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit beschreibt, an die Seite stellen will, wie das Paul Keckeis jüngst 47 48

49 50

Walser: Kritische Ausgabe (s. Anm. 43), Bd. III .3, S. 117. Der Beitrag ist überschreiben mit Gedanken. Unter dem Titel Krieg und Frieden ist er abgedruckt in: Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Hg. v. Volker Michels. Bd. 15: Die politischen Schriften. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M. 2004, S. 201–206. Walser: Kritische Ausgabe (s. Anm. 43), Bd. III .3, S. 53. Darauf hat bereits hingewiesen: Stiemer: Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung (s. Anm. 1), S. 169.

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getan hat.51 Typischen, ihrem Autor verwandten Walser-Helden ist es ein Leichtes, ihre Spaziergänger-, Träumer- oder Dichterexistenz gegen die eines Soldaten einzutauschen. Von nationalem Aufschwung ist dabei jedoch kaum die Rede. Das zeigt sich an den zwei Prosastücken Hans und Der Arbeiter, die beide mit der Mitteilung enden, nach dem plötzlichen Kriegsausbruch seien die Titelhelden Soldaten geworden. Mit der Aufgabe der zivilen Existenz der Zentralfiguren erlischt auch das Interesse des Erzählers an ihnen, so wie das auch Hans Castorp widerfährt, wenn er in den Kriegsdienst einrückt und damit Thomas Manns Zauberberg ans Ende bringt. Hans veröffentlichte Walser zuerst in einer schweizerischen, Der Arbeiter in einer deutschen Zeitschrift. Nuancen in der Art, wie die beiden inhaltlich analogen Schlüsse erzählt sind, scheinen zu verraten, dass auch Robert Walser auf die potentiell unterschiedlichen Sensibilitäten der Leserschaften diesund jenseits der Landesgrenze Rücksicht zu nehmen bereit war. Hans, publiziert 1916 in der Monatszeitschrift Die Schweiz, schildert den Eintritt des jungen Mannes in die Armee – als gäbe es die in Deutschland und in Österreich bekannte Kategorie der »Freiwilligen« auch in der Schweiz – als einen in ironischem Pragmatismus gefassten freien Entschluss: »[. . .] Nun denn, so sei es, vorwärts jetzt, wohlan und die Pflicht als braver Soldat getan. Zur Fahne hinaufgeschaut, die ich bereits im Winde fliegen sehe, und nun sei dem Lande gedient, zu dessen Söhnen ich zähle, und die Seele sei nun eine Vaterland liebende Seele.« / Er fuhr nach Bern, um sich dort zu stellen.52

Der Prosatext Der Arbeiter, der von einem Dichter handelt, der aus seiner künstlerischen Arbeit die Berechtigung ableitet, sich zum Proletariat zu zählen, erschien im August 1915 in der gleichen Jahres in Berlin ins Leben gerufenen, reich illustrierten Zeitschrift Wieland. Mit diesem Organ versuchten dem Expressionismus nahestehende Künstlerkreise offenbar, sich in die Kommentierung des Kriegs einzuschalten – im Editorial wird zudem vermerkt: »herausgegeben im Einverständnis mit dem Zentralkomitee der Vereine vom Roten Kreuz«. Der Schluss von Walsers Beitrag lautet so: Er stand bald in Reih’ und Glied und fand es, kräftig, wie er von Natur war, göttlich schön, mit den Kameraden auf staubiger Straße gegen den Feind zu marschieren. Lieder singend ging es fort, und bald kam es zur Schlacht, und der Arbeiter war einer unter denen, welche für das Vaterland fielen.53

51

52 53

Vgl. Paul Keckeis: Füsilier und Schriftsteller. Zu Robert Walsers literarischer Militärsoziologie, in: Karl Wagner, Stephan Baumgartner, Michael Gamper (Hg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich 2014 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 28), S. 99–113, hier S. 108. Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Bd. 7: Seeland. Frankfurt a. M. 1986, S. 206. Robert Walser: Der Arbeiter, in: Wieland (1915), Nr. 18, S. 4. Digitalisiert abrufbar unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wieland1915_1916/0252 (aufgerufen am 10. 12. 2015).

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Für den Wiederabdruck in Poetenleben (erschienen 1918 im Huber-Verlag, der neben dem Stammhaus in Frauenfeld in Leipzig eine Niederlassung hatte) modifizierte Walser den Schlusssatz: »Lieder singend ging es fort, und bald kam es zur Schlacht, und wer weiß, vielleicht war der Arbeiter einer unter denen, die für das Vaterland fielen.«54 Wichtiger als die kleinen Akzentverschiebungen in der Formulierung des Textschlusse ist, dass Walser in die Fassung in Poetenleben eine pazifistische Betrachtung einmontiert, die er früher als einen eigenen Text publiziert hatte.55

5. Grenzüberschreitungen zwischen Ernst und Ironie Robert Walser ist nicht der einzige Schriftsteller, bei dem sich der literarische Schweizer Standpunkt im Verhältnis zum Krieg auch darin geltend macht, dass die Lizenz zur Ironie nicht ausgesetzt ist. Das belegt auch die kurze Erzählung Unser Herrgott und der Schweizer von Heinrich Federer,56 die in ihrem leichten Ton mit Walsers Texten auch eine Rhetorik des Unheroischen teilt. Ebenfalls von Ironie, wenn auch einer ganz anderen, ist die Novelle Das Schweizerkreuz57 von Jakob Schaffner bestimmt. Die beiden Erzählungen wurden 1916 veröffentlicht – diejenige von Federer in der Schweiz, die von Schaffner in Deutschland. Beide verhandeln die schweizerische Neutralität. Federers Text weist bereits mit dem die Gattungsbezeichnung spezifizierenden Adjektiv des Untertitels auf eine literarische Grenzüberschreitung hin: »Ein stolzbescheidenes Geschichtchen«. Das Oxymoron des Adjektivkompositums bündelt das Schwanken zwischen Bescheidenheitsbekundung und einem versteckten Überlegenheitsgefühl, wie es insgeheim auch in Spittelers Bestimmung des »Schweizer Standpunkts« am Werke ist. Geschildert wird, wie Repräsentanten der kriegsführenden Staaten während einer Gefechtspause vor Gott treten. Sie sind vom heldenhaften Kampf gezeichnet und tränken den »azurenen Flur«58 des Himmelspalastes bald mit Blut. Für einmal fühlen sie sich geeint, denn was sie dazu bringt, vor den Allerhöchsten zu treten, das ist ihr Groll über das Abseitsstehen des Schweizers. Dieser ist ebenfalls zur Stelle und zwar als eine auffallende Kontrastfigur, die – verschont von Wunden – mit den Händen in den Hosentaschen ein Pfeifchen billigen Tabaks raucht. Das ergibt einen markanten Stilkontrast, wie wenn 54 55 56

57 58

Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Bd. 6: Poetenleben. Frankfurt a. M. 1986, S. 116. Vgl. Utz: Urkatastrophe (s. Anm. 3), S. 276. Vgl. Heinrich Federer: Unser Herrgott und der Schweizer. Ein stolzbescheidenes Geschichtchen. Zürich 1916. Die Erzählung erschien in broschierter Form als Band 30 der Reihe Schriften für Schweizer Art und Kunst des Rascher-Verlags (vgl. Anm. 42) in der relativ hohen Auflage von 10 000 Exemplaren. Vgl. Jakob Schaffner: Das Schweizerkreuz. Novelle. Berlin 1916. Federer: Unser Herrgott (s. Anm. 56), S. 8.

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eine Figur Albert Ankers in eine Gruppe überspannter, von Johann Heinrich Füssli gezeichneter Helden träte. Federer gestaltet – in konsequenter Fortführung des Untertiteladjektivs – den Schweizer als eine Kippfigur, die bald als lächerlich, bald als sympathisch erscheint. Der auktoriale Erzähler kennt die Gedanken, die dem in seiner Rede gehemmten Schweizer – man spricht im Himmel keinen Dialekt – durch den Kopf gehen, wenn man ihn als Drückeberger beschimpft. Er stellt sich die Männer an der Schweizer Grenze vor, die »mit Eisen und Blei und goldener Freiheitsliebe bepackt, als lebendiger, unübersteiglicher Zaun im weiten Bogen um ihr Natiönchen stehen«,59 und erinnert sich, wie rings um seine Heimat das Morden begann, in einem Stil, der aller Historie und Kultur spottete; und wie der Schweizer aus Amt und Handwerk heraus an die Grenze musste, mit gespanntem Schnapphahn und gewetztem Säbel, nicht nur so ein bisschen, sondern auf Leben und Tod mobilisiert. So stand er neun Monate schon in Glut und Eis am Posten. War das gefaulenzt? Sollte man also auch noch mitmorden, um als fleissiger und gemeinnütziger Europäer zu gelten? War es nicht besser, eine Pfeife anzustecken und damit zu sagen: ich wach’ zwar, dass meine Hütte ganz bleibt, aber scher’ mich den Teufel um euer gegenseitiges Zertrümmern und Verstümmeln.60

Der liebe Gott schlichtet den Streit damit, dass er die Schweiz mit der Arche Noah61 vergleicht und den Nationen ans Herz legt, diese in Frieden zu lassen. Den Schweizer ermahnt er, sich vor Selbstgefälligkeit in Acht zu nehmen. Mit seiner Erzählung steuert Federer einen sehr heiteren Beitrag zu der leidenschaftlich geführten Debatte um die Schweizer Neutralität bei. Doch lässt der Text keinen Zweifel daran aufkommen, welche Position er selber vertritt. Schaffners Novelle von 1916 vermittelt einen ambivalenteren Eindruck. Schaffner lebte seit Jahren in Deutschland und hatte 1914 versucht, Hodler zum Widerruf seiner Unterzeichnung des Protestes gegen die Bombardierung der Kathedrale von Reims zu bewegen.62 Tritt er in Das Schweizerkreuz von 1916 für eine höhere Form von Patriotismus ein, indem er einen landläufigen, theaterhaften bloßstellt? Hauptfigur ist ein nach Jahren in seine Schweizer Heimatstadt zurückgekehrter Hotelierssohn, der sich nun endlich für eine der zwei Frauen entscheiden muss, zu denen er hier einst eine Liebesbeziehung angeknüpft hat, dabei aber insgeheim unter dem Einfluss einer dritten, seiner Mutter, steht. Den Ausschlag gibt eine patriotische Feier, bei welcher die eine der beiden Geliebten als Helvetia auftritt. Eine Tradition aufgreifend, die auf Gottfried Kellers späte Werke Das verlorene Lachen und Martin Salan59 60 61 62

Federer: Unser Herrgott (s. Anm. 56), S. 19. Federer: Unser Herrgott (s. Anm. 56), S. 11. Vgl. dazu Peter Utz: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz. München 2013, S. 160. Jakob Schaffner: Verdammt ihn nicht ungehört! Ein Wort über Hodlers Irrtum, in: Berner Tagblatt, 14. 10. 1914. Der Hinweis auf diesen Artikel bei Marti: Carl Albert Loosli (s. Anm. 27), S. 82.

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der zurückgeht, inszeniert Schaffner ein Fest voller Misstöne und grotesker Übertreibungen, mit denen die Gesellschaft sich und ihren hohlen Patriotismus selber entlarvt. Dabei tritt dem Ungeschick der Festorganisatoren – ganz anders als beim großen Vorbild – das der langatmigen erzählerischen Vermittlung an die Seite. Die Pointe, die schon auf Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame vorausweist, besteht darin, dass sich die Stadt mit dem lächerlichen Spektakel einem amerikanischen Milliardär andienen will, auf dessen Investitionen sie hofft. Der Held ist so klug, sich für diejenige der beiden Geliebten zu entscheiden, die sich nicht zu solchem Schabernack missbrauchen lässt. Schaffner macht den Rückkehrer zum Träger der Erkenntnis, dass der Schweizer Gesellschaft die Visionen völlig ausgegangen seien und sie sich darauf beschränke, mit alten, abgestandenen Mythen ihre Gewinnsucht zu kaschieren. In der 1916 mitten im Krieg in Berlin im Verlag der Gebrüder Paetel veröffentlichten Novelle kommt der Krieg nicht zur Sprache. Indem Schaffner aber eine Schweiz zeichnet, die alles dem Kommerz zu opfern bereit ist, ordnet er sie in ein einprägsames (alliterierendes) Gegensatzschema ein, auf das Werner Sombart in einer breit rezipierten Schrift von 191563 den Krieg zurückführt: in den Antagonismus von »Heldengesinnung«, die Deutschland beseelte, und »Händlergesinnung«. Sombart ortete letztere vor allem in England, Schaffner in den von ihm als »Dollarrepublik«64 apostrophierten USA, die 1916 – wie die Schweiz – noch abseits des Kriegs stehen. Dabei sollte die Entwicklung Schaffner insofern Recht geben, als die Schweiz in der Nachkriegszeit von einer Welle der »Amerikanisierung« erfasst wurde.65 Kein Zufall, dass Schaffner seine Geschichte im Touristikmilieu spielen lässt, und so das Klischee des windigen Hoteliers aktiviert, der es sich nicht leisten kann, eigene Überzeugungen zu haben, wenn er es sich mit keinem Gast verderben will. (Die Mutter des Helden, die erfolgreich einem Hotelbetrieb vorsteht, ist allerdings die prinzipienstärkste Figur in der ganzen Novelle.) Der Ärger über die Neutralität der Schweiz, den Federer in seiner kleinen Erzählung ironisiert, scheint bei Schaffner insgeheim die Erzählerhaltung zu bestimmen. Während sich bei Federer hinter dem treuherzigen Witz die Selbstgratulation verbirgt, hat Schaffners Ironie einen Zug ins ätzend Sarkastische. *** 63

64 65

Vgl. Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München 1915. Hinweise auf dieses Buch finden sich bei Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 244 u. 420, und, daran anknüpfend, bei Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert (s. Anm. 2), S. 134 f. Schaffner: Das Schweizerkreuz (s. Anm. 57), S. 133. Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert (s. Anm. 2), S. 153 f.

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Fünf Thesen sollen die Erwägungen zu den Themenkomplexen bzw. Funktionszusammenhängen, die in den fünf vorangegangenen Kapiteln in den Blick genommen worden sind, abschließend zusammenfassen: 1. »Grenzdienst« wurde in der Schweiz der Kriegsjahre zu einem geradezu emblematischen Begriff. »Grenzdienst« im wörtlichen Sinn leisteten die vielen Armeeangehörigen, die entlang der Landesgrenzen einem Angriff entgegenbangten, der glücklicherweise nie stattfand. Dieser militärische Einsatz, der vor allem langes Warten und eine Einbuße an Alltagskomfort mit sich brachte, war mit demjenigen, zu dem die Truppen der kriegsführenden Staaten gezwungen waren, nicht zu vergleichen, brachte aber trotzdem, namentlich im ersten Kriegsjahr, eine vergleichbare Rhetorik des Gemeinschaftserlebnisses hervor. Die Reorganisation des Lebens im Hinterland dagegen, die den Frauen neue Rollen zuwies, hatte durchaus Ähnlichkeit mit dem, was im übrigen Europa geschah. Die allgemeine Parole lautete »Zusammenstehen«: Wer auf die Divergenzen der Meinungen und der Interessen im Lande hinwies, wurde mit ungewohnt autoritativer Geste zur brüderlichen Einigkeit ermahnt. Die Literatur lieferte tröstende Geschichten, die von positiven und integrativen Folgen erzählten, welche die Entbehrungen aufwogen. 2. Ein »Grenzdienst« im übertragenen Sinn bestand darin, die Grenzen, die das Land umgeben und es durchtrennen, im Zeichen des Kriegs neu zu überdenken, was Einigelungs- bzw. Integrationsappelle nach sich zog. Die Literatur beteiligte sich bei der Suche nach Bildern für die veränderte geopolitische Lage der Schweiz, die eine folgenschwere Neuordnung ihrer Rezeptions- und Distributionsräume mit sich brachte. Insbesondere das Markieren einer Grenze zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz provozierte erbitterte publizistische Gefechte. Prominente Persönlichkeiten – darunter auch Schriftsteller – wurden an den Pranger gestellt und zum »Fall« erklärt, wenn sie es wagten, Distanz zu markieren (»Fall Hodler«, »Fall Spitteler«, »Fall Ilg«). Die nicht nur auf den lokalen Markt orientierten Schweizer Autorinnen und Autoren hatten sich darauf einzustellen, dass man ihre Texte diesseits und jenseits der Grenzen anders las, und mussten so etwas wie literarische Neutralitätsstrategien entwickeln. 3. Auf die durch den Krieg gesteigerte Erwartung an die Literatur, Empathie in Worte zu fassen, reagierten die Schriftsteller mal offensiv, mal zurückhaltend. Mitgefühl heischten die wachestehenden Soldaten an den Grenzen, die im Hinterland zurückgebliebenen, nun auch Männerarbeit verrichtenden Frauen, aber auch die Soldaten, die im Ausland massenhaft für den Krieg mit ihrem Leben bezahlten. Dabei musste ein Umgang mit der Diskrepanz zwischen dem Kriegselend in den Nachbarländern und einem weitgehend ruhm-, wenn auch nicht ganz entbehrungslosen Verschontsein im eigenen Land gefunden werden. 4. Der Krieg schien den Zeitgenossen und scheint erst recht den späteren Betrachtern einen so dominanten Einfluss auf alle Lebensäußerungen gehabt

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zu haben, dass es schwerfällt, literarische Texte, die zwischen 1914 und 1918 in der Schweiz geschrieben wurden, selbst dann nicht damit in Beziehung zu setzen, wenn der Krieg darin unerwähnt bleibt. Beispielhaft zeigt sich das an der in den Kriegsjahren entstandenen Kurzprosa Robert Walsers, die solcher Spurensuche wegen des herausgehobenen Interesses, das der Autor heute genießt, besonders ausgesetzt ist. Sie verrät eine schriftstellerische Praxis, die mit konkreten Anspielungen sparsam umging, sich aber darauf einstellte, dass selbst deren Fehlen als Aussage über den Krieg interpretiert werden kann. 5. Einheimische, aber auch hier exilierte Autoren – allen voran die heute viel breiter als zu Lebzeiten rezipierten Dadaisten – nutzten den Umstand, dem Zwang zu Kriegspathos und Heldenrhetorik in der Schweiz weniger unterworfen zu sein, zu ironischen oder satirischen Verlautbarungen. Dies bot Raum für eine selbstironische Kommentierung der helvetischen Lage und konnte sich in einer Rhetorik des Unheldischen ausdrücken, der neben dem Spott manchmal auch bereits die Selbstgratulation eines Landes innewohnte, das sich sein Verschontsein in jenen Jahren als eigenes Verdienst anzurechnen begann.

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»[Z]war Freund des tschechischen Volkes aber durchaus nicht seiner Politik« Robert Musil und die Tschechoslowakei Abstract: His Moravian grandfather Dr. Matthias Musil was the most important, and quite possibly the only, role model on the Slavonic side for the young Robert Musil who witnessed the national tensions within the Habsburg Empire first hand during his entire youth, especially between Germans and Czechs: whether at his middle school in Brno from the age of 12, at military boarding schools in Eisenstadt and Hranice, later as a student at the Technical University in Brno or as an army conscript. The tensions escalated in Brno in October 1905, leading to violent riots. Robert Musil only became active himself in this conflict as editor of two soldier’s newspapers during 1916–1918, railing against Czech irredentism as the Habsburg Empire was collapsing. After 1918, Musil clearly saw the weaknesses of the new Czechoslovak Republic under President Masaryk. A new multi-ethnic state with oppressed minorities had emerged, and Musil presaged its demise of 1938/1939 long before the fact, warning of the »chain of revenge among rival Bestialstaaten (beastly states)«.

[M]ein Schädel im Profil, ziemlich groß [. . .]; sehr slawisch, vom langen Typus. / Ich habe für mein Gesicht wenig übrig, aber auf diesen Schädel empfinde ich merkwürdigerweise eine gewisse Eitelkeit. (Tb I, S. 718)

1. Die Musils sind ein mährisches Bauerngeschlecht, das nachweisbar einige hundert Jahre in Richtersdorf alias Rychtáˇrov hauste. Der für seine Genauigkeit berühmte Alois Musil will bei genealogischen Forschungen um 1890 festgestellt haben, dass sich der Familienstammbaum der Musils »bis zu Method Musil (gegen Ende des Jahres 1600) historisch« nachweisen lasse, »dass jedoch um jene Zeit eine Spaltung in zwei Linien besteht, die man durch weitere 200 Jahre hinauf verfolgen« kann, und dass man die Familie »auf ihrer alten Burg bis ins 15. Jahrhundert« orten könne.1 Den Nachweis blieb Alois 1

Brief Alfred Musils an Alois Musil vom 20. 4. 1917, gedruckt in: Karl Corino: Begegnung dreier Berggipfel. Alfred, Alois und Robert Musil. Klagenfurt, Wien 2014, S. 61.

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Musil freilich schuldig. Pflegte er einen Adelsmythos wie der junge Rilke oder gab es wirklich adelige Vorfahren, so dass die Standeserhebung von Professor Alfred Musil 1917 bei seiner Emeritierung nur die Wiedergewinnung alter Nobilität gewesen wäre?2 Wir wissen es nicht oder noch nicht. Der erste Aufsteiger, der die Scholle verließ, in Brünn das Gymnasium absolvierte, Medizin studierte und Militärarzt wurde, ehe er als Besitzer des Plachelhofs bei Graz aufs Land zurückkehrte, war Matthias Musil, Roberts Großvater. Nach dem Zeugnis seiner Vorgesetzten war er ein »geschickter Feldarzt und tüchtiger Spitals-Chefarzt«, ein wissenschaftlich gebildeter Mann und im späteren Leben ein mustergültiger, fortschrittlicher Landwirt. Wie es ihm als mäßig bezahltem doctor medicinae militaris möglich gewesen war, ein Gut von fast 30 Hektar zu erwerben, blieb dem Enkel Jahrzehnte später noch ein ökonomisches Rätsel.3 Mit dem mährischen Großvater verglichen zu werden, war offenbar in Roberts Kindheit notorisch: Man hat mir in meiner Kindheit u[nd] Jugend oft gesagt: du bist wie dein Großvater (vaterseits)! Das hieß: eigensinnig, energisch, auch erfolgreich, schwer umgänglich, u. doch mit einem Unterton der Achtung gesagt. Es wurde nie ins Einzelne verfolgt, erklärt u. beurteilt. Ich habe es immer gern gehört. Solche Kindern gemachte Bemerkungen sind wichtig; ungreifbar, werden sie zu Leitsternen, stärken die Eigenliebe auf fruchtbare Art usw. Das Merkwürdige ist das Hereinspielen des Halbausgesprochenen, Phantasieanregenden. Es hat etwas vom Wesen des dichterischen Vergleichs. (Tb I, S. 936)

Ob man bei den Musils die Charaktereigenschaften des Dr. Matthias Musil mehr dem Familienerbe oder einem imaginären mährischen Volkscharakter zuschrieb, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher ist das Erstere, denn bei Alois Musil, dem berühmten Neffen, tauchen ähnliche Merkmale auf.4 Bezeichnend ist, dass Matthias Musil sich als mährischer Aufsteiger stark dem Herrenvolk der Monarchie anpasste, was auch damit zusammenhing, dass er eine deutschstämmige Frau heiratete: Aloisia Haglauer aus Salzburg. Die Muttersprache der Kinder war also Deutsch, Alfred Musil konnte sich mit den Verwandten in Rychtáˇrov schon nicht mehr in deren Idiom verständigen. Das Mährische, vielleicht in einer Dialekt-Variante, war auf dem Plachelhof des Dr. Matthias Musil wohl nur dann zu hören, wenn ihn seine Schwester Františka, verheiratete Kroumalová, besuchte, was sie fast jedes Jahr tat.5 Solange Alfred Musil, der sich zeitlebens als Grazer fühlte, in Städten wie Klagenfurt oder Steyr arbeitete, war diese spezielle Aphasie 2 3 4 5

Vgl. Corino: Begegnung dreier Berggipfel (s. Anm. 1), S. 5 f. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 60 ff., Zitat nach S. 63. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3). S. 421 f. Vgl. Corino: Begegnung dreier Berggipfel (s. Anm. 1), S. 69.

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kein Nachteil, aber als er 1890 nach Brünn an die Deutsche Technische Hochschule berufen wurde, hätten tschechische Sprachkenntnisse nicht geschadet. Ungefähr ein knappes Drittel der Einwohnerschaft – 27 000 von 95 000 – war slawischer Herkunft.6 Die Übersiedlung von Steyr nach Brünn beschrieb Robert Musil später so: [I]ch erinnere mich, daß in seiner Weise der Eindruck nicht unbedeutend war, den ich dadurch empfing, daß ich aus der alpischen Natur kam, die Landschaft und Menschen in Steyr eigentümlich war, und mich sowohl in der sanften und etwas melancholischen Landschaft Mährens fand wie zwischen Menschen, die mir beinahe noch fremder vorkamen, wenn sie Sudetendeutsche waren, mit denen ich sprach, als [wenn sie] zu den Tschechen gehörten, neben denen wir ohne Berührung herlebten. (GW II, S. 948)

In der Oberschule hatte er nun »böhmisch« zu lernen,7 und behielt dieses Schulfach auch an den Militärschulen in Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen/Hranice bei. Nach dem Bericht Edmund Glaise von Horstenaus muss es in Mährisch-Weißkirchen in den 1890er Jahren auch immer wieder zu nationalen Reibereien unter den Zöglingen gekommen sein: »Ungarische Zöglinge seien besonders durch ihr Selbstbewußtsein und ihr Lärmen aufgefallen. Wenn sie ihre ungarischen Lieder sangen, seien die anderen Nationen zusammengerückt und hätten dann interessanterweise nicht deutsch, sondern tschechisch geantwortet.«8 Wenn aufsässige Zöglinge im Arrest saßen, kam es vor, dass ihre Kameraden tschechische Bauernkapellen holten und »Kde ˚ (»Wo meine Heimat ist«) spielen ließen, ein Lied, das als sepadomov muj« ratistische Propaganda verboten war: alles in allem Vorboten des Untergangs der Habsburgermonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs. In den Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) wird vermutlich authentisch das Verhältnis der Kadetten zur einheimischen Bevölkerung geschildert, speziell zu deren weiblicher Hälfte: Als die Gesellschaft junger Leute zwischen die ersten niedrigen, hüttenartigen Häuser kam, wich dieses dumpfe Brüten von Törleß. Wie von einem plötzlichen Interesse erfaßt, hob er den Kopf und blickte angestrengt in das dunstige Innere der kleinen, schmutzigen Gebäude, an denen sie vorübergingen. / Vor den Türen der meisten standen die Weiber, in Kitteln und groben Hemden, mit breiten, beschmutzten Füßen und nackten, braunen Armen. / Waren sie jung und drall, so flog ihnen manches derbe slawische Scherzwort zu. Sie stießen sich an und kicherten über die »jungen Herren«; manchmal schrie eine auch auf, wenn im Vorübergehen allzu hart ihre Brüste gestreift wurden, oder erwiderte mit einem lachenden Schimpfwort einen Schlag auf die Schenkel. Manche sah auch bloß mit zornigem Ernste hinter den Ei6 7 8

Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 52 f. Alfred Musil an Alois Musil, 27. 1. 1892, in: Corino: Begegnung dreier Berggipfel (s. Anm. 1), S. 10–12, hier S. 11. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 106 f. Vgl. dazu: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Bd. 1: K. u. k. Generalstabsoffizier und Historiker. Eingel. u. hg. v. Peter Broucek. Wien u. a. 1980, S. 103 f.

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lenden drein; und der Bauer lächelte verlegen, – halb unsicher, halb gutmütig, – wenn er zufällig hinzugekommen war. / Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütigen, frühreifen Männlichkeit seiner Freunde. (GW II, S. 17)

Diese Passage zeigt, dass die einheimische slawische Bevölkerung in den Außenbezirken Hranices eine Art Metöken-Status hatte, dem machismo der jungen Testosteron-Truppe deutlich ausgesetzt. Von da zur Prostitution ist es nur ein kleiner Schritt. Nicht verwunderlich also, dass die Prostituierte, die die Zöglinge in einer verrufenen Wirtschaft aufsuchen, Božena heißt. Ursprünglich war sie ein Bauernmädchen aus der Gegend, ging dann in die Stadt, wurde Kammerzofe und geriet allmählich auf die schiefe Bahn, an deren Ende sie im alten Badhaus von Teplitz/Teplice landete. Sie ist eine – um es mit Dostojewski zu sagen – der Erniedrigten und Beleidigten, aber eine mit subversivem Herrschaftswissen. Sie hat der vornehmen Welt und den Herrschaften, bei denen sie diente, »durch den Lack geguckt« (GW II, S. 29), und sie liebt es, die Söhnchen der kakanischen Herrenkaste zu demütigen. Der Besuch bei Božena wird deshalb jedes Mal ein masochistischer Akt der Unterwerfung: »Božena erschien ihm als ein Geschöpf von ungeheuerlicher Niedrigkeit und sein Verhältnis zu ihr, die Empfindungen, die er dabei zu durchlaufen hatte, als ein grausamer Kultus der Selbstaufopferung.« (GW II, S. 30) Es ist zu fürchten, dass dies autobiographischer ist, als einem lieb sein kann. Die ersten Liebesakte waren rein sexueller Vollzug, gewürzt durch die »beizenden Reize« der Selbstpreisgabe (GW II, S. 30) und die unvermeidliche Angst vor der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten. Jahrzehnte später, etwa Anfang 1939, dachte Musil darüber nach, wie sich sein weibliches Schönheitsideal gebildet habe, und er kommt dabei auf die tschechische Sagengestalt schlechthin zu sprechen, auf Libussa, die mythische Gründerin Prags und Ahnherrin der Pˇremysliden, Heldin von Franz Grillparzers Drama gleichen Titels und von Bedˇrich Smetanas Oper Libuše: Mit 17, 18 Jahren – wohl auch unter dem Einfluß meiner Lektüre; es war die Übergangszeit vom »Barbaren« zur Kultur – habe ich mir das gepuderte u[nd] gehöckerte Rokoko sehr schön vorgestellt; die Frau als Geist, Schein u. Sex. Etwas von dem Begnügen mit dieser Trias ist mir bis heute verblieben. Um zu verstehn, wie es am Ursprung war, muß hinzugenommen werden, daß ich durchaus keine Vorstellung von dem hatte, was ich schön gefunden hätte. Schönheit einer Frau gab es für mich nicht, das hatte sich noch nicht bestimmt. Ich habe mir nicht das Aussehen einer Frau vorstellen können, das ich mir wünschte. Das hing wohl auch mit meinem Mangel an bildendem Talent zusammen, in der Hauptsache war es aber Fehlen der Schönheitserfahrung. Von verschiedenen untiefen Akten des Gefallens blieben unverbundene u. unverbindliche Einzelheiten über, die von einer peinlichen Gewichtslosigkeit u. Kombinierbarkeit waren. Wahrscheinlich erst das faktische u. volle Liebeserlebnis, die Ruhe der sexuellen faits accomplis [. . .] fixiert das Ansprechen auf bestimmte Reize. (Daneben hat aber der unter den ursprünglichen Bedingungen entstandene Idealtypus Libussa – Jarmila Novotna [recte: No-

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votná] bis heute die Fähigkeit[,] einen gewissen Reiz auf mich auszuüben.) (Tb I, S. 949 f.)9

Daran ist wieder einiges rätselhaft: Wie konnte eine weibliche Sagengestalt aus grauer Vorzeit das Schönheitsideal des jungen Mannes beeinflussen? Durch Lesebuch-Bilder, populäre Darstellungen Libussas? Und welche Rolle konnte die bildschöne tschechische Sängerin Jarmila Novotná spielen, die, Jahrgang 1903, viel zu spät geboren war, um auf den jungen Musil zu wirken? Von 1933 bis 1938 sang sie an der Wiener Staatsoper, allerdings niemals die Libussa in Smetanas Oper.10 Hat Musil sie damals auf der Bühne erlebt oder in der Zeitung gesehen? Ignoramus. Die Begegnung mit der realen tschechisch-mährischen Welt jenseits der Sagen scheint gelegentlich doch recht ernüchternd gewesen zu sein. Aus einem späten Brief vom 9. März 1941 erfahren wir, dass Musil während seines Brünner Ingenieurstudiums in den späten 1890er Jahren seine Verwandten in Rychtáˇrov besucht hat, und zwar begleitet von seinem Jugendfreund Hans Brecher: »An die Geschichte mit meinen bäurischen Anverwandten«, schreibt er aus dem Abstand von rund 40 Jahren, »u. wohl auch an meinen Schreck, erinnere ich mich; [. . .] mein Gefühl fürs Bäurische hat sich seither etwas romantisch verändert, denn ich habe zwar nie mehr Gelegenheit gehabt, die Beziehung zu Rychtaˇrov zu erneuern, hätte es aber immer gern getan.« (Br I, S. 1268 f.) Was Robert bei den Eltern seines Vetters Alois, bei Franz und Maria, Erschreckendes erlebt hat, erfahren wir nicht: War es das Milieu überhaupt oder ein besonderes Vorkommnis? Tatsächlich phantasierte Musil in den 1930er Jahren höchst theoretisch davon, »eine Bäurin zu heiraten u. ein nicht allzu schlechter (wenn auch natürlich schlechter) Bauer zu werden.« (Tb I, S. 917) Dabei dürfte es eher das Modell des großväterlichen Plachelhofs gewesen sein, was ihm vorschwebte, weniger das Anwesen in Rychtáˇrov. Dieser Name blieb reserviert als Pseudonym für kleine Wissenschaftsglossen in der Prager Presse der frühen 1920er Jahre. Der Übergang von der Technischen Militärakademie Wien zur Technischen Hochschule in Brünn Ende 1897/Anfang 1898 setzte auch Musils literarische Ambitionen frei. Kurz nach der Immatrikulation an der TH veröffentlichte er in der Brünner Sonntags-Zeitung vom 20. Februar 1898 seinen ersten Text Eine spiritistische Séance unter dem Pseudonym »Robert«. Be9

10

Radovan Charvát machte mich darauf aufmerksam, dass es romantische Darstellungen Libussas aus dem 19. Jahrhundert gibt, etwa von Josef Mathauser. Der Legende nach sei sie eine sehr schöne, aber auch gefährliche Person gewesen. Sie habe ihre Liebhaber in ihr Bad unter der Burg Wyschehrad/Vyšehrad gelockt, und wenn sie ihrer überdrüssig war, habe sie sie in die Schlucht gestürzt, an der Stelle der Moldau, wo sie neun Metern tief war. Diese sphinxhaften, männermordenden Züge Libussas könnten die masochistische Ader des jungen Musil angesprochen haben. Mitteilung der Wiener Staatsoper.

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zeichnenderweise erwähnt er unter den Bildungserlebnissen seiner frühen Jahre nicht ein einziges tschechisches Buch, keine Božena Nˇemcová, keinen Jan Neruda e tutti quanti. Es waren lauter deutsche und ins Deutsche übersetzte Autoren wie Nietzsche, Novalis, d’Annunzio, Emerson, Maeterlinck, Dostojewski. Das Deutsche Haus und das städtische Theater waren Tempel der deutschen Kultur, und daneben gründete man kleine Institutionen wie etwa den deutsch-akademischen Leseverein. Deutsche und tschechische Parallelaktionen gab es auf vielen Gebieten bis hinunter zum Sport. So war Musil z. B. Mitglied des deutsch-akademischen Radfahrervereins, der sich die Straße mit tschechischen Bicyklisten teilte. »Aufschlußreich ist«, schrieb ich in meiner Biographie, wie diese junge Sport- und Fortbewegungsart bald in die Mühlen des Nationalitätenstreits geriet. Denn es gab im Frühjahr 1899 Versuche, eine Radfahrersteuer zu erheben, was der Internationale Radfahrerverein natürlich bekämpfte. Die Solidarität von 1200 deutschen und tschechischen Radfahrern, unterstützt von der Sozialdemokratie, weckte chauvinistische und bürgerliche Ressentiments, was den deutsch-academischen Radfahrerverein dazu veranlasste, sich von der Protestaktion zurückzuziehen, »da dieselbe einen zu internationalen Charakter trage«. Man konnte sich also in Brünn um 1900 nicht einmal in den Fahrradsattel schwingen, ohne tief in die sozialen und ethnischen Auseinandersetzungen der Habsburgermonarchie zu geraten.11

Weiter heißt es in meiner Lebensbeschreibung des Autors: Der Kampf der Nationalitäten machte auch vor der Institution nicht halt, die eigentlich als Schule und Instrument der Reichseinheit dienen sollte. Seit Ende 1899, als das bestehende Wehrgesetz auslief, meldeten sich auf den böhmischen Kasernenhöfen immer mehr Reservisten mit dem tschechischen »Zde« statt mit »Hier«, wie es Vorschrift war. Dies war ein Protest gegen das Deutsche als Kommandosprache, auch wenn es nur aus achtzig Formeln bestand. Und es war Teil des slawischen Protests gegen die deutsche Dominanz im Heer wie in der westlichen Reichshälfte überhaupt. Kaiser Franz Joseph war von dieser Insubordination in den Kasernen so empört, daß er am 13. Januar 1900 gegenüber dem mährischen Abgeordneten Dr. Stránský mit dem Standrecht drohte, falls die tschechischen Politiker das Volk weiter agitieren sollten. Der Ministerpräsident Ernest von Koerber bemühte sich um eine generelle Lösung des Sprachenstreits und sah Zugeständnisse an die tschechische Seite vor, aber in der Armee sollte Deutsch die »Vermittlungssprache« bleiben. Daraufhin zertrümmerten die tschechischen Abgeordneten am 8. Juni 1900 im Parlament die Pultdeckel, sangen nationale Lieder und betrachteten die Holzsplitter ihrer Möbel als nationale Reliquien.12

In dieser angespannten Atmosphäre leistete Musil 1901/02 sein EinjährigFreiwilligen-Jahr ab, und wenn er gegenüber seinen tschechisch-mährischen 11 12

Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 129 f. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 183 (Schreibung des mährischen Abgeordneten korrigiert).

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Untergebenen »dienstfordernd« war,13 hatte er Glück, dass niemand rebellierte. Inwieweit Musil damals schon in die innertschechischen Auseinandersetzungen eingeweiht war, etwa in den Streit um die gefälschte Königinhofer und Grünberger Handschrift, Dokumente, mit denen dem tschechischen Volk eine bedeutende mittelalterliche Kultur angeschminkt werden sollte, wissen wir nicht. Der Kampf gegen diese Falsifikate gehörte zu den Ruhmesblättern des späteren Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk. Er versuchte »ästhetisch und soziologisch darzutun«, dass diese Elaborate »nicht aus dem Mittelalter stammen konnten«; »wenn es wirklich Fälschungen waren, so mußten wir das vor der Welt eingestehen. Unser Stolz, unsere Erziehung durfte nicht auf einer Lüge beruhen.«14 Diese ganz anti-machiavellistische Haltung Masaryks, die ihm viel Anfeindung eintrug, hätte Musils Respekt verdient. Es scheint, als habe Musil während seines Studiums noch ein einziges Mal ex officio mit der tschechischen Literatur zu tun gehabt; nämlich als er im Juni 1904 am Deutschen Gymnasium Brünn das Abitur nachholte. Der Jahresbericht weist neben den Aufgaben im Lateinischen, Griechischen und Deutschen auch die im »Böhmischen« nach.15 Der Prüfling sollte über ein Zitat (auf Böhmisch?) aus Jan Kollárs Werk Slávy dcera (dt.: Tochter der Slawa) schreiben. In der Übersetzung von Radovan Charvát lautet es: »Festen Willen, edle Sehnsucht, / des Herzens ungeteiltes Verlangen / lässt der Himmel gern ihr Ziel erlangen.« Fast klingt das wie ein Motto für die 20-jährige Arbeit am Mann ohne Eigenschaften, von der der Abiturient damals noch keine Ahnung hatte – fast ebenso zwingend wie das Programm, das in Musils Familiennamen steckte: Er musste. Unklar ist, was der Kandidat auf der Schulbank über Kollár (1793–1852) wissen sollte. Dass er einer der bedeutendsten tschechoslowakischen Schriftsteller, Altertumsforscher und Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts und eine Art Vorkämpfer des Panslawismus war? Letzteres kann nicht im Sinne der österreichischen Kultur- und Schulpolitik gewesen sein. Im Unterschied zum Deutsch-Abitur – ein paradoxer schwacher Mittelplatz für den Mann, der den Törleß zwar noch nicht veröffentlicht, aber schon einen beträchtlichen Teil geschrieben hatte!16 – hat der externe Kandidat Musil über die böhmische Klausur nichts hinterlassen.

13 14 15

16

Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 181. ˇ Masaryk erzählt sein Leben. Gespräche mit Karel Capek. Aus dem Tschechischen übers. v. Camill Hoffmann. Zürich o. J., S. 106 f. Siehe die Reproduktion der Prüfungsaufgaben in Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 106. Nach Mitteilung des »Archiv mˇesta Brna« sind die Matura-Zeugnisse des Jahrgangs 1904 leider verloren gegangen. Vgl. GW II, S. 943, mit typischer Gedächtnistäuschung.

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Rund 14 Monate später, Anfang Oktober 1905, nahmen die deutschtschechischen Auseinandersetzungen in Brünn bürgerkriegsähnliche Formen an. Wir wissen nicht, ob Musil Zeuge war,17 aber die Geschehnisse können ihm kaum verborgen geblieben sein, da sein Vater als damaliger Rektor der Deutschen Technischen Hochschule direkt betroffen war. Im Herbst 1905 wurden die tschechischen Forderungen nach einer eigenen Universität in Brünn immer lauter und dezidierter. Keinesfalls wollte man sich mit einer tschechischen Technik begnügen, obwohl die Slawen mit ca. 30 000 Köpfen nur ein Drittel der Stadtbevölkerung stellten. Die deutsche Seite wollte eine solche tschechische Alma Mater keinesfalls dulden und rief für den 1. Oktober 1905 zu einem deutschen Volkstag in Brünn auf. Das Deutsche Haus war bis auf den letzten Platz gefüllt und von deutschen Volksgenossen umlagert. Alle deutsch-österreichischen Parteien waren vertreten und einig in der Ablehnung einer tschechischen Universität zu Brünn, in der man wohl eine Brutstätte des Panslawismus fürchtete. Sonderzüge brachten Bewohner der Iglauer und Wischauer Sprachinseln, »zum großem Teile Bauern, die schwarz-rot-goldene Schärpen trugen und ihre Hüte mit Eichenlaub geschmückt hatten. Auch viele Mädchen in malerischer Volkstracht waren mitgekommen.« Der Brünner Bahnhof muss ein malerisches Bild geboten haben, aber die Idylle trog. Der Weg zum Deutschen Haus war für die mehrere tausend Köpfe zählende Menge durch einen tschechischen Engpass in der Ferdinandstraße verlegt. Die Neue Freie Presse berichtete, dass die Tschechen »beim Anblick der Deutschen in ein wütendes Geheul ausbrachen, ihre Stöcke schwangen und das ›Hrom a peklo‹ sangen. Zugleich erschollen die Töne einer czechischen [sic] Musikkapelle, die nationale Hetzlieder spielte.«18 Es blieb nicht bei dieser kriegerischen Musik. Die Versammlung rund um das Deutsche Haus hörte von fernher wüstes Johlen, Pfeifen und Fenstergeklirr, manchmal unterbrochen von Pferdegetrappel und dem taktmäßigen Schritt marschierender Soldaten. [. . .] Und es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß in Brünn gestern durch mehrere Stunden tatsächlich ein Bürgerkrieg entfesselt war, ein blutiger Kampf, bei dem es glücklicherweise keine Toten, wohl aber zahllose leicht und schwer Verwundete gab.19

Die Auseinandersetzungen, bei denen ganze Straßenzüge verwüstet wurden, hielten mehrere Tage an. Die Neue Freie Presse meldete am 4. Oktober 1905: Brünn gleicht in diesem Augenblick einer Stadt im Belagerungszustand. Soldaten ziehen durch die Straßen; die wichtigsten Plätze sind von Militär, von der Gendarmerie und der städtischen Polizei besetzt; durch einen Sturmangriff mit den Bajonetten 17

18 19

Das Itinerar lässt diese Möglichkeit offen. Am 23./24. 9. 1905 war Musil möglicherweise in Salzburg und Linz wegen der Beerdigung der Großmutter Emmeline Bergauer, danach könnte er sich bis zu Beginn des Wintersemesters an der Universität Berlin (15. 10.) in Brünn aufgehalten haben. N. N.: Der deutsche Volkstag in Brünn, in: Neue Freie Presse, 2. 10. 1905, S. 1. N. N.: Der deutsche Volkstag in Brünn, in: Neue Freie Presse, 2. 10. 1905, S. 1.

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mußte der wüste Pöbel auseinandergesprengt werden; Läden, Eigentum und persönliche Freiheit der Deutschen sind ohne den Schutz der Truppen nicht mehr sicher. Schon gestern wurde in die deutsche Technik eingebrochen, heute ist die Zerstörung fortgesetzt worden [. . .].20

Dies meinte Prof. Alfred Musil, als er am 27. Oktober 1906 das Rektorat an seinen Nachfolger übergab. Er »gedachte im Hinblick auf die beklagenswerten Ereignisse der ersten Oktobertage des vorigen Jahres mit besonderer Wärme des musterhaften akademischen Verhaltens der Studentenschaft.«21 Vielleicht brachten die Bürgerkriegstage im Oktober 1905 Robert Musil dazu, Brünn später in einer satirischen Konstruktion zum Herd des Weltkriegs zu machen.22 Seine Generation, die Königgrätz nicht erlebt hatte, konnte in Brünn erstmals echte Stich- und Schusswunden sehen und zerstörte Häuserfronten – eine Vorwegnahme dessen, was 1914 ff. in unendlich größerem Maßstab geschah. Es scheint, als sei danach ein großer Hiatus eingetreten, was die tschechische Frage betrifft, als habe erst Musils schwere Erkrankung im Frühjahr 1916 eine neue Wende und Zuwendung gebracht. Mit einer hochfiebrigen Pharyngitis wurde er einige Wochen ins Reservespital Prag-Karolinenthal transferiert. Als es ihm besser ging, ein wenig Sightseeing, Hradschin, Prunksäle, Veitsdom, der Katafalk Johann von Nepomuks aus 4000 Kilogramm Silber, Wappen in der Ständekammer – kleine Notizen im Tagebuch darüber wie über das Leben im Lazarett (vgl. Tb I, S. 326). Schließlich noch ein Treffen mit Kafka – darüber nichts.23

2. Mit der Versetzung nach Bozen Anfang Mai 1916 begann für Musil eine neue Epoche. Nach sechs Wochen Dienst bei der Auszeichnungsgruppe wurde er zur Tiroler Soldaten-Zeitung transferiert, ab 9. Oktober 1916 wurde er verantwortlicher Redakteur des nun nur noch Soldaten-Zeitung betitelten Blattes, dessen Aufgabe es war, Verständnis zu wecken für die »Lebensfragen des Staates und der Armee«.24 Das bedeutete natürlich auch, die irredentistischen Bestrebungen zu bekämpfen, sei es in Südtirol oder in den Kronländern Böhmen und Mähren. 20 21 22 23 24

N. N.: Wien, 3. Oktober, in: Neue Freie Presse [Morgenblatt], 4. 10. 1905, S. 1. N. N.: Rektoratsinauguration an der deutschen Technik in Brünn, in: Neue Freie Presse, 28. 10. 1906, S. 11. Vgl. MoE, S. 1441: »Anknüpfung: Gerade in B. hat es zu großen Demonstrationen kommen müssen.« Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 551. Zit. nach Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, in: ders. (Hg.): Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung. Zürich u. a. 1960, S. 187–264, hier S. 228.

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Die Umtriebe der tschechischen Emigration durften dabei nicht außer Acht gelassen werden. Am 10. September 1916 berichtete die Soldaten-Zeitung auf folgende Weise über Eine Tschechenversammlung in London: Auf einer Versammlung der Londoner Kolonie der Tschechen und Südslawen [. . .] betonte der Vorsitzende Viscount Templetown, daß die Notwendigkeit der Zerstückelung Oesterreich-Ungarns außerordentlich wichtig für die Sicherung des zukünftigen Friedens Europas sei, weil dadurch dem deutschen Generalstab künftig die Macht genommen werde, die Hand auf die Untertanen der unterdrücken slawischen Nationalitäten zu legen, die gegen ihren Wunsch und Willen gezwungen seien, für die Verwirklichung der deutschen Expansionspläne im Orient zu kämpfen. Ein Redner sagte, Englands Aufgabe sei erst beendet, wenn der preußische Militarismus zerschmettert und jenes baufällige Reich, das noch ein größerer Sünder sei als Preußen, zerstückelt worden sei. / Der frühere tschechische Abgeordnete im österreichischen Parlament, Professor Masaryk, jetzt Lehrer am King’s College in London, erblickte in der Kriegserklärung Englands an Oesterreich-Ungarn eine Anerkennung der Tatsache, daß Oesterreich-Ungarn zu vernichten sei.25

Kommentiert wurde diese Meldung in der Soldaten-Zeitung nicht. Vertraute man darauf, die Leser seien kaisertreu genug, um die Verräter zu verachten? Dabei gab es durchaus eine positiv-verstärkende Redaktionsstrategie und eine kritisch-abwehrende. Man zeigte etwa den berühmten 30cm-Skoda-Mörser als Spitzenprodukt der tschechischen Waffen-Technologie26 und tat an hervorgehobener Stelle, auf dem Titelblatt, einen »Blick in die Skodawerke«.27 Und man würdigte Waffentaten tschechischer Soldaten mit Bild und kurzer Beschreibung.28 Bald nach Musils Dienstantritt, in der Nummer 11 vom 20. August 1916, finden wir einen anonymen Artikel, der das Kapitel 98 im Mann ohne Eigenschaften präludiert und zum Teil wörtlich vorwegnimmt: »Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist«, heißt dieses Kapitel im Roman (MoE, S. 445–453). In der Soldaten-Zeitung lautet die Überschrift Bin ich ein Oesterreicher?. Die Kernsätze: Frage nur einen Bauern in Galizien, einen Schuster in Krain, einen Advokaten in Böhmen, einen Lehrer in Wien, einen Geistlichen in Nordtirol und einen Richter in Südtirol, was sie sind. Du bekommst ganz sicher die Antwort: ein Pole, ein Slowene oder vielleicht ein Krainer, ein Deutschböhme oder ein Tscheche, ein Niederösterreicher oder allenfalls ein Deutschösterreicher, ein Tiroler, ein Italiener. Kein einziger wird auf Deine so einfache Frage ebenso einfach antworten: »Ich bin ein Oesterreicher!«29

25 26 27 28 29

N. N.: Eine Tschechenversammlung in London, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 14, 10. 9. 1916, S. 6. Vgl. Titelblatt der Soldaten-Zeitung (Nr. 16) v. 24. 9. 1916. Vgl. Titelblatt der Soldaten-Zeitung (Nr. 24) v. 19. 11. 1916. So etwa im Falle des Piloten Paul Hablitschek, der mit der silbernen Tapferkeitsmedaille 1. Klasse ausgezeichnet worden war; vgl. Soldaten-Zeitung, Nr. 16, 24. 9. 1916, S. 9. N. N.: Bin ich ein Oesterreicher?, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 11, 20. 8. 1916, S. 2.

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Das liege daran, dass es für diese Herkünfte keinen gemeinsamen Namen gebe, sondern nur umständliche Umschreibungen wie »die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«. Das Fehlen einer »faßbaren Bezeichnung für den Staat hat daher wesentlich dazu beigetragen, daß der österreichische Staatsgedanke verloren gegangen ist, ja daß die einzelnen Nationen und Stämme Oesterreichs den Staat als etwas wesensfremdes ansahen und behandelten.« Deswegen müsse der Staatsbegriff »Kaisertum Österreich« gesetzlich festgelegt (und durchgesetzt) werden. Dass der einzelne Österreicher deutsch, italienisch, polnisch oder slowakisch spreche, trete dann in den Hintergrund, »denn über seiner Nationalität steht der Staat, dem er sich unterordnen muß, wenn ihn der Staat in seiner Nationalität erhalten und ihm den Schutz geben soll, den nur ein kräftiger Organismus allen seinen Gliedern geben kann.« Am Ende werde jeder der Befragten in der Monarchie antworten: »Ich bin ein Oesterreicher!« Soweit das scheinbar simple Rezept der Soldaten-Zeitung.30 Gleichzeitig versuchte sie, die tschechischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit zu delegitimieren. So etwa in der Glosse Das böhmische Staatsrecht in der Ausgabe vom 19. November 1916: Tschechische Politiker stützten ihre Forderung auf Einräumung einer staatsrechtlichen Selbständigkeit für die Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien auch auf ein nach Sprache und Schrift aus dem 14. Jahrhundert stammendes Dokument, die sogenannte Königinhofer Handschrift. Sie wurde jedoch einwandfrei als eine Fälschung aus dem 19. Jahrhundert erklärt. Trotzdem tauchte sie zur Begründung des »böhmischen Staatsrechtes« immer wieder auf. In der letzten (98.) Vollversammlung des tschechischen Museumsvereines in Prag, die unter dem Vorsitze des Prinzen Dr. Friedrich Schwarzenberg stattfand, erstattete Prof. Dr. Jakubec Bericht über die Durchsicht der Museumssammlungen und stellte den Antrag, die Königinhofer Handschrift aus der Handschriftensammlung des 14. Jahrhunderts auszuscheiden und jener aus dem 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zuzuweisen. Damit ist das Schicksal der von Wenzel Hanka 1817 auf dem Orgelchore der Königinhofer Kirche versteckten und dann als »Fund« an das Tageslicht gebrachten Handschrift endgiltig [sic] besiegelt.31

Neben der Wissenschaft kämpfte die österreichische Justiz gegen die tschechischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit. Am 3. Dezember 1916 ließ der verantwortliche Redakteur Landsturm-Oberleutnant Dr. Robert Musil über eine Reihe von Strafurteilen berichten; in der Rubrik »Am Beobachterstand« zitierte die Soldaten-Zeitung einen Bericht der »amtlichen ›Wiener Zeitung‹«: Wie bereits mitgeteilt, wurden vom Landwehrdivisionsgericht in Wien Dr. Karl Kramar und Dr. Alois Rasin wegen der Verbrechen des Hochverrates nach § 58 c St.[raf-]G.[esetzbuch] und wider die Kriegsmacht des Staates nach § 327 M.[ilitär-] St.[raf-]G.[esetzbuch], sowie der Sekretär der Zeitung »Narodni Listy« Vinzenz Cervinka und der Privatbeamte Josef Zamazal wegen des Verbrechens der Ausspähung 30 31

N. N.: Bin ich ein Oesterreicher?, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 11, 20. 8. 1916, S. 2. N. N.: Das böhmische Staatsrecht, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 24, 19. 11. 1916, S. 6.

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nach § 321 M. St. G. zum Tode verurteilt. / Gegen dieses Urteil hatten die Obgenannten die Nichtigkeitsbeschwerde beim Obersten Landwehrgerichtshof eingebracht, der diese in einigen Punkten schon in nichtöffentlicher Sitzung zurückwies. Der Gerichtshof hat nun nach achttägiger öffentlicher Verhandlung erkannt, dass der Nichtigkeitsbeschwerde auch in den restlichen angefochtenen Teilen keine Folge gegeben wird. [. . .] Nunmehr ist das Urteil der ersten Instanz rechtskräftig geworden.32

Vier Todesurteile – drakonische Strafe zur Abschreckung anderer freiheitsdurstiger Tschechen. Und dass solche Urteile auch vollstreckt wurden, wenn man der geflohenen Irredentisten habhaft wurde, dies zeigt der Fall Cesare Battisti, der am 12. Juli 1916 gehängt worden war. In derselben Rubrik berichtete die Soldaten-Zeitung weiter: Dieser Tage wurde vom Obersten Landwehrgerichtshofe die von den Reichsratsabgeordneten Choc, Burival, Vojna und Netolicky gegen ihre Verurteilung wegen Mitschuld am Hochverrate eingebrachte Nichtigkeitsbeschwerde verworfen [. . .]; die genannten Abgeordneten wurden Ende Juli zu mehrjährigen, verschärften Kerkerstrafen verurteilt, weil sie an Beratungen des ins Ausland geflüchteten, wegen Hochverrates verfolgten Abgeordneten Professors Dr. Masaryk teilnahmen.33

Mit Masaryk wird der Mann genannt, der für den Rest des Krieges zum eigentlichen Gegenspieler Robert Musils wurde. Und der in Alois Musil, Roberts Vetter, sogar eine Art heimlichen Helfer hatte. Denn als Berater des jungen Kaisers Karl war Alois an Amnestien beteiligt, die der Herrscher von Zeit zu Zeit politischen Delinquenten angedeihen ließ.34 Am 4. Februar 1917 meldete die Soldaten-Zeitung einen Gnadenakt des ˇ Kaisers. Dr. Karel Kramáˇr, Dr. Alois Rašin, Vincenc Cervinka und Josef Zamazal wurde die Todesstrafe erlassen. Stattdessen wurden verschärfte Kerkerstrafen verhängt. Gegen Kramáˇr 15 Jahre, gegen Rašin zehn Jahre, gegen ˇ Cervinka und Zamazal je sechs Jahre.35 Das Kriegsende wird dafür gesorgt ha32 33 34 35

N. N.: Strafurteile, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 26, 3. 12. 1916, S. 8–9, hier S. 8 f. N. N.: Strafurteile, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 26, 3. 12. 1916, S. 8–9, hier S. 9. Vgl. Erich Feigl: Musil von Arabien. Vorkämpfer der islamischen Welt. Frankfurt a. M., Berlin 1988, S. 383. Vgl. N. N.: Der Hochverratsprozeß Kramaˇr [sic] und Genossen, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 35, 4. 2. 1917, S. 2. Die Soldaten-Zeitung zitierte die Urteilsbegründung für das ursprüngliche Todesurteil fast eine ganze Seite lang in Kleindruck. Stellvertretend sei hier der Beginn der Sentenz gegen Kramáˇr angeführt: »Das erstrichterliche Urteil hat festgestellt, daß Dr. Kramar [sic] als Führer der panslawistischen Propaganda in Böhmen und der tschechischen russophilen Bewegung durch bewußtes Zusammenwirken mit den auf die Zertrümmerung der Monarchie abzielenden Unternehmungen sich vor und nach Ausbruch des Krieges gegen den eigenen Staat betätigt hat. Sowohl im feindlichen als auch im neutralen Auslande hat eine weitverzweigte und organisierte revolutionäre Propaganda eingesetzt, die sich zum Ziele nahm, die Zertrümmerung unserer Monarchie durch Losreißung von Böhmen, Mähren, Schlesien, der ungarischen Slowakei und anderer von Slawen bewohnter Gebiete sowie durch Herbeiführung und die Vergrößerung einer Gefahr für die österreichisch-ungarische Monarchie von außen, einer Empörung und eines Bürgerkrieges im Inneren vorzubereiten und die mit allen

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ben, dass davon nur knapp zwei Jahre abgesessen werden mussten, aber unter den Haftbedingungen des Kriegs war selbst eine solche Frist kein Zuckerschlecken. Die Gefangenen hatten nicht selten Hungerödeme. Umgekehrt fürchtete Masaryk, in seinem Londoner Exil von einem österreichischen Agenten oder einem Fanatiker umgebracht zu werden.36 Während die zentrifugalen Kräfte zunehmen und Masaryk sich anschickt, in Russland die tschechische Legion auf die Beine zu stellen, behauptet die Soldaten-Zeitung kurz vor ihrem Ende, unter dem Zwang des Kriegs habe sich Österreich in einen »zentralistischen Einheitsstaat« verwandelt. Die Weltlage Österreichs verlange unausweichlich, dass es sich als starke, geschlossene Einheit organisiere: [W]er überhaupt einen Staat will, muß wollen, daß er stärker sei, als seine Bestandteile, sonst ist es eben kein Staat, sondern ein loser Verband ohne Gewähr seiner Dauer. Alles muss dem Ganzen dienen und jedes Glied seinen Wirkungskreis entsprechend dem Zwecke des Ganzen zugemessen bekommen, das ist der Sinn jeder wirklichen Organisation. [. . .] [A]uch in Oesterreich müssen zuerst die Notwendigkeiten des Ganzen in Betracht kommen und erfüllt werden, dann erst läßt sich von Rechten der einzelnen Teile sprechen.37

Bei dieser Linie blieb es, als Musil im März 1918 die nächste Soldatenzeitung übernahm, die Heimat. Aufgabe des Blattes waren Wochenberichte über die gute militärische Lage der Monarchie, die Bekämpfung der »im Hinterland zutage tretenden destruktiven Strömungen« und des Bolschewismus.38 Und es focht gegen die Behauptung, Österreich tyrannisiere seine Völker. Der Leitartikel der Heimat vom 6. Juni 1918 hielt dagegen: Werden die Kroaten gezwungen, eine andere Sprache als Kroatisch zu sprechen oder die Tschechen oder die Italiener? [. . .] / Weil wir als ein Kulturvolk nicht abdanken wollen, halten wir an Oesterreich [fest]. Wenn wir Narren wären, die sich mit einer fiktiven Freiheit abspeisen lassen, die keine ist, dann würden wir die huzulische und die kuzowalachische Republik und noch einige Dutzend selbständige Gemeinwesen und Zwergstaaten aus Oesterreich machen, willkommene Beute des geringsten Streites und schließliche Beute eines starken Nachbarn, der es natürlich gern sähe, der Kuchen, den er, so wie er ist, nicht auf einmal verschlingen kann, verkleinere sich selber in kleine Stücke, mit denen er rascher und bequemer fertig werden könnte.39

Dass der tschechische Separatismus nicht bloß von einem freiheitstrunkenen Republikanismus gespeist wurde, sondern auch auf massive soziale Probleme zurückging, das erschloss sich eher aus dem Kleingedruckten, aus den Nach-

36 37 38 39

Mitteln insbesondere auf die Bildung eines von Oesterreich-Ungarn unabhängigen tschechischen Staates hinarbeitete.« Als Gesinnungsgenosse und Helfershelfer wird natürlich an erster Stelle Masaryk genannt. Vgl. Masaryk erzählt sein Leben (s. Anm. 14), S. 170. N. N.: Ist die »österreichische Frage« schwierig?, in: Soldaten-Zeitung, Nr. 39, 4. 3. 1917, S. 2–3, hier S. 3. Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte (s. Anm. 24), S. 232. N. N.: Der Tyrann Österreich, in: Heimat, Nr. 14, 6. 6. 1918, S. 1–2, hier S. 1 f.

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richten über Gewerbe und Landwirtschaft. Da wird in der Heimat vom 11. Juli 1918 über den Vortrag des Prager Internisten Professor Rudolf von Jaksch über die zukünftige Ernährungspolitik berichtet. Über die Gegenwart erfährt man, dass in den »böhmischen industriellen Notstandsgebieten« das Hungerödem weit verbreitet sei.40 Wenn es in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 16. Juli 1918 zu »Lärmszenen« der »Tschechen und Südslawen« kam, dann hatte das wohl auch mit den »Ernährungsschwierigkeiten« zu tun.41 Abhilfe wurde – auf dem Papier – im literarischen Beiprogramm geschaffen, weniger in Allegorien Jan Nerudas über Nacht und Tag42 als in Kalendergeschichten Vinzenz Chiavaccis, in denen Kaiser Joseph II . einen darbenden Veteranen persönlich mit einem großen Geldgeschenk alimentiert.43 Auf die unmittelbare Umgebung Masaryks wird, wenn man dem lückenhaften Material trauen darf, übrigens nur einmal gezielt. In der Ausgabe der Heimat vom 18. Juli 1918 heißt es unter der Überschrift Die bloßen Phrasen: Eduard Benes [sic], der »Generalsekretär des tschechoslowakischen Nationalrates«, mahnt die Regierungen der Entente daran, daß es endlich an der Zeit wäre, mit bloßen Phrasen aufzuhören. Und er hat recht. Denn bis jetzt hat die Entente für die brachen [?] Verräter wirklich nur Phrasen übrig gehabt. Es ist ja auch gar nicht so leicht, irgend etwas wirklich zu tun, und Herr Benes [sic] hat gut reden und verlangen, jetzt, wo sie auch räumlich weiter von ihrem Ziel entfernt sind, als vor dem Krieg!44

Edvard Beneš saß damals in London und Paris, Masaryk organisierte nach der russischen Februarrevolution 1917, seit Mai jenes Jahres, die tschechoslowakische Exilarmee auf russischem Boden. Es ist richtig, dass diese Protagonisten sehr weit entfernt von Prag agierten, aber politisch kamen sie ihrem Ziel immer näher. Am 29. Juni 1918 akzeptierte Frankreich als erster Alliierter den tschechoslowakischen Nationalrat als Grundlage einer künftigen Regierung. Großbritannien folgte am 9. August, die USA zogen am 3. September 1918 nach. Am 14. Oktober bildete Beneš in Paris aus dem bisherigen Nationalrat die provisorische tschechoslowakische Regierung mit Masaryk als Ministerpräsidenten. Da wurde der Spott allmählich wohlfeil. Die Monarchie hatte keine Kraft mehr, die zentrifugalen Kräfte im Großen wie im Kleinen zu bändigen, mochten die Warnungen vor Desertion noch so dringlich sein.45 Um Soldaten aus den sogenannten unerlösten Nationen leichter zu erreichen, gab es neben der deutschen Ausgabe der Heimat auch eine ungarische, Üzenet, eine kroatische, Domovina, und eine tschechische, Domov, die, end40 41 42 43 44 45

N. N.: Unsere zukünftige Ernährungspolitik, in: Heimat, Nr. 19, 11. 7. 1918, S. 4. N. N.: Was geht vor . . .?, in: Heimat, Nr. 20, 18. 7. 1918, S. 1. Jan Neruda: Tag und Nacht. Aus dem Tschechischen übers. v. Bruno Klar, in: Heimat, Nr. 13, 30. 5. 1918, S. 5. Vgl. [Vinzenz] Chiavacci: Der Barbier des Kaisers, in: Heimat, Nr. 11, 16. 5. 1918, S. 3–4. N. N.: Die bloßen Phrasen, in: Heimat, Nr. 20, 18. 7. 1918, S. 4. Vgl. N. N.: Desertion, in: Heimat, Nr. 19, 11. 7. 1918, S. 3.

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lich komplett ins Deutsche übersetzt, manche Überraschung bereithalten könnten. Die Redaktion dieses Filialblattes hatte Mitarbeiter wie Arne Laurin und Otto Pick, aus den 1920er Jahren bekannte Prager Journalisten. Trotz ˇ Srámeks dieses qualifizierten Personals war das Blatt nach dem Urteil Frána so miserabel, daß es weder auf Böhmen noch auf die Tschechen einen Schatten werfen konnte [. . .]. Niemand las ihn [i. e. den Domov], vielleicht etwa 150 (!) uninformierte Soldaten hatten ihn abonniert. Er diente zur Erheiterung. Die Redaktion erhielt interessante Briefe von tschechischen Soldaten; Arne Laurin hat, glaube ich, eine ganze Sammlung davon. Einer schrieb wörtlich etwa so: »Ihr Blatt ist in meine Hände gelangt: Es ist das blödeste Blatt, das mir je zu Gesicht gekommen ist. Deshalb wird es bestimmt nicht eingestellt werden. Ich bezahle im voraus, schicken Sie es zu.« Mit genauer Adresse. Das Blatt wurde zugeschickt. Warum auch nicht? Sollte der Junge noch einmal etwas zum Lachen haben.46

Die Redakteure waren in einer schwierigen Lage. Sie hatten die habsburgische Herrschaft über Böhmen und Mähren zu verteidigen, während das tschechische Korps mit den Freiwilligen aus den russischen Gefangenenlagern nach Masaryks Worten »das erste wirkliche, wenn auch exterritoriale Stück unseres künftigen Staates« bildete.47 Musil verlangte von seinen Untergebenen offenbar nicht mehr als das absolut Notwendige und verteidigte sie gegen Kritik. Noch 1926 bedankte sich Laurin bei Musil nach den Gesetzen der Dankbarkeit: »Ich kann und werde nie vergessen, wie gut Sie zu mir waren in der sicherlich schwersten Zeit meines Lebens.«48 Es kam, wie es wohl kommen musste. Die Tschechoslowaken bekamen mit der Niederlage der Mittelmächte ihren eigenen Staat, Masaryk wurde in absentia im November 1918 zum Präsidenten gewählt, bei den Friedensverhandlungen von Versailles wurde sein Produkt, eben diese neue Republik, nicht als Nachfolgestaat des feindlichen Österreich-Ungarn behandelt, sondern als Alliierter und entsprechend belohnt. Der Geburtsfehler war freilich, dass die neue Tschechoslowakei, hervorgegangen aus einem Vielvölkerstaat, wieder beträchtliche Minderheiten einschloss: Deutsche in den Sudeten, Ungarn in der Slowakei. Das führte 20 Jahre später letztlich zum Untergang jenes jungen Gemeinwesens. Die Etablierung des neuen tschechoslowakischen Staates ging leider nicht so friedlich-schiedlich über die Bühne, wie man das von einem Philosophen auf dem Präsidentenstuhl vielleicht erwartet hätte. Als sich am 4. März 1919 die Wiener Nationalversammlung konstituierte, demonstrierten die Sudetendeutschen für ihr Selbstbestimmungsrecht. Masaryks Militär schoss in die Menge – es gab viele Tote und Verwundete. 46 47 48

Zit. nach Robert Musil: Briefe nach Prag. Hg. v. Barbara Köpplová u. Kurt Krolop. Reinbek b. Hamburg 1971, S. 87. Masaryk erzählt sein Leben (s. Anm. 14), S. 194. Arne Laurin an Robert Musil, 29. 10. 1926, in: Musil: Briefe nach Prag (s. Anm. 46), S. 66.

»[Z]war Freund des tschechischen Volkes aber durchaus nicht seiner Politik«

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In eben jenem März 1919 veröffentlichte Musil einen Essay für den Anschluss Österreichs an Deutschland, der damals von allen österreichischen Parteien befürwortet und dann von den Friedensverträgen verboten wurde. Er geißelte bei dieser Gelegenheit auch den lange »unbefriedigte[n] Staatsspieltrieb der Tschechen, der sich jetzt in ihrem Puppenstuben[-]Imperialismus auslebt und, enthielte er nicht so viel Rückgewandtheit, Großmannssucht und Eigensinn, eigentlich rührend wäre«, und er erinnerte einmal mehr an die »Zeit der Königinhofer Handschrift [. . .], als Millionen Menschen, durch einen Fälscher beschwindelt, der ihnen Dokumente einer alten selbständigen Kultur vorspiegelt[e], sich die Täuschung durch keine Widerlegung mehr rauben lassen wollten und so falschen Zeugnissen beinahe eine höhere Wahrheit als die historische, nämlich die des glühenden Verlangens gaben« (GW II, S. 1036). An Deutlichkeit im Hinblick auf die prima fraus des tschechoslowakischen Staates ließ Musil nichts zu wünschen übrig, aber zumindest bei seinem Freund Arne Laurin machte er sich dadurch nicht unmöglich. Laurin war damals stellvertretender Chefredakteur der Tribuna und übersetzte für deren tschechische Leser zum 3. Mai 1919 Musils Affeninsel, die fünf Wochen zuvor, am 23. März 1919, im Wiener Neuen Tag erschienen war. Es war eine der ersten Übertragungen eines Musil’schen Textes in eine fremde Sprache, wenn nicht die erste überhaupt.49

3. Knapp vier Monate später entwickelte Musil den Plan, Wien und Österreich den Rücken zu kehren. Als möblierter Herr aus der Florianigasse Nr. 2 schrieb er am 22. September 1919 an Laurin: Lieber Herr Laurin. Ich will aufs Land. Erstens wegen der Kraft, die ich sammeln muß, damit mein Lebenswerk nicht ungetan bleibt. Zweitens, weil es hier so anarchisch teuer wird, daß meine ganze Zeit für die Beschaffung der blöden Lebensnotwendigkeit daraufgeht; ja nicht einmal das gelingt mir jetzt mehr und zur Arbeit komme ich überhaupt nicht. Der Landaufenthalt, den ich suche – für ein halbes bis zu zwei Jahren – muß so billig sein, daß ich von literarischer Brotarbeit in dieser Zeit frei bleibe; also sehr billig. Er muß auch in der Reichweite einer Bibliothek liegen, was ja mit geografischer Nähe nicht identisch zu sein braucht. Ich sehe mich jetzt bei uns danach um, aber der Partikularegoismus ist allerorten dieses kaum lebensfähigen Landes so groß, daß ich wenig Hoffnung habe ein Unterkommen zu finden. Ich denke daher auch an das Projekt in die Tschechoslowakei zu emigrieren. Halten Sie es für möglich und wollten Sie mir behilflich sein, eine Ein49

Vgl. Barbara Köpplová, Kurt Krolop: Zur Einführung, in: Musil: Briefe nach Prag (s. Anm. 46), S. 5–10, hier S. 9.

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siedelei zu finden, wo ich als Deutscher und zwar Freund des tschechischen Volkes aber durchaus nicht seiner Politik nicht angefeindet werde?. [. . .] Nehmen Sie im voraus vielen Dank und seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Robert Musil. (Br I, S. 183)

Aus dem Vorhaben wurde nichts. Laurin konnte als Wohnungsmakler das Gewünschte nicht vermitteln. An seinem Geburtstag, am 6. November 1919, widerrief Musil sein »Projekt in das tschechoslowakische Imperium zu ziehn« als »aussichtslos« (Br I, S. 191). Die politische Lage der Deutschen im neuen Staat war miserabel, sie bekamen die Quittung für eine jahrhundertelange Dominanz. In der Nationalversammlung waren sie nicht vertreten, obwohl es um eineinhalb Millionen Wählerstimmen ging. Die Wiener Arbeiter-Zeitung vom 3. April 1920, die Musil exzerpierte, sprach von einer »Diktatur des tschechischen Volks über das deutsche«, und Musil überbot das noch mit der heute übertrieben klingenden Formulierung »weltgeschichtlich eine der schwersten Formen der Sklaverei« (Tb I, S. 550). Laurin bereitete selbst einen Stellungswechsel in der publizistischen Landschaft vor. Da er mit dem literarischen Sekretär Masaryks, Vasil Škrach, bekannt war, wurde er Chefredakteur der neu zu gründenden Prager Presse.50 Er verpflichtete Musil nicht nur als Theaterkritiker für Wien, sondern bat ihn auch, seinem Blatt bedeutende freie Mitarbeiter zuzuführen. Der wandte sich an Thomas Mann, an Arthur Schnitzler, an Oskar Maurus Fontana, an Max Mell, an Alban Berg und andere und erntete Zu- wie Absagen. Tausend harte tschechische Kronen für einen Aufsatz waren in Zeiten österreichischer und deutscher Inflation ein gutes Argument (vgl. Br I, S. 225). Und die Mitarbeit anderer Prominenter wie Hugo von Hofmannsthal, Richard CoudenhoveKalergi und Robert Müller bildete ein sich gegenseitig stützendes System. Es dauerte nämlich nicht lange, und die Prager Presse kam ins Gerede. Fraglich war, ob man österreichischer Staatsdiener bleiben konnte, wenn man für dieses Blatt schrieb – Musil war seit September 1920 Fachbeirat im Staatsamt für Heereswesen. Sein Brief vom 23. April 1921 an Laurin ist eines der wichtigen politischen Dokumente der frühen Nachkriegszeit: Lieber Herr Laurin! Ich muß mich mit Ihnen über die Prager Presse aussprechen, denn die Beurteilung, welche das Blatt findet, ist derart, daß es mir auch in Ihrem Interesse zu liegen scheint, wenn ich rückhaltlos darüber rede. Sie haben mir seinerzeit zwei Direktiven gegeben, von denen ich bisher bei der Anwerbung von Mitarbeitern Gebrauch machen konnte: Sie sagten, das Blatt sei Organ Masaryks; und die Orientierung sei überstaatlich. Dem entgegen ist hier die allgemeine Überzeugung: die Prager Presse ist ein Organ des tschechischen Außenministeriums und die Orientierung sei derart, daß die Deutschen in ihrem Widerstand gegen den tschechoslowak. Staat geschwächt werden sollen und dem Ausland Sand in die Augen gestreut werden soll. 50

Vgl. Köpplová/Krolop: Zur Einführung (s. Anm. 49), S. 9.

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Daß das erste zutrifft, scheint nach den Informationen, die man mir gegeben hat, so weit der Fall zu sein, daß man schwer etwas dagegen sagen kann. Ich muß Ihnen mitteilen, daß es mir bereits zwei Absagen von wertvollen und durchaus nicht chauvinistischen Schriftstellern zugezogen hat, trotzdem ich deren Zusage einige Tage zuvor bereits gewonnen hatte. Breitet sich diese Stimmung aus, so kann bald der Fall eintreten, daß es überhaupt unmöglich wird, Menschen von Rang für die Mitarbeit zu gewinnen. Als das einzige Mittel, um der Ausbreitung dieser Stimmung entgegenzutreten, erscheint es mir, daß Sie mir Informationen geben, welche mir gestatten, mit kräftigen Argumenten für die Tendenz und Orientierung des Blattes einzutreten. Außerdem erscheint es mir als unerläßlich, daß der Möglichkeit von Mißdeutungen im Inhalt des Blattes mehr Rechnung getragen wird. Ich habe mir jetzt den Inhalt der meisten bisher erschienenen Nummern durchgesehen und ich würde es als eine Verletzung meiner freundschaftlichen Pflicht betrachten, wenn ich Ihnen nicht sagte, daß für deutsche Augen der Eindruck zweideutig ist. Es ist z. B. sehr interessant und durchaus begrüßenswert, wenn die aus der Reparation sich ergebenden Konflikte Deutschlands mit Frankreich, wie die PP. es tut, öfters auch von der anderen, der französischen Seite her betrachtet werden, denn zweifellos hat sich der deutschen öffentlichen Meinung eine Suggestion bemächtigt und es ist geistig und im besten Sinne deutsch, frische Luft in diese Atmosphäre einzulassen: Aber wenn ich die PP. durchsehe, muß ich doch sehen, daß die Informationen vorwiegend frankophil sind. Richtiger gesagt, aus der Mentalität einer Regierung geschöpft sind, die sich mit Frankreich und Deutschland zu verhalten wünscht, deren oberstes Interesse aber ist, daß die Friedensverträge eingehalten und möglichst glatt durchgeführt werden. Ich will nicht davon reden, auf welcher Seite in diesem Fall das höhere Menschentum ist, wohl aber müssen Sie sich vergegenwärtigen, wie ein geistiger Deutscher notwendig denken muß: Für uns sind die Friedensverträge unentschuldbarer, als es die Kriegserklärungen waren. Denn der Krieg war die Katastrophe der einer alten Welt, die Friedensverträge die Verhinderung der Geburt einer neuen. Das gleiche läßt sich auf den Vergleich des tschechoslowakischen Staats mit der alten Monarchie anwenden. Wenn wir uns gegen die Durchführung der Friedensverträge wehren, so schützen wir nicht nur unser materielles Interesse, sondern auch unsere moralische Überzeugung. Dafür fehlt der PP. im außenpolitischen Teil anscheinend mehr das Verständnis als in der Behandlung der inneren Politik. [. . .] Uns Deutschen ist ein unerträgliches Unrecht zugefügt worden. Es ist unvermeidlich, daß wir nach einer Neugestaltung Europas streben. Es ist unvermeidlich, daß wir eine Revision der Frieden fordern. Aber sie soll keine restitutio in integrum sein, sondern sie muß aus der Machtpolitik und der Revanchekette hinausführen. Statt der Konstitution Europas in rivalisierenden Bestialstaaten muß eine Form der Vereinigung der in sich geeinten Völker untereinander gefunden werden, überstaatlich und möglichst unstaatlich. Ich glaube, daß der tschechische Staat ein großes Interesse daran hat, daß solche Anschauung entsteht, denn wenn er sich nur auf die Macht stützt, so ist er zwar heute gesichert, für die ganzen nächsten hundert Jahre möchte ich aber nicht die Garantie übernehmen müssen. Sein staatspolitisches Interesse deckt sich mit dem menschlichen und er hätte eine Mission, wenn er sie nicht gerade so verabsäumt wie es das alte Öst.-Ung. getan hat. Daß man die Zukunftsvorstellung verschieden ausgestalten kann, ist natürlich und ich habe mich mit Absicht in einer ganz vagen Andeutung gehalten. Nur das eine soll man nicht sagen: daß

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dies eine Utopie ist. Denn natürlich ist es heute nicht aktuell, aber glauben Sie mir, ohne ein allgemeines Gefühl des Raums, in dem man sich befindet, kann man den allernächsten Gegenstand nicht erreichen! Solche Versöhnungspolitik nach vorwärts zu unterstützen, würde ich jeden geistigen Menschen für verpflichtet erachten. Weiß man, daß es sich darum handelt, kann man der nationalen Beschränktheit im eigenen Lager entgegentreten. Kann man es auch tun, wenn es sich nicht darum handelt? Meine Meinung ist, daß Sie nach einiger Zeit schwer jemand dafür finden würden außer journalistischen Prostituierten, so daß die Zeitung bald uninteressant und einflußlos sein würde. (Br I, S. 226–229)

Eine Antwort ist nicht überliefert. Wenn sie nicht voll befriedigend war, erlaubte sie es Musil doch, für die Prager Presse weiterzuschreiben, bis ein Streit mit dem Verwaltungsrat im Herbst 1922 einen zeitweiligen Wechsel zur Deutschen Zeitung Bohemia nach sich zog.51 Musils Brief war weitsichtig und programmatisch. Die Existenz des damaligen Staates Tschechoslowakei dauerte gerade rund 20 Jahre. Und: Musil wurde zum Parteigänger der paneuropäischen Idee zu einem Zeitpunkt, als viele sie noch für absolut utopisch hielten.52 Jedenfalls verdanken wir der Zusammenarbeit mit den deutschsprachigen Prager Zeitungen viele bedeutende Texte, Theaterkritiken, Skizzen (die später in den Nachlaß zu Lebzeiten eingingen), Vorabdrucke – etwa aus der Posse Vinzenz53 –, und die tschechische Tribuna brachte Übersetzungen der später als »Bilder« bezeichneten Texte in der Übersetzung von Jarmila Haasová (vgl. Br I, S. 274, 285 u. 301).54 Die stabile tschechoslowakische Krone sicherte Musil in den Inflationsjahren mit das Überleben, und selbst in seiner Underwood-Schreibmaschine steckte tschechoslowakisches Geld.55 Die Eltern nahmen Untermieter in ihre große Wohnung in der Brünner Augustinergasse auf und unterstützten mit den Einnahmen den Sohn in Wien, obwohl sie selbst nicht auf Rosen gebettet waren.56 Vater Alfred musste arbeiten, bis er buchstäblich ins Grab sank.57

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56 57

Vgl. Köpplová/Krolop: Zur Einführung (s. Anm. 49), S. 9. Vgl. Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten (s. Anm. 15), S. 275. Vgl. Robert Musil: Aus einer neuen Komödie, in: Prager Presse, Nr. 312, 13. 11. 1923, S. 3–4. Die Absicht, Grigia zu übersetzen, gab Jarmila Haasová auf, weil man ihr in Prag feindlich gesinnt war (vgl. Br I, S. 301). Auf der Reise von Brünn in die Sommerfrische (Grieskirchen) machten die Eltern Musil im Juli 1923 in Wien Station, und Mutter Hermine brachte »2 Handtaschen voller Eßsachen« und »einen schönen Beitrag zur Schreibmaschine« (Br I, S. 309). Mündliche Information von Leontine Donath. Siehe seinen Brief an das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur vom 8. 5. 1923, aus dem hervorgeht, dass Alfred Musil bemüßigt sei, »trotz seiner mehr als 30jährigen Dienstzeit als Hochschulprofessor noch bis an seine Altersgrenze – derselbe steht heute im 77. Lebensjahre – arbeiten zu müssen, um nur den nötigsten Lebensunterhalt für sich und seine Familie decken zu können« (Archiv der Technischen Hochschule Brünn).

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Nach dem Tod der (Schwieger-)Eltern – Hermine Musil starb am 24. Januar, Alfred Musil am 1. Oktober 192458 – wollten Robert und Martha Musil nach Brünn übersiedeln und deren Wohnung übernehmen, die viel geräumiger und praktischer war als das Domizil in der Wiener Rasumofskygasse. Im Tagebuch notierte der Sohn: Der Hausherr, der einige Jahre zuvor gewechselt hatte, beanspruchte aber auch die Wohnung. Er war ein zu Wohlhabenheit gekommener Kaufmann u. ein kluger, bescheidener, ernster Jude, der mit Festigkeit seinen Weg ging: er besuchte mich und legte mir seinen Willen dar und die Argumente zu dessen Stütze. Ich ließ es zum Rechtsstreit kommen, verlor diesen in der ersten Instanz u. gab dann meinen Plan auf. Nutzlos hatten wir unseßhaften Romantiker den überlegten Mann gestört u. unsere Lehre dafür empfangen. (Tb I, S. 916 f.)

In der letzten Lebenszeit seiner Eltern war Musil zumindest literarisch in das Brünn seiner Jugend zurückgekehrt, als er in Tonka seine tragische Geschichte mit Herma Dietz erzählte. Er machte aus seiner Freundin ein deutsch-tschechisches Mischwesen: »Übrigens hieß sie nicht ganz mit Recht Tonka, sondern war deutsch getauft auf den Namen Antonie, während Tonka die Abkürzung der tschechischen Koseform Toninka bildet; man sprach in diesen Gassen ein seltsames Gemisch zweier Sprachen.« (GW II, S. 272) 59 ˇ Und Beispiel: ›Hauzmeistrová pucovala hausherrovy stieflata na gonku‹. Tonka hatte einen »jener traumhaften Nachnamen [. . .], die ›Er sang‹ oder ›Er kam über die Wiese‹ heißen.« (GW II, S. 279) Sie wird zu einer Vermittlerin, einer Dolmetscherin zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen: Und da [. . .] begann sie abermals leise zu singen, aber diesmal waren es Volkslieder ihrer Heimat. Sie schritten dahin, und diese einfachen Weisen machten so traurig wie Kohlweißlinge im Sonnenschein. [. . .] Und sie sangen beide. Tonka sagte ihm den fremden Text vor und übersetzte ihn, dann faßten sie sich bei der Hand und sangen wie die Kinder. Wenn sie eine Pause machen mußten, um Atem zu schöpfen, gab es jedesmal auch ein kleines Verstummen dort vor ihnen, wo sich die Dämmerung über den Weg zog, und wenn das alles auch dumm war, war der Abend eins mit ihren Empfindungen. (GW II, S. 276 f.)

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Hermine Musil machte in ihrer letzten Lebenszeit noch eine politische Geste. Gegenüber den »verehrlichen Damen des Professoren-Kollegiums« äußerte sie den Wunsch, man möge bei ihrem Tod statt eines Kranzes Geld sammeln »zur Bespeisung armer reichsdeutscher Kinder«. Und so geschah es. Einen Monat nach ihrem Ableben bestätigte das deutsche Konsulat in Brünn den Empfang von 690 Kronen für den genannten Zweck (Corino: Robert Musil [s. Anm. 3], S. 725). Alfred Musil starb, wie der Sohn festhält, »als unfreiwilliger Angehöriger« des tschechoslowakischen Staates (Tb I, S. 920). Zu politischen Gesten gegenüber dem ungeliebten Staat war er in seiner letzten Lebenszeit nicht mehr fähig. Wie Vojen Drlík herausfand, war Alfred Musil am 23. September 1924 vom Bezirksgericht Brünn-Stadt wegen seiner Verwirrtheit und Unzurechnungsfähigkeit entmündigt worden (Briefliche Mitteilung Drlíks an den Verfasser unter Beifügung einer Kopie des amtlichen Dokuments). Dieses Beispiel verdanke ich Jan Skutil.

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Dies wirkt fast wie eine Parallele zu Rilkes »Mich rührt so sehr böhmischen Volkes Weise«. Es ist jedenfalls einer der raren Glücksmomente vor einem tragischen Hintergrund. Die Szenen, in denen der Mensch mit seiner Umwelt eins wird, sind selten in Musils Prosa. Auch im Mann ohne Eigenschaften findet man sie nicht oft, aber immerhin, es gibt sie, diese »slowakische[n] Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen.« (MoE, S. 33) Ob der Roman, an dem Musil damals arbeitete, eine andere Gestalt angenommen hätte, wenn er in der Brünner Augustinergasse fortgesetzt worden wäre statt in der Wiener Rasumofskygasse, ist eine schwierige Frage. Die Zusammenhänge zwischen Schreibort und Schreibart sind kaum erforscht und kaum erforschbar. Immerhin sprach Musil auch vom »geographischen Charakter« als einem menschlichen Teilcharakter (GW II, S. 537), und es ist unleugbar, dass die verschiedenen Requien auf Habsburg, die damals entstanden, im Wien Herzmanovsky-Orlandos, im Prag Hašeks und im Zagreb Krležas ihr jeweils anderes Kolorit hatten.60 Der Tod von Ulrichs Vater und die Rückkehr in dessen Wohn- und Sterbestadt wird für Musil jedenfalls zum Anlass, nach (in der Erstausgabe) 1000 Seiten erstmals die Brünner Szenerie zu schildern, wobei er den Namen der Stadt unterdrückt und durch drei Punkte und einen Asterisk ersetzt: Mit einiger Neugier [. . .] betrachtete [er] die große Provinzstadt, in der er kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens zugebracht hatte. In ihrem Wesen lag, wie er sehr wohl wußte, etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums, der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert, so daß außer einigen Kirchen und Familiennamen kaum noch etwas an ihn erinnerte, und auch vom alten Sitz der Landstände, den diese Stadt später abgegeben hatte, war außer einem erhalten gebliebenen schönen Palast wenig mehr zu sehen; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz, mit den Haupt- und Hochschulen, den Kasernen, Gerichten, Gefängnissen, dem Bischofssitz, der Redoute, dem Theatern, allen Menschen, die dazugehörten, und den Kaufleuten und Handwerkern, die sie nach sich zogen, so daß sich schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflusst beeinflußt hatten als alles andere. Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin paßten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist. (MoE, S. 671 f.)

Der Logik der Romanchronologie nach erlebt Ulrich seine Jugendstadt 1913/ 14, zu einer Zeit, als die Bevölkerung Brünns noch zu drei Fünfteln deutsch war. Es könnte aber auch eine für Musil charakteristische perspektivische 60

Übrigens steht fest, dass Musil laut Tagebuch von Mitte Januar 1930 kurz und kommentarlos nur den Braven Soldaten Schwejk zur Kenntnis nahm; vgl. Tb I, S. 696.

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Verschiebung vorliegen, so dass er die Situation zu Beginn der 1930er Jahre zugrunde legte, als 52 000 Deutsche 200 000 Tschechen gegenüberstanden. Die ersten Kapitel des Zweiten Buches des Mann ohne Eigenschaften, die im Dezember 1932 erschienen, spielen unleugbar im verschwiegenen Brünn, sie werfen auch Seitenblicke auf die Historie bis zurück zur schwedischen Belagerung 1645 (vgl. MoE, S. 736), ohne dass klar würde, weshalb Ulrichs Jugend dortzulande wenig angenehm war. Von den brutalen sozialen Spannungen, vom Elend des tschechischen Fabrikproletariats, vom Militärdienst und der geheimnisvollen Krankheit, Lues, die den prekären Stoff der Novelle Tonka bildet, ist (noch) nicht die Rede, auch nicht von dem Staatsgefängnis auf dem Spielberg, in dem viele Gegner der Habsburger geschmachtet hatten. Dabei ist fraglich, was Musil von den politischen und sozialen Realitäten erfuhr. Brünn besuchte er nach dem Tod der Eltern nicht mehr, die Kuraufenthalte in Karlsbad vom September 1926 und vom Mai/Juni 1933, der Urlaub auf Schloss Pottenstein/Potštejn bei Gräfin Dobrzenska im Juni/Juli 1933 sowie die vier Tage in Prag bei Erwin Hexner mit Ausflug nach Marienbad Anfang Juni 1937 sollten eher seiner Gesundheit dienen als empirischen Studien zur Lage der arbeitenden Klassen. Wobei anzumerken ist, dass Hexner, der Dozent für Volkswirtschaft in Preßburg, ein Vertreter des Realitätsprinzips war und die Utopien Musils auf ihre Tauglichkeit im Alltag geprüft wissen wollte. (Noch kurz vor seinem Tod, im Januar 1942, notierte Musil, die Frage Hexners, »Wie denken Sie es sich in der Wirklichkeit«, werde unaufschiebbar.)61 Das Problem Theorie vs. Praxis stellte sich ja bei Masaryk selbst. Er war damals, wenn ich recht sehe, der einzige habilitierte Philosoph auf dem Stuhl eines Staatspräsidenten und damit quasi die Erfüllung des platonischen ˇ Ideals. Die Gespräche mit Masaryk, die Karel Capek in den Jahren 1928, 1931 und 1935 vorlegte und die Musils Freund Camill Hoffmann in einem Band der Büchergilde Gutenberg Zürich zusammenfassend übersetzte, sind ein Dokument des hohen Ethos und der »geistigen Bewältigung der Welt« (GW II, S. 942), wie Musil sie für seinen Roman postulierte.62 Das Lob gilt, auch wenn es bei dem Werk hinsichtlich der nicht-slawischen ethnischen Minderheiten große blinde Stellen gibt. Das beginnt bei den Illustrationen. Die Fotos zeigen Masaryk im Gespräch mit slowakischen Bäuerinnen, mit slowakischen Kalkbrennern oder einfach »Dorfbewohnern«, aber niemals mit Sudetendeutschen oder Ungarn. Es fehlen die symbolischen Gesten, die zeigten: Dieser Mann will der Präsident aller sein, die auf dem Boden des tschechoslowakischen Staates leben. Die Nicht-Integration der dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen war letztlich ja die Ursache für das Scheitern der ersten tschechoslowakischen Republik. Hätten sie politisch, ökonomisch und kulturell in dieser Demokratie ein neues Zuhause gefunden, wären sie 61 62

»U.s Nachwort. Schlusswort«, KA/Transkriptionen/Mappe II/2/24. Vgl. Masaryk erzählt sein Leben (s. Anm. 14).

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weniger anfällig gewesen für die braunen Heim-ins-Reich-Parolen und die Anhimmelung Hitlers als eines neuen Messias.63 Dennoch bleibt festzuhalten: Sogar im Hinblick auf Musils Generalthema, die Synthese von Verstand und Gefühl, gibt es eine verblüffende Übereinstimmung. Wenn Musil von »Gefühlserkenntnisse[n] und Denkerschütterungen« sprach (GW II, S. 997), in denen diese Synthese begrifflich kristallisierte, dann nutzte Masaryk dieselbe Terminologie und konnte das Phänomen näher erläutern: »Die sogenannte Gefühlserkenntnis pflegt einfach eine Verstandeserkenntnis zu sein, die aber von einem starken Gefühl begleitet ist.«64 Da Musil im Zusammenhang mit dem Großschriftsteller von der »Liebe zu Masaryk, zur Sozialdemokr.[atie] u[nd] zur Psychoanalyse als den drei Flachheiten« spricht (Tb I, S. 973), muss man Masaryk selbst vor diesem Soupçon in Schutz nehmen. Es handelt sich dabei wohl wieder um ein Knäuel von Verdächtigungen und Verstimmungen, das schwer zu entwirren ist. Die Tschechoslowakei und speziell Brünn waren nach dem Februar 1934, als Dollfuß die österreichische Sozialdemokratie zerschlagen hatte, Zuflucht für ihre Flüchtlinge. Die Arbeiter-Zeitung im Brünner Exil hatte Musil im Juli 1935 wegen seines Auftritts beim Pariser »Kongreß zur Verteidigung der Kultur« massiv angegriffen, und zwar unter der Überschrift Ein »Kultur«-Sendling des österreichischen Faschismus abgeblitzt.65 Musil hatte – auch bei Systemen, die sich kulturfreundlich gerierten – der Kultur sehr zur »Kunst der weiblichen Selbstverteidigung« geraten (GW II, S. 1261) und damit den Unmut orthodoxer Kommunisten wie Bodo Uhse und Egon Erwin Kisch erregt. Nun musste er sich aus Brünn wahrheitswidrig nachsagen lassen, er stehe mit dem österreichischen Klerikofaschismus auf gutem Kulturfuße und lese seine Werke im Wiener Radio vor. Die Musils und andere »katholisch-gekrauste Literaten« verteidigten vergeblich die Kultur des Austrofaschismus – die wahre Kultur erkenne sie nicht als Verteidiger, sondern als Verräter. Eine Reaktion Musils auf diese Polemik ist nicht überliefert, aber auf die Wiederholung der Pariser Vorwürfe in den Neuen Deutschen Blättern (Prag, August 1935) versuchte Musil mit der »Berichtigung eines Berichts« zu antworten (vgl. Tb II, S. 1255 ff.), die Zeitschrift stellte jedoch ihr Erscheinen ein, eine Erwiderung war nicht mehr möglich.66 Die Fälle, in denen aus der Tschechoslowakei ungebrochenes Lob kam, waren selten. Es war der Fall, als Musil 1933 neben vielen anderen für den Goe63 64

65 66

Vgl. Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a. M. u. a. 1973, S. 759. Masaryk erzählt sein Leben (s. Anm. 14), S. 249. Mit ihrer Wortwahl »Gefühlserkenntnis« scheinen beide, Musil und Masaryk, auf eine zeitgenössische psychologische Denkrichtung zu rekurrieren, den Emotionalismus, den Masaryk in seinen Erinnerungen ausdrücklich erwähnt (ebd., S. 242). Faksimile in Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten (s. Anm. 15), S. 420. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 128–135.

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the-Preis der Stadt Frankfurt nominiert wurde. Camill Hoffmann, von 1920 bis 1938 Legationsrat und Pressechef der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin, setzte sich hinter den Kulissen sehr für Musil ein, und so hieß es im Schreiben an den Frankfurter Bürgermeister, das Werk dieses »deutsch schreibenden tschechischen Dichters« sei von »hohem künstlerischem und menschlichem Wert«.67 Da bald darauf der Stuhl des Stadtoberhaupts nationalsozialistisch besetzt wurde, dürfte der Hinweis auf die tschechische Herkunft der Familie Musil nicht gerade förderlich gewesen sein. Der Preis ging dann auch an einen der NSDAP genehmen Autor, an Hermann Stehr, und ähnlich war es beim Preis der Harry-Kreismann-Stiftung, der Karl Benno von Mechow zufiel, nachdem Gerüchte aufgetaucht waren, Musil sei jüdischer Herkunft. Auch als Ernst Rowohlt der Jury versichern konnte, sein Autor sei »Deutsch-Böhme reinarischer Abstammung«, änderte das nichts an den Vorbehalten.68 Nun, Jude war Musil nicht – er war durch seine Ehe mit Martha »jüdisch versippt«, und so bildete der wüste, blutgierige Antisemitismus der Nazis einen unüberbrückbaren Graben zu ihrer Ideologie. Das war so beim Machtantritt Hitlers im 1933, den Musil in Berlin erlebte – im Mai kehrte er nach Wien zurück und es ereignete sich Paralleles, als der »Führer« im März 1938 Österreich ›heimholte‹ – im August 1938 floh das Ehepaar aus der Rasumofskygasse in die Schweiz. Es vertiefte das Dilemma, dass der Anschluss an das Deutsche Reich seit 1919 auf Musils Wunschliste gestanden hatte. Die Liste der Wünschbarkeiten war für Hitler damit nicht zu Ende. Der nächste Punkt auf der Agenda war die Zerschlagung der Tschechoslowakei, das Sudetenland angeblich seine letzte territoriale Forderung, die er gegebenenfalls auch militärisch einlösen wollte. Die Konferenz von München verhinderte den Krieg mit knapper Not. England und Frankreich (Chamberlain und Daladier) gestanden zu, dass die deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens an das Dritte Reich abgegeben wurden. Die Einverleibung der Rest-Tschechei Mitte März 1939, die Errichtung des »Reichsprotektorats Böhmen und Mähren« waren dann nur noch ein kleiner Schritt. Musil, der die Münchner Konferenz schon von Zürich aus verfolgte, kommentierte den Untergang der Masaryk’schen Tschechoslowakei in seinem Tagebuch wie folgt. Welches Erlebnis, dieses tschechische, nach dem etwas kindlichen Traum zwischen den Großmächten. Von allen verlassen, preisgegeben, verraten. Der Vernichter wegen seiner Mäßigung bejubelt, weil er ein wenig von ihnen übrig läßt. Ungeachtet 67

68

Zit. nach Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor. Städtische Literaturpreise und Kulturpolitik in Deutschland 1926–1971. Berlin, New York 1994 (= European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Bd. 4), S. 110. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 1138 ff.

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Karl Corino

des tschechischen Unrechts, welche Rechtsbelehrung, welche Menschenbelehrung überhaupt! (Tb I, S. 970)

Milan Kundera sagte dazu in einem Interview etwas sehr Treffendes: [D]ie kleinen Nationen Mitteleuropas sind immer eher Opfer der Geschichte gewesen. Wenn Sie einer dieser kleinen Nationen angehören, können Sie kaum die Geschichte vergöttlichen. Man kann sich einfach Hegel oder Marx nicht als Polen oder Tschechen vorstellen. Oder als Dänen. Kierkegaard sehr wohl. Eine kleine Nation kann niemals die Geschichte zum Gott erheben, denn sie ist ihr Feind. Die Kleinstaaten werden dauernd von der Geschichte bedroht. Gombrowicz hat da etwas gesagt, das mir sehr gut gefällt: »Man muß sich nicht nur der heutigen Geschichte widersetzen, sondern der Geschichte überhaupt.«69

4. Man sollte das Thema Musil und die Tschechoslowakei nicht abschließen, ohne ein paar Sätze über seine Wirkung auf die tschechische Literatur der Gegenwart zu sagen. Gerade Milan Kundera darf dabei nicht übergangen werden. In einem Interview mit der Zeitschrift L’infini, das Christian Salmon führte, bekannte er 1984: Musil und Broch haben den Roman mit enormen Aufgaben belastet. Sie haben in ihm die höchste intellektuelle Synthese gesehen, einen letzten Ort, wo der Mensch noch die Welt als Ganzes ertragen kann; sie waren davon überzeugt, dass der Roman eine immense Integrationskraft besitzt; dass er zugleich Poesie, Phantasie, Philosophie, Aphorismus, Essay sein kann.70

Kundera billigt durchaus die Absicht, den Roman als »polyhistorische Erhellung der Existenz« zu begreifen, hält es aber für ein Missverständnis, daraus das Recht auf enzyklopädischen Umfang abzuleiten. Eine Technik der Ellipse, der Verdichtung sei geboten, sonst gehe man einer »Länge ohne Ende in die Falle«. Musils Mann ohne Eigenschaften sei einer der zwei, drei Romane, die er am meisten liebe, so Kundera wörtlich, aber verlangen Sie nicht von mir, seinen immensen, unvollendeten Umfang zu bewundern. Stellen Sie sich ein Schloss vor, das so groß ist, dass man es nicht mit einem Blick überschauen kann. Stellen Sie sich ein Quartett vor, das neun Stunden dauert. Es gibt anthropologische Grenzen, die man nicht überschreiten darf, Grenzen des Gedächtnisses zum Beispiel. Am Ende ihrer Lektüre müssen Sie noch imstande

69

70

Interview Eva Maek-Gerard mit Milan Kundera für das Hessische Fernsehen, undat. u. unveröff. (Manuskript im Besitz des Verf.), S. 12. Das Interview findet sich in dt. Übersetzung in einer Werbe-Broschüre des Carl Hanser Verlags. Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Auszüge aus dem Roman. Materialien. München o. J., S. 4–18, hier S. 5.

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sein, sich an den Anfang zu erinnern. Sonst wird der Roman unförmig und seine architektonische Klarheit verschwimmt.71

Dies bedeutet gewiss eine kleine Einschränkung, vor allem aus mnemotechnischen Gründen. Kundera hat sich in seinen Romanen denn auch immer vor der Musil’schen Maßlosigkeit gehütet, wichtige Prinzipien der Musil’schen Kompositionstechnik – Verbindung von Erzählung und Essay – dennoch für seine Zwecke adaptiert. Vor allem in seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) wimmelt es von Musil’schen Sentenzen und Motiven. Wir stoßen darin auf den Musil’schen Chiliasmus – »Er wollte das Reich Gottes auf Erden« – und auf die Idee des Hermaphroditen. Wie Musil darauf abzielte, den »möglichen Menschen« zu erfinden, spricht Kundera von Romanpersonen, »in deren Kern eine Möglichkeit des Menschen verborgen liegt«,72 von der der Autor meint, sie sei noch nicht entdeckt worden. Der Potentialismus, die experimentelle Gesinnung, das intellektuelle Probehandeln, das Nachdenken über Notwendigkeit und Zufall, der Entwurf von Alternativen – dies sind wohl die wichtigsten Bindeglieder zwischen Musil und Kundera. Vieles im Werk des Jüngeren klingt wie ein schöpferisches Echo: »Es könnte ebenso gut anders sein«, lautet das Programm des Musil’schen Gottes. Und das von Kunderas Helden: »Es könnte auch anders sein.«73

71 72 73

Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit (s. Anm. 70), S. 6. Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit (s. Anm. 70), S. 6. Vgl. Karl Corino: Das wahre Österreich ist die ganze Welt. Robert Musil im Ausland, in: Paul Kruntorad (Hg.): A. E. I . O. U. Wien 1985, S. 31–37, hier S. 35 f.

Christoph König

Wie kann man über Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm sprechen? Abstract: Literary criticism necessarily shapes its practice in the epistemological quest to know its premises. Philology is, therefore, as much a philosophical activity as it is a historical one. This essay claims in a general sense that only in the analysis of one’s own philological practice of reading is the meaning of any literary work of art accessible. This analysis prospers more to the extent it takes into account the history of previous readings of the text in question. The concrete claim of this essay is therefore that only within such a framework of reflection can Hugo von Hofmannsthal’s tragic drama Der Turm be properly understood in the pursuit of its own integrity.

In der langen Forschungsgeschichte über Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm regiert die Absicht, das Stück auf den Begriff zu bringen, indem man darin eine Parteinahme für Nation, Geist, Apokalypse, Opfer oder Entscheidung fixiert (um nur einige der vielen Begriffe zu nennen). Ich wende mich gegen diese Versuchung, die von einer bestimmten poetischen Strategie im Stück ausgeht. Es scheint mir heute immer noch und gerade nötig, darüber nachzudenken, wie man überhaupt über den Turm sprechen kann. Oder um meine Absicht als Erkenntnisfrage zu formulieren: Was ist vorauszusetzen, will man dessen Sinn verstehen? Die Frage nach den Erkenntnisbedingungen führt zunächst zu den Grundlagen unseres philologischen Metiers, zu Fragen der Qualität von Forschung; ihnen gelten einige allgemeine, methodische Gedanken, bevor ich mich Hofmannsthal zuwende und daraus einige Lehren ziehe. Von Jean Bollack,1 dem französischen Gräzisten, Übersetzer und Philosophen, wird die Frage überliefert: »Würden Sie sich von Ihrem Kollegen am offenen Herzen operieren lassen?« Bollacks Frage richtet sich auf die Qualität philologischer Praxis und sie fordert, dass es in den Philologien genauso ernst zugehe wie in der Medizin. Bollacks Sorge gilt, wenn man in der Herzmetaphorik bleiben will, dem Leben bzw. der Existenz der Werke. Auf die Richtigkeit der Lektüre kommt es also an, und in weiterer Folge auch auf Bildung und auf gesellschaftliches Handeln, die beide auf einer richtigen oder eben falschen Lektüre aufbauen. Viel steht auf dem Spiel, und Bollacks 1

Vgl. Jean Bollack: Sinn wider Sinn. Wie liest man? Gespräche mit Patrick Llored. Göttingen 2003; Denis Thouard: Herméneutique critique. Bollack, Szondi, Celan. Villeneuve d’Ascq 2012; Christoph König: Ungebärdiges Lesen. Laudatio für Jean Bollack (Zur Ehrenpromotion an der Universität Osnabrück im Jahr 2007), in: Lendemains 33 (2008), H. 129, S. 119–127.

Wie kann man über Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm sprechen?

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Sorge resultiert aus der zutreffenden Beobachtung, dass in den Geisteswissenschaften das Dogma der Pluralität den Ernst und die Qualität der Forschung beeinträchtigt. Zielt also die Frage Bollacks darauf, die Werke zu verteidigen, indem man ihre besondere und eindeutige Subjektivität würdigt, so wird in der Art, wie die Frage gestellt ist, auch der Weg deutlich, wie diese Subjektivität zu verteidigen sei: Im Mittelpunkt von Bollacks Frage steht eine Handlung – das Operieren – und nicht eine Theorie des Herzens. Damit rückt ein wesentlicher Zug unserer Fächer in den Mittelpunkt, nämlich die philologische Praxis. Auf deren Qualität kommt es an. Doch worin besteht sie? Meine erste Antwort heißt: Die Qualität der philologischen Praxis basiert darauf, dass eine konstitutive Norm, eine Idee der Philologie beachtet wird (hier verdanke ich viel David Wellberys neoidealistischen Überlegungen zu einer Idee der Literaturwissenschaft2 ); umgekehrt sieht sich in schlechter Praxis der Bezug zwischen Praxis und Norm bzw. Idee gestört. Dabei ist es nicht nötig, den literarischen Gegenstand theoretisch zu bestimmen (nach dem Motto »Was ist Literatur?«), denn er, der Gegenstand, wird sich in seiner Individualität in der Lektürepraxis erschließen. Philosophisch könnte man im Sinn Kants sagen, dass der Gegenstand in seiner allgemeinen Bestimmung als Literatur sich als die Form der Erkenntnis der philologischen Praxis erweist. Mein Gedanke lautet also, dass Qualität sich auf eine normative Idee der Philologie qua Praxis bezieht. Friedrich Schlegel hat schon um 1795 die Theorie einer philologischen Praxis begründet und damit wesentlich zur Entfaltung der Idee der Philologie beigetragen. Das Motiv dieser Theorie besteht darin, durch die Reflexion der Praxis die Praxis selbst zu verbessern. Freilich hat diese Theorie philologischer Praxis in der Geschichte der Germanistik wenig disziplinären Erfolg gehabt. Politisch-nationale Werte haben im 19. Jahrhundert dominiert, wenn es um die Bestimmung von Gegenstand und Methode ging; und im 20. Jahrhundert dominieren die philosophische Begründung (Stichwort: Geistesgeschichte3 ) und später die Theorien, die zu einer Szientifizierung des Fachs führen sollten, jedoch in der raschen Abfolge von theoretischen Paradigmen vor allem zum Bewusstsein bringen, dass man im Wesentlichen von anderen Fächern abhängig ist, aus denen diese Theorien importiert werden. Nur im Schatten des institutionellen Erfolgs der Germanistik wird man fündig, sucht man nach einer reflektierten Praxis im Sinn Schlegels: in den Literaturgeschichten von Wilhelm Scherer und Walter Muschg etwa, bis mit Hans-Georg Gadamer und Peter Szondi die philosophische und dann eine literarische Hermeneutik ausdrücklich in den 2 3

Vgl. David E. Wellbery, Carsten Dutt: Sed Contra III : Freiheit als Idee der Literaturwissenschaft?, in: The German Quarterly 87 (2014), H. 3, S. 257–276. Vgl. Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt a. M. 1993.

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Christoph König

Mittelpunkt der Beschäftigung mit Literatur gestellt wird.4 Worum es geht, möchte ich anhand eines Fragments aus Schlegels Notaten Zur Philologie erläutern: Die Kritik der schrift[lichen] Antiken beruht auf historischen Prinzipien – besonders die sogenannte höhere. [. . .] Die höhere Kritik ist wohl allerdings das Höchste der isolirten Philologie und Grammatik das Fundament. [. . .] Sollen Kritik, Grammatik und Hermeneutik bis zur Totalität vollendet werden; so erfodern sie eine historische Kentniß des Alterthums. 5

Entscheidend sind zwei Unterschiede, die Schlegel hier, mehr oder wenig ausdrücklich, trifft. Deutlich ist der Unterschied von wissenschaftlich und kunstmäßig: »Sollen sie wissenschaftlich und kunstmäßig behandelt werden.« Nur angedeutet und anderswo in den Notaten näher erläutert ist der Unterschied zwischen Grammatik und den anderen beiden philologischen Vermögen Kritik und Hermeneutik. »Sollen Kritik, Grammatik und Hermeneutik bis zur Totalität vollendet werden«. Im Grunde hat man eine dreifache Stufung vor sich, die den Weg beschreibt, die Philologie zu einer Totalität zu führen. Die Grundlage bildet (a) eine Wissenschaft, wie etwa die Grammatik (oder auch die niedere Kritik); darauf erheben sich (b) Hermeneutik und (höhere) Kritik. Der Unterschied wird als Unterschied von wissenschaftlich und kunstmäßig erläutert. Dabei haben die beiden Begriffe einen spezifischen Sinn, der Kants dritte Kritik voraussetzt. Wissenschaftlich ist in der Kritik der Urteilskraft ein Verfahren, das den Gegenstand nach Regeln untersucht; kunstmäßig ist ein Vermögen, diese Regeln zu gebrauchen, ohne selbst dafür Regeln zu besitzen.6 In diesem Sinn sind Hermeneutik und Kritik Vermögen. Doch das genügt Schlegel noch nicht; sein Ziel besteht darin, die Totalität eines Werks zu verstehen, indem jedes der Vermögen solcherart ausgedehnt wird, dass es alle anderen Vermögen umfasst. D. h. in einer kritischen Handlung sind Grammatik und Hermeneutik integriert; in der hermeneutischen Handlung sind Kritik und Grammatik mit involviert. Die Vollendung der Vermögen zur Totalität (und das ist nun der dritte Schritt (c) des Notats) eröffne das Verständnis der Kunstwerke. In anderen Notaten gibt Schlegel einen weiteren Begriff, der diesen letzten Schritt genauer beschreibt, nämlich den Begriff der »Cyklisation«, der die Anstrengung meint, durch Insistieren auf den Schwierigkeiten eines Werks, d. h. durch Anläufe aus immer neuen Richtungen, die 4

5

6

Vgl. Peter Szondi: Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik, in: ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. v. Jean Bollack u. Helen Stierlin. Frankfurt a. M. 31988 (= Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5), S. 404–408. Friedrich Schlegel: Zur Philologie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Hans Eichner. Paderborn u. a. 1981, S. 33–81, hier S. 38. Vgl. u. a. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Karl Vorländer. Hamburg 2009, §§ 47 u. 48.

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praktischen Vermögen stets weiter in die Höhe zu treiben.7 Darin erkennt man die philologische Gestalt einer allgemeinen Forschertugend, nämlich die der Hartnäckigkeit. In ihrer philologischen Gestalt ist die Hartnäckigkeit gekennzeichnet durch etwas, was ich die fremde Nähe zwischen Philologie und Kunst nennen möchte (und worauf Jürgen Kaube jüngst in einem Essay über die Funktion des Essays in der Literaturwissenschaft – spöttisch eher – aufmerksam gemacht hat8 ). Das Paradox einer kunstmäßig zu handhabenden Wissenschaft prägt die Philologie; das Paradox gehört zur Idee der Philologie und ist in guter Praxis zu reflektieren. Die Geschichte nach Schlegel lässt sich daher erzählen als das Bemühen, die in diesem Paradox erlangten Einsichten wissenschaftlich zu begründen. Der Komparatist Peter Szondi hat dafür eine eigene Gattung geschaffen, nämlich den wissenschaftlichen Essay, in dem er die eigenen Lebensleseerfahrungen anhand des Gegenstands objektiviert, steigert, verbessert und in diesem Sinn literarisiert. Statt persönliche Erfahrungen zu geben, wie es der Essay sonst tut, formuliert Szondi in seinen wissenschaftlichen Essays bereits objektive, durch eine sentimentalische Praxis geläuterte Erfahrungen.9 Unser heutiges Verständnis von Wissenschaft setzt an die Stelle der in die Kunst treibenden »Cyklisation« den wissenschaftlichen Diskurs: Nicht als Kunst begründe sich eine Einsicht, sondern im Argument. Die Kreativität, also das Vermögen, überraschend richtige Einsichten zu gewinnen und zu erkennen, ist damit aus der Reflexion in der Wissenschaft ausgeschlossen. Zugleich stellt sich damit eine andere Schwierigkeit, denn nun ist die Forschungspraxis mit den Institutionen der Wissenschaft verbunden, innerhalb derer die Gültigkeit von Argumenten allein anerkannt wird. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Wissenschaftlichkeit die Institution der Wissenschaft voraussetzt, dass sie sich jedoch der Institution nicht unterordnen darf, da in der Institution eines Fachs – wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt – auch eine große Rolle spielt, was den Erhalt der Institution (und den strategischen Erfolg der Professoren in den Fächern) gewährleistet, und zwar nach innen (als Stabilisierung der Disziplin) und nach außen (als gesellschaftliche Relevanz der Disziplin, oder als demokratische Legitimation).10 Beide Kri7

8 9 10

Der Gedanke wird entfaltet in: Christoph König: Grenzen der Cyklisation. Friedrich Schlegels Notate Zur Philologie als Form des Romans Lucinde, in: ders.: Philologie der Poesie. Von Goethe bis Peter Szondi. Berlin 2014, S. 36–55. Vgl. Jürgen Kaube: Der Essay als Freizeitform von Wissenschaft, in: Merkur 68 (2014), H. 1, S. 57–61. Vgl. ausführlicher Christoph König: Peter Szondis Ethik des wissenschaftlichen Essays, in: ders.: Philologie der Poesie (s. Anm. 7), S. 102–112. Vgl. dazu zuletzt Christoph König: »O komm und geh«. Skeptische Lektüren der Sonette an Orpheus von Rilke. Göttingen 2014, Kap. 2. Vgl. auch Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989; Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994. Eine auf die philologische Disziplin weltweit erweiterte Perspektive bieten

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terien sind dem, was ich die philologische Praxis nenne, äußerlich, sie stehen untereinander in Verbindung. Zuletzt hat Peter Strohschneider die zwei Begriffe Disziplin und Relevanz in einem Verhältnis notwendiger Interaktion entfaltet.11 Notwendig sei die Interaktion, weil der Selbstbezüglichkeit der Disziplinen (die ihre eigenen inneren Umwelten ausbilden) die Erwartungen demokratischer Mehrheiten entgegenzuhalten seien, um Prioritäten setzen zu können. Dieses systemtheoretische Modell hat alles Interesse am Erhalt einer Disziplin, denn nur so kann diese Spannung erhalten bleiben. Freilich funktioniert das Modell nicht mehr, wenn die Disziplin ihre Relevanz verliert (wenn heute also eine globale Reflexion der Philologien das Konzept der Nationalphilologien ersetzt; oder wenn Heinz Schlaffer sagt, es komme allein auf die Qualität im Fach an, selbst um den Preis, dass die Germanistik ein kleines Orchideenfach werde12 ). Um die von Peter Strohschneider geforderten produktiven Spannungen gleichwohl zu bewahren, sollte man daher alternativ eine Logik der subjektiven Forschung entwickeln, wo diese Spannungen, buchstäblich am Schreibtisch des Gelehrten und nicht disziplinär, aufrechterhalten werden. Eine Art immanenter Disziplinarität (mit eigenen Netzen und Fächerverknüpfungen, doch innerhalb der Universität) kann die Alternative bilden, deren Ort, und hier kehre ich wieder zu meinem Leitgedanken zurück, die Praxis des Einzelnen darstellt. Die gelungene Praxis des Einzelnen setzt also eine Universität innerhalb der Universität voraus. Damit kann ich zwischenzeitlich ein Fazit ziehen. Die gelungene philologische Praxis bezieht sich auf eine Idee der Philologie. Diese Idee muss sich mit den disziplinären Notwendigkeiten auseinandersetzen und benötigt hierfür innerhalb der disziplinären Institution eine eigene Institution. Vielfach ist das der Schreibtisch großer Gelehrter, oft ist es ein Netz von Gelehrten, die sich einem Dichter widmen und die herausbilden, was ich die »Autorenforschung« nenne, oft nachhaltig unterstützt von Autorengesellschaften (die Hofmannsthal-Gesellschaft, die Goethe-Gesellschaft, die Rilke-Gesellschaft). Autorenforschungen entwickeln eigene, auf den jeweiligen Autor bezogene Forschungsparadigmen, eigene Fragestellungen, ihre Sprechweisen (wer versteht außerhalb der Hofmannsthal-Forschung das Wort ›allomatisch‹?), einen spezifischen Literaturkanon. Die enorme fachgeschichtliche Bedeutung der vielen Autorenforschungen innerhalb der Disziplin bleibt bis

11 12

aktuell die beiden folgenden Bände: Sheldon Pollock, Benjamin Elman, Kevin Chang (Hg.): World Philology. Cambridge 2015; Sheldon Pollock: Kritische Philologie. Essays zu Literatur, Sprache und Macht in Indien und Europa. Göttingen 2015 (= Philologien. Theorie – Praxis – Geschichte, Bd. 2). Vgl. den Vortrag von Peter Strohschneider: Zur Komplexität der Forschungsuniversität, Universität Osnabrück, 10. 7. 2014. Vgl. Heinz Schlaffer: Die eingebildete Kranke. Lesen ist mühsam. Die klassische Literatur ist ins Exil geraten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 208, 7. 9. 1994.

Wie kann man über Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm sprechen?

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heute unbeachtet. Indem ich darauf den Akzent lege, kehre ich zu meiner Ausgangsfrage zurück: Wie kann man über den Turm begründeterweise sprechen?, und gebe eine erste Antwort: Indem man sich auf die Idee der eigenen philologischen Praxis bezieht und indem man prüft, inwiefern jene immanente Disziplinarität, von der ich spreche, sich von Disziplin und Relevanz löst, wenn sie autorenspezifische Paradigmata entwickelt. Das Besondere der Hofmannsthal-Forschung13 besteht – disziplinär gesehen – in der Nähe zu einer Artistenphilologie, die Hofmannsthal selbst entwickelt hat, also in der Anerkennung auch von Kunst als Telos jener »Cyklisation« (das ist etwa am ungewöhnlich hohen Anteil von Hofmannsthal-Zitaten in Aufsätzen über ihn ablesbar). Und im Einzelnen besteht sie aus Fragen, die immer wiederkehren: Ist das Werk Hofmannsthals in ein lyrisches Früh- und ein kulturelles Spätwerk geteilt, oder bildet es eine Einheit? Welche Rolle darf Hofmannsthals Autoreflexion (namentlich die Essays und das Ad me ipsum und die darin regierende Begrifflichkeit) spielen? Und so fort. Im Sinn der Wissenschaftlichkeit von Schlegel gilt: Man muss, um diese Idee der HofmannsthalForschung zu abstrahieren und in der Lage zu sein sie zu berücksichtigen, die Forschung kennen, nennen und diskutieren. Keine Herzoperation ohne die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Verfahren. Ich möchte meinen Gedankengang nun vorantreiben, indem ich prüfe, auf welche Weise in den Grundfragen der Hofmannsthal-Forschung, namentlich der Turm-Forschung, tatsächlich Fragen einer philologischen Praxis Ausdruck finden. Es gilt also, in der jeweiligen Beschäftigung eines Interpreten mit dem Werk zu erkennen, inwiefern dessen Praxis das Werk trifft. Das setzt die Klärung des Mediums voraus, in dem die Praxis mit dem Werk kommuniziert. Ich sagte zuvor, dass der literarische Gegenstand sich in seiner Individualität in der Lektürepraxis erschließt, und fügte hinzu, dass man im Sinn Kants sagen kann, der Gegenstand erweise sich in seiner allgemeinen Bestimmung als Literatur als die Form der Erkenntnis der philologischen Praxis – dem hätte auch Szondi zugestimmt. Die Praxis nun ist wesentlich non-diskursiv, insofern sie zu einer Lösung kommt kraft ihres Vermögens, Regeln ohne Regeln anzuwenden. Das hat meine Auslegung von Friedrich Schlegels Notat gezeigt. Man kann also von einer nicht-diskursiven Rationalität (James Conant, John McDowell) der Praxis sprechen.14 Entscheidend für 13

14

Vgl. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Gelehrten. Göttingen 2 2006 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte, Bd. 2), Kap. 5. Die Dissertation von Michael Woll, die auf der Hofmannsthal-Tagung 2014 in Basel vorgestellt wurde (vgl. den Tagungsbericht von Anna-Katharina Gisbertz in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 22 [2014], S. 323), wird die Hofmannsthal-Forschung bis heute mit dem Schwerpunkt der Komödie Der Schwierige darstellen. Vgl. John McDowell: What Myth?, in: Inquiry 50 (2007), S. 338–351; Robert Pippin: Leaving Nature Behind (On John McDowell’s Mind and World), in: ders.: The Persistence of Subjectivity. Cambridge 2005, S. 58–75. Die Frage stand im Zentrum eines TransCoop-Programms von James Conant, David Wellbery und Christoph König über »Das nicht-diskursive Denken

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die Verbindung von Praxis und Gegenstand ist nun folgendes Bedingungsverhältnis: Wenn sich innerhalb der Rationalität der Praxis das Werk zu erkennen gibt, so setzt das die Reflexion des Werks voraus. In seiner Reflexivität ist das Werk die Form der Erkenntnis der philologischen Praxis. Die Frage, ob das Werk in der philologischen Praxis zur Geltung kommt, ist die Frage, ob die Praxis die Reflexivität des Werks erkennt. Ein theoretischer Zugang zum Werk wäre genau nicht der richtige Weg, da eine Theorie (ob geschichtsphilosophisch, theologisch oder politisch) das Nicht-Diskursive der Praxis unterläuft. Die wichtigen Einsichten (der bedeutenden Turm-Forscher wie Hans Heinrich Schaeder, Walter Benjamin, William H. Rey, Gerhart Pickerodt oder Uwe Hebekus) stellen sich genau dort ein, wo die Einsichten sich trotz der Theorieannahmen als Lektüren durchgesetzt haben.15 Es geht also um einen a-theoretischen Zugang zur spezifischen Autoreflexion des Werks. Das ist gemeint mit dem hermeneutischen Prinzip »textus sui ipsius interpres«, das aus der Bibelexegese hergeleitet ist und den Kern einer Theorie philologischer Praxis bildet. Das Werk ist der Ausleger seiner selbst. Daran kann die Praxis anknüpfen. Das klassische Problem der Turm-Interpretation ist ein klassisches Problem der Philologie, nämlich eine Frage der ›höheren Kritik‹ (Friedrich Schlegel), insofern Kritik die Operation darstellt, die für die Konstitution von Texten sorgt: Worin besteht, fragen Interpreten im Sinn der Kritik, die Einheit und Ganzheit des Werks? Konkret lautet für den Turm die Frage, ob in der Kinderkönig-Fassung der Geist gegenüber der politischen Macht das letzte Wort habe (so argumentiert Schaeder 1928 geistesgeschichtlich), oder ob der Geist in die Sphäre von Macht und Politik trete und sich verunreinige und nur um den Preis von Sigismunds Tod und der Erscheinung des Kinderkönigs seine Totalisierung durchsetzen könne.16 Wer geschichtsphilosophisch die Niederlage des Geists akzentuiert, sieht in der Bühnenfassung das eigentliche Werk.17

15

16

17

von Goethe bis Wittgenstein« (2010–2014), gefördert durch die Alexander von HumboldtStiftung. Vgl. Hans Heinrich Schaeder: Bemerkungen zu Hofmannsthals Turm, in: Die neue Rundschau 39 (1928), H. 2, S. 84–87; zu Walter Benjamins Rezensionen vgl. König: Hofmannsthal (s. Anm. 13), S. 375–380; William H. Rey: Tragik und Verklärung des Geistes in Hofmannsthals Der Turm, in: Euphorion 47 (1953), S. 161–172; Gerhart Pickerodt: Hofmannsthals Dramen. Kritik ihres historischen Gehalts. Stuttgart 1968, S. 241–267; Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne. München 2009, S. 265–302. Vgl. in Benjamins Tradition Pickerodt: Hofmannsthals Dramen (s. Anm. 15); Walter Naumann: Hugo von Hofmannsthals Drama Der Turm, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 307–325, betont eine humanistische Utopie als Gehalt. Vgl. Rey: Tragik und Verklärung des Geistes (s. Anm. 15); Norbert Altenhofer: »Wenn uns die Zeit wird erwecken . . .«. Hugo von Hofmannsthals Turm als politisches Trauerspiel, in: Hofmannsthal-Forschungen 7 (1983), S. 1–17.

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In der Regel werden einzelne Sätze der Figurenrede ins Feld geführt und als Selbstreflexion des jeweiligen Werks genommen, um dessen Einheit zu bekräftigen. Auf dieser Grundlage gibt man externe, theorie- oder wertegebundene Gründe für die Priorisierungen. Heißt es: »Gebet Zeugnis: ich war da. Wenngleich mich niemand gekannt hat«,18 so wird darin der beste Ausdruck von Hofmannsthals politischer Utopie gesehen. Oder Sigismunds Satz am Ende der Bühnenfassung, »und ich bin hinter eine Wand getreten, von wo ich alles höre, was ihr redet, aber ihr könnt nicht zu mir und ich bin sicher vor euren Händen«,19 gilt als Hofmannsthals eigentliche politische, am Opfer ausgerichtete Theologie.20 Damit wird – in unterschiedlicher Radikalität – auch die Frage der Qualität des Stücks bzw. der Stücke gestellt. Auch das setzt (als Aufgabe philologischer Rhetorik) die philologische Praxis voraus. Drastisch zeigt Thomas Langhoff durch seine Wertung, dass auch die Philologen der Notwendigkeit unterstehen zu werten: Im Jahr 1992 führt er im Deutschen Theater in Berlin die Bühnenfassung auf, da – wie er sagt – ein schlechtes Publikum ein schlechtes Stück verdiene. Seine neue Form der Publikumsbeschimpfung besteht in der Beschimpfung eines Nach-WendePublikums, das er mit ›schlechten‹ Stücken traktiert.21 Kritik, Hermeneutik und Bewertung sind eins. Die Bezugnahme auf die Frage der Kritik und deren Anverwandlung in der Disziplin der Hofmannsthal-Forschung in der Beurteilung der einzelnen Fassungen und ihrer Zusammengehörigkeit ist gute philologische Praxis, doch wird sie der tatsächlich wirksamen Autoreflexion in Hofmannsthals Trauerspiel nicht gerecht. Jede Turm-Studie, gerade auch wenn sie einen thematischen Blick werfen will, muss angesichts des Schaffensprozesses und des heterogenen Resultats die Frage nach der Ganzheit der (einzelnen) Turm-Dichtungen stellen. Statt auf Theorien zu rekurrieren, ist die spezifische Rationalität des Werks freizulegen, um die Frage weiter zu entfalten, wie über den Turm zu sprechen ist. Man kann in den Werken Hofmannsthals eine Rationalität erkennen, die ihnen allen gemein ist. Insofern spreche ich von einem ›System Hofmannsthal‹. Es ist eine komplexe Rationalität, in der drei unterschiedliche 18

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Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XVI .1: Dramen 14.1 [Der Turm. Erste Fassung]. Hg. v. Werner Bellmann. Frankfurt a. M. 1990, S. 139 (im Folgenden zitiert als SW XVI .1). Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Bd. XVI .2: Dramen 14.2 [Der Turm. Zweite und Dritte Fassung]. Hg. v. Werner Bellmann in Zusammenarbeit mit Ingeborg Beyer-Ahlert. Frankfurt a. M. 2000, S. 94. Vgl. Hebekus: Ästhetische Ermächtigung (s. Anm. 15); zum ›Charisma‹ als politischem Leitbegriff vgl. Alexander Mionskowski: Souveränität als Mythos. Hugo von Hofmannsthals Poetologie des Politischen und die Inszenierung moderner Herrschaftsformen in seinem Trauerspiel Der Turm (1924/25/26). Wien u. a. 2015 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 23). Thomas Langhoff: Nachbemerkung eines Regisseurs, in: Hugo von Hofmannsthal: Der Turm. Ein Trauerspiel. Frankfurt a. M. 1992 (= Fischer Taschenbuch, Bd. 11729), S. 93 f.

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Beweggründe erkennbar sind: Zunächst die erkenntniskritische Klugheit, dass der eigene Wunsch, als Dichter das Ganze zu sagen, nicht erfüllbar ist – man muss das Ganze perspektivisch brechen, in einzelne Gattungen (die ihre jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen besitzen) oder in Bezug auf Kreise des Publikums, die je andere Ansprüche stellen; zweitens die Einsicht Hofmannsthals, dass seine Kreativität vom aparten Einzelnen ausgeht. Hofmannsthal schreibt (vermutlich im Dezember 1921) an Marie Luise Borchardt über seine Zeitschrift Neue deutsche Beiträge: Es sollen Dinge darin stehen, die einen nachdenken machen u. die einen lachen machen, sonderbare und bedeutende Tatsachen, Witze, Anekdoten – die Beschreibung einer wunderbaren Pflanze die einmal in solcher Vollkommenheit da war, oder eines bestimmten Wetters an einem bestimmten Vormittag, neben einer Anekdote über die heilige Teresa [. . .]. [. . .] richtige Curiositäten – aber doch darf es keine [sic] Curiositätenkramladen sein [. . .], es muss ein Etwas – wie nenne ich es? – Geist – Welt – Grösse – beständig hindurchwehen [. . .]. So hab ich mir ja dies »Redigieren« immer geträumt – dass man miteinander Blumen und schöne Steine sammelt, Meteoriten auch, wenns kommt – nicht dass man da sitzt und schreibt: hochverehrte Frau Huch, wollen Sie mir gütigst einen Essay aus Ihrer religiös-erotisch massgebenden Feder überlassen . . . – 22

Das »Etwas [. . .] Geist – Welt – Grösse« in dem Brief führt – nach der Erkenntnisklugheit und der Kreativität des Aparten – auf einen dritten Beweggrund, den die Werke preisgeben: Hofmannsthal sucht Werte großer Allgemeinheit, die den Status auratischer Kerne besitzen und mit dem Anspruch ausgestattet sind, die Werke zu erklären. Doch weil diese Werte allgemein sind, erweisen sie sich als zu schwach und unbestimmt, ein partikulares Gebilde hervorzubringen. Auf den Turm gemünzt, muss Hofmannsthal aus Sigismund und den Sätzen von ihm oder über ihn heraus das Drama schreiben. Sigismund hat den Status jener auratischen Kerne, die dramatisch zu entfalten sind. Der Kern will als Kommentar zum Entfalteten gelten. Doch in der Rationalität der Werke zeigt sich, dass es wiederum – im Einklang mit dem ›System Hofmannsthal‹ – die konkreten, heterogenen Traditionen, die Gattung des Dramas und das konkrete Publikum mit seinen Schattierungen sind, denen die Turm-Fassungen ihre Rationalität verdanken. Der neue Ernst Hofmannsthals nach dem Ersten Weltkrieg gibt dem ganzen Unterfangen einen neuen Sinn: Konnte er früher mit auratischen Wörtern die Ganzheit eines Werks, das aus aparten Einzelheiten gemacht war, beschwören (und darin zwischen den Gattungen wenig Unterschiede machen), so handelt es sich nun um das Projekt einer Neuschöpfung der öffentlichen Kultur: Das Aparte soll zum Teil einer als Einheit verstandenen Ordnung werden; das Drama hat – anders als das frühe lyrische Drama – die Aufgabe, die dramaturgische Entwicklung (oder ›Pragmatik‹, wie Hofmannsthal 22

Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Text. Bearbeitet v. Gerhard Schuster. München, Wien 1994, S. 292 f.

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sagt23 ) aus der Figurenrede zu entfalten; und die Übereinstimmung mit den Gesprächspartnern (sei es Carl Jacob Burckhardt oder Walter Benjamin oder Max Reinhardt) erweist sich nun als Garant des Gelingens einer dramatisch begründeten Kultur. Meine Antwort auf die Frage, wie man über den Turm sprechen kann, lautet daher: Die Schwierigkeiten Hofmannsthals sind zu rekonstruieren, die Ansprüche der komplexen Rationalität in der dichterischen Praxis zu trennen, jeweils für sich zu würdigen und dann zu vereinen. Der Sinn des Turm besteht in dieser seiner Arbeit am Sinn. Ich möchte ein Beispiel geben. Von den Dissoziationen, mit denen diese Arbeit am Sinn zu tun hat, wähle ich das Verhältnis von Traditionen, Figur und Handlung. Systematisch kämen hinzu die Dissoziation zwischen Plot und Figurenrede (der Wille Hofmannsthals, nichts auszulassen, paart sich mit dem Unvermögen, das Registrierte dramatisch zu bändigen; das betrifft vor allem die politischen Reden, einschließlich der national-konservativen Reden der Aristokraten im fünften Aufzug und des Antisemitischen in der Figurengestaltung des sogenannten Juden Simon). Und es käme hinzu die Dissoziation innerhalb des Theater- und Lesepublikums, samt des Risikos für die Einheit des Werks, das Hofmannsthal eingeht, indem er sich den verschiedenen Ansprüchen stellt. Hofmannsthal baut Figur und Handlung aus Kulturgedanken. Die Quellen sollten nach Möglichkeit schon so zubereitet sein, dass das Drama einen notwendigen Lauf nimmt. Die Identität von Figur und Handlung ist innerhalb des heterogenen, historistisch versammelten Materials zu behaupten. Mit dem editorischen Apparat in den Sämtlichen Werken wird das eindringlich vor Augen geführt – nicht zuletzt durch ihren Apparat setzen sie eine Zäsur in der Hofmannsthal-Forschung. Vor allem auf die Eigennamen und auf Geschichtskonstruktionen kommt es an, sie beanspruchen beide, das Material zu bändigen. Die Handlung des Stücks verlässt sich in der ersten Hälfte auf die (vor allem vom Arzt reflektierte) adamitische Identität des Sigismund; später muss Sigismund, damit er in der Welt handeln kann, ein Fürst werden – der Übergang wird legitimiert durch Renaissancemodelle eines Dreischritts von Paradies, Sündenfall und Reinigung. Die zwei Fassungen des Turm unterscheiden sich dadurch, dass in der späteren Bühnenfassung auf den Gedanken des Fürsten und des Dreischritts verzichtet wird, indes bleiben in beiden Fassungen die Kulturgedanken virulent: Wie kann aus Sigismund qua Adam ein Fürst werden? Wie ist die utopische Gestalt des Kinderkönigs im Sigismund der zweiten Fassung ohne den weltlichen, machtgeprägten Zwischenschritt möglich? Hier stößt die Arbeit des Sinns an ihre Grenzen, die Grenzen der ästhetischen Qualität sind. Hofmannsthal hat für Eigennamen respektive 23

Vgl. die Aufzeichnungen mit dem Titel Vertheidigung der Elektra vom Juni 1903, in: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. VII : Dramen 5. Hg. v. Klaus E. Bohnenkamp u. Mathias Mayer. Frankfurt a. M. 1997, S. 368.

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Geschichtskonstruktionen verschiedene Quellen herangezogen. Vor allem Konrad Burdach kam ihm zu Hilfe. Für die ersten Aufzüge sind Burdachs Quellenstudien über Moses und den Ackermann aus Böhmen bedeutsam, für Übergang und Fortsetzung des Trauerspiels war wichtig, was Burdach zur Renaissance (namentlich in dem Buch Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation, 1910) sammeln konnte, deren Deutung als Wiedergeburt aus der Krise Hofmannsthal anzog.24 Das Material war also von vornherein reflexiv; ein fließender Übergang von der Poesie der Quellen zu der des Werks zeigt sich. Eigennamen sollen das Problem lösen, wie verschiedene Gedankenfiguren aus der Tradition auf das Verhältnis des ausgezeichneten Einzelnen zu Gott (und zur Welt) verpflichtet werden können. Wenn Julian Sigismund im zweiten Aufzug verdeutlicht, wie er ihn geformt habe, so werden die Quellen, deren Ausrichtung (also der Sinn der Quellen) und zuletzt – in der Reflexion – ihre Identität im Namen genannt. Julian erzählt Sigismund dessen Bildungsgang. Er hat ihm als Welt dargestellt, was Hofmannsthal in den Quellen fand (»Hab ich dir nicht erzählt, von Moses mit den Tafeln und Noah mit der Arche und Gideon mit dem Schwert und David mit der Harfe«25 ), und ihm den Sinn jener Quellen, d. h. deren Traditionsmuster eingeprägt (»und dein Angesicht nach oben gerissen zum Gewölb des Himmels, dahinter Gott wohnt?«26 ). Sigismund hält dagegen, dass alles, was er wisse, ihm fern sei und er es nur in seinem eigenen Namen (›magisch‹) zu kontrollieren vermag: »Ein furchtbares Wort aber ist: das wiegt alle anderen auf!«27 Der Eigenname beansprucht, die mit ihm als Autoreflexion des Werks genannten Probleme im Umgang mit der Tradition zu lösen. Die Geschichtskonstruktionen sollen das Problem lösen, wie das Material in eine Sukzession gebracht werden kann. Für den fünften Aufzug exzerpierte Hofmannsthal (wie er es nannte) ›Weltstände‹ »sec. Joach. de Floris«28 : Gesetz – Gnade – Glaube, Wissen – Weisheit – Vollkommenheit, Furcht – Glaube – Liebe. Die Figuren im Drama entsprechen den Stationen: Von den drei Zeitaltern des Joachim von Fiore nimmt Sigismund in der zweiten Hälfte der Kinderkönig-Fassung jeweils die 24

25 26 27 28

Vgl. Konrad Burdach: Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation. Berlin 1910; ders.: Faust und Moses, in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften (1912), S. 358–403, S. 627–659 u. S. 736–789; ders.: Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung. Berlin 1917 (21920); ders.: Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst. Berlin 1918; Der Ackermann aus Böhmen. Einleitung, kritischer Text, vollständiger Leseapparat, Glossar, Kommentar. Hg. v. Alois Bernt u. Konrad Burdach. Berlin 1917 (= Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung, Bd. 3.1). SW XVI .1, S. 63. SW XVI .1, S. 63. SW XVI .1, S. 63. SW XVI .1, S. 368 f.

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mittlere Position ein. Das entspricht dem »Moses«, den er (von Julian her) in sich trägt. Nur mehr ein Blick auf »Israel« wird ihm gestattet sein. Der Adam im Moses (also das Modell aus den ersten Akten) interessiert nicht mehr. Und im nun aktuellen Modell erst wird der Kinderkönig notwendig. Wer über das Werk spricht, muss also damit zurechtkommen, dass die Gedanken im Stück einander ausschließen, ohne – kraft des Dramas – wie in einer Diskussion verhandelt zu werden (dazu tritt die zweite Problematik, dass diese Gedanken die Traditionen nicht restlos bändigen – Sigismund hat viele Züge mit Adam, Simson, Moses, Christus etc. gemeinsam, die sich voneinander unterscheiden und jeweils andere Folgen für die Handlung verlangen29 ). Ich ziehe daraus den Schluss, dass allein in Bezug auf Hofmannsthals poetische Skepsis, wie sie in der komplexen Autoreflexion seiner Werke greifbar ist, eine insistierende Lektüre erfolgreich sein kann, die über den Sinn des Turm im Sinn des Werks urteilt, als erfolgreiche Herzoperation gewissermaßen, wenn ich an Bollacks warnende Frage erinnern darf, also nicht von außen, sei es von einer Theorie aus oder einer einzelnen Tradition oder einer bestimmten politischen Absicht, sondern in der philologischen Kritik.

29

Vgl. König: Hofmannsthal (s. Anm. 13), S. 335–337.

Personelle Veränderungen im Vorstand der IRMG Anlässlich ihrer alle drei Jahre stattfindenden Mitgliederversammlung hat die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft (IRMG) am 22. Mai 2016 einen neuen Vorstand gewählt. Prof. Dr. Klaus Amann, der die IRMG seit 2009 als Präsident geleitet hatte, stand nach seiner Emeritierung nicht mehr zur Wahl. Zum neuen Präsidenten wurde Norbert Christian Wolf, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Paris-Lodron-Universität Salzburg, gewählt. Prof. Dr. Birgit Nübel (Leibniz Universität Hannover) und Dr. Massimo Salgaro (Università di Verona) sind künftig als Vizepräsidentin bzw. Vizepräsident tätig. Mit der Präsidentschaft von Norbert Christian Wolf wurde auch die Geschäftsstelle von Klagenfurt nach Salzburg verlegt. Harald Gschwandtner, der den Beiträgern des Musil-Forums als Redakteur bekannt ist, hat nun die Geschäftsführung inne und wird u. a. für die organisatorische Abwicklung von Tagungen verantwortlich sein. Prof. Dr. Rosmarie Zeller betreut weiterhin als Kassiererin die finanziellen Belange der IRMG . Im Rahmen dieser Neuordnung soll in Kürze auch die Homepage der Gesellschaft neu aufgebaut werden. Die IRMG dankt Klaus Amann sehr herzlich für die Arbeit, die er in den letzten Jahren im Sinne Robert Musils geleistet hat. Unter seiner Präsidentschaft hat die Gesellschaft – neben zahlreichen kleineren Aktivitäten am Klagenfurter Robert Musil-Institut – die beiden größeren Tagungen »Robert Musil und das literarische Leben seiner Zeit« (Klagenfurt 2012) und »Robert Musil und der Erste Weltkrieg« (München 2014) veranstaltet, deren Ergebnisse in Schwerpunktbänden des Musil-Forums publiziert wurden. Auch dem bisherigen Geschäftsführer PD Dr. Walter Fanta, der weiterhin Mitglied des Vorstandes sein wird und am Musil-Institut das neue Portal MUSIL ONLINE sowie die neue Musil-Ausgabe im Jung und Jung Verlag betreut, sei für seine langjährige Arbeit nachdrücklich gedankt.

Klaus Amann

Zur Verleihung des Ehrendoktorats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt an Karl Corino (5. Dezember 2014)

Karl Corino ist heute der weltweit bekannteste und angesehenste Musil-Forscher. Er hat seit 1966 mehr als ein halbes Dutzend Bücher und mehr als 70 Aufsätze allein zu Musil publiziert. Seine Arbeiten sind in renommierten Fachzeitschriften erschienen, aber auch in der überregionalen und internationalen Presse und haben damit eine enorme Breitenwirkung entfaltet. Ihr Charakteristikum ist, dass sie stets neue Quellen erschlossen haben und deshalb zu Grundlagenarbeiten der Musil-Philologie geworden sind. Karl Corinos Bezug zu Musil umfasst und bestimmte sein gesamtes Erwachsenenleben. Er hat bereits 1966/67 den Nachlass des Dichters in Rom geordnet und katalogisiert – gemeinsam mit seiner späteren Frau Elisabeth Albertsen, die auch heute an seiner Seite ist. 1969 promovierte er in Tübingen mit einer Arbeit über Musil; bei Friedrich Beißner, dem Haupt der damaligen Editionswissenschaft. Da man von Musil nicht leben kann, das konnte nicht einmal der Dichter selber, arbeitete Corino seit 1970 als Redakteur in der Literaturabteilung des Hessischen Rundfunks, ab 1985, bis zu seiner Pensionierung, als deren Leiter. Was immer also Corino geforscht, recherchiert, zusammengetragen, kommentiert und publiziert hat, ist neben seiner Berufstätigkeit entstanden. Dabei war Musil keineswegs der einzige Schauplatz seiner wissenschaftlichen Passionen, wenn auch mit Sicherheit der aufwändigste und der mit dem meisten Herzblut gespeiste. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Corino auch einer der besten Kenner der Literatur der ehemaligen DDR ist. Neben seinem Musil-Schwerpunkt hat er ein Dutzend Bücher aus anderen Bereichen veröffentlicht; darunter über Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, über Autoren im Exil, über Genie und Geld und über Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik. Die Zahl seiner Artikel, Essays und Aufsätze in Zeitschriften und überregionalen Zeitungen liegt weit jenseits der 500. Er hatte eine Gastprofessur an der Washington University in St. Louis, war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin, aber auch Mitglied der Jury des Bachmann-Preises, bewundert ob seiner enzyklopädischen Kenntnisse, gefürchtet ob seines analytischen Verstandes. Ich weiß, wovon

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ich spreche. Er war mein Sitznachbar. Und er ist ein beachtlicher Lyriker, aber das ist eine andere Geschichte. Zurück zu Musil. Da sind vor allem Corinos drei monumentale Buchpublikationen zu nennen, die mittlerweile die Grundlage jeder historischen, biographischen und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem epochalen Werk bilden: – Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1988. [Eine 500 Seiten starke Quellenedition im Großformat, u. a. mit mehr als 750 historischen Fotos, mit biographischen Dokumenten und Texten; der überwiegende Teil des Materials war bis dahin unbekannt. Gesamtauflage bisher 11 000 Exemplare.] – Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2003. [Das Standardwerk zu Musil, Umfang: 2026 Seiten; mehrere Auflagen und Übersetzungen, u. a. ins Niederländische und eine dreibändige Übersetzung ins Japanische.] – Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Hg. v. Karl Corino. Wädenswil: Nimbus 2010 (= En face, Bd. 2). [Zeugnisse, Aussagen, Erinnerungen von Zeitgenossen: Angehörigen, Freunden, Schriftstellerkollegen, Verlegern, Lektoren etc. Umfang: 508 Seiten im Großformat.] Das Erscheinen der Biographie 2003 wurde von der Fachwissenschaft ebenso wie von der literarischen Öffentlichkeit gefeiert – »ein Meilenstein der Literaturwissenschaft« wurde das Buch genannt. Ich vermöchte kein vergleichbares Werk zu nennen, das es in Materialreichtum, Breite und Differenziertheit der Perspektiven, Vielfalt der methodischen Zugänge und Eleganz der Darstellung mit Corinos Biographie aufnehmen könnte. Es kommt Musils eigenem Schreibideal von »Genauigkeit und Seele« ziemlich nahe. Ich bleibe deshalb ein bisschen bei diesem Buch. Virginia Woolf schrieb, als sich nach dem Erfolg ihres Romans The Waves (1931) Journalisten verstärkt für sie zu interessieren begannen, alarmiert in ihr Tagebuch: »Das ist ein Zeichen von Gefahr«. Eine solche Reaktion auf öffentliche Beachtung wäre Robert Musil nicht in den Sinn gekommen. Er war sich seines Rangs, ja seines ›Ewigkeitswertes‹, bewusst und fühlte sich zeitlebens zu wenig beachtet und gewürdigt. »Jetzt bin ich nicht berühmt«, soll er Anfang der 1930er Jahre im Gespräch gesagt haben – »Aber wenn ich einmal tot bin!« Allerdings hielt er es denn doch »für ein rechtes ontologisches Kunststück«, erst »auf seinen Tod warten zu müssen, um leben zu dürfen«. Deshalb beobachtete er den Erfolg anderer scharf, selbst den des heute fast vergessenen Franz Theodor Csokor, den jenes Burgtheater aufführte, das Musils Schauspiel Die Schwärmer (1921) abgelehnt hatte. Im Tagebuch erleichterte Musil sich so: »An einen zukünftigen Literärhistoriker: Mein Herr! Ich erwarte Sie. Denn bei der zunehmenden Entfernung von der älteren Literatur wird es unvermeidlich, daß ich auch wie Csokor . . . daran komme(n)«. Musil hat, bevor

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die Nazis daran gingen, sich und die deutsche Kultur zu sanieren, indem sie die halbe Welt ruinierten, die Ankunft jenes ›Literärhistorikers‹ nicht mehr erlebt. Die Literaturgeschichte ist, wie Musil nicht ohne Bitterkeit feststellte, meist eine »Belohnungsanstalt für Tote«. Und es hat auch nach seinem einsamen Tod in der Schweiz – nur acht Trauernde haben ihn auf seinem letzten Weg zum Genfer Krematorium im April 1942 begleitet – noch geraume Zeit gedauert, bis er mit der Neuausgabe seiner Werke durch Adolf Frisé aus dem schwarzen Loch des Vergessens geholt wurde. Was eine gründliche und umfassende Biographie angeht, ist Musil erst 60 Jahre nach seinem Tod ›drangekommen‹. Mehr als drei Jahrzehnte hat Corino an dem Werk gearbeitet. Die größte Schwierigkeit dabei war: Wie bei so vielen Autorinnen und Autoren seiner Generation sind auch bei Musil große Teile des persönlichen und des literarischen Nachlasses vernichtet. Freunde, Verwandte und Gewährsleute sind umgekommen oder in alle Welt zerstreut worden. Musil musste, als er im Herbst 1938 mit seiner Frau Martha, die als Jüdin akut bedroht war, aus Wien floh, außer dem Material zum Mann ohne Eigenschaften so gut wie alles in seiner Wohnung in der Rasumofskygasse zurücklassen, was er bis zu seinem 58. Lebensjahr geschrieben, gesammelt und aufbewahrt hatte: Manuskripte, Korrespondenzen, Fotos, Dokumente, seine Bibliothek. Kurz: die wichtigsten Quellen für eine Biographie. Bei Kriegsende ging alles durch Bombardierungen und Plünderungen verloren. Und wie legt man, dies ist die nächste Frage, die Lebensbeschreibung eines Menschen an, der, zumindest seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Grunde keine Biographie hatte, dessen Leben sich so ereignislos wie das eines biederen Beamten zwischen festen Stunden am Schreibtisch, Spaziergängen, Sport, Kaffeehaus- oder Kinobesuchen und gelegentlichen Urlauben abspielte, die primär der Wiederherstellung der angegriffenen Gesundheit dienten? Der entscheidende Unterschied zur Beamtenexistenz war, dass ein beträchtlicher Teil von Musils Zeit und Kraft durch die Sorge um das finanzielle Überleben gebunden war. »[D]aß du nicht berühmt bist«, schrieb er ins Tagebuch, »ist natürlich; daß du aber nicht genug Leser [. . .] zum Leben hast, ist schändlich.« Das ›Weiterleben‹: bloß eine, wie er fand, »unvermeidliche Aufgabe«. Der Suizid als letzter Ausweg geistert durch Briefe und Tagebücher. Die Pistole lag im Nachtkästchen bereit. Im Tagebuch schrieb er: »Der Faden, an dem unser Leben hängt, ist schon außerordentlich dünn.« 1934 gesteht er seinem Freund Franz Blei: »[I]ch [bin] ein Bündel seelischer und körperlicher Trauerschleier.« Wie, schließlich, könnte die Biographie eines Mannes aussehen, der im Mann ohne Eigenschaften die Möglichkeit, das, was man ein Ich nennt, über seine Eigenschaften, Erlebnisse und Handlungen zu beschreiben, auf ebenso vielen Seiten bestreitet wie Corinos Biographie umfasst. Nur die Ideologen und die Fanatiker lassen sich bei Musil als feste Charaktere fassen. Die an-

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Klaus Amann

deren, und das sind zweifellos die interessanteren, verfügen über ein höchst fragiles, widersprüchliches und unsicheres, mit seinem Wort: ›gestaltloses‹ Ich. Corino wählte für seine Darstellung ein Modell, für das ihm Musil selber die Stichworte lieferte. Es ist die im berühmten achten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften entwickelte Vorstellung vom Ich als einem Ensemble verschiedener Rollen, die es prägen, mit denen es jedoch nicht identisch ist. In Musils Worten: Jeder habe »mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter«. Da aber der einzelne letztlich nichts anderes als eine »von diesen Rinnsalen ausgewaschene Mulde« sei, verfüge er noch über einen zehnten Charakter, der ihm alles erlaube, nur das eine nicht: das ernst zu nehmen, was seine anderen neun Charaktere tun. Diesen Raum des Zusammenwirkens und der Aufhebung der verschiedenen Rollen im Ich, der den Charakter eines Menschen ausmacht, hält Corino prinzipiell für unbetretbar und für nicht beschreibbar. Er bleibe das Geheimnis eines jeden Menschen. Corino verfügt über ein beeindruckend großes und differenziertes Register an Darstellungsmöglichkeiten, an psychologischen Zugängen und historischen Deutungsansätzen, doch er hat als Biograph nicht die Ambition, dieses Geheimnis, das bei Musil vielleicht noch etwas komplexer als bei uns Durchschnittsmenschen sein mag, zu enträtseln. Er beschreibt vielmehr die unterschiedlichen Rollen, in denen Musil auftritt, nebeneinander und bezogen auf die jeweiligen historischen und sozialen Milieus. Da kommt, vom jugendlichen Liebhaber über den Weltkrieg-Eins-Offizier bis zum Vorsitzenden der fortschrittlichsten Schriftstellervereinigung Österreichs (SDSOe), über das harmlos-vordergründige Bild vom Beamten hinaus doch einiges zusammen. Corino liefert, kurz gesagt, das erzählerisch und dramaturgisch perfekt arrangierte biographische Aktionsfeld – Musil als Person zeichnet er nicht. Bei Corino stehen für Musil ebenfalls mindestens zehn Charaktere zur Besichtigung bereit. Er hat den Ehrgeiz, die Personen, die in Musils Leben eine Rolle spielten, möglichst vollzählig und in ihrer jeweiligen Bedeutung für ihn und sein Werk vorzustellen – das heißt in ihren familiären, sozialen, beruflichen, ökonomischen, geistigen oder erotischen Wechselbeziehungen mit den verschiedenen rollenspezifisch ausdifferenzierten Charakteren Musils. Die Quellennachweise des gut 2000 Seiten starken Buchs vermitteln eine Ahnung von der damit verbundenen Arbeit: Hunderte von Lebensgeschichten waren zu rekonstruieren, Tausende von Fakten zu recherchieren, Akten und Korrespondenzen zu studieren – in Archiven, Universitäten, Gerichten, Krankenhäusern, Verlagen, Redaktionen, Vereinen, Friedhofsverwaltungen, Pfarr- und Gemeindeämtern; den Wegen Robert und Martha Musils war nachzugehen, ihre in den 1960er und 1970er Jahren noch lebenden Freunde und Bekannten in aller Welt waren zu befragen usw., usf. In mehreren Fällen hat Corino

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sogar über meteorologische Stationen die Wetterverhältnisse für bestimmte Zeiten und Orte feststellen lassen. Insofern ist die Darstellung, mit einem Wort aus dem Mann ohne Eigenschaften, »bis in die Abschweifungen hinein methodisch«. »Es ist die Literatur, die das Bild eines Landes bestimmt«, sagt Peter Handke, auch er ein Ehrendoktor dieser Universität. Doch um die Literatur in ihrem existenziellen und auch in ihrem kritischen Kern zu verstehen, ist es nötig, die Voraussetzungen und Bedingungen ihres Entstehens zu kennen und zu reflektieren. Mit Corinos Biographie haben wir eine Darstellung in Händen, die diesem Anspruch in jeder Hinsicht gerecht wird und die der Bedeutung des Weltautors Musil entspricht. Und das in einer geistigen und sprachlichen Form, die ihrem Gegenstand gewachsen ist. Mit seinen Arbeiten hat Karl Corino nicht zuletzt auch eine Grundlage für das Zustandekommen der Klagenfurter Ausgabe gelegt. Diese kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften des Dichters hat das Musil-Institut 2009, nach mehr als 10-jähriger Vorbereitungszeit, auf DVD veröffentlicht. Ohne die von Corino erschlossenen Quellen, ohne seine Recherchen, Erkenntnisse und Deutungen wäre es nicht möglich gewesen, den Kommentar zur Klagenfurter Ausgabe mit vergleichbarer Präzision und Tiefe zu verfassen. Mehr als eineinhalb Jahrzehnte ist Karl Corino den Klagenfurter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des gewaltigen Projekts, das international als Pionierleistung angesehen wird, zur Seite gestanden. Dass er gemeinsam mit Walter Fanta und mir als Mitherausgeber dieser Edition fungiert, ist der schöne Ausweis dieser Zusammenarbeit. Durch die Verleihung des Ehrendoktorates an Karl Corino wird ein Lebenswerk gewürdigt, das sich in vielem mit Bestrebungen berührt, die die Universität Klagenfurt von Anfang an verfolgte – von den bahnbrechenden Projekten zur Erschließung des Musil-Nachlasses von Friedbert Aspetsberger bis zu der von mir betriebenen Gründung des Musil-Instituts. Eine höhere Auszeichnung hat die Universität nicht zu vergeben – es ist mir eine Ehre und auch eine Freude, daran mitwirken zu dürfen. »Es ist passiert«, heißt es im letzten Absatz des Kakanien-Kapitels des Mann ohne Eigenschaften. »Es ist passiert«: Mit diesem – wie Musil schreibt, »eigenartige[n], nirgendwo im Deutschen oder einer andern Sprache vorkommende[n] Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschläge so leicht wurden wie Flaumfedern und Gedanken« – mit diesem, so gesehen, genuin Musil’schen Wort, lieber Karl Corino, möchte ich schließen. »Es ist passiert« – jetzt wirst Du in Musils Geburtsstadt auch noch ehrenhalber promoviert: Nichts Ärgeres möge Dir passieren!

Karl Corino

Dankesrede Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aufrichtig für die hohe Ehre, die mir heute zuteil geworden ist. Konkret gilt mein Dank Herrn Rektor Oliver Vitouch, dem Senat als dem Vertretungsorgan aller Fakultäten, dem Promotor und stellvertretenden Senatsvorsitzenden, Professor Matthias Lux, und schließlich dem Laudator, Professor Klaus Amann, dessen schöne Rede mir das Verfahren plausibel gemacht hat. Alles begann mit den Kühen. Eines Tages im Herbst 1959 drückte mir ein Dinkelsbühler Schulkamerad das Taschenbuch Kitsch, Konvention und Kunst von Karlheinz Deschner in die Hand, ein Werk, das damals in Schülerkreisen Furore machte, weil es die literarischen Götter der Lehrer – Hesse, Carossa, Bergengruen – stürzte und andre Bildsäulen errichtete: Trakl, Broch, Jahnn, Musil. Auf Seite 50 las ich die ersten Sätze, die ich von Musil zu Gesicht bekam: Sie stammten aus der Novelle Grigia und schilderten den morgendlichen Gang des Helden über eine Bergwiese in Südtirol: Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen, steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas zur Seite hängend, sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen, erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden.

Als Bauernsohn hatte ich von Kindheit an viele tausend Stunden mit Kühen verbracht und kannte alle ihre Lebensäußerungen, aber so, wie dieser Musil über diese Tiere schrieb – so etwas hatte ich noch nicht gelesen. Da wurden eine Sympathie, eine Bewunderung, ein Engagement gestiftet, die fünfeinhalb Jahrzehnte, bis zum heutigen Tag anhielten. Ich ahnte nicht, dass mit dieser Lektüre über mein Leben entschieden wurde. Ich hätte meine Frau Elisabeth nicht gefunden, ich hätte nicht die Kinder und Enkel, die ich habe, ich wäre, engagiert durch den Musil-Herausgeber Adolf Frisé, nicht Redakteur des Hessischen Rundfunks geworden, hätte ein ganz anderes Berufsleben gehabt.

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Als ich 1965 in Tübingen überlegte, über wen ich promovieren wollte, stand sofort fest – Musil. Seine Gleichnistheorie interessierte mich damals besonders. Professor Friedrich Beißner akzeptierte das Thema. Er hatte zuvor schon Wilhelm Bausingers Mammut-Dissertation mit Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften betreut. Freilich wusste Beißner nicht, was der römische Nachlass sonst noch an Problemen und Schätzen barg. Es waren die abenteuerlichen Jahre der Musil-Forschung, weil Musils Papiere großenteils noch einer black box glichen. Sie waren nur foliiert und, wie wir dann feststellten, erst teilweise transkribiert. Die Klagenfurter Ausgabe mit ihren Faksimiles, kompletten Texten und Suchfunktionen lag noch in märchenhafter Ferne, PC und Internet gleichfalls, Xerox-Apparate waren selbst in Rom eine Seltenheit. Man war auf seine Schreibmaschine, seinen Zettelkasten und sein Gedächtnis angewiesen. Freilich, bei der Arbeit an den zu untersuchenden Texten ergaben sich immer wieder Fragen, die von Tübingen aus nicht zu lösen waren. Was lag also näher, als sich mit dem Forscher-Ehepaar Kaiser-Wilkins in Verbindung zu setzen, das seit 1954 am Nachlass in Rom arbeitete. An Ostern 1966 erreichte uns, meine Mitdoktorandin Elisabeth Albertsen und mich, unverhofft die Einladung, die beiden in Bad Wiessee zu besuchen. Wir fuhren hin, man fand einander sympathisch, man fachsimpelte – und am Schluss stand die Frage, ob wir uns vorstellen könnten, für ein Jahr nach Rom zu kommen, Musils Nachlass zu katalogisieren und für eine neue Mikroverfilmung vorzubereiten. Prof. Hermann Bausinger, der Bruder des 1964 tödlich verunglückten Wilhelm Bausinger, warb bei der Thyssen-Stiftung ein 1000-Mark-Stipendium für Elisabeth Albertsen ein, ich bekam nach dem Honnefer Modell knapp die Hälfte – die Sache konnte steigen. Von 21. bis 23. Juli 1966 war ich erstmals in Klagenfurt. Das Musil-Institut im Geburtshaus des Autors ist heute das wichtigste Forschungszentrum weltweit und der Sitz der Internationalen Musil-Gesellschaft. Die Anfänge waren bescheiden. Karl Dinklage hatte für seinen Sammelband von 1960 über Musils Leben, Werk, Wirkung zwar wichtige Archivalien zusammengetragen, aber sie passten, wie der gutmütige Spott damals lautete, noch unter sein Bett in der Paulinenstraße 16. Ohne Spaß: Sie waren die Grundlage jeder künftigen Biographie. Karl Dinklage wollte mich nicht nur kennenlernen, er wollte prüfen, ob ich Musils Schrift lesen könne. Die Prüfung im Souterrain der Draukraft, wo von einem Mikrofilm des Musil-Nachlasses Kopien gezogen wurden, fiel offenbar gut aus – ich bekam seinen Segen. Aus dem Gedächtnisprotokoll meines ersten Klagenfurter Aufenthalts geht hervor, dass ich in stundenlange Gespräche über die Religiosität Musils und der Musil-Forscher verwickelt wurde; ich erfuhr von Fritz Wotrubas steter Warnung vor dem Musil’schen Unstern und Näheres zum frühen Tod Wilhelm Bausingers: überrollt von einem Lastkraftwagen. Ich erfuhr schließlich, dass Musils Jugendfreund Gus-

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tav Donath gegenüber Gerhild Dinklage jede weitere Auskunft verweigerte, nachdem er die Musil’schen Tagebücher gelesen hatte. Dabei wären seine Aussagen so wichtig gewesen. Er kannte die Geheimisse von Musils Jugend. Und – Bezug zu Kärnten – seine Frau Alice, Modell der sanft verrückten Clarisse im Mann ohne Eigenschaften, hatte während des Ersten Weltkriegs auf Schloss Freudenberg und danach bis 1926 in der Sattler’schen Villa am Magdalensberg gelebt. Durch spätere Recherchen erfuhr ich Näheres darüber, wie Alice-Clarisse in Kärnten Buße tat für einen ehelichen Fehltritt, wie sie ihren religiösen Wahn lebte und wie sie manchmal unterm Bademantel nackt nach Klagenfurt fuhr. »Clarisse geht in die Einsamkeit«, lautete die Notiz Musils für diese Lebensphase seiner Figur. Sie bot die Umrisse, die Binnenzeichnung musste nachgeholt werden. Jedenfalls machte ich es mir zur Regel, alle Aussagen der Musil’schen Texte zunächst einmal wörtlich zu nehmen und sie durch Recherche, jenseits intuitiver Gewissheit, entweder zu erhärten oder zu widerlegen. Wenn es z. B. von dem Sexualmörder Moosbrugger hieß, Ulrich habe »alles bloß in der Zeitung gelesen« über ihn, denn die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, sei weit größer als die, es zu erleben, dann war dies sozusagen ein Befehl, in das Meer der Druckerschwärze einzutauchen und in den Blättern von Eisenstadt, Mährisch-Weißkirchen, Brünn, Stuttgart und Wien nach dem Fall zu suchen. Und siehe da, es konnte zwei Jahrzehnte dauern, aber man wurde schließlich fündig. Es war der Mordfall Christian Voigt, Wien 1910, und Musil hatte sein Material aus einem halben Dutzend Gazetten zusammengetragen, inklusive der unwahrscheinlichsten Details. Gerade der Fall Moosbrugger zeigte aber auch, dass es zuweilen fast unmöglich war, den Roman beim Wort zu nehmen, weil er so widersprüchliche Signale aussendete. Da gibt es z. B. die Kapitel 30 und 31, »Ulrich hört Stimmen« und »Wem gibst du recht?«. Da liegt Ulrich nach einem Techtelmechtel mit der schönen Bonadea auf dem Sofa und hört mit dem inneren Ohr Dialoge aus dem Gerichtssaal. Dann heißt es: Er hatte noch nie in seinem Leben »Stimmen gehört«; bei Gott, so war er nicht. Aber wenn man sie hört, so senkt sich das etwa so herab wie die Ruhe eines Schneefalls. Mit einemmal stehn Wände da, von der Erde bis in den Himmel; wo früher Luft gewesen ist, schreitet man durch weiche dicke Mauern, und alle Stimmen, die im Käfig der Luft von einer Stelle zur anderen gehüpft sind, gehen nun frei in den bis ins innerste zusammengewachsenen weißen Wänden.

Der Text sagt dauernd: ›Ja, Halluzination‹ – ›Nein, Halluzination‹, ›Ja‹ – ›Nein‹, ›Ja‹ – ›Nein‹, so dass man als Leser recht ratlos zurückbleibt. Von Tübingen aus war dieses Rätsel 1966 nicht zu lösen. Dann stieß ich in Rom auf eine bis dahin unveröffentlichte Tagebuchnotiz. Die Bedeutung von »Gespenstergeschichten liegt in meinem Erlebnis am Sonnwendstein. Wie leicht

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zerreißt die dünne Decke von Normalität.« Neues Rätsel: Wo war der Sonnwendstein? Das war rasch geklärt – am Semmering. Aber welches gespenstische Ereignis hatte sich dort abgespielt? Niemand konnte es zunächst sagen. Die Antwort gab dann ein Entwurf zu dem Roman-Projekt »Die Zwillingsschwester« aus der Mitte der 1920er Jahre: die Schilderung einer schweren Halluzination während eines Schneesturms in den Bergen – eine Prosa, die an das Schnee-Kapitel in Thomas Manns Zauberberg erinnert. Sie war so schlagend detailliert, dass sie autobiographisch sein musste. Aber wann hatte sich die Geschichte zugetragen? Letzter Mosaikstein – eine Tagebuch-Notiz von Ostern 1905: »Nachtrag zum Aufenthalt am Semmering«, wo Musil seinen Freund Gustl Donath und dessen Braut Alice Charlemont besucht hatte: »Weihnachtswetter; abseits der Wege hüfthoher Schnee. Besuch Gustls; sehr aneinander vorbei gewesen.« Offenbar war der 24-jährige Musil 1905 von seiner Halluzination so geschockt, dass er sie nicht einmal seinem Tagebuch anvertraute – vielleicht hielt er sie schon für einen Vorboten der syphilitischen Gehirnerweichung, die ihm drohen konnte. Er brauchte 20 Jahre, bis er das Erlebnis niederschrieb, und als er 1929/30 den Mann ohne Eigenschaften ins Reine brachte, unterdrückte er es wieder – bis auf einen metaphorischen Rest. Er wollte einfach keine Zweifel aufkommen lassen an der geistigen Gesundheit seines Helden. Es entstand eine Art literarischer Kryptographie, die die eigene Vita des Autors ausbeutete und verschleierte. Die Germanisten der vorausgehenden Generation wie mein Doktorvater Beißner, der Hölderlin-Herausgeber, weigerten sich mitunter, manchen Geheimissen auf den Grund zu gehen – delikate Krankheiten, Sexualia, uneheliche Kinder: einfach shocking. Ich war entschlossen, keine Tabus zu akzeptieren, von wem sie auch errichtet waren, handle es sich um den Syphilis-Tod von Musils Brünner Lebensgefährtin Herma Dietz oder um das wirre Liebesleben Martha Musils vor ihrer Ehe mit unserem Autor. Ich war überzeugt (und hielt es für trivial), der Biograph müsse danach trachten, alles Erfahrbare zu erfahren, alles nachzuvollziehen, was seine Helden getan und gedacht haben. Was speziell bei Musil, der großen Wert auf die Ideographie legte, eine Herausforderung war. Bei einem Mann, der ausgebildeter Militär war, diplomierter Ingenieur, promovierter Philosoph und Psychologe, Mathematiker und Physiker zumindest im Nebenfach, brauchte man Kenntnisse auf all diesen Gebieten, um seinem Gegenstand halbwegs gewachsen zu sein. Dies erklärt auch die lange Herstellungsdauer meiner Lebensbeschreibung: alles in allem fast 40 Jahre. Mit detektivischem Spürsinn und entsprechender Kombinationsgabe konnte man manche von Musils Geheimnissen lüften. Bei manchen dicken Zensur-Balken, die Martha Musil nach dem Tod ihres Gatten in heiklen Dokumenten angebracht hatte, half die Quarzlampe der Wiener Kripo.

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Und gelegentlich war Klagenfurt der Ort wundersamer Funde. Bei unserer Katalogisierungsarbeit in Rom hatten wir festgestellt, dass es in Musils Tagebüchern gelegentlich Lücken gab, die offenbar auf scharfe Scherenschnitte zurückgingen. Wo waren diese halben Heftseiten geblieben, etwa aus dem Juni 1913? Niemand konnte es sagen. Dann passierte etwas Unglaubliches: Als der eine Musil-Erbe, Gaetano Marcovaldi, 1978 gestorben war, schleppte Karl Dinklage alles, was er kriegen konnte, nach Kärnten, darunter einen alten Mantel Marthas. Ich erklärte ihn insgeheim für leicht meschugge – und musste Abbitte leisten. Denn als das Faktotum, Frau Blaha, Schere, Nadel und Faden ansetzte, um das zerschlissene Kleidungsstück ein wenig aufzuarbeiten, sah sie hinter einer losen Naht etwas Weißes schimmern. Sie bohrte und schüttelte ein wenig, und heraus fielen ein paar Handschriften Musils. Martha hatte sie zensiert, aber nicht vernichtet, sondern eingenäht. Sie hatte eine Art Gottesurteil veranstaltet, und siehe da, das zensurierte Material wurde gefunden, fast 30 Jahre nach dem Tod der Witwe. Ich gebe freilich zu, dass bisweilen, nach der Ausschöpfung aller meiner Möglichkeiten, nur noch der glückliche Zufall weiterhalf, der mir kein Verdienst übrig ließ außer der hartnäckigen Aufmerksamkeit. Lange Jahre hatte ich nach Fotos Richard von Boyneburgs gesucht. Ich wusste, dieser Bursche, Modell für Beineberg im Törleß, war 1897 Seekadett geworden, war dann bei der Bekämpfung des Boxer-Aufstands in China eingesetzt, erhielt einen inoperablen Kopfschuss und starb daran 1905. Das Kriegsarchiv in Wien enthielt etliches Material über ihn, aber kein Foto seiner sehr besonderen Physiognomie. Wo suchen? Ich wusste keinen Rat. Eines Tages ging ich auf einem Friedhof in der Nähe des Klagenfurter Flugplatzes spazieren und – stehe plötzlich vor einem Familiengrab der Boyneburgs. Im Telefonbuch finde ich eine Grete von Boyneburg, wohnhaft am Alten Platz, und siehe da, sie hat ein Dutzend Aufnahmen des gesuchten Richard von Boyneburg: »die Ohren standen mächtig ab, das Gesicht war klein und unregelmäßig, und der Gesamteindruck des Kopfes erinnerte an den einer Fledermaus.« So beschreibt der Roman die Physiognomie des jungen Bösewichts. Man musste sich offenbar seinen »wartenden Gefühlen« überlassen, wie es im Nachlaß zu Lebzeiten heißt, dann gelangen hin und wieder solche Funde . . . Apropos wartende Gefühle: Ich räume ein, dass es meiner Umgebung nicht leicht fiel, auf die Fertigstellung meiner Arbeit zu warten. Meine Frau, meine Kinder sahen an zahllosen Abenden und Wochenenden nur meinen Rücken, und die gemeinsamen Ferienreisen auf Musils Spuren ins Fersental, nach Venedig, Adelsberg, Westerland usw. waren nur teilweise ein Ersatz für die ihnen dauernd entzogene Zuwendung. Ich danke herzlich für ihre Geduld, das Verständnis für mein Projekt. Bekäme man einen Dreispitz als Ehrendoktorhut, dann behielte ich nur eine Ecke für mich, die zweite würde ich meiner Frau Elisabeth widmen, die dritte meinem Sohn Carsten und meiner Tochter Eva.

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Es gab also nicht nur den Musil’schen Unstern, sondern auch sein Gegenteil, den Glücksstern. Ein solcher steht für mich auch über dem heutigen Tag, und ich danke allen Beteiligten noch einmal, dass sie ihn haben aufgehen lassen.

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Fortgesetzte Nachlese Neu aufgefundene Korrespondenz Robert Musils Als Adolf Frisé 1957 den dritten Band der gesammelten Werke Musils, Prosa, Dramen, späte Briefe, vorlegte, äußerte er die Vermutung, dass nicht mehr viel Korrespondenz auftauchen werde.1 Werch ein Illtum, möchte man mit Ernst Jandl sagen. Drei Jahre später veröffentlichte Karl Dinklage in seinem Sammelband über Musils Leben – Werk – Wirkung rund 50 Seiten weiterer Briefe, darunter vor allem die Schreiben an Johannes von Allesch.2 Anlässlich eines Vortrags in Rom machte Eduard Goldstücker 1967 in kleinem Kreise erstmals bekannt, dass im Prager tschechischen Literaturmuseum ein Konvolut mit Briefen Musils an Arne Laurin, den Chefredakteur der Prager Presse, aufgespürt worden sei. Barbara Köpplová und Kurt Krolop bereiteten die Edition vor.3 Genau am 15. April 1967, dem 25. Todestag Musils, händigte Gaetano Marcovaldi, der damalige Verwalter des Musil-Nachlasses in Rom, Elisabeth Albertsen und mir mehrere Mappen mit den Briefkonzepten der Schweizer Exil-Jahre aus. Wir katalogisierten das Material, ließen es mikroverfilmen, und ich transkribierte es 1969/70 nach meiner Promotion in Tübingen. Es bildete einen wichtigen Grundstock von Frisés Brief-Ausgabe, die 1981 bei Rowohlt erschien, fast 1500 Seiten stark und auf rund 800 Seiten kommentiert. Ganz gegen die Gewohnheiten und wirtschaftlichen Interessen von literarischen Agenten stellte mir damals das Literaturbureau Hein Kohn in Hilversum die Briefe Musils an Franz Blei zur Verfügung. Der letzte große Fund wurde in einem Bozener Keller gemacht, die Briefe Martha Musils an ihren Gatten vom Herbst 1914 bis zum März 1916.4 Für Frisés Edition kam diese sensationelle Trouvaille zu spät – dass meine Transkriptionen ein eigenes Buch wurden, haben unglückliche Umstände leider 1 2 3

4

Vgl. Adolf Frisé: Vorwort, in: Robert Musil: Prosa, Dramen, späte Briefe. Hg. v. A. F. Hamburg 1957, S. 5–12, hier S. 9 f. Vgl. Karl Dinklage (Hg.): Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung. Zürich u. a. 1960, S. 273– 324. Der Band erschien unter dem Titel Briefe nach Prag 1971, sorgfältig kommentiert, bei Rowohlt. Vgl. Robert Musil: Briefe nach Prag. Hg. v. Barbara Köpplová u. Kurt Krolop. Reinbek b. Hamburg 1971. Vgl. dazu Karl Corino: »Der Zaubervogel küßt die Füße«. Zu Robert Musils Leben und Werk in den Jahren 1914–16, in: Josef Strutz, Johann Strutz (Hg.): Robert Musil – Literatur, Philosophie, Psychologie. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1983 im Musil-Haus, Klagenfurt. München, Salzburg 1984 (= Musil-Studien, Bd. 12), S. 143–172.

Fortgesetzte Nachlese

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verhindert. So warten sie, gegenwärtig Teil der digitalen Klagenfurter Ausgabe, auf ihre papierene Auferstehung in der Briefausgabe, die Walter Fanta nun für 2022 bei Jung und Jung ankündigt – nicht anders als die Brief-Nachlese, die die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft 1994 vorgelegt hat.5 Dabei muss man sich über die Verluste klar sein: Musils empfangene Korrespondenz blieb im Sommer 1938 in der Wiener Wohnung zurück, wurde im Frühjahr 1942 bei der Wiener Spedition Bartz eingelagert und im Frühjahr 1945 zerbombt. Was aus den Briefen geworden ist, die der Autor im Schweizer Exil bekommen hat? Wenn sie nicht eines Tages unvermutet auftauchen, ist zu befürchten, Martha habe sie nach dem Tod des Empfängers, aus welchen Gründen auch immer, vernichtet. Die neue Quelle, aus der, wenn man so sagen kann, gelegentlich neue Briefschaften tröpfeln, ist das Internet, in das Auktionshäuser und Antiquare ihre Kataloge stellen. Nicht selten offerieren die Anbieter allerdings in Gestalt von Faksimiles und/oder Transkriptionen bloß Appetithappen, und die Käufer sind nur nach Gutdünken bereit, der Forschung das komplette Dokument zur Verfügung zu stellen.

1. Robert Musil an den Wiener Verlag, 15. Januar 1906 Im Juni 2015 machte mich der Musil-Kenner Marcus Weiss, München, auf ein Angebot der Firma »Thomas A. Goldwasser Rare Books«, San Francisco, aufmerksam. Es betraf eine Erstausgabe des Törleß aus dem Wiener Verlag von 1906, der eine Briefkarte an den Wiener Verlag beigefügt war (Preis: 9800 €). Transkription (s. Faksimile Abb. 1): Berlin SW . Tempelhofer Ufer 35. 15. I . 06. Euer Wohlgeboren. Ich erlaube mir, Sie daran zu erinnern, daß meine Zeit durch eine wissenschaftliche Arbeit desto mehr belastet ist, je weiter wir ins neue Jahr kommen. Im Interesse einer sorgfältigen Korrektur würden Sie mir daher einen großen Dienst durch möglichst baldige Zusendung des ersten Druckes erweisen. In vorzüglicher Hochachtung Robert Musil.

Nachdem im Frühjahr und Frühsommer 1905 drei Verlage (J. C. C. Bruns, Diederichs sowie Schuster & Loeffler) das Manuskript des Törleß abgelehnt hatten, hatte sich Musil an Alfred Kerr gewandt (vgl. Tb I, S. 912), der die Qualität des Textes sofort erkannte und eine Beziehung zum Wiener Verlag herstellte. Musil reichte die Handschrift ca. Mitte September 1905 ein (vgl. 5

Vgl. Robert Musil: Briefe – Nachlese. Dialog mit dem Kritiker Walther Petry. Mit Peter Engel, Murray G. Hall, Marie-Louise Roth, Georg Wiesner-Brandes hg. v. Adolf Frisé. Saarbrücken, Wien 1994.

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Abb. 1: Robert Musil an den Wiener Verlag, 15. Januar 1906.

Br I, S. 15) und erhielt kurz vor Weihnachten den Vertrag (vgl. Br I, S. 16). Er hoffte wohl – und vielleicht stand es so auch im Vertrag –, das Buch werde im Frühjahr 1906 erscheinen. Er wartete daher im Januar 1906 sehnsüchtig auf die Druckfahnen. Offenbar hatte er schon mit den Arbeiten an seiner Dissertation über Ernst Mach begonnen und fürchtete, ins Gedränge zu kommen, wenn sich das Projekt Törleß allzu sehr verzögerte. Anfang Februar 1906 erhielt er die ersten Bürstenabzüge, am 21. Februar hatte er die Hälfte der Druckfahnen korrigiert (vgl. Br I, S. 18 f.), Ende April bat er um ein Vorausexemplar des Buchs für Alfred Kerr (vgl. Br I, S. 19), aber es dauerte noch ein halbes Jahr, bis der immer wieder von ökonomischen Krisen und Prozessen gebeutelte Verlag ausliefern konnte. Ende Oktober 1906 war es endlich so weit.

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Abb. 2: Ernst Wilhelm Lotz an Robert Musil, 17. Juli 1914.

2. Ernst Wilhelm Lotz an Robert Musil, 17. Juli 1914 Die folgende Karte von Ernst Wilhelm Lotz an Musil als Redakteur der Neuen Rundschau wurde von der Firma »Bassenge« auf der Auktion vom 20. April 2013 angeboten.6 Transkription (s. Faksimile Abb. 2): Schöneberg d. 17. 7. 14 Goltzstr. 17 Gart. IV

Sehr geehrter Herr Dr. Musil! Ich bestätige Ihnen den Empfang der Manuskripte und danke Ihnen aufrichtig für Ihr freundliches Eintreten für mein Buch bei Herrn S. Fischer. Da ich mich bis Ende dieses Monats in Berlin aufhalte, möchte ich gern einmal bei Ihnen in der Redaktion vorsprechen; würden Sie mir wohl Tag und Stunde bestimmen, wann es Ihnen passte? Mit ergebensten Grüssen Ihr Ernst Wilhelm Lotz

6

Auch hier danke ich Marcus Weiss für den Hinweis.

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Als Musil im Februar 1914 in die Redaktion der Neuen Rundschau eintrat, übernahm er die Aufgabe, die junge Generation an die in die Jahre gekommene Zeitschrift heranzuführen.7 Er nahm dann auch gleich Kontakt mit Franz Kafka auf,8 entdeckte Alfred Wolfenstein und seine Gottlosen Jahre für S. Fischer (vgl. GW II, S. 1463 f.), lernte seinen österreichischen Landsmann Oskar Maurus Fontana kennen9 und machte bella figura bei Max HermannNeisse, der über einen Besuch am 26. Juni 1914 bei dem Neuen in der Verlagsmannschaft schrieb: »Sehr sympathischer Mensch, Österreicher, etwa wie ein freierer, offnerer, gütigerer, feinerer, froherer Franz Jung«10 – dessen Roman Kameraden Musil übrigens in der Neuen Rundschau besprach (vgl. GW II, S. 1460–1463). Zu den Jungen, die den Kontakt mit dem Verfasser des Törleß suchten, gehörte auch Ernst Wilhelm Lotz. Er war zehn Jahre jünger als Musil und hatte einen ähnlichen Lebenslauf. Er war nämlich preußischer Kadett, mit 17 schon Fähnrich und bald darauf Leutnant, quittierte aber nach anderthalb Jahren den Dienst und ergriff einen bürgerlichen Beruf (Kaufmann in einer Hamburger Import-Export-Firma), vertauschte den jedoch wiederum bald mit dem eines literarischen Übersetzers und Schriftstellers. Er war befreundet mit Kurt Hiller und Ernst Stadler und fand rasch Zugang zur poetischen Avantgarde in Berlin. Die expressionistische Zeitschrift Der Sturm brachte fast zwei Dutzend Gedichte von ihm. Sein erster eigener Versband von 1913 hieß Und schöne Raubtierflecken . . . Ein lyrisches Flugblatt. Was er bei Musil einreichte und teilweise zurückbekam, wissen wir nicht. Das Buch, für das Musil beim Verleger eintreten wollte, war vermutlich Wolkenüberflaggt. Zu der von Lotz erbetenen Begegnung scheint es nicht mehr gekommen zu sein. Der Katalog des Auktionators teilt mit, eine fremde Hand habe (wohl auf der nicht abgebildeten Rückseite der Karte) notiert, man habe Lotz geschrieben, dass Musil »eben abgereist« sei. Musil fuhr um den 23. Juli 1914 in den Urlaub auf Sylt, den er Anfang August abbrach. Lotz wurde am 2. August nach Straßburg einberufen und fiel als Kompanieführer am 26. September 1914 bei Bouconville. Musil rückte am 20. August zum Landsturm nach Linz ein – und 7

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9 10

Vgl. das Faksimile seines Vertrags, § 1, in Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 211. Vgl. dazu Oliver Pfohlmann: »Glücklich und feldzugsplanend«? Robert Musil, die Neue Rundschau und die »Jüngste Generation«, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 82–100. Kafka bot der Neuen Rundschau die Verwandlung an, Musil konnte sich aber mit seinem Votum nicht durchsetzen, so dass der Text 1915 in den Weißen Blättern erschien. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 214. Vgl. Oskar Maurus Fontana: Erinnerungen an Robert Musil, in: Dinklage (Hg.): Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung (s. Anm. 2), S. 325–344, hier S. 325. Nähere Informationen zum Verhältnis Musil–Hermann-Neisse liefert Ludwig Kunz: Robert Musil, ein vernachlässigter Autor, in: Karl Dinklage (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Zusammen mit Elisabeth Albertsen u. Karl Corino. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 325– 329.

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Abb. 3: Robert Musil an Kurt Hiller, 6. Juni 1919.

überlebte. Die Neue Rundschau brachte im ersten Heft des Jahrgangs 1915 die Gedenkrede Kurt Hillers. Den Band Wolkenüberflaggt druckte S. Fischer allerdings nicht. Er erschien 1916 bei Kurt Wolff.

3. Robert Musil an Kurt Hiller, 6. Juni 1919 Im April 2013 versteigerte »Stargardt« eine Postkarte Musils an Kurt Hiller. Der Käufer, Dr. Hermann Kremer, stellte, rühmliches Vorbild für Sammler, der Forschung ein komplettes Faksimile zur Verfügung. Transkription (s. Faksimile Abb. 3): [Poststempel:] Wien 10, 6. 6. 19 Herrn Dr. Kurt Hiller Berlin-Friedenau Hähnelstrasse 9

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7. 7. 19 Lieber Herr Doktor Hiller. Besten Dank für Ihre Auskünfte; ich wäre sehr gerne gekommen und hatte auch große Lust zu sprechen, aber konnte mich von meiner Arbeit nicht los machen. (Diese meine geplante Berliner Reise ist schon die reinste Seeschlange). Bin nun sehr neugierig durch Müller zu hören, wie der Kongreß verlaufen ist. Mit herzlichem Gruß Ihr aufrichtig ergebener Robert Musil.

Überraschenderweise hatte Musil gegen Ende des Jahres 1918 das Programm des »Politischen Rates geistiger Arbeiter« unterschrieben – mit der Forderung nach Vergesellschaftung von Grund und Boden, Konfiskation der Vermögen von einer bestimmten Höhe an und der Umwandlung kapitalistischer Unternehmen in Arbeiterproduktivgenossenschaften.11 Eine Überraschung war dies insofern, als er, Mitglied des österreichischen Kriegspressequartiers und Herausgeber der Soldatenzeitung Heimat, bis zum Zusammenbruch der Habsburgermonarchie den Status quo verteidigt und eine ausgesprochen antirevolutionäre Politik betrieben hatte. Nun wurde er jäh zu einem Parteigänger Kurt Hillers, der einer der führenden Köpfe des deutschen Aktivismus war und die Teilhabe der Künstler und Intellektuellen an einem künftigen Rätesystem forderte. Ein Gegenstück (um nicht zu sagen: eine Parallelaktion) zum Berliner Aktivismus war die Wiener Geheimgesellschaft »Katakombe«, der neben Musil auch der Schriftsteller Robert Müller angehörte. Vom 15. bis 22. Juni 1919 fand in Berlin ein Kongress deutscher Aktivisten statt, zu dem Hiller auch Musil und Müller eingeladen haben muss. Musil plante wohl schon seit Mitte Februar eine Reise nach Berlin, da ihm S. Fischer die Rückkehr auf seine Redakteursstelle bei der Neuen Rundschau und die spätere Ablösung des Chefredakteurs Oskar Bie angeboten hatte (was letztlich an ein »paar tausend Inflationsmark« scheiterte; Tb I, S. 705). Außerdem ventilierte er Möglichkeiten, sein Drama Die Schwärmer aufzuführen. Diese Reise fand indes erst Mitte Oktober statt. Sie wurde wegen zahlreicher Verschiebungen anscheinend so fabulös-nebulös wie eine »Seeschlange«. Jürgen Thöming, der Musils Verhältnis zum Aktivismus als erster detailliert untersucht hat, stellte fest, dass Kurt Hiller die Abwesenheit der österreichischen Mitstreiter auf dem Kongress bedauerte. Sie befürchteten möglicherweise einen Militärputsch in Berlin.12 Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass Robert Müller, wie Musil erwartete, unter den Teilnehmern war. Die Bibliographie Müllers von Günter Helmes weist – auch dies ist ein

11 12

Vgl. Jürgen Thöming: Der optimistische Pessimismus eines passiven Aktivisten, in: Dinklage (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk (s. Anm. 10), S. 214–235, hier S. 220. Vgl. Thöming: Der optimistische Pessimismus (s. Anm. 11), S. 224 f.

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Indiz – keinen einschlägigen Beitrag über den Kongress aus.13 Die Presse »beachtete das Ereignis kaum, die Teilnehmerzahl überschritt nie 150«, schreibt Thöming. Die Aktivisten »lehnten [. . .] das demokratisch-parlamentarische System ab und setzten sich für ein Rätesystem ein, bestehend aus Wirtschaftsund Kulturräten.«14 Mit der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung am 11. August 1919 war einem solchen Rätesystem politisch der Boden entzogen, die parlamentarische Demokratie siegte in Deutschland wie in Österreich. Der Aktivismus wurde selbst zu einer Art von »Seeschlange«, einem Literatenprojekt. Hiller hielt daran fest, Robert Müller erschoss sich am 27. August 1924. Musil wandte sich in den 1920er Jahren der österreichischen Sozialdemokratie zu.15 Zum Bruch mit Hiller kam es, als Musil in einem EnquêteWerk über männliche Prostitution 1929 für die Eindämmung der Homosexualität plädierte. Dies veranlasste Hiller 1931 zu bekunden, er werde sich wegen der »Denkschwäche« und des »beinahe dreisten Dilettantismus« von Musils Antwort um seine Verlautbarungen in Zukunft nicht mehr kümmern.16 Rund zehn Jahre später konterte Musil sozusagen mit einem Revanche-Foul: der Aktivismus des Herrn Hiller habe, so seine Notiz im Arbeitsheft 33, »wenig Geist« gehabt (Tb I, S. 960).

4. Robert Musil an Oskar Maurus Fontana, 19. Dezember 1922 und um 1923 In ihrer Auktion 107 bot die Firma »Bassenge« zwei Postkarten Musils an seinen Wiener Kollegen Oskar Maurus Fontana an: die erste, im Katalog ohne Faksimile, eineinhalb Seiten lang, »eng beschrieben«, datiert Berlin-Charlottenburg, 19. Dezember 1922. Folgender Text wird zitiert: [. . .] Ich renne wie ein Billardball in Berlin umher, um in den verschiedenen vitalen Angelegenheiten den Horizont etwas aufzuhellen, und vielleicht findet sich auch noch irgendein Weg, der nicht gerade der letzte ist. Die Novellen habe ich D[er] Sch.[miede] gegeben und entsprechend in die Trompete geblasen; und zwar gleich gegeben, aber heute erst sind sie, wie ich nachschreibend feststellte, in die Hand [Rudolf] Leonhards gekommen; morgen oder übermorgen rede ich wieder mit ihm. Ich setze aber nicht viel Hoffnung auf den Verlag, der die Ehre, gedruckt zu wer13

14 15 16

Vgl. Günter Helmes: Bibliographie – Robert Müller, in: ders., Helmut Kreuzer (Hg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924). Mit zeitgenössischen Rezeptionsdokumenten und einer Bibliographie. Göttingen 1981, S. 321–344. Thöming: Der optimistische Pessimismus (s. Anm. 11), S. 224 f. Vgl. Musils Unterschrift auf dem Wahlaufruf zugunsten der Wiener Sozialdemokratie vom 20. 4. 1927 in der Arbeiter-Zeitung. Vgl. dazu Karl Corino: Robert Musil, Kurt Hiller und das Problem der Homosexualität, in: Uwe Baur, Dietmar Goltschnigg (Hg.): Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften. Grazer Musil-Symposion 1972. München, Salzburg 1973 (= Musil-Studien, Bd. 4), S. 231–235.

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den, allzu hoch einschätzt und nur ein paar hundert Exemplare voraus honorieren will. [. . .] Für E.[ssays] habe ich D[ie] Sch[miede] so gut es ging interessirt; aber ich halte es für besser, wenn wir zuerst Ihren Weg versuchen, da ich wie gesagt von D[er] Sch[miede] nicht allzuviel erwarte. Außerdem dürfte ich ja im Januar wieder hier sein u. könnte dann die Sache hier betreiben, während Sie die Zwischenzeit nutzen. Ich habe mich über unsre Übereinstimmung sehr gefreut – Schwärm[er] voraussichtlich Ende Januar. Wann ich nach Wien komme, weiß Gott; aber ich möchte bald [. . .].

Musil hielt sich ab ca. Mitte Dezember 1922 in Berlin auf und wohnte bei seiner Schwägerin Hanna Casper am Kurfürstendamm 233. Er führte vor allem Gespräche, um seine Stücke Die Schwärmer und Vinzenz aufführen zu lassen. Die Schwärmer lagen seit 1. August 1921 beim Sibyllen-Verlag Dresden als Buch vor, den Vinzenz las Musil ab ca. Mitte September 1922 gelegentlich in seiner Wohnung vor; einmal waren wohl auch der Regisseur Karlheinz Martin und Oskar Maurus Fontana unter den Zuhörern (vgl. Br I, S. 272). Martin gehörte 1923 zu den Vorständen des Berliner Renaissance-Theaters. Ende 1922/ Anfang 1923 hatte Direktor Eugen Robert Die Schwärmer für sein Theater »Die Tribüne« in Charlottenburg angenommen: daher Musils Optimismus, sie würden voraussichtlich Ende Januar 1923 auf die Bühne kommen.17 Dass Musil seinerseits etwas für Fontana tun wollte und sich beim Lektor des Verlags »Die Schmiede«, Rudolf Leonhard, für dessen Erzählungen und Essays einsetzte, ist eher ungewöhnlich. Die Vermutung im »Bassenge«Katalog, bei den erwähnten Erzählungen könne es sich um den Titel Empörer handeln, ist mit Sicherheit falsch. Sie geht von einer falschen Datierung der folgenden Karte auf das Jahr 1920 aus, jenes Jahr, in dem die Empörer tatsächlich bei E. P. Tal in Wien erschienen.18 Da die Posse Vinzenz erst im Sommer 1922 entstand, kann ein Schriftstück, das sie erwähnt, unmöglich zwei Jahre zuvor zu Papier gebracht worden sein. Transkription (s. Faksimile Abb. 4): Lieber Herr Fontana! Ich habe so lange nicht geschrieben, weil ich weder mit Ihren, noch mit meinen Angelegenheiten weitergekommen bin. Bei mir dreht sich in der Tat alles um die Aufführung, aber es dreht sich eben unaufhörlich; nach dem Stand in diesem Augenblick soll sie im Februar stattfinden, auf der Tribüne und mit Viertel oder Martin. Für die Komödie habe ich bloß mit Jessner eine Verbindung angeknüpft, aber auch noch sehr hypothetisch. – Ihre Novellen habe ich erst dieser Tage bei Leonhard durchgeschleust, er hatte zuviel Rückstände und kam zu jeder Zusammenkunft statt mit einem Bescheid mit einer Entschuldigung. Nun hat er sie aber gestern dem Verlag empfohlen und morgen rufe ich diesen an, um selbst mit den Herrn zu sprechen. Ich werde Ihnen darüber berichten, nur ist die materielle Seite so 17 18

Vgl. dazu das Kapitel »Ein Seelenstück als Hackfleisch« in: Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 737–767. Nach Auskunft der Österreichischen Nationalbibliothek erschienen von Fontana in den Jahren 1923 bis 1925 weder Erzählungen noch Essays in Buchform. Nachweisbar sind der Roman Insel Elephantine bei G. Lange in München (1924) und die Komödie Hiob der Verschwender im Schauspiel-Verlag Leipzig (1925).

Fortgesetzte Nachlese

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Abb. 4: Robert Musil an Oskar Maurus Fontana, um 1923. undurchsichtig, daß Sie den Abschluß wohl selbst und am besten persönlich werden machen müssen. Sie werden das meinen weiteren Mitteilungen entnehmen. Wenn Sie Balász [sic] sehn, entschuldigen Sie mich bitte bei ihm. Für »meinen« Aufsatz konnte ich [Ende des Faksimiles] noch gar nichts tun und mit dem Essayband bin ich bei der Leonhardschen Langsamkeit auch noch nicht weitergekommen . . . Eine Bitte: Ich weiß nicht, ob die Manipul. der S. Kl. II noch genügend Unterschriften für meine Gehälter hat; bitte fragen Sie nach; ich hoffe, in 14 Tagen spätabend in W.[ien] zu sein . . .

Die Karte muss aus dem Januar 1923 stammen, da die Aufführung der Schwärmer durch Berthold Viertel oder Karlheinz Martin im Februar stattfinden sollte. Die junge Bühnenbildnerin Mathilde Rosenthal hatte schon die Szenerie entworfen. Wegen des Vinzenz hatte Musil mit Leopold Jessner, dem Intendanten des Staatlichen Schauspielhauses Berlin, Fühlung genommen. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich, sämtliche Pläne zerschlugen sich. Bei Vinzenz gab es eine Art Rochade, nicht Jessner inszenierte die Posse, sondern Viertel im Berliner Lustspielhaus Anfang Dezember 1923. Bis zur Uraufführung der Schwärmer durch den Abenteurer Jo Lherman sollten gar

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noch sechs Jahre vergehen (Theater in der Kommandantenstraße, 3. April 1929). Der übrige Text bietet noch eine Reihe von Rätseln. Was Musil im Hinblick auf Béla Balázs mit »›meine[m]‹ Aufsatz« meint, ist vorderhand unklar: Balázs hatte einen Essay über Musil geschrieben, er erschien im April 1923 in der Österreichischen Rundschau – unter Musils Assistenz, der gelegentlich auch in diesem Blatt publizierte? (Musils Balázs-Essay, Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films, kann nicht gemeint sein, er erschien erst im März 1925 im Neuen Merkur.) Enigmatisch ist schließlich die Bemerkung über die Auszahlung von Musils Gehältern. Seine Stelle als Fachbeirat im Bundesministerium für Heereswesen war im November 1922 zu Ende Februar 1923 gekündigt worden. Vielleicht brauchte Musil Fontanas Hilfe bei der Behebung ausstehenden Geldes, von Berlin aus war das wohl nicht möglich.19 Fontana war ursprünglich Referent des im Frühjahr 1919 eingerichteten Reichsbildungsamts der Volkswehr. Als man es im August 1920 auflöste, wurde er als Beamter der X. Rangklasse in den österreichischen Staatsdienst übernommen.

5. Robert Musil an Efraim Frisch, 22. Dezember 1930 Die Karte Musils an Efraim Frisch vom Dezember 1930 war im »Stargardt«Katalog vom März 1977 angeboten, aber Frisé musste sich bei seiner BriefEdition auf Regesten beschränken (vgl. Br I, S. 485), weil ihm eine Kopie damals nicht zur Verfügung gestellt wurde. Das hat sich inzwischen erfreulicherweise geändert. Interessanter freilich als Musils Text ist der Hintergrund, der erst 2010 mit der Veröffentlichung von Carl Schmitts Tagebüchern ganz sichtbar wurde. Transkription (s. Faksimile Abb. 5): [Poststempel:] Wien, 22. XII . 30 Herrn Efraim Frisch b/Oppenheimer Halensee Berlin SW 68 Kochstrasse 9 III Europäische Revue Hektorstr. 3

19

Nach Auskunft des Archivs der Republik (Wien) bedeutet »Manipul.« ›Manipulantin‹ (österr. für ›Hilfskraft‹), »S. Kl. II« könnte ev. mit ›Sektionsklasse II‹ aufgelöst werden, wobei die Sektion II im Bundesministerium für Ausbildungsfragen zuständig war.

Fortgesetzte Nachlese

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Abb. 5: Robert Musil an Efraim Frisch, 22. Dezember 1930. Wien, III . Rasumofskygasse 20. 21. Dez. 1930. Verehrter Herr Frisch! Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir das Heft November 1929 (mit dem Aufsatz von Professor Schmitt) zugehen lassen wollten. Mit herzlichen Grüßen Ihr Robert Musil.

Durch einen Brief vom 30. März 1931 an Franz Blei (vgl. Br I, S. 508 f.) war ich zu der Vermutung gekommen, es könnte eine Begegnung zwischen Musil und Carl Schmitt gegeben haben, die über die Lektüre eines »erfreulichen Aufsatzes« (Br I, S. 509) aus der Feder des später berüchtigten Staatsrechtlers hinausging. Ich fragte Schmitt daher brieflich und erhielt am 27. September 1971 folgende Antwort: [M]eine persönliche und literarische Bekanntschaft mit Robert Musil ist mir durch Franz Blei vermittelt. Persönlich habe ich Musil nur einmal gesehen und gesprochen. Das war allerdings ein intensives Gespräch, das in einem für mich besonders pathognomischen Moment stattfand (nach einer aufregenden Tagung der Friedrich-ListGesellschaft über die Beurteilung des damaligen Nationalsozialismus), am Sonntag, dem 14. Dezember 1930, abends 8 bis ½ 12. Der Einfachheit halber referiere ich Ihnen die in meinem Tagebuch am gleichen Abend notierten Fakten: Franz Blei kam abends um 8 Uhr pünktlich zum Abendessen: ich trank zuviel Saarwein, er zuviel Slivovitz. Dann kam Musil mit seiner Frau. Jeder sprach zuviel (ausser den Frauen); Thema: sein Roman und die Wiener Juden. Begleitete die Gäste noch zum Bahnhof Zoo. Traurig zurück.

Schmitt gehörte zu den Privilegierten, die den ersten Band des Mann ohne Eigenschaften seit ca. Ende September 1930 bereits in den Aushängebogen

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Abb. 6: Robert Musil an Mary Dobrzenska, 25. August 1936.

kennen lernten (Franz Blei reichte sie ihm weiter).20 Schmitt revanchierte sich dafür mit einer massiven Unredlichkeit. Er manipulierte den allerdings peinlichen, unverhüllt antisemitischen Text seines Tagebuchs. Die retuschierte Passage lautet wörtlich: »dann kam Musil mit seiner scheußlichen Frau. Sprach zu viel über seinen Roman, [. . .] Wiener Juden, ekelhaft«. Dies wird noch überboten durch die Eintragung des folgenden Tags, die zeigt, dass Schmitt mit Frau Duschka eine würdige Partnerin hatte: »Duschka machte mir Vorwürfe wegen der vielen Besuche, besonders der üblen Wiener Juden, die gestern bei uns waren. Sie hat leider recht.«21 Nicht ahnend, welche Sudeleien sein Besuch beim Gastgeber ausgelöst hatte, bemühte sich Musil um dessen Vortrag auf der Tagung des Verbandes für kulturelle Zusammenarbeit in Barcelona, von dem offenbar an jenem Abend die Rede war: Die europäische Kultur in Zwischenstadien der Neutralisierung. Schmitt versuchte darin eine Theorie von der »Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete des kulturellen Lebens« zu entwickeln: »Es sind vier große, einfache, säkulare Schritte und gehen vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen« und zur Technik.22 Musil nannte den Text gegenüber Blei 20

21 22

Vgl. Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann hg. u. erläutert v. Angela Reinthal. Heidelberg 1995, S. 73. Schmitt las diese Fahnen wegen seines besonderen Interesses an Rathenau alias Arnheim im Mann ohne Eigenschaften (vgl. ebd., S. 158). Carl Schmitt: Tagebücher 1930 bis 1934. Hg. v. Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler. Berlin 2010, S. 69. Carl Schmitt: Die europäische Kultur in Zwischenstadien der Neutralisierung. Vortrag auf der Tagung des Verbandes für kulturelle Zusammenarbeit in Barcelona, in: Europäische Revue 5 (Oktober–Dezember 1929), 2. Halbbd., S. 517–530, hier S. 518.

Fortgesetzte Nachlese

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am 30. März 1931 wie gesagt »erfreulich[ ]« (Br I, S. 509) und erkundigte sich später, am 11. August 1933, nach Schmitts Position: »[H]at er sich von Papen zu Hitler weiter entwickelt? Ich habe das nicht verfolgen können.« (Br I, S. 578) Inwieweit er registrierte, dass Schmitt zum Parteigänger des Führers und zum Kronjuristen der Nazis wurde? Blei jedenfalls, 1932 zu seiner Tochter Billy nach Mallorca ausgewandert, dann dort emigriert, brach mit seinem alten Freund. Seine Abrechnung stand im Christlichen Ständestaat vom 25. Dezember 1936: Der Fall Carl Schmitt. Von einem, der ihn kannte. Signiert »F. B.«.

6. Robert Musil an Mary Dobrzenska, 25. August 1936 Transkription (s. Faksimile Abb. 6): [Poststempel:] Payerbach, 25. VIII . 36 Hochgeboren Gräfin Mary Dobrzenska Potstejn Zamek ˇ S. R.) (C. Hotel Thalhof. Verehrte Gräfin – Wir sind zuerst in Kirchberg bei Bekannten gewesen und seit einigen Wochen hier, als leider keine Hoffnung mehr bestand, Ihren Besuch zu erhalten. Es ist reizend hier, aber in der ersten Septemberwoche muß ich wieder nach Wien, der Arbeit wegen, obschon ich eigentlich noch nicht gesund bin. Werden wir Sie in Wien begrüßen können? Mit herzlichen Empfehlungen und Grüßen Ihre aufrichtig ergebenen Robert Musil und Martha Musil. Ist Frau Ea bei Ihnen?23

Als Musil zehn Tage nach der Bücherverbrennung (und nach anderthalb Jahren in Berlin) seine Zelte in der deutschen Hauptstadt abbrach, begab er sich zunächst zur Kur nach Karlsbad, anschließend, um den 13. Juni 1933, folgte er einer Einladung von Gräfin Mary Dobrzenska nach Schloss Potštejn, die wohl Ea von Allesch vermittelt hatte. Man blieb bis 5. Juli, bis man in die Rasumofskygasse zurückkehrte, und danach in lockerer Verbindung. Zu Weihnachten 1933 schenkte Musil der Gräfin den von Richard Ziegler illustrierten, in kleiner Auflage erschienenen Vorstadtgasthof, und zwar »mit niedergeschlagenen Augen«, wie es in der Widmung heißt24 – wohl wegen der sexuell-perversen Drastik, mit der der Held einer Frau die Zunge abbeißt. 23 24

Die Postkarte, die auf der Vorderseite Reichenau und Raxbahn zeigt (nicht reproduziert), wurde im Internet durch die Firma »Földvári books Budapest« angeboten. Mitteilung Archiv Schloss Potštejn.

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Von anderer Drastik war der Vorfall im Wiener Diana-Bad um den 20. Mai 1936. Beim Crawl-Training erlitt Musil einen Schlaganfall und wurde von seinem Freund Bruno Fürst mit knapper Not vor dem Ertrinken gerettet. Die Familie verheimlichte dem Patienten die Schwere der Apoplexie, sprach von tiefer Ohnmacht aufgrund von Arteriosklerose.25 Die Einschränkungen waren freilich massiv. »Höhe-verbot schon über 700 Meter, Sonne-verbot, Badeverbot« = Schwimmverbot (Br I, S. 776): »Hypertonie der Gefäße ist der unschuldige Name für den Sturz von einem recht guten und starken Körper zu einem bedächtig hatschenden, der sich vor Sonne und Wind schützen muß, nicht rauchen darf usw. Es soll mir mit der Zeit immer besser gehn, aber niemals mehr so wie früher«, schreibt Musil am 14. August 1936 an Johannes von Allesch aus dem Hotel Thalhof bei Reichenau (Br I, S. 725). Mary Dobrzenska war da schon genauer informiert. Ihr gegenüber genügte der Satz, er sei »noch nicht gesund«. Der Kontakt zu ihr riss auch in den Schweizer Jahren nicht ab, und wie sie Rilke unterstützt hatte (vgl. Br I, S. 1084), versuchte sie auch Musil durch gelegentliche Interventionen zu helfen.

25

Mündliche Mitteilung des Schwiegersohns Dr. Otto Rosenthal, der von Beruf Mediziner war.

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Zwei Briefe von Martha Musil an Ignazio Silone in der Fondazione Turati (Florenz)1 1. Zum Entstehungszusammenhang der Briefe von Martha Musil Im vorliegenden Beitrag werden zwei bisher unbekannte Briefe Martha Musils an den italienischen Schriftsteller Ignazio Silone (1900–1978) präsentiert. Die Originale befinden sich im Silone-Nachlass (Fondo Silone: BB 1 u. 2 der allg. Korrespondenz) der Fondazione di Studi Storici »Filippo Turati« in Florenz, wo auch dessen Bibliothek aufbewahrt wird. Kopien der Briefe sind außerdem im Silone-Archiv von Pescina della Marsia (L’Aquila, Abruzzi), dem Geburtsort des Schriftstellers, vorhanden. Die zwei Briefe dokumentieren das Engagement Martha Musils für die geistige Erbschaft ihres Mannes nach dessen Tod bzw. die großen Schwierigkeiten, die sie zu bewältigen hatte, um den noch unveröffentlichten Teil des Romans Der Mann ohne Eigenschaften zu publizieren und das Gesamtwerk bekannt zu machen. Sie sind zwei kleine Mosaiksteine der Lebensgeschichte einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes nicht nur viel Verantwortungsgefühl, sondern auch Mut und Entschlossenheit zeigte. Als isolierte Momentaufnahmen eines bewegten Lebens laden die zwei Briefe dazu ein, zum einen die Rolle von Martha Musil als Vestalin des Ruhmes ihres Mannes und zum anderen das Verhältnis von Robert Musil und Ignazio Silone als zentralen Bestandteil von Musils »Itinerar« in Italien erneut unter die Lupe zu nehmen.2 Als Martha Musil den ersten Brief an Silone verfasste, waren knapp drei Jahre seit ihrer Begegnung mit dem italienischen Schriftsteller im März 1939 in Zürich vergangen. Während die Musils Wien wenige Monate nach dem ›Anschluss‹ an Deutschland verlassen hatten, war Silone schon zehn Jahre zuvor in die Schweiz ausgewandert, weil er als Sozialist und Kommunist beim faschistischen Regime Italiens in Ungnade gefallen war. Silone hat Mitte der 1960er Jahre das erste Treffen mit Musil und seiner Frau in Zürich rekonstru1

2

An dieser Stelle möchte ich mich bei Giuseppe Muzzi für die Unterstützung meiner Recherche und beim Präsidenten der Fondazione Turati, Maurizio Degl’Innocenti, für die Abdruckgenehmigung der Briefe ausdrücklich bedanken. Vgl. Karl Corino: Musil in Italien. Ein Itinerar in Bildern und Texten. Klagenfurt, Wien 2015. Darin geht Corino auf das Verhältnis Musil–Silone nicht ein, weil er darüber bereits im ExilKapitel seiner monumentalen Biographie von 2003 referiert hatte.

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iert und dabei die gemeinsamen Freunde erwähnt, die es möglich gemacht hatten: In Zürich traf Musil einige Leute wieder, die ihn von früher kannten und sehr schätzten. Zwei dieser alten Freunde bemühten sich auch, gleich nach Musils Ankunft unsere erste Begegnung zustande zu bringen, und zwar der Dramaturg Kurt Hirschfeld und der Schriftsteller Efraim Frisch, der über den »Mann ohne Eigenschaften« in der »Frankfurter Zeitung« eine fundamentale Kritik veröffentlicht hatte, die volles Verständnis offenbarte. Auf Frisch deutend, sagte Musil zu mir: »Er und seinesgleichen sind schuld daran, daß ich nun Emigrant bin.«3

Der einigermaßen vertraute Ton des ersten Briefs von Martha Musil aus dem Dezember 1942 setzt eine gewisse Nähe, vielleicht sogar ein Freundschaftsverhältnis voraus. Neben der Solidarität unter Emigranten liegt ein Grund für diese Vertrautheit wohl in ihrer Dankbarkeit für Silones Hilfsbereitschaft in der Zürcher Zeit. Da sich Martha und Robert Musil nach ihrer Ankunft aufgrund ihrer prekären finanziellen Lage in einer »tragischen Situation«4 befanden, bemühte sich Silone, der über weit verstreute Kontakte und einen größeren Bekanntenkreis verfügte, das Ehepaar bei einer Familie in Zürich oder im Tessin kostenlos unterzubringen – wenn auch ohne Erfolg. So bedankt sich Martha Musil in diesem, auf einem schwarzumrandeten Kondolenzpapier verfassten Brief für Silones Anteilnahme am Tod ihres Mannes im Frühjahr 1942 und für dessen Subskription des dritten Bands des Mann ohne Eigenschaften, der 1943 in Lausanne erscheinen sollte. Über die Anteilnahme des italienischen Schriftstellers muss sie sich angesichts des allgemeinen Desinteresses an Musil in der Schweiz besonders gefreut haben. In seinen Erinnerungen an Musil weist der Schweizer Pfarrer Robert Lejeune darauf hin, dass beim Begräbnis des österreichischen Schriftstellers nur ein Dutzend Menschen gewesen sei und er für den Abdruck seiner Totenrede keine interessierte Zeitung bzw. Zeitschrift gefunden habe.5 Als Muse, »Geliebte, Ehefrau und Schwester« begleitete Martha Musil ihren Mann seit ihrer ersten Begegnung bis zu seinem Tod.6 Danach, also in der Zeit, in der sie Silone kontaktierte, war sie von der Sorge getragen, den Nach3

4 5 6

Ignazio Silone: Begegnungen mit Musil, in: Karl Dinklage, zus. mit Elisabeth Albertsen u. Karl Corino (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 349–358, hier S. 349 f. Der Text wurde in der dt. Übersetzung v. Claus Gatterer erstmals 1965 abgedruckt in der Basler National-Zeitung vom 7. 12. 1965 sowie in der Zeitschrift Universitas (1965, H. 7, S. 699–706); in verkürzter Form und mit dem Titel Musil in der Schweiz jetzt auch in: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010 (= En face, Bd. 2), S. 397–403. Zuerst in ital. Sprache als Incontri con Musil, in: La Fiera letteraria XIX (13. 12. 1964), Nr. 43, S. 7. Musils Wohnungsnot. Ignazio Silone an Efraim Frisch, 3. 4. 1939, in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. (s. Anm. 3), S. 395; vgl. auch das franz. Original in: Br I, S. 967 f. Robert Lejeune: Robert Musils Schweizer Jahre, in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 3), S. 411–423, hier S. 422. Vgl. Marie-Louise Roth: Un destin de femme – Martha Musil. L’amante, l’épouse, la sœur. Avec la collaboration d’Annette Daigger. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 13).

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lass Robert Musils chronologisch und systematisch zu ordnen sowie dessen Manuskripte bzw. Werke für eine Gesamtausgabe bereitzustellen. Unterstützt wurde sie dabei vor allem durch den Schweizer Kritiker und Essayisten Armin Kesser, den sie 1940 in Zürich kennengelernt hatte. Sie empfand ihn als geistigen Erben ihres Mannes und hoffte darauf, in ihm einen kundigen Berater und den idealen Herausgeber einer künftigen Gesamtausgabe zu finden. Obwohl die Lage auf dem Buchmarkt während des Kriegs sehr angespannt war, gelang Martha Musil ein erster Erfolg, als sie 1943 eine Edition von 14 noch unveröffentlichten Kapiteln als dritten Band des Mann ohne Eigenschaften bei der Imprimerie Centrale in Lausanne herausbringen konnte. Vor der Veröffentlichung schrieb sie an 104 Einzelpersonen und 26 Buchhändler mit der Bitte, die Edition zu subskribieren. Wie sie in der Vorbemerkung erklärt, sei die Ausgabe für die Freunde von Robert Musil gedacht, von denen sie wisse, »dass ihnen jeder Gedanke, den er niedergeschrieben hat, selbst in nicht letzter, vollendeter Fassung, wertvoll ist.«7 Daher sind unter den Adressaten ihrer Briefe viele Freunde ihres Mannes wie die Schweizer Carl Seelig, Robert Lejeune und Max Rychner, aber auch der Österreicher Felix Salten, Hermann Hesse und Ignazio Silone zu finden. Aus dem Brief Martha Musils erfahren wir nun, dass Silone den Subskriptionsbrief unterzeichnet und mit persönlichen Worten ergänzt hat. Das Kondolenzschreiben, für das sie sich bedankt, ist nicht überliefert, wie ein Blick auf ihre nachgelassene Privatkorrespondenz zeigt.8 Hingegen ist unter Silones Büchern in der Bibliothek der Fondazione Turati die Lausanner Ausgabe von 1943 vorhanden.9 Als sich Martha Musil an Silone wandte, saß dieser seit zwei Tagen in Zürich im Gefängnis. Die Kantonale Fremdenpolizei hatte ihn verhaftet, weil er das Verbot der politischen Tätigkeit in der Schweiz verletzt hatte. Der Schriftsteller wurde schließlich für schuldig befunden, verurteilt und des Landes verwiesen, das Urteil jedoch nicht vollstreckt, weil eine Überführung in das faschistische Italien für ihn fatale Folgen gehabt hätte. Silone blieb also in der Schweiz, doch zu dem von Martha Musil gewünschten Treffen in Genf ist es nicht gekommen. Nach der Befreiung von Süd- und Zentralitalien durch die Alliierten kehrte Silone nach Rom zurück, wo er 1944 die Leitung der sozialistischen Zeitung L’Avanti übernahm. Nach dem Ende des Kriegs konnte sich Martha Musil nicht länger in der Schweiz aufhalten. Im Juni 1945 fasste sie den Entschluss, trotz ihres fortge7 8

9

Martha Musil: Vorbemerkung, in: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Dritter Band. Aus dem Nachlass hg. v. Martha Musil. Lausanne 1943, S. 7. Vgl. Annette Daigger, Isabelle Dalaudière: Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung an die Universität des Saarlandes. Ein Bericht, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 283–289, hier S. 284 f. Kein Schreiben an/von Silone ist in diesem Nachlass registriert. Das italienische Pendant dieser Edition ist ebenfalls in der Fondazione Turati vorhanden: Robert Musil: L’uomo senza qualità. Volume terzo. A cura di Eithne Wilkins ed Ernst Kaiser. Introduzione di Cesare Cases. Traduzione di Anita Rho. Torino 1962.

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schrittenen Alters die Mühe einer Reise nach Übersee auf sich zu nehmen und zu ihrer Tochter Annina in Philadelphia zu ziehen. Sie spielte mit dem Gedanken, amerikanische Verlagshäuser – wie etwa Alfred A. Knopf – für das Werk ihres Mannes zu interessieren. Allerdings blieben die Kontakte und die Verhandlungen, die sie durch die Vermittlung des Freundes Erwin Hexner und von Thomas Mann herstellen konnte, ohne Erfolg. Daher beschloss sie im Juli 1947 nach Europa zurückzukehren. Diesmal zog sie nach Rom (Via Luigi Settembrini 13), wo ihr Sohn Gaetano Marcovaldi als Gymnasiallehrer arbeitete. Von Rom aus nahm Martha Musil ihre Verhandlungen mit deutschsprachigen Verlegern wie Goverts oder Claassen wieder auf. Nachdem die großen, von ihr favorisierten Häuser keine klare Zusage machten und sie lange hinhielten, zog sie auch die Angebote kleinerer Verlage in Betracht. Im Zusammenhang mit den Kontakten mit den Editions Mermod (Lausanne) empfahl ihr Armin Kesser am 19. Januar 1948: »Das Lausanner Angebot kann ich nicht beurteilen; besser wäre es, wenn die deutsche Ausgabe vorher unter Dach gebracht werden könnte.«10 Um an Musil interessierte Verleger zu treffen und die Verhandlungen mit ihnen konsequenter als von Rom aus voranzutreiben, plante Martha Musil eine Reise nach Zürich. Die Schwierigkeiten einer Rückkehr nach Italien nach einem Aufenthalt in der Schweiz bildeten den Hintergrund für den zweiten Brief an Silone vom 27. Januar 1948.11 Was und ob der italienische Schriftsteller geantwortet hat, ist nicht bekannt. Die Probleme konnte er jedoch offensichtlich nicht lösen, wie aus einem Brief von Martha Musil vom 25. Juni 1948 an Philippe Jaccottet, den zukünftigen Übersetzer der Werke von Robert Musil ins Französische, hervorgeht: »Es würde mich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen, sei es hier [i. e. in Rom] oder in der Schweiz, denn ich ginge gern für einige Zeit nach Zürich, brauche aber dazu die Sicherheit wieder zurückkommen zu können, und das ist nicht ganz einfach zu erreichen.«12 Den genauen Grund für diese Schwierigkeiten erklärt sie in einem weiteren Brief an Jaccottet vom 7. Juli 1948: »Wegen der Schweizer Reise muß ich noch die hiesige Daueraufenthaltsbewilligung abwarten, weil man mir sonst Schwierigkeiten wegen der Rückreise machen könnte, (ein österreichischer Paß hat Nachteile!) aber ich hoffe das noch im Sommer zu erledigen.«13 Einen österreichischen Pass hatte Martha Musil in Washington wieder bekommen. In der Schweiz galten die Musils, wie Karl Corino erläu10

11

12 13

Martha Musil: Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet. Hg. v. Marie-Louise Roth in Zusammenarbeit mit Annette Daigger und Martine von Walter. Bd. 1. Bern u. a. 1997 (= Musiliana, Bd. 3/1), S. 222. Dass Martha Musil Silones Adresse von ihrem Freund Franz Theodor Csokor bekam, erklärt sich daher, dass dieser 1947 in Rom als Korrespondent für die BBC arbeitete und dort möglicherweise in direktem oder indirektem Kontakt mit dem italienischen Schriftsteller stand. M. Musil: Briefwechsel mit Kesser und Jaccottet (s. Anm. 10), S. 333. M. Musil: Briefwechsel mit Kesser und Jaccottet (s. Anm. 10), S. 334.

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tert, als »Auslandsdeutsche« und konnten daher nur einen deutschen Pass auf Zeit beantragen, nachdem die Nationalsozialisten mit dem ›Anschluss‹ auch die Notwendigkeit österreichischer Pässe eliminiert hatten.14 Die ersehnte Reise von Martha Musil in die Schweiz fand so erst im Juli 1948 statt. Sie fuhr wegen des besagten »Lausanner Angebots« nach Lausanne; Ende des Monats war sie wieder in Rom. Mit Blick auf die genannten Verlagsverhandlungen blieb jedoch auch diese Reise erfolglos. Eine deutsche Ausgabe bei Goverts oder Claassen vermochte sie in der Zeit ebenso wenig »unter Dach« zu bringen. Der Rowohlt Verlag, mit dem sie ab Dezember 1948 korrespondierte und der ihre erste Option gewesen wäre, nahm ihr gegenüber eine taktierende Haltung ein und sollte sich erst nach ihrem Tod im August 1949 dazu entschließen, das Werk von Robert Musil in einer Neuedition mit Adolf Frisé als Herausgeber zu veröffentlichen. Im Brief an Silone aus dem Januar 1948 beschwert sich Martha Musil auch über das geringe Interesse für Musil in Italien. In diesem Zusammenhang äußert sie in einem Brief an Jaccottet vom 21. November 1948, der 1946 den Doyen der italienischen Dichtung in Rom getroffen und einen Aufsatz über ihn geschrieben hatte, eine bemerkenswerte Vermutung: »Vielleicht hätte Ungaretti auch Gefühl für Musil, aber er versteht wohl nicht deutsch.«15 Martha Musils Annahme einer Wahlverwandtschaft zwischen Ungaretti und Musil setzt voraus, dass sie den italienischen Dichter und sein lyrisches Werk schätzte. Ungarettis Gedichte über den Krieg wie zum Beispiel das berühmte, aus der Sammlung Il porto sepolto stammende Sono una creatura (dt. Ich bin eine Kreatur) basieren auf seinen Fronterfahrungen auf dem Monte San Michele – dem gleichen Frontabschnitt, an dem auch Robert Musil im Ersten Weltkrieg auf österreichischer Seite gekämpft hatte. Ob Ungaretti trotz der Sprachbarrieren einmal »Gefühl für Musil« entwickelt hat, lässt sich schwer sagen. Mit Blick auf Italien steht auf jeden Fall fest, dass die erste italienische Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften erst 1957/1958 beim Verlag Einaudi (Turin) erscheinen und eine kritische Auseinandersetzung mit Musil nicht vor 1960 einsetzen sollte.16 Somit ist der zweite Brief von Martha Musil an Silone nicht nur ein Zeugnis für die Reisebeschränkungen nach Kriegsende und für die Schwierigkeiten, ein Visum für Italien zu bekommen, sondern verweist auch auf das allgemeine Desinteresse an Musil in der Schweiz und in Italien sowie auf die Schikanen und Demütigungen, die Martha Musil in den 14 15 16

Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2 2005, S. 1327. M. Musil: Briefwechsel mit Kesser und Jaccottet (s. Anm. 10), S. 348. Die ersten Stellungnahmen der italienischen Germanistik sind jene von Ladislao Mittner in seiner monumentalen Storia della letteratura tedesca (1960) und Claudio Magris in seinem Il mito asburgico nella letteratura austriaca (1963). Die erste Monographie lieferte Aloisio Rendi (Robert Musil, 1963). Ein Jahr später, und zwar im Dezember 1964, fand in Rom die MusilAusstellung statt, die Silone mit seiner Rede eröffnete. Vgl. Enrico De Angelis: Musil nella cultura italiana, in: Robert Musil nel primo centenario della nascita. Innsbruck, Wien 1980, S. 21–30.

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Kontakten mit verschiedenen deutschsprachigen Verlegern ertragen musste – ein wenig ruhmreiches Kapitel der deutschen Verlagsgeschichte. Als sich Martha Musil 1948 an Silone wandte, machte dieser gerade eine schwierige Zeit durch: Wie aus den Erinnerungen von Klaus Mann hervorgeht, war er nach seiner Rückkehr nach Italien in einer sehr prekären Lage; das hatte zunächst mit der Wohnungssituation zu tun: »Die Silones«, berichtet Klaus Mann, »leben also als Gäste der Besatzungsmacht, vorläufig, wie Madame [i. e. Silones Frau, ›eine Irin, ziemlich reizvoll‹] mehrfach versicherte. ›Bis wir etwas anderes finden! Aber es gibt keine Wohnungen hier in Rom . . .‹«.17 Außerdem fand Klaus Mann den »alten Bekannten aus Züricher Vorkriegstagen« in Sorge, weil er noch kein Gleichgewicht zwischen seinem politischen Engagement und dem Schreiben gefunden habe: Übrigens machte er einen präokkupierten, fast verstörten Eindruck. Wenn er im Exil Heimweh nach seinem Italien hatte, jetzt scheint er sich ins Exil zurückzusehnen. Wir sprachen viel von der Schweiz. Dort ging es ihm gut, trotz der Nostalgie, von der er sich zu schönen Büchern inspirieren ließ. In Rom aber findet er sich vielfach in Anspruch genommen und abgelehnt; die Politik frißt ihn auf; zum Schreiben kommt er beinah gar nicht mehr.18

Schließlich sei Silone über die italienische Rezeption seines Romans Fontamara (1933), die in Italien als »Der Fall Silone« bekannt geworden ist, verbittert: Die fast gehässige Reserviertheit, mit der die römische Kritik das Buch bespricht, muß den Autor kränken und enttäuschen. Auch das Publikum zeigt wenig Enthusiasmus. Sonderbar! Ein Werk, das sonst überall als gültiger und reiner Ausdruck des italienischen Wesens gilt, wird gerade hier, in Italien, nicht verstanden oder gar nicht gebilligt. Die Italiener sagen: »Silone kennt uns gar nicht, ist uns fremd geworden. Sein Stil hat fremden Rhythmus; die Bilder und Akzente, mit denen er operiert, sind hier nicht üblich; alles an ihm mutet exotisch an. Im Ausland mag er italienisch wirken, nicht hier! Hier hat er keine Wurzeln. Sein Ruf klingt falsch, weshalb er ohne Echo bleiben wird.«19

Das Fazit von Klaus Mann ist sehr pessimistisch: »Bitter ist die Verbannung. Bitterer noch ist die Heimkehr.«20 Wenn wir zum Schluss dieses einleitenden Kommentars nach der Art bzw. nach der Tiefe der Beziehung von Robert Musil und Ignazio Silone fragen, dann müssen wir feststellen, dass wir fast ausschließlich auf Zeugnisse von Silone angewiesen sind. Musil dagegen hat sich kaum zu seinem italienischen Schriftstellerkollegen geäußert. Sein Schweigen über Silone sollte allerdings nicht als Desinteresse oder als mangelnde Wertschätzung gedeutet 17 18 19 20

Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Mit einem Nachwort v. Frido Mann. Reinbek b. Hamburg 1993, S. 475. Mann: Der Wendepunkt (s. Anm. 17), S. 475. Mann: Der Wendepunkt (s. Anm. 17), S. 475 f. Mann: Der Wendepunkt (s. Anm. 17), S. 476.

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werden. Das Gegenteil ist der Fall: »Musil scheint ihn [i. e. Silone] sehr bewundert zu haben«, attestiert Karl Corino, »obwohl er es schriftlich nirgends niederlegte. Da war offenbar einer aus der jüngeren Generation, den er trotz eines ganz anderen, unessayistischen Erzählstils und trotz seines Erfolgs gelten ließ!«21 Musils einzige Erwähnung Silones findet sich in einem Brief an Carl Seelig vom 22. März 1942. Hier schreibt Musil: »Den neuen Roman von Silone habe ich leider noch nicht in den Händen gehabt; ich schätze Silone sehr.« (Br I, S. 1411) Die Wertschätzung von Musil gilt hier dem Romancier. Die im Brief geäußerte Bewunderung setzt voraus, dass er die beiden Meisterwerke von Silone, Fontamara (1933) sowie Brot und Wein (1936), kannte. Der 1942 erschienene Roman Der Samen unter der Erde, auf den Musil anspielt, ist als eine Fortsetzung von Brot und Wein konzipiert, in dem die Geschichte von Piero Spina, Silones Alter Ego, weiter erzählt wird. Darüber hinaus zeigte Musil große Achtung gegenüber einer in Zürich von Emil Oprecht verlegten Emigrantenzeitschrift, in der Silone und Thomas Mann publizierten. Nach seiner Ankunft in Zürich kündigt er im November 1938 Thomas Mann den Versuch an, »[s]eine Mitarbeit an ›Maß u. Wert‹ irgendwie zu beleben.« Er habe »im ganzen den Eindruck empfangen, daß die Zeitschrift von Anfang an nicht nur vielversprechend, sondern auch viel erfüllend im Geiste ihres Titels geführt worden ist.« (Br I, S. 883)22 Somit dürfte Musil mit Silones in Maß und Wert publizierten Schriften über den Faschismus vertraut gewesen sein, und seine lobenden Worte für die Zeitschrift galten direkt oder indirekt auch dem italienischen Schriftsteller. Ganz bestimmt hat er auch die Anthologie Dichter helfen (Zürich 1936) gekannt, in der eine Novelle von Silone veröffentlicht wurde, weil er in den Genuss der Subventionen gekommen ist, die auf Initiative des »Comité International pour le Placement des Intellectuels Réfugiés« dank der Anthologie und Privatspenden gesammelt wurden. Silone selbst hat sich zu Martha und Robert Musil in einem Brief an Efraim Frisch vom 3. April 1939 sowie im bereits zitierten Essay ausführlich geäußert. Im Brief über die problematische Wohnungssituation der Musils skizziert er ein interessantes Psychogramm des Paares: Die Versuche, Herrn und Frau Musil für länger in einer Familie in Zürich unterzubringen, sind nicht erfolgreich gewesen, vor allem deshalb, weil aufgrund des Alters, des Gesundheitszustands, der Gewohnheiten und der Psychologie von Herrn und Frau Musil ein einzelnes Zimmer nicht ausreicht. (In der Pension Fortuna, wo sie jetzt leben, bewohnen sie in der Tat drei Zimmer.)23

21 22 23

Corino: Robert Musil (s. Anm. 14), S. 1339. Vgl. Elisabetta Mazzetti: Thomas Mann und Ignazio Silone, in: dies.: Thomas Mann und die Italiener. Frankfurt a. M. u. a. 2009 (= Maß und Wert, Bd. 5), S. 163–184. Silone: Musils Wohnungsnot (s. Anm. 4), S. 395.

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Silone spielt auf die Diskrepanz zwischen den Luxusansprüchen der Musils und ihrer finanziellen Situation an, ohne ihnen allerdings die Neigung, über die eigenen Möglichkeiten leben zu wollen, zum Vorwurf zu machen.24 Sein Hinweis auf das fortgeschrittene Alter des Ehepaares und auf ihren Gesundheitszustand (Robert Musil litt an Hypertonie) erinnert an die praktischen Schwierigkeiten, die die Emigranten neben der Entwurzelung und Heimatlosigkeit im Exil bewältigen mussten. Die am Ende des Zitats angedeuteten Idiosynkrasien der Musils verweisen auf deren extravagante Lebensgewohnheiten (etwa Roberts Obsession für das body building) bzw. anspruchsvollen Lebensstil und lassen sich als Ausdruck von Weltfremdheit und Egozentrismus deuten. Je nachdem, wie man Silones Urteil über Martha Musil akzentuiert, entsteht ein ganz unterschiedliches Bild von ihr. Musils alter Freund Johannes von Allesch etwa vergleicht die Rolle Martha Musils mit jener eines Cerberus, der über die disziplinierte Arbeit des eigenen Gatten streng wachte und ihn vor jeder Ablenkung bewahren wollte.25 Mit Blick auf diese Erinnerungen spricht Corino von einer von ihr geschaffenen Glasglocke, in der sich Robert Musil angeblich gefangen und gelähmt fühlte.26 Dabei sind die Grenzen zwischen Fürsorge und Inbesitznahme, Hingabe und Dominanz ziemlich fließend. In der Charakterisierung Marie-Louise Roths hingegen werden zwar gewisse problematische Züge nicht negiert, allerdings herrscht hier das Gesamtbild einer liebenden und fürsorglichen Frau, die sich für ihren in der Bewältigung des Alltags angeblich wenig begabten und gesundheitlich angeschlagenen Mann aufopfert. Im Zusammenhang dieser positiven Darstellung Martha Musils hebt Regina Schaunig ihre (verschwiegene) Rolle als CoAutorin der Werke ihres Mannes und ihren entscheidenden Beitrag zu seinem postumen Ruhm hervor.27 Silone hat in seinem Musil-Essay, in dem er Marthas unersetzliche Bedeutung für ihren Mann während des Schweizer Exils akzentuiert, ein sehr positives Bild von ihr gezeichnet: »Musil hatte das Glück, zwei ihm überaus ergebene Menschen um sich zu haben, die sich Tag und Tag um ihn mühten – seine Gattin Martha und den Wiener Bildhauer Wotruba«.28 Zwar steht diese Beobachtung im Zusammenhang mit Silones Versuch, die »übertriebene[n] Darstellungen« der wirtschaftlichen und bürokratischen Schwierigkeiten Musils in Zürich zu relativieren (mit dem Hinweis darauf, dass »es Musil nie am 24 25 26 27

28

Vgl. dazu ausführlich Corino: Robert Musil (s. Anm. 14), S. 1301 ff. Vgl. Johannes von Allesch: Eine letzte Begegnung mit Musil, in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 3), S. 409–410. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 14), S. 1336. Regina Schaunig: Das Murmeln der Dichterfrau: Martha Musil als Co-Autorin, in: Massimo Salgaro (Hg.): Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe. Bedingungen und Möglichkeiten einer digitalen Edition. München 2014 (= Musil-Studien, Bd. 42), S. 69–96. Silone: Begegnungen mit Musil (s. Anm. 3), S. 352.

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Abb. 1: Martha Musil an Ignazio Silone, 16. Dezember 1942.

Nötigsten [fehlte]«);29 allerdings bemerkt er auch, dass »die Beschaffung dieses Nötigsten [. . .] mit großem Zeit- und Nervenaufwand verbunden« war, »und oft genug zitterte man darum, ob die Bemühungen auch Erfolg haben würden.«30 Auch über Robert Musil hat Silone ausführliche Erinnerungen schriftlich festgehalten, so dass wir imstande sind, die Gründe für sein Interesse an ihm zu rekonstruieren. Musil zu begegnen und mit ihm zu verkehren, so unsere Annahme, war damals aus Silones Perspektive zunächst eine Frage der Anerkennung und des Prestiges. Vor dem Schweizer Exil hatte sich Silone allererst einen Namen als politischer Aktivist gemacht. In der Schweiz wollte er nun jener Berufung nachgehen, die schon Antonio Gramsci in ihm entdeckt hatte: dem literarischen Schreiben. Unter denjenigen, die ihn in dieser Absicht bestärkten und bestätigten, sind im Exil u. a. Robert Musil und der Verleger Emil Oprecht, der seine ersten Romane veröffentlichte, zu nennen.31 Daher hebt Silone in seinem Rückblick die Gemeinsamkeiten mit Musil hervor. Er zitiert etwa eine Behauptung Musils, in der dieser das gemeinsame Schicksal thematisiert habe: »›Heute‹, sagte er, ›kennen sie [i. e. die Schweizer] uns nicht. Aber wenn wir einmal tot sind, werden sie sich rühmen, uns Asyl gewährt zu haben.‹«32 Und er fügt dann hinzu: »In der Tat, heute rühmen sie sich.«33 Der 29 30 31 32 33

Silone: Begegnungen mit Musil (s. Anm. 3), S. 352. Silone: Begegnungen mit Musil (s. Anm. 3), S. 352 f. Vgl. Stanislao G. Pugliese: Bitter Spring. A Life of Ignazio Silone. New York 2009, S. 130. Silone: Begegnungen mit Musil (s. Anm. 3), S. 355. Silone: Begegnungen mit Musil (s. Anm. 3), S. 355.

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Abb. 2: Martha Musil an Ignazio Silone, 27. Januar 1948.

Akzent liegt im Zitat auf dem ›uns‹: Silone setzt voraus, dass Musil ihn auf die gleiche Ebene stellte wie sich selbst. Parallel zu dem Erfolg seiner Romane legte er Wert auf die Anerkennung einer Autorität des Literaturbetriebs, wie sie Robert Musil – oder auch Thomas Mann – zweifellos verkörperte.

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2. Briefe 2.1 Martha Musil an Ignazio Silone, 16. Dezember 1942 Fondazione Turati/Fondo Ignazio Silone [Billett auf schwarzumrahmtem Kondolenzpapier; Kurrent; kein Briefumschlag] Genf, 16. XII . 1942 Lieber Herr Silone! Ich möchte Ihnen für Ihre Teilnahme danken und Ihnen zugleich sagen, daß es mir nicht recht ist, dass Sie, persönlich, das Buch subskribiert haben; – beides läßt sich aber so schwer in einem Brief vereinigen, daß ich nicht mehr darüber schreiben will, sondern hoffe, Sie bald einmal in Genf zu sehen. Es grüßt Sie bestens Ihre Martha Musil. r. Ch[emin] d[es] Clochettes. Tel. 55671

2.2 Martha Musil an Ignazio Silone, 27. Januar 1948 Fondazione Turati/Fondo Ignazio Silone [kein Briefumschlag] Roma, 27. I . 1948 Preg. Mo Signor Silone, Csokor mi ha dato il numero della Sua casella postale, ed io avrei molto piacere di rivederla dopo tanti anni. Anche Lei ricorderà Zurigo. Io ci vorrei andare per poche settimane essendo invitata da un editore, per occuparmi dell’opera di mio marito. Qui non si sa nulla di Musil. Avendo saputo quanto è difficile ottenere il permesso di rientrare in Italia, vorrei permettermi di chiederle un consiglio riguardo alla via migliore, il permesso per la Svizzera ho [sic] già ricevuto. Coi migliori saluti Sua dev. ma Marta [sic] Musil

Übersetzung: Rom, 27. I . 1948 Sehr geehrter Herr Silone, Csokor hat mir Ihre Postfachnummer gegeben, und ich würde mich sehr freuen, Sie nach vielen Jahren wieder zu sehen. Sie werden sich auch an Zürich erinnern. Ich möchte der Einladung eines Verlegers folgen und dorthin fahren, um mich um das Werk meines Mannes zu kümmern. Hier weiß man nichts von Musil. Da ich erfahren habe, wie schwierig es ist, nach Italien zurückzukehren, erlaube ich mir, Sie um Rat bezüglich des besten Weges zu fragen. Die Genehmigung für die Schweiz habe ich bereits bekommen. Mit den besten Grüßen Ihre ergebene Martha Musil

Oliver Pfohlmann

Das Zen des Übersetzens Karl Corinos Biographie zu Robert Musil auf Japanisch1 Der »Zug der Zeit« rast mit uns Passagieren immer schneller ins Ungewisse, schrieb einst Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften. Und bemerkte bei den unfreiwilligen Insassen das wachsende Bedürfnis, angesichts der sich beschleunigenden Moderne auszusteigen oder abzuspringen, ein »Heimweh nach Aufgehaltenwerden«. Der österreichische Romancier wusste, wovon er sprach: Statt den Literaturbetrieb mit immer neuen Titeln zu füttern, schrieb er sein halbes Schriftstellerleben bis zu seinem Todestag nur noch an einem Werk, bemüht um ein Höchstmaß an Genauigkeit und Bedeutungsfülle, ohne dieses je zu vollenden – und erschuf ein Zeit fressendes Monster in Buchform, das bis heute jeden verschlingt, der es aufschlägt. Keiner könne sagen, er habe den Mann ohne Eigenschaften ganz gelesen, bemerkte einmal der französische Theaterautor und Regisseur Jean-François Peyret und hatte ganz recht damit. Auch der Forschung geht es so: In Musils Geburtsstadt Klagenfurt etwa arbeitet man schon seit der Jahrtausendwende daran, Musils Werk, nicht nur seinen großen Roman, sondern auch die zigtausend nachgelassenen Seiten mit den immer neuen Entwürfen, Varianten und Handlungsplänen sowie Abertausenden von Querverweisen digital zu edieren. Ein Abschluss dieser Arbeiten ist nun für 2023 vorgesehen. Nun aber erreicht uns von einem japanischen Musil-Forscher die Kunde, nach 13-jähriger Übersetzungsfron sei man endlich mit der Arbeit fertig geworden. Übersetzt wurde aber nicht etwa der Mann ohne Eigenschaften, sondern eine Musil-Biographie. Oder besser gesagt, die Musil-Biographie von Karl Corino, selbst ein Zweitausend-Seiten-Monstrum, davon allein 400 Seiten Anmerkungen. Eine Pionierleistung, für die der Tübinger Musil-Spezialist und ehemalige Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks natürlich auch erst einmal ein knappes halbes Jahrhundert lang recherchieren musste. Gleich nach dem Erscheinen der Biographie im Jahr 2003 begann in Japan ein vielköpfiges Team unter der Leitung von Professor Nanao Hayasaka von der Tokioter Chuo-Universität mit der Übertragung; nach den ersten beiden Teilen 2009 und 2012 erschien nun bei Hosei University Press der Abschlussband der japanischen Ausgabe. Bei der Übersetzung ging man nicht mit der 1

Zuerst gedruckt in: Neue Zürcher Zeitung, 29. 3. 2016.

Das Zen des Übersetzens

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Just-In-Time-Logik von Mitsubishi- oder Sony-Managern vor, sondern mit der Bedächtigkeit und Sorgfalt von Zen-Gärtnern. Mehr als zweitausend Eigennamen mussten beispielsweise erst einmal in Katakana, der Silbenschrift (eigentlich Morenschrift) der japanischen Sprache, übertragen werden, und bei den immer neuen Revisionen sei man »wie mit dem Läuserechen gründlich« vorgegangen, erklärt Nanao Hayasaka stolz, so dass sein Team nebenbei noch über zweihundert Druckfehler in der deutschen Ausgabe nachweisen konnte. Deshalb glaubt nun auch Karl Corino, »die höchste Form der Genauigkeit ist die japanische«, und schickte zum Dank zwei Flaschen Rotwein Marke »Musil« nach Japan. Wir aber wissen nun: Das »Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele«, das Musil in seinem Jahrhundertroman zur Rettung der Menschheit forderte, es sollte in Japan eröffnet werden.

Rezensionen

Karen Brüning: Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2015 (= Moderne und Gegenwart, Bd. 20). 335 S. € 64,95. Das 2015 erschienene Buch Karen Brünings, Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk, setzt sich mit einem Thema auseinander, das in der Musil-Forschung seit gut fünfzig Jahren immer wieder thematisiert wird: das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung – als zwei komplementäre Modi der Erkenntnis – in Robert Musils Œuvre. In seinen Werken ist eine intellektuelle Dichte zu spüren, die nicht zuletzt auf seine naturwissenschaftliche und philosophische Ausbildung zurückzuführen ist. Bekanntlich studierte Robert Musil nach Abschluss seines Ingenieurstudiums von 1903 bis 1908 Philosophie und Psychologie an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, zu einer intellektuell außerordentlich lebendigen Zeit, in der hervorragende Philosophen, Wissenschaftler und Denker ihre Vorlesungen hielten: Erwähnt seien beispielweise die Mathematiker Ferdinand Georg Frobenius und Max Planck, in der Philosophie der Hegelianer Adolf Lasson, weiterhin Adolf Menzer, der mit Wilhelm Dilthey an der kritischen Ausgabe der Werke Kants arbeitete, Friedrich Paulsen und Max Dessoir, der Musil mit seiner Auffassung des Doppel-Ich und der Theorie der Sphären der Persönlichkeit anregte; zudem seien die Kunsthistoriker Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf und Heinrich Wölfflin genannt. Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren in Wissenschaft und Philosophie eine Zeit des Umbruchs, die in der Wissenschaftsgeschichte als »Krise der Wissenschaften« bezeichnet wird. Es waren jene Jahrzehnte, in denen die letzten Überreste des spätpositivistischen Denkens bzw. der Assoziationismus in der Psychologie und der Empirismus in der Philosophie durch einen Paradigmenwechsel endgültig überwunden wurden, der sehr deutlich durch das Aufkommen der Gestaltpsychologie und der Gestalttheorie markiert wurde. Musil studierte in Berlin bei dem Philosophen Carl Stumpf, der den Wendepunkt von der Philosophie zur experimentellen Psychologie vollzog und bei dem sich eine junge Generation von Wissenschaftlern ausbildete, die dann die Gestalt-Wende in der Psychologie vollbrachte: Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Kurt Lewin, Gustav Johannes von Allesch, Erich M. von Hornbostel. Unter der Leitung von Carl Stumpf verfasste Musil seine Dissertation über den Philosophen Ernst Mach, der als Gründer des

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Empiriokritizismus gilt und als Vorläufer und wichtiger Bezugspunkt für die Entwicklung der Gestalttheorie betrachtet wird. Der Einfluss der Gestalttheorie auf Robert Musils Werk ist in zahlreichen Studien nachgewiesen worden, allerdings gab es bis dato wenige Arbeiten, die ausführlich auf die literarische Umsetzung von Annahmen und Grundideen der Gestalttheorie in narrativen Textstrukturen eingegangen sind. Karen Brüning ist es gelungen, anhand von sorgfältigen Textanalysen zu beweisen, dass Musils Frühwerk als kühnes narratives Experiment zu betrachten ist, bei dem Methoden, Annahmen und Ergebnisse der experimentellen gestalttheoretischen Tätigkeit in narrative Textstrukturen übertragen werden, damit »Erkenntnis« generiert wird. Musil war stets um einen holistischen Wirklichkeitsbegriff jenseits eines kategorialen Dualismus Körper/ Seele, Wissenschaft/Kunst oder Ich/Welt bemüht. Er sah Psychologie, Naturwissenschaften und Literatur als komplementäre Domänen. Die Aufgabe des Dichters sei es, eine Erkenntnis zu erzeugen, die auf »lebenden Gedanken« basiert, jenseits der begrifflichen Erstarrung eines kategorialen wissenschaftlichen Denkens: »Die Psychologie und die Literatur Musils streben [. . .] dasselbe an: Ziel ist die Erhellung psychischer Vorgänge« (S. 15). Sehr glücklich scheint mir Brünings Entscheidung, sich auf Musils sogenanntes »Frühwerk« (bis zur Abfassung der Drei Frauen, also ohne den Mann ohne Eigenschaften) zu konzentrieren: Das Frühwerk Musils zeigt am besten den Einfluss dieses komplexen Gedankengutes; im Mann ohne Eigenschaften wird das Gestaltdenken hingegen – wie Brüning mehrmals betont – diffus diskursiviert. Die Monographie besteht aus neun Hauptteilen: »Einleitung« (Kap. 1), »Die Wurzeln der Gestaltpsychologie« (Kap. 2), »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß – Zwischen Wissenschaft und Dichtung« (Kap. 3), »Musils Dissertation über Ernst Mach und die Aufgabe von literarischen Kausalzusammenhängen« (Kap. 4), »Vereinigungen – Ein literarisches Experiment zur Negierung des Kausalzusammenhangs« (Kap. 5), »Die Genese der Gestaltpsychologie« (Kap. 6), »Musils Seelenbegriff als Produkt gestalttheoretischer Einflüsse« (Kap. 7), »Drei Frauen – Die Verschmelzung von Gegensätzen zu seelischen Gestalten« (Kap. 8), »Schlussüberlegungen – Die Allgemeingültigkeit dichterischer und seelischer Erkenntnis« (Kap. 9). Im ersten Kapitel präsentiert Brüning synthetisch den philosophischen Nährboden, der zur Entwicklung der Gestalttheorie bzw. Gestaltpsychologie geführt hat, sowie ihre methodische Herangehensweise. Brüning bietet hier einen neuen diskursanalytischen Ansatz zur wissenschaftshistorischen Rahmenbildung: »Die Umbruchsituation der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts als diskursanalytischer Bezugsrahmen« (Kap. 1.3.2). Basierend auf Foucaults Annahmen in Archäologie des Wissens (1973) und Die Ordnung der Dinge (1974) stellt sie die Organisation des Wissens bzw. die Fixierung von Wissen in wissenschaftlichen Diskursen dem »Gegendiskurs« der Literatur (S. 31 f.) gegenüber. Da Literatur nicht an die Regeln

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und Zwänge wissenschaftlicher Diskurse gebunden ist, kann sie etwas leisten, was diese nicht leisten können: Literatur kann »sagbar« machen, was im wissenschaftlichen Diskurs unsagbar – und daher »ungültig« – ist (S. 32). »Umbruchsituationen« – so Brünings Grundthese – lassen sich durch die Diskursanalyse rekonstruieren, denn sie seien – weiter mit Foucaults Worten – »eine tiefe Öffnung in der Schicht der Kontinuitäten«,1 die Neu- und Umorientierungen im Denken und somit auch in der Organisation von Wissensstrukturen zutage treten lassen. Musil reiht sich in diese Linie als Vertreter der Frühen Moderne (vgl. S. 33) ein und wird somit exemplarischer Vertreter einer Generation von Autoren, die ein neues Verhältnis zur Wissenschaft sucht und sich vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses der Naturwissenschaften um eine neue Positionierung und Legitimierung der Literatur – ebenfalls als Mittel der Erkenntnis – bemüht. Der Gestaltbegriff liefere Musil einen integrativen ganzheitlichen Ansatz, bei dem Gefühle, Volitionen und Kognitionen in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden. Im zweiten Kapitel rekonstruiert Brüning die Rolle von Carl Stumpf als Wegbereiter der Berliner Schule der Gestaltpsychologie und seine Auseinandersetzung mit dem »neutralen Monismus« Ernst Machs sowie die damalige wissenschaftliche Diskussion um den Begriff der Gestaltqualitäten, der durch die Veröffentlichung von Christian von Ehrenfels’ Aufsatz Über Gestaltqualitäten angeregt wurde. Im dritten Kapitel geht Brüning auf die Verwirrungen des Zögling Törleß ein. Der Törleß ist tatsächlich in Bezug auf den Einfluss der Gestalttheorie weniger erforscht worden als etwa die Vereinigungen. Hier vertritt Brüning überzeugend die These, dass Musil an den Experimenten über optische Wahrnehmung teilnahm, die Friedrich Schumann, der Assistent von Carl Stumpf, durchführte. Es waren vor allem Selbstbeobachtungsexperimente, bei denen die gesammelten Beobachtungen später verbalisiert werden mussten. Im Törleß liefern diese Selbstbeobachtungserfahrungen unter experimentellen Bedingungen – es ging um Experimente zu optischen Täuschungen – die Grundlagen für narrative Textteile und für Reflexionen über das »Wahre« und das »Erlebte«. Auf den Einfluss von Ernst Mach seien zahlreiche leitende Themen im Törleß zurückzuführen: die Sprachskepsis, das Thema der Arbitrarität der Begriffe, die ungenaue Trennung zwischen Subjekt und Objekt, das Erkenntnisproblem. Brüning rundet jedes Kapitel ihrer Monographie mit einem »Zwischenfazit« ab, das hier den Titel »Törleß zwischen Psyche und Seele« trägt (S. 107–109). Im vierten Kapitel beschäftigt sich Brüning mit Musils Dissertation über Ernst Mach. In diesem Teil referiert sie umfassend über den Stand der Forschung und betont dabei die Zentralität der Auseinandersetzung Musils mit 1

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1974, S. 83.

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dem Kausalitätsprinzip und dessen Ersetzung durch das Funktionalitätsprinzip. Sie streicht den auch in der Forschung dazu wiederholt konstatierten Einfluss Machs auf Musils Vereinigungen, die dann im fünften Kapitel eingehend analysiert werden, hervor. Auch an dieser Stelle interpretiert Brüning Musils Novellen als einen Versuch, dualistische Strukturen zu überwinden, hier am Beispiel der Gegensatzpaare »Treue/Liebe« vs. »Ehebruch« (in Die Vollendung der Liebe) und »Leben« vs. »Tod« (in Die Versuchung der stillen Veronika). Das führe zur Ersetzung von einfacher Kausalität durch »Motivation«. Auch auf der Grundlage der Studien Traugott Konstantin Oesterreichs – ebenso ein wichtiger intellektueller Impuls, der auf die Berliner Studienzeit zurückzuführen ist – negiere Musil somit nicht so sehr die Substantialität des Ich, sondern zeige dessen Prozess- und Komponentenhaftigkeit durch narrative Strukturen – eben durch die Geschichte von Claudine und Veronika. Im sechsten Kapitel liefert Brüning einen synthetischen Überblick über die Genese der Gestaltpsychologie und geht auf die wichtigsten Werke ein, die im Zeitraum 1910–1925 entstanden sind. Es ist jene Zeit, die zur Formulierung der Gestaltgesetze auf der Grundlage der experimentellen Ergebnisse in der Wahrnehmungspsychologie führte. Brüning geht auf Adhémar Gelbs Theoretisches über Gestaltqualitäten (1910) sowie auf Max Wertheimers Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung (1912) – über das PhiPhänomen und die scheinbare Bewegung – und Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt (1922/1923) mit der Erarbeitung der Gestaltgesetze ein; zudem bezieht sie sich auf Wolfgang Köhlers grundlegenden Text gegen die Konstanzannahme, Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen (1913), und auf die Abhandlung Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1920), die die Grundlagen des kritischen Realismus und des Isomorphismus liefert; weiter bespricht sie Kurt Koffkas Psychologie der Wahrnehmung (1914), Kurt Lewins Kriegslandschaft (1917), Das Problem der Willensmessung und das Grundgesetz der Assoziation (I – II, 1921/1922) mit der Kritik des Assoziationsgesetzes sowie die Studie Über die Umkehrung der Raumlage auf dem Kopf stehender Worte und Figuren in der Wahrnehmung (1923), in der gezeigt wird, dass Gestalten willensgesteuerte Phänomene sind. Schließlich behandelt sie auch Erich M. von Hornbostels Schrift Über optische Inversion (1922) zu Kippbildern. Im siebten Kapitel setzt sich Brüning mit Musils Seelenbegriff als Produkt gestalttheoretischer Einflüsse auseinander. Sie fasst zusammen: »Diese konsequente Orientierung an psychischen Phänomenen stellt einen Punkt dar, der Musil gleichzeitig mit den Forschungen der Gestaltpsychologen verbindet und von ihnen trennt. Er verfolgt die Entwicklung der Gestaltpsychologie aufmerksam, problematisiert aber den Zugang, der, wie auch in der ›alten‹ Psychologie, über die psychischen Funktionen erfolgt – die Frage nach seelischen Prinzipien, wie Musil sie stellen möchte, wird nicht untersucht.« (S. 213)

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Sie geht ausführlich auf Musils Essays Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) und Wege zur Kunstbetrachtung (1921) ein. Im achten Kapitel analysiert Brüning das Novellentriptychon Drei Frauen. Sie sieht einen engen Zusammenhang zwischen den Vereinigungen und Drei Frauen: In beiden gelte die Gestalttheorie als Inspirationsquelle, eine textimmanente Analyse bestätige dies. In Grigia, wie auch in Die Versuchung der stillen Veronika, sei der Gegensatz von Leben und Tod narrativ aufgelöst. Grundlegend sei hier die literarisch umgesetzte Methode des Invertierens (Kippfiguren), was zu unterschiedlichen narrativen Ausprägungen des Figur-Grund-Phänomens führe (vgl. S. 230 ff.). Auch die »antisynthetische Herangehensweise« (S. 232) sei eine literarische Umsetzung der Kritik der Konstanzannahme. In Die Portugiesin sind ebenfalls unterschiedliche Inversionen zu einem Prozess der Selbstfindung umfunktionalisiert. In Tonka sei der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Fiktion aufgelöst in der Komponentenhaftigkeit des narrativen Geschehens, das dann vom Bewusstsein zu einem Komplex geordnet werde (Gestaltbildung). Im Kapitel 8.2 zeigt Brüning, wie die Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) als theoretisches Pendant zum Novellentriptychon zu betrachten ist. Im neunten Kapitel finden sich schließlich Schlussfolgerungen und eine diskursanalytische Auswertung der Ergebnisse. Resümierend lässt sich feststellen, dass das Buch einen wichtigen Beitrag zur Musil-Forschung liefert, vor allem dank der genauen textimmanenten Analysen von Werken, in denen Musil gestalttheoretische Annahmen literarisch umsetzt. Es ist eine sehr fesselnde Lektüre, die die schon geleisteten Studien über das Thema nutzt, um Musils Werk mit großem hermeneutischen Gewinn zu interpretieren, und daher – und dies ist ein großer Vorteil – keine präzisen intertextuellen Bezüge rekonstruieren bzw. theoretischen Zusammenhänge beweisen muss. Dafür legt sie überzeugend dar, wie Musils Texte trotz der sie fundierenden intellektuellen Dichte literarische Texte – im besten Sinne des Wortes – bleiben. Silvia Bonacchi

Karl Corino: Begegnung dreier Berggipfel. Alfred, Alois und Robert Musil. Klagenfurt, Wien: kitab 2015. 69 S. € 10,–. Karl Corino, der unermüdlich Archive nach weiteren Dokumente über Musil und seine Familie durchsucht, hat in diesem schmalen Bändchen Briefe und Fotos über Robert Musils Vater, den Ingenieur und Professor Alfred Musil (1846–1924), dessen Großneffen, den Orientforscher Alois Musil (1868–1944), und deren Beziehungen zu Robert Musil publiziert. Abgedruckt wird eine Reihe von Briefen Alfred Musils an seinen Großneffen, der als Priester ge-

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weiht wurde, später an den Universitäten Wien und Prag unterrichtete und als bedeutendster Orientforscher seiner Zeit gilt. In den Briefen geht es um die verschiedensten Themen: etwa um Nachforschungen über die Familie oder Gesuche von Alfred, die Alois, der über Kontakte zum Kaiserhaus verfügt, unterstützen soll. Neben dem »Geschäftlichen« wird stets auch anderes mitgeteilt, z. B. woran man gerade arbeitet oder Familiäres, so dass man einige Details aus dem Familienleben erfährt. Dies geschieht mitunter aber nur indirekt, weil keine Briefe von Alois – etwa über die Mühen der Orientreisen, von denen er offenbar manchmal krank zurückkam – erhalten sind. Ein interessantes Licht auf die Sprachsituation wirft ein Brief von Roberts Mutter Hermine Musil von 1917 an Alois, dessen Eltern ihren 50. Hochzeitstag feiern. Sie übermittelt Alois die Glückwünsche, da sie sich mit seinen Eltern »nicht verständigen« kann, weil diese kein Deutsch sprechen. Das ist auch der Grund, warum Alois ein tschechisches Gebetsbuch aus Alfreds Familie erben soll. Alois hat durchaus die Sympathie von Alfred und Hermine Musil, wie sich an folgender Stelle aus demselben Brief zeigt: »[S]o muß es sie [i. e. Alois’ Eltern] mit Freude und Stolz erfüllen dass Du es durch eisernen, unermüdlichen Fleiß und unbeugsame Willensstärke zu einer so ehrenvollen Lebensstellung brachtest und ihnen trotz alledem ein warm fühlender Sohn geblieben bist.« (S. 58) Man kann nicht umhin, dabei an Robert zu denken, der es in ihren Augen wohl zu keiner ehrenvollen Lebensstellung gebracht hat – und dem sie gerade in den Kriegsjahren vorgeworfen hatte, ihr zu wenig Nachricht zu geben, so dass sie von ihm wohl kaum als einem ›warm fühlenden Sohn‹ gesprochen hätte. Das schmale Bändchen bietet jedenfalls interessante Einblicke in Robert Musils familiäres Umfeld. Rosmarie Zeller

Karl Corino: Musil in Italien. Ein Itinerar in Bildern und Texten. Klagenfurt, Wien: kitab 2015. 167 S. € 18,–. Den Ausgangspunkt dieses Bandes bildet ein 1980 publizierter Essay2 des Autors mit dem Titel Robert Musil in Italien – ein Itinerar, der hier durch die Wiedergabe eines Großteils von Musils Texten mit Italien-Bezug bzw. in Italien entworfenen Schriften, die Corino sehr genau und vielschichtig kommentiert, eine neue Bedeutung gewinnt. Am Ende des Bandes steht ein ganz neuer Beitrag mit dem Titel »Machen Sie aus Ihrem Herzen eine Wüste!« Robert Musil und Benito Mussolini. Durch die Reproduktion von Fotos und Bildern – der Bucheinband zeigt das 1903 gemalte Selbstporträt Martha Musils, das seinerzeit bei den Besuchern der Rasumofskygasse Neugier 2

Vgl. Karl Corino: Robert Musil in Italien – ein Itinerar, in: Robert Musil nel primo centenario della nascita. Innsbruck, Wien [1980], S. 75–91.

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hervorrief – verweist der Band zudem auf den umfangreichen, von Corino 1988 herausgegebenen Bildband Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Außerdem liegen ihm natürlich die eingehenden Untersuchungen der monumentalen Biographie aus dem Jahr 2003 zugrunde, die zum Teil, wie in dem erwähnten abschließenden Essay, durch neue Erkenntnisse bereichert wurden. Die von Corino rekonstruierten Italien-Erfahrungen Musils laden über Italien hinaus zur Neubetrachtung mancher Aspekte des komplexen Entwicklungswegs des Schriftstellers ein. Corino weist schon im Törleß auf eine Passage zur Opernmusik hin, die wahrscheinlich von einer Italien-Reise des jungen Musil mit seinen Eltern zeugt, obgleich keine Belege für diese Reise überliefert sind (vgl. S. 7–9). Zunächst war Italien für Musil also eine literarische Erfahrung, die vor allem durch das Werk von Gabriele D’Annunzio, von dem er mit Sicherheit Il Piacere las, vermittelt war. Corino gibt in seinem Band unter anderem eine bisher unveröffentlichte Antwort auf die Umfrage einer Zeitschrift der University of Oklahoma von 1938 wieder, in der Musil die Lektüre von D’Annunzios Roman in den weiteren Zusammenhang seiner jugendlichen Lektüren stellt (vgl. S. 150). Bei aller Kürze bildet diese Antwort eine der erschöpfendsten Äußerungen Musils zur literarischen Bildung in seiner Jugend. Außerdem führt Corino die Bemerkungen von 1938 an, die Musil der erneuten Lektüre von Il Piacere in seinen ›Tagebüchern‹ widmet (vgl. S. 147–149); ferner eine Parodie Alfred Kerrs auf die Ode VI von D’Annunzio, die Musil in der 1916 von ihm herausgegebenen Tiroler Soldaten-Zeitung publizierte (vgl. S. 40; vgl. auch S. 34). Scharfsinnig verortet Corino die Aufzeichnungen im abschließenden Essay seines Bandes in ihrem Entstehungszusammenhang: Sie wurden kurz nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland und dem Tod D’Annunzios am 1. März 1938 verfasst – wobei Musil das Staatsbegräbnis im Beisein Mussolinis aufmerksam verfolgte und kommentierte (vgl. S. 162). Wahrscheinlich begannen Robert und Martha Musil bereits in den Tagen der neuerlichen Lektüre von Il Piacere ihren endgültigen Weggang aus Wien zu planen, zu dem es im August 1938 kam. Die Beziehung zu D’Annunzio war für Musil sowohl zu Beginn als auch gegen Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn bedeutungsvoll. Neben Il Piacere erwähnt Corino noch weitere Romane D’Annunzios, die Musil gelesen haben könnte. Jedenfalls weisen sie viele Themen auf, die auch Musil interessierten. Corinos Ausführungen, die von einer großen Vertrautheit mit dem Werk des italienischen Autors zeugen, lassen die Funktion D’Annunzios als Gegenmodell für Musil erkennen, mit dem er sich implizit mehrfach auseinandergesetzt hat. Eine ähnliche Funktion übte D’Annunzio auch im Fall anderer, anscheinend weit von ihm entfernter deutscher Schriftsteller, wie beispielsweise Thomas Mann, aus. Im Mittelpunkt von Corinos Band stehen der lange Rom-Aufenthalt Musils im Herbst 1913 und die Tagebuchaufzeichnungen und literarischen Texte –

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insbesondere zum späteren Nachlaß zu Lebzeiten –, die in jener Zeit Gestalt annahmen. Dem langen Rom-Aufenthalt war ein intensiver Sommer vorausgegangen, der Robert und Martha Musil nach Zermatt, dann nach Lavarone und schließlich nach Anzio geführt hatte, von wo aus sie sich gegen Ende September nach Rom begaben. Unvorhergesehenerweise zog sich der Aufenthalt bis Mitte Dezember hin und wurde nur von einer kurzen Reise Marthas nach Wien im November unterbrochen, wo sie sich um die Schulangelegenheiten ihrer Tochter, Annina Marcovaldi, kümmern musste. Robert Musil war aber bereits im November 1910 in Rom gewesen, wo er Martha bei der schwierigen Trennung von Enrico Marcovaldi zur Seite stand. Bei dieser Gelegenheit waren Martha und Robert nach einer bewegten Reise von Budapest über Fiume nach Ancona gelangt und von dort aus nach Rom weitergefahren. Im selben Jahr war Musil kurz zuvor, im September, nach Venedig gereist, um die beginnende geistige Erkrankung von Alice Donath mitzuverfolgen. Vermutlich waren Martha und Robert Musil jedoch schon im Januar und im Mai 1910 aus den oben genannten Gründen nach Rom gefahren (vgl. S. 20 f.). Corino meint, es sei nicht auszuschließen, dass die beiden vor der Fahrt nach Budapest einen Badeort, etwa Sistiana bei Duino, aufsuchten, den Musil schon im August 1907 – sehr wahrscheinlich seine erste Begegnung mit dem Meer und der Landschaft Südeuropas – besucht hatte (vgl. S. 17–23). Die sorgfältige Rekonstruktion von Musils Italien-Reisen ist grundlegend für ein genaueres Verständnis der Spuren, die sie in seinem literarischen Werk hinterlassen haben. Das erste direkte Zeugnis des Rom-Aufenthalts von 1913 findet man in dem überraschenden Schluss seines kurzen Essays Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes. Ein Fragment, das im selben Jahr in den Weißen Blättern erschien. Darin kommt der Autor auf die Eindrücke seines Besuchs der römischen Irrenanstalt, die sich damals am Gianicolo-Hügel befand, und des alten römischen Krankenhauses Santo Spirito zurück, von denen er auch in den ›Tagebüchern‹ berichtet. Das zweite Zeugnis sind die Betrachtungen, die im Sommer 1914 unter dem Titel Aus einem römischen Sommer in der Zeitschrift Die Argonauten veröffentlicht und in einer späteren, endgültigen Fassung unter dem Titel Das Fliegenpapier in den Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommen wurden. Aus dem Rückblick lesen sich beide Zeugnisse wie eine hellsichtige Vorwegnahme der geistigen Situation, die im August 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Es ist ein großes Verdienst von Corinos Buch, dass es dazu einlädt, diese kurzen Texte vor dem Hintergrund ihres Entstehungszusammenhangs neu zu lesen, denn sie erschließen sich dadurch in ihrer erstaunlichen thematischen und stilistischen Dichte. Corino führt in seinem Buch die zahlreichen Texte der ersten Abteilung des Nachlaß zu Lebzeiten an, die Musil während des Rom-Aufenthalts im Jahr 1913 entwarf. Besonders wichtig für Corinos Rekonstruktion ist der kurze Kommentar zum Kurzprosatext Schafe, anders gesehen, der 1923 unter dem Titel Schafe auf einer Insel publiziert werden sollte. Corino führt ihn

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auf den früheren Aufenthalt Musils in Anzio und mögliche Ausflüge zum Promontorio del Circeo und zur Insel Ponza zurück (vgl. S. 30 f. u. 85 f.). In diesem Fall stellen die von Corino ermittelten Bilder einen indirekten, aber aufschlussreichen Kommentar zu den literarischen Texten dar und geben die ursprüngliche Atmosphäre wieder, in der diese Kurzerzählungen entstanden; sie sind gleichsam eine Aufforderung, diese Texte genauer und detaillierter zu lesen und dabei nicht zu vergessen, dass sie ihre endgültige Form erst zwanzig Jahre nach dem Rom-Aufenthalt im Nachlaß zu Lebzeiten erhielten. Die Italien-Reisen spielen auch für zwei Themen im Mann ohne Eigenschaften eine wichtige Rolle: für die Geisteskrankheit von Clarisse und für Ulrichs und Agathes »Reise ins Paradies«. Corino wendet sich insbesondere dem letztgenannten Themenbereich zu, den er mit der »vergessene[n], überaus wichtige[n] Geschichte mit der Gattin eines Majors« (MoE, S. 120) in Beziehung setzt. Er druckt den Schlussteil des 32. Kapitels aus dem Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften und eine frühere Fassung desselben, wahrscheinlich aus dem Jahr 1924, ab. Das ›Valerie-Erlebnis‹, das im Roman aus ironischem Abstand erzählt wird, fand in Wirklichkeit nicht in Italien statt und spielte sich nicht vor dem Hintergrund einer Meereslandschaft, sondern bei einem Sommerurlaub in den Bergen der Steiermark ab. Die Berglandschaft wird in der Endfassung des Romans verwandelt, wenn der Protagonist vor seiner Jugendliebe auf eine nahezu verlassene Insel flieht. Die Beschreibung dieser Flucht auf die Insel hat große Ähnlichkeit mit der Beschreibung der Ankunft der beiden Protagonisten in Ancona in den Entwürfen zur »Reise ins Paradies«. Corino gelingt es dank seiner großen analytischen Fähigkeit, die sich auf die enge Verknüpfung von biographischer und philologischer Forschung stützt, die feinen Verbindungen zu erhellen. Er zeigt auch die Verbindung zwischen den Entwürfen der »Reise ins Paradies« und jenem Kapitel des Romans – »Atemzüge eines Sommertags« –, an dem Musil bis zu seinem Tod im April 1942 arbeitete. So lässt sich durch diese von Corino aufgedeckten Beziehungen der Texte der schöpferische Weg des Autors nachvollziehen. Zu Beginn der 1920er Jahre wird Musil durch die Lektüre der von Martin Buber gesammelten Ekstatischen Konfessionen, auf die er von Karl Girgensohn aufmerksam gemacht worden war, dazu bewogen, über seine eigenen Erfahrungen einer erotischen Mystik nachzudenken und die Erinnerungen an seine Italien-Aufenthalte in den umfänglichen Entwürfen zur »Reise ins Paradies« neu zu ordnen. Dank der sorgfältigen Forschungen Corinos wird deutlich, dass der Autor dabei Erlebnisse aus unterschiedlichen Zeiten und Orten miteinander verschmilzt, insbesondere den kurzen Aufenthalt in Ancona (1910) und den längeren in Anzio (1913). Dadurch, dass Musil den Ort in der Endfassung der »Geschichte mit der Gattin eines Majors« verändert, entsteht eine Beziehung zwischen dem ›Valerie-Erlebnis‹ und den Entwürfen zur »Reise ins Paradies«. Diese belegt unseres Erachtens, dass der erste Band des Romans im

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Vergleich zu seiner früheren Konzeption tiefgehend neu durchdacht wurde. Die ironische Distanz gegenüber den Empfindungen der Jugend betrifft nämlich zum Teil auch die Formen der Suche nach dem ›anderen Zustand‹, wie sie in den Entwürfen der frühen 1920er Jahre vorkam. Dennoch ist und bleibt diese Suche für den Autor eine Aufgabe, und die Grenzerlebnisse, die er aus der Lektüre der Ekstatischen Konfessionen von Buber bezog, kehren rund zwanzig Jahre später in »Atemzüge eines Sommertags« wieder. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man das Clarisse-Thema in seiner langen Entwicklung verfolgt. In diesem Fall trifft Corino eine Auswahl, die sich auf das Thema der »Insel der Gesundheit«, d. h. der Entwürfe zum Mann ohne Eigenschaften von 1925 konzentriert, in denen die Erlebnisse der Venedig-Reise von 1910 verarbeitet werden. Die von Corino vorgeschlagene präzise Datierung dieser Entwürfe beruht auf gesicherten Anhaltspunkten, denn die darin enthaltene Anspielung auf Pompeji nimmt auf ein Foto Bezug, das in jenem Jahr in Franz Bleis Zeitschrift Roland erschien, an der auch Musil mitarbeitete (vgl. S. 130). Die Beziehung zwischen Musils Italien-Erfahrungen – genauer: denen des Ersten Weltkriegs an der italienischen Front – und ihren Spuren im literarischen Werk ließe sich anhand der Novellen Grigia und Die Portugiesin sowie eines weiteren »Bildes« aus dem Nachlaß zu Lebzeiten – Die Maus – vertiefen. Corino, der sich jüngst in einem wichtigen Essay3 mit Musils Einstellung zum Krieg befasst hat, druckt diese Texte aus Platzgründen nicht erneut ab, legt dem Leser deren Lektüre aber ans Herz. Der abschließende Essay des Bandes, in dem es um Musils Rezeption von Aspekten der Persönlichkeit und Politik Mussolinis geht, ist besonders reich und lebendig und zeigt exemplarisch Corinos Arbeitsweise, die ein besonderes Augenmerk für historische Rekonstruktion mit der biographischen und philologischen Forschung vereint. Der Essay veranschaulicht vor allem zwei grundlegende Aspekte: zum einen Musils Aufmerksamkeit für das allgemeinere Phänomen der Ästhetisierung der Politik, für die der italienische Diktator ein bedeutendes Beispiel lieferte; zum anderen den Einfluss der dem ›Anschluss‹ Österreichs vorausgehenden Ereignisse auf Musil, für die das faschistische Italien eine bedeutende Rolle spielte. Was die Ästhetisierung der Politik anbelangt, analysiert Corino sehr scharfsinnig Musils Interesse für das 1928 in deutscher Übersetzung erschienene Buch der englischen Journalistin Claire Sheridan, Ich, meine Kinder und die Großmächte der Welt. Ein Lebensbuch unserer Zeit, das der Autor im März 1930 las. Wahrscheinlich hatte Musil schon früher – über Gaetano Marcovaldi – Gelegenheit, die italienische Situation der Zwischenkriegszeit und Mussolinis Machtantritt zu verfolgen, doch ist dieses Interesse nicht dokumentarisch belegt. Die Lektüre des Buches von Claire Sheridan, die 3

Vgl. Karl Corino: Die Flucht aus dem Frieden. Robert Musil und der Erste Weltkrieg, in: Das Plateau 25 (2014), H. 145, S. 4–17.

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nicht nur auf den Führer des italienischen Faschismus eingeht, sondern auch von ihren Erfahrungen in der jungen Sowjetunion berichtet, bildete für Musil den Ausgangspunkt einer Reflexion, die in den folgenden Jahren immer mehr an Gewicht gewann. Das Phänomen der Politiker, die Schriftsteller gewesen waren und es manchmal auch blieben – Mussolini war nicht der einzige, sondern nur ein besonders relevantes Beispiel –, war für Musil ein Anlass, die Beziehung zwischen Kultur und Politik neu zu durchdenken. Dabei versuchte er die schwierige Neubestimmung der Rolle einer wahrhaft ästhetischen Produktion in einer Epoche, die in seinen Augen zunehmend von der Vorherrschaft der Massen geprägt war. Auch die Betrachtungen, die Musil aus der Zeitungslektüre bezog, boten in seinen letzten Lebensjahren Anlass für eine vertiefte Reflexion über diese Beziehung, die ein Hauptthema der von ihm geplanten Aphorismensammlung sein sollte. Was den ›Anschluss‹ Österreichs angeht, beleuchtet Corino – unter Heranziehung des kürzlich erschienenen Mussolini-Buchs von Wolfgang Schieder – die Situation, in der Musil sich bald nach seiner Rückkehr nach Wien im Sommer 1933 befand. Als der österreichische Kanzler Engelbert Dollfuß 1934 im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuchs erschossen wurde, entsandte Italien – vor allem in demonstrativer Absicht – einige Militäreinheiten an die Grenze zu Österreich. Die starke Spannung zwischen Mussolini und Hitler prägte die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland bis 1936, als die italienische Kolonialexpansion in Äthiopien de facto die Voraussetzungen für das Bündnis zwischen den beiden Ländern schuf und eine grundlegende Veränderung der europäischen Situation mit sich brachte. Der ›Anschluss‹ Österreichs an Deutschland ohne jeden Widerstand von italienischer Seite bildete einen ersten Moment dieses Wandels. Musil muss diese Ereignisse mit besonderer Sorge verfolgt haben, vor allem wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau und der Beziehungen, die sie weiterhin nach Italien unterhielt, wo ihr Erstgeborener lebte. Corino ist der Ansicht, dass die Position, die Musil 1935 in seinem Beitrag zum »Kongreß zur Verteidigung der Kultur« in Paris vertrat, durch die internationale Lage beeinflusst war. Da er damals von Paris nach Wien zurückzukehren gedachte, war er zu besonderer Vorsicht gezwungen. Musil versuchte in den Wiener Jahren nach der Rückkehr aus Berlin 1933, die geringen Freiräume, die es damals in Österreich noch gab, für die Fortsetzung seiner literarischen Tätigkeit zu nutzen. Der abschließende Essay von Corinos Band liefert wichtige Voraussetzungen für das Verständnis der Lage Musils in dieser besonderen politischen Situation und seiner Wahrnehmung derselben. In einer »Notiz« am Ende des Bandes verzeichnet Corino auch Texte, die aus den frühen editorischen Bemühungen von Wilhelm Bausinger und Eithne Wilkins hervorgegangen sind (vgl. S. 167). Unseres Erachtens will Corino damit nicht nur an diese beiden Wissenschaftler erinnern, sondern an eine ganze Epoche der Musil-Forschung, an der er selbst als junger Mann

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während seines Rom-Aufenthalts Ende der 1960er Jahre einen wichtigen Anteil hatte. Bekanntlich befand sich der Nachlass des Schriftstellers damals in Rom, wo Martha Musil 1949 gestorben war. Es ist sicher nicht unsere Absicht, Karl Corino zu einer autobiographischen Reflexion zu bewegen. Dennoch würde die Rekonstruktion jener Jahre sowie der damals geknüpften Kontakte zwischen italienischen und Musil-Forschern aus anderen Ländern – an der italienischen Erstausgabe von Der Mann ohne Eigenschaften wirkten zum Beispiel Eithne Wilkins und Ernst Kaiser mit – nicht nur ein weiteres Kapitel des Themas »Musil in Italien«, sondern auch die Gründe erhellen, die zu einer gleichzeitigen Wiederentdeckung der Werke Musils in verschiedenen europäischen Ländern führten. Aldo Venturelli

Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Klagenfurt: Drava 2015. 370 S. € 29,–. Natürlich wollen wir wissen, wie es ausgeht. Und die meisten von uns ziehen, wenn sie ehrlich sind, das gute Ende vor, das happy end, das märchenhafte »Und sie lebten glücklich und in Frieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«. Aber gelegentlich darf es natürlich auch eine Katastrophe sein, ein tragisches Ende, der Sturz des Helden aus möglichst großer Fallhöhe in den Schlund der Hölle (oder auch nur in die Bedeutungslosigkeit). Andererseits gibt es eine ehrwürdige Tradition des Fragments und des offenen Endes. Nicht alles schließt sich nun einmal auf dieser Erde, und wenn Aristoteles noch kategorisch behaupten konnte: »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat« (Poetik, 7, 1450b), dann würden ihm seine modernen Nachfahren entgegenhalten: Und was ist schon »ganz« auf dieser in immer kleinere Einheiten und immer größere Widersprüche zerfallenden Welt? Ist das Ganze nicht immer nur das Künstliche gewesen, ein Ideal der sogenannten Klassiker, aber niemals eine Realität? Musils Mann ohne Eigenschaften hat bekanntlich keinen Schluss – sein Autor ist, die Arbeit unter den Händen, unerwartet verstorben, an einem Tag im April, an dem er noch an der Epiphanie der »Atemzüge eines Sommertags« gearbeitet hat. Ist der Roman nur deshalb nicht vollendet worden, oder wäre Musil sowieso niemals damit zu Ende gekommen? Dass er auf ein Ende hinschrieb, davon zeugen immerhin vielfache Notizen und Entwürfe zu Nachworten; »Eine Art Ende« sollte korrespondierend zu »Eine Art Einleitung« (vgl. S. 275) das Werk abrunden, das damit ein Ganzes im aristotelischen Sinne geworden wäre. Ob er es jemals erreicht hätte, werden wir niemals wissen; die Musil-Forschung hat sich bereits ausgiebig an dem

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Thema abgearbeitet, aber am Ende bleibt die Frage, ob die Eigenschaftslosigkeit vielleicht nicht doch notwendig auch die Endlosigkeit bedingt, bestehen. Was wir jedoch nach dem Erscheinen von Walter Fantas Buch Krieg. Wahn. Sex. Liebe wissen können, ist, welche Vielzahl von möglichen Finale dem Roman in all den Windungen seiner Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte eingeschrieben wurden. Dass Fanta nun dieses Buch geschrieben hat, ist zweifellos ein Glücksfall für die Musil-Leser. Nicht nur, weil es die notwendige Ergänzung zu seiner Monographie Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil aus dem Jahr 2000 ist;4 nicht nur, weil er der Mitherausgeber der digitalen Klagenfurter Ausgabe der sämtlichen Werke Musils ist; nicht nur, weil es die Summa seiner langjährigen intensiven editorischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Text und diesem Autor ist, also zusammengenommen: nicht nur deshalb, weil dieses Buch tatsächlich kein anderer hätte schreiben können. Sondern es ist ein Glücksfall vor allem der Art und Weise wegen, wie er es geschrieben hat. Fanta hat keine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben (eine ausführliche Beschäftigung mit der einschlägigen und bekanntlich überquellenden Forschungsliteratur findet nicht statt), sondern eine Art Spurensuche in einem Textdschungel, einen Versuch, in einem außerordentlich komplizierten Gewebe Muster zu entdecken, Leitfäden, wiederkehrende Strukturen – und daraus Prognosen zu produzieren, wie das vollendete Werk, der zu Ende geknüpfte Teppich, das Ganze eben aussehen hätte können. Oder, moderner und ohne Gleichnis gesprochen: Krieg. Wien. Sex. Liebe ist ein ausgeschriebener Hypertext zu Musils Mann ohne Eigenschaften. Diese Schreibweise und dieses Verfahren haben ihren Preis: Der Leser sollte keine systematische Aufdröselung der verschiedenen Entwicklungsund Entstehungsstränge erwarten, die mit einer Art Wahrscheinlichkeitstabelle möglicher Schlüsse endet (das Buch schließt antiklimatisch, vielleicht kann man das verraten, mit der letzten Eintragung in Musils Zigarettenheft). Fanta gliedert seine Spurensuche vielmehr in fünf Großkomplexe: ein Einleitungskapitel, »Parabel« benannt; danach die im Buchtitel aufgezählten vier Themenbereiche »Krieg«, »Wahn«, »Sex« und »Liebe« als Fluchtpunkte möglicher Schlussvarianten. Dass diese nicht ganz gleichberechtigt sind, zeigt schon ein Blick auf die quantitative Gewichtung: Dem »Krieg« sind ca. 150, dem »Wahn« ca. 80 Seiten gewidmet, auf ca. 40 Seiten »Sex« kommen 40 Seiten »Liebe« – von denen der erste Teil ungefähr bis zur Hälfte eigentlich auch »Sex« heißen könnte, da er dem Inzest-Thema gewidmet ist; aber auf die genaue Abgrenzung kommt es ebenso wenig an wie auf eine strenge Systematik des Vorgehens: Offensichtlich hängen die Themenkomplexe vielfach zusammen. Innerhalb dieser Blöcke finden sich hierarchisch durchnummerierte 4

Vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien u. a. 2000.

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Einzelkapitel; in ihnen entfaltet Fanta seine ebenso breite wie tiefe Kenntnis des apokryphen wie des kanonischen Werkes und illustriert sie mit dicht gesetzten Zitaten (man kann das Werk auch einfach als eine Art Zusammenstellung Musil’scher »Short Cuts« lesen, die Bekanntes und Unbekanntes in neuen Zusammenhängen präsentieren). Fanta bleibt jedoch nicht auf dieser textimmanenten Ebene stehen; immer wieder setzt er den Mann ohne Eigenschaften auch in Beziehung zu anderen Romanen seiner Zeit bis hin zur Gegenwart (Michel Houellebecq, Alexander Kluge) oder philosophischen Theorien (z. B. der Spieltheorie). Diese Kapitel im Einzelnen zu diskutieren oder vorgeschlagene Entwicklungsstränge detailliert zu bewerten, macht nicht nur keinen Sinn (daran wird sich die weitere Forschung abzuarbeiten haben); es wird der Schreibweise und Argumentation des hier vorliegenden Werkes auch nicht gerecht. Summarisch können allenfalls die Strategien benannt werden, die Fanta zur Konstruktion verschiedener Fluchtpunkte und Schlussvarianten verwendet. Eine naheliegende Möglichkeit ist die autobiographische Herleitung: Natürlich schrieb Musil den Mann ohne Eigenschaften über seine lange Entstehungszeit hinweg unter sich verändernden persönlichen, finanziellen, psychischen und physischen Bedingungen. Dass beispielsweise der Blick eines knapp 30-Jährigen auf die Sexualität anders ist als der des 50-Jährigen, ist offensichtlich, aber trotzdem nicht einfach trivial; dass Anforderungen von Publikum und Verlegern, dass finanzielle Not, Krankheiten und persönliche Verzweiflung ihre Spuren im Roman und ganz sicher auch in der Konzeption von dessen möglichen Enden hinterlassen haben, wird niemand bezweifeln. Mindestens ebenso offensichtlich und mindestens ebenso wichtig ist der Einfluss der politischen Zeitgeschichte auf das Romanende. Während Musil im Roman noch auf den Kriegsausbruch des Ersten Weltkriegs hin schreibt, entfesselt sich um den Schreibenden herum der Zweite; während er sich an Einzelpsychosen abarbeitet, entwickelt sich eine um sich greifende Massenpsychose in Europa. Dies alles aber zeigt Fanta nicht auf die hier beschriebene, allgemeine und theoretische Weise, sondern an sehr konkreten einzelnen Stellen, Figuren, Entwicklungssträngen. Eine weitere Strategie ist die der produktionsgenetischen Betrachtung, bei der Fanta seine ganze Stärke als Editor und intimer Kenner der apokryphen handschriftlichen Teile, Notizen und Romanentwürfe ausspielen kann (hierfür sind auch die beigefügten Illustrationen einzelner Handschriften sehr instruktiv). Wie er vorführt, schreibt sich der Text sozusagen ab einer gewissen Masse selbst; Figuren entwickeln ein Eigenleben, werden kombiniert und wieder auseinanderdividiert, vor allem aber: Theorien werden erprobt und wieder verworfen, die Erzählung von der Reflexion überholt und die Reflexion von der Erzählung. Immer wieder verwendet Fanta in diesem Zusammenhang Gedanken aus verschiedenen Spieltheorien (vgl. die Einleitung), die einen distanzierenden Blick auf die Textkonstellationen ermöglichen.

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Ästhetische Strategien beleuchtet Fanta insgesamt etwas schwächer; sie spielen vor allem eine Rolle im Blick auf die Sprache des Wahns im gleichnamigen Themenkomplex, aber auch in der wesentlichen »positiven« Schlussvariante, dem Komplex der Gartengespräche: »Schließlich findet Musil am Ende doch noch zu einem Verfahren, das man als seine Lösung bezeichnen kann, wenngleich die Konsequenzen für eine Weiterführung des Romans, zu der es nicht mehr gekommen ist, aus ihr nicht abzusehen sind. Er zieht sich bei der Bewältigung des Inzestproblems auf das Nicht-Substanzielle und Rein-Sprachliche zurück.« (S. 346) Insgesamt jedoch gelten die größeren Sympathien von Fanta eher den in den Entwürfen stärker angedeuteten denn ausgeführten, experimentellen und chaotischen Fluchtlinien: dem Sex als »Figurentravestie, allgemeine Promiskuität, die Welt – ein Bordell, ein Karneval« (S. 37) statt der entsexualisierten Geschwister-Liebe als Fluchtpunkt einer positiven Teleologie; oder dem »Schreiben des Wahns« als Ausdruck der »regellosen Seite« (S. 276) des Autors Musils. Ein solches Ende jedoch hätte auch produktionspsychologisch seinen Preis gefordert: »Dürfen wir darin und im mangelnden Mut, sich beim Schreiben des Wahns der ›regellosen Seite‹ zu überlassen, einen der Hintergründe für den Abbruch vermuten?« (ebd.) Demgegenüber bewahrt die von Musil selbst im Studienblatt »Moral und Krieg«5 formulierte Lösung durchaus den klassischen Anspruch des Ganzen, Gerundeten: »Als letztes bleibt die [Utopie] der induktiven Gesinnung, also des wirklichen Lebens übrig! Mit ihr schließt das Buch« (nach S. 186). Immerhin aber hat auch diese stärker »kanonisch« anmutende Lösung, wie Fanta zu Recht feststellt, ein durchaus bis heute ernstzunehmendes utopisches Potential: Ulrich verwirklichte sich darum erst im Romanfinale endgültig als ›Mann ohne Eigenschaften‹, weil er erst nach der Überwindung der Durchgangsstadien ichbezogener Utopien zu völlig ideologiefreiem Denken gelangte. Er würde zum Vorreiter einer Gesellschaft, die, nachdem das Versagen ideologischer Systeme, die an das Gute im Menschen appellieren, offenkundig geworden ist, ohne verbindlichen ideologischen Überbau, schrittweise, von der Erfahrung der tatsächlichen Realität menschlichen Seins ausgehend, in ein Zeitalter auch jenseits des Kollektivismus gelangte. (S. 188)

Am Ende bleibt festzuhalten: Wer sich von diesem Buch die endgültige Auflösung des großen Musil-Rätsels erwartet hatte, wird enttäuscht sein. Er bekommt mehr Auflösungen, als er sich das vorstellen konnte; er bekommt, um auf Fantas Einleitungskomplex zurückzukommen, nicht einfach die vom Autor immer wieder versuchte und in den kanonischen Teilen ansatzweise durchgeführte »Parabel« einer narrativen ›Flugbahn‹, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, sondern er bekommt – bei Musil wie bei Fanta – ein sich ständig um weitere Erzählströme anreicherndes Flussdelta (vgl. S. 11 f.). 5

Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/251.

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Vielleicht ist das auch die einzig mögliche Lösung des Dilemmas vom Ende unter den Bedingungen der Musil’schen Möglichkeitswelt: Der Roman kann nicht enden – weil die Geschichte selbst nicht endet; weil er nur eine induktive Hypothese aufstellt, die immer wieder korrigiert werden muss, und weil ein Ende eine Eigenschaft ein für alle Mal konstituiert. Aber der Roman muss sich schließen – zu einer ästhetisch erlebbaren Gestalt im Gefühl des Lesers, wie es Musil im apokryphen Kapitel »Fühlen und Verhalten. Die Unsicherheit des Gefühls« mit Anklängen an die zeitgenössische Gestaltpsychologie ausführt: »daß sich im Werdegang eines Gefühls wohl von der Quelle bis zur Mündung eine Einheit andeute, nicht aber gesagt werden könne, wann und wie sie die geschlossene Form annehme, die dem vollkommen ausgebildeten fühlenden Verhalten zu eigen sein soll« (MoE, S. 1168 f.). Diese TiefenKomplementarität von einander nur scheinbar und auf der Oberfläche ausschließenden Polaritäten auch in Bezug auf offene und geschlossene Enden hat Musil schon in einer frühen Rezension eines »bemerkenswerten Buches« von Oskar Maurus Fontana formuliert: Sie [i. e. die Erzählung Die Insel Elephantine] behandelt bildhaft, in einem Hotel am Nil, einen Niederbruch der Zivilisation in Zusammenstoß mit Naturkräften. Sie ist eine Parabel und das Entscheidende an ihr ist »der unendlich ferne Punkt«, zu dem hin jede Parabel deutet und sich wendet, was wir in der Geometrie gelernt, aber im Leben vergessen haben. Pessimismus und Erlösung, Zivilisation und Natur, unheilbare Widersprüche mögen sich dort schließen, das Buch selbst hat keinen Schluß: es flieht etwas hindurch, hinterläßt als Zeichen den wie aus Vogelfedern gewebten Stil des Dichters. (GW II, S. 1715)

Jutta Heinz

Maximilian Häusler: Die Ethik des satirischen Schreibens. Karl Kraus, Hermann Broch und Robert Musil. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 342). 253 S. € 35,–. Die deutschsprachige Satire ist eines jener Forschungsgebiete, wo noch kein Mangel an Desideraten herrscht. Erfreulich ist daher Maximilian Häuslers Dissertation Die Ethik des satirischen Schreibens. Karl Kraus, Hermann Broch und Robert Musil, die nicht nur aufgrund ihrer überzeugenden Autorenkonstellation eine Lektüre wert ist. Denn abgesehen davon, dass der Zusammenhang von satirischem Schreiben und Ethik für die schriftstellerische Produktion von Kraus, Broch und Musil von zentraler Bedeutung gewesen ist, behandelt Häusler mit der Dialektik von Satire und Ethik ein Phänomen, das gleichfalls die germanistische Satire-Forschung prägt, ohne allerdings zum Gegenstand einer gründlichen Studie gemacht worden zu sein. Häuslers Buch ist also in gleich mehreren Hinsichten überfällig. Dass sich bisher niemand an dieses Thema herangewagt hat, mag, was die Autoren betrifft,

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an der zu bewältigenden Textmenge an Primär- und Sekundärliteratur gelegen haben. Bei Satire-Theorie und -Geschichte sind hinwiederum die Lücken die eigentliche Herausforderung. Wohlweislich hält Häusler darum den Ball flach. Gattungs-, diskursoder sozialgeschichtliche Aspekte interessieren ihn, insofern sie unerlässlich sind. Über die biographischen Bezüge der Autoren wird knapp, aber zuverlässig informiert. Die Krise der moralsetzenden Institutionen im Zuge des Ersten Weltkriegs, die in der intensivierten Auseinandersetzung des Literatursystems mit ethischen Fragen mündete, wird, gut abgestützt, skizziert. Grundsätzlich verfährt Häusler aber werkimmanent. Zunächst wird das Satire-Ethik-Verständnis des jeweiligen Autors unter die Lupe genommen, um anschließend, ohne eine Gesamtdeutung anzustreben, eines seiner dichterischen Meisterwerke – Die letzten Tage der Menschheit (1922), Die Schlafwandler (1930–1932), Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932/postum) – auf die entsprechende Theorie hin zu überprüfen. Ein Anliegen der Interpretation der literarischen Texte ist darüber hinaus der Nachweis spezifischer, aus der jeweiligen Theorie abgeleiteter satirischer Techniken. Der heuristische Gewinn dieses Vorgehens liegt tendenziell auf der Seite der Rekonstruktion der theoretischen Überlegungen. Ob Theorie und Praxis derart kongruent sind, wie Häusler das annimmt, darf durchaus bezweifelt werden. Gerade Kraus’ Formensprache erweist sich als deutlich innovativer als seine der bürgerlichen Ästhetik verhaftete, nicht immer ernst zu nehmende Selbstanalyse. Broch formulierte sein Satire-Konzept fast zwanzig Jahre nach seinem Roman. Und Musils fragmentarische Bemerkungen zur Satire sind wie der von ihm verfasste Romantorso nur mit allerhöchster Vorsicht auf einen Nenner zu bringen. Das gravierendere Problem ist allerdings, dass die Satire als hochgradig pragmatische ›Gattung‹ mittels einer rein formalen Analyse nicht dingfest gemacht werden kann. Der Preis, den Häusler für die Ausblendung der historischen Kontexte bezahlt, ist, dass die Untersuchung den satirischen Effekt eher diagnostiziert als analytisch herleitet und gelegentlich sogar unterstellt. Zumal im Fall von Brochs Schlafwandlern vermag die Beweisführung nicht restlos zu überzeugen: Karikatur beruht zwar auf Imitation, Mimikry jedoch auch (vgl. S. 132 ff.). Wertvoll ist die Studie daher weniger wegen der Interpretation der literarischen Texte als aufgrund der Erarbeitung dreier Schreibkonzepte, die auf unterschiedliche Arten ›ethische‹ Ziele mit satirischen Mitteln verfolgen. Häusler geht dabei von dem in der germanistischen Satire-Forschung kaum berücksichtigten Drei-Phasen-Modell Northrop Fryes aus (»satire of the low norm«, »satire of ideas«, »satire of the high norm«), das gegenüber den oftmals auf Schillers Satire-Theorie basierenden Interpretationsansätzen den Vorteil hat, Satire als »wit« und »object of attack« unabhängig von einer Normfixierung denken zu können. Kraus, Broch und Musil werden jeweils einer dieser Phasen zugeordnet. Kraus ist ein Satiriker, der vom Standpunkt

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des Humanismus aus sein Publikum mit Urteilen über eine im Krieg regredierte Gesellschaft indoktriniert. Für Broch sind hingegen sämtliche Werte zerfallen, sodass seine Satire in erster Linie die metaphysischen Surrogate Romantik, Sachlichkeit und Anarchie angreift, ohne freilich wie Kraus indirekt ein positives Gegenbild zu vermitteln. Musil betreibt wiederum ähnlich Broch die Destruktion der überlebten Ideale, ohne dem Publikum einen konkreten Ausweg aus der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ aufzeigen zu können. Er unterscheidet sich allerdings von Broch, insofern die UlrichAgathe-Handlung immerhin die Entwicklung einer neuen, ohne obersten Wert funktionierenden Moral andeutet. Unter der Prämisse, dass literarisches Schreiben nur dann ethisch sein kann, wenn es die Rezipienten dazu anregt, eigene Wertvorstellungen zu entwerfen, ist Kraus mithin für Häusler kein ethischer Satiriker, sondern lediglich ein »Moralist« und als solcher bloß »Wegbereiter« (S. 91 f.) für die sich in den Schlafwandlern in kritischer und im Mann ohne Eigenschaften in utopischer Gestalt manifestierende ›ethische Satire‹. Diese Typologie hat zweifelsohne ihre Probleme. Wie alle Narrative neigt sie zur Vereinfachung. Walter Benjamin sah bei Kraus beispielsweise auch nicht-humanistische Kräfte am Werk. Brochs Satire-Theorie sowie Musils Roman können nicht so einfach vom bildungsbürgerlichen Ideenkosmos abgekoppelt werden. Außerdem forciert die Typologie gelegentlich nur schwer belegbare, naiv anmutende Schlussfolgerungen: Weil es für Fryes erste Phase charakteristisch ist, dass der Satiriker über die Missstände aufklärt, um die Überlebenschancen seiner Zuhörerschaft in einer moralisch korrupten Welt zu erhöhen, destilliert Häusler aus den Letzten Tagen der Menschheit die im Wortmaterial an Frye angelehnte Botschaft: »›In einer feindlich gesinnten Umgebung muss man die Augen auf und den Mund geschlossen halten, um zu überleben.‹« (S. 88) So richtig es ist, dass Kraus’ Satire die Wahrnehmung für soziale Abläufe schärft, so befremdlich erscheint die Vorstellung, dass sie eine Survival-Strategie vermittelt. Heikel ist die Typologie gleichfalls, weil sie Differenzen erzeugt, wo kaum welche sind. Wenn sich nämlich die ›ethische Satire‹ Brochs und Musils dadurch auszeichnet, dass sie im Unterschied zu Kraus’ ›moralischer Satire‹ wertoffen ist, und Häusler deswegen explizit die wertediskutierende Ulrich-Agathe-Handlung als nicht-satirisches Schreiben aus seiner Analyse ausklammert (vgl. S. 227), dann funktioniert die Satire der beiden Romanciers inhaltlich und formal zwar anders, deren Dialektik von Satire und Ethik bleibt aber dieselbe: In beiden Fällen ist die Ethik der Horizont der Satire. Gemessen am Thema der Untersuchung ist diese Schlussfolgerung nicht nur etwas gar mager, sondern sie weicht dem – zugegebenermaßen komplexen – Problem der Vermittlung von Satire und Ethik aus. Dieser für den analysierten Gegenstand entscheidenden Frage nachzugehen, wäre unbedingt notwendig gewesen. Vielleicht wäre dann die Differenz von Musil und Broch zu Kraus nicht derart eindeutig.

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Nichtsdestotrotz ist Häuslers Buch ein Gewinn. Die Stärke seiner Typologie liegt darin, dass die parallel geschalteten Analysen der Satire-Konzepte sichtbar machen, welche Vielfalt selbst der Satire von Zeitgenossen hinsichtlich künstlerischer Mittel, Schärfegrad der Kritik, (ethischem) Gehalt sowie Begriffslogik innewohnt. Während der Kraus-Abschnitt eher wenig Unbekanntes enthält, ist es Häusler positiv anzurechnen, dass dank ihm endlich Brochs Theorie in die germanistische Satire-Forschung Eingang gefunden hat. Der gelungenste Abschnitt ist Musil gewidmet. Nicht nur, weil die in die Jahre gekommenen Arbeiten von Arntzen (1960) und Feld (1981) durch eine aktuelle Deutung ergänzt werden. Häusler vermag hier neue Perspektiven zu eröffnen, indem er sich hütet, Musil als Ironiker à la Thomas Mann zu beschreiben. Stattdessen arbeitet er mit Hilfe von Frye einen für Musil spezifischen Satire-Modus heraus, einen »›sozial-utopischen‹ Humor[ ]« (S. 177), der sowohl satirische als auch ironische, sowohl destruktive als auch konstruktive Momente enthält. An die Stelle der allzu planen Anschauung vom Satiriker als Nestbeschmutzer oder heimlichen Idealisten rückt auf diese Weise das weitaus anspruchsvollere Konzept eines satirischen Mystikers, dessen Karikaturen der bürgerlichen Werte zugleich Suchbewegungen nach unbekannten Normen darstellen. An der Ausarbeitung dieser Satiriker-Physiognomie wird die zu verfassende Geschichte der deutschsprachigen Satire nicht vorbeikommen. Christian van der Steeg

Frédéric Joly: Robert Musil. Tout réinventer. Paris: Editions du Seuil 2015. 571 S. € 26,–. Wie kann man nach Karl Corino eine Biographie über Robert Musil schreiben?6 Der französische Übersetzer Frédéric Joly (*1973), der u. a. Walter Benjamin, Hans Magnus Enzensberger, Florian Illies und andere übersetzt hat, hat den Versuch gewagt. Joly ist der Meinung, man könne Corinos Buch wegen seines Umfangs und der vielen Details nicht übersetzen (vgl. S. 11).7 Joly wollte, wie er anmerkt, ein anderes Buch schreiben als Corino, sowohl was den Ton, die Form als auch die Absicht betrifft (vgl. ebd.). Selbstverständlich setzt Joly Corinos Biographie, was das Faktische betrifft, voraus. Er verfolgt aber durchaus einen eigenen Ansatz, der weniger in die Details geht als Corino. Joly sieht in der Utopie der Exaktheit, in der Suche nach dem motivierten Leben den Kern von Musils Werk und macht diese Utopie zum roten Faden seiner Biographie, die ein Leben ohne große äußere Ereig6 7

Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003. Hayasaka hat diesen Versuch für das Japanische gewagt, wobei zu sagen ist, dass er von demselben Interesse an Details angetrieben ist wie Corino.

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nisse zu beschreiben hat. Für Joly ist Musils Leben gleichbedeutend mit dem Schreiben, und er will die Evolution von Musils Denken nachvollziehen. Im Vergleich zu Corino psychologisiert Joly weniger, er leitet auch nur selten biographische Ereignisse aus den literarischen Texten ab. Der Vergleich einer kleinen Episode mag das Vorgehen der beiden Biographen illustrieren: 1936 will der Dirigent Hermann Scherchen eine Zeitschrift gründen, an der vermittelt über den Bildhauer Fritz Wotruba auch Musil mitarbeiten soll. Corino stellt zunächst Fritz Wotruba vor, dann Hermann Scherchen und seine Sympathie für die Sowjetunion. Die Begegnung von Scherchen und Musil in Wotrubas Atelier wird ausführlich beschrieben. Musil hat Franz Blei mitgebracht, was Corino Anlass dazu gibt, die Beurteilung Bleis durch Canetti anzuführen und schließlich nochmals auf Scherchens Persönlichkeit zurückzukommen.8 Joly widmet der Episode nur einige Zeilen. Bei der Arbeit am Essay Über die Dummheit sei Musil bewusst geworden, dass er nicht gut zwei Arbeiten nebeneinander führen könne, und er habe deswegen Scherchen, der nach einigen Jahren in der Schweiz nach Wien zurückgekehrt war, eine Absage erteilt, als dieser ihn anfragte, ob er an der neuen Zeitschrift mitarbeiten wolle. Musil habe dies umso mehr bedauert, als er mit der Ausrichtung des Projekts sympathisiert habe (vgl. S. 466 f.). Die politischen Verbindungen Scherchens, seine Persönlichkeit und die Persönlichkeit der andern Beteiligten interessieren Joly nicht. Er konzentriert sich allein auf die Frage, was die Episode für Musil bedeutete. Der Aufbau der Biographie folgt, wie nicht anders zu erwarten, der Chronologie. Sie ist in zwölf Kapitel eingeteilt, die je nach Interesse mehr oder weniger Jahre umfassen. Das erste Kapitel ist eines der umfangreicheren im Hinblick auf die Anzahl der Jahre, die beschrieben werden. Es ist den Jahren der Kindheit und Jugend (1880–1898) gewidmet, dem komplizierten Verhältnis zur Mutter, dem Erwachen der Sexualität. Als häufig zitierte Quelle fungiert Gustav Donaths Musil-Porträt.9 Joly bemerkt, es sei seltsam, dass Donath Heinrich Reiter nicht erwähne, da er doch die Dreiecksbeziehung auch wahrgenommen haben müsse. Joly schildert Musil als einen jungen, nachdenklichen Mann, der sich beim Austritt aus der Schule seiner Vorlieben und Abneigungen bewusst gewesen sei, der Nietzsche entdeckt, sich aber von der Fin-de-siècle-Stimmung nicht angezogen gefühlt habe. Man finde keine depressive Neurose bei ihm, wenn auch eine gewisse Nervosität, die Joly auf das Hin- und Hergerissensein zwischen Technik und dem Reich der Gefühle zurückführt. Das zweite Kapitel ist den Jahren 1899–1905 unter dem Titel »Monsieur Vivisecteur fourbit ses armes« (»Herr Vivisecteur schmiedet seine Waffen«) gewidmet. Joly spricht vom ersten Publikationsversuch mit 8 9

Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 6), S. 1251–1254. Gustav Donath: Aus Robert Musils Jugendzeit, in: Musil-Forum 25/26 (1999/2000), S. 232– 237. Auf Französisch in Roberto Olmi, Marie-Louise Roth (Hg.): Robert Musil. Paris: Éd. de l’Herne 1981, S. 261–263.

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den »Paraphrasen«, vom ›Valerie-Erlebnis‹, der Bekanntschaft mit Herma Dietz, dem Philosophie-Studium in Berlin. Er zeichnet Musils Suche nach einer Überwindung des Gegensatzes von wissenschaftlicher Ratio und mystischer Unio nach. Er behandelt ausführlich den Inhalt des Törleß, ohne auf eventuelle biographische Erfahrungen einzugehen. Ihn interessiert vielmehr die Suche nach dem Ich, die Aufspaltung des Ichs. Musil habe nicht sehr aktiv am gesellschaftlichen Leben Berlins teilgenommen, aber doch einige Bekanntschaften wie mit Richard von Mises, Franz Blei und natürlich Johannes von Allesch gemacht. Im Laufe des Buches betont Joly immer wieder, dass Musil die Isolation gewählt habe, so auch im dritten Kapitel, das den Jahren 1905–1907 gewidmet ist, in dem er u. a. die voraussehbare Karriere Gustav Donaths mit jener von Musil vergleicht. Letzterer habe jede Karriere zugunsten des Schreibens und Denkens abgelehnt, womit er die Einsamkeit und die soziale Marginalität gewählt habe, ein Zug in Musils Leben, den Joly immer wieder hervorhebt. Martha kommt ins Blickfeld und Joly fragt, ob sie für Musil die nie gesehene, aber lange erwartete Frau war, welche er beim Chopin-Rezital von Paderewski imaginiert hatte. So überschreibt er denn das nächste, den Jahren 1908–1909 gewidmete Kapitel mit »La fin de la solitude et les difficultés de l’écriture«. Joly porträtiert Martha und beschreibt die Schwierigkeiten bei der Abfassung der Erzählungen Das verzauberte Haus und Vereinigungen. Beschrieben wird auch Musils Auseinandersetzung mit bzw. Ablehnung von Freuds Psychoanalyse und seine Suche nach dem »éros non sexuel«, welcher Ähnlichkeiten mit dem ›anderen Zustand‹ habe. Was aber Musil besonders an Freud gestört habe, sei dessen Autorität und die damit verbundene Abwesenheit von Wissenschaftlichkeit. Joly verweist auf eine Aussage von Jacques Bouveresse, welcher hervorhebt, dass das Gegenteil jeder Art von diktatorischem Denken, wie es Freud verkörpert, das experimentelle Denken sei, das notwendigerweise zur Idee des Essays führe (in der Doppelbedeutung von ›Versuch‹ und ›Essay‹). Es gehört nicht zu den geringsten Verdiensten dieser Biographie, dass sie die wichtigen Arbeiten von Jean-Pierre Cometti und Jacques Bouveresse einbezieht, welche im deutschen Sprachraum kaum rezipiert worden sind.10 Das nächste Kapitel (1910–1912) ist Musils als »Unfall« interpretierte Rückkehr nach Wien gewidmet. Joly zeichnet das Bild einer Stadt, deren große Zeiten vorbei waren und in der die Modernen wie Freud, Schönberg oder Wittgenstein in der Marginalität lebten. Er betont, dass der aufkommende Nationalismus Musil zutiefst fremd bleiben musste, ihm, der das Ich als radikal instabil konzipierte. Er konnte sich nur lustig machen über 10

Vgl. Jean-Pierre Cometti: L’Homme exacte. Essai sur Robert Musil. Paris 1997; ders.: Musil philosophe. L’Utopie de l’essayisme. Paris 2001; Jacques Bouveresse: L’Homme probable: Robert Musil. Le hasard, la moyenne et l’escargot de l’histoire. Paris 1993; ders.: La Voix de l’âme et les Chemins de l’esprit. Paris 2001.

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einen Begriff wie ›österreichische Identität‹. Privat beschäftigte Musil die beginnende psychische Erkrankung von Alice Donath vor allem als eine Art Vorstufe des ›anderen Zustands‹. Das sechste Kapitel (1912–1914) ist der Reise Musils nach Berlin, der Begegnung mit Ida Roland und der Reise mit Martha nach Italien gewidmet, sowie der Übernahme der Redaktion der Neuen Rundschau, welche Joly mit folgendem Satz kommentiert, der seinen Stil illustriert: »Dire qu’il accorde une importance extrême à la tâche qui lui est confiée serait très excessif – et serait même tout à fait contraire à la vérité.« (S. 221)11 In seinen Kritiken in der Neuen Rundschau erweise sich Musil als ein Experimentator, der in der Auseinandersetzung mit den anderen seine Ideen über das Künstlerische schärfe. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Joly ziemlich genau in der Mitte seiner Biographie angekommen. Der Kriegszeit (1914–1918) widmet er knapp 40 Seiten. Ob die Texte, von denen Joly glaubt, dass sie Musil in der Kriegszeit geschrieben habe – das Blatt mit den Titeln von Texten, welche später im Nachlaß zu Lebzeiten erscheinen,12 und die Arbeit an den Schwärmern (vgl. S. 269) –, wirklich aus dieser Zeit stammen, scheint mir jedoch sehr fraglich. Man hat keine Belege dafür, dass Musil im Krieg mehr als kleine Notizen geschrieben hätte. Joly stützt sich auf die Übersetzung der Tagebücher von Philippe Jaccottet, was die irreführenden Annahmen erklären kann.13 Das achte Kapitel (1919–1922) ist den Schwärmern und den Anfängen des Mann ohne Eigenschaften gewidmet. Joly macht darauf aufmerksam, dass sich 1919 die Theaterskandale in Deutschland häuften und generell eine feindliche Stimmung gegenüber künstlerischer Kühnheit herrschte. Das nächste Kapitel fasst die Jahre 1923–1930 zusammen, wobei Joly feststellt, dass 1923 mit der Verleihung des Kleist-Preises, der Ernennung Musils zum Vizepräsidenten des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich und der Publikation der Portugiesin bei Rowohlt ein relativ fruchtbares Jahr gewesen sei. Dieses Kapitel ist aber hauptsächlich der Arbeit am Mann ohne Eigenschaften gewidmet. Joly zitiert Milan Kundera, um Musils Romankonzept zu charakterisieren: Gedanken seien nicht eine Art Zusatz des Romans, sondern sie seien ständig präsent: »Ce qu’il veut, c’est un roman qui pense.« (S. 343) Seine Charakterisierung des Mann ohne Eigenschaften ist überzeugend, so weist er etwa darauf hin, dass die Identität der Personen nicht stabil sei, dass sich zwischen ihnen Permutationen der Eigenschaften produzieren, was dazu führe, dass die ernsthaftesten Gedanken von Ulrich sich in anderen Personen wiederfinden, wie schon Maurice Blanchot bemerkt hat (vgl. S. 357). Das zehnte Kapitel (1930–1932) wird mit der Bemer11 12 13

»Zu sagen, dass er der Aufgabe, die man ihm anvertraut hatte, ein großes Gewicht zugemessen hätte, wäre übertrieben – ja dies wäre vollständig gegen die Wahrheit.« Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/55. Durch die falsche Datierung von gewissen Einträgen in Heft I/29 datieren Corino: Robert Musil (s. Anm. 6), S. 1893, und Joly (S. 279) die Gorki-Lektüre ins Jahr 1915, sie ist aber in das Jahr 1919 zu datieren.

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kung eingeführt, dass von Geld die Rede sein werde – und dies häufiger bis zum Schluss der Biographie. Das Geld liebe es nicht, wenn man sich nicht für es interessiere, das habe Musil zu spüren bekommen (vgl. S. 371). Joly schildert Musils Verhältnis bzw. Nicht-Verhältnis zum Geld und welche täglichen Schwierigkeiten sich daraus ergaben. In diesen Jahren wurden der erste und der zweite Band des Mann ohne Eigenschaften fertiggestellt und gedruckt. Joly behandelt die Reaktion auf den ersten Band, wie er das auch jeweils für alle anderen Werke getan hat. Er beschreibt immer wieder sehr adäquat, was Musils großer Roman will, zum Beispiel wenn er formuliert: »Parce que l’homme sans qualité ne détient pas de solution, parce qu’il refuse le scepticisme, et se montre prêt à l’expérimentation, sans préjugé aucun, le grand roman est avant tout la relation d’une expérience: d’une quête, encore une fois, et même d’une utopie.« (S. 415)14 Das Erscheinen des zweiten Bandes ist zwar erwünscht, in Musils Augen aber ein Irrtum, weil er falsche Erwartungen weckt, was Joly im umfangreichen zweitletzten Kapitel (1933–1938) ausführlich darlegt, das den Auseinandersetzungen mit Rowohlt, dem Erscheinen des Nachlaß zu Lebzeiten und Musils Reaktion auf die politische Lage gewidmet ist. Er betont die »autistische« Seite Musils, die lange die Bedrohung nicht wahrhaben wollte, wohl auch deshalb, weil er sich durch seine militärischen Auszeichnungen und trotz allem auch aufgrund einer gewissen Bekanntheit geschützt glaubte. Das letzte, zwölfte Kapitel fasst die Jahre des Exils 1938– 1942 zusammen. Musils Tod wird sehr sachlich in einzelnen Sätzen, die jeweils einen eigenen Absatz bilden, ohne jeden weiteren Kommentar beschrieben: Fritz Wotruba vient tout de suite de Zurich. Il moule le masque mortuaire. Plusieurs photographies sont prises. La mort passe totalement inaperçue, aucun journal ne l’annonce. Le pasteur Lejeune prononce l’éloge funèbre devant huit personnes. La cérémonie est suivie de l’incinération. Les cendres sont dispersées par Martha Musil, seule, aux abords de Genève, sur les flancs du Salève. (S. 535)15

Joly zeichnet das Porträt eines Autors, der immer nur das eine war, ein Schriftsteller, und für den jede Art von Lohnarbeit nur eine Ablenkung von der ihm gestellten Aufgabe war, der nur ein Ziel hatte, den großen Roman zu schreiben, der immer ein bisschen am Rande der Gesellschaft lebte und von dieser auch wenig Anerkennung erfuhr. Durch den kulturellen Kontext der französischen Literatur wird manchmal ein anderes Licht auf Musil geworfen, so 14

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»Weil der Mann ohne Eigenschaften die Lösung nicht kennt, den Skeptizismus aber ablehnt und ein Experiment ohne Vorurteile auf sich nimmt, ist der große Roman vor allem der Bericht über die Erfahrung/den Versuch einer Suche, ja sogar einer Utopie.« »Fritz Wotruba kommt sofort von Zürich. Er nimmt die Totenmaske ab. Mehrere Fotos werden gemacht. / Der Tod wird nicht bemerkt. Keine Zeitung meldet ihn. / Pfarrer Lejeune hält die Abdankung vor 8 Personen. / Die Zeremonie wird von der Einäscherung gefolgt. / Die Asche wird von Martha allein in der Nähe von Genf auf den Hängen des Salève verstreut.«

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wird zum Beispiel Kundera zitiert, der erkannt hat, welcher poetische Wert in Musils Prosa steckt, und der von Musil als einem Schriftsteller spricht, der in seinem Roman »une poésie anti-lyrique« verwirklicht habe (S. 528). Wenn Joly in der Einleitung sagt, es gehe ihm mit seiner Biographie auch darum, Missverständnisse in Bezug auf Musil auszuräumen, ihn besser zu verstehen, ihn nicht als den Chronisten des untergehenden Kakanien zu zeigen, sondern als den Autor einer extremen Modernität, als einen Autor, der Fragen gestellt habe, auf die wir noch immer keine Antwort haben, so kann man sagen, dass ihm das gelungen ist. Rosmarie Zeller

Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950. Göttingen: Wallstein 2015. 712 S. € 39,90. Mit dem vermeintlichen ›Ende der Sozialgeschichte der Literatur‹ sind auch die einst intensiv diskutierten Fragen nach dem Verhältnis von literarischen Gattungen und Gesellschaft in den Hintergrund getreten, jedenfalls in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft. Im Fokus der Gattungsforschung standen in jüngerer Zeit eher sprachanalytische Rekonzeptualisierungen literarischer Gattungen, wobei u. a. auf kognitionspsychologische oder anthropologische Bezugstheorien zurückgegriffen wurde.16 Dass etwa die angloamerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaften sowie nicht zuletzt die Rhetorikforschung eingehend über »genre as social action« (Carolyn R. Miller) diskutierte, wurde nur im Einzelfall zur Kenntnis genommen; größer angelegte germanistische Studien fehlen ganz. Welcher Forschungsbedarf in diesem Feld weiterhin besteht und welche Potenziale für das Verständnis literarischer Gattungen die literatur- und, weiter gefasst, kultursoziologische Analyse birgt, zeigt dabei die Monographie Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950 von Werner Michler, die auf eine 2012 von der Universität Wien angenommene Habilitationsschrift zurückgeht. Methodisch angesiedelt im Schnittpunkt zwischen Bourdieu’scher Kultursoziologie, Wissenspoetik und Philologie, verortet Michlers Studie das Phänomen der literarischen Gattungen in einer »Kulturgeschichte der Klassifikation« (S. 74). Literarische Gattungen werden mithin als Gegenstand einer »umfassenderen soziokulturellen Genologie« (S. 44) konzeptualisiert, wobei Michler insbesondere die Wechselwirkungen, Austauschbeziehungen und Brechungsverhältnisse in den »drei Dimensionen von Sozial-, Natur- und literarischer Gattungsordnung« (S. 449) interessieren. Von zentraler Bedeu16

Vgl. exemplarisch die entsprechenden Artikel in dem von Rüdiger Zymner herausgegebenen Handbuch Gattungstheorie (Stuttgart, Weimar 2010); der darin enthaltene Artikel zur »Sozialund funktionsgeschichtlichen Gattungstheorie« schließt mit den 1980er Jahren.

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tung ist für Michler das Habituskonzept Bourdieus: Insofern er Gattungen nicht primär substantialistisch – als Ding oder als Bündel von Eigenschaften – versteht, sondern performativ als Klassifikationshandlungen (mithin als »social action«), rücken jene Handlungsvoraussetzungen in den Blick, die zu der historisch offensichtlichen (wenn auch im Wandel begriffenen) Stabilität generischer Ordnungsweisen geführt haben. Als »inkorporierte[s] soziale[s] Klassifikationsschema[ ]« (S. 58), und also als generierendes, zugleich sozial generiertes Prinzip, leistet der Habitus diese »Stabilisierung von Klassifikationsakten« (S. 52); Gattungsklassifikation erscheint somit als »habitualisiertes Handeln« (S. 58). Gegenüber etablierten Konzepten – etwa dem von literarischen Gattungen als ›Institutionen‹ (prominent vertreten von Wilhelm Voßkamp) – stärkt Michler die Akteursposition, ohne jedoch die makrosozialen Voraussetzungen zu ignorieren, die stets im Rücken der klassifizierenden Akteure – d. i. in der Unverfügbarkeit des Habitus – operieren. Aus der zentralen Bedeutung des Habituskonzepts und dem damit einhergehenden Akteursfokus folgt auch, dass Gattungsgeschichte für Michler zu einem »integrale[n] Bestandteil der Geschichte der Intellektuellen« (S. 59) wird, das Studium literarischer Gattungen mithin stets auch Intellektuellensoziologie ist. Diese in pointierter Diskussion mit der vorliegenden Forschung entwickelte Konzeption einer kulturgeschichtlichen Gattungsforschung, wie Michler sie im programmatischen ersten Kapitel seiner Studie entfaltet, bildet den stets präsenten Hintergrund der insgesamt zehn historischen Kapitel, mit denen Michler »Bausteine« (S. 10) zu einer neuperspektivierten Geschichte der literarischen Gattungen vorlegt. In einem hinführenden Kapitel (Kap. 2) widmet sich Michler dabei kursorisch der Vorgeschichte des im Titel benannten, primären Untersuchungszeitraums 1750–1950. Er erinnert hier an die Fundierung der humanistischen Gattungspoetik in der Gelehrtenkultur, um damit auch auf die Rolle von Poetiken als Mechanismen der Abgrenzung und Profilbildung sozialer Gruppen hinzuweisen: Gattungsnormen bzw. das Wissen um diese wie das entsprechende produzierende Handeln regulieren hier ebenso sehr Texte wie soziale Zugehörigkeit. Mit den folgenden Kapiteln eröffnet Michler den ersten von zwei großen historischen Blöcken: Der erste liefert Untersuchungen zum Zeitraum von ca. 1750 bis 1830, der zweite zum Zeitraum von ca. 1890 bis 1930 – mit jeweils unscharfen Rändern. Der Einstieg in den ersten historischen Block (Kap. 3) erfolgt mit jener Transformation der Gattungspoetik ›um 1750‹, die bisher vor allem aus philosophischer Perspektive rekonstruiert wurde. Michler hingegen nähert sich den Umbauten in der literarischen Gattungspoetik, indem er sie im Horizont naturwissenschaftlicher und sozialer Klassifikationen situiert. In den Blick geraten so auf der einen Seite die Entwicklungen im Bereich der botanischen Klassifikation, von denen ausgehend Michler die Integration der Idee

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der scala natura in die nun zunehmend biologische Gattungspoetik ebenso herausarbeitet wie etwa den Diskurs um legitime Hybride und groteske Schimären, der – normativ aufgeladen – die Grenzen akzeptierter Gattungsmischungen reguliert. Auf der anderen Seite verfolgt Michler anhand der Diskussion um die Volkspoesie und deren Gattungen die Konstruktion eines doppelten Gattungssystems, mit dem sich die Intellektuellen ihr Anderes schaffen, das zu repräsentieren, zu sammeln oder zu pflegen zugleich zur noblen Aufgabe des ›nationalen‹ Dichters und Philologen wird – unter Ausgrenzung eines weiteren, in quantitativer Hinsicht an Relevanz gewinnenden Anderen, nämlich der Trivialkultur. Das nächste Kapitel (Kap. 4) zu »Herders Gattungsdenken« schließt an diese Ausführungen zur Volkspoesie – und damit auch zur Nobilitierung populärer Gattungen durch Primordalisierung – wie auch zur biologischen Poetik an, diskutiert sie nun aber ausführlich an einem einzelnen Akteur und damit auch im Kontext der habituellen Positionierungsstrategie eines disziplinären Grenzgängers, der sich im unsicheren Feld der Intellektuellen zu behaupten hat. So zeichnet Michler nach, wie sich bei Herder ein Denkstil des ›esoterischen Populismus‹ Bahn bricht, der zwar mit dem oralen Archiv des Volkes argumentiert, dies aber auf eine theologisch, biologisch und philologisch grundierte Weise tut, die sich – einem Modell der Exklusion folgend – an eine »hermetische[ ] Gemeinschaft der Wissenden« (S. 234) richtet. Diese soziale Hermetisierung der Gattungspoetik bildet ein Leitmotiv auch der folgenden drei Kapitel, die sich im Kern mit Goethe befassen. Zunächst fokussiert Michler zwei Schreibprojekte, in denen sich Goethes generische Arbeit zu Schreibkrisen auswächst, konkret die beiden Fragmente Die Geheimnisse und Der Zauberflöte zweyter Theil (Kap. 5 und Kap. 6). In Lektüren, die als Musterbeispiele der philologischen Kulturanalyse gelten können, rekonstruiert Michler hier – vor dem Hintergrund von Goethes sozialer Orientierungskrise in Weimar und seiner naturphilosophischen Studien – einerseits Goethes esoterische Gattungspoetik (mit ihrer ›Schau‹ der ›inneren Form‹), andererseits sein Changieren zwischen zwei generischen Paradigmen: einem klassizistischen, das auf der Sonderung der Gattungen basiert, und einem hermetischen, das die Vereinigung der Gattungen anstrebt. Dabei zeigen schon Michlers kongeniale Lektüren, dass sich das Gattungsdenken zunehmend in einen Bereich der Unverfügbarkeit zurückzieht, erkennbar und verhandelbar nur noch von Eingeweihten. – Was sich auch im siebten Kapitel bestätigt, in dem, flankiert von Exkursen zur Novellentheorie und zur »Naturformen der Dichtung«-Note aus dem Divan, Goethes Novelle als ein metapoetologischer Text gedeutet wird, der weniger als Muster für eine bestimmte Gattung fungieren soll, sondern vielmehr allgemein Fragen der Gattungshaftigkeit verhandelt. Mit den drei Goethe-Kapiteln endet der erste historische Block, der in etwa den Zeitraum 1750 bis 1830 abdeckt. Zwar thematisiert ein Übergangs-

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kapitel (Kap. 8) im Folgenden noch – v. a. am Beispiel von Karoline von Günderrode und Bettine von Arnim – die »Romantische Gattungspoetik und das Geschlecht der Gattung« sowie – mit Blick auf Adalbert Stifter – die »Nachromantische Poetik«. Die drei abschließenden Kapitel springen jedoch ans Ende des 19. Jahrhunderts und widmen sich von dort aus der »Periode zwischen 1885 und 1930«, die Michler »als zweite Blütezeit der Gattungstheorie« (S. 459) bezeichnet. Am Anfang dieser zweiten Blütezeit (Kap. 9), die sowohl im Zeichen sozialer Umwälzungen wie auch, zunächst, der Evolutionslehre Darwins steht, situiert Michler Friedrich Nietzsches Tragödienschrift. Deren mythopoetische Verschränkung von Literatur, Gesellschaft und Biologie perspektiviert er auf eine an goethezeitliche Denkfiguren anschließende, kulturrevolutionäre Gattungspoetik, die nicht nur die Idee künstlerischer Avantgarden in die Reflexion integriert, sondern auch als Vorspiel einer philologischen Gattungsdiskussion gelten kann. Fiel die Gattungspoetik, so Michler, seit 1800 vor allem in die Domäne der Philosophie, so leistet sie nun einen entscheidenden Beitrag zur Konturierung einer im engeren Sinne akademischen Philologie, wie sie sich etwa bei Wilhelm Scherer und Wilhelm Dilthey zeigt. Deren ›positivistische‹ Gattungspoetiken deutet Michler als Beiträge zu einer »Wissenschaft von der Kreativität« (S. 481) – im Kontext von psychologischen und evolutionstheoretischen Denkmustern. Die weitere Geschichte der akademischen Gattungstheorie skizziert Michler im Folgenden entlang der Biopoetiken, die an die goethezeitlichen Ideen der inneren Form und der Morphologie anknüpfen, sowie anhand der Verbindung von Lebensphilosophie und Formsoziologie bei Lukács und der naturgeschichtlichen Ideenlehre in Benjamins Trauerspielbuch. Der Fokus des Kapitels liegt dabei zwar auf den Beziehungen zwischen literarischer und biologischer Klassifikation, die ›soziale Frage‹ des Gattungsdenkens bildet jedoch – einerseits als soziale Unsicherheit der Intellektuellen, andererseits als weitgehend verdrängte Auseinandersetzung mit den sozialen Verwerfungen der Zeit – den latenten Hintergrund der Darstellungen zur akademischen Gattungstheorie ›um 1900‹. Wieder in den Vordergrund rückt das Soziale im Hofmannsthal-Kapitel (Kap. 10). Dessen Gattungspraktiken stellt Michler in den Kontext einer allgemeinen Hinterfragung sozialer Klassifikationen ›um 1900‹ sowie, speziell, einer »Überfüllungskrise« (S. 545) im literarischen und akademischen Feld. Hofmannsthal agiere, so Michler, im Sinne einer goethezeitlich inspirierten Werkpolitik, grundiert von einer esoterischen Gattungsphilosophie und getragen von dem Willen zur Einheit des Werks, welcher der ›Zerrissenheit‹ der Zeit und der Unsicherheit der Habitus entgegenarbeitet. Auch Brechts Gattungspoetik, der sich das 11. und abschließende Kapitel annimmt, sieht Michler im Horizont einer sozial verunsicherten Moderne, wobei mit Brecht die politische Dimension des Gattungshandelns ins Zentrum rückt. Beruht dieses im Frühwerk noch auf einer ›darwinistischen‹ Idee

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des Konflikts und einer Etablierung von ›dritten‹ Positionen zwischen Esoterik und Popularität, so zeichnet sich ab den 1920er Jahren ein Übergang von einem biologisch inspirierten Denken zu einem Denken in Klassenkategorien ab. In der Folge betreibt Brecht, so Michler, eine aktivistische Gattungsarbeit auf der Grundlage einer modernen Soziologie; Brecht wisse um die »institutionell verfestigte[ ] performative[ ] Gewalt« (S. 620) von Gattungen und begreife die generische Arbeit – etwa in seinen Lehrgedichten – als »ästhetisch-politische Investition« (S. 634) innerhalb sozialer Kämpfe. Jedes einzelne der zehn historischen Kapitel präsentiert dabei eine Fülle von Material; diskursive wechseln mit philologischen Ausführungen, Exkurse weiten oder vertiefen die Analysen, erörtern Nuancen oder liefern historische Rück- und Vorgriffe. Wiederholt wählt Michler ein multiperspektivisches Vorgehen, indem er seine Gegenstände wendet, von unterschiedlichen diskursiven Kontexten aus in den Blick nimmt oder in produktive Spannungsverhältnisse zu abweichenden Konzeptionen bringt. Immer wieder eröffnet sich so für Michlers philologische Kulturanalyse ein neuer Weg, eine neue Möglichkeit zur Vertiefung ins symptomatische Detail. Im Zuge dessen bleibt Einzelnes durchaus thesenhaft, nicht selten wählt Michler die stilistisch pointierte Zuspitzung; in anderen Fällen verzettelt er sich auf eine philologisch ebenso sympathische wie ertragreiche Weise in seine Gegenstände. Zusammengehalten werden die explizit als »Bausteine« bezeichneten historischen Kapitel nicht so sehr durch ein übergreifendes Narrativ (auch wenn es mehrere argumentative Fäden gibt, die die Kapitel miteinander verknüpfen), sondern durch die zu Beginn justierte methodische Perspektive. Dass Michler mit dieser Perspektive einen der originellsten Beiträge zur Gattungsforschung des 21. Jahrhunderts vorgelegt hat, steht nach den über siebenhundert Seiten dieser Monographie außer Frage. Gleichwohl hat auch diese Perspektive ihre blinden Flecken. Sichtbar werden diese etwa, wenn man auf jenen Zeitraum blickt, der von Michler ausgespart wird – die Zeit (grob gesagt) zwischen 1830 und 1890. Seine Entscheidung zur Lücke begründet Michler zum einen mit dem Übergang der expliziten Gattungsreflexion in die Philosophie, die er aus nachvollziehbaren Gründen in seiner ganzen Studie nur am Rande thematisiert – im Fokus steht die Gattungspoetik im literarischen Feld, steht Gattungspoetik im Kontext der Produktionsästhetik und des konkreten literarischen Produzierens. Zum anderen bemerkt Michler aber, dass auch in dem von ihm ausgesparten Zeitraum Gattungspoetik durchaus »weiter getrieben« wurde, »doch hat sie das Niveau des Höhenkamms der literarischen einerseits, der theoretischen Entwicklung andererseits eingebüßt« (S. 185). Michlers Kulturgeschichte der Gattungen ist in diesem Sinne eine Geschichte des avantgardistischen Gattungsdenkens und -handelns, orientiert am »Höhenkamm« und an den ›Blütezeiten‹ der nicht selten esoterischen Reflexion, die sich über-

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haupt erst durch die kongeniale Interpretation von »rätselhaften Text[en]« (S. 371, zu Goethes Novelle) oder gar »der rätselhaftesten Projekte« (S. 247, zu Goethes Die Geheimnisse) entdecken lässt. Die Unmengen an populären, nicht selten an ›Schule und Haus‹ adressierten Beiträge zur Gattungspoetik aus dem Untersuchungszeitraum, die z. B. Sandra Richter et al. bibliographisch erfasst haben,17 kommen hingegen nahezu nicht vor. Nun ist das kein grundsätzliches Problem von Michlers Abhandlung, die sich bewusst gegen einen Abstieg in die Niederungen der populären und trivialen Gattungsreflexion gerade des 19. Jahrhunderts entscheidet. Diese Entscheidung zur Lücke markiert jedoch die Grenzen von Michlers Perspektive, die in erster Linie an den revolutionären, aus generischen Klassifikationskrisen erwachsenden Projekten interessiert ist. – Und sie zeigt, dass dieser in vielen Aspekten wegweisende Beitrag zu einer kulturgeschichtlichen Gattungsforschung zumindest in einer Hinsicht dem cultural turn nicht folgt: Denn von einer Ausweitung des Literaturbegriffs, gar von einer grundsätzlichen Revision des literarischen Kanons ist in dieser Abhandlung wenig zu spüren. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch, dass Bourdieus Feldbegriff in Michlers Argumentation eine ungleich geringere Rolle spielt als der Habitusbegriff. Michlers Perspektive ist entschieden autororientiert; immer wieder geht es darum, anhand von Texten, die sich als selbstreflexiv deuten lassen, die individuellen Schreibkrisen von Autoren als Krisen der Gattungswahl zu begreifen. Dabei integriert Michler über die sozial generierte Wirklichkeit des Habitus und die Spannung von Habitus und Habitat zwar durchaus die Feld-Situation in seine Analysen. Es bleibt aber zumeist bei einer Berücksichtigung dessen, was mit Bourdieu als Avantgarde-Pol des Feldes bezeichnet werden kann. Auf diese Weise erweist sich Gattungsgeschichte in der Tat als Geschichte der (meist großen und meist männlichen) Intellektuellen. Zu zeigen, dass es daneben eine weniger auf dem »Höhenkamm« operierende, vielmehr in die Breite des Populären reichende Geschichte intellektuell deutlich bescheidenerer Projekte gibt, die gerade in ihrer Fülle einiges auszusagen vermögen über die Wechselwirkungen und Brechungsverhältnisse zwischen Gattungsordnung und Sozialordnung, bleibt anderen Studien überlassen. An Michlers Kulturen der Gattung werden allerdings auch diese Studien nicht vorbeikommen. Michlers gewichtige Arbeit hat in konzeptioneller wie in historiographischer Hinsicht das Potenzial, eine neue Blütezeit der Gattungsgeschichtsschreibung einzuläuten. Peer Trilcke

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Vgl. Sandra Richter: A History of Poetics. German Scholary Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin, New York 2010.

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Sergej Rickenbacher: Wissen um Stimmung. Diskurs und Poetik in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Vereinigungen . Paderborn: Wilhelm Fink 2015 (= Musil-Studien, Bd. 43). 623 S. € 69,–. Wer sich mit Stimmungen beschäftigt, hat es mit einem schwierigen Arbeitsfeld zu tun. So weist der Verfasser der Studie Wissen um Stimmung, Sergej Rickenbacher, zu Recht darauf hin, dass diesem Begriff nur schwer ein klar definierter Ort im Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis zugewiesen werden kann. Seine Vielschichtigkeit verlange vielmehr eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs, die sich an Foucaults diskursiver Archäologie orientieren könnte. So dürfe auch Musils Wissen um Stimmung nicht einfach mit seiner Kenntnis psychologischer Positionen oder seiner Poetik der Stimmungen gleichgesetzt werden. Rickenbacher geht es um dreierlei: um Musils Bücher als »Aussagen im Diskurs ›Stimmung‹«, um Musils Texte (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Vereinigungen) als »literarische Manifestationen« (S. 22) von Stimmung, und schließlich um das Aufdecken einer bisher übersehenen Kontinuität zwischen dem Törleß und den Vereinigungen, die sich vor allem einem (sich wandelnden) Konzept von ›Stimmung‹ verdankt (vgl. S. 21). In der ›Stimmung‹ sieht der Autor geradezu eine »Koordinierungsfunktion zwischen Ästhetik, Wissenschaft und Feuilleton« (S. 25). Nach Rickenbacher wird Musils Frühwerk von einem Wissen »diskursiv« ›gerahmt‹, zu der »das Episteme der Energie im 19. Jahrhundert, die Konzepte von Physischem und Psychischem sowie ihr Verhältnis zueinander, die Funktion des Ästhetischen und Musils Verständnis der Ethik« (S. 35) gehöre. Den zentralen Beleg für diese bei Musil zunächst ja nur vermuteten Zusammenhänge sieht Rickenbacher in einer um 1900 formulierten, mit Nazarener überschriebenen Prosaskizze. Tatsächlich finden sich dort Formulierungen wie »gleichbleibende Menge geistiger Leistungsfähigkeit« oder »kinetische und potentielle Energie des Geistes« (zit. nach S. 31), die auf technisches, physikalisches und psychologisches Wissen verweisen. Zwar sprechen auch Forster, Fichte oder Schlegel von einer »Energie des Geistes«, gleichwohl verweist im Fall des Nazarener-Fragments der metaphorische Zusammenhang mit großer Wahrscheinlichkeit auf den zeitgenössischen physikalischen Wissenshorizont. Auf der anderen Seite führt die Einsicht, dass in dem genannten Fragment auf die Diskussion über den Energieerhaltungssatz angespielt wird, so lange nicht weiter, wie nicht klar ist, welche Funktion diese »Strukturanalogie« von Geist und physikalischer Welt hat. Die Behauptung, dass sich in Musils Frühwerk eine übergreifende Diskursformation oder diese oder jene diskursive Kontextualisierung zeige, bedarf zudem einer weit größeren Materialbasis. So übernimmt Rickenbacher eine enorme Beweislast, wenn er behauptet: »Der Weg über den Energieerhaltungssatz ist insofern notwendig, als er die Stimmungen in Musils Frühwerk nicht nur diskursiv kontextualisiert. Vielmehr macht er erst das disparate Wissen in Musils lite-

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rarischem Frühwerk beschreibbar.« (S. 38) Da kann man den Verdacht nicht von der Hand weisen, dass die Rede von Diskursformation jedenfalls auch dazu dienen kann, die Interpreten mit einem Schlage von den komplizierten Vermittlungsproblemen zwischen ›Wissen‹ und Literatur zu befreien. Um diese Zusammenhänge aufzuklären, finden sich in Rickenbachers Arbeit immer wieder ausführliche Darstellungen der mehr oder weniger zeitgenössischen physikalisch-technischen Forschung und vor allem der Diskussion um den psychophysischen Parallelismus. Über die Funktionalität dieser Textpassagen lässt sich allerdings streiten. Schaut man sich folgendes Beispiel an, dann scheinen Zweifel angebracht: In Fechners Untersuchungen zum psychophysischen Parallelismus ist etwa die Rede von einer lebendigen Kraft, die sich auch »in unsichtbaren Erzitterungen wägbarer und unwägbarer Teilchen« (zit. nach S. 45) äußert. Die darin enthaltene Hypothese Fechners, die »Einheit von Welt, Körper und Subjekt« sei »durch das Zittern überhaupt beobachtbar«, werde – so die These – »in Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß aufgegriffen.« (S. 45) Dort zeige sich etwa in der Beschreibung von Törleß’ Heimweh ein »prototypisch[r] Fall einer Übertragung von disziplinärem Wissen« (S. 135). Der Erzähler lässt nämlich seinen Protagonisten die Erinnerung an das Bild seiner Eltern körperlich erfahren »›wie eine Resonanz, die [. . .] noch eine Weile fortgezittert hatte‹« (ebd.). Nun reicht die zitierte Passage aus dem Törleß sicher nicht aus, um hier Fechner bemühen zu müssen, gezittert wird in der Literatur bekanntlich bei allen möglichen Anlässen. Noch fragwürdiger wird der Verweis auf Fechner, wenn man sich die Musil’sche Wendung genauer ansieht. Dort heißt es: Die Erinnerung »verklang bald wie eine Resonanz, die nur noch eine Weile fortgezittert hatte.« (GW II, S. 9; Herv. F. L.) Offenkundig geht es also um ein konkretes akustisches Phänomen, genauer: um den Vergleich eines inneren Zustandes mit einem Klang. Die von Fechner beschworene »Einheit von Welt, Körper und Subjekt« ist in solchen Passagen sicher nicht zu entdecken. Ein anderes Beispiel lässt die Probleme deutlicher werden, die mit Interpretationen solchen Typs verbunden sind. So vertritt Rickenbacher z. B. die weitreichende These, dass »die zerebrale Tätigkeit die Grundlage von jedem beschriebenen Vorgang im Törleß ist.« (S. 212) Formulierungen wie: »eine wortlose Klage flutete durch Törleß’ Seele, wie das Heulen eines Hundes« (GW II, S. 87), oder: »Unruhe eines Sommermittags, die einmal seine Seele glühend, wie mit den zuckenden Füßen eines huschenden Schwarms schillernder Eidechsen überlaufen hatte« (GW II, S. 64), zeigen jedoch, dass ein Wissen um wie auch immer beschaffene psychophysische Zusammenhänge weder Aufschluss gibt über die poetische Konstruktion von Erleben noch über dessen Gehalt. Allgemein gilt wohl: Niemand wird die psychophysischen Grundlagen des Erlebens ernsthaft abstreiten wollen. Man muss sich aber vor Augen halten, dass deren Kenntnis nichts beiträgt zu der Art und Weise, wie jemand (und dies gilt auch für die Konstruktion literarischer Figuren) etwas erlebt. Modern gesprochen: Die

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neuronalen Prozesse sind zwar verantwortlich für die Art und Weise, in der erlebt wird, aber sie sind in diesem Erleben nicht gegenwärtig. Für literarische Darstellungen – und dies ist Musil bewusst gewesen – ist es völlig gleichgültig, was für eine Theorie zerebraler Prozesse im Hintergrund steht. Deshalb ist die These, die Figur des Törleß diene auch dazu, »physiologische [!] [. . .] Theorien [. . .] kritisch zu verhandeln« (S. 133), von vornherein nur schwer zu halten. Auch in anderen Abschnitten finden sich Fragwürdigkeiten dort, wo auf zeitgenössische Diskussionen über psychophysische Zusammenhänge rekurriert wird. Dass Törleß nach dem Blick in die unendliche Weite des Himmels wenig später in einer Mauer ein Rieseln zu hören glaubt, markiert trivialerweise einen Wechsel vom Sehen zum Hören. Wieso damit allerdings »ein Anschluss an die Energietheorie und Nervenphysiologie der Zeit geschaffen wird« (S. 201), bleibt ein Rätsel. Dass Rickenbacher hier (und an vielen anderen Stellen) überhaupt aufschlussreiche Zusammenhänge sieht, hat mit seinem Interpretationsverfahren zu tun. Statt zu zeigen, dass sich etwa der Sinn bestimmter Textpassagen allererst erschließt, wenn man auf ein mehr oder weniger zeitgenössisches wissenschaftliches Konzept rekurriert und dessen Funktion für den Gehalt des poetischen Textes nachzeichnet, sucht Rickenbacher nach Ausdrücken, die in beiden Texttypen auftauchen und konstatiert dann Abhängigkeiten, Abgrenzungen oder Übereinstimmungen.18 Auf der anderen Seite kann die Arbeit immer dort überzeugen, wo es um konkrete Analysen geht, die nicht unter dem ›Diskurszwang‹ stehen. So finden sich z. B. aufschlussreiche Beobachtungen zu den Raumkorrespondenzen (zur ›Roten Kammer‹, zum Klassenzimmer und zur Behausung Boženas etc. [vgl. S. 178 ff.] oder zu Körpererfahrungen [vgl. S. 206 ff.]).19 Die Vereinigungen sieht der Verfasser als »Aussagen in einem veränderten Diskurs ›Stimmung‹. Das einst produktive Paradigma der Energie und die Denkfigur des psychophysischen Parallelismus erkalteten nach 1900 fortlaufend und andere Modelle für das leib-seelische Problem wie die kausale Wechselwirkung gewannen an Relevanz.« (S. 293) Der Stimmungsbegriff wird – so die These – nun von Musil verwendet, um »Erkenntnistheorie, Gefühlspsychologie und Literatur zu verbinden«. »[A]lle drei Bereiche« will Musil »in die Novellen integrieren und damit ein Werkzeug einer modernetauglichen Ethik schaffen« (S. 296), nun wird »›Stimmung‹ von Musil selbst zum Gegenstand und [zur] Qualität der Dichtung erhoben« (ebd.). In den folgenden Kapiteln wird – parallel zu dem Verfahren in den Törleß-Kapi18

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Der Mann ohne Eigenschaften wäre für eine diskurstheoretische Untersuchung wesentlich geeigneter, nicht einfach nur deshalb, weil hier explizit Schriften aus dem Bereich der Mystik rezipiert werden, sondern weil deren Gehalt im Licht der Moderne eine Verwandlung erfährt. So ist es sicher nicht zufällig, dass sich diese Beobachtungen in einer Fülle von Kleinkapiteln finden.

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teln – zunächst ein Überblick über die zeitgenössische Psychologie, vor allem über Stumpfs Erkenntnistheorie und Gefühlspsychologie gegeben (vgl. S. 299–303). Aufschlussreicher als das Stumpf-Referat sind die Überlegungen zu Musils Bemerkungen über den Apperceptor udgl. Im Kapitel »Ein Ineinandergreifen von Psychologie und Literatur: Musils Poetik der Stimmung« (S. 323–358), das zu den erhellendsten Partien der Arbeit gehört,20 zeigt Rickenbacher, dass Musil der Literatur hier nicht nur eine besondere Fähigkeit für die Darstellung psychischer Zustände zuschreibt, sondern auch der Überzeugung ist, dass sie den bei allen Vorstellungen mehr oder weniger präsenten emotionalen Faktor verändern kann. In diesem Zusammenhang findet sich denn auch eine ganze Reihe wichtiger Einsichten, die vor allem Musils Überlegungen zur Erzählform der Vereinigungen betrifft (vgl. v. a. S. 337 u. 356 ff.). Sehr genau zeigt der Verfasser, wie sich in den Bildern Gegenständliches und Psychisches miteinander verbinden. Musils schwieriges Ethik-Konzept hätte freilich ausführlicher behandelt werden können. In den Untersuchungen zur Versuchung der stillen Veronika, die »Das Ideal der Sthenie« überschrieben sind, versucht Rickenbacher, Musils Apperceptor-Fragment für die Analyse des Textes fruchtbar zu machen. Dabei zeigt sich allerdings ein Problem. Musils Theorie gibt sicher Aufschluss über seine allgemeinen Vorstellungen zum Verhältnis von Gegenstandsbewusstsein, emotionaler Besetzung und gleitenden Bildern, sie kann aber nur wenig zu ihrer Bedeutung und ihrem thematischen Zusammenhang beitragen. Da Rickenbacher aber die Apperceptor-Aufzeichnung im Veronika-Zusammenhang zur leitenden Perspektive macht, fallen die Ausführungen immer wieder in eine Aufreihung sthenischer oder asthenischer Verhaltensweisen auseinander, ohne dass noch zu sehen ist, worin der interpretative Gehalt dieser Bemerkungen bestehen könnte. So soll Veronika etwa in der »sthenischen Haltung« Johannes’ »die Lösung ihres Problems« (S. 369) sehen und der bisherige »Zustand ihres Apperceptors unter der dominierenden Gefühlsbetonung« »in Bewegung« (S. 396) geraten. Auch Formulierungen wie: »[I]n den Termini von Apperceptor udgl. festgehalten« habe »Veronika zu einer neuen ›Gefühlsbetonung‹ von Innen- und Außenwelt gefunden [. . .], [die] einer Form von Liebe entspricht« (S. 412), oder man habe es mit »Veronikas Genesung von ihrer Asthenie« (S. 415) zu tun, tragen nur auf einer höchst abstrakten Ebene zum Verständnis der Novelle bei. Anders formuliert: Es wird nicht recht 20

Die Abwertung der Arbeiten von Silvia Bonacchi, der die Musil-Forschung und sicher auch Rickenbacher luzide Interpretationen des Apperceptor-Fragments verdanken, ist nicht nachvollziehbar. Geradezu ärgerlich ist der ›Vorwurf‹, dass sich »diese [welche?] Tendenz (leider [!]) auch in anderen Texten von Bonacchi« ›fortsetze‹ (S. 324, Anm. 111), oder »dass Bonacchi zumindest [!] eine Verbindung« zu einem anderen Fragment erkenne. An anderer Stelle wird zu Lönkers Arbeit über Musils poetische Anthropologie angemerkt, sie sehe in der Psychoanalyse den für Musil bestimmenden Kontext. Tatsächlich wird darin das Gegenteil gezeigt (vgl. S. 332, Anm. 133; vgl. Fred Lönker: Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen Vereinigungen. München 2002, S. 14, Anm. 29).

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klar, welches thematische Feld auf dem Hintergrund dieser Theoreme in der Novelle verhandelt wird. Auf der anderen Seite finden sich auch in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe wichtiger Beobachtungen (bei denen Rickenbacher ausführlicher auf die vorliegenden Forschungsergebnisse hätte verweisen können), aber sie finden sich nicht zufällig dort, wo die theoretischen Schemata verlassen werden (vgl. etwa die Analysen zu Veronikas Vereinigungsvorstellungen; vgl. S. 401 ff. u. 424 ff.).21 So vermag die abschließende These, Musil habe in der Versuchung der stillen Veronika »vor allem [!] in Auseinandersetzung mit der Psychologie seiner Zeit und besonders mit seinem Doktorvater Carl Stumpf [. . .] mit ›Stimmung‹« (S. 455) ›experimentiert‹, allenfalls unter einer fragwürdigen Bedingung zu überzeugen, unter der Bedingung nämlich, dass die Vereinigungen ihren »Gegenstand« (!) in der »›Gefühlsbetonung‹ von Innen- und Außenwelt« (S. 351, Anm. 180) haben. Da fällt denn doch der Gehalt der Novelle dem gewählten Arbeitsthema zum Opfer. Auch die Vollendung der Liebe ist nach Rickenbacher durch die »Erweiterung von Stumpfs Gefühlspsychologie in Apperceptor udgl.« ›geprägt‹ (S. 463). Er will in den folgenden Untersuchungen drei Thesen entfalten. Zum ersten reflektiere Musil hier kritisch sein eigenes psychologisches Konzept, und zwar so, dass »die Frage nach der Konsistenz des Ich in einem vollkommen sthenischen Zustand« den Kern dieser Reflexion darstelle, zum zweiten sei die Stimmung in diesem Text »in den Formen der Zärtlichkeit zu suchen« (S. 466), und schließlich seien es vor allem »Echo- und Resonanzphänomene«, die »eine Einheit des Subjekts und der Narration dort garantieren, wo auf propositionaler Ebene eine Einheit unrettbar erscheint.« (ebd.) Um diese Thesen zu entfalten, bestimmt Rickenbacher – nach einer detaillierten Analyse der Erzählform – die wesentlichen Themen der Novelle: die Einsamkeit jeden Ichs, die Notwendigkeit der Dritten und die Entfremdung von der Welt (vgl. S. 484). Die folgenden Kapitel wollen – entsprechend den Ausführungen zur Versuchung der stillen Veronika – den Nachweis erbringen, dass die Psychologie der Novelle sich gegensätzlich zu den Positionen Wundts und Stumpfs verhalte. Während diese nämlich rein analytisch verfahren und »Undeutbarkeiten und Widersprüche als Störungen« verstehen, »die eine heuristische Reduktion der Phänomene zur Folge haben«, versucht die Novelle dagegen »die Synthese von Körper, Emotionen und Intellekt zu einem ganzheitlichen Zustand im Sinne des Apperceptors udgl. [zu] leisten.« (S. 485) Jedenfalls hier hätte man sich ausführliche Bemerkungen zum wahrlich komplizierten Verhältnis von Wissenschaft und Literatur gewünscht. In den folgenden Abschnitten findet sich vieles, das z. B. aus den Untersuchungen Florentine Bieres, Hartmut Böhmes, Fred Lönkers, Wolfgang 21

Ebenso wenig überzeugend sind die – dem Arbeitsthema geschuldeten – Verweise auf »akustische Schwingungen und elektromagnetische Strahlen wie Licht und Wärme« (S. 424), wenn es um Veronikas Träume von Meeren oder die von ihr halluzinierten knisternden Engelsflügel geht (vgl. S. 424–444).

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Riedels, Filippo Smerillis etc. bekannt ist (etwa die zunehmende Sexualisierung von Claudines Körper, die ›Autonomie‹ des Körpers, das Thema der Kontingenz etc.). Gleichwohl werden auch hier aufschlussreiche Analysen geboten, deren Wert allerdings dadurch reduziert wird, dass sie auf Musils fragmentarische Apperceptor-Überlegungen bezogen werden. So bleibt von der mit größter Komplexität ausgestatteten Liebe Claudines zu ihrem Ehemann nur noch die völlig abstrakte »›Gefühlsbetonung‹ [. . .], die einen asthenischen Zustand der Beziehungslosigkeit und somit auch de[n] Verlust eines ›Ich-‹ bzw. ›Wertgefühls‹ verhindert« (S. 503). Einleuchtend sind die Überlegungen zum Konzept der Ich-Identität, das von Musil nicht in der Tradition der kantischen Apperzeptionstheorie entwickelt wird, sondern das in der Form eines funktionalen Zusammenhangs gleitender Bilder erscheint (vgl. S. 525). Das Ich ist zwar instabil, gleichwohl gibt es eine Art anthropologischen Halt, den Rickenbacher in der ›zärtlichen Stimmung‹ (vgl. S. 528–542) sieht. Die Ausführungen, die vor allem im Zusammenhang der Musik-Thematik neue Perspektiven auf den Text eröffnen, geraten aber immer wieder in eine Art kommentierende Paraphrase, weil die Verbindung zur übergreifenden Bildlogik der Erzählung fehlt. So bleibt Rickenbacher dabei stehen, einen Wechsel von Bildern mit Elementen des Harten und Weichen zu konstatieren, und er kann auf Ähnlichkeiten mit den »dynamischen Gleichgewichtsformen« in Musils Überlegungen im Apperceptor-Fragment hinweisen; es gerät aber kaum in den Blick, dass die Bildbereiche eine konstitutive poetische Funktion für das in der Vollendung der Liebe thematisierte anthropologische Problem haben. Die Untersuchungen von Rickenbacher offenbaren eine ganze Reihe von Problemen, die mit diskurstheoretischen (in welcher Weiterung auch immer) Arbeiten verbunden sind. Vor allem ist wohl Folgendes zu bedenken: Es scheint sich so zu verhalten, dass es wissenschaftliche Einsichten (vor allem aus dem Bereich der naturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung) gibt, die kaum ›literaturfähig‹ sind. Das hängt damit zusammen, dass ihre Ergebnisse für die Konstruktion einer literarischen Figur oder zur Modellierung ihres Erlebens allenfalls in Ansätzen fruchtbar gemacht werden können. Neuronale Zustände sind zwar für das Erleben verantwortlich, aber sie sind in diesem Erleben nicht gegenwärtig. Anders verhält es sich, wenn psychologisches oder psychiatrisches Wissen für die Konstruktion der Figuren produktiv wird. So zeigt z. B. Walter Erharts Arbeit über die literarische ›Verarbeitung‹ der Neurasthenie nicht nur, wie die wirkliche oder vermeintliche psychische Schwäche bei Thomas Mann die Selbstdeutung der Figuren bestimmt, sondern auch, wie diese Nervenschwäche sich gleichsam von ihrem psychiatrischen Hintergrund emanzipiert.22 Interpretamente mit vergleichbarer Aufschlusskraft vermag eine Psychologie nach dem Modell Wundts 22

Vgl. Walter Erhart: Die Wissenschaft vom Geschlecht und die Literatur der décadence, in:

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oder Stumpfs kaum zu bieten. Wichtiger aber ist wohl, dass die Teilhabe eines poetischen Textes an einem Diskurs nicht zu verwechseln ist mit dessen gezielter Verarbeitung in einem poetischen Text. In Musils Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) bemerkt der Autor gegenüber einem fiktiven Kritiker, der ihm ein Sich-Verbohren ins Psychologische vorwirft: »[A]lle Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen, in dem man fährt; wenn Sie von den Absichten dieses Dichters nur die Psychologie sehen, haben Sie also die Landschaft im Wagen gesucht.« (GW II, S. 997) Fred Lönker

Cüneyt Arslan: Der Mann ohne Eigenschaften und die wissenschaftliche Weltauffassung. Robert Musil, die Moderne und der Wiener Kreis. Wien: Springer 2014. 229 S. € 34,99. Wenn der französische Germanist Henri Arvon 1970 schreibt, »daß das Anknüpfen von Musils Gedankengang an den Wiener Kreis in eine Art Sackgasse führt und deshalb nicht der richtige Weg zum Verständnis des ›Mann ohne Eigenschaften‹ sein kann«,23 dann markiert diese Feststellung zwei für die Geschichte der Musil-Forschung und der Rezeption des Mann ohne Eigenschaften wichtige Punkte. Einerseits ist Arvons kurzer Text einer der ersten in der Geschichte der Musil-Forschung, der eine Verbindung zwischen Robert Musils monumentalem Mammutfragment und der losen Gruppe naturwissenschaftlich orientierter Denker um Moritz Schlick, die unter dem Namen »Wiener Kreis« bekannt ist, überhaupt in Betracht zieht, andererseits verabschiedet er diese Fährte auch wirkungsmächtig für ein Vierteljahrhundert.24 Arvon belegt seine These vor allem mit der Abwesenheit von Einträgen zum Wiener Kreis in Musils Arbeitsheften, die bekanntlich extensive Notizen zu Texten von Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Edmund Husserl und Ralph Waldo Emerson enthalten. Der richtige Weg zum Verständnis des Mann ohne Eigenschaften, so Arvon, führe stattdessen über den Empiriokritizismus Ernst Machs. Diese Fährte liegt in Anbetracht von Musils philosophischer Dissertation zu Mach zwar nahe, die pauschale Verabschiedung des Wiener Kreises als Bezugsgröße für die Interpretation des Mann ohne Eigenschaften bleibt aber einigermaßen erstaunlich, hatte Musil zwar nicht wie sein Zeitgenosse Hermann Broch bei den Protagonisten um Ru-

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Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme u. Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 256–284. Henri Arvon: Robert Musil und der Positivismus, in: Karl Dinklage (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 200–213, hier S. 201. So bemerkt noch Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien u. a. 2000, S. 505, Musil habe die Philosophie des Wiener Kreises nur »vermittelt« und am Rande zur Kenntnis genommen.

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dolf Carnap, Moritz Schlick und Otto Neurath studiert, jedoch zumindest bis in die 1930er Jahre die jüngeren philosophischen Entwicklungen nachweislich sehr genau verfolgt.25 Dazu kommt die räumliche und zeitliche Nähe zum Wiener Kreis sowie die geteilte philosophische Ausgangsposition: Der Wiener Kreis wurde als »Verein Ernst Mach« gegründet und ist bekannt für seine Abneigung gegen Systemphilosophie sowie die Nähe zu Mathematik, Logik und den exakten Naturwissenschaften. Kurz, auch jenseits direkter Beeinflussung oder konkreter Bezugnahme26 bieten sich schon an der Oberfläche genug Anknüpfungspunkte, um Musils Denken und den Mann ohne Eigenschaften dem Wiener Kreis gegenüberzustellen. Umso erstaunlicher ist es, dass es nach Arvons Artikel mehr als 40 Jahre dauert, bis sich eine Monographie endlich diesem Thema widmet und diese schmerzliche Forschungslücke schließt.27 Die wenig kontroverse, aber selten in ihren Konsequenzen voll ausgeschöpfte Grundthese von Cüneyt Arslans wichtigem, 2014 erschienenem Buch Der Mann ohne Eigenschaften und die wissenschaftliche Weltauffassung. Robert Musil, die Moderne und der Wiener Kreis ist dabei, dass Musil »nahezu die gesamte moderne Wissenschaftsgeschichte bzw. Wissenschaftsphilosophie der Jahrhundertwende, was auch die Aktivitäten des Wiener Kreises einschließt, bis zu seinem Tod verfolgt und in seinem Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ reflektiert« habe (S. 1). Denn vor der »Folie eines gemeinsamen intellektuellen Klimas, einer im Grundsätzlichen geteilten intellektuellen Ausgangsposition« (S. 206) wird, wie Arslan in der Schlussbetrachtung treffend formuliert, eine In-Bezug-Setzung des Mann ohne Eigenschaften zur Philosophie des Wiener Kreises produktiv, gerade im Herausarbeiten der »Differenzen zwischen den Visionen des Wiener Kreises von einer wissenschaftlichen Welt und Musils Entwurf einer ›Utopie der Exaktheit‹« (ebd.). Cüneyt Arslan nimmt sich also in seinem Buch ein wichtiges und sträflich vernachlässigtes Thema vor, bereitet es informativ und fundiert auf und – eine große Leistung der Arbeit – bewegt sich sicher auf dem schmalen Grat, einerseits Leser, die mit dem Wiener Kreis und der 25

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Dass sich Musil in der Tat intensiv mit den Protagonisten des Wiener Kreises beschäftigte, belegt die bekannte Anekdote um die Weihnachtsumfrage der Wiener Buchhandlung Martin Flinker im Jahr 1935, bei der Musil angibt, dass »[v]on allen Büchern [. . .] in diesem Jahr den ›stärksten Eindruck‹ auf [ihn] ohne jede Frage die Logische Syntax der Sprache von Rudolf Carnap gemacht« habe (Br I, S. 664). Der von Arvon angeführte Eintrag, in dem Musil die Atmosphäre in den Seminaren seines Doktorvaters Carl Stumpf derjenigen bei einem SchlickVortrag vorzieht (vgl. Tb I, S. 925), belegt vor allen Dingen, dass Musil Vorträge von Schlick besucht hat und sagt wenig über Musils Interesse oder Desinteresse am Wiener Kreis aus. Die sich allerdings problemlos an einigen Stellen des Mann ohne Eigenschaften belegen ließe. Eine der wenigen Arbeiten, die sich dem Thema ernsthaft nähert, ist Sabine Dörings wegweisendes Buch (Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999), in dem sie die Druckfahnenkapitel zur Gefühlspsychologie mit jüngeren metaethischen Debatten der analytischen Philosophie in Beziehung setzt. Da diese ihren Ursprung im Wiener Kreis haben, kann man Dörings Arbeit als eine der ersten betrachten, die diese Fährte ernsthaft verfolgen.

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szientifizistischen Philosophie zwischen 1900 und 1930 nicht vertraut sind, in die Materie einzuführen, andererseits auch in den Themen bewanderte Leser nicht zu langweilen.28 Leider scheinen – so gibt es das Vorwort an – die forschungsgeschichtlichen Kapitel der Redigierung für die Publikationsfassung zum Opfer gefallen zu sein. Das ist mehr als schade, denn gerade in der Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte hätte Arslan die Notwendigkeit und Originalität des Ansatzes spielerisch profilieren können. Auf zwei Seiten verschlankt (S. 9 f.), kann die Einbettung in die Forschungsgeschichte nicht überzeugen, vor allem nicht, wenn – etwas überraschend – der Themenkomplex ›MoE/ Moderne‹ in den Fokus gerückt wird.29 Interessant und originell ist es jedoch, die »wissenschaftliche Weltauffassung« von Mach bis zum Wiener Kreis nicht, wie gewöhnlich, allein wissenschafts- und philosophiegeschichtlich zu verorten, sondern auch den Siegeszug der exakten Naturwissenschaften und die philosophische Reaktion darauf im kulturgeschichtlichen Kontext der Moderne zu lesen. Durch diese Verschiebung gelingt es Arslan an vielen Stellen zu verhindern, die seit den späten 1980er Jahren durch eine Flut von Arbeiten ausgetretenen Pfade einer Positionierung des Mann ohne Eigenschaften im Rahmen von Modernetheorien ein weiteres Mal zu beschreiten. Geleitet wird Arslan von einem »philologisch-hermeneutische[n] Standpunkt« (S. 2), seine Zielfrage ist also die »Motivation und Intention Musil[s]« (S. 8), was einige methodische Probleme mit sich bringt, auf die ich später noch detaillierter eingehen werde. Der erste Teil der Arbeit (S. 15–87) ist eine Verortung des Musil’schen Schreibens und Denkens im Rahmen der naturwissenschaftlich-philosophischen Moderne und beginnt mit einem kurzen Abriss über die kulturelle und literarische Moderne als Rahmen der Untersuchung (S. 15–27).30 Er besteht aus einem Referat von Musils Dissertation 28

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Aus Platzgründen werde ich mich in dieser Rezension vor allem der titelgebenden In-BezugSetzung mit dem Wiener Kreis widmen und dafür andere Aspekte von Arslans Arbeit außer Acht lassen. So z. B. die abschließenden Erwägungen zum ›anderen Zustand‹ (S. 181–190) und zu essayistischen Schreib- und Erzählverfahren (S. 190–194), die vor allen Dingen (ältere) Klassiker der Sekundärliteratur referieren, ohne ihren Befunden wesentlich Neues hinzuzufügen. Eine bloße Aufzählung der einschlägigen Forschungsliteratur zum Thema würde den begrenzten Rahmen einer Rezension bei Weitem sprengen, ganz zu schweigen von einem zweiseitigen Forschungsüberblick. Das zeigt schon ein oberflächlicher Blick in die gängigen Musil-Bibliographien, in denen sich mehr als 30 Titel von Arbeiten und Artikeln finden, die zwischen 1994 und 2010 »Moderne« im Titel haben. Besonders frappierend ist der fehlende Bezug zu der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Dissertation von Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006, die für den Themenkomplex ›MoE/Moderne‹ neue Maßstäbe gesetzt hat, nicht zuletzt durch ihre präzisen Lektüren. Arslans Begriffsgebrauch ist trotz einer zweiseitigen »Definition und Erläuterung der verwendeten Hauptbegriffe« (S. 12 f.) in Bezug auf »Moderne«, »Modernismus«, »Modernität«, »literarische Moderne« und »Wiener Moderne« nicht immer konsistent.

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über Ernst Mach (S. 33–49) sowie einem Abschnitt zu Ludwig Wittgensteins Sprachkritik im Tractatus, der vor allem aus einer detaillierten Zusammenfassung von Kristóf Nyírís einschlägigem Artikel besteht (S. 49–56),31 gefolgt von kurzen Überblicken über die post-Newton’sche Naturwissenschaft (Relativitätstheorie und Unschärferelation) (S. 56–62) und Wahrscheinlichkeitstheorie (S. 63–72). Dieser Aufbau erweist sich als klug, denn wenn auch die Rahmung »Moderne« nicht zwingend notwendig scheint, baut Arslan über diese Stationen geschickt die Brücke zum Wiener Kreis als Kulminationspunkt der »wissenschaftlichen Weltauffassung« seit der Jahrhundertwende.32 Der zweite Hauptteil der Arbeit (S. 89–147) beginnt mit einer Rekonstruktion dessen, was die »wissenschaftliche Weltauffassung« des Wiener Kreises aus dem Reich legitimen und verifizierbaren Wissens ausschließen möchte: jegliche Formen des Mystischen und Irrationalen, aber auch des Emotionalen (S. 89–94). Treffend analysiert Arslan, dass hier »eine Art Mülldeponie« (S. 93) nichtlegitimen Wissens entsteht, scheut sich aber, die These zu verfolgen, dass genau diese Ausklammerung des Emotionalen, Mystischen und Irrationalen aus dem philosophisch-legitimierten Wissen philosophisch gebildete Autoren wie Musil und Hermann Broch zu dieser Zeit dazu bringt, umfangreiche philosophische Erzähltexte statt wissenschaftstheoretischer Abhandlungen zu schreiben. Es folgt, relativ spät in der Arbeit, eine kurze, aber konzise Entstehungsgeschichte des Wiener Kreises inklusive der Verbindungen zu externen, lose assoziierten Denkern wie Karl Popper (S. 94–105). In einem nächsten Abschnitt kontrastiert Arslan Theoreme und Grundüberzeugungen des Wiener Kreises mit verschiedenen Aussagen Musils (S. 105–120), wobei er Musils Nähe zum Falsifikationismus Poppers (S. 111) und, sehr überzeugend, erstaunliche Parallelen zu den Schriften Otto Neuraths aufdeckt (S. 114–117).33 Das nächste Kapitel skizziert das neopositivistische Projekt einer Einheitswissenschaft, das den Wiener Kreis umtrieb, und vergleicht dies gewinnbringend mit dem intradiegetischen Projekt einer Enzyklopädie der Weltanschauungen im Mann ohne Eigenschaften (S. 120–130). Das einheitswissenschaftliche Projekt sollte bekanntlich eine zeitlang durch die Theorie der »Protokollsätze«, basale Sätze, die empirische Sinnesdaten artikulieren, 31 32

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Vgl. Kristóf Nyírí: Musil und Wittgenstein. Ihr Bild vom Menschen, in: Conceptus. Zeitschrift für Philosophie 11 (1977), H. 28–30, S. 306–314. Hier zeigt sich aber dennoch ein grundlegendes Problem von Arslans Vorgehensweise. Durch den Fokus auf den Wiener Kreis bleibt der wichtige Bezug Musils zur Gestaltpsychologie außer Acht, weil sie für Schlick und Co. nur sekundäre Wichtigkeit besaß. So kann Arslan zeigen, dass der für den Mann ohne Eigenschaften so wichtige Begriff des »Wirklichkeitssinns«, der bekanntlich im 4. Kapitel, Ulrichs Vater zugeschrieben, als Aufhänger für die berühmten Ausführungen zum »Möglichkeitssinn« fungiert, schon 1919 in den Schriften Neuraths zu finden ist (S. 116).

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gewährleistet werden.34 Arslans Versuch, den berühmten Romananfang mit der Theorie der Protokollsätze zu interpretieren (S. 126 f.), kann jedoch nicht ganz überzeugen und wirkt in Anbetracht der diffizilen Struktur des Anfangskapitels und der unzähligen Interpretationen, die es schon hervorgebracht hat, etwas bemüht und unterkomplex. Es folgt ein von Exkursen durchzogener Abschnitt, in dem Arslan die mystische Seite des Mann ohne Eigenschaften, also den Themenkomplex rund um den ›anderen Zustand‹ gegen den einseitigen Rationalismus des Wiener Kreises in Stellung bringt (S. 137–157). Arslans Ausführungen bieten wenig Neues auf diesem viel erforschten Gebiet, dies vor allem, weil die umfangreiche, wechselvolle Forschungsgeschichte zum ›anderen Zustand‹ nur rudimentär gestreift wird.35 Der dritte Hauptteil »Die modernistische Ambivalenz im Werk Musils« (S. 159–197) beginnt mit einem nicht immer leicht nachzuvollziehenden Kapitel zu »Begriff und Wirklichkeit« im Mann ohne Eigenschaften (S. 159–163), dessen idiosynkratische Terminologie (»plurales Forum-Prinzip« [S. 160]; »Erzähler Stimme des Autors (im Sinne eines relativierten auktorialen Erzählers)« [S. 161]) es schwer macht, Arslans Einsichten zu folgen, und das von ein wenig narratologischem Handwerkszeug immens profitieren würde. Dies ist insofern schade, als es sich hier um einen entscheidenden Punkt der Arbeit handelt: Hier wäre der Ort, den Mann ohne Eigenschaften als literarischen, fiktionalen Erzähltext, der trotz aller thematischen Bezüge zur naturwissenschaftlich-philosophischen Weltauffassung diese mit literarischen und narrativen Verfahren bearbeitet, zu untersuchen. Vor den kurzen, finalen zwei Kapiteln findet sich ein absoluter Höhepunkt des Buches, ein erhellendes Kapitel zum Gebrauch der Abstrakta »Geist«, »Seele« und »Wirklichkeit« im Mann ohne Eigenschaften (S. 169– 181), das die Dekonstruktion, Ironisierung und Entsemantisierung dieser Leitbegriffe einerseits durch den Erzähler und Ulrich, andererseits durch den inflationären Gebrauch dieser Begriffe durch die Figuren rund um die Parallelaktion analysiert und für sich genommen eine erfreuliche Aktualisierung und Erweiterung des inzwischen klassischen Artikels Diskursexperimente im Romantext von Walter Moser ist.36 Cüneyt Arslan hat mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag vorgelegt, der, wenn er auch das Potential der letztendlich historischen Fragestellung 34

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Im weitesten Sinne kann man Carnaps Der logische Aufbau der Welt als den Versuch lesen, die gesamte empirische Welt von Grund auf aus solchen Sinnesdaten-Sätzen zu konstruieren. Vgl. Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt. Hamburg 1998. Eine Fährte, die Sabine Döring gewinnbringender verfolgt, wenn sie die Nachlasskapitel zur Gefühlspsychologie mit den metaethischen Debatten der sprachanalytischen Philosophie verknüpft, deren Ursprung nicht zuletzt unter anderem in den Arbeiten des Wiener Kreises zu suchen ist. Vgl. Döring: Ästhetische Erfahrung (s. Anm. 27). Vgl. Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 170–197.

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nicht immer ausschöpfen kann, doch in Zukunft wegweisend für die Frage nach dem Verhältnis des Mann ohne Eigenschaften zur Philosophie bleiben wird. Leider kann Arslan seinen interessanten Ansatz nur selten produktiv auf seine Lektüren übertragen. Über weite Strecken gehen die Interpretationen nicht über Gewohntes hinaus und bleiben in dem von der Einfluss- und Vergleichsforschung abgesteckten Rahmen,37 Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Texten Musils und dem jeweils herangezogenen Referenztheoretiker herzustellen. So wird Wittgensteins Tractatus »parallelisiert bzw. kontrastiert« mit »Musils Auffassungen« (S. 51), es werden »bemerkenswert parallel erscheinende Beschreibungen« bei Neurath und Musil (S. 25) aufgedeckt. Dass Machs »Thesen in seinem [i. e. Musils] literarischen Werk auf breiter Basis dichterisch gestaltet wurden« (S. 49), ist selbstverständlich nicht falsch, blendet aber die Spezifik des Mann ohne Eigenschaften qua fiktionalem Erzähltext aus. Die nur rudimentäre Einbettung der Forschung führt dazu, dass Arslan nicht immer zeigen kann, was das Originelle seiner Perspektive ist, gerade dann, wenn schon hundertfach interpretierte Textstellen des Mann ohne Eigenschaften ein weiteres Mal auf sehr konventionelle Weise gelesen werden.38 Dies wird noch problematischer durch die selbstverständlich vorausgesetzte und unreflektierte Identifikation des Autors Musil mit dem Erzähler des Mann ohne Eigenschaften, dem Protagonisten Ulrich und im Zweifelsfall – falls das Zitat gerade gut passt – auch mit allen anderen Figuren des Ensembles. Dies ist ein Problem, das sich, wie man weiß, durch einen Großteil der Forschung zum Mann ohne Eigenschaften zieht. Wenn Arslan »die 37

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Die Vielzahl an Texten zum philosophischen Gehalt des Mann ohne Eigenschaften, die seit den 1960er Jahren erscheinen – ein ganzes Subgenre der Musil-Forschung –, kann man grob in zwei Kategorien aufteilen. Die Einflussforschung beschäftigt sich damit, welche philosophischen Einflüsse sich im Mann ohne Eigenschaften und in Musils Werk finden lassen (hier dominieren Texte zu Nietzsche, Mach, Husserl und der Gestaltpsychologie). Die Vergleichsforschung vergleicht den philosophischen Gehalt des Mann ohne Eigenschaften mit Philosophen und Philosophien, ohne dass ein direkter Einfluss nachgewiesen werden könnte. Diese Vergleiche laufen dabei (a) in die Vergangenheit, beziehen sich (b) auf Zeitgenossen zu Musils Lebzeiten oder weisen (c) in die Zukunft, indem der Mann ohne Eigenschaften als bestimmte Philosophie avant la lettre gelesen wird. Hier dominieren vor allem Studien zu Wittgenstein, Heidegger und in jüngerer Zeit verstärkt zu Luhmann. Arslans Arbeit bewegt sich innerhalb dieses groben Schemas ungefähr in der Mitte zwischen Einfluss- und Vergleichsforschung, geht aber grundsätzlich ähnlich vor: durch Parallelisierung von Textstellen. Dabei ist der Umgang mit der Sekundärliteratur nicht immer unproblematisch. Das Zitieren von und der Verweis auf mehr oder weniger kanonische(n) Arbeiten der Forschungsgeschichte ersetzt an vielen Stellen Argumente. Die scheinbare Autorität von »klassischen« Arbeiten zum Mann ohne Eigenschaften, wie z. B. von Wolfdietrich Rasch, Peter Nusser oder Helmut Arntzen, die immer wieder als Begründungen von (teilweise sehr diskussionswürdigen) Thesen angeführt werden, blendet einerseits die argumentativen Zusammenhänge aus, in denen diese Thesen stehen, andererseits ignoriert dieses Vorgehen die Möglichkeit, dass sich auch die Klassiker geirrt haben könnten und dass ihre Thesen heute möglicherweise nicht mehr haltbar sind.

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Selbstdefinition des Autors Robert Musil« und »ihre literarischen Spiegelungen (›Reflexionen‹)« kurzschließt, um sie mit »verschiedene[n] relevant erscheinende[n] Positionen in Musils zeitgenössischer Umgebung« (S. 11) in Beziehung zu setzen, kann er nicht zeigen, was seine Arbeit von den Regalmetern an Einfluss- und Vergleichsstudien abhebt, die seit den 1960er Jahren zum Mann ohne Eigenschaften geschrieben wurden. Hier ist auch der Fokus auf den Themenkomplex »Moderne« nicht hilfreich, da er ein weiteres Forschungsfass ohne Boden ist, das in Arslans Buch nur sehr selektiv repräsentiert wird. Die Identifikation von Musil, Erzähler und Ulrich, die ja nicht per se falsch sein muss, bräuchte eine Rechtfertigung oder Argumente, gerade von einem »philologisch-hermeneutische[n] Standpunkt« (S. 2) aus, die hier, wie so häufig, aber fehlen. Das hat zur Folge, dass sowohl die Fiktionalität als auch die Narrativität und Literarizität des Mann ohne Eigenschaften über weite Strecken völlig unter den Tisch fallen und eine undifferenzierte Melange aus poetologischen Aussagen, Figurenrede und Erzählerreflexion erzeugt wird, um sie dann zu lesen wie Aussagen aus einem argumentativen, nichtfiktionalen Text, letztendlich einer philosophischen Abhandlung. Dies zeigt sich, um ein Beispiel unter vielen herauszugreifen, wenn »Musils Denken« (S. 60) laut Arslan »Ulrich [. . .] in den Mund gelegt wird« (S. 61) und dann erlebte Rede der Figur Ulrich (S. 62) als Belegstelle für Musils Verhältnis zum Perspektivismus moderner Naturwissenschaft ins Treffen geführt wird. Oder wenn, ein letztes Beispiel, »[d]ie aussagekräftigste Darstellung über den Standort Musils in der Moderne [. . .] aus der Perspektive des Erzählers anhand von Ulrichs Denkfluss im ›Mann ohne Eigenschaften‹ zum Ausdruck gebracht« wird (S. 80). Dazu kommen vermeintliche Sachverhalte, die von Arslans Text erst hergestellt werden: Selbst wenn der »Induktionsschluss« der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie »mit Musils Dispositiv des Möglichkeitssinns analogisiert werden« kann, berechtigt dies nicht dazu, im Weiteren diese selbst hergestellte Analogie gänzlich indikativisch als Tatsache über »Musils Denken« weiterzuverfolgen (S. 67). Diese Einwände nehmen Arslans Buch nichts von seiner Notwendigkeit und Wichtigkeit für die Musil-Forschung, der thematische Zuschnitt hätte es jedoch ermöglicht, weiter aus dem konventionellen Grau in Grau der Einfluss- und Vergleichsforschung zum Mann ohne Eigenschaften auszubrechen, als es das Buch tut. Er hätte es auch ermöglicht – und hier ist Arslans Buch als wichtiger Anstoß zu begreifen – dem Mann ohne Eigenschaften über den Umweg »Wiener Kreis« eine möglicherweise erstaunliche Relevanz für gegenwärtige philosophische Debatten zu verleihen. Denn gerade heute, wo sich die sprachanalytische Philosophie im philosophischen Mainstream und in den universitären Philosophieinstituten weitestgehend durchgesetzt hat, lässt sich der Mann ohne Eigenschaften als ein Text begreifen, der sich auf völlig einzigartige Weise – nämlich als fiktionaler, literarischer

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Erzähltext – mit der neben Bertrand Russell, Gottlob Frege und Wittgenstein entscheidenden Keimzelle der sprachanalytischen Philosophie, dem Wiener Kreis, auseinandersetzt. Gerade in Hinblick auf die Herausforderung, die die sprachanalytische Philosophie an fiktionale Texte und damit nicht zuletzt auch an die Literaturwissenschaft und -theorie stellt, lässt sich der Mann ohne Eigenschaften als ein Text lesen, der genau diese Herausforderung schon im Medium eines fiktionalen Erzähltextes selbst reflektiert und sich an ihr abarbeitet. Die In-Bezug-Setzung zum Wiener Kreis, die Arslan über weite Strecken sehr überzeugend herausarbeitet, wäre dann der erste Schritt auf dem Weg zur weitergehenden Frage, wie und mit welchen Verfahren ein fiktionaler Erzähltext diese philosophischen Entwicklungen reflektiert, die heute aktueller denn je sind. Tobias Gnüchtel

Sven Brömsel, Patrick Küppers, Clemens Reichhold (Hg.): Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne. Berlin, Boston: de Gruyter 2014 (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge, Bd. 19). 322 S. € 89,95. Der Sammelband ist mit der aktuellen Netzwerkmetapher betitelt. Man bezeichnet damit ein weitreichendes Beziehungsnetz, ohne das einflussreiche Persönlichkeiten ihre Machtposition weder erlangen noch aufrechterhalten können. In Walther Rathenau vernetzten sich darüber hinaus jedoch die Teilgebiete der Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik gewissermaßen persönlich. Rathenau repräsentiert in seinen vielfältigen Tätigkeiten und in der Widersprüchlichkeit einer ›Seele im technischen Zeitalter‹ oder einer ›Seele in der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft‹ ein geradezu mustergültiges Beispiel für den Aufbruch in die Moderne und die Widersprüchlichkeit der Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das einführende Kapitel verschlagwortet Rathenau mit Vokabeln aus dem Mediendiskurs der Gegenwart wie Risiko, Globalisierung, Projektemacher, flexibler Mensch u. a., gipfelnd in der Thomas Mann’schen Plattitüde, Rathenau sei eine »kulturelle Neubildung von hoher Merkwürdigkeit«. Darunter wäre der Kaiser nackt, wenn nicht die einzelnen Beiträge mit Hilfe neuen Quellenmaterials (zum Teil aus zuvor unzugänglichen Archiven und Korrespondenzen) ganz solide und fundiert zwar kein neues ›Bild‹ von Rathenau erschließen, aber viel zur Konkretion dieses Bildes beitragen würden. Wie sehr eine genaue Lektüre der Schriften Rathenaus lohnt, zeigt der Beitrag Walther Rathenau über Entfremdung und Regierung der Massen von Clemens Reichhold. Rathenau war darin gewiss der Wahrheit näher als andere Zeitdiagnostiker, wenn er als den grundlegenden Faktor der Prozesse gesellschaftlichen Wandels den demographischen, die »Volksvermehrung«,

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erkennt. Nun gehören der Masse- und der Rasse-Diskurs zum ›Geist‹ der damaligen Zeit und zwar in einer durchaus typischen, für Heutige schwer verständlichen, komplementären Fassung. Der Masse-Mensch ist Rädchen im zweckrationalen Getriebe, dem »stählernen Gehäuse« (Max Weber) des Kapitalismus. Gleichzeitig werden die modernen Zweckmenschen als rassisch minderwertig eingestuft. Die Analysen Rathenaus und anderer erfassen die Sache der Moderne durchaus rational (wenn auch nicht ohne ideologische Untertöne), die Werturteile hingegen speisen sich aus komplementären Strömungen mit ideologischen Obertönen aus dem Arsenal des Zeitgeistes (Rassismus, Antisemitismus, Dekadenz, Nihilismus). So ist es kein Wunder, wenn auch in der Person Rathenaus Handeln und Reden, Theorie (Ideen, Ideale) und Praxis, die Orientierung an Fakten und die an Werten, bis zur Widersprüchlichkeit auseinanderfallen. Nicht alles aber ist obsolet. Die im Beitrag referierten sozialpolitischen Vorstellungen lassen sich als Ideen zu einer später realisierten sozialen Marktwirtschaft lesen, wenn auch die Vorstellungen von Herrschaft überaus autoritäre Züge aufweisen. So überrascht es nicht, dass auch in Rathenaus Kunstauffassung sich ebenso moderne wie antimoderne Ansichten finden, die im diesbezüglichen Beitrag von Patrick Küppers als Komplemente gedeutet werden – was ich für sehr gelungen halte. Eine Reihe von Beiträgen des Bandes erschließt anhand von ausführlichen Quellenstudien weitere Facetten einer komplexen Persönlichkeit. Beispielsweise wird deutlich, wie dürftig die Reportagen von Joseph Roth zum Rathenau-Mord und den Gerichtsverhandlungen ausfallen. Das Publikum wird von Roth mit Nebensächlichkeiten abgespeist (»Der Präsident putzt seine Brille . . .«), und es scheint, als unterwürfe er sich dem Diktat der Massenmedien. Eingestreute Bildungspartikel – »Wie lange noch, o Catilina?« – retten die Sache des Mordes und der Mörder, von denen man nichts Substanzielles erfährt, nicht. Die aufwendige ästhetisch-rhetorische Rechtfertigung im Beitrag von Volker Mergenthaler versucht zu retten, was nicht zu retten ist. Rathenaus Schrift von 1897 Höre, Israel eröffnet einen neuen Themenbereich, der einzig hermeneutisch-kritisch, aus der Zeit heraus, zu verstehen ist; wenngleich das aufgrund unserer heutigen Sensibilität gegenüber jeglicher Form von Antisemitismus überaus schwierig ist. Der vorgelegte Versuch von Steffi Bahro ist aller Ehren wert. Herausragend belehrt Hans Dieter Helliges Beitrag Walther Rathenaus Pionierrolle in den Diskursen über das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne über seine politische Ökonomie, jedenfalls den ideen- oder kopflastigen Geisteswissenschaftler, weil hier nun einmal das ureigene Kompetenzfeld von Rathenau beleuchtet wird: Wirtschaft und Technik. Er war hochrangiger Spezialist und besaß zugleich einen sehr weiten Bildungshorizont, was ihm ermöglichte, weit über den Tellerrand zu sehen und zum Beispiel nationalökonomische und ingenieurwissenschaftliche Diskurse zu einer »Energetischen Gemeinwirtschaft« zu versammeln, womit es

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»gelang, das Ziel einer die Naturressourcen schonenden, sozial nachhaltigen Wirtschaft zeitweise auf die nationale Agenda zu setzen.« (S. 137) Mit Musil, der ebenfalls ausgebildeter Ingenieur war, ist ihm gemeinsam, dass sie beide mit der Thermodynamik bestens vertraut waren. Was heute das Erdöl, das war damals der »Raubbau an der Kohle«, deren endgültige Ausbeutung abzusehen war. Ökonomen, die Nachhaltigkeit thematisierten, wie neben Rathenau zum Beispiel Gustav von Schmoller und Adolph Wagner, gerieten schon damals ins Hintertreffen vor dem Triumph des neoklassischen Wirtschaftsmodells mit dem Grenznutzentheorem. Zudem förderte der Aufstieg der Ausbeutung des Erdöls, den, wie es treffend heißt, »Ressourcenimperialismus« (S. 146). Der zeit-, sozial- und geistesgeschichtlich ergiebige Beitrag von Hellige fordert unausgesprochen dazu auf, Rathenau im Diskursfeld des frühen 20. Jahrhunderts genauer zu verorten, wie es der Verfasser mit Hinweisen auf Georg Simmel, Werner Sombart und Max Weber knapp skizziert. Zu etwa der gleichen Zeit verfasst Lenin seine Schrift über den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916/1917), und es ist ein verlockendes Gedankenspiel, aus heutiger Sicht beide Einsichten zusammenzufügen, das ich wenigstens andeuten möchte. Wenn von so unterschiedlichen Positionen wie von Rathenau und Lenin aus gleiche oder ähnliche Urteile gefällt werden, sollte das doch zu denken geben. Rathenau denkt technisch effizient: die Gesellschaft im Modell einer Maschine, die einen maximalen energetischen Wirkungsgrad erzielt. Die beweglichen Teile dürfen also möglichst wenig Reibung aufweisen, wobei »Güter, die nur im Zusammenwirken gemeinschaftlicher Kräfte erworben werden« können, »niemals unbeschränktes Eigentum des Einzelnen werden« (Mechanik des Geistes; nach S. 157) dürfen. Dem hätte Lenin zugestimmt, der in der genannten Schrift die von Rathenau forcierte Monopol- und Kartellbildung ebenso scharfsinnig analysiert und kritisiert, wie zum Beispiel auch den Umstand, dass die Monopole und Kartelle Privateigentum bleiben. Wobei Lenin, vielleicht analytisch noch weitsichtiger als Rathenau, erkennt, dass die Warenproduktion bereits von den »Genies der Finanzmachenschaften« untergraben ist und aller Fortschritt letztlich nur den Spekulanten zugutekommt. Die von Rathenau vertretene idealistische Parole, der Mensch möge eines Tages das Kapital beherrschen und nicht umgekehrt, bleibt bis heute ein frommer Wunsch. Immerhin gab es noch den Glauben an ethische Ideale. Schon Lenin stellt fest, was heute vor aller Augen liegt, dass das »Weltfinanzkapital« die »ganze übrige Welt« (nämlich außer den Staaten, die finanzielle Macht besitzen) zu Schuldnern und Tributpflichtigen macht. Lenins Schrift ist so aktuell wie wenige aus dem vorigen Jahrhundert. Ebenso Rathenau, der, eine weitere Facette, die zwanghafte Prozessdynamik des Kapitalismus in der »Überfluss- und Konsumgesellschaft« erkennt und vom »stahlharten Gebäude des Konsumismus« (S. 183) spricht. Die marxistische Ideologie Lenins und die Seelenmetaphysik Rathenaus beweisen

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weniger geistige Beschränktheit als vielmehr: Kein großer Denker entgeht bestimmten Prägungen durch die Angebote des Zeitgeistes. Beider analytischer Scharfsinn und Rathenaus in der Wirtschaft ideologiefreier Pragmatismus ergeben ein reizvolles intellektuelles Gedankengespann für eine ›bessere‹ Gesellschaft – jedenfalls bis alle Energien verbraucht sind. Die allumfassende Konkurrenzmechanik des Imperialismus erzwingt ein Weltbild in FreundFeind-Kategorien. Selbst Rathenaus Idee zu einer Vereinigung der Staaten Europas wird gegen die USA aufgestellt. Ebenso steht die Eroberung Russlands als zukünftiges Absatzgebiet auf der Agenda. In jedem Fall sind Ziel und Zweck die Vorherrschaft Deutschlands in Europa. Rathenaus geistiger Horizont bildet vor 1914 nur darin eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gedankengut, das im Grunde ja nur die ökonomische Realität ideologisch widerspiegelt, dass er die drohenden Kriegsgefahren mit wirtschaftlichen Vereinbarungen und Verträgen bannen will. Das ehrt ihn, von heute aus gesehen, zweifellos, und er versucht diese Politik als Außenminister der Republik jedenfalls teilweise zu verwirklichen. Den Musil-Lesern ist Walther Rathenau in der Gestalt des Dr. Paul Arnheim aus dem Mann ohne Eigenschaften gewissermaßen persönlich bekannt und vertraut. Nähern sie sich der Person Rathenau in medialen Gattungen anderer Art, der Geschichtsschreibung, den Memoiren, Briefeditionen, so wird die Musil’sche Brille kaum ganz abzusetzen sein. In dem vorliegenden Sammelwerk wird das Thema Musil–Rathenau vom anerkannten Kenner der Materie, Karl Corino, vorgetragen. Die persönlichen Begegnungen der beiden sind kaum der Rede wert, wohl aber Musils Kritik an der Mechanik des Geistes. Und natürlich die Figur Arnheim. Für Musil-Kenner ergibt sich da kaum Neues, wohl aber für Leute, die sich – ohne Musil – mit Rathenau beschäftigen wollen. Für Leser des Mann ohne Eigenschaften ist der Typus des »flexiblen Menschen« ja ein alter Hut, und sie wissen, dass der moderne Möglichkeitsmensch ein aktives Leben mit vielen Eigenschaften führen kann, was die Eigenschaft der Eigenschaftslosigkeit oder eben Flexibilität zur Voraussetzung hat. An Fülle und Weitsicht ist der Mann ohne Eigenschaften nach wie vor unübertroffen und erspart eine Bibliothek zur Theorie der Moderne. Es sollte verboten sein, einen Mann wie Rathenau von heute aus moralisch zu zensieren oder besserwisserisch zu kritisieren. Der letzte Beitrag des Bandes von Martin Sabrow resümiert die Erzählungen von Rathenau als »historischen Lernort«. Die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei, stellt sich hier; sie kann im Grunde nicht beantwortet werden. Zwei Gründe möchte ich anführen: die Einmaligkeit einer individuellen Persönlichkeit wie Rathenau und die Kontingenz allen Geschehens, also – worüber uns Musil vorzüglich belehrt hat – die Tatsache, dass es in der Geschichte immer anders kommt, als man gedacht und gewollt hatte. Hans-Georg Pott

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Stijn de Cauwer: A Diagnosis of Modern Life. Robert Musil’s Der Mann ohne Eigenschaften as a Critical-Utopian Project. Brüssel u. a.: Peter Lang 2014. 278 S. € 50,60. Bekanntlich entwirft Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein erzählerisches Panorama intellektueller, weltanschaulicher und politischer Tendenzen im frühen 20. Jahrhundert. Die Handlung ist nicht ohne Grund im Wien des Jahres 1913 situiert: Im kakanischen Setting kommen Krisenerfahrungen urbaner Kontingenz am Vorabend des Ersten Weltkriegs wortreich zur Sprache. Beim Blick aus dem Fenster beobachtet der Protagonist Ulrich die Anomien moderner Lebenswelten; beim vielstimmigen Gespräch zur Vorbereitung der Parallelaktion erkundet er die Orientierungslosigkeit der etablierten Elite wie der protestbereiten Jugend. Illustre, skurrile und abgründige Gestalten wie General Stumm von Bordwehr, Hans Sepp oder Diotima – sie alle fühlen sich von technisch-medialen und wissenschaftlichen Umbrüchen ihrer Zeit bedroht und flüchten Hals über Kopf in Scheinheimaten. Diese schließen einander wechselseitig aus und verstärken so jenes chaotische Durcheinander, zu dessen Bewältigung sie eigentlich auf den Plan getreten sind. Der Erzähler porträtiert sie in ironischer Tonlage; sein Protagonist wiederum sucht in essayistischen Digressionen eines umtriebigen Denkexperiments nach einem intellektuellen Ethos, das für die Möglichkeitshorizonte der Moderne offen bleiben und doch Orientierung in einer Zeit der Unsicherheit bieten könnte. Mit Bezug auf dieses Diskursszenario erscheint es plausibel, den Autor des MoE-Kolosses als luziden Diagnostiker der Moderne zu begreifen. Diese Sicht ist nicht neu, aber nach wie vor produktiv. In der Tat haben Forscherinnen und Forscher wie Barbara Neymeyr (Utopie und Experiment, 2009) oder Norbert Christian Wolf (Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, 2011) in den letzten Jahren aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und mit einem breiten Spektrum an Methoden die Konturen von Anthropologie, Gesellschafts- und Kulturkritik bei Musil vermessen. Auf diesem Gebiet verortet sich auch Stijn de Cauwers englischsprachige Studie A Diagnosis of Modern Life. Der belgische Germanist, der mit vorliegender Arbeit an der Universität Utrecht promoviert wurde, liest Musils Roman wie auch seine Essays (etwa das Fragment Der deutsche Mensch als Symptom von 1923) als Vivisektion der geistigen Lage zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach seiner Überzeugung verfügt Musil über eine gesteigerte Aufmerksamkeit für irritierende Großstadterfahrungen im Zeitalter der Beschleunigung. Zugleich erscheint der Autor als hellsichtiger Analytiker, der anders als die meisten Zeitgenossen weder einem deprimierten Fatalismus frönt noch weltanschauliche Eindeutigkeit goutiert, sondern den fragwürdigen Ideologien völkischer, kommunistischer oder kulturpessimistischer Provenienz eine Neugier für die vielfältigen Potenziale seiner Zeit entgegensetzt. Von einem »critical-uto-

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pian project« kann nach de Cauwer insofern die Rede sein, als Musil seine Kritik intellektueller Defizite in eine utopische Suche nach flexiblen Möglichkeitshorizonten des Ethischen einfügt, die im Roman essayistisch erkundet werden. Die Studie A Diagnosis of Modern Life gliedert sich in drei Teile. Der erste Abschnitt erörtert »Musil’s Critique of Moral and Ideological Rigidity«. Hier geht es darum, Musil als Ideologiekritiker ganz eigenen Profils zu begreifen, dem es um die Öffnung versteinerter Moral-Lehren in einem »need for a flexible approach« (S. 109) zu tun ist. Der zweite Abschnitt erörtert dann »The Critical-Utopian Aspect of Der Mann ohne Eigenschaften«. In einem Parcours durch so unterschiedliche Entwürfe wie Möglichkeitssinn, exaktes Leben, Essayismus oder anderer Zustand will de Cauwer zeigen, dass diese Utopien weder sukzessiv einander ablösen noch hierarchisch geordnet sind, sondern gemeinsam für eine flexible Offenheit ohne teleologischen Zielpunkt stehen: »Musil’s utopianism is not concerned with a particular, definite end, but with the opening up of new possibilities.« (S. 241) Der dritte Teil bezieht dieses »provisional, experimental ethos« (S. 242) auf den Diskurshorizont des »Pathologischen«, der bei Musil weder auf spezielle Krankheitsbilder der Psychiatrie eingeschränkt sei noch eine Denunziationsfigur antimoderner Kulturkritik bilde, sondern im Zentrum einer von Nietzsche herstammenden Zeitdiagnose stehe. Dabei wird Musils Einstellung zur Psychoanalyse kritisch diskutiert. In einem Postskript stellt der Autor zuletzt die Frage, ob Musils Diagnosen des ›Seinesgleichen‹ auch in der heutigen Gegenwart noch relevant sind. In der Verbindung dieser vier Teile liest de Cauwer den österreichischen Literaten nachdrücklich als eigenständigen, kritischen und möglichkeitsoffenen Denker der Klassischen Moderne. Mit A Diagnosis of Modern Life legt de Cauwer eine konsistente und zudem in gutem Englisch verfasste Studie über den Kulturkritiker Musil vor. Seine Überlegungen zum Profil des Utopischen bei Musil erscheinen weitgehend überzeugend. Und doch: Wenn abschließend die Rede ist von Musils »artistic problematization of a petrified situation and the exploration of other possibilities, along with continuous experimentation of the forms that would best be suited for such aims« (S. 266), dann treten in diesen Formeln aus Sicht des Rezensenten exemplarisch drei Probleme von de Cauwers Studie zutage. Zum einen ist Musil als möglichkeitsoffener Kulturkritiker weitgehend erschlossen; bei der Lektüre der Monographie verfestigt sich der Eindruck, dass auf diesem Feld generell wenig Neues zu erwarten ist. Zwar stellt de Cauwer an einigen Stellen interessante Konstellationen etwa zu Georg Lukács oder Georges Canguilhem her, und sein drittes Kapitel über die Kategorie des »Pathologischen« enthält weiterführende Einsichten. Doch die generelle Stoßrichtung bestätigt geradezu Gemeinplätze der bestehenden Forschung. Zum anderen hört man diesen Wendungen die identifikatorische Emphase an, mit der Musil als luzider Solitär unter lauter ideologieaffinen Intellektuellen

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seiner Zeit profiliert werden soll. Mit dieser Bewunderung steht de Cauwer nicht allein, sondern durchaus repräsentativ für problematische Züge einer Musil-Forschung, welche die allzu kritische Tendenz einiger Studien aus den 1970er Jahren (darunter Klaus Laermanns Eigenschaftslosigkeit oder Hartmut Böhmes Anomie und Entfremdung) durch eine tendenziell unkritische Apotheose ihres Idols ersetzt hat. Und drittens kommt gerade die »artistic problematization«, die »experimentation of forms« im Mann ohne Eigenschaften in der vorliegenden Studie kaum in den Blick. Im Grund liest de Cauwer den Roman so, als bestünde er aus einer Serie autonomer Essays, die ihrerseits theoretische Fragen diskursiv erörtern. Von der narrativen Dynamik oder der kunstvollen Stilistik, die den Mann ohne Eigenschaften als spezifisch literarischen Text ausmachen, ist selten die Rede. Gerade hier gäbe es jedoch für die Musil-Forschung der nächsten Jahre noch viel zu erkunden. David Wachter

Simone Gottschlich-Kempf: Identitätsbalance im Roman der Moderne: Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil, Max Frisch und Botho Strauß. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 805). 884 S. € 49,80. Simone Gottschlich-Kempf widmet sich in ihrer Promotionsschrift einem neuen Identitätskonzept. Am Anfang steht die Frage nach der Definition: Was bedeutet Identitätsbalance hier in diesem Werk? Das Konzept setzt nicht einen Kompromiss zwischen zwei Extremen – dem Geist und dem Körper – voraus, sondern einen ganzheitlichen Zustand, in dem die vormals im Dualismus getrennten Gegensätze nun wieder vereint bestehen. Dieses Modell ist dynamisch zu verstehen. Das bedeutet, dass das Identitätskonzept, welches dahinter steht, prozessual und offen ist. Der Fortbestand des Ichs wird im kreativen Akt sichergestellt, welcher zwischen Distanzierung und Identifizierung oszilliert. Zwar wird dieses Modell besonders in soziologischen Theorien des 20. Jahrhunderts angewendet, doch beruht das Konzept auf Theorien, welche schon bei Aristoteles zu finden sind. Die Methode, die Gottschlich-Kempf anwendet, sucht ebenfalls eine Balance zwischen zwei Extremen, nämlich der Hermeneutik einerseits und einer wissenspoetologischen Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Sozialpsychologie andererseits. GottschlichKempf sieht die Berechtigung dieser Verbindung darin, dass der Autor im Akt des Schreibens Subjektivation und Objektivation miteinander verbindet. Indem die inneren Zustände für alle sichtbar gemacht werden, werden nicht nur subjektive Ideen zugänglich, sondern ebenfalls ein »Epochen-Bewusstsein«. So ist das Kunstwerk als Brücke zwischen Autor, also Individuum, und

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Gesellschaft zu verstehen. Gottschlich-Kempf bezieht sich dabei zentral auf Lothar Krappmann. Mit dieser Methode kann sie unter anderem Kategorisierungen aus den Naturwissenschaften auf die gewählten Texte anwenden. Das theoretische Fundament ihrer Arbeit ist in vier Themenbereiche eingeteilt: Identität/Rolle, Wahrnehmung/Erkenntnis, Leib-Seele-Problematik und die Konzeption des Zeitlichen. In jedem Bereich beruft sie sich kurz auf die wichtigsten theoretischen Positionen, die als Säulen ihrer Analyse fungieren. Besonders bemerkenswert ist zum Beispiel im Kapitel zur Wahrnehmung der Bogen, den sie von Kant über Husserl und Merleau-Ponty zu Ricœur schlägt (vgl. S. 35–53). Speziell Merleau-Ponty ist in diesem Kontext zu erwähnen, da er vor allem für das Leib-Seele-Problem neue Perspektiven eröffnet. Es geht im inhaltlichen Teil vorrangig darum, anhand fünf verschiedener Autoren eine Neubewertung der Darstellung von Identitätsauflösung vorzunehmen. Im Fokus stehen Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke, Andreas oder die Vereinigten von Hugo von Hofmannsthal, Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Mein Name sei Gantenbein von Max Frisch und Der junge Mann von Botho Strauß. Diesen Texten ist auf den ersten Blick außer der Kategorisierung als Romane der Moderne wenig gemeinsam. Gottschlich-Kempf arbeitet die zugrundeliegenden Identitätskonzepte heraus und stellt sie in einen neuen Zusammenhang mit der Identitätsbalance. Anstatt zwischen eigentlichem und uneigentlichem Ich zu unterscheiden und damit eine negative Wertung von Identitätsspaltung zu vermitteln, will sie an einen flexibleren Ich-Begriff heranführen, bei welchem die Spaltung und Auflösung als natürliche Prozesse zu sehen sind. Es geht also um eine Bejahung eines »pluralen Ichs«. Dies sieht sie nicht nur auf der inhaltlichen Ebene der Texte, sondern auch auf der formalen, zum Beispiel in der Abschaffung einer linearen Handlungsführung oder im Multiperspektivismus. Die Analyse des Mann ohne Eigenschaften offenbart nach der Auseinandersetzung mit Rilke und Hofmannsthal eine gesteigerte Warnung Musils vor dem Einheitsdenken. »Er [i. e. Ulrich] haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest [. . .]. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung.« (S. 436) Der Roman spielt laut GottschlichKempf zudem eine wesentliche Rolle im Übergang zwischen traditionellen Erzählstrukturen und einer modernen Zersetzung derselben. Er gilt als »essayistische Eskalation«,39 bei welcher die Erzählerinstanz nicht Identitäten und geschlossene Identifikationen liefert, sondern vielmehr den Leser in seinem Leseverhalten entlarvt (S. 8). Dies bedeutet nicht den Tod des Erzählers, 39

Gottschlich-Kempf zitiert hier folgendes Werk: Romanita Constantinescu: Selbstvermöglichungsstrategien des Erzählens im modernen Roman. Von ästhetischer Selbstaufsplitterung bis zu ethischer Selbstsetzung über mehrfache Rollendistanzen im Erzählen: Robert Musil – Max Frisch – Martin Walser – Alfred Andersch. Frankfurt a. M. 1998, S. 163 f.

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so betont die Verfasserin, sondern das Aufzeigen von pluralen Möglichkeiten der Identitätsstiftung, also Neuinterpretation des Erzählens selbst (vgl. ebd.). Die Autorin betrachtet anhand der Hauptfigur Ulrich und dessen Identitätssuche die Identitätsproblematik, die Musil auch in seinen Essays bearbeitet hat. Die Suche resultiere eben nicht in einer Einheit und ›heile‹ damit die Gespaltenheit, sondern münde in der Pluralität. Gottschlich-Kempf beschreibt und analysiert den Pfad, den Ulrich zuerst als Wirklichkeitsmensch, dann als Möglichkeitsmensch beschreitet, bis er beschließt, einen bewussten Utopismus zu verfolgen, einen »aktiven Passivismus« (S. 439). Erst in der Verbindung der zwei Lebensweisen komme er zu einem Gleichgewicht in einer pluralen Identität. Zu diesem Themenkomplex gehört auch das »sentimentale Denken« (S. 573). Es stellt die Verbindung zwischen genauem Denken und der Gefühlswelt wieder her: »Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.« (GW II, S. 1092; vgl. dazu Gottschlich-Kempf, S. 578) Anknüpfend an Gunther Martens, Annette Gies, Barbara Neymeyr und andere zieht Gottschlich-Kempf den Vergleich zwischen Musils neuer Denkweise und der Gestaltpsychologie. Nicht mehr die Systematisierung der Welt in feste Kategorien stehe im Mittelpunkt, sondern der Verstand werde nun zu einem besseren Verständnis der Sinneswahrnehmung und der Gefühle eingesetzt. Eine wechselseitige Beeinflussung sei ein natürlicher Bestandteil dieses Prozesses. Zu diesem Themenkomplex gehört auch das Konzept der »dynamischen Ethik« (S. 585), mit welcher Musil gegen die starre Moral vorgeht. Welchen Schaden das einseitige Denken in der Leib-Seele-Dualität anrichtet, arbeitet Gottschlich-Kempf an der Figur Moosbruggers heraus. Das Selbst sei in der von Musil kritisierten Gesellschaft nicht »verkörpert«, sondern auf den Geist reduziert. Dies führe dazu, dass der eigene Körper zur Bedrohung wird, was bei Moosbrugger in Gewaltexzesse ausarte. Besonders aufschlussreich für diesen Mechanismus sei neben Moosbrugger auch Bonadea, die durch die Unvereinbarkeit ihrer Ideale mit ihrer unkontrollierten Sinnlichkeit in manisch-depressive Zustände verfällt. Die Selbstverachtung, die daraus resultiert, ist auch bei Diotima wiederzufinden, die ihr sinnliches Verlangen als »Verrat ihres Körpers an ihrem Ich« sieht (S. 560). Parallel dazu betrachtet die Autorin Musils Sprachkritik, denn auch in diesem Bereich fordere er eine Aufwertung der Bildsprache mit Einbezug des Körpers (also zum Beispiel in Gesten ausgedrückt), genauso wie er eine allzu abstrakte Begriffssprache kritisiere. Besonders interessant ist bei der umfangreichen Analyse GottschlichKempfs der Fokus auf den Themenkomplex der Wahrnehmung und darin zum Beispiel auf das Gefühl der Liebe und deren körperliche Aspekte im Mann ohne Eigenschaften. Sie stellt fest, dass Musil eine ganz eigene Vorstellung vom Zusammenhang zwischen leiblicher Wahrnehmung, Gefühlen und

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Identität hat, und diese im Mann ohne Eigenschaften experimentell anwendet. Ein Beispiel für diese Erkenntnis ist das Kapitel »Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung« (S. 564). In diesem analysiert Gottschlich-Kempf die Wechselwirkung zwischen menschlicher Perzeption und innerer Verfassung: »Demgemäß wirkt sich vor allem die ablehnende Haltung dem eigenen Leib gegenüber und die damit einhergehende Erfahrung der Körperpartialisierung [. . .] auch auf die interpersonelle Wahrnehmung aus, die nun ebenfalls von einer auffälligen Fragmentierung geprägt ist.« (S. 564) Einfach ausgedrückt: Eine fragmentarisierende Wahrnehmung des eigenen Leibes lässt auch den Körper des Anderen hässlich erscheinen. Dies ist nicht nur in Momenten vor und nach dem Geschlechtsverkehr relevant, sondern in allen Situationen der interpersonellen Kommunikation. Selbst zwischen Ulrich und Agathe, die ihre Beziehung auf einer völlig neuen Grundlage errichten, entsteht zeitweise diese Fragmentarität: »Wenn du so mit mir hin und her redest, [. . .] ist mir, als sähe ich mich in den Scherben eines Spiegels«, stellt Agathe fest (MoE, S. 744). Abschließend betrachtet Gottschlich-Kempf Aspekte der Zeitlichkeit und des Kunstverständnisses. Sie zeigt, dass Musil Zeit zyklisch und spiralförmig begreift. Er kritisiere in seinen Figuren, die sich eine lineare zeitliche Biographie zurechtlegen, die vereinfachte chronologische Zeitwahrnehmung. Da er auch formell diese zyklische Erzählweise verwende, stehe der fragmentarische Charakter des Werkes in einem neuen Licht, nämlich als intendierte Darstellung einer Unabgeschlossenheit. Die weit gefächerte Problematisierung dieses neuen Identitätskonzeptes rechtfertigt den Umfang der Arbeit, besonders da es sich hierbei um einen komparatistischen Vergleich von fünf Autoren handelt. Trotzdem kann man sich beim Lesen nicht des Eindrucks erwehren, dass hier mehrere Bücher in einem vereint vorliegen, selbst wenn man nur ein einzelnes Kapitel, wie das über Musil, betrachtet: eine Analyse von Musils Kunstverständnis, ein Werk über Wahrnehmung im Mann ohne Eigenschaften, Musils Konzeption von Körper und Geist etc. Gelegentlich kommt daher der rote Faden abhanden. Die Unterkapitel liegen zwar jeweils thematisch nah beieinander, jedoch geht der Blick für das übergeordnete Thema, also die Identitätsbalance, leicht verloren. Glücklicherweise liest sich die Studie sehr flüssig und unterhaltsam, was auch daran liegt, dass Gottschlich-Kempf die Sachlage zum Einstieg mit Beispielen schildert, die in vielen Fällen wohlbekannt sind. Die komplexeren Zusammenhänge der Identitätsbalance mit dem jeweiligen Werk werden erst anschließend bearbeitet. In den abschließenden Kapiteln des Musil-Abschnitts wird versucht, die einzelnen Aspekte wieder zu einem kompletten Bild zu verknüpfen. In der Pluralität der Themen liegt wohl auch der Anspruch, den Mann ohne Eigenschaften als Ganzes neu zu interpretieren, was meiner Meinung nach auch gelingt. Hier liegt innerhalb der Studie zur »Identitätsbalance« die aktuellste Gesamtbetrachtung des Mann ohne Eigenschaften aus der Musil-Forschung vor.

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Betrachtet man Gottschlich-Kempfs Dissertation unter stilistischen Aspekten, liest sich die Argumentation streckenweise etwas zugespitzt und konstruiert, vor allem durch Wertungen, die von Musil nicht so offensichtlich ausgesprochen wurden. Zum Beispiel beim Thema Fremd-Identifikation: »Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Ulrich zwar einerseits danach strebt, sich mit seinem Gegenüber identifizieren zu können, andererseits aber auch mithilfe von diversen Abwehrstrategien eine wahrhafte Annäherung gerade verhindert.« (S. 480) Dies klingt nach einer psychologisierenden Analyse des Protagonisten, welcher »wahrhafte Annäherung« nicht zulassen kann. Was hier mit »wahrhaft« gemeint ist, wird erst später im Text klar. Im direkten Vergleich mit den zitierten Passagen wird deutlich, dass die Wertung im jeweiligen Kontext zwar durchaus gerechtfertigt ist, die verwendete Wortwahl jedoch nicht durchgängig dem neutralen Duktus einer literaturwissenschaftlichen Analyse entspricht. Trotzdem bietet die Arbeit neben einem umfassenden Überblick über den existierenden Forschungsstand einen neuen und erfrischenden Zugang zum Identitätskonzept im Mann ohne Eigenschaften, welcher durch die Verwendung interdisziplinären Methoden hervorsticht. Elisa Meyer

Boris Previši´c: Literatur topographiert. Der Balkan und die postjugoslawischen Kriege im Fadenkreuz des Erzählens. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014 (= Kaleidogramme, Bd. 112). 478 S. € 29,80. Die Auflösung Jugoslawiens und die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen stellen für Geschichte, Politik und ebenso für die Literaturwissenschaft ein bei weitem noch nicht abgeschlossenes Kapitel dar, dessen sich Boris Previši´c in seiner groß angelegten Studie Literatur topographiert. Der Balkan und die postjugoslawischen Kriege im Fadenkreuz des Erzählens, mit der er sich 2012 in Basel für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft habilitiert hat, annimmt. In einer umfangreichen Einführung (S. 17–70) legt Previši´c eine kontextuelle und kulturhistorische Rahmung des Problemfeldes vor, das er mit seiner Studie umreißen möchte, wobei programmatisch sogleich »ein einziger stringenter theoretischer Ansatz« (S. 18) ausgeschlossen wird. Es sind die »diskursiv-faktualen Zwischenräume« (S. 47), die Previši´c interessieren und deren Reflexion ihm zufolge »erst in einem dritten Raum der literarischen Imagination stattfinden kann« (S. 55). Der Literatur wird ein »heuristische[r] Mehrwert« zugesprochen, der in ihrer »diegetisch gerahmten Perspektivität« und in der Vielfalt der »topographische[n] Muster« liege (S. 46 f.). Für Previši´c ergibt sich aus all dem der Schluss, dass auch die Literaturanalyse »mehr

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als Zuordnungen und Identifikationsmuster, welche die Diskursverhältnisse perpetuieren, vornehmen muss« (S. 54). Wie sich diese Literaturanalyse allerdings konkret gestalten soll, bleibt bei aller Betonung methodischer Flexibilität relativ diffus. Das zunächst eingeführte und forcierte »Raumparadigma« etwa, so wird im weiteren Verlauf konstatiert, bilde »keine absolute Bezugsgröße« (S. 46), und auch der »explizit narratologische[ ] Ansatz« (S. 23) wird keinesfalls konsequent verfolgt. Der assoziative Charakter von Previši´cs Bezugnahmen auf theoretische Konzepte wird u. a. bei der Aufarbeitung der ›Todorova-Sundhaussen-Debatte‹ über den ›Balkanismus‹ deutlich (vgl. S. 54–70). Hier speist sich Previši´cs Kritik an Maria Todorova und Holm Sundhaussen nicht zuletzt aus dem Umstand, dass deren ›Diskursanalyse‹ ihm zufolge nur »dieselben Stereotypen perpetuiert und [. . .] auch immer wieder wissenschaftlich untermauert und essentialisiert« (S. 60), weswegen er dieser Methode auch ablehnend begegnet. Eine Diskursanalyse nach Foucault’schem Verständnis jedoch, die sich bekanntlich nicht nur mit der Struktur von Diskursen, sondern auch mit deren Kontrollinstanzen und deren Formation befasst, sollte in dieser Konfiguration jedenfalls in der Lage sein, der besagten Perpetuierung der Stereotype zu entgehen. Dass in diesem Punkt eine Bezugnahme Previši´cs auf die Überlegungen Michel Foucaults ausbleibt, ist überraschend, trifft allerdings auch für weitere wesentlich von Foucault geprägte Begriffe zu, die sich die Studie aneignet.40 Wenn Previši´c sich dann Niklas Luhmann zuwendet, um das Verhältnis von ›Diskurs‹ und ›historischer Wirklichkeit‹ als Koppelung zweier »Systeme« (S. 66) zu beschreiben, und in weiterer Folge mit dem Begriff des Imaginären von der Systemtheorie über die Mathematik und über Jacques Lacan zu Wolfgang Iser springt, ist das ein »Tour d’Horizon« (S. 68), wie Previši´c selbst feststellt, von geradezu eklektizistischer Manier. Dass Iser an dieser Stelle nur sekundär über das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie zitiert wird und sich eine spätere Bezugnahme auf Michel de Certeau (vgl. S. 418) in der Auseinandersetzung mit einer verkürzten Fassung aus einem Suhrkamp-Sammelband erschöpft,41 ist jeweils geradezu exemplarisch dafür, dass thematisch zentral erscheinende Problemstellungen in Previši´cs Studie nur bedingt entfaltet werden. Überhaupt gilt für das auffallend weit hinten eingeflochtene, knappe Kapitel zu »Raumtheorien als Erzähltheorien« (S. 417–421), dass da-

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Dies sind neben dem gehäuft auftauchenden »Diskurs« etwa »Gegendiskurs« (S. 47, 63, 66, 98 u. 181), »Diskursanalyse« (S. 56 u. 66), »Diskursmacht« (S. 449) oder »Dispositiv« (S. 173, 332 u. 436). An keiner dieser Stellen wird Foucault explizit aufgegriffen; einzig das Konzept der Heterotopie wird mit Verweis auf diesen eingeführt (vgl. S. 418 f.), aber dort wie auch an anderen Stellen (vgl. S. 368 u. 437) mehr anzitiert denn problematisiert. Vgl. Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 7 2012, S. 343–353.

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raus für die Studie substanziell erstaunlich wenig gewonnen wird,42 obgleich Previši´c herausstreicht, dass ob ihrer Individualität keineswegs alle Texte »innerhalb des ausgewählten Korpus in einer raumtheoretischen Metatheorie aufgehen« (S. 421). In seinem zweiten Kapitel widmet sich Previši´c ausführlich dem Konnex von Literatur und Zeugnis/Zeugenschaft (S. 71–134) und damit einem komplexen Spannungsverhältnis. Zunächst legt Previši´c dar, wie Ereignisse und Orte des Krieges narrativ ›gefasst‹ werden können, mithin also zum »erzählbaren Chronotopos« (S. 90) werden, wobei es ihm insbesondere auf die Durchkreuzung von »testimoniale[n] und literarische[n] Modi des Erzählens jenseits auktorialer Intention« (S. 73) ankommt. Anhand ausgewählter Beispiele wird dann durchexerziert, dass das Zeugnis »seine Wirkungsmächtigkeit erst in seiner Literarizität [entfaltet]« (S. 74). An dieser Stelle hätte freilich noch in Betracht gezogen werden müssen, dass Zeugenschaft als »Akt des Erzählens« immer schon unter dem »Vorbehalt der Unzuverlässigkeit« steht.43 Unberücksichtigt bleibt bei Previši´c zudem die Medialität des Zeugnisses, die sich aus dem – für die literaturwissenschaftliche Perspektive nicht unerheblichen – Akt des Aufschreibens und damit aus der Kluft zwischen der Unmittelbarkeit des Bezeugens44 und der Schrift als ›Teletechnologie‹45 ergibt. In weiterer Folge legt Previši´c v. a. am Beispiel von Slavenka Drakuli´cs Roman Kao da me nema (dt. Als gäbe es mich nicht), dessen Protagonistin von serbischen Soldaten verschleppt wird, auf überzeugende Weise dar, mit welchen verschachtelten Verfahren der Narration literarische Texte zu alternativen Formen des (bezeugenden) Sprechens über das Lager als Ort institutionalisierter und systematischer Gewaltausübung sowie als »topographischen Prototypen der ethnischen Säuberung« (S. 71 f.) gelangen können. Dass die Überlebensberichte in ihrer »chiastische[n] Verschränkung zwischen Fiktion und Faktualität« (S. 115) dann so forciert von Giorgio Agambens Überlegungen zum Ausnahmezustand abgesetzt werden, wirkt trotz der berechtigten Kritik an Agamben outriert, ändert aber nichts an der Plausibilität des Befundes, wonach die Berichte als epistemisch-diskursive Alternativerzählungen aufgefasst werden können. Mit den ersten europäischen Reaktionen auf die kriegerischen Auseinandersetzungen befasst sich Previši´cs nächstes Kapitel (S. 135–184), wobei er der deutschsprachigen Literatur die »komplexeste Rezeptionshaltung« (S. 136) at42

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Ähnliches gilt dann auch für die knappe Auseinandersetzung mit narratologischen Paradigmen rund um Franz K. Stanzel, Mieke Bal und Gérard Genette (vgl. S. 371 f.), die Previši´c im Zusammenhang mit Saša Staniši´c vornimmt. Thomas Weitin: Zeugenschaft. Das Recht der Literatur. München 2009, S. 10 (Herv. im Orig.). Vgl. Jacques Derrida: Bleibe. Maurice Blanchot. Hg. v. Peter Engelmann. A. d. Franz. v. HansDieter Gondek. Wien 2003, v. a. S. 39–44. Vgl. Jacques Derrida, Bernard Stiegler: Echographien des Fernsehens, in: dies.: Echographien. Fernsehgespräche. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 2006, S. 41–159, hier S. 48–51.

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testiert. Impliziert sei nämlich häufig eine »Reflexion der neuen deutschen Rolle nach dem Fall der Berliner Mauer« (S. 140). Previši´cs Anliegen ist es nun, die Stereotypisierungen und Selbstinszenierungen aufzudecken, während zugleich – mit Blick auf Bachtins Konzept der Redevielfalt – Verfahren der Ironie und der Parodie zur ›Entschärfung‹ der Stereotype herausgearbeitet werden. Gerade in diesem Zusammenhang hätte sich eine detailliertere Auseinandersetzung mit rhetorischen und narrativen Verfahren angeboten. Unklar bleiben Previši´cs Kriterien für den »literarischen Anspruch« (S. 150) der Texte sowie das Paradigma der ›Literarizität‹, das möglicherweise eher im Sinne von Rhetorizität verstanden werden müsste – beide Faktoren erschließen sich aus den behandelten Beispielen nicht vollends. Genauer setzt sich Previši´c mit der französischen (Bernard-Henri Lévy) und spanischen (Juan Goytisolo) littérature engagée auseinander. Lévys Engagement wird des »Narzissmus« (S. 167) bezichtigt, da seine Arbeit offenbare, »inwiefern der Fokus des ›engagierten Intellektuellen‹ auf sein Zielpublikum das Ereignis selbst, um das es hier geht, auswechselbar macht.« (S. 165) Am Beispiel von Goytisolo legt Previši´c anschaulich dar, wie bedingt durch den Krieg und die veränderten Verhältnisse der Orte zueinander eine neue Topographie etabliert wird. Eigentümlich hingegen ist, dass der Literatur die Möglichkeit der ›Heilung‹ von Traumata zuerkannt wird, wofür sich keine überzeugenden Belege finden. Ein weiteres Kapitel (S. 185–240) befasst sich mit den »[l]iterarische[n] Systematisierungen der kriegerischen Ereignisse«. Dabei wird erstmals im Verlauf der Studie eine Synthese der Literaturen innerhalb und außerhalb des Kriegsgebietes angestrebt, wobei Previši´c gerade den Beispielen der kroatischen, serbischen und bosnischen Literatur einen »höchst reflektierten und virtuosen literarischen Umgang mit der Vergangenheit« (S. 186) zuerkennt. Insofern ist es auch bedauerlich, dass diese Texte bisweilen mehr tangiert als en détail analysiert werden. Unter der Leitkategorie der Marginalisierung sowie deren Unterkategorien Parallelisierung, Nostalgisierung und Digression, die als Möglichkeiten der Einbettung von Literatur in die Historie verstanden werden, ist das Kapitel weitgehend als eine Abfolge von knappen Analysen konzipiert, welche die narrativen und topographischen Verfahren der Texte in unterschiedlichem Ausmaß thematisieren. Sowohl quantitativ als auch qualitativ stechen die Abschnitte zu Terézia Moras Alle Tage (S. 193–198), Miljenko Jergovi´cs Das Walnusshaus (S. 232–239) und v. a. jener zu W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn (S. 201–211) heraus. Ein weiterer Abschnitt (S. 211–226) umreißt die systematische Aufarbeitung der Parallelisierung von Zweitem Weltkrieg und postjugoslawischen Kriegen unter dem Blickwinkel der »Möglichkeit, Geschichte zu narrativieren« (S. 225), wobei erneut »fiktionalen Produkten« (S. 217) eine besondere epistemische Qualität zugesprochen wird. Zuletzt (S. 226–240) werden Nostalgisierung und Digression jeweils räumlichen Bezügen zugeordnet, erstere

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dem »bukolischen Chronotopos« (S. 226), letztere einem »dystopische[n] Rückbezug« (S. 227). V. a. aber wird hier der Gewinn einer komparatistischen Vorgehensweise deutlich, trägt doch Previši´cs sprachliche Versiertheit im Umgang mit den Originaltexten immer wieder (z. B. S. 236) erhellend zur Interpretation bei. Das fünfte (und umfangreichste) Kapitel befasst sich mit Peter Handke (S. 241–327), wobei es Previši´c v. a. um die »Relativierung der meist überbewerteten Autorintention« (S. 243) sowie einer vermeintlich apolitischen oder ›harmonisierenden‹ Literaturwissenschaft zu tun ist. Previši´c geht dafür zunächst von der öffentlichen Diskussion um Handkes Texte zum Jugoslawienkonflikt aus, wobei er weitgehend die Positionen reproduziert, die in den Sammelbänden von Tilman Zülch und Thomas Deichmann abgedruckt sind,46 und wenig Neues zur Debatte oder den sich darin abzeichnenden Feldlogiken beizutragen hat. Zu fragen ist, ob Previši´c dabei nicht gerade jene Form der ›Diskursanalyse‹ betreibt, die er im Rahmen der ›TodorovaSundhaussen-Debatte‹ kritisiert. Wenig überraschend ist schließlich sein Resümee einer »Unversöhnlichkeit des journalistischen mit dem literarischen Ansatz«, und das Argument, wonach für Handkes Jugoslawien-Texte also »weder eine rein faktisch-historische noch eine rein poetologisch operierende Analyse« (S. 259) ausreiche, wird im Verlauf des Kapitels wiederholt eingebracht. In weiterer Folge wird die Genese von Handkes ›jugoslawischer Poetologie‹ skizziert, die freilich bereits früher Thema der Forschung war.47 Als erhellend erweist sich allerdings Previši´cs Bezugnahme auf die Überlegungen Michel de Certeaus zu den ›Praktiken im Raum‹.48 In den bei Certeau im Zusammenhang mit der ›mise en paysage‹ herausgearbeiteten rhetorischen Verfahrensweisen – Pars pro toto und Ellipse – erkennt Previši´c zu Recht »wesentliche Momente in Handkes Schreiben« (S. 264). Aufschlussreich ist außerdem der Verweis auf Handkes Kartenlektüren: Die nur vordergründig objektive Karte bedient sich, wie Previši´c auf schlüssige Weise darlegt, im Sinne des Certeau’schen ›espace géometrique‹ derselben rhetorischen Strategien wie der bereits angedeutete ›espace anthropologique‹. Über be- und erschriebene Karten bei Handke legt Previši´c dann auch die Performativität des (literarischen) Kartographierens offen. Mit Blick auf Handkes »politische Poeto-Logik« (S. 288) wird die Problematik des Handke’schen Wirklichkeitsbegriffs nochmals aufgerollt, allerdings 46

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Vgl. Tilman Zülch (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Göttingen 1996; Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Frankfurt a. M. 1999. Zu erwähnen ist etwa die von Previši´c nicht berücksichtigte, aber bemerkenswerte Studie von Roland Borgards: Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert. München 2003, v. a. S. 237–245; oder auch Karin Wemhöner: Paradiese und Sehnsuchtsorte. Studien zur Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts. Marburg 2004, v. a. S. 257–267. Vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 177–238.

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ohne dass dabei ein Bezug zu den frühen poetologischen Schriften hergestellt würde. Für Handke erweise sich der Balkan schließlich wenig überraschend als »Projektionsfläche« (S. 294), die nicht zuletzt aus seiner »Politik des Aufsuchens spezifischer Orte« (S. 298) resultiere. Eher fehl am Platz ist Previši´cs Tendenz zu moralischen Wertungen, sei es des Autors oder des Erzählers, die letztlich auch in den allzu gut gemeinten Hinweis münden, wo eigentlich »eine Friedens- und Vermittlungsschrift ansetzen [könnte]« (S. 301). Ein weiterer Abschnitt erweitert das untersuchte Corpus um Essays der Jahre 1999–2006, denen von der Forschung bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Previši´cs Vorgehen besteht v. a. darin, Handkes »Manipulation der historischen Faktizität« (S. 245) aufzudecken und damit auf das literarische »Mythologisierungspotential« (S. 314) hinzuweisen, das dem durch den Krieg bedingten »Raumverlust« (S. 310) entgegenwirken soll. In einem letzten Abschnitt widmet sich Previši´c ausgehend von Gérard Genettes Figures III der Frage, »inwiefern ›Fiktion‹ und ›Wirklichkeit‹ in ihrer behaupteten Trennung die systemischen Grenzen ständig überschreiten und inwiefern Handke gerade in seinen Literarisierungen diese Tendenz noch verstärkt.« (S. 245) Dass Handkes Jugoslawien-Texte zwischen Fiktionalisierung und faktualer, autobiographischer Schreibweise changieren und dass es zu einer fortwährenden Verschiebung der Grenzen von Literatur kommt, hat die Forschung freilich wiederholt beschäftigt. Durchaus interessante Perspektiven eröffnet allerdings Previši´cs Vorschlag, Handkes deklariert fiktionales Werk in umgekehrter Form als Kommentar zu den Essays zu lesen. Previši´cs daran anschließendes Kapitel (S. 329–366) folgt einer Reihe von »Transgressionen einer bezeugenden Literatur, in der Ich-Erzähler und Autor weitgehend zusammenfallen und entsprechend Authentizität beansprucht wird« (S. 330). Bei Juli Zeh etwa ortet Previši´c eine »Skepsis gegenüber jeglicher Systematisierung, die Begriff und Wirklichkeit in Deckung bringen möchte« (S. 339) und die ohne Handke nicht zu denken wäre. Die Texte von Victorija Kocman und Anna Kim wiederum werden als »Versuch[e], die Ich-Perspektive aufzulösen« (S. 345), in den Blick genommen. Während Kocman wegen ihres »Schematismus« (S. 346) kein Potenzial zugesprochen wird, diskursive Frontstellungen aufzuweichen, wird Kim als »Vorzeigebeispiel interkultureller Vermittlung« (S. 349 f.) klassifiziert. Abseits einer erneuten (und nicht ganz einleuchtenden) Verknüpfung von Narrativierung und Traumabewältigung erweist sich abermals der Rückgriff auf die Narratologie nach Genette als gewinnbringend. Wieso die Analyse von Kims Roman schließlich in den Befund eines »pathologische[n] Narrationsproblem[s] der Schizophrenie« (S. 353) mündet, ist nicht nachvollziehbar; weitaus plausibler ist dagegen die narrative Konstitution einer »voraussetzungslosen Wir-Struktur«, welche die »strukturelle Gewaltfortsetzung« (S. 357) zu durchbrechen vermag. Am Beispiel Igor Štiks’ versucht Previši´c schließlich eine »inzestuöse

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Intertextualität« (S. 358) herauszuarbeiten, wobei der Begriff diffus bleibt. Previši´cs Überlegung, wonach es sich zudem beim unzuverlässigen Ich-Erzähler um »das schlichte Gegenteil dessen, was wir aus der bezeugenden Literatur kennen« (S. 359), handle, ist zu schematisch gedacht (s. o.) und folglich zurückzuweisen. Auch das Verfahren, durch das die Geschichte Sarajevos »zur metonymischen Funktion der Figur [wird] und umgekehrt« (S. 364), erschließt sich aus der Darstellung nicht. Anschaulich dargelegt werden hingegen die Brechungen der Erzählweise, durch die es zu einer »Inversion von Autor-, Erzähler- und Figurenfunktion und gleichzeitig von Außen- und Innenperspektive« (S. 364) kommt. Mit dem siebten Kapitel (S. 367–421) schwenkt Previši´c erneut zur Systemtheorie hinüber, um den Beobachtungen zweiter Ordnung nachzuspüren, die sich aus narrativen Brüchen ergeben. Deutlich zeigt sich dies anhand von Saša Staniši´cs »plurichronische[m]« (S. 374) Erzählen, in welchem das Spannungsfeld von Erinnerung und deren Narrativierung thematisiert wird. Ungewöhnlich ist jedoch Previši´cs Beharren darauf, dass sich eine »hybride Literatur« wie diejenige Staniši´cs »aus der traumatischen Notwendigkeit heraus ihre Poetologie schafft« (S. 375) und sich darin die »existenzielle Notwendigkeit« (S. 380) des Erzählens manifestiere. Als gewinnbringend erweist sich hingegen einmal mehr der Blick über die Sprachgrenzen hinweg. So zeigt Previši´c im Abgleich mit der bosnischen Übersetzung, wie die »Jugoslavismen« im Deutschen »Zeugen eines hybriden Zwischenraums [sind], in dem der Roman entstanden ist und der die Nicht-Übersetzbarkeit in Szene setzt« (S. 381). Anhand von Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens wiederum wird anschaulich, wie die »erzählerische Perspektivenstaffelung [. . .] der Topographie eine historische Tiefenschärfe [verleiht], welche [. . .] die mediale Usurpation in ihrer Aneignung reflektiert.« (S. 388) Aus Gstreins Die Winter im Süden präpariert Previši´c ein Erzählen entlang von ›Non-lieux‹ im Sinne Marc Augés heraus. Gerade im Fehlen einer vermittelnden Erzählinstanz wird zuletzt eine Möglichkeit aufgespürt, die »Nichtigkeit ideologischer Schemata« (S. 399) offenzulegen. Abschließend wird der Versuch unternommen, eine allgemeinere Raumnarratologie zu entwerfen, zumal die »zeitliche Zäsur des Kriegs [. . .] geradezu eine topographische Erschreibung, Umschreibung und Überschreibung einzufordern [scheint]« (S. 400). Die Entscheidung, »bereits vorgestellte Literatur im Hinblick auf die Verknüpfung narrativer Muster mit raumtheoretischen Paradigmen nochmals in den Blick [zu nehmen]« (S. 401 f.), erweist sich jedoch als überraschend unergiebig. Abgesehen von den Ausführungen zu Aleksandar Hemon münden die Überlegungen zunächst weitgehend in redundante Wiederholungen von bereits Gesagtem. Aufschlussreicher ist ein Abschnitt zum Zusammenhang von Reisen und Erzählen, in dem die These vertreten wird, dass die »Reiseerzählung per se ein Korrelat zwischen Faktum und Fiktion unter dem Vorzeichen einer permanenten Inversion [bildet]«

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(S. 410). Über Primo Levi wird dann von Previši´c eine Konstellation von Reisen, Trauma und Zeugenschaft etabliert, deren Zusammenhang eher undurchsichtig bleibt. Vorausgesetzt wird zunächst (und völlig zu Recht) eine »Leerstelle der Zeugenschaft zwischen historischem Ereignis im Sinne der Faktizität und seiner Literarisierung« (S. 414), auch wenn dies nicht eingehender problematisiert wird. Weiters wird konstatiert, dass das Erzählen kein Symptom des Traumas sei, sondern das Trauma vielmehr als »Symptom einer narrativen Struktur« zu gelten habe, die das »Überleben im und nach dem Krieg garantiert« (S. 414). Erzählen werde dann auch »nicht als Traumabewältigung, sondern als Zeugenschaft im poetischen Modus nötig« (S. 415). Mit Blick auf das Erzählen als »mnemotechnische Voraussetzung des Traumasymptoms« übernehme das Reisen zurück ins Kriegsgebiet »die RelaisFunktion zwischen ›Durcharbeiten‹ und Erzählen« (S. 417). Nicht nur das Schreiben (vgl. S. 175), auch das Reisen wird damit zum Therapeutikum – wenngleich offen bleibt, wo genau hier die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung ihren Zuständigkeitsbereich findet. Mit dem letzten Kapitel zu »Lyrik und Krieg« (S. 423–447) wird das genuine Gebiet des Erzählens verlassen. Bei seiner Untersuchung von Lyrik abseits propagandistischer Vereinnahmung stellt Previši´c zunächst die Perspektive des Kriegsopfers (bei Mile Stoji´c) gegen jene des Täters (bei Boris Dežulovi´c), um schließlich zur »synthetisierenden Zusammenführung« (S. 424) durch Peter Waterhouse zu gelangen. Stoji´cs Elegien wird freilich ein »erzählende[r] Modus« (S. 424) zugeschrieben; besonderes Augenmerk wird auf die topographierenden Verfahren der Texte sowie auf die Möglichkeit eines bezeugenden Schreibens gelegt, die aus der »Konvergenz von narrativer Fiktionalität und lyrischer Subjektivität« (S. 429) resultiere. Bei Dežulovi´c verweist Previši´c mit heuristischem Gewinn auf das kroatische Original, in dem die Gedichte im Gegensatz zur deutschen Übersetzung auf spezifische Weise verortet werden und »Heterotopien des kroatischen Gewissens« (S. 437) aufrufen. Peter Waterhouse’ E 71 wird schließlich als Sammlung von ›notula‹ im Sinne Roland Barthes’ gelesen. Überzeugend gestaltet sich auch der Hinweis auf die »Verbindung von geographischer und textueller Landschaft« (S. 439) bei Waterhouse. Einige knappe Bemerkungen zu (Krieg und Welt) führen den Blick über die Prosa hinaus abschließend wieder auf diese zurück. Boris Previši´c hat eine ambitionierte Untersuchung vorgelegt, welche sich durch die eigenständige Perspektive von Untersuchungen wie jener Elena Messners oder Daniela Finzis absetzt,49 die in zeitlicher Nähe zu Previši´cs Studie entstanden sind und mit ähnlichen Textcorpora arbeiten. Beachtlich ist der Materialreichtum der Studie, auch wenn die Untersuchung bisweilen 49

Vgl. Elena Messner: Die Rezeption postjugoslawischer Kriegsprosa im deutschsprachigen Raum. Diss. Univ. Wien 2012; Daniela Finzi: Unterwegs zum Anderen? Literarische ErFahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive. Tübingen 2013.

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zur Oberflächlichkeit tendiert und ihren methodisch-theoretischen Prämissen nicht immer gerecht wird. Insbesondere eine eingehendere Beschäftigung mit Fragen der Raumtheorie und einer Literaturwissenschaft nach dem spatial turn wäre der Studie – nicht zuletzt aufgrund ihres ›Titelversprechens‹ – zugutegekommen. Mit Blick auf die Benützung der Publikation wäre ein Register wünschenswert gewesen, zumal einige Autor/inn/en wiederholt und an unterschiedlichen Stellen behandelt werden, ohne dass dies stets auf den ersten Blick explizit würde. Überhaupt scheint Previši´cs Studie ein letzter ›Feinschliff‹ abzugehen, wie manch abruptes Kapitelende, mehrmalige Redundanzen, mitunter fehlende Stringenz sowie ein bisweilen wenig sorgfältiges Lektorat zeigen. Dennoch macht die besagte Materialfülle die Studie zu einem Wegweiser auf einem weiten Feld, das verschiedenste textuelle und sprachliche Zusammenhänge umfasst. Dass über den komparatistischen Zugang auch die ›autochthonen‹ Literaturen zu Wort kommen, ist als großes Verdienst der Monographie zu werten. Was sich in der Studie immer wieder abzeichnet, ist eine Literaturwissenschaft, die sich nicht nur als Kulturvermittlung versteht, sondern auch gesellschaftspolitische Relevanz erlangen will: So ist es Previši´cs erklärtes Ziel, einen Weg für die »nachhaltige und [. . .] friedensstiftende Aufarbeitung der Geschichte« (S. 31) zu bereiten. Dass zudem in der literarischen Reflexion der postjugoslawischen Kriege die »europäische Identität in existenzieller Weise zur Disposition steht« (S. 70), macht Previši´cs Aufarbeitung dieses literaturhistorischen Kapitels auch zu einem wichtigen Beitrag für das 21. Jahrhundert. Nicht nur, wer die postjugoslawischen Kriege besser nachvollziehen will, sondern auch, wer sich mit dem Zusammenhang von Literatur und (zunehmend wieder prekär werdender) europäischer Identität befassen möchte, wird um Previši´cs Studie nicht herumkommen. Thomas Traupmann

Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Mit zwei Beiträgen von Karl Corino und 87 Musil zugeschriebenen Zeitungsartikeln. Klagenfurt, Wien: kitab 2014. 367 S. € 19,80. Dass Robert Musil, wie viele andere Schriftsteller seiner Generation, den Beginn des Ersten Weltkriegs nicht aus der Distanz des pazifistischen Mahners kritisierte, vielmehr mit seinem Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum in den Chor anfänglicher Begeisterung einstimmte, ist anlässlich des Jubiläumsjahres 2014 wieder stärker ins Bewusstsein der (Musil-)Philologie gerückt. Ebenso erfährt seine Tätigkeit als Redakteur und Schriftleiter zweier offizi-

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eller Militärblätter der k. u. k. Monarchie in den letzten Jahren erneut eine intensivere Aufmerksamkeit. Die institutionellen Kontexte seiner redaktionellen Arbeit für die (Tiroler) Soldaten-Zeitung (1916/1917) sowie für die in Wien im Auftrag des Kriegspressequartiers hergestellte Zeitschrift Heimat (1918) gehören jedoch weiterhin zu den weniger genau dokumentierten Aspekten von Musils schriftstellerischer Laufbahn, was nicht zuletzt mit den lückenhaften Aktenbeständen der Militärbehörden zu erklären ist. Sich dieser biographisch wie editionsphilologisch brisanten Thematik – auch angesichts einer »seit Jahren stagnierenden Forschungssituation rund um Musils Kriegspublizistik« (S. 91) – erstmals umfassend zu widmen, stellt zweifellos eine lohnende Aufgabe dar. Die Tatsache, dass Regina Schaunig zu einem bisher meist in kürzeren Aufsätzen behandelten Bereich eine Monographie von stolzen 367 Seiten vorlegt (etwa zwei Drittel davon machen die edierten Zeitungstexte aus), steigert darüber hinaus die Hoffnung, hier werde ein lange Zeit vernachlässigtes Thema endlich in seiner vollen historischen wie literaturtheoretischen Tragweite dargestellt und behandelt. Nicht zuletzt befördert die zu Beginn des Bandes formulierte These, wonach »die politischen und feuilletonistischen Beiträge der von Musil herausgegebenen Soldatenzeitungen und das damals ›gesetzgebende‹ militärisch-redaktionelle Umfeld für seine moralische und pragmatisch-pädagogische Haltung als Schriftsteller von nachhaltiger Bedeutung« gewesen seien und deren Interpretation folglich »wesentlich zum Verständnis des Gesamtwerkes beitragen« könne (S. 14), die Erwartung auf neue, erhellende Perspektiven, die nicht vom ausführlich beforschten literarischen und essayistischen ›Hauptwerk‹, sondern gewissermaßen von der ›Peripherie‹ her gedacht und artikuliert werden – obgleich Schaunigs forcierte Einschätzung, der Erste Weltkrieg sei bisher »in der wissenschaftlichen Lektüre« des Musil’schen Œuvres »nur am Rande wahrgenommen« worden (S. 11), weder haltbar noch forschungsgeschichtlich plausibel ist.50 Leider wird der grundsätzlich positive Eindruck von Schaunigs Unternehmung erheblich dadurch getrübt, dass sich die Studie, die wesentlich (und oft unkritisch) auf den Vorarbeiten von Karl Corino fußt, eines philologisch komplexen Gebiets – im Kontext der Theoriedebatten der vergangenen Jahrzehnte – beinahe provokant positivistisch annimmt. Zwar scheinen im äußerst knapp bemessenen Literaturverzeichnis gleich vier gewichtige Bände des französischen Soziologen Pierre Bourdieu auf,51 als theoretische und 50

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Man denke etwa an die einschlägigen Arbeiten von Kai Evers (2009), Alexander Honold (1995 ff.) und Paul Zöchbauer (1996) oder zuletzt an Mathias Mayers Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik (2010), die in Schaunigs Bibliographie überraschenderweise allesamt nicht aufscheinen. Es handelt sich dabei um Die feinen Unterschiede, Homo academicus, Die Regeln der Kunst und Entwurf einer Theorie der Praxis; zusätzlich wird im Text noch auf die Bände Sozialer Sinn und Die männliche Herrschaft verwiesen (vgl. S. 38).

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methodische Grundlegung der Studie können diese freilich kaum gelten. Vielmehr finden sich Bruchstücke aus dem terminologischen Repertoire der Bourdieu’schen Kultursoziologie (Habitus, Hexis, Feld) recht unsystematisch über den Text verstreut (vgl. S. 13, 35, 37 f., 41 f., 54 u. 87), ohne dass sich daraus ein spezifisches Erkenntnisinteresse destillieren ließe. Für Bourdieus Theoriebildung zentrale Fragen wie jene nach der Rolle von Eigennamen, die im Sinne einer ›biographischen Illusion‹ suggerieren, Ordnung »in das Unscharfe und Fließende der biologischen und sozialen Realitäten« bringen zu können,52 geraten dabei – wohl weil sie das positivistische Projekt hintertreiben würden – gerade nicht in den Blick. Schaunigs eigene Darstellung, die gut 100 Seiten des Bandes ausmacht, erschöpft sich weitgehend in der Zusammenschau historisch-biographischer Wissensbestände, die zum einen – mit einigen interessanten Ausnahmen, etwa zum titelgebenden General Alfred Krauß (vgl. v. a. S. 56–68) – in der einschlägigen Musil-Forschung kaum als neu gelten können und deren Darstellung zum anderen eines adäquaten literaturwissenschaftlichen Zugriffs entbehrt. Aus dem Befund einer »verminderten literarisch-essayistischen Qualität« sowie »der Unsicherheit der Autorschaft« (S. 96) entwickelt die Autorin kein hinreichendes Instrumentarium zur Beschreibung jener diffizilen Problemlagen, die im Kontext der Autorschaftsforschung – u. a. angeregt von Roland Barthes’ Unterscheidung von ›Schriftsteller‹ und ›Schreiber‹ – seit vielen Jahren diskutiert werden. An neuralgischen Stellen tritt die fehlende theoretische und methodologische Reflexion der Studie schließlich besonders deutlich hervor, etwa wenn die »moderne Forderung der Einheit von Autor und Werk«, die an sich schon erläuterungsbedürftig wäre, umstandslos mit dem systemtheoretischen Begriff der »autopoesis [sic]« gleichgesetzt wird (S. 112). So zeugen Schaunigs Beobachtungen zur Nähe von Musils literarischer Praxis zu (s)einem ›militärischen Geist‹ zwar von einem nicht von akademischen Routinen verstellten Zugriff auf den Gegenstand, erweisen sich aber – auch aufgrund der kaum vorhandenen Rückbindung an die aktuelle Forschung – in ihrer Direktheit als nur eingeschränkt valide; etwa mit einem Seitenblick auf den Mann ohne Eigenschaften: »Musil selbst entfernt sich als Autor in dieser Beziehung [i. e. der Suche nach ›Ordnung‹ im Bereich einer umfassenden Anthropologie, H. G.] nicht weit von der von ihm ausgesprochen sympathisch gezeichneten Figur des Generals Stumm von Bordwehr [. . .].« (S. 41) Was daraus folgen soll, mutet dann beinahe abenteuerlich an: Musil sei, so Schaunig, auch als Romancier »ein Autor im Dienst eines po52

Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion [frz. 1994], in: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Aus dem Französischen v. Hella Beister. Frankfurt a. M. 1998, S. 75– 83, hier S. 79. Wenn bei Schaunig im Übrigen von einem »habituell eindeutig vorprogrammierten Weg« (S. 35) die Rede ist, hat es den Anschein, als habe die Autorin grundlegende Voraussetzungen und Annahmen des Bourdieu’schen Habitus-Konzepts nicht zur Kenntnis genommen.

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sitivistischen [!] Dichtungsbegriffs« gewesen und habe »sein Werk quasi in ›Uniform‹, der Uniform eines Gelehrten, eines Beamten und Staatsdieners, geschrieben.« (S. 41) Als störend fallen bei der Lektüre einige gröbere Verschreibungen und sachliche Fehler auf, etwa wenn der Erste mit dem Zweiten Weltkrieg vertauscht (S. 16), der angebliche Referenztheoretiker der Studie wiederholt als Pierre »Bourdeau[ ]« apostrophiert (S. 13, Anm. 16; S. 35; S. 40) oder Franz Grillparzer gemeinsam mit »Joseph Roth, Franz Werfel, Stephan [!] Zweig« zu jenen Autoren gerechnet wird, die »das Scheitern des Ersten Weltkriegs« literarisch kommentiert hätten (S. 10).53 Darüber hinaus wird kaum klar, warum die beiden forschungshistorisch wichtigen und verdienstvollen Aufsätze von Karl Corino, die in literaturwissenschaftlichen Periodika leicht zugänglich sind,54 in diesem Band noch einmal – unkommentiert und nicht aktualisiert – abgedruckt wurden. Hier wäre wohl eine Erweiterung und Vertiefung des schon in der vorliegenden Form hilfreichen Forschungsberichts (vgl. S. 93–96) der Sache dienlicher gewesen. Als Anstoß zu einer erneuten und umfassenderen Debatte über den Status jener Texte, die im Rahmen von Musils redaktioneller Tätigkeit für die Soldaten-Zeitung und die Heimat entstanden sind, wird Schaunigs Monographie und ihre umfangreiche Textsammlung vermutlich gute Dienste leisten. Auch werden viele bisher nur in Faksimiles bzw. in einzelnen Bibliotheken zugängliche Texte aus der Soldaten-Zeitung hier erstmals in einem – im Übrigen ansprechend gestalteten – gedruckten Band zusammengefasst und zur Diskussion gestellt, was jedenfalls als Verdienst dieser Publikation genannt werden kann. Schaunigs Plan, die »recht zurückhaltende Zuschreibungsdiskussion einiger weniger Forscher in Bezug auf Musils Beiträge in den beiden Soldatenzeitungen« neu anzuregen und auf eine breitere Basis zu stellen (S. 93), ist jedoch nur dann zu unterstützen, wenn sich zukünftige Bemühungen nicht in der Frage erschöpfen, ob eine biographische Person »Robert Musil« diesen oder jenen Text verfasst hat, ohne dabei die Praxis einer Textproduktion unter spezifischen institutionellen Bedingungen genauer in den Blick zu nehmen (was die Zurechnung einzelner Texte zu einem Musil’schen ›Gesamtwerk‹ im Grunde obsolet macht). Will die Musil-Forschung mit dem literaturtheoretischen Niveau benachbarter Autorenphilologien Schritt halten – wofür etwa Christoph Hoffmanns Arbeiten zu Gottfried Benns medizinischen Schriften als Vorbild dienen können –, darf das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen oder geschrieben sein. Ohne konzise 53 54

Auch dass das Musil-Forum im Literaturverzeichnis mit den Musil-Studien verwechselt wird (S. 367), erfreut den Rezensenten nur eingeschränkt. Es handelt sich dabei um die folgenden beiden Texte: Karl Corino: Robert Musil, Aus der Geschichte eines Regiments, in: Studi germanici 11 (1973), S. 109–115; ders.: Profil einer Soldatenzeitung aus dem Ersten Weltkrieg, Heimat, und ihres Herausgebers Robert Musil, in: Musil-Forum 13/14 (1987/1988), S. 74–87.

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Interpretationsmodelle ist dieser biographisch, historisch wie editionsphilologisch komplexe Fall nicht hinreichend zu ergründen. Harald Gschwandtner

Corinna Sigmund: Schreibbegehren. Begehrenssubjekte, Begehrenstexte und skripturale Lebensform. Berlin: Parodos 2014. 390 S. € 45,–. Obgleich als akademische Qualifikationsschrift angelegt, überschreitet das Buch auch im Hinblick auf die immer weiter ausdifferenzierte Schreib(prozess)forschung furios die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und Gattungen und gibt einen anregenden Einblick in philosophische, psychoanalytische und literarische Entwürfe der existenziellen Verbindung von Schreiben und Leben. Am Ausgangspunkt kann und muss dabei eine Würdigung der bahnbrechenden Arbeiten von Roland Barthes stehen, der nicht zuletzt mit seiner programmatischen Wendung zum literarischen Schreiben und der entsprechenden Vorlesungsreihe zur Vorbereitung des Romans als Erster das ›Schreibenwollen‹ als »Haltung, Trieb, Begehren« bestimmt hat, das gleichermaßen »wenig erforscht, schlecht definiert« und »schwer einzuordnen« sei.55 In dem Maß, wie mit der Vorlesung zugleich auch der »Wandel in der Lebenspraxis« hätte erfolgen sollen, der durch Barthes’ Unfalltod verhindert wurde, ist auch im Kontext seiner vorigen Schreibarbeiten bereits die Ausübung von Schreibpraktiken und deren Verhinderung konzipiert, die als Realisation eines unmöglichen Begehrens im Verlauf der umfangreichen Studie konturiert werden soll. Ein erstes Ziel ist dabei die »Offenlegung der Struktur eines verrückten Begehrens«, hier noch Barthes’, »das sich an der Nahtstelle zwischen Leben und Schreiben abspielte, und autodestruktive wie unproduktive Effekte hervorrief« (S. 12), wie sie gleichermaßen für andere (alle?) ähnlich gelagerten Schreibsituationen konstatiert werden können. In diese Betrachtung bezieht die Verfasserin gleich zu Beginn die eigene »Arbeit« mit ein, die »der Sabotage durch das eigene Schreibbegehren nicht entgangen« sei: Als Dissertationsprojekt begonnen, vielmehr »ausgedacht, geträumt und phantasiert«, hätte sie eigentlich »ein exemplarisches Register von Texten« geben sollen, »die von dem Begehren, zu schreiben, handeln und dabei über sich hinausweisen auf eine anders mögliche, parallele Daseinsform ihrer selbst« (S. 12). Als eine »Phänomenologie des Schreibbegehrens« hätte »das geträumte Buch« zugleich auch von »den Verfassern dieser nur in Stücken in die Wirklichkeit gehobenen Texte« handeln müssen, »von ihrer Schreibpraxis und ihrer auf das Schreiben bezogenen Lebensweise«, und 55

Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–79 u. 1979–80. Hg. v. Éric Marty. Frankfurt a. M. 2008, S. 39.

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zwar »über die Epochen und Gattungen hinweg« (S. 12). Das Ergebnis wäre eine Enzyklopädie der Gegenstände, Umstände, Bedingungen und Produkte eines solchen globalen Schreibbegehrens gewesen, das ja nicht nur die Menge der real Schreibenden und ihre Texte, sondern auch all die verhinderten oder sabotierten Projekte und entsprechend auch alle Nicht-Schreibenden einschließen müsste. In der Erfassung aller wirklichen, möglichen und denkbaren Schreibprozesse mitsamt ihren (auch bruchstückhaften, unvollständigen, nicht vorhandenen) Produkten hätte es also kaum weniger als die ganze Welt des Schreibens und Nicht-Schreibens registriert, als eigentliches Buch der Bücher, noch der ungeschriebenen. Entsprechend ist der Verweis auf die Doppelstruktur des vorliegenden Werkes – einschließlich des hier angezeigten – als das geschriebene und zugleich als Stellvertreter des nicht-zu-schreibenden tatsächlich erhellend und der Vorschlag interessant, auch den vorgelegten Text »mit doppeltem Blick zu lesen«, als Verhandlung eines »Themas« wie »als Fallstudie des Schreibbegehrens selbst« (S. 12). Dem Verdacht der Hybris mag hier schon entgegnet werden, dass ohne ein solch weltumspannendes Denkprojekt auch keine real vollendete Dissertation zustande kommt. Sie ist auch dem veröffentlichten Buch noch abzulesen, das mit ruhiger Selbstverständlichkeit fünf gewichtige Theorie-Kapitel um ebenso viele, deutlich schmälere, der Lektüre ergänzt und dabei unter anderem Texte und Konzepte von Platon, Aristoteles, Hegel, Heidegger, Lacan versus Proust, Gide, Musil, Woolf, Char und Waterhouse durchmisst. Wie diese beiden ungleichen Teile zusammenhängen, ist nicht von vornherein ersichtlich, und es bedarf schon des Vertrauens in Konzept und Verfasserin, auch der Geduld für die teils minutiöse Erläuterung begrifflicher Details und für einen solch langen Weg zur Literatur, den man zudem beim Lesen mit unterschiedlichem Tempo und Aufwand zurücklegt. So sind die beiden vorangestellten eigenen Entwürfe eines »Schreibmodells« und eines »Subjektmodells« noch vergleichsweise eingängig, wenn mit den griechischen Begriffen »zoë«, »bios« und »dynamis« drei »Stufen« oder »Ebenen« schematisiert werden. Letztere – mit (1) nummeriert – wäre »ein Schreiben, das einen materiellen, geschriebenen Text produziert«, französisch: »écrit du désir«, an zweiter Stelle (2) stünde »ein noch nicht materialisiertes Schreiben, das sich und seinen Text imaginiert«, die 1. Stufe (3) steht »für die Idee eines primitiven, nicht-reflexiven Schreibens«, im Schaubild selbst »Fötales/Natales Schreiben« genannt (S. 25). Abgesehen von der unterschiedlichen Zählung in Schema und Liste, die insofern nicht trivial ist, als offenbar eine Hierarchie mit-gemeint bzw. durch eine solche Anordnung zur Klimax zwangsläufig suggeriert wird, erschweren auch die französischen Bezeichnungen das Verständnis der Unterscheidung: Erst auf Stufe 3 (1) ist vom »écrit« die Rede, in beiden anderen Fällen von der »écriture«, beides ist aber synonym als »ein Schreiben« übersetzt. Eine solche Ungenauigkeit bei der Benennung der Instrumentarien künftiger Analyse hat schon deshalb erhebliche Aus-

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wirkungen auf alles Weitere, weil »écriture« im Anschluss an Barthes in der Regel als »Schreibweise« übersetzt wird – und dabei bereits bei ihm (historisch) unterschiedliche Bereiche abdeckt. Während der ›frühe‹ Barthes das Wort noch zur Bezeichnung des untrennbaren Ineinanders von Stil und Haltung oder Engagement nutzt, sind seine unlängst vielfach wiederentdeckten Variations sur l’écriture von 1973 vor allem den materiellen Aspekten der (Hand-)Schrift gewidmet. Zudem ist es wiederum gerade Barthes, der das »intransitive Schreiben« als Erster in den Blick genommen hat, das als körperliche Geste zwar Grapheme, aber nicht notwendig lesbare Schrift produziert und in seiner leerlaufenden oder in sich geschlossenen Bewegung eben nicht mit der Produktion von Texten oder gar ›Werken‹ identifiziert werden kann. Diese Binnendifferenzierungen spielen offensichtlich für die weiteren Überlegungen und Analysen Sigmunds keine Rolle, womit aber zugleich das gesamte Projekt signifikant beschnitten ist: Zeigt das Titelbild noch mit einer Manuskriptseite Robert Musils ein prägnantes Beispiel für die Vielfältigkeit und Komplexität handschriftlicher Grapheme, zu denen hier auch mehrfarbige Striche und Strichel-Linien, Pfeile, Rahmungen, energische Durchkreuzungen und kleinteilige Überschreibungen gehören, so gibt es im Buch konsequent nur noch »Texte«, auch wenn im zitierten Modell vom »materialisierten Schreiben« die Rede war. Der Preis für diese fehlende Differenzierung ist insofern hoch, als zumal die literaturwissenschaftlichen Analysen des zweiten Teils entsprechend mit einer solchen Einschränkung zu lesen sind: Sie wollen vom Schreiben, seiner Verhinderung und ihren Spuren handeln, untersuchen aber, etwas paradox, erklärtermaßen Modi der Textproduktion. Umgekehrt gewinnt die Untersuchung durch die konsequente Verbindung des Schreibens mit einem Begehren, das in der unübersetzbaren französischen Rede vom »désir« zugleich ein Wunsch und eine Lust ist. Und entsprechend inspirierend ist es, die philosophischen Entwürfe einer solchen triebhaften, drängenden, lustvollen und quälenden Bewegung aufzusuchen und nach ihrer Affinität zu (Selbst-)Reflexionen des Schreibens zu fragen, im Anschluss an ein wiederum »dreistufiges Subjektmodell«, das »drei Subjektgeschichten« einschließt, nämlich die Entwürfe von »(i) Geist-Ich, (ii) Angst-Ich und (iii) Körper-Ich« (S. 37). So ist etwa der platonische Eros als Bote der Mittler, der erst die Verständigung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre ermöglicht; seine »daimonische Kraft«, die mit der »Macht, zu zeugen«, verbunden wird, macht evident, dass es gerade die im Symposium in Diotimas Rede nicht verhandelten Bereiche Dichtung und Recht sind, »die genuin daimonisch wirken« (S. 55). Mit dem »Willen, in stetigem Tätigsein ein dauernd Gutes hervorzubringen«, als »poiesis«, d. h. als »Schöpfungspotenz« verstanden, ist synonym zugleich die Dichtkunst benannt, so dass die wirkungsmächtige Vorstellung einer untrennbaren Verbindung von gelingendem Leben, Wille zum Hervorbringen (etwas herabgestimmter: zum Machen/poein) und dem Begehren/der

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Liebe zu Recht hier verortet wird, auch wenn Corinna Sigmund umstandslos die dem Zitat abgelesene Produktion von »Zeichen« mit »Schriftwerken« assoziiert (S. 57). Wie sich generell die westliche Philosophiegeschichte als fortlaufender Platon-Kommentar erzählen lässt, demonstriert einmal mehr die weitere Erläuterung philosophischer Konzepte des Schreibbegehrens. Die entscheidende Wendung Aristoteles’ zum Einzelding in der Kategorienlehre, d. h. zu den »Substanzen« und »einfachen Körpern« (S. 68), und der radikale Entwurf eines Begehrens/Strebens der »Körperseele«, zu deren Tätigkeiten »Verdauen und Atmen« gehören wie »Denken und Wahrnehmen«, lassen sich entsprechend lesen (S. 69), wie auch die Präzisierung des Begehrens als »Potenz« und die Verbindung »praktischer Vernünftigkeit« mit dem »guten Leben« in der Nikomachischen Ethik (S. 73). Im Anschluss an Agambens Interpretation der »Aristotelischen Begehrensmodi als potenza di non essere o di non fare« können »Schreibbegehrenstexte« einer paradoxen »Logik« des Unvermögens, aus eben jenem Vermögen selbst produziert, zugeordnet werden (S. 82). Im Diskurs der vorliegenden Arbeit wird an dieser Stelle aus Schreiben nicht nur unversehens Schrift, sondern »Werk«: Von Aristoteles ausgehen soll entsprechend ein »poietischer Diskurs, aus dem heraus sich Schreibbegehren nicht mehr als Mangel und wiederholte Verfehlung, sondern vielmehr als Verwirklichung des Werks und als Vermögen zum Werk lesen lässt«, wobei im Abschnitt zuvor, historisch präziser, noch von einem aristotelischen »Tätigsein ohne Werk« die Rede war (S. 82). Beim Lesen dieser und ähnlicher Passagen muss man sich also stets an das (nicht-geschriebene) Projekt eines Registers von Schreibbegehrenstexten erinnern, das seinen Zweck in der Verschlagwortung, Listenform und Handhabbarkeit erfüllt hätte, hier ergänzt um eher assoziativ-ausgreifende Überlegungen zur Umkreisung eines Gegenstands, der sich tatsächlich schwer fassen lässt. Entsprechend sind auch die Hegel-, Heidegger- und Lacan-Kapitel als solche doppelte Versuche der Kategorisierung und ihrer umschreibenden Ersetzung lesbar. Bei Hegel findet die Verfasserin erstaunlicherweise gleich mehrere »Materialitätsumschwünge«, allerdings im prominentesten aller Gleichnisse und symbolischen Gesten, dem Abendmahl, aber auch eine »konstruktive Anerkennungsbegierde« (S. 121) mit einer noch impliziten Verbindung von Begierde und Sprache, deren Struktur bei Heidegger freigelegt werde (vgl. ebd.). Einmal mehr gibt hier das Interesse des späten Foucault am antiken Konzept der Sorge den Anlass, die Heidegger’sche »Sorge Ethik« zu erläutern, im Hinblick auf ihre Erschließung des »poietische[n] Begehren[s] nach Sprache und nach Schrift« (ebd.). Wie häufig in gegenwärtigen Heidegger-Rückgriffen werden dabei die (auch problematischen) Implikationen dieser speziellen Ontologie weitgehend beiseite gelassen, um die zugänglicheren Begriffe von »Arbeit« und »Eigentlichkeit« nutzen zu können, die jedoch wie der Grundbegriff der »Existenz« einer solchen Reflexion be-

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dürften – sonst bleibt der Befund, dass »Heidegger die Eigentlichkeit als sprachlichen Existenzmodus und wirkliche Möglichkeit ins Zentrum seiner Philosophie rückt«, blass und gefährlich mehrdeutig (S. 128), zumal, wenn im Folgenden von »existenzieller Fixierung« und einer »existenziellen Verfassung« die Rede ist – Heideggers »Angst« ist nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit Roland Barthes’ »peur« (S. 129). Mit Lacans »désir de l’Autre«, das im doppelten Genitiv als »Begehren des Anderen« übersetzt werden kann, kommt der Aspekt des Mangels wieder in den Blick, der am Beispiel des Säuglings als im landläufigen Sinn existenziell bedrohlich erscheinen muss. Vorübergehend entfernt sich so der Argumentationsgang vom Problem des »Schreibbegehrens«, indem nun mit dem »Spiegelstadium« Aspekte der Selbstwerdung, der Bühne, des Blicks und ähnliche subjekttheoretische Fragen erörtert werden, deren Funktionalisierung für das eigene Erkenntnisinteresse nicht leicht erkennbar ist – bis zur Rückkehr zum »doppelten Imperativ des Begehrens«, der aus seiner Bindung an das Verbot des Genusses resultiert. Entsprechend kann das Schreibbegehren als »lustvoller Daseinstrost« zugleich durch seinen »tyrannischen Zug« in sein Gegenteil verkehrt werden (S. 157). Um einiges griffiger ist die erste Untersuchung solcher (literarischer) Texte, in denen Konzepte des Schreibenwollens mit Fragen der gelingenden Lebenspraxis zu einer speziellen Reflexion der schreibenden Selbstsorge verbunden werden, zumal in der Differenzierung nach Räumen wie dem »Skriptorium« (Böldl), dem »Studio« (Sollers), der »Kammer« (Rilke) und des »Hauses« (Duras) als Rückzugsorte für asketische Praktiken des Schreibens und Metaphern seiner drohenden Verhinderung. Mit einem Seitenblick auf Ingeborg Bachmanns »schönes« und »schlimmes« Buch und den Schreibplan der Todesarten wird auch die Geschlechtercodierung solcher Verortungen des Schreibens berücksichtigt (vgl. S. 191–200). Das eingefügte Schreibmaschinen-Typoskript mit Reflexionen zum Hotel stellt dann offenbar den nicht-kommentierten Versuch dar, mit anderen sprachlichen bzw. typographischen Mitteln einen anachronistisch gewordenen Ort des Transits und der geregelten Unbehaustheit einzuführen, der mit dem Vergessen assoziiert ist – am Ende des schwer leserlichen Faksimiles mit handschriftlichen Korrekturen steht die Einführung des Körpers als Schreib-Maschine (vgl. S. 19 u. 205). Die Analyse von »Schriften des Begehens« soll dann dieser unhintergehbaren Körperlichkeit des Schreibens Rechnung tragen, wobei mit der Grenze buchstäblicher und metaphorischer Rede auch die Differenzierung zwischen stofflichen Körpern und anderen aufgehoben ist. Das »Körperschema« führt neben dem »organischen Körper« des »Schreibers« auch die »Körpermaschine« des »Schreibens«, den »Textkörper« des »Geschriebenen«, den »alltäglichen Körper« der »Vita« und den »imaginären Körper« der »Vita Nova« an (S. 209). Wie wäre dann zu verstehen, dass es nun »um den TextKörper der Begehrenstexte – ihre tatsächliche und ihre imaginäre Gestalt«

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gehen soll, »sowie um das Beziehungsgeflecht dieses Textkörpers«, das »dieser mit einem je spezifischen Leben unterhält«? Was kann es heißen, dass »der Text unter dieser Verbindung leidet« (S. 209)? Literaturwissenschaftliche Konzepte des Textes/des Geschriebenen abstrahieren zudem in der Regel vom real-körperlichen seiner jeweiligen Erscheinung als handschriftliche Kritzelei auf dem Papier oder verlöschendes Lichtzeichen auf einem Computer – wenn »Körper« mehr als eine vage Metapher sein soll, wäre entsprechend zu präzisieren. Mit der ersten Kategorie »Dynamische Biographie« ist zudem ein gut erforschter Bereich des Leben-Schreibens umrissen, der solcher Instrumentarien nicht bedarf, wenn dann doch, vergleichsweise konventionell, das »Schreibbegehren mit Opusphantasie« interessiert, für das Proust, Gide und Musil mit je einem Schreibunternehmen namhaft gemacht werden (S. 215). In der Verlängerung des aristotelischen dynamis-Begriffs sollen die Texte »in ihrer Potenzialität« gelesen werden; Prousts Recherche, Gides Tagebücher und Musils »Textkomplex des MoE« werden aber bereits vorab kategorisiert als »Komplex der (autobiographischen) Selbstthematisierung innerhalb der Kategorien von am Opus orientierten Schreibbegehrenstexten« (S. 215). Mit »Opus« ist jedoch nicht nur ein geläufiges Synonym für das ›Werk‹ eingeführt, sondern im Zitat Peter von Matts, dessen Verbindung mit »Phantasie« entsprechend, »das im kreativen Prozess vorphantasierte Werk« (S. 214). Eben diese Begriffe haben aber seit von Matts 1979 verfasster Studie über den kreativen Prozess eine solch vielfältige Umdeutung, Erweiterung und Differenzierung erfahren, dass ihre umstandslose Übernahme als AnalyseInstrumente um einen entsprechenden Kommentar hätte ergänzt werden müssen: Gerade im Rahmen der Schreib(prozess)forschung wird die Konzeption eines solchen »vorphantasierten Werks« fortlaufend problematisiert und mit historischen Indices versehen, und entsprechend wäre auch die Untersuchung intransitiven Schreibens (nach Barthes) nicht ohne Weiteres als ein »werklose[s] Schreiben« zu klassifizieren (S. 215). Von welcher Perspektive aus wiederum das Schreibbegehren der Proust’schen Recherche als »Gelingen« beschrieben werden soll, bleibt auch unklar, zumal es mit »Marcels Schreibbegehren« verbunden wird, das, wie Sigmund zu Recht konstatiert, als »das uneingelöste Schreibbegehren des Protagonisten« weiterhin besteht. Ist das zugleich das »Lebenswerk von Marcel Proust«? Und will man das programmatisch unabschließbare Produkt dieses Schreibens wirklich um das intradiegetische »nicht geschriebene Meisterwerk« ergänzen, selbst wenn die Pointe besticht, dass sich so in der »Leerstelle« des »Unmittelbar-davorSeins« Anfang und Ende »des Romans verschlingen« und »eben dieses vexierspiegelhaft ins bereits schon [sic] geschriebene Meisterwerk, die Recherche, umgebogen« werde (S. 216)? Im Französischen könnte man mit dem »chef d’œuvre« andere Assoziationen als diese sicher ungewollten Konnotationen von Höchstleistungen genialer Ausnahmeschriftsteller verbinden, etwa die

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literaturhistorische Pointe, die Recherche als Variation des bei Balzac titelgebenden Themas vom »ungekannten« Haupt-Werk zu lesen, das aber in Balzacs Roman als Bild wirrer Linien von der Hand des berühmten Porträtmalers eben nicht ›ungeschrieben‹ ist. Als Roman der Prokrastination, in der »weitläufigen« Elaborierung von Marcels Schreibhemmung, im Zuge derer der Roman fortschreitet, ist er dennoch ein überzeugend eingeordnetes Beispiel für eine »Ethik zum Werk und zur schaffensorientierten Lebensform« (S. 225). Mit dem medizinischen Begriff für den (pathologischen) Aufschub anstehender Tätigkeiten ist dabei schon ein Argument des Musil-Kapitels vorweggenommen, das hier in der Gegenüberstellung der beiden Autoren evident werden soll: Während bei Proust »kein Problem des Sagens«, sondern »eine strukturelle Hürde, ein Frage der Form« die Begründung für den »Aufschub« biete, seien »Musils Schreibblockaden« im Kontext einer »metaphysischen Grenze« zu verstehen; sie hingen damit zusammen, »dass sich etwas einfach nicht sagen lässt« (S. 227). Zugleich greift die Darstellung von »Regime« und »Regeln«, sogar »einer bestimmten Schreibhygiene die sich Proust/Marcel geben oder auferlegen« (S. 249), auf die einlässliche Analyse des Schreibprojekts André Gides als »mit mannigfaltigen Mechanismen der Selbstbestrafung und Kasteiung ausgestattete neurotische Schreibhölle, die das Schreiben im Journal lindern soll«, zurück (S. 256). Mit einem etwas unschönen, aber treffenden Neologismus lassen sich für Gide dann »entwerkte Geisteszustände ohne nahmhaftes [sic] Erzeugnis« konstatieren, als »Hort«, »von dem das ungezähmte Schreiben ausgeht«, ein Schreiben, das als »Anzeige, bare Äußerung, Lebenszeichen am Rande der Schrift« situiert ist (S. 268). Die Plausibilität, das »Schreibbegehren Musils« eng mit der »Frage nach dem richtigen Leben, die im Mann ohne Eigenschaften gestellt wird«, zu verknüpfen, ist auf den knapp fünfzig Seiten des entsprechenden Kapitels schon durch das Motto eines MoE-Zitats hergestellt, das im Schreiben den Beweis für eine bestimmte Lebensführung, im geschriebenen Buch zugleich den Gegenbeweis sieht (vgl. MoE, S. 1278; Sigmund, S. 269). Corinna Sigmund zufolge hat diese zentrale Frage »auch für die Existenz Robert Musils als Frage nach ästhetischer Wahrheit zu gelten«, die etwas umwegig von ontologischer, propositionaler oder logischer Wahrheit abgegrenzt wird. Schlegel, Schiller, Adorno und Kreis werden im schnellen Durchgang auf einer halben Seite zur Erläuterung dieses Konzepts zitiert, mit dem ersten Befund, der durch die »mannigfaltigen Arbeitsstufen am MoE« evident sein soll, »dass Musil bestrebt ist, alle gedanklichen Elemente seines Großprojekts durchgängig zu verbinden (Kohärenz) und weiter, sie so zu verbinden, dass kein Widerspruch in der Gesamtkonstruktion entsteht (Konsistenz)«. Es gäbe für Musil demnach eine »Maßregel in Bezug auf den MoE sowie bezogen auf sein eigenes Leben«, bestehend in der »Forderung, dass jedes einzelne Moment zu allen anderen passe«, die freilich nicht mit Zitaten Musils, sondern

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der Theorie ästhetischer Wahrheit Guido Kreis’ erhärtet wird (S. 270). Das Dilemma, Prozesse des Schreibens immer nur retrospektiv mit einer Reihe von Annahmen, Hypothesen und mehr oder weniger gewagten Extrapolationen beschreiben zu können, teilt die Untersuchung hier mit vergleichbaren Arbeiten der Schreibforschung. Dort wird freilich aus gutem Grund mit den materiellen Spuren dieser uneinsehbaren Tätigkeit argumentiert, die in Sigmunds Dissertation zugleich benannt und ausgeblendet sind. So werden beispielsweise Zitate zur »Existenzfrage« mit dem Hinweis eröffnet, »in den Heften, die Musil parallel zu der Arbeit an seinen literarischen Texten führte«, werde »deutlich, dass der Grundimpuls zum Schreiben aus dem Drang entsteht, das alltägliche Leben nach Maßgabe des ästhetischen Blickes umzuformen« (S. 271). Wenn dieses Schreiben demnach als eines aufzufassen wäre, ist nicht klar, warum in den »Heften« nicht dieselbe »Arbeit« anzutreffen wäre wie in den »literarischen Texten«, einer gleichfalls erklärungsbedürftigen allgemeinen Formel, zumal mit Blick auf die zuvor angesprochene »literarische Ambition« Musils (S. 270). Ob es für die Schärfung des Arguments eines »Privatmanns Musil, aus dem der Schriftsteller Musil hervorgeht«, bedarf, sei dahingestellt; im vorderen Teil der Arbeit wurde das Schreibbegehren jedenfalls nicht derart konventionell eingehegt (S. 271). Dass »das Schreiben am MoE Musils Existenz eine sinnhafte Ordnung verleihen [soll]«, »der MoE dazu selbst schon die Autonomie einer sinnhaften Ordnung besitzen [müsste]«, sind unmittelbar einleuchtende Grundannahmen, bei denen aber wiederum zu fragen wäre, wo dieses ›Schreiben am‹ beginnt und endet. Völlig zu Recht konstatiert Sigmund entsprechend, die Anlage des Tagebuchs mit dem expliziten Ziel, es solle »nach vier Jahren der Zersplitterung mir Gelegenheit geben, jene Linie geistiger Entwicklung wieder zu finden, die ich für die meine halte«,56 gäbe dem Mann ohne Eigenschaften »nur einen weiteren Auslagerungsort, einen neuen Hort der Dispersion«; fraglich bleibt aber, ob deren Zweck so als »eine neue stilistische Einheit, vor allem von Musils Hauptwerk« gefasst werden kann (S. 273). Erst recht ist die Unterscheidung nach »einem fiktionalen Schreiben und einem privaten Schreiben« überaus fragwürdig, und die globale Zweiteilung der Schreibprojekte in den Mann ohne Eigenschaften als einem »work in progress« und andere »Biographieprojekte« kann nicht überzeugen, wenn der Anspruch des Mann ohne Eigenschaften auf eine »objektivierte, panoramische Darstellung« mit seiner Nobilitierung zum »Jahrhundertroman« einhergeht – einer Etikettierung aus der Verlagswerbung, die hier wie das »Meisterwerk« bei Proust falschen Assoziationen Vorschub leistet (S. 273). Man möchte die Verfasserin hier an die Radikalität ihrer terminologischen Entscheidungen im ersten Teil der Arbeit erinnern, die nun für die Konzeption eines Schreibprozesses, der eben nicht nach solchen Vorab-Gliederungen 56

KA/Transkriptionen/Heft 11/1.

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verläuft, hätte genutzt werden können – zumal die eindrucksvollen Passagen zur »Schreibhemmung« und zur »skripturalen Existenz« (S. 276 f.) dann eine andere Wucht entfalten könnten. Wenn das »Begehren nach dem anderen Leben und dem totalen Schreiben, dem Musil mit dem MoE asymptotisch gefolgt ist«, als Entwurf der »existenzielle[n] Utopie einer skripturalen Lebensform« gelesen wird (S. 277), kann die Verfasserin an Constanze Breuers Arbeit über die Hefte als »Werk neben dem Werk«57 anknüpfen; die Musil-Forschung wird ansonsten, wie insgesamt literaturwissenschaftliche Literatur, nur punktuell zitiert, die Standard-Literatur zur »Genealogie des Schreibens« (Stingelin), seiner Geschichte und Theorie, bis auf Rüdiger Campes grundlegenden Beitrag zur »Schreibszene«, überhaupt nicht. In der eher essayistisch verfassten, tastenden, den Gegenstand vorsichtig umkreisenden Schreibweise des Musil-Kapitels gelangt die Verfasserin so zu Einsichten, die bekannte Themen der Musil-Forschungsdiskussion variieren, etwa wenn es um »Figuren der Möglichkeit« (S. 278), »Unsagbares und Schreibbegehren« (S. 280) oder die »Denkfigur« des »andere[n] Zustand[s]« geht, für die einmal mehr das Kapitel »Atemzüge eines Sommertags« analysiert wird, dem auch in Inka Mülder-Bachs großer Studie zum Mann ohne Eigenschaften entscheidende Bedeutung zukommt.58 Mit Frisé geht die Verfasserin dabei davon aus, dass sich »keine der vier Fassungen als letztgültige bezeichnen lässt«, denn »die vielen Umarbeitungen gerade dieses Kapitels bezeugen eher eine Arbeit der Gedankenverfertigung, die nicht zum Abschluss kommt, als eine Grenzmarke von Musils Arbeit«, so dass sie »nebeneinander« zu lesen sind (S. 285). Angezeigt ist damit aber nicht die Sisyphos-Arbeit eines synoptischen Vergleichs, sondern eine konzentrierte Parallel-Lektüre, die im Sinn der Grundthesen des Buchs versucht, das doppelt Fragmentarische dieses Kapitels (als Fragment und Teil des RomanFragments) ins Verhältnis zur »Konstellation Schreibbegehren – anderer Zustand als relative Einheit« zu fassen (S. 286). Das Gespräch der Geschwister Agathe und Ulrich wird so fokussiert auf die »Frage nach der Beschaffenheit und möglichen Lebbarkeit ihrer besonderen Verbindung«, wobei besonders die »Liebe der Mystiker« und die »zwei Arten, leidenschaftlich zu leben«, jeweils nach Ulrichs Ausführungen über die Textgrenzen der einzelnen Fassungen hinweg betrachtet werden (S. 286). Die Verhandlung von »Askese« und einer »werkabgewandte[n] Haltung« (auch Agathes) mündet demnach in die »Poetik einer ästhetischen Lebenspraxis, die jede Werk- und Regelpoetik sprengt«, die letztlich nur als Utopie zu haben ist, eine Chiffre für »Musils eigenen Anspruch an das Projekt MoE: Gleichzeitig Werk und gleichzeitig das Gegenteil eines Werks« (S. 288). Die 57 58

Vgl. Constanze Breuer: Werk neben dem Werk. Tagebuch und Autobiographie bei Robert Musil. Hildesheim 2009. Vgl. Inka Mülder-Bach: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 223–244.

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anschließenden Ausführungen zur »unmittelbaren Erfahrung«, immer noch auf die vier Versionen des »Atemzüge«-Kapitels bezogen, machen dann deutlich, dass das Erkenntnisinteresse der Verfasserin primär ein philosophisches ist. So wird im Folgenden begriffliches Wissen als propositionales Wissen (wie es auch Musil in den »Atemzüge«-Varianten II und III thematisiert) von anderen Modi und Traditionen der Erkenntnis wie Mantik und Magie unterschieden (vgl. S. 290 f.) und der Wahrheitsanspruch des Textes in den Kontext »schreibbegehrender Texte« gestellt, die sich als »Sonderfall von poetischen Experimenten« stets »nur in sich selbst, als ihre eigene Versuchsanordnung und -durchführung, als gelungen erfüllen können« (S. 295). Musils Roman führe demnach die Sprache an ihre Grenze, sie werde, wie die poetische Sprache Celans, »dunkel«, aber »nicht unklar, sondern übervoll«: »Die Sprache spricht dann nicht nur im Schatten ihrer unabstreifbaren Zeichenhaftigkeit, und somit verdunkelt von einer letzten Vergeblichkeit, sie sagt auch gerade das, was sie nicht sagen kann« (S. 297). Deshalb seien für die »Atemzüge«Entwürfe das bildhafte Denken und Sprechen so wichtig, dem die Verfasserin einige erhellende und in ihrer allgemeinen Formulierung auch unabweisbare Überlegungen widmet (vgl. S. 297–299). Ulrichs »Losungswort«, der »andere Zustand«, wird schließlich in den folgenden Ausführungen zur »Chiffre« als Effekt von »behelfsweisen Verschiebungen« zugleich als »Ausweichmanöver« gelesen, mit dem sich Musil der »Darstellungsnot« entzogen habe. So biete gerade das »Atemzüge«-Kapitel eine »Hypostasierung und Anhäufung von Chiffren, die ihrerseits wieder enträtselt werden wollen«, das Gemeinte »[zeigt] sich lediglich als das durchsichtige Moment seines Chifferngefüges« (S. 301). Nicht zuletzt seien die Entwürfe auch im Horizont tradierter MystikKonzepte und im Anschluss an Agamben und Sloterdijk als »Exempel einer modernen Mystik« zu lesen, das Romanprojekt Musils wäre so als »Protokoll eines solchen transzendentalen Vorfalls [›an der Front der Transzendenz‹, Sloterdijk] lesbar, dessen Unvollendetheit dann keinen ästhetischen Mangel darstellte, sondern in dem sich die notwendige Bedingung der revelatio continua manifestierte«, denn: »Offenbarung ist Prozess« (S. 310). Auch wenn das große Kapitel zum »Leben schreiben« mit seinen interessanten Überlegungen zur Wellenstruktur von Virginia Woolfs Waves, zu Deleuzes und Bergsons Begriff der »immanence«, zum Diktat-Projekt der koreanischen Autorin Theresa Hak Kyung Cha und zu Peter Waterhouses (Krieg und Welt) noch eine eigene Würdigung verdienen würde, macht das Buch in jedem Kapitel und in seiner Gesamtheit die Reichweite des Projekts und seine Grenzen deutlich. Die denkbar weit gefasste Verbindung von Schreiben, Begehren und Lebensform philosophiehistorisch zu rekonstruieren und in berühmten wie weniger bekannten großen Schreibprojekten der Moderne und der Gegenwart aufzusuchen, ist für verschiedene Lektüren und Lektüremodi inspirierend und erhellend, der Grad an Abstraktion oder Verallgemeinerung bei der Formulierung weitreichender Befunde macht es

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jedoch schwer, den je einzelnen Text – oder gar das je einzelne ›Schreiben‹, wie immer es zu erfassen wäre – entsprechend neu konturiert zu sehen. Auf eine wiederum interessante Weise verschwimmen so auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Autoren und werden die Grenzen von Texten oder »Werken« verwischt, womit das Buch auch als realisiertes ein Versprechen des ihm zugrundeliegenden Schreibprojekts mehr als einlöst. Cornelia Ortlieb

Sören Stange: Unentscheidbarkeiten. Zum Nicht-Wissen in Literatur und Naturwissenschaft um 1928. Paderborn: Wilhelm Fink 2014. 287 S. € 35,90. Die vorliegende Monographie, die Sören Stange unter dem Mentorat von Robert Stockhammer 2012/2013 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation vorgelegt hat, richtet den Fokus auf »Unentscheidbarkeiten«, wie sie sich in modernetypischer Weise in ganz unterschiedlichen Bereichen des Wissens niedergeschlagen haben sollen. Den Ausgangspunkt dieser knapp 300-seitigen literaturwissenschaftlichen Arbeit, deren Kapitel man nach Auskunft des Verfassers in beliebiger Reihenfolge konsumieren kann (vgl. S. 33), bildet somit ein einerseits höchst vages, andererseits irritierend präzise datiertes Phänomen. Denn die Leitthese der Studie besagt, dass in mathematischen, physikalischen, psychologischen bzw. psychoanalytischen und literarischen Texten, die um das Jahr 1928 herum entstanden sind, in »strukturanaloger« (S. 33) Weise und signifikanter Häufung (vgl. S. 33, 263 u. ö.) »Nicht-Wissen« in ein »nicht-defizitäre[s] Nicht-WissenKönnen« (S. 12) transformiert werde. Im Unterschied zu einem temporären Noch-Nicht-Wissen, dessen »Auflösung antezipierbar [sic]« (S. 55) sei, wird das prinzipielle Nicht-Wissen-Können von Stange mit »Unentscheidbarkeit« identifiziert, wobei der Verfasser den Ausdruck mal im Singular und mal wie im Titel im Plural relativ großzügig verwendet – und durchgehend offen lässt, ob Unentscheidbarkeit im engeren logisch-informatischen oder in einem weiteren epistemischen Sinne, etwa als Unbestimmbarkeit, Unschärfe, Mehrdeutigkeit, Undeutbarkeit oder als Unmöglichkeit begründeter Entscheidungen zu denken ist. Doch von diesen systematischen Vagheiten zunächst abgesehen, besteht das Ziel der Studie darin, in »Unentscheidbarkeits-Strukturen« (S. 235) »eine markante Gemeinsamkeit einiger literarischer und mathematisch-naturwissenschaftlicher Texte« (S. 12) aufzuzeigen, also, wie es an anderer Stelle poetischer heißt, zirkulierende59 »Wiedergänger« 59

Vgl. dazu den klugen Beitrag von Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen, in: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin, New York 2011, S. 77–115.

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der mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissenskultur in der literarischen (Wissens-)Kultur zu entdecken (S. 235) – und vice versa. Warum der Verfasser die überkommene binäre Gegenüberstellung der two cultures so emphatisch affirmiert, wird erst am Ende der Untersuchung klar; ich komme darauf zurück. Hier ist zunächst nur anzumerken, dass aufgrund des Ansatzes einmal mehr die Mathematik mit den Naturwissenschaften verrechnet, die Psychoanalyse den Naturwissenschaften zugeschlagen wird und die Sozialwissenschaften durchs Raster fallen, die doch durch ihre statistischen Modellbildungen dem Bild der Unentscheidbarkeitsverhandlungen der 1920er Jahre eine wesentliche Facette hinzugefügt hätten. In sechs Durchführungskapiteln identifiziert Stange zu sieben Texten »fünf Unentscheidbarkeitsformationen« (S. 231) – und zwar am Beispiel von David Hilberts Über das Unendliche (1926), Kurt Gödels Über formal unentscheidbare Sätze der »Principia Mathematica« und verwandter Systeme I (1931), Werner Heisenbergs Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik (1927), Sigmund Freuds Symptom und Angst (1926), Franz Kafkas Das Schloß (1926), Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932) und Hermann Brochs Die Unbekannte Größe (1931). Die Einzeltextanalysen, die weitgehend immanent bleiben, jedenfalls so gut wie keine wissenschaftshistorische und -philosophische Fachliteratur konsultieren, arbeiten »Unentscheidbarkeits-Inszenierungen« (S. 239) heraus, die sich »je nachdem, was die Objektursache des nicht-defizitären NichtWissen-Könnens ist« (S. 231), voneinander unterscheiden lassen. In allen Fällen aber soll demonstriert werden, wie »in sprachlichen Zusammenhängen Nicht-Wissens-Formen auf spezifische Weise per-formiert, von einer Form in eine andere trans-formiert oder auch de-formiert« und »textuell organisiert« (S. 27) werden. Die Textauswahl folgt dieser Suchoptik und ist daher tendenziell zirkulär: Stange konzentriert sich ausschließlich auf Texte aus der Zeit um 1928, die sich durch die in seiner Leitthese als zeittypisch behaupteten Eigenschaften auszeichnen.60 Die konstatierte »Spezifik der Konfiguration um 1928« (S. 263) wird im Epilog der Studie zwar zurückgenommen; nach Gegenbeispielen aber wird nicht gefahndet, andere historische Konstellationen nicht geprüft, so dass die Untersuchung ganz grundsätzlich auf eine sich am Einzelfall bewährende Evidenzstiftung angewiesen ist, die zudem, wie der Verfasser selbst einräumt, nicht als ›Ergebnis‹, sondern nur im Rahmen prozessualer Lektüren mit Geltungsansprüchen versehen ist (vgl. S. 145). 60

Immerhin verhindert die synchrone Anlage der Untersuchung anachronistische Vorläuferthesen, wie diese noch an anderer Stelle zu lesen sind, vgl. Sören Stange: Vor-Augen-Entstellen. Ästhetische Korrespondenzen zwischen der quantenmechanischen Naturdarstellung 1925/ 1926 und Kafkas Die Verwandlung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), H. 1, S. 46–71, hier S. 70: »Bestimmte ›Schwierigkeiten‹, welche die ›Gründungsväter‹ der Quantentheorie beschäftigten, waren in gewisser Hinsicht tatsächlich zuvor schon in der Literatur ›angegangen‹ worden.«

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In seinem ersten Beispiel diagnostiziert Stange eine Unentscheidbarkeit, die auf einer »wesentliche[n] Inkonsistenz des infrage stehenden Sachverhalts« beruhe (S. 231), insofern Gödel beweisen konnte, dass Hilberts Hoffnung auf die Auflösung der grundlagentheoretischen Probleme der Mathematik durch einen mit finiten Methoden geführten Nachweis der Widerspruchsfreiheit der Arithmetik trügt. Auch die Mathematik sieht sich folglich trotz ihrer Wahrheitsgewissheit Unentscheidbarkeitssituationen ausgesetzt. Analoges meint Stange in Heisenbergs Versuch wahrzunehmen, die unanschauliche Abstraktheit der Quantentheorie durch den Verweis auf andere Formen der Anschaulichkeit als auflösbares Nicht-Wissen zu qualifizieren (vgl. S. 79) und zugleich die prinzipielle ›Unschärfe‹ quantenphysikalischer Messungen – in der Arbeit etwas freihändig mit »sprachliche[n] Unschärfen« (S. 89) korreliert – als Unentscheidbarkeit darzustellen. Dass es in der Mathematik um ›Beweise‹, also um ein sicheres Wissen des Nicht-WissenKönnens, in den Naturwissenschaften (wie auch in den Sozialwissenschaften) aber um Theorien geht, die sich empirisch erst noch bewähren oder aber falsifiziert werden müssen, dass also prinzipielles Nicht-Wissen-Können und temporäres Noch-Nicht-Wissen in beiden Wissenskulturen einen wissenschaftstheoretisch ganz unterschiedlichen Status haben, scheint dabei nach Meinung des Verfassers ein Oberflächenphänomen zu sein. Als unerheblich müssen wohl auch die teilweise unscharfen Ergebnisse des close reading gelten. Nur ein Beispiel unter vielen: Wie verträgt sich Heisenbergs These zur »Ungültigkeit des Kausalgesetzes« für »alle Experimente« (zit. auf S. 94; Herv. A. A.) mit dem angeblichen Ziel des Physikers, die »quantentheoretische Problematik als physikalische Anomalie zu positionieren« (S. 93)? Man hätte sich nicht nur im Kontext der Heisenberg-Exegese gewünscht, dass Stange die Expertise von Wissenschaftshistorikern und -philosophen nicht von vornherein als für die literaturwissenschaftliche Perspektive unerheblich abgetan (vgl. S. 21, auch S. 69) und sich stattdessen Rat eingeholt hätte. So hätte man beispielsweise vermeiden können, dass die Datierung von Hilberts Ignorabimus-Allusion nicht gut 20 Jahre zu spät ausfällt (vgl. S. 37). Zudem wären mathematikhistorisch absurde Sätze wie der, dass Hilbert um einen »streng finite[n] metamathematische[n] Widerspruchsnachweis der Arithmetik« (S. 59) gerungen hätte, ausgeblieben; ebenso vermeidbar wäre gewesen, den Formalismus Hilberts statt als Begründungsnorm als Darstellungsnorm zu werten – und folglich über »nicht-formalsprachliche[ ] Ausdrücke« in seinen Texten überrascht zu sein (S. 58). Und man hätte womöglich durch einen Dialog mit den anderen Disziplinen vermieden, den Leser in den Fußnoten immer wieder auf anachronistische Definitionen aus aktuellen mathematischen und physikalischen Lexika (vgl. S. 38, 43 u. ö.) zu verweisen, die mit dem Wortgebrauch um 1928 leider wenig zu tun haben und wissenschaftliche Sachkenntnisse nicht ersetzen können. Bedauerlicher als diese Petitessen aber ist, dass die isolierende Lektürepraxis und die Fixierung auf die Zeit um

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1928 dazu führen, dass Stange wesentliche Pointen seines Themas entgehen. Nur ein Beispiel: Dass es sich bei Heisenbergs Unschärfe um eine physikalische Gesetzmäßigkeit handelt, also um ein »nicht-defizitäres Nicht-wissenkönnen«, wird bekanntlich von Einstein, Podolsky und Rosen bereits 1935 angezweifelt, was eine der interessantesten Grundlagendebatten der Physik des 20. Jahrhunderts auslöst. Der wissenschaftshistorische Teil der Untersuchung schließt mit einer Lektüre zu Freud, bei dem Stange eine im psychischen Gegenstandsbereich angelegte Kompliziertheit beobachtet, die sich trotz wiederholter Auflösungsversuche letztlich als irreduzibel erweise und zu einer metapsychologischen Reflexion über Einzel- und Regelfall führe. Die Fokussierung des Einzelfalls bildet den Übergang zur Literatur: Stange stellt fest, dass Kafka im Schloß vielfältige Unentscheidbarkeitsformationen sowohl auf figuraler als auch auf narrativer Ebene inszeniere, was entsprechende Implikationen für die Rezeption habe. In einem eklektischen Rückgriff auf die Kafka-Forschung kann Stange so nachvollziehen, wie es in Kafkas Roman wiederholt zu einem autoreflexiven Ausagieren der Interpretationsproblematik komme – ein Prozess, in dem Kompliziertheiten und Inkonsistenzen zu Undeutbarkeit, ergo Unentscheidbarkeit führen. Bei Musil wie bei Broch bilden Erwägungen zur Unterbestimmtheit des Titels den Ausgangspunkt der weitgehend dekonstruktivistisch angelegten Auseinandersetzung, die in der Folge in punktuell bleibenden Bezugnahmen auf ausgewählte Romanpassagen die zuvor eingeführten, nun formelhaft abrufbaren Nicht-Wissens-Formationen konstatieren kann. Resümierend lassen sich so fünf Strategien »sprachlich-diskursive[r] Nicht-Wissens-Politik« unterscheiden: »eine wesentliche Inkonsistenz des infrage stehenden Sachverhalts, eine unauflösbare Kompliziertheit des infrage stehenden Sachverhalts, eine unvermeidliche Unbeobachtetheit und gleichzeitige Instabilität des infrage stehenden Sachverhalts, eine singuläre Kontingenz des infrage stehenden Sachverhalts oder eine irreduzible Unvollständigkeit der Grundlagen zur Beurteilung eines infrage stehenden Sachverhalts.« (S. 231) In so abstrakter Allgemeinheit genommen, lassen sich diese Strategien allerdings zu nahezu allen Zeiten finden: Zu denken wäre etwa an die aporetisch endenden Platonischen Dialoge, an die scholastischen Erwägungen zur Gotteserkenntnis oder an die kantischen Antinomien. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, doch dies ist wohl der Preis für einen (zu) hohen Generalisierungsgrad. Das letzte Kapitel der Studie, in dem die Beobachtungen zu einer »NichtWissens-Politik um 1928« gebündelt werden, führt am Leitfaden der Rezeption von Du Bois-Reymonds Rede vom ›Ignorabimus‹ erneut durch einige Stationen der zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Debatten. Aus wissenschaftshistorischer Sicht war das Plädoyer des Physiologen ein Schritt in einem für die Moderne typischen Prozess fortgesetzter Metaphysikkritik, die zum einen zu einer Limitierung der Bereiche wissenschaftlichen Wissens

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(wenn man so will: zu einer Expansion des wissenschaftlich Unentscheidbaren) geführt hat, zum anderen aber mit einem deutlichen Fortschrittsoptimismus und gesteigerten Vertrauen auf die wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit innerhalb der gesteckten Grenzen einherging. ›Annulliert‹ (vgl. S. 243) wurde dabei nicht das ›Unentscheidbare‹ an sich; bestimmte Problemkomplexe wurden nur den Wissenschaften entzogen und im Umkehrschluss der Religion, Ethik, Politik und Ästhetik zugewiesen. Max Webers Antwort auf die Frage: »was leistet denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche ›Leben‹?« fiel dementsprechend skeptisch aus: Wissenschaft sei in der Moderne »ein fachlich betriebener ›Beruf‹ [. . .] im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern [und] Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt [. . .].«61 Auf der Suche nach Gründen, warum sich die um 1928 ubiquitären Unentscheidbarkeitsinszenierungen in ihrer Relevanz für »verschiedene Lebensprobleme« (S. 253) bislang noch nicht ausgewirkt haben, schließt Stange – anders als Weber – an die dichotomische Gegenüberstellungen der zwei Kulturen an: In der »Kultur der mathematisch-naturwissenschaftlich Gebildeten« diagnostiziert er einen »Wille[n] zum Ausschluss des Ignorabimus [. . .], der sich in einer Politik der Reduktion von Nicht-Wissen auf Noch-Nicht-Wissen manifestierte und damit gleichzeitig einer eingehenden Würdigung nicht-defizitären Nicht-Wissen-Könnens auf fundamentale Weise entgegenarbeitete« (S. 244). Entsprechendes sieht er auch in der Philosophie, allen voran bei den Logischen Empiristen am Werk, die, so bedauert Stange, nicht bereit waren, die Heisenberg’sche Unschärferelation und Gödels Unvollständigkeitstheorem auf Bereiche jenseits der Grenzen des mikrophysikalischen beziehungsweise mathematisch-logischen Anwendungsbereichs zu übertragen – vermeintliche Symptome dafür, dass ausgreifendere Erwägungen zur Unentscheidbarkeit von den Wissenschaftlern »schon im Ansatz hintertrieben« (S. 244) wurden. In der Allianz der ›Hintertreiber‹ finden sich schließlich – überraschenderweise Seite an Seite – auch Max Weber, Ludwig Wittgenstein und Carl Schmitt. Zwar scheint Stange weder Webers Auseinandersetzung mit der Ignorabimus-Debatte62 noch seine Zweifel gegenüber den teleologischen Fortschrittserzählungen zu kennen, doch es steht für ihn außer Frage, dass die drei die Einsicht in die prinzipiellen Unentscheidbarkeiten des Lebens »dezisionistisch verstellt« (S. 249) und auf diese Weise die »Anerkennung des Problems der Unentscheidbarkeit« (S. 253) verweigert, ja letztlich »eine 61

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Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesamtausgabe. Abt. 1: Schriften und Reden. Bd. 17. Hg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod. Tübingen 1992, S. 71–111, hier S. 105. Vgl. dazu z. B. Gerhard Wagner, Claudius Härpfer: Max Weber und die Naturwissenschaften, in: Zyklos 1 (2014), S. 169–194.

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im Kommen dagewesene gerechtere Demokratie« (S. 260) verhindert hätten. Allein die behandelten Dichter, die allerdings zu »wenig gelesen« worden seien (S. 239), um Wirkung zu entfalten, und Walter Benjamin sollen hier eine Ausnahme bilden. In seiner Besprechung von Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes attestiert Robert Musil dem Verfasser eine spezielle »Art des Denkens«: »Seien wir also generös. Spengler meint es quasi, arbeitet mit Analogien und in irgendeinem Sinne kann man da immer recht haben. [. . .] Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. [. . .] Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen.« (GW II, S. 1043 f.) Entsprechendes ließe sich »in gewissem Sinn« auch für die vorliegende Monographie von Sören Stange sagen. Andrea Albrecht

Norbert Christian Wolf: Eine Triumphpforte österreichischer Kunst. Hugo von Hofmannsthals Gründung der Salzburger Festspiele. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2014. 320 S. € 26,–. Die Salzburger Festspiele »gehören Ihrem Ursprung nach zum Todesröcheln der Donaumonarchie« und sie »gehören zur Geschichte der europäischen Kultur im 20. Jahrhundert« (S. 266). So das weitgespannte Urteil des englischen Historikers Eric Hobsbawm am Ende eben dieses 20. Jahrhunderts. Den Spannungsbogen zwischen diesen beiden Aussagen versucht das Buch von Norbert Christian Wolf auszumessen. Es verfolgt fast hundert Jahre nach dem Auftakt der Salzburger Festspiele die Entstehungsgeschichte einer heute weltweit bekannten Institution, breitet die Pläne, Programme und Zeitungskommentare der Gründungsjahre aus und geht den politischen und kulturellen Differenzen dieser Konzeptionsphase nach. Dies alles ist konzentriert um einen Mann, der für die Entstehung und die Durchführung der Festspiele von maßgebender Bedeutung war: um Hugo von Hofmannsthal. Seine beiden, die ersten Festspiele tragenden Stücke, der Jedermann und Das Salzburger Große Welttheater sind dann Gegenstand der weiteren Untersuchung. Damit widmet sich das Buch zwei Werken Hofmannsthals, die von den Zeitgenossen hochgeschätzt, aber in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte eher zugunsten des modernen Hofmannsthal vernachlässigt wurden. Die Studie verfolgt die Entstehungsgeschichte der Werke, analysiert den dramatischen Gehalt, geht auf die Aufführungspraxis ein und würdigt detailliert die unmittelbaren zeitgenössischen Zeitungsbesprechungen sowie die privaten Urteile.

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Der Aufbau des angenehm zu lesenden Buches folgt selbst der Struktur eines dramatischen Textes: Es ist in fünf Akte mit Prolog und Epilog gegliedert. Die ersten beiden entfalten die Vorgeschichte und führen auf den Höhepunkt im dritten »Akt«, auf den Jedermann, der bis heute zum Salzburger Markenzeichen geworden ist. Ein solcher Erfolg war dem Salzburger Großen Welttheater nicht beschieden, es vollzieht in der dramatischen Spannungskurve wieder eine Abwärtsbewegung, und seine im fünften Kapitel behandelte Wirkungsgeschichte, wie sie sich in den ersten Zeitungsberichten spiegelt, trägt teilweise hässliche Züge, die auf die kommende Katastrophe Europas deuten. Der Grundtenor des Buches ist – vor allem in den ersten beiden Kapiteln – ein entschieden ideologiekritischer, dem es darum geht, die ideologischen Grundlagen bloßzulegen. Die Leitfrage dazu stellt der Prolog: Es ist die Frage nach der europäisch-kosmopolitischen und pazifistischen Ausrichtung der Salzburger Festspiele, wie sie im offiziellen Programmheft 2010 zum 90. Geburtstag für die Gründungszeit behauptet wird. Dass eine solche europäischpazifistisch-weltbürgerliche Orientierung nicht das ideologische Fundament des Festspielgedankens war (vgl. S. 7), wird an den Ursprungsmanifesten deutlich. Die im ersten Kapitel untersuchten »Programmatischen Vorspiele« erkunden das Umfeld der Gründung der Salzburger Festspielhaus-Gemeinde am 1. August 1917. Diese erste Phase der späteren Festspiele handelt noch im Weltkrieg, mithin in der alten k. u. k. Monarchie. Ihre Akteure sind auf der einen Seite die beiden Gründer der Festspielhaus-Gemeinde Friedrich Gehmacher und Heinrich Damisch und auf der anderen Seite die geistigen Festspielinitiatoren Max Reinhardt und Hofmannsthal sowie Leopold von Andrian, der ab Juli 1918 kurzzeitig Intendant der Wiener Hoftheater war. Zwischen beiden Gruppen bestanden beträchtliche Differenzen und Spannungen, aber auch Übereinstimmungen. Die beiden Gründer argumentierten nationalistisch. Friedrich Gehmacher ging es um den kulturellen Geltungsanspruch Österreichs, dem er – in anspielungsreicher Diktion – »einen Platz an der Sonne des Weltverkehrs« verschaffen wollte (S. 20 f.). Der Wunsch nach einem »österreichischen Bayreuth in Salzburg« verquickte sich mit dem der ökonomischen Bedeutung künftiger Festspiele (S. 27). Heinrich Damisch, ein ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus, dem er dann schon ab 1932 als Parteimitglied angehörte, war das Sprachrohr für Deutschtümelei und zugleich für Österreich-Patriotismus (vgl. S. 37). Von Anfang an waren seinen Verlautbarungen deutliche antisemitische Töne beigemischt, die sich auch gegen Hofmannsthal, Reinhardt und Andrian wandten, die alle drei – mehr oder weniger ferne – jüdische Vorfahren hatten. Aber auch das Festspielkonzept von Hofmannsthal und Reinhardt war geprägt durch eine »patriotische Sinngebung« (S. 59). Sie war großösterreichisch ausgerichtet im Hinblick auf die Rettung des multinationalen Habs-

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burgerstaats (vgl. S. 40). Eindrücklich führt die Studie die übereinstimmenden und auch später immer wiederkehrenden Topoi beider Gruppen vor Augen, etwa die Freiheit vom Alltagsgetriebe der Großstadt und die landschaftliche und architektonische Schönheit Salzburgs, die sich besonders für das Festliche eigne (vgl. S. 44). Wenn Hofmannsthal in seiner »Memoire« von den Salzburger Festspielen als von einer »Triumphpforte österreichischer Kunst« spricht, so ist er stilistisch und mental nicht allzu weit von den nationalistisch gesinnten Gründern der Salzburger Festspielhaus-Gemeinde entfernt. Doch lässt er immerhin auch pazifistische Töne mitten im Krieg verlauten, wenn von dem Festspielkonzept als von einem »eminenten Friedenswerk« die Rede ist (S. 61 f.). Nach dem verlorenen Krieg und nach dem Untergang der Monarchie waren die bisherigen Legitimationsstrategien mit ihrer Unterstützung der Krone und ihrer Mitbeachtung der Kronländer hinfällig. Die Karten für die Salzburger Festspiele mischten sich neu, nun konzentriert auf die »kulturdeutsche Teilidentität« (S. 266). Mit den drei Gründungsschriften Hofmannsthals zu den künftigen Salzburger Festspielen nach dem Krieg beschäftigt sich das nächste Kapitel »Ideologische Begleitmusik« und befragt die politische und kulturelle Ausrichtung in Hofmannsthals Programmschriften, die nun »einer dezidiert rückwärtsgewandten Ordnungsutopie« verpflichtet seien (S. 69): Da ist einmal die Idee des Festlichen, die den Festspielgedanken – beeinflusst von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften – im bayrisch-österreichischen Stamm verankert wissen will und ihn als dessen »Urtrieb« erkennt (S. 75 u. 90). Da ist zum andern Hofmannsthals Volksbegriff, der mit seinem Bestreben, alle Schichten zu vereinen und das »naivste Publikum ebenso zu fesseln wie den Höchstgebildeten« (S. 85), an romantische – besonders bei Herder verbürgte – Vorstellungen anschließt. Diese Vorstellung erwies sich in vieler Hinsicht als Illusion, allein schon die Eintrittspreise verhinderten die Teilnahme des »Volkes«. Da ist schließlich die Betonung der ästhetischen Einheit von Oper und Schauspiel in der barocken Theater- und Festspieltradition, die als Überwindung der Gattungsdifferenzierungen ein wichtiges Anliegen Hofmannsthals war und sein synthetisierendes Denken erkennen lässt (vgl. S. 77). In allen drei Aspekten kritisiert Wolf die antimoderne Tendenz, die als »verdeckte Identität« das Monarchische wieder einführe und die aufklärerische Tradition des katholischen Südens Deutschlands ausblende (S. 79 u. 267). Der Befund einer »dezidiert antirationalistischen, betont konservativen und zudem latent deutschtümelnd ausgerichteten Konzeption« (S. 81) werde auch durch den Spielplan bestätigt, der eine antimoderne und antiaufklärerische Stoßrichtung habe und den Ausschluss moderner Autoren betreibe. Von einem europäischen oder gar weltbürgerlichen Geist sei wenig zu spüren. Es ist zwar einzuwenden, dass die vermisste kosmopolitische Ausrichtung ja nicht in Hofmannsthals Festspiel-Schriften behauptet und dann nicht

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eingelöst wird, sondern in der Hochglanz-Rhetorik heutiger Festspiel-Propaganda zu finden ist. Hofmannsthal war es vordinglich um die beschädigte österreichische Identität und um Sinnstiftungen im politischen Chaos der Nachkriegsjahre zu tun, die dann allerdings als kontinuitätsorientierte konservative Utopien auftraten. Dabei wird auch die stupende Anpassungsbereitschaft Hofmannsthals evident, mit der er mit taktischem Blick auf die nationalistisch gesinnte Festspielhaus-Gemeinde formuliert. Wolf berücksichtigt, dass Hofmannsthals »forciert völkische Tonlage« teilweise auch als beschwichtigende Antwort auf die massiven antisemitischen Attacken zu verstehen sei (S. 96 f.). In seinem dritten Wiener Brief von 1923 in der amerikanischen Zeitschrift The Dial schlägt Hofmannsthal denn auch einen ganz anderen, modernen Ton an und spricht von »europäischen Literaturen« und von »Pluralität«. Vielleicht wieder aus taktischen Gründen, denn es ging um den Plan einer Aufführung des Jedermann in New York (S. 107). Wichtig scheint bei Hofmannsthals Äußerungen – so das Fazit – »der jeweilige kommunikative Kontext« (S. 109). Das dritte Kapitel widmet sich dem Stück, das 1920 und seither fast immer die Salzburger Festspiele eröffnete, dem Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes – so der Untertitel –, das 1911 im Berliner Zirkus Schumann unter der Regie von Max Reinhardt uraufgeführt wurde und im selben Jahr bei S. Fischer erschien, war Hofmannsthals erfolgreichstes Stück mit einer hohen Auflagenzahl. Untersucht wird das auf den anonymen englischen Everyman zurückgehende Mysterienspiel unter dem Aspekt »Kunst und Geld«, eine bei Hofmannsthal generell prominente Kombination, die sowohl im Leben wie im Werk eine wichtige Rolle spielt. Wolf verfolgt das Thema von den Anfängen mit Hofmannsthals Gedicht Verse, auf eine Banknote geschrieben und geht dann der spezifischen Ausformulierung im Jedermann nach. Unter einer gründlichen Einbeziehung und Referierung der Positionen der Forschungsliteratur liest Wolf das mittelalterliche Mysterienspiel konsequent mit der modernen Geldtheorie von Georg Simmel, die Hofmannsthal nachweislich gekannt und die er mit seinem Jedermann gewissermaßen dramatisiert hat (vgl. S. 136). Die moderne veränderte Funktion des Geldes, das von einem Mittel zum Zweck zu einem absoluten Zweck geworden ist und sich dadurch sogar an die Stelle Gottes setzt (vgl. S. 141 f.), wird im mittelalterlichen Gewand durchexerziert. Gegen diese Verabsolutierung des Geldes schreibt Hofmannsthal mit seinem Mysterienstück an. Auf den engen Zusammenhang des Geldes mit der Kunst und mit Hofmannsthals künstlerischer Existenz geht Wolf anschließend im Rückgriff auf Pierre Bourdieu ein. Ein kurzer Exkurs zu Brechts ›Anti-Jedermann‹, dem Salzburger Totentanz, dessen Tod vor der Allmacht des Geldes kapitulieren muss (vgl. S. 161), unterstreicht noch einmal die Hofmannsthal’sche Lösung, die dem Tod das letzte Wort gegen das Geld lässt und die Errettung der Seele des reichen Mannes ermöglicht, wobei vielleicht gerade diese »kontrafakti-

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sche Märchenhaftigkeit des Dramenendes« (S. 161) den Erfolg des Stückes begründet haben könnte. Jedenfalls war das Stück nicht nur bei seiner Uraufführung 1911 ein Publikumsmagnet, sondern auch bei der Eröffnung der ersten Salzburger Festspiele am 22. August 1920, wie die bei Wolf eingehend besprochenen zeitgenössischen Kritiken deutlich machen. Die Rezensionen heben besonders den würdigen Rahmen der Aufführung vor dem Salzburger Dom und Reinhardts Dramaturgie der Überwältigung hervor (vgl. S. 173), es herrscht aber auch schon eine antisemitische Polemik gegen Reinhardt und sogar gegen Hofmannsthal, der umstandslos ebenfalls zum »Juden« erklärt wird (S. 181), während das teilweise auswärtige, ja internationale Publikum als jüdischer »Heuschreckenschwarm« denunziert wird (S. 190). Vor diesem Hintergrund mutet es wiederum merkwürdig an, wenn Hermann Bahr in Hofmannsthal einen selbstredend katholischen »auferstandenen Dichter des österreichischen Barock« erkennen will. Aber auch die gegenwärtige Forschung konstatiert eine Rekatholisierung des Jedermann im Rahmen der Salzburger Festspiele. Mit dem eigens für die Salzburger Festspiele geschriebenen Salzburger Großen Welttheater beschäftigen sich die beiden letzten Kapitel. Diesem Theaterstück blieb langfristig der Erfolg des Jedermann verwehrt. Die genaue Lektüre des Salzburger Großen Welttheaters fokussiert auf den Bettler, der bei Hofmannsthal zur Hauptfigur wird, und befragt sein Aufbegehren gegen die herrschende Güterverteilung und seine plötzliche, die Verhältnisse nunmehr akzeptierende Wandlung, die reichlich unmotiviert geschieht. Dass Hofmannsthal wenige Jahre nach der russischen Revolution den Reichen zum Repräsentanten des bürgerlichen Kapitalismus und den Bettler zum Träger einer Sozialrevolution gemacht hat, ist in der Forschung schon festgehalten worden. Wolf untersucht das Stück im Hinblick auf den Ausnahmezustand, wie ihn Carl Schmitt gebraucht und wie ihn Giorgio Agamben auf die chaotische Situation der Nachkriegszeit bezogen hat. Dieser Begriff scheint Wolf aber nur bedingt auf Hofmannsthals Stück anwendbar, denn Hofmannsthal setze im Unterschied zu Schmitt nicht nur auf Autorität, die bei Schmitt die Wiederherstellung der Ordnung garantiert, sondern auch auf ›Wahrheit‹ der überkommenen Ordnung (vgl. S. 213). Das Mysterium der Wandlung des Bettlers ist einem (christlichen) Wunder, keinem totalitären Ausnahmezustand geschuldet (vgl. S. 216). Damit ist auch festzuhalten, dass das Stück trotz der ihm »innewohnenden antirevolutionären Homogenisierungstendenz die totalitäre Denkhaltung keineswegs« unterstützt (S. 229), wie es ihm die Forschung bisweilen unterstellt, vielmehr nähere sich Hofmannsthal – auch in seiner anpassungsbereiten Haltung gegenüber dem Erzbischof – mehr dem »renouveau catholique« als einer (präfaschistischen) Autoritätsstruktur an. Wobei zu betonen ist, dass Hofmannsthal dieser Bewegung nicht angehört hat, sondern vor allem in diesem Stück eine sympathisierende Haltung zeigte.

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Im letzten Kapitel werden die Pressekritiken des Salzburger Großen Welttheaters ausführlich referiert; sie lassen noch einmal das mentale Klima erkennen, in dem Hofmannsthal und Reinhardt arbeiten mussten. Die nationalistischen und antisemitischen Anfeindungen der einschlägigen Presse sind erschreckend und greifen fatalerweise gerade die Aspekte an, die Hofmannsthal im Sinne einer konservativen und kirchentreuen Gesellschaftsordnung gestaltet haben wollte: Vom »Kniefall vor der Internationalen« (S. 240), aber auch von »Kirchenschändung« (S. 244) ist da die Rede. Mit Wolfs Studie liegt nun eine sorgfältige und gründliche Erschließung der Anfangsphase der Salzburger Festspiele vor. Sie bietet einen enormen Faktenreichtum, wobei der ideologiekritische Impuls als Motor dem Buch den Schwung gibt. Insgesamt gelingt indessen ein ausgewogener Blick auf die Anfänge der Salzburger Festspiele, vor allem auf Hofmannsthals rückwärtsgewandte Ordnungsutopien, die sich immer durch eine ästhetische Ausrichtung auszeichnen und die von der folgenden faschistischen Ideologie durch Welten geschieden sind. Man wird in Wolfs Studie reich belehrt und erhält einen erschütternden Einblick in eine vom Chaos geprägte orientierungslose Zeit und in die Versuche, ihr durch die Kunst eine Sinnstiftung zurückzugewinnen. Auf lange Sicht waren sie wirkmächtig. Salzburg – so das Schlussfazit – ist dadurch in den Sommermonaten aus seiner Provinzialität erwacht. Elsbeth Dangel-Pelloquin

Kai Evers: Violent Modernists. The Aesthetics of Destruction in TwentiethCentury German Literature. Evanston: Northwestern University Press 2013. 265 S. $ 39,95. Der moderne Roman, ja die ganze moderne europäische Kultur, ist – glaubt man den Thesen Franco Morettis – von einer »rhetoric of innocence« geprägt: »A projection of violence outself oneself.«63 Die Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und moderner Literatur hat in der jüngeren Zeit eine Fülle an Forschungsprojekten und Publikationen sowohl in der deutschsprachigen als auch der anglo-amerikanischen Germanistik und Kulturwissenschaft gestiftet.64 Auch für die Musil-Forschung lässt sich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an Musils journalistischen Tätigkeiten während des Krieges sowie seiner Positionierung innerhalb des Terror- und Gewaltdiskurses der Zwischenkriegszeit beobachten. In dem für diese Diskussion maßgeblichen 63 64

Franco Moretti: Modern epic. The world-system from Goethe to García Márquez. London 1996, S. 25. Vgl. Daniel Tyradellis, Burkhardt Wolf (Hg.): Die Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten. Frankfurt a. M. u. a. 2007; Eva-Maria Siegel: Gewalt in der Moderne. Kulturwahrnehmung, Narration, Identität. Marburg 2010; Stefani Engelstein, Carl Niekerk (Hg.): Contemplating violence. Critical studies in modern German culture. Amsterdam u. a. 2011.

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Sammelband Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit65 hat Kai Evers, Assistant Professor an der UC Irvine, bereits einen Beitrag verfasst – seit 2013 liegt nun auch die bei Northwestern University Press verlegte Monographie vor, die seine Beschäftigung mit dem Gewaltdiskurs bei Musil in das größere Projekt einer »Ästhetik der Destruktion« in der Moderne einbettet. Es ist das ausgesprochene Bestreben von Kai Evers’ Studie, am Exempel ausgewählter Schriftsteller – Franz Kafka, Robert Musil, Elias Canetti und Walter Benjamin – die »truly innovative achievements of German modernism« (S. 38) in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Phänomenen der Gewalt aufzuzeigen. Im Gegensatz zu jenen Vertretern der militanten Avantgarde, die wie Ernst Jünger, Bertolt Brecht oder Gottfried Benn die Ausübung von Gewalt als Mittel zum Zweck affirmierten, »writers and theorists like Musil, Kafka, Benjamin, and Canetti understood phenomena of violence as challenges to representation and imagination but also sought to explore the epistemological potential of violence.« (S. 10) Indem Evers die modernistischen Schriftsteller als kritische Analytiker moderner Gewalt und Experten einer neuen »catastrophic imagination« (S. 10) zu profilieren versucht, verfolgt er zugleich ein historiographisches Anliegen: nämlich die laut ihm der jüngeren Forschungsdiskussion66 implizit unterlegte Annahme, zwei moderne deutsche Literaturen – eine militante oder gar faschistoide Avantgarde auf der einen, eine fragile modernistische Literatur auf der anderen Seite – am Leitfaden der Gewalt voneinander separieren zu können, zu widerlegen (vgl. S. 33). Die Buch ist leserfreundlich mit einem umfassenden Index ausgestattet und folgt einem klaren Aufbau: Dem einführenden ersten Kapitel (das einige Überschneidungen mit der Einleitung aufweist) folgen vier in sich abgeschlossene Teile, in denen die jeweiligen Autoren und Schriften in den Mittelpunkt gerückt werden. Obwohl die lose chronologisch strukturierten Kapitel durchaus für sich stehen, ist der Autor bemüht, systematische und historische Zusammenhänge herzustellen – dass Musil hierbei eine Schlüsselrolle einnimmt, lässt sich auch daran ablesen, dass ihm gleich zwei, und zwar die ersten beiden Kapitel gewidmet sind. Für die Anlage der Arbeit ist Musil deshalb so relevant, da er sich für Evers nicht nur als literarischer Wegbereiter jener »antireduktionistischen« Theorie von Gewalt erweist, die im Einklang mit der zeitgenössischen Gewaltforschung seinen eigenen methodischen Zugang markiert (vgl. S. 29), sondern weil sein Werk darüber hinaus wichtige Figuren und Problemstellungen des modernen Gewaltdiskurses in 65 66

Vgl. Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. München 2009. Vgl. Andreas Huyssen: Modernity and the text. Revisions of German modernism. New York 1989; Helmut Lethen: Cool conduct. The culture of distance in Weimar Germany. Berkeley u. a. 2002.

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das Blickfeld rückt – Konzeptionen des Subjekts, der Geschichte, der Sprache –, die laut Evers auch bei Canetti und Kafka unterschiedlich akzentuiert aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Das erste Kapitel verbindet eine literaturhistorische Einordnung, in der die Darstellung von Gewalt als entscheidendes Novum der modernen deutschen Literatur in Abgrenzung zum Realismus unterstrichen wird, mit einer begrifflichen und methodischen Standortbestimmung. Unter Rückbezug auf aktuelle historische Forschungen und systematische Überlegungen stellt Evers jenes Narrativ eines durch den Ersten Weltkrieg bewirkten kulturellen Bruchs in Frage, das, von Kulturtheoretikern und Philosophen wie Sigmund Freud, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Hannah Arendt formuliert, auch von Literaturwissenschaftler/inne/n bis heute regelmäßig bemüht wird (vgl. S. 10–19). Zudem versucht Evers, seinen Gewaltbegriff im Kontext historischer und zeitgenössischer Gewalttheorien von Arendt über Norbert Elias bis Steven Pinker zu schärfen, um dann mit der aktuellen Gewaltforschung – insbesondere dem Soziologen Heinrich Popitz – das für seine Studie maßgebliche anthropologisch fundierte Gewaltkonzept einzuführen, das auf zwei Grundannahmen beruht: die allgegenwärtige Potentialität des Menschen, Gewalt auszuüben, und seine unbegrenzte Fähigkeit, Gewalt zu imaginieren (vgl. S. 28). Musils Debütroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), dem das zweite Kapitel gewidmet ist, bildet insofern einen wichtigen interpretatorischen Einsatzpunkt, als er zum einen die Virulenz des Gewaltdiskurses weit vor dem Ersten Weltkrieg offenbart, zum anderen sowohl die Nähe als auch eine beginnenden Distanzierung des jungen Musil zu jenem funktionalen Begriff von Gewalt aufzeigt, den sich nach Evers die militanten Avantgarden zu Eigen gemacht hätten. In einer detaillierten Textanalyse und unter Rückbezug auf Theorien des Opfers (George Bataille), der physischen Gewalt (Jan Philipp Reemtsma) und der Folter (Richard Rorty) zeigt Evers auf, wie die Figuren Reiting, Beineberg und Törleß permanent Gewaltakte imaginieren und erproben, denen sie ganz unterschiedliche Strategien und Legitimationsmodelle unterlegen – ihre Experimente werden auch deshalb jeglicher Moralisierung enthoben, weil das Versuchsobjekt Basini durch seine Konstruktion als »the perverse other« (S. xvii) sowohl der Empathie der Figuren als auch des Lesers entzogen ist. Indem Törleß Basini der psychischen Folter aussetzt, verfolgt er ein dezidiert epistemologisches Interesse: dienen Inquisition und Demütigung doch dazu, seine Hypothese von der Doppelsinnigkeit der Wirklichkeit an einem Subjekt zu erproben, das selbst eine andere infame, perverse Seite zu verbergen scheint (es wäre wünschenswert gewesen, hier Musils Überlegungen zum Nicht-Ratioïden miteinzubeziehen). Das Scheitern seines Experiments – Basini zeigt sich unberührt sowohl ob seiner eigenen Vergehen als auch der erlittenen Gewalttätigkeiten seiner Mitschüler – geht mit einer weitgreifenden Einsicht in die Formbarkeit

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und »malleability of the self« (S. 70) einher, die wesentliche Implikationen auch für Musils spätere Betrachtungen zum Krieg und zur Gewalt mit sich führt. Wenn der Erstlingsroman von Musil die Schlussfolgerung nahelegt, dass Gewalt keineswegs zwingende Folgen für die Konstitution des Subjekts zeitigt – und damit implizit auch der Vorstellung des Ersten Weltkriegs als eines notwendig traumatischen Wendepunkts widersprochen wird –, so führt Musils monumentales, jedoch unabgeschlossenes Nachkriegswerk Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932) das Projekt der Gewaltanalyse weiter, indem es die Frage nach den Ursachen zunächst programmatisch aufruft, um sie anschließend wortwörtlich ins Leere laufen zu lassen. Evers entwickelt seine Lektüre des Mann ohne Eigenschaften im dritten Kapitel nicht nur in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit bestehenden Forschungspositionen aus dem überwiegend angloamerikanischen, aber auch deutschsprachigen Raum (Michael Bernstein, Stefan Jonsson, Patricia McBride, Alexander Honold), sondern rekurriert immer wieder auch auf literarische Beispiele (wie etwa Brechts Mann ist Mann oder Tolstois Krieg und Frieden), um Musils »unique contributions to an understanding of violent phenomena« aufzuzeigen (S. xv). Die Figur des Protagonisten Ulrich birgt für Evers weder einen utopischen Gegenentwurf noch lässt sie sich als Fallstudie für die Ursachen und Gründe des Ersten Weltkriegs lesen; vielmehr deutet sich in dem von Ulrich propagierten Möglichkeitssinn eine anthropologische Fundierung von Gewalt an, die zugleich mit der Rejustierung traditioneller Konzepte von Geschichte und Subjekt einhergeht. Evers zeigt Ulrich unter Rückbezug auf Schlüsselstellen aus dem Roman und den Nachlassfragmenten als eine Existenz, an der in kritischer Distanz die Risiken des »malleable self« in der Moderne vorgeführt werden: Gewalt ist ihm nicht nur eine omnipräsente Möglichkeit des Handelns, sondern wird geradezu als ein verführerischer Ausweg aus der Kontingenz der individuellen und menschlichen Geschichte imaginiert. (Man könnte somit schlussfolgern, dass die Diagnose Morettis, nach der die moderne Literatur Gewalt lediglich als projizierte Eigenschaft des ›Anderen‹ kenne, auf Musil explizit nicht zutrifft.) Am Beispiel von Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1919) widmet sich Evers im vierten Kapitel dem Verhältnis von Gewalt und Sprache als zwei gleichermaßen zum Scheitern verurteilten, jedoch intrinsisch miteinander verkoppelten Instrumenten, die sich der Aufdeckung einer ›Wahrheit‹ des Subjekts verschrieben haben. Die von Kafka in Briefen thematisierte Ambivalenz von Worten, die sich wie »cutting knifes« (S. 123) gegen das sprechende Subjekt zu wenden drohen, findet demnach in der Erzählung ihre poetische Ausformulierung: In einer äußerst textnahen, bisweilen stark psychologierenden Detailanalyse argumentiert Evers, dass die Selbsthinrichtung des Offiziers die logische Konsequenz aus dem gescheiterten Versuch darstellt, den Besucher der Kolonie performativ – durch absichtlich gestreute

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Inkonsistenzen sowohl auf der propositionalen als auch formalen Ebene der Rede – von der Unmöglichkeit zu überzeugen, durch Sprache die eigene Wahrheit zu sagen. Die Arbeit schließt mit »two strange pairings« (S. xix) im letzten Kapitel: den Autoren Elias Canetti und Walter Benjamin auf der einen und der Kopplung von chemischer Kriegsführung und der Gattung der Satire auf der anderen Seite. Evers demonstriert, wie Benjamin und Canetti nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem vermeintlichen Verstummen des traditionellen Erzählers die Satire im Stile Karl Kraus’ zur einzigen literarischen Gattung erklären, die eine adäquate narrative und sprachliche Form für die Bedrohungsszenarien der Gegenwart bieten könne.67 In einer metonymischen Verkettung werden der totale Krieg und die Nivellierung der Wahrnehmung durch Giftgas von Evers mit dem Konzept einer radikal destruktiven Satire kurzgeschlossen. Canettis multiperspektivischer Roman Die Blendung (1935) wendet das zerstörerische Potential der Satire gegen jene Wahrnehmungsmuster und -schablonen, die von ihm und seinen Zeitgenossen als Ursache der allgemeinen Blindheit gegenüber den Risiken moderner Kriegsführung ausgemacht wurden, und übt den Leser zugleich in ein nachhaltiges Konzept des »malleable self« ein. Evers lässt keinen Zweifel daran, dass seine Studie innerhalb der reichhaltigen Forschungsliteratur zu den letztendlich durchaus kanonischen Autoren einen blinden Fleck besetzt – in der Tat ist es auffällig, dass etwa eine Monographie zum Gewaltdiskurs bei Musil bisher noch nicht vorliegt. Der große und durchaus ergiebige Aufwand, mit dem Forschungsarbeiten aus den Literatur- und Kulturwissenschaften der letzten zwanzig Jahre referiert und Schwachstellen aufgezeigt werden, kann jedoch den Eindruck nicht tilgen, dass Argumentationen und historiographische Frontlinien bisweilen stark verkürzt und zugespitzt dargestellt werden.68 Der apologetische Gestus, mit dem Evers die Autoren der Klassischen Moderne als Diagnostiker eines aktuellen Gewaltdiskurses zu ›rehabilitieren‹ versucht, scheint auch vor dem Hintergrund wenig überzeugend, dass das komplexe und eben nicht nur ›negative‹ Verhältnis von Musil bzw. Kafka zur Gewalt unter verschiedenen Vorzeichen in der Vergangenheit durchaus Beachtung erfahren hat.69 Es mu67 68

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Der Verweis darauf, dass auch Musils Mann ohne Eigenschaften vor dem Genre-Hintergrund der Satire gelesen werden kann (und auch bereits wurde), fehlt bei Evers leider. So geht es etwa Helmut Lethen in seiner wegweisenden Studie Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994), auf die sich Evers immer wieder abgrenzend bezieht, weniger um die Etablierung einer strikten Opposition zwischen militanter Avantgarde und schwächlichen Modernisten am Leitfaden der Gewalt, sondern vielmehr um die Rekonstruktion eines unterkomplexen, der Innerlichkeit entzogenen Subjektkonzepts in der neusachlichen Literatur der Zwischenkriegszeit, zu der sich Musil durchaus zählen ließe. Vgl. etwa Joseph Vogl: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München 1990; Norbert Christian Wolf: Verkünder des Terrors, Propheten der Erlösung: Hans Sepp und Meingast, in: ders., Hans Feger, Hans-Georg Pott (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Ge-

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tet daher in doppelter Hinsicht befremdlich an, wenn Evers für den Fall Musil ein rezeptionspsychologisches Argument für das vermeintliche Forschungsdesiderat geltend macht: Die »shocking«, da apologetische Verhandlung von Gewalt, die sich von Musils Erstlingsroman über den nationalistischen und militanten Aufsatz Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) bis hin zu der Gleichsetzung von Krieg und ›anderem Zustand‹ in den Fragmenten des Mann ohne Eigenschaften hinziehe, verursache, so Evers, »deep embarassment among his readers« (S. 39), und hätte dazu geführt, dass das Thema der Gewalt bei Musil gewissermaßen ein Tabu darstelle – nicht jeder Leser mag sich in dieser Diagnose wiedererkennen. Evers geht – dies wiederum hebt ihn durchaus von vorliegenden Arbeiten zum Gewaltdiskurs bei Musil ab – von einem soziologisch informierten Gewaltbegriff aus und rekurriert wiederholt auf Studien, die sich der Quantität und Qualität von realer Gewalterfahrung und -wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet haben. Dies ist aufschlussreich und bietet Material für Neuakzentuierungen, trägt jedoch bisweilen dazu bei, dass die Ebenen einer vermeintlich historisch verbürgten sozialen Realität vorschnell mit Ebenen der Diskursivierung bzw. Fiktionalisierung von Gewalt in Literatur und Theorie kurzgeschlossen oder gar gegeneinander ausgespielt werden. Es überrascht zudem, dass Evers sich einerseits vehement – und berechtigterweise – gegen die Annahme wendet, die Konjunktur des Gewaltdiskurses in der moderne Literatur ließe sich allein aus dem Trauma des Ersten Weltkriegs ableiten, andererseits jedoch die (biographischen) Erfahrungen des Kriegs zum Dreh- und Angelpunkt seiner Textanalysen macht. Während die Analyse von Musils Internatsroman Törleß noch von den Prämissen und Instrumentarien einer systematischen, auf den Akt der Gewalt konzentrierten Gewaltanalyse profitiert (ohne dass jedoch das genuine Verhältnis von Institution und Gewalt in den Blick gerät,70 das auch für Kafka eine zentrale Rolle spielt), leidet die Lektüre des Mann ohne Eigenschaften daran, dass Gewalt keineswegs in ihrer konkreten oder performativen Situativität, sondern überwiegend als Meta-Diskurs verhandelt wird – als Synonym des permanent ab- und anwesenden Ersten Weltkriegs. So werden alle Konzepte und Paradigmen der Musil-Forschung – vom ›Möglichkeitssinn‹ über das ›Prinzip des unzureichenden Grundes‹, vom ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ über den ›anderen Zustand‹ – nacheinander aufgerufen, um Popitz’ zeitlos-anthropologische Thesen zur Gewalt durch Musils Poetik verbürgt

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waltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. München 2009, S. 93–140; Anette Horn: Immoralität als Gedankenexperiment. Musils Törleß und Nietzsches Machtbegriff, in: Acta Germanica 24 (1997), S. 65–80; Carl Niekerk: Macht und Masochismus in den Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), H. 4, S. 545–566. Vgl. Rüdiger Campe: Das Bild und die Folter. Robert Musils Törleß und die Form des Romans, in: Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.): Weiterlesen. Literatur und Wissen. Bielefeld 2007, S. 121–147.

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zu sehen. Dabei geraten leider auch jene Romanfiguren aus dem Blickfeld, die es wie etwa der Frauenmörder Moosbrugger, der »Verkünder des Terrors« Hans Sepp71 oder die ekstatisch-entrückte Clarisse ermöglicht hätten, die Virulenz und historische Codierung des Gewaltdiskurses bei Musil weiter zu differenzieren und konkretisieren. Die Frage nach dem Zusammenhang von Musils Figuration von Gewalt mit zeitgenössischen ethnologischen/primitivistischen, kriminologischen und (massen-)psychologischen Wissensdiskursen, mit denen Musil sich nachgewiesenermaßen auseinandergesetzt hat und die gerade in den letzten Jahren verstärkt in das Zentrum der Forschung gerückt sind, bleibt damit ungestellt.72 Mareike Schildmann

Michael Gassenmeier: Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und seine künstlerische Rezeption in dem 1951 entstandenen Illustrationszyklus von Ernst Gassenmeier (1913–1952). Mit einem Essay von Manfred Fath und Alfred Huber. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013. 261 S. € 26,–. Das Buch widmet sich den zwölf großformatigen Monotopien Ernst Gassenmeiers, in denen der Künstler seine Lektüre des Mann ohne Eigenschaften verarbeitete; sein Illustrationszyklus stellt ohne Zweifel das wichtigste und beeindruckendste Rezeptionszeugnis von Musils Roman in Nachkriegsdeutschland in der Periode vor der Frisé’schen Neuausgabe 1952 dar. Das Buch enthält eine Einleitung mit dem Lebenslauf Ernst Gassenmeiers und eine knappe Kontextualisierung der Illustrationen mit der Kunst seiner Zeit aus der Feder des Kunsthistorikers Manfred Fath; den Hauptteil bildet Michael Gassenmeiers faszinierende Re-Lektüre von Musils Roman anhand der Bilder seines Vaters; im Anhang findet sich ein Essay von Alfred Huber zur Vertiefung des kunsthistorischen und theoretischen Verständnisses. Michael Gassenmeier konfrontiert die zwölf Illustrationen Ernst Gassenmeiers mit seiner persönlichen Musil-Lektüre. Das Ergebnis stellt eine sehr gelungene Einführung in den Roman für neue Musil-Leser dar. In den zwölf Abschnitten des Rekonstruktionsversuchs, »eines Dialogs in Einzelkapiteln« (S. 39), wird jeweils ein Moment der Romanerzählung rekapituliert und mit dem Erfahrungsschatz des Literaturwissenschaftlers kommentiert; daran schließt die Erläuterung der entsprechenden Illustration an, die zu ei71 72

Wolf: Verkünder des Terrors (s. Anm. 69), S. 93. Vgl. Mark Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten. Kriminologie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2011; Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München 2013; Florian Kappeler: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 2012.

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ner vertieften Interpretation des Romantextes gerät. Im Vordergrund steht dabei für Michael Gassenmeier die soziale Welt des Romans mit ihren Figuren und den Interaktionen zwischen ihnen: Geschichte, Politik, Psychologie und besonders die erotische Dimension der Beziehungen zwischen den Romanfiguren, da sie »einerseits den Unterhaltungswert des kopflastigen Romans erhöhen, denen aber andererseits eine eminent kulturkritische Bedeutung zukommt« (S. 37). Die MoE-Lektüre Michael Gassenmeiers enthält zahlreiche (literar)historische Querverbindungen, für Musil-Erstleser gewiss hilfreich, um sich im Roman zurechtzufinden. Es handelt sich aber wohl auch um eine bewusste Rückkehr zu den Verstehensmöglichkeiten, die sich Ernst Gassenmeier in den 1940er Jahren geboten haben. Die Anpassung an den Horizont des Vaters erweist sich vielleicht sogar als die große Stärke der Nacherzählung Michael Gassenmeiers. Klar nachvollziehbar wird, dass Ernst Gassenmeier auch aus dem dritten, von Martha Musil herausgegebenen Band des Mann ohne Eigenschaften geschöpft hat. Die Einbeziehung des im Nachlassband von 1943 enthaltenen Kapitelentwurfs »Clarisse bei Rachel« und der Genfer UlrichAgathe-Kapitel führt dazu, dass auch die Kontur der Romanweiterführung in der Ausdeutung der Illustrationen sichtbar wird, indem die Entwicklung von Clarisses Wahn (vgl. S. 161–165) und das Schweben der Geschwisterliebe zwischen Inzest-Vollzug und Nicht-Vollzug (vgl. S. 181–183) ausführliche Darstellung finden. Die Intensität der ikonographischen Realisierung des Romantexts scheint sich von Monotopie zu Monotopie zu steigern. Am Ende beeindruckt es außerordentlich, wie etwa die Verbindungslinie zwischen Hans Sepp und Don Quichote im letzten Bild gezogen wird. Aus der Interpretation »läßt sich der in der Literatur und in der Bildenden Kunst seit Jahrhunderten zur Symbolfigur gewordene Ritter des Cervantes mit seiner eigentümlichen Synthese von Verblendung und Idealismus durchaus als graphische Entsprechung für den politischen Hans Sepp verstehen.« (S. 223) Damit gelingt es, den besonderen Blick des Künstlers Ernst Gassenmeier für politische und soziologische Verhältnisse aus der unmittelbaren zeitlichen Nähe zur Erfahrung des Faschismus heraus zu erfassen. Der Illustrationszyklus ist nicht nur ein Zeugnis für die künstlerische Rezeption von Musils Roman durch die desillusionierte Generation der ›Stunde Null‹, sondern vielleicht auch Wegbereiter und Vorreiter für minimalistische Umsetzungen wie Nicolas Mahlers 2013 erschienene Graphic Novel zum Mann ohne Eigenschaften.73 Walter Fanta

73

Vgl. dazu auch die Rezension von Giovanni Remonato in diesem Band des Musil-Forums.

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Benjamin Gittel: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation. Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie. Münster: mentis 2013 (= Explicatio). 498 S. € 64,–. This is an interesting, persuasive and good book. It examines the claims of a number of influential thinkers to the effect that there is a special type of knowledge, »living knowledge«, and Musil’s claim that only literature can provide us with such knowledge. »Living knowledge«, according to its fans, is not scientific knowledge, nor is it systematic, nor is it knowledgethat. It is experiential or intuitive knowledge of the life-world, of what is existentially important and it is knowledge which is not easily communicable. The author subjects the claims of Nietzsche, Bergson, Dilthey, Klages, Spengler and Musil about living knowledge to searching, judicious and invariably clear scrutiny. His conclusion is almost completely negative and his carefully qualified concessions will not satisfy contemporary fans of living knowledge. His book deserves to be read in conjunction with Adrian Moore’s recent The Evolution of Modern Metaphysics: Making Sense of Things,74 which argues that many philosophies, including those of Nietzsche and Bergson, show important truths, which are not otherwise communicable, as do works of art. Moore’s main precursor is Gottfried Gabriel, to whom we owe some of the most important discussions of what philosophical systems and works of art might or might not show. (Gittel discusses some of Gabriel’s views.) Gittel’s scepticism, like the view of Greg Currie, that there is not much reason to think that literature ever gets human psychology right, and Alex Rosenberg’s more sweeping scepticism about the humanities as the entertaining elaborations of illusions, makes an important contribution to the current debate about the value of the humanities, and of literary criticism, in particular.75 Gittel’s detailed taxonomy of different types of knowledge and justification, which is based on a thorough acquaintance with contemporary, analytic epistemology, overlooks an increasingly influential conception of knowledge as a direct grasp of facts and objects rather than as a heavily qualified type of belief (a conception influentially defended by Timothy Williamson, which is also to be found in the writings of some earlier philosophers). This conception of knowledge is particularly relevant to understanding so called intuitive knowledge, since intuition may be conceived of as a type of direct grasp of objects or facts. Similarly, the author’s critical discussion of Bergson’s in74

75

Cf. Adrian W. Moore: The Evolution of Modern Metaphysics. Making Sense of Things. Cambridge 2012. Cf. my review of Moore: K. M.: Novel Questions, Poetic Answers, in: Times Literary Supplement, 27 September 2013, pp. 22–23. Cf. Greg Currie: Literature and the Psychology Lab, in: Times Literary Supplement, 31 August 2011, pp. 14–15; Alex Rosenberg: The Atheist’s Guide to Reality. Enjoying Life without Illusions. New York 2011, pp. 211 ff.

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tuitionism might have profited from the even more severe critique given by Roman Ingarden, one of the early, realist phenomenologists. The author distinguishes the claim that literature provides knowledge of non-normative facts from the claim that it provides normative or axiological knowledge. Although he has a number of interesting and plausible things to say about the axiological and normative aspects of living knowledge according to its fans, there is one view about axiological knowledge and literature which, as far as I can see, he largely overlooks. One might think that successful literature adds to our knowledge of value in the following way: it exhibits or portrays new value-makers, new ways of being foolish, unlucky or lucky in life, new ways of exemplifying the disvalue of foolishness or the positive value of luck. Value-makers or valuedeterminants are the properties which make their bearers exemplify values. In the simplest cases, they are non-normative properties. It is sometimes said that literature exhibits new values. That claim is not part of the present claim. But since talk of values and talk of value-makers are often not clearly distinguished, it is not impossible that friends of the view that literature can portray new values sometimes have something like the present view in mind. Something like this view is suggested by Nicolai Hartmann’s distinction between Lebenswahrheit and Wesenswahrheit in fiction.76 But one may think that, if fiction does provide knowledge of non-contingent axiological facts, these are not in fact examples of (truth-makers for) essential truths. For, as Moore and Fine have argued, the way in which the exemplification of non-normative properties necessitates the exemplification of value-properties is a kind of sui generis, normative necessitation quite distinct from the necessitation which is rooted in the essence of objects. If the view that literature can provide knowledge of new value-makers is combined with the again popular view that axiological knowledge requires some sort of affective disclosure, one arrives at a version of the philosophy of »living knowledge«. Even if it were true that literature provides no knowledge of the real world and, in particular, of human psychology, it would not follow that literature provides no new, non-contingent, axiological or normative knowledge. But, of course, it may be the case that there are no axiological truths and hence no axiological knowledge. Gittel’s careful examination of what Musil thought he was doing and of what he thought fiction does shows that the suggestion that literature provides knowledge of new value-makers is incompatible with some things Musil says. But there remains the possibility that the suggestion does in fact make some sense of what is actually going on in Musil’s fiction. After all, the types of foolishness portrayed by Flaubert are often very different from the species of »higher stupidity« dissected by Musil and Ulrich. Nor is this surprising. 76

Cf. Nicolai Hartmann: Aesthetik. [1953] Berlin 21966, chapters 21–25.

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The types of foolishness exhibited by those who live according to Nietzsche’s precepts are likely to be quite different from those exhibited by Flaubert’s fools. I have often been struck by the fact that literary critics and others who write on Musil, writers who clearly admire Musil, frequently seem to attach little importance to Musil’s ideals of clarity and precision and appeal to philosophies for which Musil would have had only scorn. Benjamin Gittel’s book is a very welcome exception to this rule. Kevin Mulligan

Sandra Janßen: Phantasmen. Imagination in Psychologie und Literatur ˇ 1840–1930. Flaubert – Cechov – Musil. Göttingen: Wallstein 2013 (= Wissenschaftsgeschichte). 512 S. € 39,90. In ihrer anregenden und umfangreichen Studie hat sich Sandra Janßen vorgenommen, die Geschichte der Imagination bzw. der Phantasmen in der Psychologie und Literatur von 1840 bis 1930 zu rekonstruieren. In Anlehnung an Michel Foucaults Archäologie des Wissens und an Thomas Kuhns Analyse von Wissensparadigmen versucht sie, Wissenskonfigurationen zu profilieren, welche über die Grenzen einzelner Disziplinen hinausgehen. Ihr Bestreben, individuelle Denkleistungen in Betracht zu ziehen, unterscheidet ihren Ansatz von der Foucault’schen Annahme einer subjektlosen Episteme. Die Geschichte des Begriffs »Phantasma«, der im 19. Jahrhundert als Synonym für »Halluzination« galt, hängt mit verschiedenen Konzeptionen des Subjekts und des Selbstverlusts sowie mit unterschiedlichen Auffassungen der Imagination zusammen. Insgesamt lässt sich in den Definitionen des Phantasierens eine Entwicklung vom Pathologischen zum Psychologischen beobachten. Die Imagination als passive und pathologische Instanz wird zu einem plastischen und kreativen Vermögen, das zur Sinnbildung aktiv beiträgt. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der erste wissensgeschichtliche Teil bietet einen Überblick über die wechselnden Definitionen des Phantasmas und die ihnen entsprechenden Modelle der Psyche, während der zweite Teil literarische Formen des Phantasmas untersucht, die als Fallstudien behandelt werden. Im wissensgeschichtlichen Teil unterscheidet Janßen drei Hauptphasen, die unter drei Schlüsselbegriffen zusammengefasst werden: ›Alienation‹, ›Desaggregation‹ und ›Depersonalisation‹. Das Paradigma der Alienation erstreckt sich von 1840 bis 1870, zu einer Zeit, in der medizinische und philosophische Fragestellungen zum Bereich der Psychologie zu konvergieren beginnen. In einer vom Idealismus geprägten Auffassung hält dieses Paradigma an der Dualität von Körper und Geist fest und bestimmt Alienation als Entfremdung, wobei dieses »fremde« Andere auch ein »inne-

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res« Anderes ist. Die Alienation wird mit der Herrschaft des Körperlichen, dem Aussetzen des Willens und dem Einsetzen körpergesteuerter Automatismen korreliert. Die 1817 von Jean-Étienne Esquirol eingeführte Debatte um die Halluzination gilt als vorwiegende theoretische Herausforderung, bis sie in den 1850er Jahren durch ein wachsendes Interesse für den Traum abgelöst wird. Im Kern der Debatten stehen die Fragen, inwieweit in der Halluzination und im Traum der Wille ausgeschaltet ist und welche Rolle der Imagination und dem Gedächtnis zuzuschreiben ist. In dieser Zeitspanne vollziehen sich eine Entpathologisierung der Halluzination sowie eine Annäherung zwischen Pathologie und Psychologie, etwa durch die Analyse des Traums, welcher Wahnzustände im normalen Ich verankert. Janßen hebt die aporetische Struktur sowie die »paradoxe Logik« (S. 76) des Alienationsmodells hervor, das gleichzeitig die Einheit und die Differenz des Subjekts zu sich selbst voraussetzt. Die Alienation wird zu einer »hybriden Form zwischen Pathologie und Psychologie, zwischen Wahnsinn und strukturellem Konflikt« (S. 72). Die zweite Phase beginnt 1870 mit dem Erscheinen von Hippolyte Taines Buch De l’intelligence und erstreckt sich bis zur Jahrhundertwende. In diesem Modell wird der Dualismus von Geistigem und Körperlichem durch einen neurophysiologisch fundierten psychophysischen Monismus ersetzt, welcher die Kontinuität zwischen Normalität und Pathologie behauptet. Emblematisch für diesen Wandel ist Taines provokative These, wonach Wahrnehmungen »wahre Halluzinationen« (S. 96) seien. Der Unterschied zwischen Wahrnehmung, Erinnerung und Halluzination lässt sich nur noch nach dem Intensitätsgrad festlegen. Grundlegend ist die Annahme, dass das Pathologische »die Hypertrophie des Normalen« (S. 91) sei und als Vergrößerungsglas zum Verständnis des normalen Zustands beitrage. Die Gefahr der Desaggregation des Ich im Traum oder im Wahnsinn und die damit zusammenhängende Frage nach der Kontinuität des Ich rücken in den Vordergrund. Deshalb kommt dem Gedächtnis als einheitsbildender Instanz eine neue Bedeutung zu, während die Halluzination ihre Brisanz verliert. Nach 1900 erfolgt ein weiterer Wandel, der eine neue funktionale Einheit des Subjektiven gegen die Desaggregationsidee zu behaupten versucht. Diese Phase ist durch ein verstärktes Interesse für die Gefühle als konstitutive Dimension der Innerlichkeit, für die schöpferische Einbildungskraft und für Prozesse der Sinnstiftung gekennzeichnet. Während im Alienationsmodell der Traum als pathologisch betrachtet wird, wird er etwa in Freuds Theorie zu einer Instanz erhoben, welche einen verborgenen Sinn kunstvoll verstellen kann. Auch entsteht eine neue Theorie der Imagination als plastischer und schöpferischer Macht. Im Unterschied zum Alienationsmodell, das auf einer vorgegebenen essentialistischen Definition des Subjekts beruht, wird das Ich nach der Jahrhundertwende als künstliches und fragiles Konstrukt aufgefasst. Außerdem wird der Macht des Sozialen und dem Interaktionsmodus mit der

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Außenwelt größere Aufmerksamkeit geschenkt. Phänomene der Depersonalisation lassen sich auf eine Spaltung zwischen wahrnehmendem Ich und objektiviertem Selbst, auf eine psychische Integrierung anonymer Sozialität und auf eine Störung des emotionalen Gleichgewichts zurückführen. Nach diesem wissensgeschichtlichen ersten Teil widmet Janßen sich drei Autoren, deren Werk für die jeweilige identifizierte Phase emblematisch ist. Flauberts Versuchung des Heiligen Antonius und seine Drei Erzählungen ilˇ lustrieren die These der Alienation. Cechovs Kurzgeschichten inszenieren Figuren, die von mentaler Desaggregation bedroht werden. Schließlich veranschaulichen Robert Musils Novellen Vereinigungen, Tonka und Die Amsel Phänomene der Depersonalisation. In diesem literarisch-ästhetischen Teil untersucht Janßen das »Wissen am Werk« und die »Psychopoetik« (S. 16) der jeweiligen Autoren. Sie richtet ihr Augenmerk auf Erzählungen und Novellen, weil kurze Prosa besonders geeignet ist, dem Prozess des Phantasierens inhaltlich, stilistisch und poetologisch auf die Spur zu kommen. Das Schlusskapitel erweitert die Perspektive und deutet auf eine »Geschichte der Psychopoetiken« (S. 483), welche andere Autoren berücksichtigen und somit das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenskonfigurationen weiter beleuchten könnte. Janßens Buch zeichnet sich durch seine methodologische Strenge, seinen umfassenden Überblick über die damaligen theoretischen Debatten und seine einsichtsvollen literarischen Analysen aus. Im einleitenden Kapitel legt die Autorin ihre Vorgangsweise und die epistemologischen Voraussetzungen ihres Ansatzes dar. Im Unterschied zu den meisten Studien über das Verhältnis von Literatur und Wissen weigert sie sich, literarische Werke auf eine beschränkte Gruppe von wissenschaftlichen Quellen zurückzuführen oder sie mit einer einzigen Wissensdisziplin zu verbinden. Ihrer Ansicht nach greifen diese Studien zu kurz, weil sie keinen Einblick in den allgemeinen epistemischen Kontext und die »Wissenskonfiguration« gewähren. Dagegen vertritt sie einen systematischen Ansatz: Es geht ihr darum, eine »breitangelegte wissensgeschichtliche Untersuchung« durchzuführen und ein »System des Denkens« darzulegen, »das über eine innere Kohärenz verfügt« (S. 14). Die drei epistemischen Modelle sollen beweisen, dass »das psychologische Denken jeder dieser Zeiträume als ein kohärentes System beschrieben werden kann« (S. 27). Durch eine synchrone Perspektive soll die »Systematisierung psychologischen Wissens« (S. 269) in der Breite präsentiert werden. In ihrer Überblicksdarstellung lässt Janßen die meisten psychologischen und philosophischen Theorien Revue passieren, welche sich mit den Fragen der Halluzination, des Traums, der Einbildungskraft, des Gedächtnisses, der Subjektkonstitution oder des Verhältnisses zwischen Bild und Gedanken auseinandersetzen. Werke von Esquirol, Brierre de Boismont, Baillarger, Moreau de Tours, Müller, Griesinger, Maine de Biran, Lemoine, Macario, Maury, Hervey de Saint-Denys, Carus, Schopenhauer, Janet, Wundt, Mach, Berg-

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son, Delboeuf, Dugas, Freud, Ribot, Kaploun, Köhler, Cassirer und Husserl werden unter anderem berücksichtigt. Die französischen Theorien aus dem 19. Jahrhundert sind stark vertreten, da sie zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft in größerem Maß beigetragen haben als die metaphysisch geprägten deutschen Ansätze. Im literarisch-ästhetischen Teil zeichnet Janßen nach, wie sich das psyˇ chologische Wissen der Zeit in Flauberts, Cechovs und Musils Werk niederschlägt. In der Versuchung des Heiligen Antonius und in Drei Erzählungen interpretiert Flaubert die Halluzination ganz im Sinne der damaligen Theorien. Zum Beispiel lässt sich in der dritten Fassung der Versuchung des Heiligen Antonius eine Verschiebung von der Halluzination zum Traum sowie eine größere Berücksichtigung des Gedächtnisses beobachten, was der Entwicklung des psychologischen Wissens entspricht. In den Drei Erzählungen rücken Traum und Somnambulismus in den Vordergrund, wobei die Grenze zwischen Traum- und Wachzustand verwischt wird. Als postnaturalistischer Autor, der die psychologischen Grundannahmen ˇ des Naturalismus teilt, stellt Cechov Figuren dar, die unter mentaler Desaggregation leiden: Entweder zeichnen sie sich durch ein zum Automatismus reduziertes Bewusstsein oder durch eine psychische Instabilität und ein träumerisches Gedächtnis aus. Diese Individuen ohne Bewusstsein sind unfähig, ihrer selbst habhaft zu werden: Sie sind dem Akzidentellen und dem Wechselspiel von Empfindung, Erinnerung und Phantasma ausgeliefert. Robert Musil erweist sich als eine besonders aufschlussreiche Fallstudie, da er mit dem psychologischen Wissen seiner Zeit sehr vertraut war. Obwohl er sich weigerte, als Psychologe betrachtet zu werden, hat er nach Janßen im unveröffentlichten Notizblatt Bemerkungen über Apperceptor udgl. (1911) eine eigene psychologische Theorie entworfen. In Vereinigungen erforscht Musil psychopathologische Depersonalisationszustände, welche durch einen reduzierten Status des Ich, eine Negation des Realen, eine Störung des emotionalen Gleichgewichts und ein Aufgehen im Phantasmatischen gekennzeichnet sind. Janßen weist zu Recht darauf hin, dass Musil diese Zustände nicht unbedingt negativ bewertet: Als »Glück der Fremdheit in der Welt« (S. 430) können sie positiv erlebt werden. In Tonka verschiebt sich Musils Interesse auf den Prozess des Erinnerns. Der Text zeugt von der Unmöglichkeit, zwischen Erinnerung und Phantasma zu unterscheiden, und weist auf die Konstruiertheit der Erinnerung hin. Hier wird Depersonalisation nicht nur als Entfremdung von der Objektwelt bestimmt, sondern auch als Desozialisierung, d. h. als Befreiung von der sozial definierten Identität. In Die Amsel rückt das Problem der Kontinuität des Subjekts in den Vordergrund. Diese Kontinuität wird durch die subjektive und soziale Konstitution des Sinnes gewährt. Insgesamt bildet die Depersonalisationserfahrung die Grundlage zu Musils Poetik. Sie löst eine Distanznahme der Realität gegenüber aus und wird zu einem Sprungbrett für das Phantasmatische.

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Besonders aufschlussreich ist Janßens Erforschung der »Psychopoetik« der jeweiligen Autoren. Mit dem Begriff »Psychopoetik« ist die Art und Weise gemeint, wie diese Autoren das psychologische Wissen nicht nur als »Gegenstand«, sondern auch als »Verfahren« (S. 287) anwenden, d. h. wie sich das Wissen über thematische Anklänge hinaus im Stil, in der Erzählform und in der Ästhetik der untersuchten Werke niederschlägt. In Übereinstimmung mit dem dualistischen Alienationsmodell »alieniert« sich Flaubert in seinen Figuren. Auf der Erzählebene wird dieses »Sich-Versetzen in die Alterität« (S. 349) durch die erlebte Rede vollzogen. Auch weist sein Schreibprozess Züge auf, die für das Alienationsmodell kennzeichnend sind: Er verliert sich im Schreiben und erlebt Zustände künstlerischer Halluzination und träumeˇ rischer Phantasie. Cechov bevorzugt seinerseits eine Erzählweise, in der die Erzählinstanz kaum eingreift und Wiederholungen und losgelöste Details die Oberhand gewinnen. Im Fall Musils spiegelt die Erzählweise die Depersonalisation wider, wobei sich durch ein komplexes Netzwerk von Bildern die ungreifbare und eigenständige Innerlichkeit der Figuren im Imaginären behauptet. In seiner Suche nach Motivation und neuen Sinnzusammenhängen schreibt Musil Metaphern und Gleichnissen eine große Bedeutung zu und versucht damit, eine enge Verflechtung zwischen Denken und Fühlen herbeizuführen. Durch ihre transnationale Perspektive legt Janßen Verwandtschaften an den Tag, die von der Literaturwissenschaft bisher nur wenig berücksichtigt wurden. Während Musils Nähe zu Proust und Valéry schon ausführlich erforscht worden ist, sind die von der Verfasserin gezogenen Parallelen zu den Theorien von Janet, Dugas, Kaploun, Ribot und Halbwachs weniger bekannt. Janßens holistisches Vorhaben zeugt von der Anziehungskraft systematischen Denkens. Zwar geht sie vorsichtig vor – die drei Schlüsselbegriffe seien »Extrapolationen« (S. 24) und sollten nicht als exklusiv betrachtet werden; auch schließe das von ihr vertretene »diskontinuierliche Modell« (S. 22) der Wissensgeschichte evolutive Aspekte und Übergänge nicht aus –, doch bleibt ihr Vertrauen in das Erklärungspotential ihres synthetischen Ansatzes weitgehend unberührt. Auf die Gefahr hin, diesen ungebrochenen hermeneutischen Optimismus zu untergraben, soll hier auf vier problematische Punkte hingewiesen werden. Zunächst hat das dem systematischen Denken innewohnende Bedürfnis nach Ausführlichkeit und Geschlossenheit oft den Nachteil, dass Elemente, die nicht unmittelbar in das System passen, übersehen, beiseitegelegt oder umgeformt werden. Zum Beispiel setzt Janßen bei Flaubert einen Dualismus voraus, der ihre These eines substanziell dualistischen Alienationsparadigmas bestätigen soll. Nun hat Flaubert die Trennung zwischen Körper und Seele, Geist und Materie wiederholt bestritten. In vieler Hinsicht blieb er ein Anhänger des Monismus.

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Zweitens kann diese Studie wegen ihres Umfangs nicht immer in die Einzelheiten der untersuchten Theorien eingehen und deren feinen Nuancen gerecht werden, was mitunter zu Ungenauigkeiten oder Vereinfachungen führt. Um der Kohärenz des Ganzen willen wird die komplexe Vielfalt singulärer Sachverhalte aufgeopfert. Zum Beispiel bleibt die Darlegung der Gestaltpsychologie recht schematisch. Die Rückführung der Prägnanz der Gestalt auf das Modell der Entropie (vgl. S. 218) wurde von Köhler in seinem Spätwerk in Frage gestellt. Entropie als Maß der Unordnung lässt sich mit dem Gesetz der Prägnanz als Ordnungsprinzip schwer vereinbaren. Auch überträgt Janßen die Musil’schen Aussagen über die Psychoanalyse auf das ganze Feld der Psychologie, was Musils scharfe Gegenüberstellung von Psychoanalyse und experimenteller Psychologie übersieht. Drittens scheint der Versuch, eine übergreifende Synthese zu erreichen, manchmal fehlzugehen. Bei der Lektüre herrscht ein Gefühl der Fragmentierung und Dispersion, als ließen sich die dargelegten Theorien nicht systematisieren. So wie der heilige Antonius einer Reihe von Halluzinationen ausgesetzt wird, wohnen die Leser/innen einem Defilee der Theorien bei, die manchmal nur additiv aneinandergereiht werden. Viertens bleibt das Verhältnis zwischen Wissen und Literatur asymmetrisch. Obwohl Janßen ihr Buch in zwei ausbalancierte Teile gegliedert hat, hat der wissensgeschichtliche Teil einen klaren Vorrang. Die literarischen Texte gelten vor allem als Illustrationen der Wissenskonfiguration und als Bestätigung des theoretischen Ansatzes: Sie haben den Status von »Beispielfällen«, die verdeutlichen sollen, »wie tief zeitgenössisches psychologisches Gedankengut in der jeweiligen Poetik eines Autors verwurzelt ist« (S. 15). Zwar betont Janßen die Eigenständigkeit und Kreativität von Literatur: Psychologisches Wissen werde von literarischen Texten nicht nur passiv aufgenommen, sondern auch durch »aktive oder wertende Bezugnahme« (S. 488) auf die Probe gestellt, umgeformt und kreativ verändert. Das »Ins-WerkSetzen« von psychologischem Wissen impliziere auch ein »Arbeitenlassen« (S. 284). Da Literatur am Rand des wissenschaftlichen Felds angesiedelt sei, sei sie imstande, mit diesem Wissen nach ihren eigenen Regeln frei umzugehen. Zum Teil geht Sandra Janßen dieser kritischen Bloßlegung oder kreativen Umformung des Wissens nach: Das Spannungsverhältnis, das Flaubert zwischen Psychopathologie und Ästhetik der Einbildungskraft herstellt, die Art und Weise, wie er die Identität des Heiligen Antonius auf den christlichen Habitus und nicht auf eine metaphysische Essenz zurückführt, seine Neigung, der Imagination eine Kombinationskraft und Treffsicherheit zuzuschreiben, oder aber seine Traumpoetik, welche dem alienierten Zustand eine innere Kohärenz verleiht, legen nahe, dass er spätere psychologische Theorien vorwegnimmt. Insgesamt bleibt aber die Analyse dieses kritischen und kreativen Dialogs mit zeitgenössischem Wissen relativ begrenzt. Es geht Janßen vor allem

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darum, Übereinstimmungen, Verwandtschaften und Analogien zur Geltung zu bringen, während Spannungen, Widerstände und Unstimmigkeiten weniger beachtet werden. Ihr Ziel ist zu zeigen, wie literarische Werke am zeitgenössischen Wissen »teilhaben«, wobei die Natur dieser »Teilhabe« unspezifiziert bleibt. Dafür hätte sie auf eine Vorgangsweise zurückgreifen müssen, die sie von vornherein weggewiesen hat, nämlich eine genaue textgenetische oder rezeptionsgeschichtliche Untersuchung des Dialogs, den Autoren mit bestimmten Texten oder Theorien geführt haben. Diese Vorbehalte sind keineswegs der Lässigkeit der Autorin zuzuschreiben. Vielmehr sind sie die Folge eines konsequent durchgeführten methodologischen Ansatzes, dessen breit angelegte Systematik vor allem übergreifende Verwandtschaften und Resonanzen darlegen will. Auch sind die Analysen einzelner Texte auf dieses allgemeine Ziel ausgerichtet. Sandra Janßens Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Psychologie und zur Genealogie des Begriffs Phantasma. Außerdem bieten der beeindruckende Umfang und der methodologische Anspruch ihrer Studie produktive und anregende Denkanstöße. Die Leser/innen werden daran erinnert, dass die Erforschung des Verhältnisses zwischen Literatur und Wissen erhebliche methodologische und theoretische Herausforderungen mit sich bringt, und dass sie sich keineswegs auf die Untersuchung thematischer Verwandtschaften oder bloßer Einflussstudien reduzieren lässt. Florence Vatan

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Gezeichnet von [Nicolas] Mahler. Berlin: Suhrkamp 2013. 156 S. € 18,99. In der Comic-Szene wird Nicolas Mahler oft als »Meister des reduzierten Stils« bezeichnet. Seine Comicseiten sind schmucklos gestaltet, es finden sich nur wenige und wenn, dann eher dürftige Requisiten. Die Charaktere seiner Werke sind sich sehr ähnlich: Sie sind extrem stilisiert, haben meist keine Augen und keinen Mund und sind entweder groß und dürr oder klein und rund. Sein Stil ist sofort in allen seinen Werken erkennbar. Er passt diesen nicht dem gewählten Thema an, sondern adaptiert jede Geschichte und gibt ihr damit seine unvergleichliche Handschrift. Aber wie kommt es, dass sich Mahler mit einer Comic-Adaption des Mann ohne Eigenschaften auseinandersetzt? Denn wenn er der Meister des reduzierten Stils ist, dann ist Robert Musil der »Meister des Übermaßes«. Was leistet nun die Adaption Mahlers? Die zu Lebzeiten publizierten Teile von Musils Mann ohne Eigenschaften umfassen ca. 1000 Seiten (der Frisé-Werkausgabe); Mahlers Mann ohne Eigenschaften hingegen nur knapp 160 Seiten. Man soll aber diese Comic-Adaption nicht anhand ihres Seiten-

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umfangs beurteilen. Die Gefahr erkannte Nicolas Mahler selbst in seinem 2014 erschienenen Band Franz Kafkas nonstop Lachmaschine. In einem kurzen Sketch wird ein Germanist verspottet, der sich mit seinen scheinbar unfehlbaren Methoden einer Graphic Novel nähert – in der Hand trägt er ein Lineal – und sein Urteil spricht: Da Comic-Adaptionen im Vergleich zur Romanvorlage weniger Seitenumfang hätten, werde damit auch der literarische Wert gemindert. Dies führt dazu, dass der Germanist »den Niedergang der Hochkultur«77 nicht mehr erträgt und sich an seinem Schal erhängt. Der Musil’sche Roman ist durch ein Übermaß an Wörtern, Gedanken, Dialogen, Beschreibungen und essayistischen Abhandlungen gekennzeichnet. Mahler jedoch macht in seiner Adaption genau das Gegenteil: Mittels einer reductio ad absurdum verwandelt er alles, was bei Musil ein Übermaß darstellt, in eine extreme, fast hermetische Synthese. Er konzentriert sich in seiner Comic-Adaption auf die zwei Charaktere Ulrich und Moosbrugger sowie auf die sogenannte »Parallelaktion«. Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, wird im Roman von seiner Cousine Diotima folgendermaßen beschrieben: »Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös«, sein Gesicht »hell und undurchsichtig« (MoE, S. 93). In Mahlers Comic-Version ist Ulrich unverkennbar in klassisch ›mahlerischem‹ Stil gezeichnet, klein und rund. Wie in der Romanvorlage boxt er immer noch gegen einen Sandsack, dieses Mal aber lustlos, ohne großen Einsatz. Von seiner sportlichen Figur ist keine Rede. Im Roman ist Ulrich ständig damit beschäftigt, die äußere und innere Welt zu beobachten und zu analysieren. Im Comic wirkt er eher statisch, er wird in einer nachdenklichen Pose gezeichnet, als befände sich eine Überfülle an Gedanken in seinem Kopf. Das können aber die Leser/innen nur vermuten, denn er spricht kaum ein Wort. Im ersten Kapitel der Comic-Version, in dem der Protagonist Ulrich eingeführt wird, finden sich nur Bilder, kein Text. Mahler gibt Ulrichs Gedanken und Überlegungen nicht direkt wieder, sondern er verlegt sie auf eine graphische Ebene. Das ganze Comic-Buch besteht aus einer beinahe hypnotischen Wiederholung von Panels, die nur kleine Variationen zeigen. Auch der Wechsel zwischen schwarz-weiß und olivgrün (die einzige Farbe des Comics) verstärkt den repetitiven Charakter des Werks. Oft werden die Panels oder Figuren nur leicht abgewandelt. Auf Seite 17 beispielsweise steht Ulrich vor einer Tür, wahrscheinlich ist es die Tür seines »Schlößchen[s]« (MoE, S. 13). Dieselbe Szene wiederholt sich sechsmal auf dieser Seite, nur ist die Tür jedes Mal unterschiedlich gezeichnet. Die äußere Welt spiegelt in diesem Comic das geistige Leben der Charaktere wider. Mit dieser internen Fokussierung sehen die Leser/innen die Welt durch die Augen des Mannes ohne Eigenschaf77

Nicolas Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine. Berlin 2014, S. 59.

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ten. Es handelt sich um eine »Welt ohne Eigenschaften«, da sie sich von den Gedanken und Betrachtungen Ulrichs modellieren lässt. Philosophisch wird die Sache im vierten Kapitel erklärt. Dieses Kapitel in Musils Roman ist eine einzige philosophische Reflexion über den Begriff des »Möglichkeitssinns«. Musil schreibt im Mann ohne Eigenschaften: »So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.« (MoE, S. 16) Mahler benennt sein viertes Kapitel nach Musils 28. Buchkapitel: »Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat« (S. 51). Das Kapitel, ähnlich wie in der Romanvorlage, ist eine Art philosophische Ausschweifung, bei Mahler auf graphischer Ebene. Die Panels präsentieren eine Abfolge von geometrischen Figuren: Ist dies eine graphische Darstellung des Möglichkeitssinns? Musil schreibt im Roman: »Wer ihn [i. e. den Möglichkeitssinn] besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn« (MoE, S. 16). Wenn man den Gedanken Musils mit Mahlers Bildern verbindet, könnte man das Zitat auch anders formulieren: Hier ist ein Dreieck, aber es könnte auch ein Kreis oder ein Kegel sein. Mahler lässt uns durch die Augen von Ulrich die Welt wahrnehmen, und was wir sehen, ist eine Welt, die sich ständig verändert. Mit seinem Möglichkeitssinn kennt Ulrich keine beständige Form, alles wandelt sich mit und durch seine(n) Gedanken. In diesem Sinn könnte man auch das Motto am Anfang des Comic-Buches interpretieren. Mahler zitiert Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus: »Alles wandelt sich von einem Augenblick zum andern, jeder Bezug ist ein doppelter und kreuzt ständig vom Wirklichen zum Unwirklichen.« (S. 7) Und nicht zufällig endet das Buch mit einem fast wortwörtlichen Zitat, das aus dem vierten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften stammt: »Es könnte ebensogut anders sein.« (S. 156)78 Auch Moosbrugger bewegt sich in dieser Welt der Möglichkeiten. Bekanntlich wird er im Roman verhaftet, weil er eine Prostituierte ermordet hat. Im Comic sitzt er in seiner Zelle, und plötzlich werden die Wände grün und der Boden wellt sich wie das Meer. In diesem Fall handelt es sich aber nicht um den Möglichkeitssinn. Moosbrugger ist ein psychisch kranker Mensch, und Mahler gibt dessen Halluzinationen wieder. Im Gefängnis wird er psychiatrisch untersucht. In Musils Roman zeigen die Ärzte Moosbrugger das Bild eines Eichhörnchens. Darauf antwortet er: »›Das ist halt ein Fuchs oder vielleicht ist es ein Hase; es kann auch eine Katz sein oder so.‹« (MoE, S. 240) In der Comic-Version wird die Untersuchung als eine Art Rorschach-Test inszeniert. Moosbrugger soll erkennen, welches Tier im Bild dargestellt wird. 78

Das Originalzitat bei Musil lautet: »Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.« (MoE, S. 16)

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Zuerst sieht er einen Fuchs – und tatsächlich sieht die Figur wie ein Fuchs aus –, dann aber korrigiert er sich und meint: »oder vielleicht ist es ein Hase« (S. 82). Das Bild bleibt dasselbe, aber jetzt sind die Ohren des Tiers größer und es ähnelt tatsächlich einem Hasen. Im folgenden Panel sieht es aber doch wie »eine Katz« aus (ebd.). Am Ende ist Moosbrugger ganz verwirrt. Die Figur im Bild ist nicht mehr zu erkennen, und er schweigt. Die Welt von Moosbrugger wandelt sich – wie die von Ulrich – ständig, aber nicht durch seine Betrachtungen und Gedanken, sondern durch die psychischen Störungen und die Halluzinationen, die seinen Kopf beherrschen. In dieser Comic-Adaption ist es dem Künstler gelungen, die Herausforderung der Darstellbarkeit und der medialen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften brillant zu lösen. Es wäre darüber hinaus interessant gewesen, hätte er auch die »problematischen« Aspekte des Romans thematisiert. In einem Interview hat Mahler festgestellt: »Ich bin allerdings kein MusilVerehrer. Der ist phasenweise brillant und dann wieder unerträglich . . . [. . .] Es ist schon ein extremes Macho-Buch.«79 Die gleiche Meinung vertritt eine seiner Comic-Figuren, eine Osteophatin. Im bereits erwähnten Band Franz Kafkas nonstop Lachmaschine äußert sich diese gegenüber dem Alter Ego des Künstlers: Den Mann ohne Eigenschaften hasse ich! Für mich verströmt dieses Buch die Aura von Mottenkugeln. Die Frauenfiguren sind allesamt psychisch gestört und/oder herrlich ungebildet . . . Furchtbar! Die Männer hingegen ringen alle mit ihrer Genialität. Und der dringlichste Wunsch der Frauen ist, mit einem Genie zusammen zu sein . . . Eine Frau muss wirklich ordentlich deppert sein, um einen Mann für ein Genie zu halten!80

Und Der Mann ohne Eigenschaften aus männlicher Sicht? In derselben Szene trifft der Autor auf einen Journalisten. Bei einem Glas Bier unterhalten sie sich über Musils Roman. Der Journalist erinnert sich an sein Studium: »Ja, ja, Der Mann ohne Eigenschaften! Das war in meiner Studienzeit ein sehr, sehr wichtiges Buch für mich. Der Mann ohne Eigenschaften besteht ja aus zwei Bänden. Und das Geniale daran ist, dass beide Bände genau gleich dick sind! Da hat man super die Playstation draufstellen können.«81 Giovanni Remonato

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Martin Reiterer: Nicolas Mahler: »Tragödie ist mir zu fad«, in: Wiener Zeitung, 5. 9. 2014, http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/zeitgenossen/?em_cnt= 657751&em_cnt_page=2 (aufgerufen am 8. 12. 2015). Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine (s. Anm. 77), S. 65 f. Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine (s. Anm. 77), S. 67 f.

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Hans-Georg Pott: Kontingenz und Gefühl. Studien zu/mit Robert Musil. München: Wilhelm Fink 2013 (= Musil-Studien, Bd. 41). 233 S. € 30,90. »Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, ist ja der Mann der (vielen) Möglichkeiten und sozusagen der Prototyp eines Menschen, der den Anforderungen der modernen Welt [. . .] nicht mit den traditionellen Reduktionsprogrammen begegnet« (S. 35), so Hans-Georg Pott in Kontingenz und Gefühl. Der Düsseldorfer Emeritus, der seit den 1980er Jahren zahlreiche Beiträge zur Musil-Forschung geliefert hat, legt hier seine zweite Musil-Monographie vor. Der Band, schon 2013 erschienen, versammelt zum Teil bereits verstreut gedruckte, zum Teil aber auch hier erstmals veröffentlichte Aufsätze von 1987 bis 2013; die bereits einmal publizierten Texte erscheinen in überarbeiteter Form. Der gemeinsame Schwerpunkt liegt auf der Analyse von Kontingenzphänomenen im Mann ohne Eigenschaften, als Textgrundlage wählt Pott dafür vorwiegend den von Walter Fanta so bezeichneten »kanonischen« Teil des Romans sowie die sogenannten ›Druckfahnenkapitel‹, um »textphilologisch auf der sicheren Seite« zu bleiben (S. 54). Pott stellt seinen Beiträgen die gemeinsame Zielvorgabe voran, »zu zeigen, wie Kontingenz(re)präsentation und Kontingenzbewältigung funktionieren« (S. 10). Damit bearbeitet er ein aktuelles Feld der Musil-Forschung,82 weshalb die captatio benevolentiae, seine Arbeiten seien »methodisch [. . .] schwer einzuordnen« und »nicht leicht an eine Theorie (-Mode) an[zu]schließen«, ja gar »Puristen wissenschaftlicher Mainstream-Prosa anstößig« (S. 8), vielleicht etwas kokett erscheint. Thematisch gliedert sich der Band in fünf Hauptteile – »Das Subjekt bei Robert Musil«, »Kultur und Gewalt«, »Heilige Namen und kollektive Mythen«, »Geld und Sinn«, »Das Gleichnis« – sowie zwei »Beilagen«. Der erste Abschnitt über das ›Subjekt‹ bietet mit zwei Beiträgen eine grundlegende Herleitung zentraler Analysebegriffe. Pott betont die Bedeutung von Ernst Machs Funktionalismus sowohl für Musils wissenschaftliches Denken (anhand seiner Dissertation) als auch für seine fiktionalen Werke (anhand des Mann ohne Eigenschaften) und leitet hieraus die Relevanz des Kontingenzbegriffs für beide Bereiche ab: »Erst mit der Umstellung auf Funktionsanalyse wird die Welt kontingent« (S. 16). Der erste Beitrag, »Analyse und Dekonstruktion des Menschen«, vermag so noch einmal plausibel zu machen, warum ein Mach’scher Funktionalismus für den Wissenschaftler, der Schriftsteller wird, eine attraktive Form der Sinndeutung darstellt und im Mann ohne Eigenschaften im Begriff des »Möglichkeitssinns« wieder auftauchen kann. In einem zweiten Schritt zeigt Pott, wie Musil in seinem Roman mit dem Konzept des »motivierten Lebens« auf den unbefriedigenden Befund 82

Vgl. etwa Martin Dillmann: Poetologien der Kontingenz. Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne. Köln u. a. 2011.

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antwortet, dass in einer kontingenten Welt das ›Subjekt‹ nicht mehr als Begründungsprinzip zur Verfügung steht. Die Texte des Abschnitts »Kultur und Gewalt« befassen sich – vergröbert gesagt – mit dem politischen Gehalt des Mann ohne Eigenschaften. Dazu werden der Kontingenzdiskurs des Romans und die »Gefühlspsychologie« der späten Kapitel konsequent einer politischen Relektüre unterzogen. Dieser Abschnitt darf als Kernstück des Buches gelten, da er nicht nur den größten Raum einnimmt, sondern auch wichtige Wege aufzeigt, den nicht selten als unpolitisch verbuchten (und geschmähten) Text fruchtbar vor seinem historischen Hintergrund zu lesen. Der Fokus ähnelt dem von Pott selbst gemeinsam mit Hans Feger und Norbert Christian Wolf herausgegebenen Band Terror und Erlösung,83 aus dem der Autor seinen eigenen Beitrag »Anderer Zustand/Ausnahmezustand« denn auch hier übernimmt. Dieser bildet den zweiten Schritt auf dem Weg zum politischen Mann ohne Eigenschaften, zunächst positioniert Pott Musil jedoch in der Kulturdebatte der 1920er Jahre. Luhmann dient hierbei als doppelte Referenz: Zum einen wird die Debatte insgesamt als Streit um Kontingenz gelesen – zitiert wird für die konservative Kulturkritik, die Kontingenz nur als Untergang konzeptionalisieren könne, Carl Schmitt –, zum anderen wird sie über den bei Luhmann entlehnten Begriff des ›Vertrauens‹ in die Politik überführt. Den Verlust von »Vertrauen in Staat und Gesellschaft« (S. 30 f.) macht Pott als politische Dimension der zwischen Utopie und Hoffnungslosigkeit polarisierten Kulturkritik geltend. Hiermit gelingt es ihm unter Hinzuziehung der Musil’schen Notizbücher, den Experimentalpsychologen Musil, der sich mit Angst und Vertrauensverlust befasst, auch als politischen Psychologen zu lesen.84 Der politische Kommentar Musils zur Machtübernahme der Nationalsozialisten besteht demzufolge darin, sie als Ergebnis einer »Angstabwehr« zu beschreiben, als eine so rationale wie manipulative Umsetzung von Kontingenzangst und Vertrauensverlust in politische Macht. Bedenkt man, dass seit Erscheinen des Bandes »die Ängste der Menschen« als politisches Schlagwort wieder rasante Konjunktur haben, lässt diese Deutung noch einmal aufhorchen. Musils Kulturkritik erscheint in Potts Analyse als ein Versuch, politischer Affektmanipulation und der Gewalt, in die sie mündete, das Wasser abzugraben. Mit Fokus auf den Mann ohne Eigenschaften zeigt Pott dies an Musils Konzept des »anderen Zustands«, dessen Bedeutung für das skizzierte po83 84

Vgl. Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. München 2009. An dieser Stelle könnte eine Konfrontation der Kernthesen mit der großen Monographie von Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011, wohl besonders fruchtbar sein, die sich im ersten Teil ausführlich mit Musils programmatischer »Kontingenztoleranz« (ebd., S. 93) bei der theoretischen Grundlegung des Romans auseinandersetzt.

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litische ›Programm‹ er entfaltet. In Potts Lesart bezieht sich auch Musils teilweise esoterischer und mit religiöser Bildsprache aufgeladener »aZ«-Text der Geschwisterhandlung (kanonischer 3. Teil und Druckfahnenkapitel) auf die politische und weltanschauliche Lage der 1930er Jahre. Er interpretiert den »aZ« als »Entwurf einer Ethik und Politik der Gefühle« (S. 53) anlässlich der historischen Umbrüche von 1914 und 1933. Für die Interpretation des Romans bedeutet das, das »Tausendjährige Reich« des Mann ohne Eigenschaften »als eine sozialpsychologische Studie zu der aufgeregten Zeit zwischen den Weltkriegen [zu] lesen, die unter dem Titel ›anderer Zustand‹ Verhältnisse im Kleinen studieren will, dort, wo sie greifbar zwischen Personen sind, um Probleme von Gesellschaft und Politik zu verstehen und experimentell eine andere (Liebes-) Ordnung zu entwerfen.« (S. 57) Als Referenz für den Affektbegriff dient Pott dabei – eher als Freud – Max Scheler, der für Musil ein bewundertes Vorbild darin ist, dass er vom individuellen Affekt auf massenpsychologische Vorgänge geschlossen hat. Pott stellt den Kontrast zwischen den Geschwistern, die ihre Utopie auf dem Liebesaffekt aufbauen, und Hitler her, der in Musils Notizen als personifizierter Hassaffekt auftaucht. So gelingt ihm die Interpretation des »aZ« als »Politik der Gefühle«. Er illustriert das mit dem originellen Abgleich zwischen der mystischen »Feuer«-Metaphorik Ulrichs und der politischen Metaphorik der Zeit (vgl. S. 65 ff.). Ulrichs Gefühlspsychologie erscheint hier als Massenpsychologie, als Gegenprojekt zur nationalsozialistischen Berechnung der Massen »à la baisse«. Dass sie dennoch scheitert, zeigt im Roman das Scheitern des »anderen Zustands«, und auch der politische Denker Musil gelangt nicht zur Idee einer gelingenden pluralistischen Gesellschaft, weil er sich die Frage, wie gesellschaftliche Ordnung außerhalb des »Ausnahmezustands« gelingen kann, überhaupt nicht stellt. Die bisher entfalteten Grundgedanken variiert, illustriert und vertieft Potts Buch in den folgenden Beiträgen. Etwa, um nicht alle im Detail aufzuzählen, in einem Vergleich der Kontingenzproblematik von Mann ohne Eigenschaften und Zauberberg, die sich in beiden Romanen als »Grundwiderspruch zwischen seelischer Altertümlichkeit und intellektuellem Hochmut« (S. 94) der Figuren entwickelt, oder anders gesagt, als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Daraus haben die Autoren aber unterschiedliche Projekte abgeleitet, demokratische Hymnen (Mann) und literarische Sozialexperimente (Musil). »Heilige Namen und kollektive Mythen« greift ebenfalls auf Kontingenz als Problem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zurück, um mit Musils »Kakanien« die Bürgerkriege im Balkan zu illustrieren. Die Beiträge zum Abschnitt »Geld und Sinn« bieten (1) eine vertiefte Interpretation der Arnheim-Figur mithilfe des systemtheoretischen Begriffs von Geld als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium an und vergleichen (2) die Analyse dieses Mediums bei Musil und Simmel unter der Leitfrage, wie beide den Rationalisierungsprozess durch den Gelddiskurs darstellen und auch dessen Defizite bei der Bewältigung von Kontingenz analysieren. Die Beiträge

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zum »Gleichnis« schließlich stellen mit Jean Paul und Freud Kontexte und Vergleichsebenen bereit, die geeignet sind, noch einmal Musils hohen epistemologischen Anspruch an Dichtung zu beleuchten. »Gleichnisse« als Medium der Integration von Intellekt und Gefühl können, so Musils Konzept, begreif- und mitteilbar machen, was nicht versachlicht werden kann. Die von Musil selbst gebrauchte Terminologie von »Gefühl« und »Verstand« verfolgt Pott bis in die neurowissenschaftlich postulierte Verbindung zwischen Emotion und Kognition und in die wissenschaftliche Praxis selbst. In der Metaphorik Musils und Jean Pauls gehen Begriffsbildung und Vergleich ineinander über – am Werk ist damit »nichts geringeres als eine Neubewertung von Analogien im Diskurs« (S. 173), das Gleichnis erhält Erkenntnisfunktion. Wie der Mann ohne Eigenschaften dieses Konzept von »Gleichnis« einsetzt, zeigt Pott im Rückgriff auf Freuds Jenseits des Lustprinzips an den Geschwisterkapiteln: In dem Moment, da Ulrich und Agathe vor dem Inzest stehen, sprechen sie, statt ihn zu vollziehen, in Gleichnissen, deren Aneinanderreihung auf keinen »Tiefsinn, sondern die Oberfläche« (S. 188) verweist. Pott stellt sie in die Tradition der nature morte. Andere haben hier von Bildparataxen (Karl Eibl85 ) oder Listen (Martin Dillmann86 ) gesprochen, ohne damit aber den (im Mann ohne Eigenschaften expliziten) Bezug zum Stillleben und zu Freuds »Todestrieb« herauszustellen. In der Gesamtansicht mögen die terminologischen Referenzen des Bandes nicht neu oder teilweise sogar Klassiker der Musil-Forschung sein (wichtig sind vor allem Luhmann und, weniger explizit, Foucault; an intertextuellen Bezügen tauchen Nietzsche, Weber, Scheler, Freud, natürlich Mach und weitere auf). Sie hier jedoch in der Nachfolge Klaus Amanns87 einmal konsequent ›politisierenden‹ Lektüren zugeführt zu sehen, und dies zuweilen auch im Detail, erfrischt. Das Buch ist deshalb mit seiner Kombination aus ›großer Linie‹ und deren Anwendung in einigen Close Readings sehr anregend für eine stärker politische Deutung auch der Nachlasskapitel. Allein durch die Anlage des Bandes wird diese interpretatorische Detailarbeit wohl gelegentlich in den Hintergrund gedrängt. Zum einen ist den Aufsätzen ihre verstreute Provenienz manchmal anzusehen, denn sie wurden nicht zu einer durchgängig argumentierenden Monographie umgeschrieben, sondern sind tatsächlich als Sammlung teilweise überlappender Beiträge anzusehen. Thematisch ist das sehr einleuchtend, hat jedoch auch zur Folge, dass sich die Grundbegriffe und makroanalytischen Befunde, die man aus den ersten Beiträgen des Bandes kennt, später gelegentlich bis hin zu wörtlichen 85

86 87

Vgl. Karl Eibl: »Ich liebe mir sehr Parallelgeschichten«. Zur Kontinuität der »Kunstperiode« von Goethe zu Musil, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i.Ts. 1980, S. 127–138. Vgl. Dillmann: Poetologien der Kontingenz (s. Anm. 82). Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007.

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Übernahmen wiederholen. Auch ist der Untertitel – »Studien zu/mit Robert Musil« – ernst zu nehmen; einige der auf den »Kultur und Gewalt«-Teil folgenden Abschnitte wollen weniger Studien zu als Studien mit sein, das heißt, Musil weniger neu interpretieren als ihn im Dienste anderer Erkenntnisinteressen als Beispiel heranziehen (etwa für kulturelle Zerfallsphänomene von Großreichen). Spezialisierte Musil-Forscherinnen und -Forscher mögen also an dieser Sammlung die vergleichsweise geringe Zahl detaillierter Kapitelinterpretationen zum Mann ohne Eigenschaften bedauern, die gegenüber allgemeineren Ausführungen etwas zurücktreten, aber, wo Pott sie uns gönnt, stets eine bereichernde Anwendung der im Band entfalteten Kategorien darstellen. Da sie vor allem die Aufsätze jüngeren Datums zieren, darf man weitere Beispiele in Potts nächsten Beiträgen zur Musil-Forschung erhoffen. Florens Schwarzwälder

Silvia Tiedtke: Poetik des Entzugs. Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie, Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Würzburg: Ergon 2013 (= Literatur – Kultur – Theorie, Bd. 15). 224 S. € 35,–. Eine sogenannte ›Poetik‹ vorzulegen, besitzt für Literaturwissenschaftler offenkundig einen besonderen Reiz. Diverse Studien der letzten Jahre und Jahrzehnte sind so betitelt. Das ist einerseits schlüssig, denn die Poetik, verstanden als Lehre der Dichtkunst, ist seit jeher integraler Bestandteil der Philologie und der Ästhetik. Andererseits wirken die damit verbundenen Fragen nach Wesen, Gattungen und Formen der Dichtung reichlich traditionell angesichts der theoretisch-methodischen und kulturwissenschaftlichen Öffnung der modernen Literaturwissenschaften. Der vermeintliche Widerspruch klärt sich bei näherem Blick auf die Felder einiger neuerer ›Poetiken‹, denen es mitnichten um eine Rephilologisierung, sondern vielmehr um eine theoretisch avancierte ›Kulturpoetik‹ geht.88 Dieser Ausweitung des Gegenstandsbereichs und des Instrumentariums ist auch die renommierte Buchreihe »Literatur – Kultur – Theorie« im Ergon-Verlag verpflichtet. Dort ist 2013, als Band 15, die Monographie Poetik des Entzugs erschienen. Es handelt sich um Silvia Tiedtkes Dissertation, die an der Ludwig-MaximiliansUniversität München entstand und von Oliver Jahraus, einem der Reihen88

Vgl. exemplarisch Michael König: Poetik des Terrors. Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2015; Anne-Berenike Rothstein (Hg.): Poetik des Überlebens. Kulturproduktion im Konzentrationslager. Berlin, Boston 2015; Roland Borgards: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007; Andreas Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge. Bielefeld 2005 – eine Kulturpoetik, wie sie programmatisch die Zeitschrift KulturPoetik vertritt.

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herausgeber, betreut wurde. »Entzug« wird darin als Signum der Moderne und als »kreatives Prinzip« der Literatur verstanden, das »auf den Leser« übergehe (S. 18). Tiedtke untersucht Verhältnisse von Präsenz und Absenz, von Totalität und Fragment und von Darstellbarkeit und Nicht-Darstellbarkeit um 1800 und um 1900. Dahinter steht ein Verständnis der literarischen Moderne als Makroepoche, die mit der Frühromantik beginne und über die verschiedenen Moderne-Strömungen (Naturalismus, Ästhetizismus, Décadence, Impressionismus, Expressionismus etc.) bis ins 20. Jahrhundert reiche. Diesen sehr weiten Moderne-Begriff hat Silvio Vietta geprägt, dessen originelle Prämissen und einschlägige Erkenntnisse in Tiedtkes Einleitung (»Die ›Welt an sich‹ – Ein fundamentales Erkenntnisproblem der Moderne«) ausführlich referiert werden (vgl. S. 11 ff.).89 In ihrer Einleitung geht es, nach einem durchaus erfrischenden, essayistischen Einstieg über Dan Flavins minimalistische Lichtinstallationen in der Münchner Pinakothek der Moderne (S. 9 ff.), insbesondere um den engen Zusammenhang von Denk- und Darstellungsformen, um die ›Reflexionswende‹, die mit den frühromantischen Spekulationen einsetze und einhundert Jahre später, in der Literatur um 1900, »besonders radikal« realisiert werde – so Tiedtkes grundlegende »These« (S. 18). Vor diesem Hintergrund erklärt sich die, auf den ersten Blick erstaunliche, Autorentrias (Friedrich Schlegel – Robert Musil – Rainer Maria Rilke), und so zeigt sich das Interesse aller Buchpartien, d. h. auch der Kapitel zu Schlegel, für ein historisch vertieftes Verständnis der ›Klassischen Moderne‹. Tiedtkes optisch ansprechend gestaltete und seitenmäßig handhabbare Monographie (224 S.) besteht aus fünf Teilen: Auf die bereits skizzierte, problemorientierte Einleitung (14 S.) folgen umfangreiche, jeweils mehrfach untergliederte Kapitel zu Schlegel (45 S.), zu Musil (60 S.) und zu Rilke (62 S.), eine Engführung und einen epochalen Ausblick mit Bemerkungen zu Hugo von Hofmannsthal bietet das Schlusskapitel (12 S.). Damit ist die Studie chronologisch und annähernd symmetrisch aufgebaut, jeder der drei ausgewählten Autoren wird in einem eigenen Kapitel behandelt, wobei Musil und Rilke schon quantitativ im Zentrum stehen. Dafür dient Schlegels Rede über die Mythologie als Ausgangspunkt der Beobachtungen und Überlegungen Tiedtkes, die um die Offenheit des Textes als ›Gewebe‹, um das jeweilige Verhältnis von histoire und discours und um den Akt des Lesens kreisen, der Ganzheit stifte oder zumindest verheiße (vgl. S. 22 f.). Letzteres, die Verheißung dessen, was sich immer wieder entzieht, bezeichnet Tiedtke vielfach als Utopie (u. a. S. 14 ff.). Ein solcher Terminus irritiert jedoch, wenn es sodann um Musils ersten Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) geht; denn für Musil, insbesondere im Roman Der Mann ohne Eigenschaften, sind ›Utopie‹ und ›Utopismus‹ bekanntlich Zentralbegriffe. Zu 89

Vgl. Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992.

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erinnern ist hier etwa an die »Utopie des exakten Lebens«, die »Utopie der induktiven Gesinnung«, die »Utopie des Essayismus«, die »Utopie des anderen Zustands« und an den »bewußten Utopismus«.90 Thematisiert werden diese prominenten Konzepte und etwaige Begriffsnuancen von Tiedtke nicht, überhaupt zieht sie den Mann ohne Eigenschaften nur selten vergleichend heran. Häufiger rekurriert sie stattdessen auf Begriffe und Konzepte Walter Benjamins und der Benjamin-Forschung, namentlich auf die Studie von Winfried Menninghaus zur Schwellenkunde:91 Aura und mémoire involontaire, Schwellenerfahrung und Schwellenkunde werden in methodischer Hinsicht aufgegriffen – etwa in Kap. 3.2, »Die Verwirrungen als Schwellenkunde« (S. 78 ff.). Das ist begrüßenswert, zumal die Analogien und Differenzen zwischen Musil und Benjamin bislang vergleichsweise wenig erforscht sind.92 Genau diesen Verhältnissen jedoch geht Tiedtke nicht weiter nach, so dass ihre Bemerkungen zu Benjamin allgemein bleiben. Dementsprechend heißt es (S. 95, Anm. 78 u. 79): »Ohne hier eine ausführliche Betrachtung oder gar einen Vergleich anzustreben oder ausführen zu können [. . .]«; »Benjamins Argumentation soll hier nicht im Detail nachvollzogen werden«. Wer an beiden Autoren gleichermaßen interessiert ist, wird hier enttäuscht. Das ist nicht weiter verwunderlich, führt aber zur Frage, wofür und auf welcher Basis Benjamin eigentlich bemüht wird. Zum bloßen Stichwortgeber degradiert ihn Tiedtke glücklicherweise nicht, ein substanzieller Beitrag zur Erörterung des ›Entzugs‹ wird ihm von der Verfasserin allerdings auch nicht zugebilligt – und dies trotz seiner mehrfach zitierten (vgl. u. a. S. 21), aber von Tiedtke nicht weiter einbezogenen Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920), in der Benjamin die »Unendlichkeit der Reflexion« bei Schlegel und Novalis als »Unendlichkeit des Zusammenhanges« erkennt.93 Benjamins schillernde Begriffe werden hier also gern zitiert und weitestgehend umstandslos auf Musil appliziert. Das gilt zuweilen auch für Befunde der Forschung, die einfach referiert werden.94 Nichtsdestoweniger besticht Tiedtkes textnahe Deutung der Verwirrungen. Konzise beschreibt sie die paradoxe Ausgangssituation: »Der expliziten 90 91 92

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Vgl. Jiyoung Shin: Der »bewußte Utopismus« im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Würzburg 2008. Vgl. Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a. M. 1986. Eine der wenigen Parallellektüren unternimmt Andrea Gnam: Die Bewältigung der Geschwindigkeit. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und Walter Benjamins Spätwerk. München 1999. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974, S. 26. Vgl. S. 91: »Nach der Untersuchung von Lars W. Freij [1972, S. 118–122] finden sich insgesamt 34 Belege im Text für die Schlüsselwörter Tür, Tor und Pforte.« Ob Tiedtke diesen, für ihre Deutung des Törleß-Romans als »Schwellenkunde« durchaus relevanten, Befund überprüft hat, bleibt unklar.

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Betonung der Sprach- und Erkenntnisproblematik«, die sich bereits im dem Roman vorangestellten Maeterlinck-Motto findet, »steht somit eine Verweigerung der expliziten Reflexion dieser Problematik in Bezug auf den eigenen (Erzähl-)Text als sprachlichem Ausdruck gegenüber« (S. 77). Tiedtkes »zentrale These« lautet nun, dass »der Text [. . .] in einem solchen Maße mit sich selbst und der Frage nach dem Wie der Erzählung beschäftigt [ist], dass er sie zu seinem vornehmlichem Inhalt macht« (ebd.). Ja, »der Erzähler« spreche »von nichts anderem als von dieser Frage nach den Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks. Er stellt sie nur scheinbar nicht, denn sie ist immer schon mit Törleß und seinen Erlebnissen gestellt« (ebd.). Damit seien die »Verwirrungen als Transzendentalpoesie par excellence« (S. 78) und »als neue Mythologie« zu verstehen,95 als »Medium eines Erlebnisses von Defizienz, das sich im Lektüreprozess immer wieder neu einstellt« (S. 124). Das werfe die Frage auf, »wie der Text ein solches Defizienzerlebnis im Lektüreprozess erzeugt« (ebd.). Die Antwort zu finden, wird dem Leser von Tiedtke jedoch nicht leichtgemacht. Oft lenken andere, nachdrücklich vorgetragene Befunde ab – etwa dann, wenn »das Verständnis des Netzes als Ausdruck des Höchsten und damit als eigentliche Poetik des Romans« bezeichnet und diese Einsicht als Verdienst »der in der vorliegenden Arbeit durchgeführten Perspektivierung durch Schlegels Konzept der neuen Mythologie« herausgestellt wird (S. 130, Anm. 164). Wiederum überzeugen kann das dritte Kapitel zu Rilke. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) werden als »Zeugnis einer fundamentalen Krise« interpretiert, als Dokument »des Endes einer Epoche« und zugleich als »das Programm des Aufbruchs in eine neue Epoche«, also »als Synthese zwischen Altem und Neuem« (S. 133). Tiedtke fokussiert v. a. die Figur Malte als »Schwellenfigur« (S. 134). Ob dieser wirklich ein »Dichter« ist, wie die Verfasserin mehrfach schreibt (vgl. S. 135), oder lediglich »auch so ein Dichter geworden wäre«, so der Konjunktiv 2 in den Aufzeichnungen,96 bleibt zu diskutieren. Fest steht hingegen, dass der hier implizit angesprochene französische Referenzdichter Francis Jammes heißt, nicht Jamme (vgl. S. 136, Anm. 5, u. S. 200), und dass bereits die ältere Forschung die von Tiedtke akzentuierte eigenwillige Form der Aufzeichnungen (vgl. S. 136 f.) präzise beschrieben und damit deren modernen Charakter erfasst hat.97 95

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Zu einer anderen Einschätzung, nämlich zu einem »Vorstoß« Musils, der »im Kern antimetaphysisch« sei und ihn »vom romantischen Verfahren« einer »Transzendentalpoesie« unterscheide, kommt, zumindest mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften, Jürgen Daiber: Individualpsychologische Diagnose und literarische Therapie. Zum Symptom der Schreibhemmung bei Robert Musil, in: Musil-Forum 27 (2001/2002), S. 210–241, hier S. 233. Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 3. Hg. v. August Stahl. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 483. Vgl. bereits den Kommentar von Hansgeorg Schmidt-Bergmann (S. 243) im Anhang der Leseund Studienausgabe der Aufzeichnungen in der »Suhrkamp BasisBibliothek« (2000).

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Sicherlich geht es Rilke in den Aufzeichnungen, wie auch in den Neuen Gedichten, »um eine Rückkehr zu den Dingen vor ihrer Einordnung in der Wahrnehmung« und um das »›neue Sehen‹« (S. 140). Doch inwiefern wirft dieses bekannte »Programm [. . .] ein ganz neues Licht auf Malte und seine Situation in der Großstadt« (S. 140)? Gemeint sein dürften hier wohl »der Einzelne als Desiderat des ›neuen Sehens‹« (S. 141), der »Tod als Darstellungsproblem«98 (S. 158) und die »andere Wirklichkeit als zentrales Thema der Aufzeichnungen« (S. 161). Doch wie genau münden diese Einzelbeobachtungen in die »grundlegende These« (S. 184) des letzten Kapitels (Kap. 4.4, »Die Teppiche der Dame à la Licorne – der Text als Gewebe«)? Laut dieser These sind die Aufzeichnungen »nicht nur ein solches Kunstwerk, das, wie es bei Rilke heißt, ›nie da ist‹, sondern sie reflektieren darüber hinaus genau diese Verfasstheit in Text- und Lektüremodellen, in denen der Leser und seine Lektüre von zentraler Bedeutung sind« (S. 184). Hier bleibt der Leser der vorliegenden Monographie leicht orientierungslos zurück. Denn so hilfreich die in jedem Kapitel explizit genannten Thesen wirken, ist doch ihr Zusammenhang für die Gesamtargumentation der Studie nicht immer evident. Dies gilt auch und gerade für deren (zu) enigmatisches Ende.99 Festzuhalten bleibt daher, dass Tiedtkes anregende Studie ideengeschichtliche Linien zwischen der Zeit um 1800 und um 1900 zieht, sie vergleicht drei kanonische Autoren und arbeitet systematische Nähen heraus, blendet jedoch bewusst die, durchaus gegebenen, Rezeptionsverhältnisse aus (vgl. S. 19 f.). Das ist legitim und oftmals auch erhellend, aber angesichts von Musils durch die Arbeitshefte dokumentierter Schlegel-Lektüre und seiner Rede zur RilkeFeier (1927) zumindest bedauerlich. Im Sinne der Schlegel’schen »Symphilosophie«, »Sympoesie« und der Überlegungen zu Totalität und Fragment, die Tiedtke auch bei Musil und Rilke erkennt, tritt damit erst ein ›Teil‹ des Themenfeldes hervor, der tatsächlich auf das ›Ganze‹ weist, sich jedoch ohne Berücksichtigung der Rezeptionsverhältnisse nicht zum ›Ganzen‹ rundet. Hier zeigen sich das Potenzial und die Grenzen eines auf sachlicher »Konstellation« (S. 19) aufbauenden Vergleichsverfahrens. Robert Krause

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Vgl. Kap 4.2.2 (»Das Unbestimmbare als Darstellungsproblem – der ›andere Tod‹«) und Kap. 4.2.3 (»Das Schreiben angesichts des ›Anderen‹«), die produktiv anschließen an Befunde von Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetik der letzten Dinge. Frankfurt a. M. 1989. Vgl. S. 206 f.: »Mit der Lektüre der Verwirrungen und der Aufzeichnungen nimmt der Leser den Imperativ des Lesens auf sich – die Erlösung, derer er im Lesen bedürftig wird, liegt in diesem Vorgang selbst. [. . .] Lesen wird zur Passage, in der sich die Moderne unabschließbar von sich selbst heilt und sich selbst unendlich weitertreibt. Im Lesen liegt die Rettung des modernen Subjekts und seine endgültige Festschreibung.«

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Wilhelm Voßkamp, Günter Blamberger, Martin Roussel (Hg.): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. München: Wilhelm Fink 2013 (= Morphomata, Bd. 9). 331 S. € 40,90. Die Politik hat ein Interesse daran, sich selbst als ›alternativlos‹ darzustellen. Kunst und Literatur dagegen führen seit jeher Alternativen zu bestehenden Ordnungen und Wirklichkeiten vor. In besonderem Maß kann die auf Thomas Morus’ Utopia (1516) zurückgehende literarische Gattung der Utopie als »Kommunikationsmodus des Alternativdenkens« (S. 16) begriffen werden, wie Wilhelm Voßkamp in der magistralen Einleitung zum anzuzeigenden Band schreibt. Schien das moderne Möglichkeitsdenken der Utopie in den 1990er Jahren in einer absoluten Gegenwart und einer Art besten aller möglichen Welten aufgehoben zu sein, so mehren sich seit der Zäsur des 11. September 2001, den Finanz-, Schulden- und Flüchtlingskrisen die Anzeichen einer neuen Geschichtshaftigkeit – und damit auch eines neuen Bedarfs an Utopien. Alle Beiträge des vorliegenden Bandes gehen von dieser epochalen Signatur aus und betonen nach Martin Roussel die »Insistenz auf dem Möglichen« (S. 162), um damit die Tradition der utopischen Literatur und des utopischen Denkens für die unruhige Gegenwart des 21. Jahrhunderts unter dem Paradigma des ›Möglichkeitsdenkens‹ zu befragen. Der Begriff der Utopie wird für dieses Unternehmen nicht bloß als vermeintlich ideales Gegenbild zu einer kritisch oder satirisch dargestellten Wirklichkeit verstanden. Vielmehr seien ›Zukunftsromane‹, Dystopien und Science Fiction als Umformungen der neuzeitlichen Gattungstradition zu begreifen. Einerseits hätte diese Transformation »miteinander rivalisierende Utopien und Utopiekonzepte« (S. 19) in der Gegenwart hervorgebracht, andererseits sei auch »die Wiederkehr oder Fortsetzung traditioneller Verheißungsrhetorik« (ebd.) des modernen Utopismus zu beobachten. Die Utopieforschung, die im deutschsprachigen Raum von Wilhelm Voßkamp in den 1980er Jahren maßgeblich geprägt und befördert wurde, bildet in der deutschen Literaturwissenschaft seit geraumer Zeit denn auch wieder ein Feld von innovativen Untersuchungen und Thesen. Der vorliegende Band weist zumeist sehr anregend und oft mit intellektueller Brillanz auf dieses Forschungspotential hin, kann jedoch – auch bedingt durch die Heterogenität der Aufsätze – das Versprechen des Titels auf eine Durchdringung der »Gegenwart« nicht einlösen. Vielmehr liegen im Einzelnen äußerst lesenswerte Beiträge zu verschiedenen Aspekten utopischen Denkens vor, die es für kommende Arbeiten auf dem Feld der Utopieforschung zu berücksichtigen gilt. Eine durchgängige These wird hier jedoch nicht vertreten. Dabei hätte gerade die programmatische Einleitung eine solche These zu bieten. Als ein Kennzeichen der Moderne bezeichnet Voßkamp die »konstitutive Verbindung von Möglichkeitsdenken und Utopie« (S. 15), was das

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Bewusstsein einer potentiellen Veränderbarkeit des Wirklichen anzeigt. Dieser säkulare Horizont umfasst Fortschrittsoptimismus und Fortschrittskritik gleichermaßen, denn er bedeutet, »dass das als möglich Gedachte auch zum technisch Machbaren wird und damit Ängste erzeugt, die den Übergang von der Utopie zur Dystopie bestimmen« (S. 21). Obwohl Voßkamp auf die einschlägigen Prägungen des Möglichkeitsbegriffs bei Aristoteles und Leibniz verweist, unterbleibt eine systematische philosophiegeschichtliche Abhandlung (ansatzweise könnte man Beiträge zu Bloch und Musil im vorliegenden Band als Bausteine dazu lesen). Dass der Begriff der Möglichkeit für eine groß angelegte Analyse von modernen literarischen Utopien zunächst differenziert abzuhandeln und dann exemplarisch in Lektüren fruchtbar zu machen wäre, ist eine Idee, die direkt an dieses Vorwort anschließen könnte. Denn obwohl das utopische Schreiben des 20. Jahrhunderts oft auf politische Umsetzung drängte, blieb ein zentrales Ziel der Utopie auch das Experimentieren mit Möglichkeiten und das Beharren auf einem den politischen und wissenschaftlichen Diskurs grundsätzlich herausfordernden Möglichkeitsdenken. Der zu besprechende Band ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil behandelt prinzipielle Aspekte gegenwärtiger Utopieforschung, während der zweite Teil Grundfragen philosophisch-utopischen Möglichkeitsdenkens erörtert. Dabei stehen weniger die Gegenwart als philosophische Klassiker (der Beitrag von Arbogast Schmitt zu Platon) und prominente Autoren der Moderne (der Beitrag von Klaus L. Berghahn zu Ernst Bloch, der Beitrag von Vivian Liska zu Walter Benjamin und Giorgio Agamben sowie Martin Roussels Aufsatz zu Robert Musil) im Zentrum. Ein dritter Teil führt exemplarisch utopische Formen der (globalen und zunehmend auch digitalen) Gegenwart vor. Den vierten und abschließenden Teil bilden zwei Beiträge zu den utopischen Dimensionen der Institution Universität beziehungsweise zum Niedergang der Utopie ›Europa‹. Durchgängig – wenn auch auf sehr unterschiedlichem Ausarbeitungsniveau – werden faszinierende Fragen gestellt, die für die Kulturwissenschaften höchste Relevanz besitzen. Gabriel Motzkin thematisiert im ersten Beitrag in einem mündlichen Stil und in der Form skizzenhafter Überlegungen etwa »Utopie, Dystopie und Evolution« und weist darauf hin, dass Utopien sowie Dystopien oft einen statischen Endzustand annehmen, wobei die (biologische) Evolution ein Prinzip der Entwicklung beinhaltet, was die Frage nach utopischen bzw. dystopischen Entwicklungsprinzipien aufwirft. Motzkin wehrt sich gegen den Totalitätsanspruch von Utopie und Dystopie in der unheilvollen »Einheit von Theorie und Praxis« (S. 42). Sehr viel genauer geht Friedrich Balke Michel Foucaults Ablehnung des Begriffs der Utopie zugunsten des berühmten Heterotopie-Konzepts nach. Dieses gehe nicht bloß auf die Kritik der Disziplinierung des modernen Menschen zurück, sondern sei vor allem als Kritik des modernen Wissens zu verstehen, »das den ›Menschen‹ zum Objekt eines neuen, humanwissenschaftlichen Wis-

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sens macht und ihn zugleich als die Bedingung der Möglichkeit dieses wie überhaupt jedes Wissens auszeichnet.« (S. 46) Balke deutet Samuel Butlers Roman Ehrewon aus dem Jahr 1872 gegen die Autorintention, jedoch sehr überzeugend, als Beleg für Foucaults Versuch der Überwindung einer anthropozentrischen und rationalistischen Wissensordnung. In diesem Roman wird die Entstehung von Mensch-Maschine-Hybriden beschrieben, heute mit dem Begriff Cyborg bezeichnet, was unter dem Eindruck Darwins die technische Entwicklung des Menschen in die Evolutionsgeschichte einfügt. Dies zeige gemäß Balke gegenüber einer Ontologie des Binären ein älteres und wieder aktuelles (Möglichkeits-)Denken, das von »Bündnisbeziehungen und Allianzen« (S. 68) ausgehe, statt kategorische Differenzen zu beschreiben. Im zweiten Teil ist Roussels Aufsatz »Möglichkeitsdenken. Utopie, Dystopie und Lektüre in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften« hervorzuheben, der Musils Riesenroman als einen Text deutet, »der im Horizont utopischen wie dystopischen Denkens als Möglichkeitsraum Gestalt annimmt« (S. 158). Während der Krieg die (vom Romanpersonal weder geahnte noch bereits erlebte) Wirklichkeit darstellt, auf die alles hindrängt, bildet das ›geistige Leben‹, welches sich in der Lektüre des experimentellen Romans kristallisiert, einen Ausdruck des ›Möglichkeitssinns‹, das der Unausweichlichkeit des Krieges flüchtige Utopien entgegensetzt. Im dritten Teil besprechen Hans Ulrich Seeber und Judith Leiß neuere Tendenzen in der Gattungsgeschichte der Utopie. Beide knüpfen an den anglo-amerikanischen literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs an. Leiß’ Begriff der literarischen Heterotopie als Sonderform der Utopie, die Mehrdeutigkeiten und den Widerstreit möglicher Deutungen zum Programm macht und ostentativ ausstellt, um damit das utopische Schreiben selbstreferentiell von seinem totalitären Anspruch zu befreien, ohne den Anspruch auf utopische Gehalte ganz aufzugeben, erscheint sehr sinnvoll für weitere Forschungen und bietet reichlich Anschlussmöglichkeiten in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts. Ryozo Maeda präsentiert Adaptionen und Transformationen des Utopie-Gedankens bzw. der Dystopie in der japanischen Popkultur, vor allem in der Manga- und Anime-Welt, was ein interessantes und in der deutschsprachigen Forschung leider noch vereinzeltes Schlaglicht auf außereuropäische Perspektiven wirft. Roberto Simanowski vergegenwärtigt noch einmal prägnant die bekannte Verlagerung einer utopischen Wahrnehmung des ›Cyberspace‹ als Befreiung von staatlichen Zwängen hin zu einer Dystopie der privatwirtschaftlichen, auf Algorithmen basierten Kontrolle, einer Überlagerung von Datenfreiheit im Internet durch Datenkapitalismus. Diese Entwicklung habe jedoch auch tiefere kulturelle Implikationen: »Das Internet ist antiutopisch insofern das sich mit ihm durchsetzende Verfahren der Zahl die Perspektive des Narrativen – als Denken in Zusammenhängen und Alternativen – zurückdrängt« und das

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»statistische[ ] Herrschaftswissen« (S. 289) jegliche kritische Imagination und Infragestellung des existierend Positiven verhindere. Ein solches »Verfahren der Zahl« muss auch mit dem alten Selbstverständnis der deutschen Universität kollidieren. In seinem thesenhaften Beitrag zur Institutionsgeschichte der Universität im vierten Teil dieses Bandes referiert Jürgen Fohrmann eine Entwicklung, die vom frühneuzeitlichen Modell einer Akademie der Freundschaft über die humboldtsche Bildungsreform und ihr idealistisches Modell einer zweckfreien Bildung und eines Austauschs zwischen Gelehrten bis zum auf Optimierung bedachten Modell der potenzierten Institution eines ökonomisch regulierten Wissenschaftssystem reicht. Dabei plädiert Fohrmann dafür, dass die Universität »die Koexistenz aller drei Modelle als ihren auch noch heutigen Möglichkeitsraum begreift« (S. 304). »Widerstand zu leisten gegen den Versuch, die Universität der großen Schar der Consulter zu überlassen« (S. 305), ist dabei gemäß Fohrmann die eine Seite des Notwendigen, die andere bildet »ein Möglichkeitsdenken, das theoretisch informiert« (ebd.) bleibe. Der Beitrag von Karl Heinz Bohrer fragt schließlich nach einem Thema, das »als sprachlos gewordene Situation« (S. 328) die politische Realität bestimmt: Der Zerfall der »Utopie ›Europa‹«. Bohrers abschließende Frage ist eine bedrängende und seine Konsequenz bildet ein skeptisches Echo von dramatischen Schlagzeilen: »Können die Europäer aber ohne utopische Fantasie auskommen, wenn sie tatsächlich die politische Einheit doch noch zustande bringen wollen? Dazu müssten sie allerdings eine andere, eine neue utopische Sprache erfinden.« (S. 329) Eine »neue utopische Sprache« kann auch der vorliegende Band weder kreieren noch präsentieren, das Bewusstsein für deren Möglichkeiten jedoch wird anhand vieler Facetten geschärft. Caspar Battegay

Werner Frizen: Robert Musil. Berlin, München: Deutscher Kunstverlag 2012 (= Leben in Bildern). 88 S. € 22,–. Was kann man nach 60 Jahren Musil-Forschung von einem Band mit drei Dutzend Textseiten bei einem Gesamtumfang von knapp 90 Seiten Neues erhoffen? Wenn nicht irgendein sensationeller Fund gemacht worden ist – nichts. Erwarten kann man, dass die wichtigste Sekundärliteratur ausgewertet ist und die geläufigen Bilder in guter Druckqualität wiedergegeben werden. Dies leistet das Buch von Werner Frizen mit einer Aufmachung wie ein Coffee Table Book. Es eignet sich als Einführung in Leben und Werk Musils für Leser, die noch keine Ahnung haben und etwas Repräsentativeres in der Hand haben möchten als ein Reclam-Heft oder die, weiß Gott unverächtliche, Rowohlt-Monographie.

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Da Frizen aus dem Zauberberg den Satz zitiert, »nur das Gründliche sei das wahrhaft Unterhaltende« (S. 51), muss ganz in diesem Sinne leider angemerkt werden, dass dem Autor in der Eile der Kompilation eine Reihe von Fehlern unterlaufen ist, die den Gebrauchswert seines Opus doch einschränkt. Der seriöse Eindruck, den die sorgfältige Ausstattung, das große DIN A4-Format und das schöne Papier machen, trügt so ein wenig. Vielleicht erhöht es die Brauchbarkeit, wenn man diese Irrtümer kurz zeigt und korrigiert. Auf Seite 21 wird behauptet, Musils Heft 4 sei sein erstes Tagebuch. Die »Blätter aus dem Nachtbuch des monsieur le vivisecteur«, mit denen das Heft beginnt, stammen vom Beginn des Jahres 1900, die ersten Einträge in Heft 3 sind aber auf das Frühjahr 1899 zu datieren, etwa das Exzerpt aus der Poetik des Aristoteles. Es sollte der Vorbereitung auf den Posten des Theaterkritikers beim sozialdemokratischen Volksfreund dienen. Der Kritikersitz wurde indes im Zusammenhang mit den Brünner Streiks vom Mai/Juni 1899 gesperrt. Durch sorgfältige Recherche lassen sich die Texte Musils nicht selten genauer datieren, als dies bisher geschehen ist. Das liegt freilich jenseits des von Frizen gewählten Horizonts. Auf Seite 78 wird behauptet, die Bekanntschaft Musils mit Alice Charlemont, dem Modell für Clarisse im Mann ohne Eigenschaften, stamme aus dem Oktober 1905. Da Musil einen Besuch bei Gustav Donath und Alice im Tagebuch um die Osterzeit 1905 festgehalten hat, ist Frizens Angabe in jedem Fall falsch. Vieles spricht dafür, dass die erste Begegnung schon drei Jahre zuvor, im März 1902, stattgefunden hat. Unter der Jahreszahl 1906 führt Frizen die »Konstruktion des ›Musilschen Farbkreisels‹« an (S. 78). Richtig ist indes, dass Musil das Gerät schon im Frühling oder Frühsommer 1905 entwarf. Dann wurde es von der Firma Spindler und Hoyer gebaut und ausgeliefert. Der erste Versuch mit dem fabrikneuen Apparat wurde am 10. November 1905 protokolliert. Dass Musil an den »psychologischen Experimenten aktiv teilnahm« (S. 29), ist zumindest für die Versuche zur Farbwahrnehmung in Abrede zu stellen. Nach den Aufzeichnungen Johannes von Alleschs verweigerte sich der Konstrukteur Musil den Tests mit seinem Apparat. Musil habe mit seinem Wunsch nach Unabhängigkeit »die Beförderung zum Obristen ausgeschlagen«, lesen wir auf Seite 11. Da Frizen auf alle Nachweise verzichtet, kann man nur vermuten, er beziehe sich auf Musils Tätigkeit als Fachbeirat im Staatsamt für Heereswesen, die er seit September 1920 ausübte. Er erhielt das Salär eines Obersten und musste sich nicht totarbeiten. Zu Ende Februar 1923 wurde die Stelle eingespart. Musil hätte sie gern behalten. Von einem freiwilligen Verzicht kann keine Rede sein. Der Ausdruck »Auto-Ignorant« sei eines der »umwerfenden Musil’schen Wortspiele«, lobt Frizen auf den Seiten 55/57: ein unverdientes Lob. Wie man

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in Musils Heft 33 nachlesen kann, stammt das Wort von Alfred Polgar und war auf den Wiener Journalisten Maximilian Schreier gemünzt. 1927/1928 habe sich Musil wegen seiner Schreibhemmung einer »[p]sychoanalytische[n] Behandlung bei dem Adler-Schüler Hugo Lukács« unterzogen (S. 81). Das nennt man wohl eine contradictio in adiecto. Die Freud’sche Psychoanalyse und die Adler’sche Individualpsychologie unterscheiden sich in Methode und Dauer so gründlich, dass ihre Verwechslung in TherapeutenKreisen als Zeichen krasser Unkenntnis gilt. Musil habe »auch einen James Joyce, er wohnte in Zürich um die Ecke, [. . .] mit der Strafe totaler Missachtung belegt«, mokiert sich Frizen auf Seite 55: eine komplette Fehleinschätzung. Musil hat den Ulysses gelesen und in einer längeren Notiz gewürdigt. Es trifft zu, dass beide Autoren während ihres Schweizer Exils im Zürcher Seequartier wohnten, Musil in der Pension Fortuna, Mühlebachstraße 55, Joyce in der Pension Delfin, Mühlebachstraße 69, und zwar in seiner letzten Lebenszeit (17. Dezember 1940 bis 10. Januar 1941) – am 13. Januar 1941 starb er. Musil hatte die Pension Fortuna am 11. Juli 1939 verlassen und lebte seither in Genf. Schlusssentenz à la Rilkes Malte Laurids Brigge, Werner Frizen ins Stammbuch geschrieben: »Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre«. PS . Der Gerechtigkeit halber muss ich gestehen, dass ich der Studie vielleicht eine neue Information verdanke. Bisher war nicht bekannt, wann der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, das Verbot des Nachlaß zu Lebzeiten verlautbaren ließ. Frizen behauptet nun (vgl. S. 61), das sei im Februar 1936 geschehen. Es wird zu prüfen sein. PPS . Aus der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums vom 31. Dezember 1938 geht hervor, dass das Verbot im Deutschen Reichsanzeiger gestanden haben muss. Nimmt man sich einen Nachmittag Zeit und blättert nach Frizens Fingerzeig den voluminösen Band aus dem Februar 1936 durch, so stellt sich leider heraus, dass man einer Missweisung gefolgt ist. Die einzige vermutete Novität Frizens ist eine Ente. Karl Corino

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger Prof. Dr. Andrea Albrecht Universität Stuttgart Institut für Literaturwissenschaft (NdL II) Keplerstr. 17 D–70174 Stuttgart

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Dr. Caspar Battegay Université de Lausanne Section d’allemand Quartier UNIL-Dorigny Bâtiment CH –1015 Lausanne [email protected]

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Harald Gschwandtner M. A. Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]

Prof. Dr. Silvia Bonacchi Universität Warschau Institut für anthropozentrische Linguistik und Kulturstudien Ul. Szturmowa 4 PL –02–687 Warschau [email protected]

Dr. Karl Corino Biesingerstr. 8 D–72070 Tübingen [email protected]

PD Dr. Jutta Heinz Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Germanistische Literaturwissenschaft Fürstengraben 14–18 D–07740 Jena privat: Starenweg 14 D–73274 Notzingen [email protected]

Prof. Dr. Elsbeth Dangel-Pelloquin Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel

Prof. Dr. Alexander Honold Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel

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Prof. Dr. Bernd Hüppauf New York University University Place New York, NY 10003 USA privat: Hallerstr. 27 D–10587 Berlin

Prof. Dr. Fred Lönker Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Deutsches Seminar Platz der Universität 3 D–79085 Freiburg [email protected]

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Prof. Dr. Arturo Larcati Università degli Studi di Verona Dipartimento di Lingue e Letterature straniere Lungadige Porta Vittoria 41 I –37129 Verona [email protected]

Elisa Meyer M. A. Schweglerstr. 14/10 A–1150 Wien [email protected]

Dr. Dominik Müller Université de Genève Département de langue et de littérature allemandes Faculté des lettres/UNI-Bastions Rue de Candolle 5 CH –1211 Genève 4 [email protected]

Prof. Dr. Kevin Mulligan Université de Genève Département de philosophie Rue de Candolle 2 CH –1211 Genève 4 [email protected]

Prof. Dr. Cornelia Ortlieb Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Department Germanistik und Komparatistik Bismarckstr. 1 B D–91054 Erlangen [email protected]

Dr. Oliver Pfohlmann Gönnerstr. 20 D–96050 Bamberg [email protected]

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Prof. Dr. Luigi Reitani Italienisches Kulturinstitut Berlin Hildebrandstr. 2 D–10785 Berlin [email protected]

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Mareike Schildmann M. A. Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH –8001 Zürich [email protected]

Florens Schwarzwälder M. A. Universität Bern Institut für Germanistik Länggassstr. 49 CH –3000 Bern 9 [email protected]

Dr. Christian van der Steeg Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH –8001 Zürich

Prof. Dr. Peer Trilcke Universität Potsdam Institut für Germanistik Am Neuen Palais 10 D–14669 Potsdam [email protected]

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Prof. Dr. Aldo Venturelli Università Carlo Bo di Urbino Dipartimento DISCUI Pza. Rinascimento 7 I–61029 Urbino [email protected]

Dr. David Wachter Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Germanistische Literaturwissenschaft Frommannsches Anwesen Fürstengraben 18 D–07743 Jena [email protected]

Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]

Thomas Traupmann M. A. Gabelsbergerstr. 4/24 A–5020 Salzburg

Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel

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Siglen GW 1–9: Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit arabischer Bandzählung]

Bd. 1–5: Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches Essays und Reden Kritik

GW I–II : Robert Musil: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit römischer Bandzählung]

Bd. I : Bd. II :

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik

MoE: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö. [Seitenidentisch mit den Bänden 1–5 der Gesammelten Werke] Tb I–II : Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 [1. Auflage 1976]. Bd. I : Bd. II :

Tagebücher Anmerkungen. Anhang. Register

Br I–II : Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Mit Briefen v. Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl u. a. Hg. v. Adolf Frisé. Unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek b. Hamburg 1981. Bd. I : Bd. II :

Briefe 1901–1942 Kommentar. Register

KA : Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009.

Redaktioneller Hinweis Die Zusendung von Manuskripten wird an folgende Anschriften erbeten:

Musil-Forum c/o Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel [email protected] c/o Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A –5020 Salzburg [email protected]

Geschäftsführung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft Redaktion Musil-Forum Harald Gschwandtner M. A. Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A –5020 Salzburg [email protected] www.musilgesellschaft.at

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Adler, Alfred 406 Adorno, Theodor W. 32, 358, 374 Agamben, Giorgio 342, 355, 361, 371, 402 Albertsen, Elisabeth 249, 254 f., 258, 260 Allesch, Ea von 109, 273 Allesch, Gustav Johannes von 260, 274, 282, 288, 308, 405 Altenberg, Peter 173 Amann, Klaus 127, 133, 248, 254, 395 Amrein, Ursula 197 Andrian, Leopold von 368 Anker, Albert 206 D’Annunzio, Gabriele 178, 215, 294 Anz, Thomas 104, 117 Arendt, Hannah 374 Aristoteles 7, 145, 299, 336, 353, 355, 357, 402, 405 Arnim, Bettine von 314 Arnold, Heinz Ludwig 110 Arntzen, Helmut 306, 328 Arslan, Cüneyt 324–330 Arvon, Henri 323 f. Aspetsberger, Friedbert 253 Assisi, Franz von 128 Augé, Marc 346 Augustinus 125 Avenarius, Ferdinand 195 f. Ávila, Teresa von 124 f., 244 Bachmann, Ingeborg 155, 356 Bachtin, Michail 343 Baecker, Dirk 32 Bahr, Hermann 30, 52, 371 Bahro, Steffi 331 Baillarger, Jules 384 Bal, Mieke 342 Balázs, Béla 269 f. Balke, Friedrich 402 f. Balzac, Honoré de 358 Barbusse, Henri 88

Barrès, Maurice 45, 51 Barthes, Roland 156, 347, 350, 352, 354, 356 f. Bataille, George 374 Battisti, Cesare 221 Bauer, Ludwig 173 Baumgartner, Stephan 80, 82 Bausinger, Hermann 255, 298 Bausinger, Wilhelm 255 Becher, Maximilian von 126 Beckmann, Max 45 Beethoven, Ludwig van 155 Beißner, Friedrich 249, 255, 257 Beneš, Eduard 223 Benedict, Ruth 40 Benedikt, Moriz 160 Benjamin, Walter 42, 48, 55, 111, 242, 245, 305 f., 314, 367, 373 f., 376, 398, 402 Benn, Gottfried 35 f., 55, 351, 373 Berg, Alban 226 Bergauer, Emmeline 217 Bergengruen, Werner 254 Berghahn, Klaus L. 402 Bergson, Henri 361, 380, 384 Bernini, Giovanni Lorenzo 124 f. Bernstein, Michael 375 Bie, Oskar 64, 266 Biere, Florentine 321 Bismarck, Otto von 27 Blanchot, Maurice 309 Blei, Franz 98, 141, 251, 260, 271–273, 297, 307 f. Blei, Sibylla 273 Bleibtreu, Karl 30 Bleuler, Eugen 54 Bloch, Ernst 402 Bloy, Léon 45 Boas, Franz 40 Boas, George 39 Böhler, Michael 197 Böhme, Gernot 58

Register

Böhme, Hartmut 31, 321, 336 Böldl, Klaus 356 Bohrer, Karl Heinz 404 Boismont, Alexandre Brierre de 384 Bollack, Jean 236 f., 247 Bolz, Norbert 34 Bonacchi, Silvia 320 Borchardt, Marie Luise 244 Boroevi´c von Bojna, Svetozar 83, 89 Bourdieu, Pierre 55, 129, 311 f., 316, 349–351, 370 Bouveresse, Jacques 308 Bovenschen, Silvia 112 Boyneburg, Grete von 258 Boyneburg, Richard von 258 Brass, Italico 184 Brecher, Hans 214 Brecht, Bertolt 97, 314 f., 370, 373, 375 Breitbach, Joseph 96 Breuer, Constanze 360 Breuer, Ingo 182 Broch, Hermann 24, 234, 254, 303–306, 323, 326, 363, 365 Bronnen, Arnolt 139 Brüning, Karen 288–292 Buber, Martin 296 f. Bülow, Bernhard von 27 Burckhardt, Carl Jacob 245 Burdach, Konrad 246 Butler, Samuel 403 Cadorna, Luigi 179 Campe, Rüdiger 360 Canetti, Elias 114, 307, 373 f., 376 Canguilhem, Georges 335 ˇ Capek, Karel 231 Carnap, Rudolf 144, 324, 327 Carossa, Hans 254 Carus, Carl Gustav 384 Caruso, Enrico 68 Casper, Hanna 268 Cassirer, Ernst 385 Catilina, Lucius Sergius 331 Cauwer, Stijn de 334–336 ˇ Cechov, Anton 384–386 Celan, Paul 361 Céline, Louis-Ferdinand 45 Certeau, Michel de 341, 344 Cervantes, Miguel de 379

413 ˇ Cervinka, Vincenc 220 f. Cha, Theresa Hak Kyung 361 Chamberlain, Neville 233 Char, René 353 Charvát, Radovan 214, 216 Chiavacci, Vinzenz 223 Chopin, Frédéric 308 Clausewitz, Carl von 47 Claussen, Detlev 111 Clémenceau, Georges 155 Cometti, Jean-Pierre 308 Conant, James 241 Corino, Karl 3, 64, 79, 83, 89, 93, 106, 110, 117, 158 f., 169, 171, 174, 249–253, 275, 278, 281 f., 286 f., 292–299, 306 f., 309, 333, 349, 351 Coudenhove-Kalergi, Richard 226 Csokor, Franz Theodor 250, 278, 285 Currie, Greg 380 Daiber, Jürgen 399 Daladier, Édouard 233 Damisch, Heinrich 368 Danto, Arthur C. 8 f. Darwin, Charles 314, 403 Deichmann, Thomas 344 Delboeuf, Joseph 385 Deleuze, Gilles 361 Deschner, Karlheinz 254 Dessoir, Max 288 Dežulovi´c, Boris 347 Diederichs, Eugen 196 Dietz, Herma 106, 229, 257, 308 Dillmann, Martin 395 Dilthey, Wilhelm 108, 288, 314, 380 Dinklage, Gerhild 256, 260 Dinklage, Karl 62, 255, 258 Dix, Otto 45 Dobrzenska, Mary 231, 272–274 Döblin, Alfred 42, 59, 78 Döring, Sabine 324, 327 Dollfuß, Engelbert 232, 298 Donath, Alice 106, 256 f., 295, 309, 405 Donath, Gustav 106, 256 f., 307 f., 405 Donath, Leontine 228 Dorgelès, Roland 88 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 213, 215

414 Drakuli´c, Slavenka 342 Drlík, Vojen 229 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 365 Dürrenmatt, Friedrich 207 Dugas, Ludovic 385 f. Duras, Marguerite 356 Durkheim, Emile 48 Ehrenfels, Christian von 290 Eibl, Karl 395 Einstein, Albert 152, 365 Einstein, Carl 38, 55, 64, 102 f. Elias, Norbert 374 Emerson, Ralph Waldo 215, 323 Encke, Julia 121 Enzensberger, Hans Magnus 306 Erhart, Walter 322 Ermatinger, Emil 188 Ernst, Max 39 Esquirol, Jean-Étienne 383 f. Evers, Kai 78, 349, 373–377 Faesi, Robert 190 Fanta, Julius 130 Fanta, Walter 3, 76, 125, 248, 253, 261, 300–302, 323, 392 Fath, Manfred 378 Fechner, Gustav Theodor 318 Federer, Heinrich 186, 205–207 Feger, Hans 393 Feld, Willi 306 Fichte, Johann Gottlieb 317 Finzi, Daniela 347 Fischer, Hedwig 66, 109 Fischer, Samuel 66, 263 Flaubert, Gustave 381 f., 384–387 Flavin, Dan 397 Fohrmann, Jürgen 404 Fontana, Oskar Maurus 8, 131, 155, 226, 264, 267–270, 303 Fontanari, Alessandro 177 Forster, Georg 317 Foucault, Michel 4, 38, 137, 174, 289 f., 317, 341, 355, 382, 395, 402 f. Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich 27 Franz Joseph, Kaiser von Österreich 15, 17, 215

Register

Frege, Gottlob 330 Freij, Lars W. 398 Freud, Sigmund 23, 31, 34, 42 f., 47, 49, 115, 126, 152, 308, 363, 365, 374, 383, 385, 394 f., 406 Friedrich I ., Kaiser des HRR 27 Frisch, Efraim 270 f., 276, 281 Frisch, Max 337 Frisé, Adolf 60 f., 132, 179, 251, 254, 260, 270, 279, 360, 378 Frizen, Werner 404–406 Frobenius, Ferdinand Georg 288 Fromm, Erich 52 Frye, Northrop 304–306 Fürst, Bruno 71, 274 Füssli, Johann Heinrich 206 Gabriel, Gottfried 380 Gadamer, Hans-Georg 237 Gassenmeier, Ernst 378 f. Gassenmeier, Michael 378 f. Gauguin, Paul 37, 39 f. Gehmacher, Friedrich 368 Gelb, Adhémar 291 Genette, Gérard 342, 345 George, Stefan 82 Gess, Nicola 43 f. Gide, André 353, 357 f. Gies, Annette 338 Girgensohn, Karl 296 Gittel, Benjamin 380–382 Gödel, Kurt 363 f., 366 Goethe, Johann Wolfgang von 100, 156, 200, 232, 240, 313, 316 Goldstücker, Eduard 260 Goldwater, Robert 39 Gombrowicz, Witold 234 Gorki, Maxim 62, 309 Gotthelf, Jeremias 193 Gottschlich-Kempf, Simone 336–340 Goytisolo, Juan 343 Gramsci, Antonio 283 Griesinger, Wilhelm 384 Grillparzer, Franz 213, 351 Grosz, George 45 Gschwandtner, Harald 121, 136, 248 Gstrein, Norbert 346 Günderrode, Karoline von 314 Guggenheim, Kurt 189

415

Register

Haasová, Jarmila 228 Hablitschek, Paul 219 Häusler, Maximilian 303–306 Haglauer, Aloisia 211 Halbwachs, Maurice 386 Handke, Peter 155, 253, 344 f. Hanka, Wenzel 220 Harnack, Adolf von 51 Hartmann, Nicolai 381 Hašek, Jaroslav 230 Hayasaka, Nanao 286 f., 306 Healy, Maureen 162 Hebekus, Uwe 242 Hebel, Johann Peter 169 Heer, Jakob Christoph 194, 199 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42, 353, 355 Heidegger, Martin 328, 353, 355 f. Heisenberg, Werner 363–366 Hellige, Hans Dieter 331 f. Helmes, Günter 266 Hemon, Aleksandar 346 Herder, Johann Gottfried 313, 369 Hermann-Neisse, Max 264 d’Hervey de Saint-Denys, Léon 384 Herzmanovsky-Orlando, Fritz von 230 Hesse, Hermann 188, 203, 254, 277 Hexner, Erwin 231, 278 Hilbert, David 363 f. Hiller, Kurt 156, 264–267 Himmler, Heinrich 406 Hirschfeld, Kurt 276 Hirschfeld, Magnus 127 Hitler, Adolf 153, 232 f., 273, 298, 394 Hobsbawm, Eric 367 Hodler, Ferdinand 196, 206, 208 Hoffmann, Camill 231, 233 Hoffmann, Christoph 123, 351 Hoffmann, E. T. A. 43 Hofmannsthal, Hugo von 1, 12, 15, 30, 226, 236, 240 f., 243–247, 314, 337, 367–372, 397 Honold, Alexander 31, 52, 82, 349, 375 Hornbostel, Erich M. von 288, 291 Horstenau, Edmund Glaise von 212 Houellebecq, Michel 301 Hubbuch, Karl 45 Huber, Alfred 378

Huch, Ricarda 244 Hüppauf, Bernd 3 Husserl, Edmund 323, 328, 337, 385 Ilg, Paul 196, 208 Illies, Florian 306 Ingarden, Roman 381 Inglin, Meinrad 187, 189, 192, 194 Degl’Innocenti, Maurizio 275 Iser, Wolfgang 341 Jaccottet, Philippe 278 f., 309 Jaensch, Erich 44 Jahnn, Hans Henny 254 Jahraus, Oliver 396 Jaksch, Rudolf von 223 Jammes, Francis 399 Jandl, Ernst 260 Janet, Pierre 384, 386 Janßen, Sandra 382–388 Jean Paul 395 Jergovi´c, Miljenko 343 Jessner, Leopold 268 f. Joachim von Fiore 246 Joch, Markus 1–3, 109 Joly, Frédéric 306–311 Jonsson, Stefan 375 Joseph II., Kaiser von Österreich 27, 223 Joyce, James 406 Jünger, Ernst 45, 52, 59, 61, 63, 65, 72, 75, 78–85, 87–89, 91–97, 108–110, 113–115, 121, 125, 138 f., 373 Jünger, Friedrich Georg 96 Jung, Franz 264 Kafka, Franz 1, 218, 264, 363, 365, 373–377 Kaiser, Ernst 255, 299 Kandinsky, Wassily 39 Kant, Immanuel 35, 41, 48, 237 f., 241, 288, 337 Kaploun, Albert 385 f. Karl I., Kaiser von Österreich 221 Kaube, Jürgen 239 Keckeis, Paul 203 Keller, Gottfried 197, 206 Kerr, Alfred 261 f., 294 Kesser, Armin 277 f.

416 Kierkegaard, Søren 28, 41, 234 Kiesel, Helmuth 3, 63, 78, 113 Kim, Anna 345 Kisch, Egon Erwin 232 Klages, Ludwig 380 Klee, Paul 39 Kluge, Alexander 301 Kocman, Victorija 345 Köhler, Wolfgang 288, 291, 385, 387 König, Christoph 241 Köpplová, Barbara 260 Koerber, Ernest von 215 Koffka, Kurt 288, 291 Kohn, Hein 260 Kolb, Annette 127 Kollár, Jan 216 Koschorke, Albrecht 95 Kramáˇr, Karel 220 f. Krappmann, Lothar 337 Kraus, Karl 76–78, 127 f., 156–160, 162 f., 167–169, 171–173, 175 f., 187 f., 196, 303–306, 376 Krauß, Alfred 350 Kreis, Georg 194 Kreis, Guido 358 f. Kremer, Hermann 265 Krleža, Miroslav 230 Krolop, Kurt 260 Kroumalová, Františka 211 Kühn, Karolina 3 Küppers, Patrick 331 Kuhn, Thomas 382 Kundera, Milan 234 f., 309, 311 Lacan, Jacques 49, 341, 353, 355 f. Laermann, Klaus 336 Langhoff, Thomas 243 Lasson, Adolf 288 Laurin, Arne 224–226, 260 Lavant, Christine 390 Leibniz, Gottfried Wilhelm 402 Leiß, Judith 403 Lejeune, Robert 276 f., 310 Lemoine, Albert 384 Lenin, Wladimir Iljitsch 155, 332 Lenzi, Magdalena 113 Leonhard, Rudolf 267–269 Lethen, Helmut 114, 376 Levi, Primo 347

Register

Lévy, Bernard-Henri 343 Lévy-Bruhl, Lucien 38, 40, 44 Lewin, Kurt 288, 291 Lherman, Jo 269 Libardi, Massimo 177 Lindtberg, Leopold 190 Linsmayer, Charles 189, 201 Liska, Vivian 402 Locher, Elmar 4 Lönker, Fred 320 f. Lotz, Ernst Wilhelm 263 f. Lovejoy, Arthur O. 39 Lublinski, Samuel 30 Lugowski, Clemens 9 Luhmann, Niklas 32 f., 328, 341, 393, 395 Lukács, Georg 41, 314, 335 Lukács, Hugo 406 Lunatscharski, Anatoli 155 Lux, Matthias 254 Macario, Maurice Martin Antonin 384 Mach, Ernst 262, 288–291, 323–326, 328, 384, 392, 395 Maeda, Ryozo 403 Maek-Gerard, Eva 234 Maeterlinck, Maurice 215, 399 Magris, Claudio 279 Mahler, Nicolas 379, 388–391 Maine de Biran, François-Pierre-Gonthier 384 Mann, Heinrich 3, 127 Mann, Klaus 280 Mann, Thomas 3, 8 f., 42, 101 f., 204, 226, 257, 278, 281, 284, 294, 306, 322, 330, 394 Marcovaldi, Annina 178, 184, 278, 295 Marcovaldi, Enrico 178, 295 Marcovaldi, Gaetano 258, 260, 278, 297 Martens, Gunther 325, 338 Martin, Karlheinz 268 f. Masaryk, Tomáš Garrigue 210, 216, 219, 221–224, 226, 231–233 Mathauser, Josef 214 Matt, Beatrice von 190 Matt, Peter von 197, 357 Maury, Alfred 384

417

Register

Mauthner, Fritz 30 Mayer, Mathias 99, 349 McBride, Patricia 375 McDowell, John 241 Mead, Margaret 40 Mechow, Karl Benno von 233 Meier-Graefe, Julius 91 Meinecke, Friedrich 51 Mell, Max 226 Menninghaus, Winfried 398 Menzer, Adolf 288 Mergenthaler, Volker 331 Merleau-Ponty, Maurice 337 Messner, Elena 347 Michler, Werner 311–316 Miller, Carolyn R. 311 Miloševi´c, Slobodan 155 Miró, Joan 39 Mises, Richard von 308 Mittner, Ladislao 279 Moeschlin, Felix 191 Moór, Julius 150 Moore, Adrian 380 f. Mora, Terézia 343 Moreau de Tours, Jacques-Joseph 384 Moretti, Franco 372, 375 Morgenstern, Soma 80, 116, 127 Morus, Thomas 148, 401 Moser, Walter 327 Motzkin, Gabriel 402 Mozart, Wolfgang Amadeus 88, 122 Mülder-Bach, Inka 360 Müller, Johannes 384 Müller, Robert 55, 127, 226, 266 f. Müller-Lyer, Franz 44 Münkler, Herfried 103 f. Muschg, Walter 237 Musil, Alfred 71, 210 f., 218, 228 f., 292 f. Musil, Alois 210 f., 214, 221, 292 f. Musil, Franz 214 Musil, Hermine 71, 109 f., 228 f., 293 Musil, Maria 214 Musil, Martha 65, 67, 70 f., 82, 106–108, 110–114, 126, 178 f., 184, 229, 233, 251 f., 257 f., 260 f., 273, 275–283, 285, 293–295, 299, 308–310, 379 Musil, Matthias 210 f.

Musil, Method 210 Musil, Robert 1–6, 8–12, 14–16, 19–27, 29–31, 35 f., 40–47, 49–95, 97–121, 123–145, 147–153, 155–160, 171, 173–185, 187, 191, 203, 210–222, 224–226, 228–235, 248–261, 263–311, 317–329, 332–335, 337–340, 348–351, 353 f., 357–361, 363, 365, 367, 372–382, 384–400, 402–406 Mussolini, Benito 155, 294, 297 f. Muzzi, Giuseppe 275 Nˇemcová, Božena 215 Nadler, Josef 188, 369 Natorp, Paul 50 Naumann, Walter 242 Nepomuk, Johann von 218 Neruda, Jan 215, 223 Neumann, Carl 108 Neurath, Otto 324, 326, 328 Newton, Isaac 326 Neymeyr, Barbara 334, 338 Nietzsche, Friedrich 38, 40, 49, 52, 55, 153, 215, 307, 314, 323, 328, 335, 380, 382, 395 Nikolaus II., Zar 22 Nitzgen, Dieter 95 Novalis 215, 398 Novotná, Jarmila 213 f. Nübel, Birgit 248 Nusser, Peter 328 Oesterreich, Traugott Konstantin 124 f., 291 Oprecht, Emil 281, 283 Ossietzky, Carl von 156 Paderewski, Ignacy Jan 308 Pan, David 38 Papen, Franz von 273 Paulsen, Friedrich 288 Pekar, Thomas 142 Peyret, Jean-François 286 Pflanzer-Baltin, Karl von 154 Pfohlmann, Oliver 66 Picasso, Pablo 39, 155 Pick, Otto 224 Pickerodt, Gerhart 242

418 Pinker, Steven 374 Pinthus, Kurt 127 Planck, Max 288 Platon 19, 148, 231, 353–355, 365, 402 Podolsky, Boris 365 Poincaré, Raymond 22, 51 Poja, Major Graf Alberti de 62 Polgar, Alfred 406 Popitz, Heinrich 374, 377 Popper, Karl 326 Pott, Hans-Georg 392–396 Previši´c, Boris 340–348 Princip, Gavrilo 155 Proust, Marcel 353, 357–359, 386 Radbruch, Gustav 51 Rasch, Wolfdietrich 328 Rascher, Max 201 Rašin, Alois 220 f. Rathenau, Walther 272, 330–333 Rauschning, Hermann 92 f. Ravoux, Paul 96 Reemtsma, Jan Philipp 51, 374 Reichhold, Clemens 330 Reinhardt, Max 245, 368, 370–372 Reitani, Luigi 125 Reiter, Heinrich 307 Remarque, Erich Maria 76, 92, 155 Remonato, Giovanni 379 Rendi, Aloisio 279 Renn, Ludwig 139 Rey, William H. 242 Ribot, Théodule 385 f. Richter, Hans 45 Richter, Sandra 316 Rickenbacher, Sergej 317–322 Ricœur, Paul 337 Riedel, Wolfgang 322 Riedesser, Peter 95 Riefenstahl, Leni 36 Rilke, Rainer Maria 1, 30, 178, 211, 230, 240, 274, 337, 356, 397, 399 f., 406 Robert, Eugen 268 Roethe, Gustav 50 Roland, Ida 309 Rolland, Romain 188 Rorty, Richard 374 Rosen, Nathan 365

Register

Rosenberg, Alex 380 Rosenthal, Mathilde 269 Rosenthal, Otto 274 Roth, Joseph 9, 331, 351 Roth, Marie-Louise 282 Rousseau, Jean-Jacques 38 Roussel, Martin 401–403 Rowohlt, Ernst 233 Rubin, William 38 f. Russell, Bertrand 330 Rychner, Max 277 Sabrow, Martin 333 Salgaro, Massimo 4, 248 Salmon, Christian 234 Salten, Felix 277 Salvator, Erzherzog Franz 161 Schaeder, Hans Heinrich 242 Schaffner, Paul 186, 205–207 Schaunig, Regina 1, 80, 129 f., 135–137, 141, 159, 173 f., 177, 282, 349–351 Scheler, Max 101, 394 f. Scherchen, Hermann 307 Scherer, Wilhelm 237, 314 Schickele, René 201 Schieder, Wolfgang 298 Schiffer, Werner 9 Schiller, Friedrich 34, 36, 40 f., 45, 49 f., 52, 304, 358 Schlaffer, Heinz 240 Schlegel, Friedrich 237–239, 241 f., 317, 358, 397–400 Schlick, Moritz 323 f., 326 Schmitt, Arbogast 402 Schmitt, Carl 270–273, 366, 371, 393 Schmitt, Duschka 272 Schmoller, Gustav von 332 Schnitzler, Arthur 226 Schönberg, Arnold 308 Schopenhauer, Arthur 384 Schraml, Wolfgang 79 Schreier, Maximilian 406 Schröder-Werle, Renate 132, 142 Schumann, Wolfgang 195, 290 Schumpeter, Joseph 49 Schwarzenberg, Friedrich 220 Sebald, Winfried Georg 343 Seeber, Hans Ulrich 403 Seeberg, Reinhold 51

419

Register

Seelig, Carl 277, 281 Sheridan, Claire 297 Siebeck, Paul 108 Sigmund, Corinna 352–355, 357–361 Silberberg, Erich 96 Silone, Ignazio 275–285 Simanowski, Roberto 403 Simmel, Georg 42, 332, 370, 394 Škrach, Vasil 226 Skutil, Jan 229 Slezak, Leo 68 Sloterdijk, Peter 361 Smerilli, Filippo 322 Smetana, Bedˇrich 213 f. Sollers, Philippe 356 Sombart, Werner 207, 332 Spencer, Herbert 48 Spengler, Oswald 367, 380 Spitteler, Carl 186, 195–198, 200 f., 205, 208 ˇ 224 Srámek, Frána Stadler, Ernst 264 Stange, Sören 362–367 Staniši´c, Saša 342, 346 Stanzel, Franz K. 342 Stehr, Hermann 233 Stern, Josef Luitpold 83 Stifter, Adalbert 314 Štiks, Igor 345 Stingelin, Martin 360 Stockhammer, Robert 362 Stoji´c, Mile 347 Strauß, Botho 337 Strohschneider, Peter 240 Stumpf, Carl 288, 290, 320 f., 323 f. Sundhaussen, Holm 341, 344 Svevo, Italo 178 Szondi, Peter 237, 239, 241 Taine, Hippolyte 383 Tavel, Rudolf von 186, 191–193, 199, 203 Templetown, Viscount 219 Theweleit, Klaus 139 Thöming, Jürgen 266 f. Tiedtke, Silvia 396–400 Todorova, Maria 341, 344 Toller, Ernst 114, 156 Tolstoi, Lew 375

Trakl, Georg 254 Trotzki, Leo 155 Tucholsky, Kurt 102, 156 Uhse, Bodo 232 Ungaretti, Giuseppe 279 Urbaner, Roman 161 Utz, Peter 187, 200, 202 Vaihinger, Hans 35 Valéry, Paul 386 Viertel, Berthold 268 f. Vietta, Silvio 397 Virilio, Paul 49 Vitouch, Oliver 254 Vogel, Juliane 163 Voigt, Christian 256 Voßkamp, Wilhelm 312, 401 f. Wagner, Adolph 332 Walser, Robert 186, 194, 198, 200–205, 209 Waterhouse, Peter 347, 353, 361 Weber, Max 108, 331 f., 366, 395 Weiss, Marcus 261, 263 Wellbery, David 237, 241 Werfel, Franz 116, 351 Wertheimer, Max 288, 291 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 288 Wilhelm II., deutscher Kaiser 15, 17, 194 Wilkins, Eithne 255, 298 f. Williamson, Timothy 380 Wilson, Woodrow 155 Wittgenstein, Ludwig 308, 326, 328, 330, 366 Wittmann, Reinhard G. 3 Wölfflin, Heinrich 288 Wolf, Artur 157 f., 164 Wolf, Norbert Christian 55, 248, 334, 367, 369–372, 393 Wolfenstein, Alfred 264 Woll, Michael 241 Woolf, Virginia 250, 353, 361 Wotruba, Fritz 255, 282, 307, 310 Wundt, Wilhelm 321 f., 384 Wutka, Bernhard 95

420 Zahn, Ernst 186, 189, 191, 193 f., 198 f., 203 Zamazal, Josef 220 f. Zeh, Juli 345 Zeller, Rosmarie 117, 248 Ziegler, Richard 273

Register

Zöchbauer, Paul 349 Zuckmayer, Carl 89 Zülch, Tilman 344 Zweig, Arnold 139 Zweig, Stefan 351 Zymner, Rüdiger 311

STANDARDWERK DER MUSILFORSCHUNG

Birgit Nübel, Norbert Christian Wolf (Hrsg.) ROBERT-MUSIL-HANDBUCH De Gruyter Reference 10/2016. X, 1054 S., 1 Abb. (sw). Gebunden ISBN 978-3-11-018564-5

Der österreichische Autor Robert Musil (1880–1942) war Militär, Ingenieur und promovierter Philosoph. Er hat neben seinem fragmentarischen Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) Dramen, Erzählungen, Essays, Rezensionen sowie zahlreiche Notizen und Entwürfe hinterlassen. Das Handbuch bietet Literaturwissenschaftler/innen wie interessierten Laien eine umfassende Übersicht zu Leben, Werk und Wirkung Musils. Zugleich werden Forschungsperspektiven auf eines der wichtigsten Werke der deutschsprachigen Klassischen Moderne eröffnet, das einen diskursiven Querschnitt durch Kultur- und Wissensgeschichte, zeitgenössische Philosophie, Ästhetik, Natur- und Technikwissenschaft präsentiert. Ebenso als eBook und als Bundle, bestehend aus gebundener Ausgabe + eBook, erhältlich.

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