Musil-Forum: Band 31 2009/2010 9783110271218, 9783110269123

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Musil-Forum: Band 31 2009/2010
 9783110271218, 9783110269123

Table of contents :
Editorial
Themenschwerpunkt: »Musil und die Fremdheit der Kultur«
Einleitung
Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften. Zum Primitivismus bei Robert Musil
»ein dünner Dunst fremden Leibes«. Perversionen des Erkennens in Musils Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst
»Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben«. Moosbruggers wildes Denken und die Kultur des Okzidents
Soliman und Rachel/»Rachelle«. Die Konstruktion von Fremdheit und Identität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften
Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹. Arnheims phönikischer Schädel im Kontext antisemitischer Rassendiskurse
Ah, Fm: Doppelschichtung, unten jüdisch. Alles gilt, auch das Apokryph
Doktor Demant und Direktor Fischel. Zur ›Alterisierung‹ jüdischer Figuren in Roths Radetzkymarsch und Musils Der Mann ohne Eigenschaften
Musil in Russland lesen. Eine Reise zu Ulrich mit dem Fürsten Myschkin, Ilja Oblomow und dem ›Kellerlochmenschen‹
Fremdheit, Feindschaft. Österreichische Ökumene bei Musil und Handke
Fremdheit und Heterochronie in Robert Müllers Tropen
Das Fremde im Werk Joseph Roths
Abhandlungen
Erlebnis, Dichtung und Kritik in Robert Musils Literarischer Chronik vom August 1914
Viribus unitis. Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität
Die Masken des Ludwig Klages. Figurenkonstellation als Kritik und Adaption befremdlicher Ideen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften
Rezensionen
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Siglen
Redaktioneller Hinweis
Register

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Musil-Forum

Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne

Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert Christian Wolf und Rosmarie Zeller

Band 31 · 2009/2010

De Gruyter

Redaktion: Harald Gschwandtner

ISBN 978-3-11-026912-3 e-ISBN 978-3-11-027019-8 ISSN 1016-1333 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Editorial Die Entwicklung des 1975 gegründeten Musil-Forums ist eng mit der Geschichte der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft verknüpft, die von der Arbeitsstelle für österreichische Literatur und Kultur/Robert Musil-Forschung der Universität des Saarlandes in Saarbrücken wichtige Impulse erhielt. So war es nur konsequent, dass dort lange auch die Herausgabe des Periodikums besorgt worden ist; ursprünglich erschien zweimal jährlich ein Heft. In den 1980er und 1990er Jahren hat sich der Publikationszyklus indes so verlangsamt, dass man die Hefte durch ein Jahrbuch ersetzte, welches aus Qualitäts- und Kostengründen – das Musil-Forum wird an alle Mitglieder der Gesellschaft verteilt – derzeit im Zweijahresrhythmus erscheint. Matthias Luserke und Rosmarie Zeller übernahmen im Jahr 2001 die Herausgeberschaft, als renommierter Verlag konnte de Gruyter gewonnen werden. Zugleich wurde das Forum über die engere Musil-Philologie hinaus für Beiträge zur Literatur der Klassischen Moderne geöffnet. Bei dieser Umwandlung des Musil-Forums von einer spezialisierten, satz- und vertriebstechnisch semiprofessionellen Verbandsschrift zu einem in der internationalen Fachwelt angesehenen wissenschaftlichen Periodikum hat sich Matthias Luserke große Verdienste erworben. Er betreute an seinem Lehrstuhl an der Universität Darmstadt auch herstellerisch die Nummern 27–30. Mit der Publikation des 2009 erschienenen 30. Bandes zog er sich als Herausgeber zurück. Im Jahr 2009 hat der Vorstand der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft deshalb Norbert Christian Wolf zum neuen Herausgeber gewählt; gemeinsam mit Rosmarie Zeller betreut er das Musil-Forum ab der vorliegenden Nummer 31 und konnte dank der großzügigen Unterstützung durch die Universität Salzburg auch die technische Einrichtung (Lektorat) übernehmen. Die Mehrzahl der in diesen Band aufgenommenen Aufsätze sind überarbeitete Vorträge der von der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft im September 2009 an der Universität Basel veranstalteten Tagung »Robert Musil und die Fremdheit der Kultur«. Organisiert wurde das Symposium von Alexander Honold und Rosmarie Zeller, die sich bereit erklärten, einem Vorstandsbeschluss der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft gemäß die für ein größeres (wissenschaftliches) Publikum interessanten Beiträge der Tagung dem Musil-Forum als Themenschwerpunkt zu überlassen. Aus diesem Grund hat Alexander Honold dankenswerterweise auch die Einleitung zu diesem Themenschwerpunkt verfasst und sich an der nötigen Auswahl der Beiträge beteiligt. Den kürzeren zweiten Teil des Bandes bilden drei thematisch unterschiedlich ausgerichtete Abhandlungen zu Werk und Schaffen

VI

Editorial

Robert Musils sowie Rezensionen, die seit der letzten Nummer eingegangen sind bzw. – im Fall des Vortrags von Peter Henninger – zum Gedenken an den 2008 verstorbenen Präsidenten der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft aufgenommen wurden. Der 31. Band gibt erstmals auch Rezensionen wieder, die der größeren Aktualität halber bis zu ihrer Drucklegung zunächst online auf der Homepage der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft veröffentlicht worden sind. Es handelt sich bei vorliegendem Band gewissermaßen um ein Dokument des Übergangs der Herausgeberschaft: Ab der kommenden Nummer, die zwecks Überwindung des zeitlichen Rückstands nicht erst in zwei Jahren erscheinen soll, wird ein Editorial Board zur Objektivierung der Qualitätssicherung die beiden Herausgeber bei der Entscheidung über die Aufnahme von Beiträgen durch ein Votum unterstützen. Die dafür gewonnenen Persönlichkeiten sowie die genaueren Modalitäten des geplanten peer-reviewVerfahrens werden im nächsten Band bekannt gegeben. Schon jetzt aber seien alle interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herzlich eingeladen, Beiträge über Person, Werk und Wirkung Robert Musils sowie generell über die Literatur der Klassischen Moderne einzureichen (s. den redaktionellen Hinweis). Es bleibt zu hoffen, dass das Musil-Forum als Ort einer hochkarätigen Auseinandersetzung mit Musil und der Kultur bzw. Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich weiter etablieren und gedeihen wird. Norbert Christian Wolf, Rosmarie Zeller

Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Themenschwerpunkt: »Musil und die Fremdheit der Kultur« Alexander Honold:

Einleitung . . . . . . . . . . . . . .

1

Nicola Gess: Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften. Zum Primitivismus bei Robert Musil . . . . . . . . . . .

5

Birgit Nübel: »ein dünner Dunst fremden Leibes«. Perversionen des Erkennens in Musils Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robert Krause: »Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben«. Moosbruggers wildes Denken und die Kultur des Okzidents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Axel Dunker: Soliman und Rachel/»Rachelle«. Die Konstruktion von Fremdheit und Identität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . .

52

Ulrich Boss: Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹. Arnheims phönikischer Schädel im Kontext antisemitischer Rassendiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Walter Fanta: Ah, Fm: Doppelschichtung, unten jüdisch. Alles gilt, auch das Apokryph . . . . . . . . . . . . . . .

84

Norbert Christian Wolf: Doktor Demant und Direktor Fischel. Zur ›Alterisierung‹ jüdischer Figuren in Roths Radetzkymarsch und Musils Der Mann ohne Eigenschaften

102

Alexander W. Belobratow: Musil in Russland lesen. Eine Reise zu Ulrich mit dem Fürsten Myschkin, Ilja Oblomow und dem ›Kellerlochmenschen‹ . . . . . . . . . . .

127

Alexander Honold: Fremdheit, Feindschaft. Österreichische Ökumene bei Musil und Handke . . . . . . . . . .

140

VIII

Inhalt

Barbara Thums: Fremdheit und Heterochronie in Robert Müllers Tropen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

160

Gábor Kerekes:

. . .

180

Peter Henninger (†): Erlebnis, Dichtung und Kritik in Robert Musils Literarischer Chronik vom August 1914 . . .

193

Regina Schaunig: Viribus unitis. Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinz-Peter Preusser: Die Masken des Ludwig Klages. Figurenkonstellation als Kritik und Adaption befremdlicher Ideen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

. . . . . . . . .

281

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

284

Register

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Das Fremde im Werk Joseph Roths

Abhandlungen

Siglen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alexander Honold

Einleitung Robert Musil und andere Autoren aus der ›zweiten Phase‹ der Wiener Moderne sind als konstellative Indikatoren einer tief greifenden Umbruchszeit seit den 1990er Jahren wieder verstärkt ins kulturelle Bewusstsein und auch in den Aufmerksamkeitsfokus literatur- und sozialgeschichtlicher Forschungsbeiträge gerückt. Hierzu hat im Falle Musils sowohl die eminente Verbesserung der textgenetischen und editionsphilologischen Arbeitsbasis das Ihre beigetragen1 als auch eine prononciert kulturwissenschaftlich-komparatistische Forschungsausrichtung.2 Doch eine breite Auseinandersetzung mit den kulturphilosophischen und kulturvergleichenden Grundlagen der Arbeitsweise Robert Musils steht noch aus, ebenso die systematische Aufarbeitung der interkulturellen Dimension innerhalb von Musils poetologischem Selbstverständnis. Zur interkulturellen Rezeption des Werkes Robert Musils durch Übersetzungen, Adaptionen und produktive intertextuelle Anleihen liegen einige Detailstudien vor, die sich jedoch meist nicht ausdrücklich auf die dabei implizierte Problematik kultureller Fremdheitsdiagnosen beziehen. Die damit abgesteckten drei Dimensionen der »Fremdheit der Kultur bei Musil« – a) kulturhistorischer und kulturdiagnostischer Denkhorizont, b) poetische Verfahrensweise und c) interkulturelle Rezeptionsdimensionen – können als Aspekte eines vielgliedrigen, zusammengehörigen Problemkomplexes in arbeitsteiligen, koordinierten Forschungsansätzen gewinnbringend aufeinander bezogen werden. Hierzu versuchte die Tagung »Robert Musil und die Fremdheit der Kultur« Anregungen zu geben und eine erste Bestandsaufnahme der Arbeitsfelder und Fragestellungen zu leisten. Die kulturelle und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fremden ist niemals so intensiv gewesen wie heute. »Fremdes ist weder anschluß-

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2

Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hg. v. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1992 (CD-ROM); Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 49); Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009 (DVD). Vgl. insbesondere den Band Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz, Bd. 1).

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Alexander Honold

noch modellfähig«,3 pointiert der Phänomenologe Bernhard Waldenfels die kategoriale Unterbestimmtheit des Konzepts. Die zunehmende Aufmerksamkeit, die der Themenkomplex kultureller Alterität in den Geistes- und Sozialwissenschaften erfährt, ist ein Indikator für die auch von der Literaturwissenschaft eingeleitete Neuorientierung im Zeichen fächerübergreifender kulturwissenschaftlicher Reflexion und Theoriebildung. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive sind die Jahrzehnte zwischen 1900 und 1930 als Hochkonjunktur des literarischen Exotismus und der populären Reiseund Abenteuerromane sowie als Spätphase der kolonialistischen Agitation bekannt. Unter den ästhetisch avancierten Vertretern der literarischen Moderne (von Hofmannsthal, Rilke und Thomas Mann über Kafka und Musil bis zu Benn, Döblin und Hans Henny Jahnn) finden sich zahlreiche Beispiele einer Auseinandersetzung mit oder Anregung durch außereuropäische Kulturkontakte. In emotionalen Wunsch- oder Abwehrhaltungen gegenüber dem Fremden (Exotismus vs. Xenophobie) artikulieren sich zugleich kollektive Einstellungen gegenüber historischen Prozessen. Zu fragen ist, inwieweit sich die jeweiligen Haltungen (Verweigerung oder Steigerung von Modernität) konkreten Situationen und Schauplätzen zuordnen lassen. Großstadt und Technik finden sich in Bildern von Dschungel oder »überamerikanischer Stadt« (Musil) imaginiert. Die Auseinandersetzung mit einer als ambivalent erfahrenen Modernisierung wird literarisch oftmals in Form von Fremderfahrungen be- und verarbeitet. Die Phänomene eines prononciert modernen Lebens (Urbanität, Massengesellschaft, Abstraktions- und Mechanisierungsprozesse) werden räumlich transponiert und einem exotischen Szenario zugeordnet, in dem der Umgang mit den neuen – ersehnten oder befürchteten – Lebenswelten artikuliert und erprobt werden kann. Das Interesse am exotisch Fremden kulminiert fraglos in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In ästhetischer Hinsicht zeigt sich hier ein enges Beziehungsgeflecht zwischen literarischen Topoi, Exotismus-Moden, ethnographischen Berichten und neuen medialen Repräsentationsweisen, vor allem im Film. Musil weist hin auf die Nähe des Films zu jenen Vorgängen hin, welche die Psychologie Verdichtung und Verschiebung nennt, wobei entweder heterogene, aber unter gleichem Affekt stehende Bilder zu Konglomeraten zusammengeballt werden, an denen gewissermaßen die Affektsumme haftet (z. B. Tiermenschen und multiple Tiere der primitiven Kulturen, Traum- und Halluzinationsbilder, wo gleichfalls zwei oder mehr Personen in einer erscheinen), oder umgekehrt, ein einzelnes Bild (Teil) als Repräsentant eines Komplexes auftritt und mit dem unerklärlich hohen Affektwert des Ganzen geladen erscheint (Magische Rolle von Haaren, Fingernägeln, Schatten, Spiegelbild u. dgl.). (GW II, S. 1139)

3

Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 16.

Einleitung

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Robert Musil hat sich mit ethnographischen und religionsgeschichtlichen Arbeiten zu außereuropäischen Kulturen nicht aus einem primär exotistisch orientierten Interesse beschäftigt, sondern gleichsam zur Bildung einer Kontrastfolie, um gegenüber der Geschichtsformation Europa und dem westlichabendländisch geprägten Rationalitätstypus eine Position der analytischen Distanz und des ästhetischen Reflexionsvermögens zu gewinnen. Eine entscheidende Rolle spielen für Musils Verständnis kultureller Prozesse die historischen Erfahrungen und politischen Konflikte im Vielvölkergebiet des Habsburgerreiches. Im Zeitalter des europäischen Kolonialismus bildet die multiethnische Welt Österreich-Ungarns und seiner Nationen einen eigentümlichen Sonderfall kultureller Binnendifferenzen innerhalb des östlichen Mitteleuropa. Dieses »Kakanien« stellte im europäischen Vergleich zweifellos noch immer eine der imperialen Großmächte dar, doch besaß es, anders als seine Nachbarn im Westen, keine territorialen Schutzgebiete oder Rohstoffreserven in überseeischen Gefilden. Zwar unterstanden dem kakanischen Vielvölkergebilde etliche Nationen und Ethnien, die das Habsburgerregiment als Apparat einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterdrückung erlebten, die von kolonialen Verhältnissen nicht weit entfernt war; das bekannte Wort vom »Völkergefängnis« deutet es an. Doch war dieser supranationale Verband andererseits kaum in der Lage, die partiellen Nationalismen und Insurgentenbewegungen tatsächlich effektiv zu unterdrücken, und musste sich daher mehr an fundamentaler Opposition gefallen lassen als andere europäische Imperialmächte. Musil spricht vom entschwundenen Kakanien leicht verklärend als einem »Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist«, doch lässt seine Schilderung deutlich genug die Risse und Bruchstellen jener labilen Konstruktion hervortreten. Dem Scharfsinn des Wortkünstlers stellt sich die mit dem Weltkrieg zusammengebrochene k. u. k. Monarchie als der erste Staat dar, der »an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist« (MoE, S. 445). Die Unaussprechlichkeit des von einer höchst fragilen Verfassungskonstruktion zusammengehaltenen Staatsgebildes ist notabene ein Problem des Eigennamens und der durch ihn transportierten Eigenschaftlichkeit. Und damit erweist sich die historische Situation (multi)kultureller Fremdheit als Evidenzkontext jener fundamentalen Überlegungen Musils zu Eigenheit und Fremdheit, die in der Konzeption seines literarischen Imaginariums ein Leitthema bilden. Die hier vorgelegten Studien wurden zunächst als Beiträge auf einer Tagung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft vorgestellt, die im September 2009 an der Universität Basel stattfand. Die Tagung, an der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Österreich, Deutschland, Frankreich, Tschechien, Russland, Ungarn, den USA und der Schweiz teilnahmen, wurde unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds, der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel und dem Deutschen Seminar der Universität Basel,

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Alexander Honold

wofür wir an dieser Stelle danken möchten. Leider können aufgrund des begrenzten Umfangs nicht alle der dort gehaltenen Vorträge in diesem Band dokumentiert werden. Dem Leitthema »Robert Musil und die Fremdheit der Kultur« folgend, gehen die Beiträge am und mit dem Werk Robert Musils sowie anderer zeitgenössischer Autoren den Aspekten (inter)kultureller Fremdheit in drei Kontexten nach. Sie rekonstruieren die intra- und multikulturelle Diversität Kakaniens in ihren stereotypen Kulturmustern der Differenzbildung und Ausgrenzung; sie erörtern das Werk Musils und die Konstellationen der ästhetischen Moderne in den ethnographischen, vom ästhetischen Primitivismus angeregten Impulsen der ästhetischen Transgression und der Infragestellung eurozentrischer Denkmuster, und sie verorten Musils Poetik und ihre Rezeptionsbedingungen vor dem Hintergrund der krisenhaften europäischen Nach- und Zwischenkriegszeit. Die kultursoziologischen, semiotischen, medienästhetischen, gendertheoretischen und ethnographischen Problematiken, die mit den hier vorgelegten Studien angesprochen sind, rücken das Werk Musils und seiner Zeitgenossen in neue Horizonte. In ihren Befunden führen die Kulturanalysen stets wieder zu Musil zurück und bekräftigen somit den Rang seines Werks im Kontext einer europäischen Moderne, von deren interkultureller Öffnung sich auch die Musil-Forschung in ihren Themen und Methoden weiter wird anregen lassen können.

Nicola Gess

Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften Zum Primitivismus bei Robert Musil Abstract: The paper outlines Musil’s reception of ethnological research and demonstrates its relevance for his literary texts. By analyzing the figure of Clarisse and the motives of madness, music, and language associated with her, it shows that the Mann ohne Eigenschaften draws on a complex engagement with the so-called »primitive«. The movement from expedition to self-experiment, already visible in Musil’s early texts, is thus established as an essential structuring principle of the novel.

1. Musils Rezeption ethnologischer Schriften hat in der Forschung bislang vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Zwar ist im Zusammenhang mit dem Essay »Ansätze zu neuer Ästhetik« oft auf seine Lévy-Bruhl-Rezeption eingegangen worden, jedoch wurde diese nur selten in Zusammenhang mit seiner Lektüre auch anderer ethnologischer und völkerpsychologischer Schriften gestellt, die vor allem in den frühen 20er Jahren1 stattfindet und sich in geringerer Intensität bis weit in die 30er Jahre zieht.2 Zu nennen sind 1

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Schraml weist darauf hin, dass Musils anthropologisches Interesse schon 1913/14 aufkommt, anlässlich eines Besuchs in Rom, bei dem er u. a. das anthropologische und ethnologische Institut, das Krankenhaus für Geisteskranke, das Typhus-Spital und die Affeninsel in der Villa Borghese besuchte. Nach diesen Besuchen häufen sich in Musils Aufzeichnungen Porträts von Personen und Tierbeschreibungen, in denen die »anthropologische Betrachtungsweise« auffällt (Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994, S. 81–93, hier S. 89). Für ausführliche Auseinandersetzungen mit Lévy-Bruhl vgl. Renate Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Münster 1966, S. 103–111. Willemsen geht ebenfalls in einem Kapitel auf Musils Interesse an Ethnologie ein und kontextualisiert Musils Lektüre Lévy-Bruhls mit Sprachkonzepten in Vico’scher Tradition sowie mit Jaenschs Eidetik-Forschung (Roger Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984, S. 286–297). Eine eingehende Lévy-Bruhl-Lektüre liefert auch Ritchie Robertson: Musil and the ›primitive‹ mentality, in: Hannah Hickman (Hg.): Robert Musil and the literary landscape of his time. Salford 1991, S. 13–33. Allerdings gewinnt er daraus wenig Neues für die Auseinandersetzung mit Musil. Schraml bringt die vielleicht umfassendste Auseinandersetzung mit Musils ethnologischen Lektüren. Neben Lévy-Bruhl geht er im entsprechenden Kapitel seines Buches vor allem auf die Rezeption Müller-Lyers, ebenso Jaenschs und im Zusammenhang mit Jaenschs entwicklungpsychologischen Überlegungen auch auf jene von

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Nicola Gess

hier neben Lévy-Bruhls Das Denken der Naturvölker (in dt. Übersetzung 1923) vor allem Müller-Lyers Phasen der Kultur (1915/1908), Jaenschs Die Völkerkunde und der eidetische Tatsachenkreis (1923) und Kretschmers »Entwicklungsgeschichte der Seele« aus der Medizinischen Psychologie (1922), die Musil alle 1922/23 exzerpierte und in eigenen Publikationen erwähnte, sowie Texte von Hornbostel zur Dichtung und von Cassirer zu den Sprachen der sogenannten Naturvölker, die Musil Anfang der 30er Jahre rezipierte. Hinzu kommt eine Vielzahl einschlägiger Titel, die Musil sich ebenfalls 1923 notierte, zu denen aber keine Exzerpte vorliegen, z. B. die Schriften Preuss’ (u. a. Die geistige Kultur der Naturvölker [1914]), Thurnwalds Forschungen auf den Salomo Inseln und dem Bismarck Archipel (1912), Vierkandts Kulturvölker und Naturvölker (1896) sowie eine Reihe von Texten zu Felszeichnungen der Naturvölker.3 Musil verfährt in der Lektüre der genannten Schriften selektiv. Er interessiert sich (1) für Wahrnehmung, Vorstellung und Denken der sogenannten Naturvölker, genauer für Phänomene der Partizipation, für das eidetische Vermögen und für das affektgesteuerte Denken, (2) für Eigentümlichkeiten der Sprachen und des Sprachverhältnisses, nämlich für die Anschaulichkeit der Sprachen, das Wörtlichnehmen figurativer Sprache und die Partizipation des Wortes an seinem Gegenstand, (3) für die magische Funktion der Kunst der sogenannten Naturvölker, d. h. ihre Ausrichtung auf Herstellung statt Darstellung des Gewünschten.4

3

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Groos’ Spiele der Tiere ein. Dabei interessiert sich Schraml besonders für die »appetitive« Zeichnung des »Archaischen« bei Musil (Schraml: Relativismus, S. 127–139). Florence Vatan (Robert Musil et la question anthropologique. Paris 2000, S. 73–88) weist in einem Kapitel ihres Buches auf Affinitäten der Figuren Agathes, Moosbruggers und Clarisses zum Denken der sogenannten »Primitiven« bei Lévy-Bruhl hin sowie auf Kollektivrituale, mit denen Musil die Affinitäten seiner Gesellschaft zur »l’enfance de la civilisation« (S. 80) offen legt, und auf Totem- und Tabu-Figuren. Schließlich setzt sich auch Genese Grill: The »Other« Musil: Robert Musil and Mysticism, in: Philipp Payne, Graham Bartram, Galin Tihanov (Hg.): A Companion to the Works of Robert Musil. Rochester, London 2007, S. 333–354, mit Frazer, Hornbostel und Lévy-Bruhl auseinander, um sie als wichtige Quellen für Musils Interesse an »mystical ritual activity« und eines »religious origin of art« (S. 337, 338) zu lesen. Für die vollständige Literaturliste vgl. KA/Transkriptionen/Heft 21/114. Auf der Heftseite davor findet sich eine weitere Literaturliste (entnommen aus Klages Vom kosmogonischen Eros) zur Mythenforschung, insbesondere zu antiken Kulten und Mysterien. Hinzu kommen weitere Texte, die weder im Rahmen von Literaturlisten noch von ausführlichen Exzerpten auftauchen, sondern nur kurz erwähnt werden, wie z. B. im gleichen Heft Alexander von Humboldts Reise in die Äquinoktialgegenden (KA/Transkriptionen/Heft 21/53), oder in KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/36 »Frobenius Afrikabuch« (vgl. KA/Transkriptionen/ Mappe IV/2/178). Darauf gehe ich ausführlich im Musil-Kapitel meines derzeit im Entstehen begriffenen Buches Figurationen primitiv(istisch)en Denkens. Zur Verschränkung von Ethnologie, Psychologie und Literatur im frühen 20. Jahrhundert ein.

Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften

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2. Musils Faszination für die Ethnologie schlägt sich auch in seinen fiktionalen Texten der frühen 20er Jahre nieder. Nach dem Vorbild von Romanen wie Müllers Tropen oder von Novellen wie Jensens Wälder, die Musil beide schätzte,5 schreibt er Expeditionserzählungen, wie z. B. Grigia oder das unvollendete Projekt »Land über dem Südpol«. In beiden fällt die Bewegung vom Fremden zum Eigenen auf, die mit einer Bewegung von der Expedition zum Selbst-Experiment einhergeht. Das Prosaprojekt »Land über dem Südpol«, das in seinen Anfängen bis 1911 zurückreicht und dessen letzte Notizen von 1929 stammen, erinnert in seiner Anlage zum Beispiel an Kubins phantastischen Roman Die andere Seite. In beiden Fällen geht die Faszination von der utopischen Andersartigkeit der fremden Gesellschaft aus, in die die Expediteure reisen. Bei Musil handelt es sich dabei um eine Kultur, in deren Zentrum Humanexperimente stehen. Eines davon skizziert Musil besonders ausführlich. Mithilfe biologischer Manipulation werden hier tierische Verhaltensweisen im Menschen reaktiviert: »Man läßt Menschen alle Tiere durchlaufen. Mit biologischen Methoden. Sie sättigen sich, reagieren ab«.6 Dabei interessieren Musil vor allem die bizarren Begattungsriten von Amphibien. Aus Brehms Tierleben macht er sich umfangreiche Notizen, insbesondere zu solchen Riten, die die Tötung des Sexualpartners oder auch eines dritten Tiers beinhalten. Daran schließen sich Phantasien über Parallelen im menschlichen Verhalten, z. B. Sexualverbrechen oder monströse Mutationen menschlicher Körper an. Was sich nach einer Kultur der perversen Lüste anhört, ist jedoch tatsächlich eine Kultur des Experiments: »Eine Welt regiert von wenigen, die in einer Art Kloster [der Geistigen] leben. Welt, eingeteilt in Experimentalfelder.«7 »Menschen, die alle intellektuell möglichen Konstellationen leben. [. . .], ihre ganze Energie liegt im Seelischen«.8 Die Menschen, um die es hier geht, sind als Experimentatoren und Versuchsobjekte gespalten in eine geistige und eine körperliche Existenz, identifizieren sich aber allein mit der ersteren. Denn sie sind kaum involviert in das Geschehen, das sie doch phy5

6 7 8

Musil erwähnt beide Texte im Nachruf auf Müller. Müller hat auch andere Texte dieses Genres verfasst, z. B. die Novelle Das Inselmädchen, die Musil im Nachruf ebenfalls nennt, ohne jedoch näher auf sie einzugehen. 1921 bittet Musil in einem Brief an Arne Laurin (12. 03. 1921) diesen darum, einem Rezensenten eine Reihe Bücher schicken zu lassen, darunter mehrere Titel dieses Genres, z. B. Douglas Mawson, Leben und Tod am Südpol, Gauguin, Briefe aus der Südsee, Graf Vay de Vaya, Nach Amerika im Auswandererschiff, J. V. Jensen, Das verlorene Land, Ejnar Mikkelsen, Sachawachiak, der Eskimo (vgl. Br I, S. 221). Dies ist als weiterer Hinweis darauf zu verstehen, dass Musil mit diesem Genre durchaus vertraut oder mindestens daran interessiert war. KA/Transkriptionen/Heft 21/134. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/178. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/5.

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Nicola Gess

sisch betrifft. Ihr einzig wahres Anliegen ist ihre Forschung: »Sie selbst sind ohne Leidenschaften [. . .]. Sie haben schon Sympathien udgl. aber sie sind sich der Herkunft bewußt (aus der Tierreihe) u. behandeln sie nicht ernst. Vielleicht ist ihr Leben monoton, aber es wird von einem ungeheuren Arbeitsdrang ausgefüllt«.9 Deutlich verschiebt sich hier die Bewegung von der Expedition ins Fremde zu einem Experiment mit dem Ent-Fremdeten im Eigenen, an dem der Expediteur partizipiert. Bezeichnenderweise handelt es sich bei den Bewohnern des fremden Planeten auch nicht um Fremde, sondern um ent-fremdete Eigene, nämlich ausgewanderte Deutsche. Auch die Novelle Grigia handelt von der Expedition eines zivilisationsmüden Wissenschaftlers in eine fremde Kultur, allerdings nicht in eine Science-Fiction-Welt, sondern in eine vorzivilisatorische Gesellschaft.10 Wie in »Südpol« zeigt sich auch in dieser Novelle schnell, dass man es bei den Fremden eigentlich mit einem entfremdeten Eigenen zu tun hat: Abermals handelt es sich um Nachfahren deutscher Auswanderer. Außerdem gerät, wie in den Erzählungen Jensens oder Müllers, die Expedition schnell zum SelbstExperiment, wenn ihre Teilnehmer sich auf unterschiedliche Weise und in post-zivilisatorischer Verzerrung das vermeintlich »primitive« Verhalten der Bergbewohner zu eigen machen.

3. Meine These ist, dass auch der Mann ohne Eigenschaften eine komplexe Beschäftigung mit dem sogenannten »Primitiven« enthält und sich die Bewegung von der Expedition zum Selbst-Experiment als Konstruktionsprinzip des Romans ausmachen lässt.11 Damit ist nicht nur der viel beschriebene Laborblick gemeint, der Ulrich, den Erzähler und auch Musil in seinen Bemerkungen zum Roman auszeichnet.12 Was in den frühen Erzählungen auf 9 10 11

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KA/Transkriptionen/Heft II/75–76. Dass es sich um eine vorzivilisatorische Gesellschaft handelt, zeigt überzeugend Schraml: Relativismus, S. 140 ff. Bei der Rede vom »Primitiven«, wie sie im ethnologischen Diskurs um 1900 gang und gäbe war, handelt es sich um eurozentristische Konstruktionen des Fremden, mit hochproblematischen Implikationen, wie z. B. die Subsumierung verschiedenster Kulturen und ihrer Errungenschaften unter das Label des »Naturvolks«; oder die evolutionistische Annahme einer niedrigen Entwicklungsstufe, der die europäische Gesellschaft als höchste Entwicklungsstufe übergeordnet wird. In diesem Aufsatz wird dieser Wortgebrauch zwar aufgegriffen, weil es mir unter anderem um die kritische Rezeption dieses Diskurses bei Musil geht; gleichzeitig distanziere ich mich aber davon, indem ich von »primitivistisch« spreche oder ein »sogenannt« vor die entsprechenden Ausdrücke setze, um den Konstruktcharakter und die Zugehörigkeit zu einem europäischen Imaginationsraum zu betonen. Ihm widmet sich in Bezug auf den Nachlaß zu Lebzeiten ausführlich Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, S. 122–161; vgl. auch das jüngst erschienene Buch von Andrea Pelmter: »Experimen-

Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften

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thematischer Ebene verhandelt wird, kehrt im Roman auf einem hohen Reflexionsgrad und strukturell gewendet zurück. Die frühen Erzählungen offenbaren das »Primitive« klar als Konstruktion – schließlich gibt es schlichtweg kein Land über dem Südpol. Deutlich wird, dass es dabei um ein entfremdetes Eigenes geht, nämlich um ein alternatives Weltverhältnis. Musil und sein Alter Ego Ulrich interessieren sich im Roman deshalb nicht mehr für das ethnologisch Fremde, sondern für das Fremde in der eigenen Kultur: »[U]nsre heimischen Primitiven sind uns fremder als die der Südsee.«13 Entsprechend tritt an die Stelle der Ethnologie die Psychologie, die aber wohlgemerkt durch den ethnologischen Blick inspiriert bleibt. Das heißt auch, dass die Fremdheiten der eigenen Kultur weiterhin als »primitiv« codiert werden. Mit dieser Codierung ist erstens eine Genealogie verbunden – dieses Fremde im Eigenen hat uralte Wurzeln; zweitens eine anthropologische These – es handelt sich dabei um ein genuin menschliches Vermögen; und drittens eine negative Bewertung von Regressionsbewegungen. Das aus der Expedition sich ergebende Selbst-Experiment unterscheidet sich vom Laborblick außerdem dadurch, dass die Experimentatoren selbst involviert sind, ob im Sinne einer Veränderung des Denkens, wie Ulrich, oder im Sinne einer Veränderung des Schreibens, wie Musil. Beide partizipieren, das wird zu zeigen sein, an den Primitivismen, die der Roman reflektiert. Im Folgenden möchte ich zunächst die erste Hälfte meiner These, die Expedition ins Primitivistische, die der Roman vornimmt, anhand der Figur der Clarisse erarbeiten. In den Entwürfen des Romans finden sich zahlreiche Hinweise, die eine Verwandtschaft der geisteskranken Clarisse mit den sogenannten »Primitiven« nahelegen. In einem Entwurf aus der Zwillingsschwester-Phase des Romans schreibt Clarisse während ihrer ersten Internierung einen Text, indem sie darüber reflektiert, dass in früheren Jahrhunderten »religiös Erweckte« wie Franz von Assisi die Möglichkeit zu einem normalen Leben hatten, während sie heute als Manische in Anstalten versteckt werden (MoE, S. 1734). In einer Entwurfsstufe der Spion-Phase stellt diese Überlegungen noch Musil selbst an und ergänzt sie wie folgt: »[D]as, was heute nur noch in einem Gebirgsdorf möglich ist [. . .] [, konnte] damals in einem Zentrum der Kultur sich ereignen« (MoE, S. 1801). Die geisteskranke Clarisse wird so als Verwandte Grigias, der bäuerlichen Nachfahrin einer vor-zivilisatorischen Kultur kenntlich gemacht. In einem anderen Entwurf aus dieser Phase beschreibt Musil den psychischen Zustand Alice Donaths, des Vorbilds Clarisses, auch als ein »Wiederaufleben mittelalterlicher Seelenzustände in neuer Fassung« (MoE, S. 1794). Weitere Hinweise auf die Verwandtschaft Clarisses mit den sogenannten »Primitiven« liefern zum Beispiel ihre »Entdeckungen« in den Entwürfen der Insel-Kapitel, dass die »untergegangenen

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tierfeld des Seinkönnens« – Dichtung als »Versuchsstätte«. Zur Rolle des Experiments im Werk Robert Musils. Würzburg 2008. Robert Musil: Bücher und Literatur, in: GW 8, S. 1170–1180, hier S. 1171.

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[. . .] phantastischen Wälder der Carbonzeit« heute »als Psychisches wieder frei« werden (MoE, S. 1755; siehe auch MoE, S. 1795). Der Erzähler vergleicht entsprechend die Geräusche der Inselnacht mit der Aufregung in einem »Negerdorf, das zum Tanz antritt« (MoE, S. 1755). All diese Hinweise lassen es nur folgerichtig erscheinen, dass Musil seinen Roman noch 1932 tatsächlich als eine Expedition bezeichnet: »Dieses Buch ist [. . .] eine geistige Expedition und Forschungsfahrt«.14

4. Den Hinweisen der Entwürfe auf Clarisse als Figuration des sogenannten »Primitiven« möchte ich anhand von drei Motivkomplexen genauer nachgehen. Erstens: Primitivismus in Manie und Schizophrenie. Die Psychopathologie des frühen 20. Jahrhunderts versteht bestimmte psychische Störungen, vor allem die Schizophrenie, als Regressionen auf das phylogenetische Stadium des sogenannten »primitiven Denkens«, das ich im Folgenden, um es als europäisches Konstrukt zu kennzeichnen, nur noch als primitivistisches Denken bezeichnen werde. Stellvertretend für viele andere sei für diese Regressionsthese nur Kretschmer zitiert: »Im schizophrenen Denken [. . .] [können] weite Zusammenhänge des primitiven Weltbildes wieder vor uns lebendig [werden]«.15 Freud verspricht sich daher von der Psychoanalyse nicht nur Aufschluss über psychische Krankheiten, sondern zugleich über die mentalen Operationen der prähistorischen Menschheit: »[Die] Neurose [hat uns] mehr von den seelischen Altertümern bewahrt [. . .], als wir vermuten konnten, so daß die Psychoanalyse einen hohen Rang unter den Wissenschaften beanspruchen darf, die sich bemühen, die ältesten und dunkelsten Phasen des Menschheitsbeginns zu rekonstruieren.«16 Folgt man Freud, so ist die angemessene Wissenschaft zur Erforschung des sogenannten »Primitiven« also gar nicht unbedingt die Ethnologie, sondern vielmehr die Psychologie, die anhand von psychischen Störungen die Geheimnisse des primitivistischen Denkens erkundet. Musil greift diese Bewegung auf, indem er Clarisse als manische Figur mit schizophrenen Einschlägen kennzeichnet. In den 20er und frühen 30er Jahren beschäftigt sich Musil intensiv mit Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie sowie mit Kretschmers Medizinischer Psychologie und mit Oesterreichs Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen. Alle drei Texte beeinflussen deutlich die Konstruktion der Clarisse-Figur in den Kapitelentwür14 15 16

KA/Transkriptionen/Mappe II/1/65. Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie. Leipzig 1922, S. 137. Es handelt sich um einen 1919 ergänzten Zusatz zur Traumdeutung; in: Sigmund Freud: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich. Bd. 2: Die Traumdeutung. Frankfurt a. M. 1996, S. 524, siehe auch S. 540.

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fen »Frühspaziergang«, »Waffenstillstand« und »Hermaphrodit«, in denen Clarisses Manie – Musil spricht vom »sich ankündigende[n] Manisch[-] Aktive[n]«.17 – zum endgültigen Ausbruch kommt und zum Dauerzustand wird.18 Dabei werden viele Eigenarten Clarisses, die bereits in älteren Kapiteln und Kapitelentwürfen entwickelt wurden, wieder aufgegriffen, um nun gewissermaßen zu Symptomen ausgearbeitet und ihrer impliziten Diagnose als Manie mit schizophrener Tendenz zugeführt zu werden. Ich beschränke mich hier darauf, die Merkmale zu nennen, die das manisch-schizophrene mit dem primitivistischen Denken verbinden, wie Musil es in seinen ethnologischen Exzerpten skizziert hat. Diese Verwandtschaft betrifft die asyntaktischen Bildserien, die das für die Manie typische ideenflüchtige Denken Clarisses auszeichnen; ebenso die eidetischen Anschauungsbilder, aus denen sich die Bildserien zusammensetzen. Ihre Zusammensetzung gehorcht, wie das primitivistische Denken auch, dem Prinzip der Assoziation auf der Basis äußerer Ähnlichkeiten oder Kontiguitäten. Häufig folgt Clarisses manisches Denken aber auch einer katathymen Logik, die es ebenfalls mit dem primitivistischen Denken teilt. Mit dem wunschgesteuerten, dereistischen Denken verweisen Bleuler, Musil und Clarisse schließlich selbst auf die Verwandtschaft des schizophrenen Denkens mit dem mythischen. Bleuler schreibt: »In diesen Formen geht die Dereation bis zur Auflösung der gewöhnlichsten Begriffe; [. . .] Apollo wird in mehrere Persönlichkeiten gespalten [. . .], obgleich er für gewöhnlich ein Mann ist, kann er auch eine Frau sein«.19 Musil greift diese Passage auf und legt sie im Kapitel »Waffenstillstand« Clarisse in den Mund,20 die damit gegenüber Walter ihre Theorie der Doppelwesen rechtfertigt. Durch diese Theorie ist Clarisses Wahn überdies nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich den partizipativen Vorstellungswelten der sogenannten »Primitiven« verwandt: Die Doppelwesen werden, wie im primitivistischen Denken, als symbolische Konstruktionen wörtlich genommen, als Partizipationen oder Metamorphosen gedacht, und der Mensch auf dem Weg von einem animalischen zu einem göttlichen Sein gesehen. Zudem praktiziert Clarisse ein »magisches« Denken, wenn sie z. B. aus Konstellationen von Tieren oder Farben Andeutungen über und Anweisungen für die Zukunft liest, oder wenn sie Namensmagie bemerkt und betreibt. Entspre17 18

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KA/Transkriptionen/Mappe V/4/205. Im Unterschied zu Moosbrugger ist die Forschungslage zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Clarisse-Figur noch sehr überschaubar. Vgl. aus jüngerer Zeit: Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern 1998, S. 249–259. Auf Symptome von Clarisses Geisteskrankheit und z. T. auch in Bezug auf psychiatrische Fachliteratur geht ausführlich ein: Gislind Erna Pietsch Pentecost: Clarisse. Analyse der Gestalt in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Purdue University 1990, S. 12–44. Die Darstellung bleibt aber weitgehend nacherzählend; der Bezug auf die Psychiatrie ist nicht systematisch und wird auch nicht reflektiert. Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin 1923, S. 35. KA/Transkriptionen/Mappe I/5/6.

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chend bezeichnet sie sich mehrfach als Hexe: »›Thessalische Hexe dünke ich mich!‹ schrie sie in den Aufruhr« eines (von ihr vermeintlich verursachten) Gewittersturms.21

5. Zweitens: Primitivismus der Musik. In einem Entwurf der Zwillingsschwester-Phase kritisiert Anders, der wie sein Nachfolger Ulrich eine sehr ambivalente Einstellung zur Musik hat, Musiker als »primitive Menschen«: »›Primitive Menschen, seid Ihr Musiker. Welche subtile, noch nie dagewesene Motivation wäre nötig, um unmittelbar nach stillem Insichgehn einen tosenden Ausbruch möglich zu machen! Ihr macht es mit fünf Tönen![‹] / Das verstehst Du nicht, Anderle, – lachte Clarisse. [. . .] Du warst nie krank.« (MoE, S. 1714) Musizieren, Primitivität und Krankheit werden hier aufgrund der ihnen gemeinsamen emotionalen Sprunghaftigkeit in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht. Geht man diesem Hinweis nach, ergibt sich in der Tat eine genealogische wie symptomatische Nähe des manisch-primitivistischen Denkens Clarisses zur Musik.22 Die frühesten Anzeichen zu ihrer Ideenflucht zeigen sich, während sie Klavier spielt: »In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarisses Denken« (MoE, S. 144). Die Flüchtigkeit dieses Denkens folgt musikalischen Gesetzen: »die Musik hielt keinen Augenblick still« (MoE, S. 147). Ebenso entspricht die Verlagerung der Bilder vom zeitlichen Nacheinander in die Gleichzeitigkeit – »oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da« (MoE, S. 144) – der Schichtung der Motive in mehrstimmiger Musik; auch der Eindruck einer ständigen Metamorphose und eines Ineinanderverschwimmens der Bilder wird den laufenden Modifikationen gerecht, denen die Motive in einer auf Entwicklung und Fortspinnung ausgerichteten Musik unterliegen. Zugleich hat die Ideenflucht mit der Instrumentalmusik eine Tendenz zur Inhaltslosigkeit gemein. Zwar wechseln im manischen Denken lauter Gedanken miteinander ab, doch ist der Inhalt dieser Gedanken unwichtig für den ideenflüchtigen Vorgang. Auch die für die Manie typischen raschen Affektwechsel Clarisses finden ihr Vorbild wie gesagt in der Musik: »Diese Übergänge von lieblich, leise, sanft zu düster, heldisch u[nd] brausend, welche die Musik binnen einer Viertelstunde ein paarmal vollzieht« (MoE, S. 1711). Dass Clarisses Wahnsvorstellungen eine musikalische Qualität haben, zeigt sich auch an ihrem synästhetischen Charakter. In der Beschreibung ihres »anderen Zustands« heißt es: »alles geht ins Musikali21 22

KA/Transkriptionen/Mappe VII/6/42; siehe auch VII/6/49; VII/6/55. Auf die Rolle der Musik in Bezug auf Clarisse geht ein: Pentecost: Clarisse, S. 73–96. Sie sieht jedoch nicht die Verbindung zwischen Clarisses Umgang mit Musik und ihren »primitivistischen«, manisch-schizophrenen Zügen.

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sche und Farbige und Rhythmische« (MoE, S. 659 f.); ebenso beschreibt sie ihre neue Fähigkeit als »[H]ör-[S]ehe[n] [. . .] eine[r] Welt, in der die Dinge stehen und die Menschen gehen, so wie du sie immer kennst, aber tönendsichtbar« (MoE, S. 712). Vorstellungen, die in ihrem Wahnsystem eine große Rolle spielen, sind daher mit musikalischen Phänomenen verbunden. Sie bezeichnet zum Beispiel Moosbrugger, auf den sie in der durch Klaviermusik induzierten Ideenflucht stößt, wiederholt als musikalisch (z. B. MoE, S. 217, 435). Im späteren Brief an Ulrich knüpft sie diese Verbindung auch an die vermeintliche Musikalität der drei Silben seines Namens (MoE, S. 712). Die akustische Dimension von Sprache spielt auch in anderen ihrer Assoziationen eine prominente Rolle, wie zum Beispiel in der Alliteration »SchlangenSchlingen-Schlüpfrig« (MoE, S. 146) während der bereits erwähnten Klavierspielszene und in sprachlichen Kreationen, in denen Semantik zugunsten von Alliterationen, Assonanzen und »wilden Reimen« (MoE, S. 659, 1796) zurücktritt. A-semantisch und zugleich musikalisch präsentieren sich auch viele Kommunikationen Clarisses. Der Brief, den sie Ulrich von der Insel schreibt, ist inhaltlich wirr, aber von einem affektgesteuerten »Rhythmus der Erregung zusammengehalten« (MoE, S. 1376). Es ist daher kein Wunder, dass Clarisse auch ein privilegiertes Verständnis der »Tanzrhythmik« der Urvölker zugeschrieben wird (MoE, S. 1787).

6. Drittens: Primitivismus der Sprache. Oesterreich und Bleuler erwähnen zwar eine ganze Reihe sprachlicher Eigentümlichkeiten Manischer und Schizophrener, gehen deren Gesetzen jedoch kaum nach. Das tut lediglich Kretschmer, und auch nur in Bezug auf seine eingehende Auseinandersetzung mit dem Sprachverhalten der sogenannten »Primitiven«. Musil greift diese Beobachtungen auf und erweitert sie noch. Drei Aspekte fallen dabei besonders auf. Zum einen der eigentümliche Umgang Clarisses mit figurativer Sprache: Sie revitalisiert lexikalisierte und konventionelle Metaphern, indem sie diese wörtlich nimmt;23 zugleich aktiviert sie ein magisches Potential von Spra23

Die Forschung hat dieses Verfahren so gut wie ausschließlich an der Figur Moosbruggers behandelt. Vgl. z. B. Wilhelm Braun: Moosbrugger dances, in: The Germanic Review 35 (1960), S. 214–230, hier S. 220f.; Claudio Magris: Musil und die Nähte der Zeichen, in: Wolfgang Freese (Hg.): Philologie und Kritik. Klagenfurter Vorträge zur Musilforschung. München 1981 (= Musil-Studien, Bd. 7), S. 177–193, hier S. 189. Aus jüngerer Zeit: Fred Lönker: Der Fall Moosbrugger. Zum Verhältnis von Psychopathologie und Anthropologie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), S. 280–302, hier S. 288 f. Lönker geht jedoch fälschlich davon aus, dass »in der zeitgenössischen psychiatrischen Literatur kaum ähnliche Phänomene beschrieben« werden (S. 289). Dabei übersieht er, wie zentral dieser Aspekt bei Kretschmer ist. Vgl. auch: Eberhard Ostermann: Das wildgewordene Subjekt. Christian Moosbrugger und die Imagination

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che, indem sie den auf diese Weise animierten Sprachbildern eine über die Darstellung hinausgehende Handlungskraft zutraut. Zum anderen hat Clarisse nicht nur durch ihren Hang zur Gebärdensprache eine Nähe zu phylogenetischen Frühformen der Sprache, sondern vollzieht in den Insel-Entwürfen zudem die Phylogenese der Sprache nach, wie sie sich u. a. bei Kretschmer darstellt.24 Zunächst entwickelt sie eine Sprache auf der Basis von Ding-Symbolen, die nach den Prinzipien der Ähnlichkeit oder der Kontiguität funktionieren, zugleich aber schon soweit symbolisch sind, dass Anders sie immerhin »verstehen lernen« muss (MoE, S. 1741). Die Ding-Symbole wirken wie eine Steigerung von Clarisses Umgang mit Doppelworten, denn sie verfügen nicht nur über eine Doppel-, sondern sogar über eine Mehrdeutigkeit (MoE, S. 1743), die zugleich durch die Dinge immer schon an die Materialität zurückgebunden ist. Aufgrund dieser Einheit von Symbol und Ding sind die Ding-Symbole zwar einerseits Medium der Kommunikation mit dem Gegenüber, doch zugleich eine Form der magischen Kommunikation mit den Dingen selbst: »Zwischen ihr und den Dingen bestand ein fortwährendes Zeichenaustauschen und Verständigen, ein Verschworensein, [. . .] erhöhte Korrespondenz« (MoE, S. 1747). Als nächste Stufe in der Phylogenese der Sprache entwickelt Clarisse eine Bildersprache aus Sandzeichnungen. Geradezu plakativ umgesetzt ist hier das von Kretschmer für die Bildersprache der sogenannten »Primitiven« erarbeitete Gesetz der Stilisierung sowie auch das Gesetz der katathymisch motivierten Verdichtung. Die Magie dieser Bildersprache liegt in ihrer Affinität zu einer narzisstischen Multiplizierung des Ichs: »die Insel bevölkerte sich mit vielen Clarissen [. . .], es war eine Wollust [. . .], überall auf sich selbst zu stoßen« (MoE, S. 1742). Schließlich gelangt Clarisse auf der dritten Stufe der Sprach-Phylogenese zur Entwicklung von Worten und sogar von Lyrik: »Cl. begann ihr

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des Wilden in Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Neophilologus 89 (2005), S. 605–623, hier S. 608 f., mit Bezug auf sprachphilosophische und ethnologische Bezüge auch S. 610 f.; Robert Krause: Abstraktion – Krise –Wahnsinn. Die Ordnung der Diskurse in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2008, S. 110–114. Gerd-Theo Tewilt: Zustand der Dichtung. Interpretationen zur Sprachlichkeit des ›anderen Zustands‹ in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Münster 1990, S. 172–184, hingegen geht auch auf Clarisses Wörtlichnehmen von metaphorischer Sprache ein und stellt heraus, dass sie dadurch die »Vernichtung des Unterschieds« betreibe (S. 173) und ihre Sprache so gewaltsam werde (S. 174). Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« im Diskurs der modernen Physik. München 2001 (= Musil-Studien, Bd. 28), geht zwar auf die Sprachentwicklung Clarisses ein, erkennt in ihr aber nicht die phylogenetische wieder, sondern beschreibt ihre Stufenfolge aus dem »Blickpunkt physikalischen Wissens« (S. 429–431). Auch Magris: Nähte der Zeichen, geht kurz auf Clarisses Sprachschöpfungen ein, mit Fokussierung auf der Etablierung bezugloser bzw. radikal kontext- und kodexabhängiger Zeichen (S. 191), einer stoffbezogenen Sprache ohne Syntaxbezüge (S. 192) und schließlich autonomer Zeichen ohne Objekt (S. 192).

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Leben in Gedichten auszudrücken« (MoE, S. 1753).25 Sie befreit sich dafür jedoch von der etablierten Sprache und sprengt Begriffe, indem sie zum Beispiel neue Doppelworte erfindet oder syntaktische Zusammenhänge zerstört und die Worte, z. B. durch Ausrufezeichen oder Wiederholungen, daran hindert, sich gedanklich in diese alten Zusammenhänge zurück zu begeben. Das Ergebnis sind asyntaktische Folgen neuer Wortbilder, wie z. B. »Ichrot« (MoE, S. 1753). In diesen Gedichten erscheint Clarisse, wie die frühen Entwürfe klar machen, als proto-expressionistische Dichterin.26 Damit ist ein weiterer Bezug zum Primitivismus-Diskurs der Zeit hergestellt, denn Kretschmer, aber auch andere zeitgenössische Psychologen bringen Schizophrenie, primitivistisches Denken und Expressionismus in einen phänomenalen wie genealogischen Zusammenhang, der spätestens seit der Blauer-Reiter-Ausstellung auch unter Künstlern topisch war.

7. Aus diesen Beobachtungen zu Manie bzw. Schizophrenie, Musik und Sprache ergibt sich zum einen die primitivistische Kontur der Clarisse-Figur und damit die zentrale Rolle, die primitivistische Motive auch im Mann ohne Eigenschaften spielen. Darüber hinaus lassen sich diese Beobachtungen aber auch als Hinweise auf eine primitivistische Ästhetik lesen, deren Kernpunkte eine partizipative Rezeptionshaltung sowie eine auf Anschaulichkeit statt Abstraktion konzentrierte Zeichenhaftigkeit sind, die eben diese Rezeption herausfordert. Zugleich wird deutlich, dass es sich bei dem Attribut des »Primitiven« nur um ein Konstrukt handelt, speist sich doch diese Ästhetik nicht 25

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Roger Willemsen: Dionysisches Sprechen. Zur Theorie einer Sprache der Erregung bei Musil und Nietzsche, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60/1 (1986), S. 104–135, erkennt darin das »Programm einer Expansion des geoffenbarten Namens zur Sprache« (S. 128). Es gehe hier um ein »erotisches, mehr noch ein orgastisches Verhältnis zur Sprache« (S. 129), nämlich zu einer Sprache, die zu ihrer Herkunft »aus Bild und Reiz« zurückgekehrt sei (S. 130). Michael Jakob: Von der »Frau ohne Eigenschaften« zum »Mann ohne Eigenschaften«. Anmerkungen zu Clarisse, in: Josef Strutz (Hg.): Robert Musils »Kakanien« – Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag. München 1987 (= MusilStudien, Bd. 15), S. 116–133, liest die Clarisse der frühen Entwurfsstufen als Porträt eines »klassischen Schöpfer-Genius« (S. 130), wenn sie eine neue Sprache, Dichtung und Zeichnungen entwirft und den »anderen Zustand« erlebt (S. 124). Im publizierten Roman hingegen ist daraus, wie Jakob betont, bloße Pseudogenialität geworden. Wenn Clarisse in den ersten Entwürfen Nietzsches früher Geniekonzeption und damit Wagner entsprach, ist die Clarisse des Romans, wie Wagner für den späten Nietzsche, »nur noch Epigonin, die Rolle des Geistes fällt dort dem Wissenschaftler und ›freien Geist‹ Ulrich zu« (S. 121). Zur Positionierung von Clarisses »identifikatorischer Nietzschelektüre« zwischen Walters Kulturkonservatismus und Ulrich als »Personifikation« der »Ambivalenz«, die aus der Auflösung alter Werte resultiert vgl. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995, S. 383–409, hier S. 394 f.

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aus ethnologisch fremden Denkformen, sondern ebenso aus musikalischen Verfahren oder den Tropen der Sprache. Clarisse lässt sich auf die Logiken dieser Verfahren und damit auch auf die Gefahr ein, wahnsinnig zu werden. So agiert bereits sie als Expeditionsreisende, die sich von den Objekten ihrer Expedition beeinflussen und zum Selbst-Experiment verleiten lässt. Im Kontakt mit Clarisse schickt Musil aber vor allem sein Alter Ego Ulrich auf eine Expedition ins »Primitivistische«, das sich als entfremdetes Eigenes präsentiert. Damit komme ich zum zweiten Teil meiner These: die Bewegung von der Expedition zum Selbst-Experiment im Mann ohne Eigenschaften. Die »fremde« Clarisse teilt mit Ulrich nicht nur historische und biographische Zeit, Wohnort und soziale Herkunft, sondern ist außerdem Freundin, potentielle Geliebte und ursprünglich sogar Schwester des Protagonisten, letzteres mit Blick auf einen Brief Musils an das Vorbild Clarisses, Alice, in dem er diese als sein »Schwesterlein« anspricht.27 Außerdem weisen zahlreiche Clarisse-Passagen auf parallele Interessen, Ansichten und Erfahrungen Clarisses und Ulrichs hin, prominent vor allem in Bezug auf den anderen Zustand. So bemerkt Ulrich über Clarisse: »[U]nd doch hatte sie in ihrem Anfall [. . .] Aussprüche getan, die manchen der seinen bedenklich ähnlich waren« (MoE, S. 662). Aus dieser Perspektive lässt sich die Figur der Clarisse als ein ausgelagertes Selbst-Experiment Ulrichs verstehen. Diese Deutung wird unterstützt dadurch, dass sich Ulrichs Vorgänger in den Entwürfen der Zwillingsschwester- und der Spion-Phase, ähnlich wie die Forschungsreisenden in den Expeditions-Erzählungen, von Clarisse »anstecken«, d. h. zum SelbstExperiment verführen lässt. In einer ebenso bekannten wie markanten Passage der Insel-Kapitel heißt es dazu: »Délire à deux: Es handelt sich um zwei Menschen, von denen der eine irr ist und der andre prädisponiert zum Irresein. [. . .] Durch ständigen Kontakt, indem er beständig den Stoß wirrer und regellose Ideen empfängt, gelangt er dahin wie sein Gefährte zu handeln und allmählig stellt sich der gleiche Wahnsinn bei ihm ein« (MoE, S. 1796). Je weiter die Entwicklung des Romans voranschreitet, desto mehr verliert sich jedoch diese direkte Beeinflussung Ulrichs durch Clarisse. An ihre Stelle tritt eine eher distanzierte, kritische Sicht, mit der sich das Selbst-Experiment Ulrichs von Clarisse auf Agathe bzw. auf die Geschwisterliebe verschiebt.28 27 28

KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/451. Zur »Welt der Clarisse« als »antisoziale Parallelverschiebung zu der asozialen Welt der Geschwister« und der darin enthaltenen »Differenz« von »wahnhafter« und »utopischer« Totalität vgl. Roger Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung, S. 311–318, hier S. 315. Schon Philip H. Beard: Clarisse und Moosbrugger vs. Ulrich/Agathe: Der »andere Zustand« aus neuer Sicht, in: Modern Austrian Literature 9/3–4 (1976), S. 114–130, betont die nüchterne Prüfung, die Ulrich und Agathe in Bezug auf den aZ vornehmen, sowie die Suche nach Bezug des aZ zur praktischen Wirklichkeitsebene und die gemeinsame Natur des aZ bei ihnen, in der Beard eine »quasi-wissenschaftliche« Kontrollinstanz gebildet sieht (S. 120 f.). Zudem betont er, dass der aZ bei Moosbrugger und Clarisse mit Isolation und Zwang einhergeht, bei Agathe und Ulrich jedoch zu einem erweiterten Verständnis ihres Lebens und zu grö-

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Inwiefern lässt sich nun auch Musils Schreiben durch Clarisses Primitivismus beeinflussen, d. h. inwiefern folgt es ebenfalls der Bewegung von der Expedition zum Selbst-Experiment? Oesterreich stellt im Anschluss an ein Kapitel, aus dem Musil intensiv exzerpiert, die These auf, dass nicht nur Schizophrene, sondern auch »Romanschriftsteller« für die »Entstehung eines inneren Doppelbewußtseins« prädestiniert seien.29 Vor diesem Hintergrund ließe sich Clarisse also als Figuration des Schriftstellers lesen. Ohne Zweifel produziert sie, wie Walter Fanta gezeigt hat,30 »Scheinrealitäten« und imaginiert »fantastische Zeichensysteme«; sie findet auch ihre willigen Zuhörer, zunächst die Vorgänger Ulrichs, dann Walter und den General, der Clarisses Erzählvermögen rühmt: »Sie erzählen so plastisch, daß man alles versteht«.31 Kann diese Äquivation für Musils Schreiben Gültigkeit beanspruchen? Schauen wir uns zunächst die Clarisse-Kapitel des Romans an. In vielen dieser Kapitel kippt die auktoriale Erzählung in eine personale, sodass über längere Passagen kein Außenblick auf Clarisse mehr verfügbar ist.32 Die Erzählung neigt hier zu einem parataktischen und in Bezug auf die Gedankenverbindung außerdem elliptischen Stil – beides laut Kretschmer typisch für das manische Denken.33 Eindrucksvoll zeigt sich das z. B. am Beginn des Kapitels »Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben.« Vergleicht man seine ersten eineinhalb Seiten mit den letzten des vorhergehenden Kapitels, dann fällt die große Anzahl von Absätzen auf, die den

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ßerer Herrschaft über sich selbst führt (S. 125–127). In einer Variation des letzten Punktes heben auch schon Richard E. Hartzell: The Three Approaches to the ›other‹ state in Musil’s Mann ohne Eigenschaften, in: Colloquia germanica 10 (1976/77), S. 204–219, hier S. 217, und jüngst Maximilian Aue: »Pandämonium verschiedener Formen des Wahns?« Vom Wahnsinn und seinen Grenzen in Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Primus-Heinz Kucher (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der zwanziger Jahre. Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil. Bielefeld 2007, S. 135–144, hier S. 139, 141, die Gewaltsamkeit hervor, die bei Moosbrugger und Clarisse mit den Erfahrungen des aZ verbunden ist bzw. mit dem Versuch der Vereinigung mit einem Gegenüber. Auch Ostermann: Das wildgewordene Subjekt, S. 619 ff., betont, dass der aZ bei Agathe und Ulrich im Zeichen wechselseitiger Anerkennung, nicht der Isolation oder der Gewalt wie bei Moosbrugger und Clarisse, steht. Konstantin Oesterreich: Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen. Leipzig 1910, S. 449. Walter Fanta: Die Spur der Clarisse in Musils Nachlass, in: Musil-Forum 27 (2001/02), S. 242– 286, hier S. 284. KA/Transkriptionen/Mappe V/4/212. Insofern folgt er Clarisses Diktum, dass man zum Verstehen eines Menschen ihn »mitmachen« müsse. Das gilt, wie Payne schreibt, auch für das Erzählen über Moosbrugger (Philip Payne: Musil erforscht den Geist eines anderen Menschen – zum Porträt Moosbruggers im Mann ohne Eigenschaften, in: Literatur und Kritik 11 (1976), S. 389–404, hier S. 392–396). Er hebt die Lebhaftigkeit und den Vorstellungsreichtum des Berichts hervor sowie den Metaphernreichtum und den Rhythmus des Textes, durch den dem Leser die Gefängnismonotonie auf sprachlicher Ebene erfahrbar wird. Aus der grammatischen Disziplin des Textes und der vom Erzähler bekundeten mangelnden Verlässlichkeit der Berichte Ulrichs ergibt sich für Payne aber auch eine Distanzierung des Lesers vom Text und damit auch von Moosbrugger. Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie. Stuttgart 121963, S. 148, 151.

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linken Rand des Drucktextes optisch zerflattern und das elliptische Denken so gewissermaßen sichtbar werden lassen. Im ersten, vergleichsweise langen Absatz fällt außerdem die Neigung zur Parataxe auf. Acht von zehn Sätzen bzw. Teilsätzen sind kurz und parataktisch konstruiert – ein auffälliger Gegensatz zur letzten Seite des vorhergehenden Kapitels, auf der kein einziger Satz so gebaut ist. Des Weiteren neigt die Erzählung in diesen Clarisse-Passagen stark zum Einsatz von Metaphern, die, wenn sie wörtlich genommen werden, das assoziative Ordnungsprinzip des Textes darstellen. Dies gilt jedoch – und das ist wichtig – nicht nur für personale Erzählsequenzen, sondern auch für auktoriale, in denen von Clarisse nur die Rede ist. Zum Beispiel wird Clarisses Denken vom Erzähler als ein ›Aufspringen und Verschmelzen von Bildern in flatternden Nebeln‹ veranschaulicht sowie ihre Gedanken als ›hinter einer Bühne stehende Dämonen‹ (MoE, S. 144) beschrieben. Hochstätter hat auch auf die folgende Passage hingewiesen:34 »Clarisse, im langen, die Füße bedeckenden Nachthemd wie ein kleiner Engel anzusehen, stand aufgesprungen im Bett und deklamierte mit blitzenden Zähnen frei nach Nietzsche [. . .]; im Halbdunkel des Schlafzimmers war das ganz grausig anzusehen gewesen« (MoE, S. 368). Das Wort »aufgesprungen« ist hier offenbar doppelsinnig eingesetzt. Nicht nur meint es das schnelle Aufstehen, sondern auch das plötzliche Auseinanderklaffen einer Persönlichkeit in Engel und Bestie (»blitzende Zähne«), auf das sich das »Grausen« des Betrachters bezieht. Zugleich nimmt der Erzähler damit ein Wort wieder auf, das er in der zuvor zitierten Passage zur Charakterisierung von Clarisses Gedanken verwendet hatte und das insofern gewissermaßen vorcodiert ist. Clarisses Körperhaltung ist so einmal mehr als die Verkörperung eines mentalen Vorgangs lesbar (MoE, S. 366). Doch nicht nur in den Clarisse-Kapiteln, auch in anderen Teilen des Romans, die keinen inhaltlichen Bezug zu Clarisse haben, zeigt sich Musil von diesem Merkmal manisch-primitivistischen Sprechens beeinflusst. Bekanntermaßen basieren Ulrichs ebenso wie des Erzählers Versuche, Augenblicke des »anderen Zustands« zu beschreiben, auf Gleichnissen.35 Im Nachlasskapitel »Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse« wird ein solcher Augenblick mit der Existenzform siamesischer Zwillinge und zugleich mit einem Gleichnis selbst verglichen: »schattenhafte[ ] Vereinigung, von der sie zuvor wie in einem schwärmerischen Gleichnis genossen hatten« (MoE, S. 1083). Die siamesischen Zwillinge fungieren gewissermaßen als Gleichnis 34

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Auf die »Vielsinnigkeit« dieses Wortes weist schon Dietrich Hochstätter hin: Sprache des Möglichen. Stilistischer Perfektionismus in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M. 1972, S. 131. Musil verwendet den Begriff »Gleichnis« als Synonym auch für andere Tropen: »Sinnbild, Gleichnis, Bild, es geht ineinander über«, konstatiert Ulrich im Mann ohne Eigenschaften (MoE, S. 1345).

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auf ein Gleichnis, das als solches Gleichnis für den begrifflich nicht fassbaren Augenblick des »anderen Zustands« ist.36 Das heißt: Die Erfahrung des »anderen Zustands« lässt sich nicht nur in einem zwillingshaften Gleichnis beschreiben, sondern sie ist zugleich Erfahrung des Gleichnisses. So heißt es an anderer Stelle auch: »Gleichnis als zweiter Zustand«.37 Das aber bedeutet, dass es beim Gleichnis gar nicht primär um eine Darstellung des »anderen Zustands« geht, sondern mehr noch um seine Herstellung. Das Gleichnis zu rezipieren, heißt, einen Augenblick des »anderen Zustands« zu erleben.38 Auch an Musils Schreiben lässt sich also die Bewegung von der Expedition ins Selbst-Experiment verfolgen. Er wird von Clarisses Primitivismus insofern beeinflusst, als sein Schreiben Züge annimmt, die im Roman und seinen Kontexten als »primitiv« codiert werden: Es verfährt parataktisch, elliptisch und ist vor allem geprägt durch Metaphern und Gleichnisse, und in Bezug auf letztere eignet es sich sogar die performative Magie der Darstellung als Herstellung an.

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Auf die Verschränkung von Gleichnis- und Zwillingshaftigkeit wird in der Forschung eingegangen, z. B. schon bei Jürg Kühne: Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Tübingen 1968, S. 155–166, der sich dem Gleichnis der zwei Bäume in Bezug auf die Zwillinge widmet; ebenso bei Tewilt: Zustand der Dichtung, S. 132–171, auch bei Wolfgang Riedel: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Dorothea Klein, Sabine Schneider (Hg.): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990. Würzburg 2000, S. 265–285, der auf die Übertragung des Zwillingsverhältnisses auf Denken und Sprache durch Ulrich hinweist: »Durch sie [Tropen und Metaphern, N. G.] werden, so Ulrich, gleichsam Zwillingsverhältnisse zwischen den Dingen geschaffen« (S. 279). Dabei zieht Riedel korrekt die Verbindung zu Theorien »mythischen« oder »archaischen« Denkens bei Vischer und LévyBruhl oder des Traum-Denkens bei Jung und Freud (S. 279). Der zweite Aspekt, die Verschränkung von Gleichnis und anderem Zustand, wird in der Forschung jedoch lediglich angedeutet und in ihren Implikationen nicht weiter verfolgt, z. B. bei Willemsen: Dionysisches Sprechen, S. 117, sowie Jutta Heinz: Grenzüberschreitung im Gleichnis. Liebe, Wahnsinn und »andere Zustände« in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Dorothea Lauterbach, Uwe Spörl, Uli Wunderlich (Hg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen 2002, S. 235–256, hier S. 254 f. KA/Transkriptionen/Mappe II/3/54. Das lässt sich mit den Ansätzen zu neuer Ästhetik unterstützen. Die Rezeption eines Gleichnisses beschert das Erlebnis eines aZ, weil, wie in den Ansätzen in Bezug auf den aZ formuliert, hier die Formelhaftigkeit eingefahrener Begriffe gesprengt wird: »In ihm [im Vorgang der Ausdehnung und Zusammenziehung unseres geistigen Seins, N. G.] hat die Kunst die Aufgabe unaufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt; [. . .] am aggressivsten und direktesten macht es die Literatur, weil sie unmittelbar mit dem Material der Formulierung selbst arbeitet« (GW 8, S. 1153).

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8. Trotzdem lässt sich Musils Erzählen nicht in diesem Sinne als »primitivistisch« bestimmen.39 Denn die Clarisse-Passagen bleiben von Anfang an nicht ohne Kommentierung. In den frühen Entwürfen kommentiert der auktoriale Erzähler Clarisses Denken und Handeln direkt. In den späten Entwürfen werden diese Kommentare zu indirekten, indem sie in Dialoge umgewandelt, oder in Reflektionen Ulrichs bzw. Überlegungen essayistischer Art verschoben werden. Das 38. Kapitel, das so gut wie ganz Clarisses Denken, vorwiegend aus personaler Erzählhaltung, gewidmet ist, wird zum Beispiel abgelöst vom essayistischen 39. Kapitel, in dem der Erzähler und Ulrich über eine »Welt von Eigenschaften ohne Mann« reflektieren, deren Beschreibung sich, wie Simon Jander gezeigt hat, als Reflexion über Clarisses Denken lesen lässt.40 Diese Verflechtung von gleichnishafter Sprache und Reflexion gilt erst recht für die Passagen über den »anderen Zustand«, in denen sie zudem programmatisch ist. Ulrich fordert, in seiner Abgrenzung sowohl von Clarisse wie von Agathe, bekanntermaßen ein »wirkliche[s] Verstehen« und eine »exakte [Er]forschung« des »anderen Zustands« statt irrationalistischer Schwärmerei; er wendet sich gegen dessen Entgegensetzung zum Denken und will ihn stattdessen als eine »eigentümliche Veränderung des Denkens« begreifen (MoE, S. 575).41 39

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Regressiven Bewegungen – das ließe sich auch an der Thematisierung von Kindheit und Mystik bzw. Neomystik zeigen – wird im Mann ohne Eigenschaften letztlich stets mit Desillusionierung und Ernüchterung begegnet. Aufgrund dieser regressionskritischen Haltung Musils ist es irreführend, Musils Roman einen »Salto rückwärts in den Mythos« zuzuschreiben, wie das Riedel tut: »[D]er Roman läßt keinen Zweifel daran, daß die Wiedergewinnung dieses Paradieses ohne Regression nicht zu haben ist« (Riedel: Robert Musil, S. 278). Darauf weist nachdrücklich Norbert Christian Wolf hin, indem er die oben zitierte Formulierung Riedels kritisch reflektiert: Norbert Christian Wolf: Salto rückwärts in den Mythos? Ein Plädoyer für das ›Taghelle‹ in Musils profaner Mystik, in: Wiebke Amthor, Hans R. Brittnacher, Anja Hallacker (Hg.): Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts. Berlin 2002, S. 255–268. Wolf weist u. a. auf das Scheitern der ParadiesVersuche des Romans hin, auf Musils Distanzierung von der (Neo-)Romantik, auf die »gleiche ontologische Wertigkeit« des ersten und des zweiten Zustands, die Musil beide als begriffliche Instrumente zur »anthropologischen Erkenntnis« in der heutigen Welt dienen (S. 264). Simon Jander: Die Ästhetik des essayistischen Romans. Zum Verhältnis von Reflexion und Narration in Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Brochs Hugenau oder die Sachlichkeit, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123/4 (2004), S. 527–548, hier S. 533. Und diese Verflechtung von gleichnishafter Sprache und Reflexion gilt ebenso für die essayistischen Kapitel. Das bekannte Kapitel über den Essay gleitet zum Beispiel im letzten Absatz in eine narrative Passage über, die von einem nächtlichen Gartenspaziergang Ulrichs erzählt. In dieser Passage wird auch eine Metapher aufgegriffen (›nebliger Milchschaum‹), die schon zwei Seiten zuvor in der Reflexion über das Gebiet des Essays eine Rolle gespielt hatte (›besänftigende Muttermilch‹) (MoE, S. 257, 255). In diesem Sinne lässt sich der Essay nicht als Entgegensetzung, sondern nur selbst schon als Verflechtung von Narration, gleichnishafter Sprache und Reflexion verstehen. Vgl. dazu Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006, die den Essayismus Musils sowohl als »andere Ver-

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Die an Clarisse orientierte Form des »primitivistischen« Erzählens wird also konterkariert durch die reflexiven Passagen des Romans. Damit kommt ein anderes Verständnis dessen ins Spiel, was ein am Vorbild des sogenannten »Primitiven« gewonnenes Erzählen für Musil bedeuten könnte. Es geht gerade nicht um eine bloße Mimesis ans sogenannte »Primitive«, wie es das »primitivistische« Erzählen im Clarisse-Modus ist. Dann hätte man es mit primitivistischer Ästhetik im oben beschriebenen und von Ulrich kritisch reflektierten Sinne zu tun. Sondern Musil nimmt sich die Dichtung der sogenannten Naturvölker auf andere Weise zum Vorbild. Im Zusammenhang mit seinem Essay Literat und Literatur macht sich Musil ausführliche Notizen zu einem ethnologischen Vortrag Hornbostels und betont dabei zwei Aspekte:42 Die Dichtung der sogenannten Naturvölker ist ein Ritualgesang, der nicht ein Geschehen darstellen, sondern es herstellen soll. Notwendig dafür ist nicht nur ein ganz bestimmter Inhalt, sondern auch eine ganz bestimmte Form, die durch den Verlauf des herzustellenden Geschehens, das zugleich der Inhalt ist, gegeben ist. Im Anschluss reflektiert er darüber, welches Potential diese Eigenschaften für die gegenwärtige Literatur bergen könnte, und kommt erstens zu der Einsicht, dass auch heutige Literatur noch etwas herzustellen habe, nämlich eine »bestimmte Art von Geist«.43 Zweitens konstatiert Musil, dass dem heutigen Dichter für »nicht-ratioide Aussagen« die Formsprache fehle44 und es daher gälte, eine solche zu entwickeln. Daraus lässt sich ein Verständnis der von ihm angestrebten »bestimmten Art von Geist« gewinnen. Es handelt sich um eine Formsprache für nicht-ratioide Aussagen, die als solche auf eine Vergeistigung des Körperlichen zielt, wie es der Aufsatz mit Bezug auf den Gestaltbegriff entwickelt. Sie ist das genuin moderne Ziel gegenwärtiger Literatur, welches diese von der Dichtung der sogenannten Naturvölker unterscheidet. Diese Sprachform aber kann nicht identisch sein mit dem Nicht-Ratioiden selbst, sondern muss in aller Sensibilität zugleich dessen Reflexion leisten. Das realisiert der Mann ohne Eigenschaften in seiner Verschränkung von »primitivistischem« Erzählen im Clarisse-Modus und essayistischem Erzählen. Wenn Musil in Literat und Literatur zugleich davon spricht, dass der Zauber der Literatur heute zunächst einmal in sich selbst wirke, so ist damit kein Verzicht auf das Herstellen gemeint. Sondern Literatur stellt sich selbst her als eine Form, in der sich über Nicht-Ratioides geformt sprechen und denken lässt. Entsprechend thematisiert der Roman die Suche nach einer Formsprache des Nicht-Ratioiden nicht nur, sondern ist im Sinne der Herstellung zugleich schon diese Formsprache. Das ließe

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nunft« sowie als »immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion« (Kapitelüberschriften des Buches) beschreibt. Zu Musils Lektüre Hornbostels im Kontext des Essays Literat und Literatur vgl. auch Bonacchi: Gestalt, S. 292–300. KA/Transkriptionen/Mappe VI/3/41. KA/Transkriptionen/Mappe VI/3/118.

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sich, mit Bezug auf den Literat und Literatur-Aufsatz, als primitivistisches Erzählen im modernen Sinne begreifen. Die Bewegung von der Expedition zum Selbst-Experiment löst sich hier von der Problematik der regressiven Mimesis, die von Musil als primitivistisch kritisiert wird, und führt zum SelbstExperiment als reflektiertem, gegenwartsbezogenen Umgang mit dem entfremdeten Eigenen.

Birgit Nübel

»ein dünner Dunst fremden Leibes« Perversionen des Erkennens in Musils Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst Abstract: »Every perversion is capable of being represented«, we are told in the essay Über das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911; The obscene and pathological in art). In texts by Musil, the representation of perverse-»fantastic passion« is used – in parallel to irony – as a »counterweight« to reflective-essayistic discourse. In these, however, he is less concerned with the representation of the erotic in its diversity as such than with the question of whether it can be represented at all, and with the function of art. Placing the perverse into discourse in Musil’s metatext on the Vereinigungen (1911; Unions) lays the foundation for his concept of the ›sense of possibility‹.

Es scheint mir unzweifelhaft, daß der Begriff des »Schönen« auf dem Boden der Sexualerregung wurzelt und ursprünglich das sexuell Reizende (»die Reize«) bedeutet.1 (Sigmund Freud)

1. Die Diskursivierung des Sexuellen als das Fremde (›Verbotene‹) der eigenen Kultur Perversionen verkörpern das Fremde, Unheimliche, das Andere wie Eigene – das ›Heimliche‹2 der eigenen Kultur. Die Diskursivierung des Perversen findet im Kontext der sich um 1900 institutionalisierenden Sexualwissenschaft und in den zeitgenössischen Inszenierungen literarischer Perversionen statt. Sie ist Ausdruck eines kulturellen ›Selbstbeschreibungsprogramms‹, welches auf einer Ziehung der Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit, Normalität und Perversion, Männlichkeit und Weiblichkeit wie deren Infragestellung gleichermaßen beruht. Perversionen geben der Gesellschaft – so Dorothea Dornhof – »Gelegenheit, sich durch Unterscheidung der eigenen 1

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Sigmund Freud: Zusatz von 1915 zu: Die sexuellen Abirrungen. Aus: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], in: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Bd. 5: Sexualleben. Frankfurt a. M. 2000, S. 47–80, hier S. 66. Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919], in: ders.: Studienausgabe. Bd. 4: Psychologische Schriften. Frankfurt a. M. 2000, S. 241–274.

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Normalität zu vergewissern.«3 Robert Musils Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) steht im Kontext einer Verteidigung der öffentlichen Darstellung des Sexuellen im Spannungsfeld von staatlicher Zensur und Kunstautonomie. Zugleich begründet Musil mit seinem engagierten Postulat zur Darstellbarkeit sexueller Varianz das Konzept des Möglichkeitssinns. Das Unanständige und Kranke in der Kunst erschien am 1. März 1911 im 9. Heft der Berliner Halbmonatsschrift Pan. Es handelt sich um den ersten von Musil publizierten Essay. Unmittelbarer Anlass für die Veröffentlichung war das polizeiliche Verbot der vorangegangenen Hefte Nr. 6 und 7 des Pan. In der Nr. 6 des Pan vom 16. Januar 1911 wurden »zum erstenmal in deutscher Sprache«4 Auszüge aus den Reisetagebüchern Gustave Flauberts aus Italien (1845) und Ägypten (1849–1851) abgedruckt. 1849 war Flaubert in Begleitung eines Freundes, des (Photo-)Journalisten Maxime Du Champ in den Orient gereist. Flaubert fühlte sich von »all den unverhüllt sich zeigenden Krankheiten, Monstruositäten, Perversionen« – so André Stoll – »[g]eradezu magisch angezogen«: »Von der Pest oder Syphilis zerfressene, schauerlich entstellte Körper, verwesende und von Raubtieren abgenagte Kadaver«, führten ihm das Fremde, Andere, Barbarische zivilisatorischen Fortschritts und europäischer Kultur vor Augen.5 Die in der Nr. 7 des Pan vom 1. Februar 1911 veröffentlichten Auszüge geben Straßengespräche wieder und berichten unter anderem von den Besuchen der beiden Freunde in einer Hurengasse. Die intensivste Begegnung aber mit dem ›fremden‹ Orient und der diesen inkarnierenden Weiblichkeit vermittelt die Episode mit der Tänzerin und Kurtisane Sophia Ruschuk-Hanem in Esneh, deren »Bienentanz« Flaubert ebenso in seinem Reisetagebuch festhält wie die im Anschluss daran verbrachte Nacht.6 Außer den Flaubert’schen Tagebuchaufzeichnungen enthielt das 6. Heft auch eine Umfrage zur Todesstrafe sowie ein satirisches Gedicht Alfred Kerrs, 3

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Dorothea Dornhof: Inszenierte Perversionen. Geschlechterverhältnisse zwischen Pathologie und Normalität um die Jahrhundertwende, in: Antje Hornscheidt, Gabriele Jähnert, Annette Schlichter (Hg.): Kritische Differenzen – Geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne. Opladen 1998, S. 253–277, hier S. 270. Pan Nr. 6 (1911), S. 181. Im Juli 1910 waren Auszüge aus Flauberts Nachlassmanuskript Carnets de voyage in der von Eugène Montfort herausgegebenen französischen Literaturzeitschrift Les Marges erschienen; vgl. Pan Nr. 7 (1911), S. 226. André Stoll: Nachwort. Die Entführung des Eremiten in die Wüste, in: Gustave Flaubert: Reise in den Orient. Aus dem Französischen v. Reinhold Werner, André Stoll. Hg. v. André Stoll. Frankfurt a. M. 1996, S. 363–417, hier S. 394; vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Übersetzt v. Liliane Weissberg. Frankfurt a. M. u. a. 1981, bes. S. 213–216. Vgl. Pan Nr. 7 (1911), S. 226–230; die einschlägigen Stellen waren von den Herausgebern »zum Vermeiden gesetzlichen Anstosses« (Pan Nr. 6 [1911], S. 181) durch fremdsprachliche Wendungen, Auslassungszeichen und Gedankenstriche ersetzt worden.

»ein dünner Dunst fremden Leibes«

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Der deutsche Schwund, welches das Verhalten der Polizei bei den Moabiter Krawallen7 kritisierte: [. . .] Wenn sie sanken, wenn sie lagen, Wurden sie halbtot geschlagen . . . Mancher, wenn sein Krafthieb sass, Scherzte: »Hure! Saustück! Aas!« [. . .]8

Das Heft wurde verboten, noch greifbare sechs Exemplare von der Berliner Polizei beschlagnahmt.9 Als die Redaktion des Pan jedoch fortfuhr, Auszüge aus dem – dieses Mal im Inhaltsverzeichnis demonstrativ durch Großbuchstaben hervorgehobenen – »TAGEBUCH DES JUNGEN FLAUBERT« zu veröffentlichen und zudem einen offenen Brief Alfred Kerrs »An den Polizeipräsidenten« Traugott von Jagow abdruckte, auf den sich Musil in seinem Essay bezieht,10 wurde auch die Nr. 7 des Pan verboten und es kam wiederum zur Konfiszierung einiger letzter Exemplare.11 Der Fall Flaubert hatte sich jedoch mittlerweile – mit dem 9. Heft des Pan vom 1. März 1911, in dem auch Musils Essay erschien – längst zu einer »Affäre« Jagow erweitert, die »jetzt in Berliner und nicht-berlinischen Blättern ausführlich mitgeteilt wird.«12 Der Hintergrund sei hier nur kurz skizziert: Besagter Polizeipräsident Traugott von Jagow hatte bei »der Generalprobe des ursprünglich aus Sittlichkeitsgründen verbotenen Sternheimschen-Stückes Die Hose«, das unter dem von der Zensur gebilligten neuen Titel Der Riese uraufgeführt wurde, im Parkettraum der Kammer7

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Wilhelm Herzog hatte bereits im Heft Nr. 2 vom 15. 11. 1910 die Berliner Justiz in Bezug auf das »Moabiter Schauspiel« kritisiert (Pan Nr. 2 [1910], S. 39–42, hier S. 40). Vgl. Donatella Germanese: Pan (1910–1915). Schriftsteller im Kontext einer Zeitschrift. Würzburg 2000, S. 34–38. Zit. nach: Alfred Kerr: Jagow, Flaubert, Pan, in: Pan Nr. 7 (1911), S. 217–223, hier S. 217; vgl. ebenda S. 218: »Dieser Schlussvers (dacht’ ich) kann die amtliche Ursache der Verfolgung nicht gewesen sein – er enthält nur Worte, die zuvor (gegen geprügelte Frauen) von Ihren Leuten verwendet worden; Zitate sind es aus dem Wortschatz der die Ordnung regelnden Staatsglieder.« Der vollständige Text des Gedichtes ist in Pan Nr. 6 (1911), S. 189 f., abgedruckt. Vgl. Kerr: Jagow, Flaubert, Pan, S. 218 f. Vgl. Kerr: Jagow, Flaubert, Pan, S. 222: »Wollust wird nicht erzeugt: Kenntnisse werden erweitert! Verbieten Sie pornographische Blätter: nicht geschichtliche! / Das deutsche Gesetz beruhigt sich: wenn der geschlechtliche Reiz nur als Mittel zu künstlerischen Zwecken dient.« Vgl. Robert Musil: Das Unanständige und Kranke in der Kunst, in: GW II, S. 977–983, hier S. 977. Vgl. Alfred Kerr: Ballade vom Alexanderplatz, in: Pan Nr. 8 (1911), S. 255 f.: »Tief im Sessel sass das Ober- / Haupt der Polizei – und stierte / Auf die Schrift von Gustav Flaubert, / Die er zweimal konfiszierte.« Berliner Tageblatt (Abend-Ausgabe) vom 01. 03. 1911, S. 3; das Berliner Tagblatt stützt sich auf Alfred Kerr: Vorletzter Brief an Jagow, in: Pan Nr. 9 (1911), S. 287–290, der am selben Tag erschienen war.

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spiele »die Bekanntschaft mit der Frau Tilla-Durieux«, der Gemahlin des Pan-Herausgebers Paul Cassirer, gemacht13 und lud sich »unter Berufung auf sein Zensoramt«14 bei dieser am nächsten Tag, »etwa Sonntag ½ 5?« zum Tee ein.15 Cassirer forderte von Jagow zum Duell auf, »zu dem es nie kam«. Kerr jedoch provozierte einen Skandal, indem er den Vorfall in der Nr. 9 des Pan in einem Vorletzte[n] Brief an Jagow publik machte.16 Aus der vermeintlichen »Affäre Jagow«17 wurde bekanntlich der wiederum öffentlich ausgetragene Streit zwischen Karl Kraus und Alfred Kerr.18 Nicht nur Musils »Offener Brief an den Gerichtsschreiber Schach« (Br I, S. 80–82),19 auch die »liebevolle[ ] Satyre auf den Pan« (Tb I, S. 234), dessen sterbendes Röcheln und Stinken Karl Kraus in der Fackel verkündet,20 erscheint wohl aus Rücksicht auf seinen (einstigen) Mentor Kerr nicht mehr wie geplant in Franz Bleis Losem Vogel.21 Diese versetzt den »Flötengott«22 Pan (alias Alfred Kerr) in die idyllische und zugleich strenge Landschaft des Matterhorns, wo er tagsüber – so die zivilisatorisch gebrochene arkadische Gebirgsvision – Mrs. X, die »einen kleinen Bulldog über den Ozean geschleppt [hat], um ihn vor Herren zärtlich zu mißhandeln«, abseits versprengt und mit seiner »zügellos phantastischen Bockserotik« erschreckt (GW II, S. 749): »Abends aber werden Sie Ihren Smoking anziehen und bei Seiler oder Gindraux dinieren.« (GW II, S. 748) Kerr hatte von Jagow gegen13 14 15 16

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Berliner Tageblatt (Abend-Ausgabe) vom 01. 03. 1911, S. 3. Kerr: Vorletzter Brief an Jagow, S. 288; vgl. auch S. 287: »Da ich die Theaterzensur auszuüben habe, hätte ich gern auch persönliche Fühlung mit Schauspielerkreisen.« Kerr: Vorletzter Brief an Jagow, S. 287. Germanese: Pan, S. 37; Vgl. Alfred Kerr: Nachlese, in: Pan Nr. 10, S. 321–326, hier S. 324 f.: »Ich bekenne, dass ich gehofft: einen, der die Besseren erbittert, zum Gehen zu bringen. Ich bekenne glatt, dass ich gehofft: den Mann von Moabit zu verjagen; den Triumphator über die ehedem freien Volksbühnen; den Überwinder Flauberts [. . .] – –; doch er bleibt.« Vossische Zeitung (Abend-Ausgabe) vom 02. 03. 1911, S. 3 f. Karl Kraus verkündet im März 1911 in der Fackel den Tod des Pan und bezeichnet Kerr als »Feuilletonschlampe«, »toten Reklamehelden« sowie »Kreuzigung von einem Schulbuben und einem Schadjournalisten«, Kerr wiederum diagnostiziert bei seinem Widersacher eine »doppelte[ ] Epigonorrhöe«. Die wortreich ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Kerr und Kraus gehört laut Lothar Schöne: Neuigkeiten vom Mittelpunkt der Welt. Der Kampf ums Theater in der Weimarer Republik. Darmstadt 1995, S. 70, »zu den unangenehmsten und sachlich belanglosesten in der deutschen Literaturgeschichte«. Vgl. auch Karl Corino: Robert Musil und Alfred Kerr. Der Dichter und sein Kritiker, in: Karl Dinklage, zusammen mit Elisabeth Albertsen und Karl Corino (Hg.): Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 251–284, bes. S. 253. Der Gerichtsschreiber hatte die Beschlagnahmung der Nr. 11 des Pan, in der Herbert Eulenbergs Brief eines Vaters unserer Zeit das »ABC der ars amandi« lehrt (Pan Nr. 11 [1911], S. 358–363, hier S. 362), namentlich gezeichnet; es handelt sich um den dritten Übergriff der Berliner Polizei und Justiz gegenüber dem Pan innerhalb eines Jahres (vgl. Br II, S. 42). Vgl. die folgenden Beiträge von Karl Kraus in Die Fackel: »Der kleine Pan ist tot« (31. 03. 1911), »Der kleine Pan röchelt noch« (29. 04. 1911), »Der kleine Pan stinkt schon« (02. 06. 1911), »Der kleine Pan stinkt noch« (08. 07. 1911). Vgl. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr, S. 253. Musil: Lieber Pan – ! [1911/12], in: GW II, S. 748-750, hier S. 750.

»ein dünner Dunst fremden Leibes«

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über die Flaubert’sche »Hochzeit der Unterleibswelt mit einer Wipfelwelt« verteidigt.23 Im Zentrum von Musils Pan-Fragment aber steht nicht die Kontrastierung von homerisch-›göttlicher‹ Natur und menschlicher Zivilisation bzw. ›wahrem Realismus‹ nach Art der Familienblätter (GW II, S. 749), sondern das Verhältnis zwischen der Arbeit »in wirklichem Menschenmaterial« (Journalismus) und der literarischen Fiktion (Kunst): »Pan, die wahrhaft großen Leidenschaften stehen auf dem Papier« (GW II, S. 749).24 Es sind nicht jene der Erotik, sondern der Erkenntnis. Musil bezieht sich in seinem Essay über Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) nicht allein auf die »Ausdehnung des § 184«,25 nach dem »der geschlechtliche Reiz einer Darstellung [. . .] erlaubt [ist], wenn ein künstlerischer Zweck damit verbunden« ist (GW II, S. 977).26 Neben dem Verbot Flauberts – genauer der Hefte Nr. 6 und 7 des Pan in Berlin – nimmt Musil in seiner Invektive gegen die Maßnahmen des preußischen Zensurapparates auch die Vorträge »der Karin Michaelis über das kritische Alter der Frau«, welche in Frankfurt verboten und in München »nur vor Zuhörern einerlei Geschlechts« gestattet wurden (GW II, S. 977), zum Ausgangspunkt seiner gleichermaßen zensur-, wie pornographie- und kunstkritischen Überlegungen. Der Roman der dänischen Autorin Karin Michaëlis (1872–1950), Das gefährliche Alter der Frau, erschien 1910, wurde 1911 ins Deutsche übersetzt, insgesamt über eine Million Mal verkauft und bis heute dreimal verfilmt, zum ersten Mal unter der Regie von Eugen Illés 1927 mit Asta Nielsen (1881–1972) als Elsie Lindtner. Diese kommt mit 40 Jahren in das »gefährliche Alter«: Sie verlässt ihren Mann und zieht sich auf eine einsame Insel zurück. »Als sie endlich begreift, daß sie in Wahrheit vor der Leidenschaft für einen jüngeren Mann flüchtete, ist es zu spät. Er liebt sie nicht mehr. Und ihr Mann hat sich längst mit einer Jungen getröstet.« – Soweit der Klappentext der aktuellen Auflage des Suhrkamp-Verlags von 2005 zum »Vademekum für Frauen in jedem Alter«.27 Der Roman über die »zügellosen Gelüste einer Vierzigjährigen«,28 welcher das weibliche Klimakterium literaturfähig 23 24

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Kerr: Jagow, Flaubert, Pan, S. 220. Vgl. auch: »Vor die Wahl gestellt, Gott in dieser Welt zu sein oder die Theodizee einer neuen bloß zu schreiben, werden Sie sich letzterem zuneigen. Nicht aus eitlem Stubenrationalismus, sondern als Lebensrettung.« (GW II, S. 750) Vgl. auch Musil: Profil eines Programms [1912], wo das »Theodicee schreiben« gegenüber dem Welten Schaffendem (»Gott sein«) ironisch der Vorzug gegeben wird (GW II, S. 1317). Vgl. Musil: Offener Brief an Gerichtsschreiber Schach: »Von dieser Ausdehnung des § 184 verspreche auch ich mir das meiste.« (Br I, S. 81) Vgl. Kerr: Jagow, Flaubert, Pan, S. 222. Karin Michaëlis: Das gefährliche Alter. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe einer vierzigjährigen Frau. Aus dem Dänischen v. Mathilde Mann. Mit einem Nachwort v. Manuela Reichart. Frankfurt a. M. 2005. BZ am Mittag, 1910; zit. nach: http://www.suhrkamp.de/buecher/das_gefaehrliche_alterkarin_michaelis_45710.html (Zugriff am 22. 02. 2010).

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machte,29 wurde ein Weltbestseller und entfesselte in der zeitgenössischen Öffentlichkeit einen »Sturm der Entrüstung«.30 Im Vorspann des Essays Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) wird »[d]er Verfasser« desselben als »Dichter jenes psychologisch so fesselnden [. . .] Erstlingswerk[s] [. . .] ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹« ausgewiesen, das »bis heute die Auflage des ›gefährlichen Alters‹ noch nicht erreicht« habe (GW II, S. 977). Die Differenz der Auflagenzahl ist allerdings weniger Effekt des Dargestellten, der »Seltsamkeit der Themenwahl« (GW II, S. 923), als der Darstellung – immerhin geht es in Musils »Bildungsroman einer Idee« (GW II, S. 831) um Prostitution, Voyeurismus, Masturbation, Homosexualität und Sadismus.

2. »Jede Perversität läßt sich darstellen«31 – Pornographie als Akt kultureller Selbsterkenntnis Die Allgewalt der Liebe zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in diesen ihren Verirrungen. Das Höchste und das Niedrigste hängen in der Sexualität überall am innigsten aneinander [. . .].32 (Sigmund Freud)

Musils Essay über Kunst/Literatur und Pornographie ist zugleich auch ein »poetologischer Essay«33 und »a general theory of art«.34 Am Beispiel des 29

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. Wiesbaden 1912, S. 75, bezieht sich im Kontext seiner Ausführungen zum »Klimakterium des Mannes« auf Karin Michaëlis, die sich »mit Recht« für »die wunderlichen Erscheinungen des Johannistriebs« bei Frauen im »Gefährlichen Alter« eingesetzt habe. Vgl. Artikel aus dem Dresdner Anzeiger vom 26. 02. 1911, der vom Börsenblatt für den deutschen Buchhandel am 10. 04. 1911 abgedruckt wird, zit. nach: Karl Corino: Robert Musil: Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1573 f.: »Als vor kurzem die Dänin Karin Michaelis der Welt das unliebsame Schauspiel bot, in ihrem Buch: Das gefährliche Alter und in öffentlichen Vorträgen hierüber ihr eigenes Geschlecht zu entwürdigen, indem sie ihr beklagenswertes Seelenleben und etwa das einzelner anderer kranker Individuen zu verallgemeinern und das ganze weibliche Geschlecht unserer Tage auf das gemeinste zu beschimpfen suchte, brach ein gerechter Sturm der Entrüstung wohl unter den meisten anständig fühlenden Männern und Frauen Deutschlands aus; denn noch lebt im allgemeinen gottlob ein schöner Familiensinn, der nicht duldet, dass man ehrenwerte Frauen und Mütter verunglimpft.« Vgl. auch [Anonymus:] Die Paschahose, in: Pan Nr. 8 (1911), S. 286: »Unermüdlich sinnt der Schneider. / Und der Gatte darf nicht mucksen; / Vormals trug die Dame Kleider, Künftig trägt sie weite Buxen. // [. . .] // Hosenschluss bringt Ehefrieden / Und das Ende des Krakehles. / Eine sträubt sich noch entschieden, / Das ist Karin Michaelis.« Das Ehepaar Michaëlis ließ sich 1911 scheiden. Musil: Das Unanständige und Kranke in der Kunst [1911], in: GW II, S. 982. Freud: Die sexuellen Abirrungen, S. 71. Germanese: Pan, S. 148. Susan Erickson: Essay/Body/Fiction: The Repressive of an Interpretative Context in an Essay of Robert Musil, in: German Quarterly 56/4 (1984), S. 580–593, hier S. 581.

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»Unanständigen und Kranken« (Perversion) »in der Kunst« (Pornographie) wird die spezifische Funktion der Kunst gegenüber Lebenswelt und Wissenschaft neu bestimmt. Um die »Eintracht von Behörde und deutscher Meinung« (GW II, S. 977) im Hinblick auf die ›unzulässige‹ Darstellung des »Unanständigen und Kranken« in der Kunst zu illustrieren, werden zunächst vier Beispiele angeführt: 1.) Eine eindeutig pornographische Darstellung japanischer Holzschnitte (Shungas), in denen in ungeheuerlichen Durchschlingungen mehrere Paarungen traubig sich knäueln, Körperteile wie Fühlfäden über dem Boden tasten oder wie Korkzieher in der unsagbaren Leere der nachträglichen Enttäuschung sich wieder in sich zurückwinden, Augen wie zitternd quirlende Blasen über stieren Brüsten hängen. (GW II, S. 977)

2.) Die künstlerische Darstellung des Cunnilingus, jenes ›bürgerlichen Vorgangs‹, den »Franzosen, Félicien Rops etwa in seinen Briefen, schwärmend den Kuß des heiligen Hügels nennen«, »– wegen des hundegieprig gekrümmten Rückens des Mannes und der weit, unbestimmt suchenden Gleichgültigkeit der Frau.« (GW II, S. 977) Geht es bei diesen ersten beiden Beispielen um bildliche Darstellungen des menschlichen Sexualaktes in unterschiedlichen Variationen, deren (möglicherweise) erregende Funktion und somit (vermeintliche) pornographische Absicht in Musils Essay zugleich mit Mitteln der literarischen Darstellung demontiert werden,35 so handelt es sich beim dritten Beispiel wohl eher um einen Fall moralischer ›Unanständigkeit‹: 3.) »ein Schriftsteller würde schildern, wie einer auf die zitternden Hände seiner Mutter sieht und lügt« (GW II, S. 977).36 Am interessantesten ist allerdings das vierte der hypothetischen Fallbeispiele einer narrativ inszenierten Perversion, nicht allein aufgrund dessen expliziter medialer Vermitteltheit, sondern auch und vor allem durch das Changieren von Beobachter- und Erzählperspektive wie durch die Verbindung der Vorgänge von medizinischer Operation, Sexualakt und (Selbst-)Dissoziation: Oder schildern: eine nah Verwandte nackt am Operationstisch, vom Messer schon angefressen; empfunden, wie man bei einem Unglück eine Frau faßt, gleich einem 35

36

Vgl. Erickson: Essay/Body/Fiction, S. 590: »And, indeed, the eroticism of Musil’s hypothetical examples of perversion could scarcely be called pornographic: it is too hermetic, selfinvolved – too repressed.« Auffallend ist die enge Verbindung zwischen dem ›Mutter-Komplex‹ und dem PerversionsThema, die in Musils Essay hergestellt wird. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 170–212, hier S. 189 f., stellt einen psychoanalytisch-biographischen Zusammenhang zwischen den aggressiv-sadistischen Perversionen der Apokryphen von Der Mann ohne Eigenschaften zur »Rache an der Mutter« bzw. »Abwehr des Mütterlichen« her.

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Gegenstand, und sie so entkleidet; mit dem eingeengten Bewußtseinshorizont rascher Entschlüsse. (GW II, S. 977 f.)

Es bleibt unbestimmt, ob es sich bei dem nahen Verwandten um jemanden (»ein Dirigierender, ein Herr«) handelt, der »irgendeine[n]« sprechen hört (»sachlich, wenig, medizinisch«), oder ob sich der mit dem (Unfall-)Opfer verwandte Operateur im einem Zustand der bewusstseinsmäßigen Abspaltung selbst sprechen hört.37 Möglichweise aber stehen auch Operateur und Beobachter/Schriftsteller in einem Verwandtschaftsverhältnis: dem von Vater und Sohn. In der Fluktuation der Perspektiven von (männlichem) Erzähler, Beobachter und Operateur erfolgt eine (textimmanent imaginäre) inzestuöse ›Überschreitung‹38 im Hinblick auf den Operationsgegenstand: [E]twas liegt reglos dargeboten, eine Wunde, halb fremd hier, blumenhaft, halb blutig Schleimendes, geöffnet, mitten in der weißgespannten Haut der Seite, wie ein Mund . . . Eine automatische Assoziation . . . küssen, die wehrlose Haut der Lippen daraufpressen. (GW II, S. 978)39

Der Moment des – in Bezug auf das nahe Verwandtschaftsverhältnis wie auf die imaginierte Sexualhandlung – ›perversen‹ Begehrens40 wird zunächst 37

38 39

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Vgl. dagegen Erickson: Essay/Body/Fiction, S. 589: »Whereas the phantasized female phallus was associated with a scopophilic (voyeuristic) aggressivity in the early examples, the final aggression against the female phallus – its castration by the knife – is carried out not by the subject but by a third person, the presiding doctor.« Vgl. Freud: Die sexuellen Abirrungen, S. 60, 70. Hervorhebungen von B. N.; vgl. Franz Kafka: Ein Landarzt [1918], in: ders.: Schriften – Tagebücher. Kritische Ausgabe (KKA). 15 Bde. Hg. v. Jürgen Born u. a. Bd. 7: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Neumann. Frankfurt a. M. 2002, S. 252–261, hier S. 258 (Hervorhebungen von B. N.): »Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde.« Detlef Kremer: Ein Landarzt, in: Michael Müller (Hg.): Interpretationen. Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1994, S. 197–215, hat die semiotische Verschiebung zwischen der »rosa Wunde« und der »Wunde Rosa« (S. 206) sowie die figurative Aufspaltung von Landarzt, Landknecht und Patienten (S. 211) in Kafkas Erzählung Ein Landarzt herausgearbeitet: »In der rosa Wunde kreuzen sich in einer paradoxen Bildführung zwei Akzente einer schwelenden Wunde des sexuellen Begehrens: das offene weibliche Genital und das kastrierte männliche Geschlechtsteil.« (S. 207 f.) Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der Conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie. 9., verb. u. teilw. verm. Aufl. Stuttgart 1894, S. 56: »Als pervers muss – bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung – jede Äusserung des Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zecken der Natur, i. e. der Fortpflanzung entspricht.« Vgl. hierzu auch Freud: Die sexuellen Abirrungen, S. 62: »Die Verwendung des Mundes als Sexualorgan gilt als Perversion, wenn die Lippen (Zunge) der einen Person mit den Genitalien der anderen in Berührung gebracht werden, nicht aber, wenn beider Teile Lippenschleimhäute einander berühren. In letzterer Ausnahme liegt die Anknüpfung ans Normale.« Vgl. ebenda, S. 60: »Eine bestimmte dieser Berührungen, die der beiderseitigen Lippenschleimhaut, hat ferner als Kuß bei vielen Völkern (die höchstzivilisierten darunter) einen hohen sexuellen Wert erhalten, obwohl die in Betracht kommenden Körperteile nicht dem Geschlechtsapparat angehören, sondern den Eingang zum Verdauungskanal bilden. Hiemit [sic!] sind also Momente gegeben, welche die Perversionen an das normale Sexualleben anknüpfen lassen [. . .].«

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abgelöst von einer schockhaften (»Ein Sekundenteil Grauen darüber«) Rückkehr in den Operationsmodus (»und dann wieder Kommandoworte und schnelle Handgriffe«), um schließlich in einem kathartischen Zustand der Anagnorisis zu kulminieren: »Und plötzlich eine unvorhergesehene Abrechnung, blitzschnell mit dem eigenen Leben« (GW II, S. 978). Es fügen sich psychologisierende Erklärungen des essayistischen Ich an,41 die wiederum in eine seelische ›Motivierung‹ überführt werden: [. . .] vielleicht erschrocken als weiches, tief innen im Dunkel gegen sich selbst Stoßen[ ], ein Zerflattern; Blätter eines aufgegangenen Knäuels: Ich flattern langsam, schwankend; fernes, blasses Nebenher, unterdrückte sonst und zeitlich gehetzte Halbvorgänge, Teile von Erregungen, nie vollendet, dennoch geschlechtlich, dennoch unerlaubt hier, dennoch prometheisch, werden zum ersten Male fühlbar. (GW II, S. 978)

Dieser Operationsbericht liest sich wie eine Novelle Kleists, Die Marquise von O. . . aus der Perspektive des Grafen F. . ., oszillierend mit jener des inzestuösen Herrn von G. . ., dem Vater der Marquise, wobei der ›gewaltigste Gedankenstrich‹ der deutschen Literaturgeschichte42 bei Musil durch eine hochfrequente Setzung von Auslassungspunkten ersetzt wird. Es handelt sich bei dieser ebenso akribischen wie tentativen Expedition in den ›dunklen Kontinent‹43 männlichen Begehrens zur Zeit der Jahrhundertwende um eine literarische Inszenierung eines ›perversen‹ Aktes, der nicht im Vollzug desselben, sondern in seiner imaginativen ›Wiederholung‹, in der Überkreuzung und Verkehrung der Perspektiven (Verwandter, Operateur, Beobachter, Schriftsteller einerseits, Vater und Sohn andererseits) liegt. Die Inszenierung des Perversen wird in der essayistischen Perversion der Perspektiven zugleich zu einer literarischen Umschreibung der psychoanalytischen Erkenntnismethode. Die fremde ›Wunde‹, die hier Objekt, Ziel und traumatische (Selbst-)Erkenntnis zugleich bedeutet,44 verweist auf Sigmund 41 42

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»Eine Hemmung ist das (empfunden vielleicht als Auflehnung gegen den Professor und die gespannte Sachlichkeit von Kollegen [. . .])« (GW II, S. 978). Bei dem berühmt-berüchtigten, Gottfried Benn zugeschriebenen Zitat (»Dieser Gedankenstrich des preußischen de Sade dürfte der gewaltigste der deutschen Literaturgeschichte sein.« Zit. nach: Hermann Kinder (Hg): Die klassische Sau. Handbuch der literarischen Hocherotik. Zürich 1986, S. 262) handelt es sich um eine »witzige Mystifikation« (Hektor Haarkötter: Nicht-endende Enden. Dimensionen eines literarischen Phänomens. Würzburg 2007, S. 137, Anm. 149), wie Hermann Kinder der Verfasserin freundlicherweise bestätigt hat. Vgl. Sigmund Freud: Die Frage der Laienanalyse [1926], in: ders.: Studienausgabe. Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik. Frankfurt a. M. 2000, S. 303. Die Beobachtung Freuds in Bezug auf die mangelnde Beachtung des »weiblichen Geschlechtsglied[es]« in der frühkindlichen Sexualität lässt sich auf die Psychoanalyse selbst übertragen: »Aller Akzent fällt auf das männliche Glied, alles Interesse richtet sich darauf, ob dies vorhanden ist oder nicht. Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie.« ›Trauma‹ kommt etymologisch aus dem Griechischen und bedeutet ›Wunde‹.

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Freuds 1905 erschienene Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ebenso wie auf die 1911 veröffentlichten Vereinigungen. Diese können als literarische Studien zum Zusammenhang von Perversion und Hysterie bzw. literarische ›Negationen der Neurose‹45 gelesen werden. Das vermeintlich »Unanständige und Kranke«46 – eheliche Untreue und Sodomie – wird im Novellenband »jenseits alles Krankhaften« dargestellt.47 Das heißt, das Unanständige und Kranke unterliegt in den Vereinigungen weder einer perversen Strategie noch einer pornographischen Funktion: Das Perverse ist nicht nur Gegenstand, sondern vor allem Mittel literarischer Darstellung. Ziel ist die Erweiterung der Erkenntnis in einem Bereich des Nicht- bzw. Unsagbaren, das bei der literarischen Darstellung von Halbvorgänge[n], Teile[n] von Erregungen [. . .] manchmal, für eine Weile gerade durch den scharfen, ruhigen Gleichschritt wissenschaftlicher Worte emporgehoben [wird] – taghell, grausam, zum Kampf um ihre Existenz gerufen, feindselig und voll schon von den Qualen, die im harmlos engen Nebeneinanderleben sie sanft ersticken werden. (GW II, S. 978)

Treffender kann das produktive Nebeneinander48 von psychoanalytischem Diskurs und literarischer Darstellung des Sexuellen nicht in Worte gefasst werden. Und wenn der Essayist Musil auch das Wort für den Schriftsteller führt, so bezieht sich die Feststellung, dass »auch eine Mutter, eine Schwester, [. . .] nackt eine nackte Frau« bleibt (GW II, S. 978), weniger auf das Programm der Neuen Sachlichkeit im Sinne der »Gehilfin in einem Krankenhaus, die, blütenweiß gekleidet, den Kot eines Patienten in einem weißen Porzellanschüsselchen mit helfenden Säuren zu einem purpurfarbenen Aufstrich verreibt« (MoE, S. 251). Umgedreht, ins Literarische verkehrt worden, ist hier vielmehr eine psychoanalytische Einsicht: Jede Frau ist zugleich immer 45

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47 48

Vgl. Freud: Die sexuellen Abirrungen, S. 74: »Sie [die Psychoanalyse] zeigt, dass die Symptome [der Neurose] keineswegs allein auf Kosten des sogenannten normalen Sexualtriebs entstehen [. . .], sondern den konvertierten Ausdruck von Trieben darstellen, welche man als perverse (im weitesten Sinne) bezeichnen würde, wenn sie sich ohne Ablenkung vom Bewusstsein direkt in Phantasievorsätzen und Taten äußern könnten. Die Symptome bilden sich also zum Teil auf Kosten abnormer Sexualität; die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion.« Zum Verhältnis von Hysterie, Neurose und Perversion vgl. auch Sigmund Freud: Zur Psychotheraphie der Hysterie, in: Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Mit einer Einleitung v. Stavros Mentzos. Frankfurt a. M. 1991, S. 274 f. Vgl. die bei Corino: Robert Musil [2003], S. 397, abgedruckte Rezension zum »Kranke[n] und Perverse[n]« der Vereinigungen: »In der ersten Novelle ›Die Vollendung der Liebe‹ wird geschildert, wie ein charakterschwaches und hysterisches Weib [. . .] ihrem Manne untreu wird. [. . .] – Und gar in der zweiten Novelle: ›Die Versuchung der heiligen Veronika‹ erscheint der Verfasser ausprobieren zu wollen, wie viel Blödsinn man dem verdrehten Lesepublikum von heute vorsetzen darf. Wieder an 60 Seiten langweilige Reflexionen eines kranken Mädchenhirns, das bei seinen hysterischen Phantasien immer an – Tiere denken muß.« So die Ankündigung des Georg Müller Verlages in: Börsenblatt des deutschen Buchhandels Nr. 61 vom 14. 03. 1911, S. 3248; abgedruckt in: Corino: Robert Musil [2003], S. 394. Corino: Robert Musil [2003], S. 378, spricht in Bezug auf die Vereinigungen von »Musils Parallelaktion zur frühen Psychoanalyse«.

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auch die Mutter bzw. Schwester »und wird es für das Bewußtsein vielleicht gerade erst unter Umständen, die dies am verwerflichsten erscheinen lassen« (GW II, S. 978). Die ›fremde‹ Wunde der Frau verweist auf das ›Eigene‹ (die eigene Mutter49 bzw. Schwester), das inzestuöse Begehren selbst wie auf den (kastrierten) männlichen Körper. Können Perversionen als »Inszenierungen eines phantasmatischen Szenarios«, »als Symptom der männlichen Abwehr der Kastrationsangst gelesen werden«,50 so lässt die Literarisierung des Perversen die phantastische Inszenierung darstellbar und somit auch »fühlbar« und »begreifbar« (GW II, S. 979) werden. Bereits Karl Corino51 und Susan Erickson52 haben den Essay über Das Unanständige und Kranke in der Kunst weniger auf die Vorfälle um den Pan als auf die Rechtfertigung des Musil’schen Novellenbandes Vereinigungen bezogen. So gibt in Die Vollendung der Liebe der ›kranke‹ G.,53 der Kinder verführt und junge Frauen dazu verleitet, »sich selbst zu schänden« (GW II, S. 157), den Anstoß zu Claudines erotischer Exkursion in ihre Vergangenheit. Eingeführt wird dieser zunächst als Gegenstand des ehelichen Gesprächs über das Verhältnis von Perversion, Moralität und Perspektivität: »›Wie mag ein solcher Mensch wie dieser G. sich wohl selbst sehen?‹ fragte die Frau« (GW II, S. 157). G. wird zur Figur des »Dritten, Unbekannten« (GW II, S. 158), der sich in der Imagination Claudines zwischen das kopulierende Ehepaar legt (GW II, S. 159), bis er schließlich in der Realität der Fiktion durch einen »Fremden« (GW II, S. 181), den Ministerialrat, ersetzt wird. Der ›perverse‹ G. stellt zugleich eine Präfiguration der MoosbruggerFigur aus Der Mann ohne Eigenschaften dar. Im Essay von 1911 verweist das Changieren des Begehrens – zwischen den Perspektiven des nahen Verwandten, operierenden Arztes, Beobachters und Schriftstellers – zugleich auf jene Überlagerung der Figurenanteile der Achilles/Anders-Figur mit denen Moosbruggers aus den frühen Entwürfen zum Roman, die sich erst mit der Erzählung Der Vorstadtgasthof (1924)54 in zwei getrennte Figuren (Ulrich und Moosbrugger) aufspaltet.55 49 50

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Vgl. Erickson: Essay/Body/Fiction, S. 590, welche die Textpassage als »narration of the mother’s castration« liest. Dornhof: Inszenierte Perversionen, S. 255. Vgl. zum psychoanalytischen ›Kernkomplex‹ auch Musils Essay Der bedrohte Ödipus (1931) (GW II, S. 528–530), der ironisierend auf die historische Relativität der Psychoanalyse hinweist. Vgl. Corino: Robert Musil [2003], S. 415. Vgl. Erickson: Essay/Body/Fiction, S. 583. Vgl. »[. . .] sie sprachen wieder von dem Kranken, von einem Kranken eines Buches, das sie gelesen hatten [. . .].« (GW II, S. 157) Vgl. Erickson: Musil’s »Der Vorstadtgasthof«. A Narrative Analysis, in: Neophilologus 69 (1985), S. 101–114, sowie Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften«, S. 172–180. Vgl. den Beginn des Prätextes von Der Mann ohne Eigenschaften, Der Erlöser, von Adolf Frisé auf 1924/25 datiert: »I. Ein grauenhaftes Kapitel. Der Traum.« (MoE, S. 1981–1984, hier S. 1984; Hervorhebungen von B. N.) Auch hier wird der Konnex zwischen (›männlichem‹)

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Im Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911), der als poetologischer und pornographischer Metatext zu den Vereinigungen (1911) gelesen werden kann, werden die vier eingangs angeführten Beispiele zum Verhältnis von Kunst und öffentlicher Meinung in eine Unterscheidung zwischen 1.) dem Dargestellten, 2.) der Kunst der Darstellung und 3.) der Funktion der Kunst überführt. Kritisiert wird nicht allein das polizeilich-juristische Verbot, sondern zugleich auch die publizistische Selbstzensur in allen Fällen, in denen weder der »menschliche[ ] Wert des Dargestellten« noch die »Kunst der Darstellung« bestritten werde, sondern allein der »künstlerische Zweck« zur Disposition stehe (GW II, S. 978). Dem gesellschaftlichen Sprechverbot über Sexuelles (»Es gibt Dinge, über die man in der Kulturgemeinschaft Deutschlands nicht spricht«; GW II, S. 979) entspreche die Selbstzensur der Kunstschaffenden. Das Darstellungsverbot des Sexuellen in der Kunst korreliere somit mit einem gesellschaftlichen Denk- bzw. Erkenntnisverbot. Die Kunst aber – so die Kernthese des Essays – darf »das Unmoralische und Verwerflichste nicht nur darstellen, sondern auch lieben« (GW II, S. 979). Diese Liebe zum Perversen, diese ästhetische Pornosophie,56 in der sich das Kranke und das Unmoralische verbinden, beinhaltet jedoch keine Apologie des Pornographischen. Vielmehr wird jene Unterscheidung zwischen der Kunst, dem »künstlerischen Zweck« (GW II, S. 978) auf der einen und der Pornographie auf der anderen Seite gerade in Frage: Andere Begierden als künstlerische befriedigt man nämlich nicht durch sie [die Kunstwerke; B. N.]; man kann solche viel einfacher und ohne ablenkende Anstrengungen in der Wirklichkeit befriedigen und man befriedigt sie mit hinreichender Genugtuung überhaupt nur in der Wirklichkeit. Das Bedürfnis nach (künstlerischer) Darstellung empfinden, heißt [. . .] kein dringendes Bedürfnis nach ihrer direkten Befriedigung haben. (GW II, S. 979)

Grundlage dieser Unterscheidung sind das ›gesunde‹ Sexualempfinden des Nicht-Perversen, die Freud’sche Sublimationstheorie sowie die autonomieästhetische Dichotomisierung von Leben und Kunst bzw. »Wirklichkeiternst« und »Kunsternst« (GW II, S. 979). Denn in der künstlerischen Darstellung –

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Messer, (›weiblicher‹) Wunde und ›perversem‹ Interesse der öffentlichen Meinung herausgestellt: »Er [Moosbrugger] hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregendster Weise mit dem Messer zerschnitten und die Zeitungen verzeichneten voll eines uns allerdings unverständlichen Genusses erbarmungslos eine vom hintern Teil des Halses bis zur Mitte des Vorderhalses reichende Wunde, weiters zwei Stichwunden in die Brust, welche das Herz durchbohrten, weiters zwei in die linke Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste; ihre Berichterstatter u[nd] Redakteure konnten auch trotz (des lebhaftesten Würgens) ihres Abscheus nicht wegsehn, bevor sie nicht 35 Stichwunden im Bauch gezählt hatten, der von einer bis zum Kreuzbein laufenden Wunde überdies aufgeschlitzt war, die sich in einer Unzahl von Wunden den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuren trug.« Vgl. Michael Pfister, Stefan Zweifel: Pornosophie & Imachination: Sade, La Mettrie, Hegel. München 2002.

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so die erste von drei in der Schwebe belassenen Argumentationssträngen – sei »das Unanständige und Kranke [. . .] gar nicht mehr es selbst.« (GW II, S. 979) Das Unanständige und Kranke in der Kunst bekommt so mittelbar die Dignität des Pathetischen und Erhabenen zugesprochen: Frei nach Schiller ist das Pornographische durchaus »ästhetisch, in so fern es erhaben ist.«57 Während es im Sexual-Leben – wie auch beim pornographischen Kitsch58 – um die Erregung wie Befriedigung sexueller Bedürfnisse gehe, ziele dessen ›intellektualisiertes Abbild‹ (GW II, S. 982), also die künstlerischliterarische Darstellung – wie auch die Wissenschaft –, auf Wissenserweiterung und Erkenntnisgewinn: Ein Gegenstand werde »durch Vergleichen und Verknüpfen« in »seine[n] Beziehungen zu hundert andern Dingen« dargestellt und somit »begreifbar und fühlbar« (GW II, S. 979) und damit überhaupt erst verständlich gemacht: »Und wenn auch diese hundert anderen Dinge wieder unanständig oder krank wären: die Beziehungen sind es nicht, das Auffinden von Beziehungen ist es niemals.« (GW II, S. 979 f.)59 Innerhalb der Kunst geht es nicht um die sexuelle Erregung als Selbstzweck; die Darstellung des Sexuellen wird vielmehr als Mittel der sinnlichen, gefühlsmäßigen wie gedanklichen Erschütterung verstanden.60 Während die (Sexual-)Wissenschaft versuche, Allgemeines (Sexualität) »begrifflich« darzustellen, stelle die Kunst Einzelfälle (Perversionen) »sinnfällig« dar (GW II, S. 980).61 Die Kunst unterscheide sich dadurch von der Wissenschaft, dass es ihr um »einen individuellen Gefühlszusammenhang« gehe (GW II, S. 981), um »ein dunkles Klingen seelischer Verwandtschaften, ein langsames Bewegen weiter Gefühls-, Willens- und Gedankenzusammenhänge« (GW II, S. 980), um »die Erweiterung des Registers von innerlich noch Möglichem« (GW II, S. 981).62 Im Unterschied zur Wissenschaft sei die Funktion der Kunst somit eine kathartische im Sinne einer plötzlichen Erschütterung: »Etwas als Künstler lieben, heißt somit, erschüttert sein, nicht von seinem Wert oder Unwert im letzten, sondern von einer Seite, die sich plötzlich daran öffnet.« (GW II, S. 981)63 Die kleine appetitanregende »Nebenwirkung« bei der Darstellung 57

58 59 60 61 62

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Friedrich Schiller: Über das Pathetische, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. v. Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit v. Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner, Fabian Störmer. Frankfurt a. M. 1992, S. 423–451, hier S. 428: »Das Pathetische ist nur ästhetisch, in so fern es erhaben ist.« Vgl. Franz Blei: Die pornographische Idealistik, in: ders.: Formen der Liebe. Berlin 1930, S. 205–211. Das Buch ist »Robert Musil in Freundschaft und Verehrung« gewidmet. Hervorhebungen von B. N. Vgl. Musil: Über Robert Musil’s Bücher [1913], in: GW II, S. 995–1001, hier S. 997: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Hervorhebungen von B. N. Vgl. im 62. Kapitel »Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus« von Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930): »der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch« (MoE, S. 251). Vgl. Musil: Über Robert Musil’s Bücher: »Wo uns ein Mensch erschüttert und beeinflußt, geschieht es dadurch, daß sich uns die Gedankengruppen eröffnen, unter denen er seine Er-

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perverser bzw. ›kranker‹ und ›unanständiger‹ »Rohstoff[e]« (GW II, S. 982) ist dementsprechend gegenüber dem »Hauptziel[ ]« (GW II, S. 983) – der Erkenntnis – zu vernachlässigen. ›Gefährlich‹ ist die Kunst nicht durch die dargestellten sexuellen Perversionen, sondern weil sie »auf beweglichere, undiszipliniertere Innerlichkeiten wirkt als Wissenschaft« (GW II, S. 982). Die Narration von Perversionen – verstanden als Darstellung des Perversen im Bereich der Kunst – stellt zugleich die Grenzziehung zwischen Gesundem und Krankem, Moralischem und Unanständigem in Frage. Diese werde von der öffentlichen Meinung wie von der Wissenschaft, so Musil, »viel zu grob geometrisch« (GW II, S. 981) vorgenommen. Sigmund Freud hat bereits in Die sexuellen Abirrungen, der ersten seiner Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), auf die »derzeit unlösbaren Schwierigkeiten« hingewiesen, »wenn man eine scharfe Grenze zwischen bloßer Variation innerhalb der psychologischen Breite [›Normalität‹] und krankhaften Symptomen [›Perversion‹] ziehen will.«64 Auch Robert Musil kritisiert in seinem Essay über Das Unanständige und Kranke in der Kunst die »Grenze zwischen seelischer Gesundheit und Krankheit, Moral und Unmoral« (GW II, S. 981). Er plädiert für das Erkenntnismodell eines je individuell und historisch zu bestimmenden »funktionellen Überwiegens des einen oder andern der seelischen Mischungsbestandteile« (GW II, S. 981), für ein Sowohl-als-auch des Kranken und Gesunden, für eine Neubestimmung der Grenzen: »[M]an wird anerkennen müssen, daß ein Lustmörder krank sein kann, daß er gesund und unmoralisch sein kann und daß er gesund und moralisch sein kann« (GW II, S. 982).65 Die herkömmliche Unterscheidung von ›krank‹ und ›gesund‹, ›unanständig‹ und ›moralisch‹, ›normal‹ und ›pervers‹ sei in ein individuell, situativ, zeitlich, örtlich und gesellschaftlich variables »Zahl-, Flächen-, Gewichts-, Spannungs-, Wert- oder noch so kompliziertes Verhältnis« (GW II, S. 981) zu überführen. In dieser »Kombinatorik« (GW II, S. 982), in dieser Korrelation des »Kranke[n] und Unanständige[n]« mit dem Gesunden und Moralischen, welche das ›Normale‹ aus dem ›Perversen‹ herleitet und Letzteres eben nicht aus dem Bereich des ›Normalen‹ heraus- und diesem entgegensetzt, in der ästhetischen Darstellung des gemeinhin als ›unanständig‹ und ›krank‹ Geltenden, wird das gesellschaftlich Ausgeschlossene, ›Fremde‹ (Tabuisierte), in seiner konstitutiven Form für das je ›Eigene‹ (als ›gesund‹ und ›anständig‹ Konzipierte) erfahrbar. So wird mit dem Postulat der ästhetischen Darstell-

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lebnisse zusammenfaßt, und die Gefühle, wie sie in dieser komplizierten wechselwirkenden Synthese eine überraschende Bedeutung gewinnen.« (GW II, S. 1000 f.) Vgl. Freud: Die sexuellen Abirrungen, S. 70; vgl. ebenda: »Bei keinem Gesunden dürfte irgendein pervers zu nennender Zusatz zum normalen Sexualleben fehlen, und diese Allgemeinheit genügt für sich allein, um die Unzweckmäßigkeit einer vorwurfsvollen Verwendung des Namens Perversion darzutun.« Vgl. das 111. Kapitel »Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen« in Musils Der Mann ohne Eigenschaften (MoE, S. 534–539).

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barkeit jeder Perversität zugleich auch »das Verständnis und die künstlerische Liebe auch des Unmoralischen und Perversen möglich [ge]macht.« (GW II, S. 982) Denn dieses neue Verständnis des »Unanständigen und Kranken in der Kunst« bleibt – so das hoffnungsvolle Fazit des Essays – nicht ohne Rückwirkung auf das Leben: »Man wird auch im wirklichen Leben anders denken lernen müssen, um Kunst zu verstehen.« (GW II, S. 983) Die Darstellung des Perversen in der Kunst wird somit zum utopischen Entwurf eines anderen Wahrnehmungspotenzials der Wirklichkeit, zur Begründung der Dimension des Möglichkeitssinns.66

3. Essayismus als intellektuelle Perversion Es ist eine krankhafte, unreine, nebelschwangere Atmosphäre, in die ich hineingezogen bin [. . .]. Aber ich habe die Pflicht, Leser, die nicht das äußerst Absonderliche, das höchst Anormale, das wild Chaotische, intellektuell Perverse, das absolut Krankhafte und Hysterische in der Literatur lieben, vor Robert Musil zu warnen [. . .].67

In den Texten Robert Musils scheint die Breite erotisch-sexueller Variationen, der »vibrierende[ ] Dunst fremder Leiber« (GW II, S. 998)68 auf der Ebene des Dargestellten (vom Motiv des Ehebruchs bis zum Lustmord, über Formen von Fetischismus, Voyeurismus, Autoerotismus, Homosexualität, Sadomasochismus bis hin zu Sodomie und Inzest) der ›rote‹ Faden – oder, um im Bild zu bleiben, das »Gewebe«69 von Fäden – zu sein, dem der ›narrative‹ unwiderruflich verloren gegangen ist. Auf der Ebene der Darstellung wird die Inszenierung pervers-»phantastischer Leidenschaftlichkeit« (neben der Ironie) als »Gegengewicht« zum reflexiv-essayistischen Diskurs eingesetzt.70 Dabei geht es jedoch weniger um die dargestellten sexuellen Varianten selbst als vielmehr um die Möglichkeit und Funktion ihrer Darstellbarkeit im erkenntnistheoretischen Spannungsfeld von Handlung und Bedeutung, Körper (Narration) und Geist (Reflexion). Der Dichter-Ingenieur Musil verkehrt »das Verhältnis einer tech66 67 68 69

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Vgl. das 4. Kapitel »Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben« in Musils Der Mann ohne Eigenschaften (MoE, S. 16–18). Rezension der Vereinigungen von J.[akob] E.[lias] P.[oritzky] im Berliner Börsen-Courier vom 11. 04. 1912, S. 3; zit. nach: Corino: Robert Musil [2003], S. 398; Hervorhebung von B. N. Hervorhebung von B. N. Musil: Briefentwurf an Franz Blei [Anfang Juli 1911]: »Sonst: eine ungefähre Nahebringung der Bedeutungen, hier ein Gewebe der Bedeutungen/Sonst wandert man in der Ebene des Fleisches u[nd] die Bedeutungen liegen unklar am Horizont, hier in der Ebene der Bedeutungen über der ein dünner Dunst fremden Leibes liegen soll.« (Br I, S. 84; Hervorhebung von B. N.) Oskar Maurus Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [1926], in: GW II, S. 939–942, hier S. 941.

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nischen Mischung« (GW II, S. 998) von dargestellter Sexualität (»der Ebene des Fleisches«) zur Ebene der Bedeutung, »über der ein dünner Dunst fremden Leibes liegen soll.« (Br I, S. 84) Dabei wird nicht den Perversionen selbst eine Bedeutung generierende und Wahrnehmungsweisen sprengende Funktion zugewiesen, sondern vielmehr deren literarischen Inszenierungen, welche Erschütterung wie (Selbst-) Erkenntnis zugleich bewirkten. Das perverse Detail wird somit zu einem komplementären Element des essayistischen Erzählmodus: So wie »nicht nur unser Verstand, sondern auch schon unsere Sinne ›intellektuell‹ sind«,71 ist Kunst als Darstellung, als literarische Inszenierung des Perversen nicht das ›Andere‹ der Kultur, ihr Fremdes, sondern als Selbstbeschreibungs- und »Erkenntnisorgan« (GW II, S. 899) zugleich das ihr eigene reflexive, immanente Moment.

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Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [1925], in: GW II, S. 1137–1154, hier S. 1146.

Robert Krause

»Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben« Moosbruggers wildes Denken und die Kultur des Okzidents Abstract: Robert Musil’s novel The Man Without Qualities demonstrates the author’s interest in the socio-ethnological studies of Lucien Lévy-Bruhl. This paper compares Moosbrugger’s way of thinking in the novel with Lévy-Bruhl’s remarks on ›primitive mentality‹. In this manner, it shows how Musil’s literary work participates in the modern discourse on cultural strangeness. By criticizing science and rationality, Musil deconstructs the frontiers of western culture. For this reason, his point of view appears to be surprisingly similar to that of some recent French theories on culture by Claude Lévi-Strauss and Michel Foucault.

Die Moosbrugger-Figur in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist Gegenstand vielfältiger Untersuchungen geworden.1 Kaum beachtet wurde dabei allerdings, dass Moosbruggers Lebenswandel und sein Geisteszustand eng mit dem Aspekt der kulturellen Eigenart und Fremdheit verbunden sind.2 Denn der Lustmörder lässt nicht nur die Grenze zwischen Vernunft und Unvernunft fragwürdig werden,3 er ist auch bis an die kulturellen Grenzen des Abendlandes gestoßen bei seiner Wanderschaft »[i]n die Türkei; und wieder zurück« (MoE, S. 71 f.). Bezieht man diese zwei Grenzübertretungen aufeinander, so stellt sich die Frage, ob Moosbruggers schwer bestimmbares Denken auf eine spezifische kulturelle Disposition schließen lässt und jenseits der Dichotomie von Ratio und Wahn diskutiert werden kann. Obwohl von Moosbruggers Türkei-Aufenthalt wenig erzählt wird, ist dieser keineswegs zu vernachlässigen; handelt es sich doch um einen Auswanderungsversuch, dessen Motivation und Ziel bereits aufschlussreich er1

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Einen konzisen Überblick der Forschung zur Moosbrugger-Figur bietet Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005, S. 238 f. – Das Titelzitat meines Aufsatzes stammt von Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft [1973]. Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 121996, S. 9. Vgl. zu diesem Zusammenhang Eberhard Ostermann: Das wildgewordene Subjekt. Christian Moosbrugger und die Imagination des Wilden in Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Neophilologus 89 (2005), S. 605–632, insbes. S. 609–611, 615. Vgl. vor allem MoE, S. 68, 76, 248. Zur Analyse des Wahnsinnsdiskurses im Mann ohne Eigenschaften vgl. Robert Krause: Abstraktion – Krise – Wahnsinn. Die Ordnung der Diskurse in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2008, S. 88–137.

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scheinen. Moosbrugger macht sich auf den Weg gen Osten, weil sein Gerechtigkeitsglauben und »Gemüt erschüttert« sind, nachdem man ihn für eine gewaltsame Auseinandersetzung »bestraft« hat, bei der er sich selbst als unschuldiges Opfer wähnt (MoE, S. 71). Sicherlich ist es kein Zufall, dass der paranoide Zimmermannsgeselle aus Musils Roman ausgerechnet in die Türkei zieht. Dorthin erwog der Autor im Frühjahr 1903 selbst zu reisen, wie sein Pass illustriert.4 Realisiert hat er diese Türkei-Reise jedoch nicht, anders als sein Vetter, der Orientalist, Geograph, Theologe und Diplomat Alois Musil (1868–1944), »dessen topographische, archäologische und ethnologische Forschungen im vorderen Orient damals erhebliches Aufsehen machten«.5 Ihm hätte sich Robert »als Mitarbeiter« anschließen sollen, damit, so heißt es in einem Brief des Vaters an Alois vom 26. April 1908, die Cousins »zusammen reisen und die Ergebnisse der Forschung vereint veröffentlichen« können.6 Doch auch zu einer solchen wissenschaftlichen Kooperation der Vettern Musil im Morgenland ist es nie gekommen, wohl aber zu dem Türkeibesuch Moosbruggers im Medium der Literatur. Möglicherweise schickt der Autor Robert Musil hier seine Romanfigur auf diejenige Reise, die ihm selbst verwehrt blieb. Bedenkenswert erscheint weiterhin, dass die Romanhandlung vor dem Ersten Weltkrieg und demnach zu einem Zeitpunkt spielt, als der Staat Türkei noch nicht gegründet war.7 Sein Vorgänger, das Osmanische Reich, rief bei den europäischen Kolonialmächten starke kulturelle und machtpolitische Interessen hervor, die in der sogenannten »Orientalischen Frage« kulminierten.8 Sein großes Territorium erklärt auch die »Minderheiten- und Nationalitätenprobleme[ ]«, die dem Osmanischen Reich nicht zuletzt in Asien »zu schaffen machten«;9 Probleme, die an die Schwierigkeiten des Habsburgerreichs erinnern, dessen Regiment von vielen Nationen und Eth4

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Ich danke Herrn Corino, der mich bei der Baseler Musil-Tagung 2009 auf dieses Detail aus Musils Biographie aufmerksam gemacht hat. Für weitere Informationen zu Musils Reiseplänen vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1570. Corino: Robert Musil [2003], S. 403 f. Zu Alois Musils Biographie und seinen sieben Orientexpeditionen vgl. Karl Joachim Bauer: Alois Musil. Wahrheitssucher in der Wüste. Wien 1989. Alfred Musil an Alois Musil, Brief vom 26. 04. 1908; zit. nach: Corino: Robert Musil [2003], S. 404. Nachdem die Nationalversammlung 1922 das Sultanat und 1924 auch das Kalifat abgeschafft hatte, war aus dem Osmanischen Reich der Nationalstaat Türkei geworden, gegründet von Mustafa Kemal »Ataturk«, der eine energische Modernisierung betrieb. Vgl. Wolfgang Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart 1996, S. 290. Die sogenannte »Orientalische Frage« zielte darauf, was mit dem vom Zerfall bedrohten Osmanischen Reich geschehen sollte und gipfelte in weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einflussnahmen der europäischen Kolonialmächte. Vgl. Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 281–285. Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 285. Das Osmanische Reich erstreckte sich vom Mittelmeer entlang der Schwarzmeerküste bis zum Persischen Golf und umfasste weiterhin den Irak, Syrien, Palästina und den Jemen. Vgl. die Karte des Osmanischen Reiches vor

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nien aus diesem ›Vielvölkerstaat‹ gleichfalls als Unterdrückung empfunden wurde. Im Sozialpanorama aus Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften werden diese Konflikte und Kontroversen anhand der Doppelmonarchie Kakanien ironisch thematisiert.10 Durch seine territoriale Ausdehnung auf der arabischen Halbinsel partizipierte das Osmanische Reich weitgehend am Orient, der sich weniger geographisch als imaginär bestimmte und bis heute einen kollektiven Projektionsraum des Okzidents bildet.11 Die abendländischen Orientphantasien basieren auf verschiedenen kulturellen Versatzstücken und beinhalten nicht zuletzt die Topoi des Fremden, Lasziven und Irrationalen.12 Gerade für das Décadence-Gefühl in der modernen Literatur und auch der modernen Literatur werden die genannten Vorstellungen bedeutsam; kann das »Morgenland« doch nun als Kontrastfolie des »wolkigen feuchten schwermüthigen Alt-Europa« fungieren und von Friedrich Nietzsches Zarathustra als »Himmelreich« gepriesen werden, »über dem keine Wolken und keine Gedanken hängen« und das »bunt und fremd« ist.13 Als Sehnsuchtsort und Antipode zum dekadenten Europa erscheint der Orient auch in Robert Musils erstem Roman Die Verwirrungen des Zöglings

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dem Ersten Weltkrieg, die sich in Wolfgang Reinhards Kleine[r] Geschichte des Kolonialismus findet (S. 286). Vgl. diesbezüglich Alexander Honold: Das andere Land. Über die Multikulturalität Kakaniens, in: Gunther Martens, Clemens Ruthner, Jaak De Vos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Bern u. a. 2005, S. 259–275, insbes. S. 263–269. Zum Orient als Konstruktion und Phantasma des Abendlands vgl. Edward W. Said: Orientalism. New York 1978. Die erwähnte phantasmagorische Vorstellung vom Orient stellt die wohl nachhaltigste koloniale Aneignung dar. Vgl. Regina Göckede, Alexandra Karentzos: Einleitung. Der Orient, die Fremde, in: dies. (Hg.): Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur. Bielefeld 2006, S. 9–19, insbes. S. 10; Alexander Honold: Das Fremde. Anmerkungen zu seinem Auftritt in Kultur und Wissenschaft, in: Göckede, Karentzos (Hg.): Der Orient, die Fremde, S. 21– 38. Zur Vorstellung des irrationalen Orients vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 10. Hinzuweisen ist weiterhin auf Axel Dunkers Projekt zum »Orientalismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts«, das Teil des von ihm und Gabriele Dürbeck initiierten DFG-Netzwerks »Postkoloniale Studien in der Germanistik« ist. Vgl. http://netzwerk.postkoloniale-studien.av. literaturwissenschaft.uni-mainz.de/116.php (Zugriff am 08. 02. 2010). Friedrich Nietzsche: Unter Töchtern der Wüste (Zweiter Dionysos-Dithyrambus), in: ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 6: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce Homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. München 1997, S. 381–387, hier S. 382. Zum einleitenden Monolog aus Nietzsches zweitem Dithyrambus vgl. Wolfram Groddeck: Friedrich Nietzsche. Dionysos-Dithyramben. 2 Bde. Bd. 2: Die Dionysos-Dithyramben. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk. Berlin 1991, insbes. S. 46–57. – In seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher bezeichnet Nietzsche Orient und Okzident als »Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsre Furchtsamkeit zu narren« (Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen III : Schopenhauer als Erzieher 1, in: Ders.: KSA . Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Nachgelassene Schriften 1870–1873. München 1999, S. 335–427, hier S. 339).

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Törleß. Hier begeistert sich Beineberg, der Sohn eines ehemaligen Kolonialoffiziers in englischen Diensten und Internatsfreund des Protagonisten ist, für die indische Kultur, Religion und Philosophie, während er seiner Umgebung und dem westlichen mathematisch-philosophischen Denken nur mit Verachtung begegnet (vgl. insbes. GW II, S. 18–20). Orientalische Bräuche und Techniken nachahmend will er durch Meditation und Hypnose alle moralischen Empfindungen zerstören sowie die Gedanken und die Willenskraft überwinden. Beineberg sitzt »mit orientalisch gekreuzten Beinen« da, raucht eine türkische Wasserpfeife und beruft sich auf indische Bestrafungsriten und auf Allah (GW II, S. 48). Törleß gegenüber fordert er, »die elenden nach außen gerichteten Begierden abzutöten, welche, ob sie nun Eitelkeit oder Hunger, Freude oder Mitleid seien, nur von dem Feuer abziehen, das jeder in sich zu erwecken vermag«, und propagiert »die Versenkung in sich selbst« als einziges Mittel dazu (GW II, S. 59, 118). Auf diesem Weg hofft Beineberg, zu einer anderen, ekstatischen Existenzweise vorzudringen, die er nur mit Hilfe der fremden Kultur des Orients für realisierbar hält.14 Ein ähnliches irrationales Orientbild könnte auch dem wahnsinnigen Moosbrugger bei seiner Auswanderung als Verlockung vorschweben. Gerade für ihn, der sich »der Universalität der abendländischen Ratio« immer wieder entzieht,15 erscheint das türkische Reich als passender Ziel- und Umkehrpunkt seiner Reise. Denn analog zur Widersprüchlichkeit Moosbruggers, der die Vernunft und Unvernunft jenseits des aristotelischen Satzes vom ausgeschlossenen Dritten vereint und damit zum Streitfall der Jurisprudenz und Medizin wird,16 ist auch das Verhältnis des Okzidents zum Morgenland paradox. Der Orient, darauf hat Michel Foucault hingewiesen, wird einerseits als »Ursprung« des Abendlandes gedacht, andererseits begrenzt er den Gültigkeitsbereich der abendländischen Ratio und ist deshalb »unendlich unzugänglich«: Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt.17

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Vgl. vor allem Beinebergs Versuch, den diebischen Mitschüler Basini zu hypnotisieren (GW II, S. 120–122). Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 10. Die Gerichtsmediziner sind davon überzeugt, »daß Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach [. . .]; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmung kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren« (MoE, S. 243). Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 10.

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»Die Geschichte dieser großen Trennung« von Orient und Okzident und von Unvernunft und Ratio, so schlussfolgert Foucault, sei zugleich die Genese »der Grenzen [. . .], mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt«.18 Seine Untersuchungen zur Geschichte des Ordnungsbegriffs, der sexuellen Verbote und des Wahns sind Bemühungen, diese Kulturgeschichte par excellence zu rekonstruieren.19 Philipp Sarasin bemerkt zu Recht, dass der Wahnsinn für Foucault »eine Grenzlinie der abendländischen Kultur darstellt, die er in den Kontext ähnlicher Grenzziehungen einordnet, um damit nichts weniger als die Entstehung dieser unserer Kultur [. . .] verstehen zu können«.20 Diesen Versuch unternimmt auch Musil, allerdings mit literarischen Mitteln. Ein solches Unternehmen kann als »Ethnologie unserer Kultur« beziehungsweise »unserer Rationalität«21 gelten und muss in besonderem Maße das Phänomen des Fremden berücksichtigen, dem beim Prozess kultureller Grenzziehungen sicherlich eine privilegierte Bedeutung zukommt. Denn »Eigenes entsteht«, so erläutert der Phänomenologe Bernhard Waldenfels, »indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig empfinden«.22 Das Fremde, so typologisiert Waldenfels weiter, kann als fremder Ort oder Besitz vorkommen,23 aber auch etwas »von anderer Art« sein, das »im Gegensatz zum 18 19

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Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 10, 9. Foucault definiert Grenzen dabei als »obskure[ ] Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind« (S. 9). Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1974]. Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 2003; ders.: Sexualität und Wahrheit. 3 Bde. Bd. 1: Der Wille zum Wissen [1977]. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff und Walter Seiter. Frankfurt a. M. 1983; ders.: Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste [1986]. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff und Walter Seiter. Frankfurt a. M. 1989; ders.: Sexualität und Wahrheit. Bd. 3: Die Sorge um sich [1986]. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff und Walter Seiter. Frankfurt a. M. 1989; ders.: Wahnsinn und Gesellschaft; ders.: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973–1974. Hg. v. Jacques Lagrange. Aus dem Französischen v. Claudia Brede-Konersmann. Frankfurt a. M. 2005. Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg 2005, S. 24 f. Michel Foucault im Gespräch mit Paolo Caruso [1969], in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens. Hg. und übersetzt v. Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1982, S. 7–31, hier S. 13; vgl. auch Foucaults Bemerkungen zur Ethnologie in seiner Studie Die Ordnung der Dinge, S. 451 f. – Zu Foucaults »Ethnologie unserer Kultur« vgl. Christian Lavagno: Michel Foucault. Ethnologie der eigenen Kultur, in: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S. 42–50; Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994, S. 203. Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 2006, S. 20. Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 111: »Fremdes ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht [. . .]. Fremdes ist zweitens, was Anderen gehört [. . .], im Gegensatz zum Eigenen. [. . .] Fremd ist drittens, was von anderer Art, was fremdartig, unheimlich, seltsam ist [. . .], im Gegensatz zum Vertrauten.«

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Vertrauten steht«.24 Alle drei Ausprägungen des Fremden konstituieren sich durch Grenzziehungen und verweisen auf ein bestimmtes Ordnungsgefüge, dem Inkommensurables als fremd gilt.25 Von daher erstaunt es nicht, dass sich in Robert Musils Œuvre, das immer wieder die Frage nach einer anderen Ordnung aufgreift, über die bereits erwähnten Orient-Allusionen hinaus zahlreiche weitere Beispiele für Formen des Fremden finden. Am prominentesten verbinden sich das Ordnungsthema und die Fremdheitsproblematik dabei sicherlich in seinem Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften. Weder der Möglichkeitssinn des eigenschaftslosen Protagonisten noch Moosbruggers Weltwahrnehmung oder der »andere Zustand« beschränken sich darauf, dass etwas oder jemand verschieden wäre.26 Vielmehr erweisen sie sich auf eine Weise als fremd, die nicht dialektisch aufzuheben, durch kein Drittes zu vermitteln ist.27 Gerade für die Konzeption von Moosbruggers eigenwilligem Denken und des »anderen Zustandes« im Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist die Fremdheit zwischen den Kulturen entscheidend, mit der sich Musil auf Grundlage ethnologischer Literatur auseinandersetzte. Aus seinen Tagebüchern, Kritiken und Essays wissen wir, dass ihn vornehmlich das Werk des französischen Ethnologen, Philosophen und Soziologen Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939) nachhaltig beschäftigte und beeinflusste.28 Einen ersten Hinweis auf Musils Rezeption dieser Forschungen geben die Arbeitsjournale und 24 25 26

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Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 111. Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 19–21. Vgl. diesbezüglich auch Waldenfels, der den Unterschied zwischen Anderem und Fremdem betont und am Beispiel von Platon und Musil folgendermaßen verdeutlicht: »Die Fremdheit eines Gastes – darunter der Fremde aus Elea, den Platon im Sophistes auftreten läßt –, die Fremdheit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur, die Fremdheit des anderen Geschlechts oder die eines ›anderen Zustandes‹ reduziert sich keineswegs darauf, daß etwas oder jemand sich als verschieden erweist« (Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 20 f.). – Auf die Bedeutung des »anderen Zustandes« als Alteritätserfahrung weist Alexander Honold: Das andere Land, S. 260 f., hin. Dieser irreduzible Charakter des Fremden unterscheidet es vom Anderen. Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 20: »Die Diastase, das Auseinandertreten von Eigenem und Fremden, das durch kein Drittes vermittelt ist, gehört einer anderen Dimension an als die Distinktion vom Selben und Anderen, die ihren Rückhalt in einem dialektisch zu vermittelnden Ganzen findet.« Vgl. Tb II, S. 443, Anm. 451; Musil: Kulturkritik aus der Begabungs- und Vererbungsforschung [21. Juni 1923]. Eine interessante psychologische Studie, in: GW II, S. 1701 f.; ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [März 1925], in: GW II, S. 1137–1154. – In Musils Tagebüchern (vgl. Tb I, S. 627, Tb II, S. 442 [Heft 21, Anm. 450]) finden sich außerdem Exzerpte, die sich unter anderem auf folgende anthropologische und ethnologische Studien beziehen: Alfred Vierkandt: Naturvölker und Kulturvölker. Leipzig 1896; Richard Thurnwald: Forschungen auf den Salomo-Inseln und dem BismarckArchipel. Berlin 1912; Konrad Theodor Preuss: Die geistige Kultur der Naturvölker. Leipzig, Berlin 21923. Eine fundierte Untersuchung möglicher Einflüsse dieser Studien auf Musils Denken und Werk steht derzeit noch aus und kann als ein Desiderat der Musil-Philologie gelten.

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ein Zeitungsreferat des Autors vom 21. Juni 1923, in dem er eine psychologische Studie Erich Rudolf Jaenschs bespricht, deren »völkerkundliche[s] Material«, so erläutert Musil, »hauptsächlich dem berühmten Buch ›Das Denken der Naturvölker‹ von Lévy-Bruhl entnommen« ist (GW II, S. 1701).29 Dieser vertritt dort die These, dass die sogenannten ›Primitiven‹ eine spezifische Wahrnehmungs- und Denkweise besitzen, für die andere Gesetze gelten als für den modernen Intellekt. Das »Denken der Naturvölker« basiere auf dem »Gesetz der Partizipation«, das heißt, auf einer mystischen Teilhabe an der Welt, bei der Vorstellungen und Wahrnehmungen verschmelzen und weder das Kausalitätsprinzip noch der Satz vom Widerspruch gültig ist.30 Es besitzt für Europäer insofern einen noch höheren Fremdheitsgrad als der eingangs geschilderte Orient. Lévy-Bruhl berichtet von »Zeremonien und Tänzen«, aus denen ein »motorische[r] Rausch« resultiert und die eine Identifikation mit einer bestimmten »Tier- oder Pflanzenart« zur Folge haben, die das Totem der jeweiligen Gemeinschaft ist, und resümiert: »Die stärkste logische Gewißheit ist schwach, gemessen an dem Gefühl der Symbiose, das die so erlebten und in Handlungen umgesetzten Kollektivvorstellungen begleitet.«31 Statt kausalem und widerspruchsfreiem Denken kommt es häufig zur Identifikation mit anderen Wesen oder Gegenständen aus dem Umfeld, wie Lévy-Bruhl anschaulich erläutert.32 Fundamentale Kritik an dieser »falsche[n] Antinomie zwischen logischer Mentalität und prälogischer Mentalität« übt Jahrzehnte später der Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908–2009): Das wilde Denken ist in demselben Sinne und auf dieselbe Weise logisch, wie es unser Denken ist, aber nur dann, wenn es sich auf die Erkenntnis einer Welt richtet, der es zugleich physische und semantische Eigenschaften zuerkennt. Ist dieses Mißverständnis auch beseitigt, so bleibt immerhin die Tatsache bestehen, daß dieses Denken, anders als Lévy-Bruhl glaubt, mit den Mitteln der Vernunft und nicht der Affektivität arbeitet; mit Hilfe von Unterscheidungen und Gegensätzen, nicht durch Verschmelzung und Partizipation.33 29 30 31

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Musil bezieht sich dabei auf folgende völkerkundliche Untersuchung von Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker [1921]. Wien, Leipzig 21926. Vgl. Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 51–82 (Kap. 2: »Das Gesetz der Partizipation«). Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 71 f. Zu Lévy-Bruhls Beobachtungen und Schlussfolgerungen vgl. die einleitende Vorbemerkung des Herausgebers Wilhelm Jerusalem, in: Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. V – XVIII . Vgl. Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, insbes. S. 58, 65, 69–76. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Aus dem Französischen v. Hans Naumann. Frankfurt a. M. 1968, S. 308. Diskutiert und kontextualisiert wird »das wilde Denken« in einem Gespräch, das Lévi-Strauss mit Paul Ricœur, Marc Gaboriau, Michel Dufrenne, Jean-Pierre Faye, Kostas Axelos, Jean Lautman, Jean Cuisinier, Pierre Adot und Jean Conilh geführt hat. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Hg. v. Adelbert Reif. Frankfurt a. M. 1989, S. 71–112 (»Gespräche mit Claude Lévi-Strauss. Das wilde Denken«, Übersetzung v. Britta Reif-Willenthal).

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Seit Mitte der 1920er Jahre aber wurden Lévy-Bruhls Überlegungen vielfach und durchaus zustimmend rezipiert, so etwa von Gottfried Benn.34 Musil hat sich ebenfalls intensiv mit ihnen auseinandergesetzt und sie in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (März 1925) und im Roman Der Mann ohne Eigenschaften aufgegriffen, möglicherweise auch in seinen Erzählungen Drei Frauen.35 So erkennt Ritchie Robertsen in den Figuren aus Die Portugiesin, Musils zweiter Novelle des genannten Zyklus’ Drei Frauen, eventuelle Repräsentationen des ›primitiven Denkens‹.36 Plausibel ist es darüber hinaus, auch das phänomenale Gedächtnis von Tonka, der Protagonistin aus Musils dritter gleichnamiger Novelle, und das Erinnerungsvermögen Agathes im Mann ohne Eigenschaften als Anspielungen auf das Denken der Naturvölker zu verstehen, das sich ebenfalls durch besondere Gedächtnisleistungen auszeichnet.37 Alle genannten Texte des Autors belegen eine produktive Rezeption von Lévy-Bruhls Einsichten in die kulturelle Eigenart und soziale Prägung des Denkens und zeugen auf jeweils unterschiedliche Weise von der inspirierenden Funktion, die Phänomene kultureller Fremdheit für Musils Werk besitzen. Während er in dem Zeitungsreferat die phylo- und ontogenetische Tragweite der Studien Lévy-Bruhls erwähnt und auf Analogien in der Eidetik und Mystik hinweist,38 fokussiert Musils Film-Essay vor allem deren anthropologische Implikationen. Die Erfahrung von Kunst in modernen Gesellschaften wird dabei mit der partizipierenden Wahrnehmungsweise der ›Naturvölker‹ 34

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Vgl. Gottfried Benn: Doppelleben. I. Schatten der Vergangenheit, in: ders.: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. 4 Bde. Textkritisch durchgesehen und hg. v. Bruno Hillebrand. Bd. 2: Prosa und Autobiographie. Frankfurt a. M. 1984, S. 395–412, hier S. 398, und ders.: Zur Problematik des Dichterischen [1930], in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3: Essays und Reden, S. 83–96, hier S. 91 f. Der Hinweis auf Benns Auseinandersetzung mit den Thesen Lévy-Bruhls verdankt sich Barbara Neymeyr: Das »größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte«. Stationen der Nietzsche-Rezeption im Werk Gottfried Benns, in: Andreas Urs Sommer (Hg.): Nietzsche. Philosoph der Kultur(en)? Berlin 2008, S. 477–496, hier S. 491. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [März 1925], in: GW II, S. 1137–1154; ders.: Drei Frauen. Novellen [1924], in: GW II, S. 234–306. – Zu Musils Film-Essay vgl. Katharina Grätz: Psychopathologie und Ästhetik. Robert Musils Überlegungen zu Film und Literatur in dem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005), S. 187–208, insbes. S. 201 f. Vgl. Ritchie Robertsen: Musil and the »primitive mentality«, in: Hannah Hickman (Hg.): Robert Musil and the literary landscape of his time. Salford 1991, S. 13–33, hier S. 26–28. Vgl. Musil: Tonka, in: GW II, S. 270–306, insbes. S. 285; die Parallelen »zwischen Agathes Eigenschaften bzw. Denkweisen und denen ›primitiver‹ Völker, wie sie Lévy-Bruhl schildert«, benennt Astrid Zingel: Ulrich und Agathe. Das Thema Geschwisterliebe in Robert Musils Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften. St. Ingbert 1999, S. 70 f., hier S. 70. Vgl. Musil: Kulturkritik aus der Begabungs- und Vererbungsforschung [21. Juni 1923], in: GW II, S. 1701: »Von der bekannten Parallele zwischen Gattungs- und Individualentwicklung Gebrauch machend, wäre damit ein weiterer Beweis für den Aufbau der Wahrnehmungswelt im Jugendalter geliefert [. . .].«

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verglichen, beide erscheinen als unterschiedliche Ausformungen mystischer Grunderlebnisse, die in der menschlichen Natur verankert sind.39 Zahlreiche Reflexe dieser theoretischen Auseinandersetzung mit LévyBruhls Beobachtungen und Schlussfolgerungen finden sich auch im Roman Der Mann ohne Eigenschaften, wie Renate von Heydebrand gezeigt hat.40 Allerdings bezieht sich die Interpretin vornehmlich auf die signifikanten Parallelen zwischen der »mystischen Allverbundenheit im Anderen Zustand« und »der von Lévy-Bruhl gleichfalls ›mystisch‹ genannten Partizipation«.41 Dabei wird durch Hinweise auf prälogische Elemente zwar »das ›andere‹ Denken« des Protagonisten Ulrich und seiner Schwester Agathe erhellt,42 nicht aber Moosbruggers andere Denkweise, die in der Musil-Philologie vielfach als »wildes Denken« apostrophiert wird.43 Worin dessen Wildheit jedoch besteht und welche Quellen seine Konzeption möglicherweise beeinflusst haben, bleibt nach wie vor offen und ist im Hinblick auf Robert Musils Beschäftigung mit den Grenzen der Kulturen zu analysieren. Um dieses wilde Denken Moosbruggers zu rekonstruieren, erweist sich eine Parallellektüre der Moosbrugger-Romankapitel und der Studie LévyBruhls über Das Denken der Naturvölker als produktiv. Deren prälogische Geistesart ist auch in der modernen Kultur des Okzidents nicht vollständig verschwunden, sondern besteht laut Lévy-Bruhl in ekstatischen oder wahnhaften Zuständen sowie streckenweise bei Kindern und Träumern fort.44 Insbesondere in Kapitel 59 aus Musils Roman zeigen sich zahlreiche Analogien zu dieser Annahme.45 Dort wird überwiegend aus der Perspektive des Zimmermannsgesellen berichtet, wobei die interne Fokalisierung seine freien Assoziationen und die tautologisch um sich selbst kreisenden Gedanken narrativ abbildet.46 Moosbruggers geschildertes Bemühen, die Frau seines ersten Handwerksmeisters mit Hilfe eines Handzeichens sexuell für

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Vgl. insbes. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films, in: GW II, S. 1139–1141, 1151. Musils Interesse an den »anthropologischen Implikationen von Lévy-Bruhls Erkenntnissen« betont Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin, New York 2009, S. 23, Anm. 3. Vgl. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966, S. 106–111, 152 f. Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs, S. 107. Vgl. Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs, S. 103–111 (Kap. »Das ›andere‹ Denken«). Vgl. exemplarisch Ostermann: Das wildgewordene Subjekt, S. 608; Krause: Abstraktion – Krise – Wahnsinn, S. 112. Vgl. Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, insbes. S. 343–346. Vgl. MoE, S. 235–242 (Kap. 59: »Moosbrugger denkt nach«). Für eine narratologische Analyse des Kapitels vgl. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006, insbes. S. 358.

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sich einzunehmen, lässt dabei ein magisches Verhältnis zur Welt erkennen.47 Denn bereits bei dem Gedanken an die unwiderstehliche Verführungskraft der Geste wird dem Zimmermannsgesellen »wirr zumut«, und »etwas« geht »mit ihm vor, das um Haaresbreite von der natürlichen Ordnung abrückt[ ]« (MoE, S. 237). Der erwartete »Zauber wirkt[ ] aber nur halb«, Moosbrugger wird kurzerhand aus dem Betrieb geworfen und sieht »sein Jus verhöhnt und geschlagen« (MoE, S. 237). Angesichts der kollektiven Verschwörung seiner Mitmenschen hilft dem paranoiden Zimmermann »kein Zauberwort«, die Welt »hält überall gegen ihn zusammen« und widersetzt sich seinem magischen Denken (MoE, S. 72). »Das magische Denken«, so erläutert der Ethnologe Lévi-Strauss, ist »unabhängig« vom wissenschaftlichen Denken, das begrifflich-logisch operiert.48 Auch Moosbrugger denkt unterminologisch, er hat »nie genug Worte« zur Verfügung und »beneidet[ ] alle Menschen, die schon in der Jugend gelernt hatten, leicht zu sprechen« (MoE, S. 238). Vor Gericht gestellt verwendet der Prostituiertenmörder Wörter, die ihm fremd bleiben, »französische und lateinische Scherben, die er an den unpassendsten Stellen in seine Reden steckte« (MoE, S. 72), und die helfen sollen, »die Welt zusammenzuhalten« (MoE, S. 241). Dieser begrenzte Zugang zur Sprache lässt ein mythisches Denken erkennen, dessen Eigenart Lévi-Strauss folgendermaßen charakterisiert: »Das mythische Denken errichtet strukturierte Gesamtheiten mittels [. . .] der Sprache; aber es bemächtigt sich nicht der Struktur der Sprache; es errichtet seine ideologischen Gebäude aus dem Schutt eines vergangenen gesellschaftlichen Diskurses.«49 Trotz seiner verbalen Schwierigkeiten fühlt Moosbrugger sich seiner Umwelt in anderer Hinsicht überlegen. Die Juristen vor Gericht können »zwar besser reden als er, aber von den wirklichen Zusammenhängen hatten sie keine Ahnung« (MoE, S. 238). Diese »wirklichen Zusammenhänge[ ]« sind gemäß Moosbruggers »Erfahrung und Überzeugung« sprachlich und logisch nicht zu erfassen, denn man kann »kein Ding für sich herausgreifen, weil eins am anderen« hängt (MoE, S. 240). Sein zumindest ansatzweise ausgeprägtes Bewusstsein einer Relationalität der Dinge, mit denen er sich konsequenterweise identifiziert,50 erscheint nicht nur analog zu Ulrichs Ansichten,51 sondern gleicht auch dem »Gesetz der mystischen Partizipation« im Denken der Naturvölker.52 47 48 49 50 51 52

Vgl. Ostermann: Das wildgewordene Subjekt, S. 609. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 25. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 35. »Der Tisch war Moosbrugger. / Der Stuhl war Moosbrugger. / Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst.« (MoE, S. 395) Bereits Ulrich hat bemerkt, dass »ein Erlebnis seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen erhält« (MoE, S. 149). Vgl. Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 51.

»Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben«

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Ebenso wie die Schamanen, von deren privilegierten Erfahrungszuständen Lévy-Bruhl und Lévi-Strauss berichten,53 halluziniert auch Moosbrugger: Er hört »Stimmen«, sieht »vieles, was andere nicht sehen, schöne Landschaften und höllische Tiere« und identifiziert sich mit der Welt, deren Sinn ihm unmittelbar entgegentritt.54 Dieses »Halluzinieren« betrachtet Moosbrugger zwar als persönlichen Vorzug, aber er findet »die Wichtigkeit, die man dem beilegte, sehr übertrieben«; schließlich erscheint es ihm irrelevant, »ob etwas draußen ist oder drinnen« (MoE, S. 239).55 Auch diesbezüglich entspricht sein magisches und mystisches Verhältnis zur Welt der Wahrnehmung der ›Naturvölker‹, die Lévy-Bruhl dem modernen Intellekt gegenüberstellt: Was wir objektive Realität nennen, ist bei ihnen mit unfaßbaren mystischen Elementen gemischt und diesen Elementen, die wir heute als subjektiv ansehen, oft untergeordnet. Kurz, sie ist in diesem Sinn mit dem Traum verwandt. Oder, wenn einem dies besser gefällt: ihr Traum ist eine Wahrnehmung wie die anderen.56

Eine Analogie zum Traum ist auch der »andere Zustand« im Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der dort von Ulrich explizit als »Traumzustand« bezeichnet wird (MoE, S. 762). In einer Notiz zum »andre[n] Zustand« aus seinem Nachlass vermerkt Musil, er selbst beschreibe diesen genau wie LévyBruhl »das partizipieren, erleben, teilhaben« (Tb II, S. 1156).57 Während der Traum bei den ›Naturvölkern‹ als gleichberechtigte Wahrnehmung fungiert, ist die Unterscheidung zwischen Traum und wachem Bewusstsein eine der fundamentalen Dichotomien unserer abendländischen Kultur.58 Genau hinter diese kulturelle Grenzziehung geht Musil jedoch zurück und dekonstruiert sie, wenn er den Traum mit dem »anderen Zustand« vergleicht und als »ursprünglichen Weltzustand[ ]« beschreibt.59 Dabei dient ihm die eth53 54

55

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Vgl. Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 67; Lévi-Strauss: Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, in: Marcel Mauss: Sociologie et anthropologie. Paris 81999, S. 18. Vgl. MoE, S. 239: Moosbrugger kann »sich selbst an seine Erlebnisse nur unscharf und dem Sinn nach erinnern. Denn diese Zeiten waren ganz Sinn! [. . .] Das Wichtigste war, daß es gar nichts Wichtiges bedeutete, ob etwas draußen ist oder innen«. Zu Moosbruggers Halluzinieren vgl. Krause: Abstraktion – Krise – Wahnsinn, S. 106–110. Karl Corino berichtet, dass Musil mit dem Phänomen des Halluzinierens vertraut war und »zuweilen selbst halluzinierte« (Karl Corino: Zerstückelt und durchdunkelt. Der Sexualmörder Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften und sein Modell, in: Musil-Forum 10 [1984], S. 105–119, hier S. 110). Zu nennen ist hier vor allem Musils Halluzination vom 23. 04. 1905, als er in einen Schneesturm am Sonnwendstein geriet. Vgl. Corino: Robert Musil [2003], S. 1880. Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 43. Anhang: Heft 21, ursprünglich auf einem Notizblatt, Nachlass-Mappe VII/11. Vgl. auch Musil: Tb I, S. 627 (Heft 21: 1920–1926). Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 10, und Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 43: »Unsere Wahrnehmung ist auf die Auffassung der objektiven Realität und dieser Realität allein gerichtet. Sie eliminiert, was einen rein subjektiven Wert haben könnte. Dadurch kontrastiert sie mit dem Traum.« Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs, S. 107.

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nographische Studie Lévy-Bruhls nicht nur als Prätext für die Konzeption des »anderen Zustands«, sondern auch für Moosbruggers wildes Denken, das dem magischen und mythischen Denken der Naturvölker gleicht. Fokussiert man diese Analogien und textgenetischen Einflüsse, kommt der Gegenentwurf zum abendländischen Rationalitätstypus in den Blick, den Robert Musil durch seine Beschäftigung mit Formen kultureller Fremdheit theoretisch konturiert und in seinem Romanwerk ästhetisch umsetzt. Beide, der »andere Zustand« und das wilde Denken, sind wesentliche Bestandteile dieser zivilisationskritischen Kontrastfolie, die Musil dem dominierenden wissenschaftlichen Diskurs der Moderne vorhält. Von daher erscheint er gewissermaßen als ein »Vorläufer der Kulturwissenschaften«,60 dem es um die Sondierungen und Überschreitung kultureller Grenzlinien geht. Einige dieser Abgrenzungen und ihre Überwindung bzw. Durchdringung werden dabei topographisch dargestellt, oder, wie im Fall von Moosbruggers TürkeiReise, zumindest geographisch angedeutet. Sein grenzüberschreitendes wildes Denken wird hingegen nicht räumlich, sondern als kulturelle Disposition bestimmt, was wiederum mit dem »Verzicht auf die Abbildung der Grenzziehung und Grenzauflösung auf topographischer Ebene« korrespondiert, der Musils episches Werk zunehmend prägt.61 In dieser kulturgeschichtlichen Perspektive ist Musils Œuvre einerseits im Kontext des Fremdheitsdiskurses der Moderne zu situieren, an dem auch Benn, Canetti, Hofmannsthal und Kafka auf jeweils eigene Art und Weise partizipieren. Ebenso ist an Nietzsche zu denken, in dessen Bemerkungen zur Logik des Traumes, der »uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück[bringt]«,62 sich bereits »Tendenzen ab[zeichnen], die später in der ethnologischen Theorie von der ›prälogischen Geistesart‹ der Kollektivvorstellungen Ausdruck finden«.63 Und bekanntlich hat sich Döblin bei der Konzeption von Berge Meere und Giganten und seiner Amazonas-Trilogie ebenfalls von verschiedenen ethnographischen Berichten anregen lassen.64 60

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Penka Angelova: Vorläufer der Kulturwissenschaften. Musil, Canetti, Broch, in: Iris Hipfl, Raliza Ivanova (Hg.): Österreichische Literatur zwischen den Kulturen. St. Ingbert 2008 (= Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft), S. 166–171. Rosmarie Zeller: Musil im Kontext der Poetik des modernen Romans, in: Musil-Forum 30 (2007/08), S. 20–36, hier S. 24. Nietzsche: Logik des Traumes, in: ders.: KSA . Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 32– 35, hier S. 33. Neymeyr: Das »größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte«, in: Sommer (Hg.): Nietzsche. Philosoph der Kultur(en)?, S. 491. Vgl. diesbezüglich die betreffenden Nachworte der Döblin-Ausgaben, in denen die Herausgeber Berichte nennen, auf die der Autor zurückgegriffen hat. – Zur Bedeutung ethnographischen Wissens für Alfred Döblins Werk vgl. Ira Lorf: Unzweifelhaft exotische Maskenspiele. Alfred Döblin und das ethnographische Wissen, in: Alexander Honold, Oliver Simonis (Hg.): Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Tübingen, Basel 2002, S. 17–36; Katharina Grätz: Andere Orte, anderes Wissen. Döblins Berge Meere und Giganten, in: Sabina Becker, Robert Krause (Hg.): »Tatsachen-

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Andererseits ist Musils Werk auch weiterhin mit Blick auf neuere kulturphilosophische Überlegungen von Foucault und Lévi-Strauss zu diskutieren.65 Schließlich scheinen die Wissenschafts- und Rationalitätskritik sowie das sinnstiftende andere und wilde Denken aus dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften eine zentrale ethnographische Einsicht vorwegzunehmen: die Erkenntnis von Lévi-Strauss nämlich, dass das »mystische Denken [. . .] auch befreiend [ist]: durch den Protest, den es gegen den Un-Sinn erhebt, mit dem die Wissenschaft zunächst resignierend einen Kompromiß schloß«.66

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phantasie«. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne. Bern u. a. 2008, S. 299–319. Vgl. Krause: Abstraktion – Krise – Wahnsinn; Sieglinde Grimm: Robert Musil und Michel Foucault. Das Scheitern des »Ratioiden« und die Legitimation ästhetischer Existenz, in: Cornelia Blasberg, Franz-Josef Deiters (Hg.): Denken/Schreiben (in) der Krise. Existentialismus und Literatur. St. Ingbert 2004, S. 127–157, insbes. S. 131–134, 139, 156. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 35 f.; diese Rationalitäts- und Wissenschaftskritik trifft sich mit Lévy-Bruhls Postulat, dass das »logische Denken [. . .] niemals den Anspruch erheben [darf], die prälogische Geistesart ganz zu ersetzen« und »niemals die Universalerbin der prälogischen Geistesart werden« könne (Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. XXIII, 343).

Axel Dunker

Soliman und Rachel/»Rachelle« Die Konstruktion von Fremdheit und Identität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften Abstract: The pattern within which Musil makes his novelistic characters perceive Soliman and Rachel transposes early 19th-century racial discourse. In transforming the servant couple into representatives of the foreign as such, something most familiar is implied: the background of contemporary discourse. In a mise-en-abyme, the fragment of the »Parallelaktion« which Soliman and Rachel perceive through the keyhole represents the entire novel project as well as its objective. The two characters correspond to the discursive habits in Kakanien on the brink of World War I: as constructions (and representations) of particular (inter-cultural) discourses, they constitute an inter-discursive literary Self-Conscience of the novel.

Zahlreiche wichtige Werke der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts zeigen Spuren der Auseinandersetzung mit oder gar der Anregung durch kulturelle Fremdheit. Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, Else Lasker-Schülers Der Prinz von Theben, Franz Kafkas Bericht für eine Akademie, Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun, Thomas Manns Der Tod in Venedig und viele andere Werke zeugen davon. Auch in der Forschung zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften hat in den letzten Jahren die Frage nach der Bedeutung von Fremdund Andersheit und in Zusammenhang damit nach der Konstruktion von Identität verstärkte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es ist dabei nach wie vor umstritten, in welchem Verhältnis der Roman als Ganzes, seine einzelnen Figuren, die Parallelaktion in ihrer imitativen Konkurrenz zu den Jubiläumsfeierlichkeiten des deutschen Kaisers, zu der von Musil als ›Kakanien‹ bezeichneten, mit dem Ersten Weltkrieg untergegangenen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn steht: Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. (MoE, S. 450)

Ein Mitglied dieses Staates verfügt somit ebenso wohl über eine multiple staatsbürgerliche Identität wie über gar keine. Wie Stefan Jonsson gezeigt hat,

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lässt sich die »achronische, polyzentrische und heterologische Erzählweise« des Romans mit dieser soziokulturellen Erscheinungsweise Österreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Beziehung setzen.1 Damit korrespondiert die spezifisch moderne Form von Musils Roman, seine ästhetische Verfasstheit, mit der historischen Situation, auf die er sich bezieht. Dabei ist natürlich gleichzeitig entschieden die Differenzqualität hervorzuheben: Stellt man etwa mit Hartmut Böhme fest, »die Parallelaktion und Kakanien insgesamt [seien] als Schrift ohne Sinn, als leerlaufende Zeichenproduktion, als theatralische Veranstaltung und Simulation zu entziffern«,2 so gilt das selbstverständlich für den Roman gerade nicht. Auf gesellschaftlicher Ebene entsteht Identität in gleichzeitiger Produktion von Alterität, durch die Exklusion von Fremdheit, die dabei aber genauso ein Produkt von Konstruktion ist wie die Identität. »Identität kommt von dem, was den Unterschied macht, her«,3 um es mit Slavoj Žižek zu sagen. Ulrich, der ›Mann ohne Eigenschaften‹, lässt sich kennzeichnen als ein »Subjekt, das sich nicht für identisch hält« und sich »in jedem Moment, in dem es sich dieser nicht-identischen Verfassung bewusst wird«, transzendiert, was wiederum als »selbstreflexive Überschreitung in der Ironie« den ganzen Roman strukturiert.4 Das ist zu denken vor dem Hintergrund Kakaniens: »Kakanien«, so Alexander Honold, »ist das andere Land, zu dem es kein eines oder erstes mehr gibt, und insofern die Urmutter aller Alteritätserfahrungen, die den Musil’schen Figuren zustoßen«.5 Die Musil-Forschung hat die anderen wichtigen Figuren des Romans (Arnheim, Diotima, Clarisse, Moosbrugger usw.) auf ihr Verhältnis zu diesem Problem der abwesenden Identität im Zentrum Kakaniens wie des Romans bezogen. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit hat sie dagegen zwei Nebenfiguren geschenkt, die von diesem Schema abzuweichen scheinen: Soliman und Rachel, die als Diener bzw. Stubenmädchen oder Zofe in Diensten Arnheims und Diotimas stehen.

1 2 3

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Stefan Jonsson: Subject Without Nation. Robert Musil and the History of Modern Identity. Durham, London 2000, S. 218. Hartmut Böhme: Eine Zeit ohne Eigenschaften. Robert Musil und die Posthistoire, in: ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988, S. 308–333, hier S. 320. Slavoj Žižek: Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und Deutscher Idealismus. Aus dem Englischen und Französischen v. Isolde Charim, Andreas Cremonini, Lydia Marinelli, Peter Widmer und Michael Wiesmüller. Frankfurt a. M. 1998, S. 160. Sabine Kyora: Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens. Würzburg 2007, S. 193. Vgl. Alexander Honold: Das andere Land. Über die Multikulturalität Kakaniens, in: Gunther Martens, Clemens Ruthner, Jaak de Vos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 11), S. 259–275, hier S. 263.

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1. Soliman: Die Konstruktion von Fremdheit als Bestätigung der eigenen Identität Arnheim hat den »kleinen Neger« (MoE, S. 107) Soliman in einer süditalienischen Küstenstadt in einer Gauklertruppe gefunden und für »Gewiß nicht viel!« (MoE, S. 544) gekauft, »in einer Mischung des Wunsches, sich selbst zu schmücken, mit der Anwandlung, eine Kreatur aus der Tiefe zu heben und, indem er ihr das Leben des Geistes erschloß, an ihr Gottes Werk zu tun.« (MoE, S. 97) Arnheims Aneignung der mission civilisatrice entspricht ziemlich genau der auch als white man’s burden bekannten Selbstrechtfertigung des Kolonialismus, wonach die Inbesitznahme der außereuropäischen Welt im Austauschprozess mit der kulturbringenden Mission der Christianisierung stattfindet. Die von Joseph Conrad in Heart of Darkness beschriebene Idee, die den Kolonialismus zu verbrämen habe, steht hier in Analogie zu Arnheims Praxis, »das Geschäft zur Philosophie« zu führen, »denn ohne Philosophie wagen heute nur noch Verbrecher anderen Menschen zu schaden« (MoE, S. 193). Im Verhältnis Arnheims zu Soliman wird auch deutlich, dass die Zuschreibung von Identität als (Zitat Arnheim) »schwarzer Mann« (MoE, S. 544) hier ein Herrschaftsverhältnis begründet. Das aber erklärt sicherlich noch nicht, weshalb Jonsson zu der Einschätzung kommen kann, bei Soliman und Rachel handle es sich »um zwei der enigmatischsten Figuren« Musils.6 Trägt man nur die äußeren Beschreibungen Solimans zusammen, könnte man auf die Idee kommen, der Autor habe aus dem Lehrbuch eines Rassisten geschöpft: »Soliman [. . .] kauerte neben ihr wie eine heiße Tasse Schokolade« (MoE, S. 336), was – wie sein »hochmütigstes Schokoladengesicht« (MoE, S. 337) – den bekannten Sarotti-Mohren heraufbeschwört, der seit 1922 im Handelsregister eingetragen ist;7 Soliman wird weiter als »kleine[r] Affe« (MoE, S. 497) mit »der Melancholie [ ]eines Affenblicks« (MoE, S. 221) bezeichnet, seine Lippen sind wie »breite[ ] Stempelkissen« (MoE, S. 498) usw. Und in der Tat scheint die Figur des Soliman sowohl ein kulturelles Stereotyp aufzurufen wie einen literarischen Topos. Diotima kannte keine unrechten Gedanken, aber wahrscheinlich verbarg sich an diesem Tag vielerlei hinter dem unschuldigen kleinen Mohrenknaben [. . .]. Einst hatte der Adel, hatte die Vornehmheit sich Mohren gehalten; es fielen ihr reizende Bilder ein, von Schlittenfahrten mit bewimpelten Pferden, federgeschmückten Lakaien und reifgepuderten Bäumen (MoE, S. 107).

6 7

Jonsson: Subject, S. 245. Vgl. Ulrich van der Heyden: Der Sarotti-Mohr, in: ders., Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche. Berlin 2002, S. 93–95.

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Dabei ist etwa an die Schlittenfahrt in Fontanes Effi Briest zu denken, bei der einer der Schlitten von Mirambo, »Kohlenprovisor und Faktotum«8 des Apothekers Gieshübler, gelenkt wird, dessen Name auf einen afrikanischen Kriegsfürsten verweist, auf den Fontane in Stanleys Through the Dark Continent gestoßen war.9 Es macht nun wenig Sinn, hier dem Autor Musil eine – wie es dann aber doch geschehen ist – »unreflektierte Übernahme rassistisch gefärbter Klischees«10 vorzuwerfen. Vielmehr ist zu fragen, was eine solche Kennzeichnung, die »nahezu alle Klischees einer ideologisch erstarrten Geringschätzung von Negroiden, die Musil vorfinden konnte«,11 versammelt, für den Text leistet. Musil trägt mit der Figur des Soliman den Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts über Schwarze, Mohren, ›Neger‹ usw. in seinen Roman ein. Das wird schon deutlich am Namen Soliman. Eigentlich hat er einen »langen, sonderbar klingenden Namen, den er so schnell aussprach« (MoE, S. 222), dass Rachel, der er ihn mitteilt, ihn sich nicht merken kann. Er wird dann im Roman auch nicht genannt. Der Name Soliman verweist auf Angelo Soliman, die laut dem österreichischen Historiker Walter Sauer »zweifellos bekannteste (und bis heute faszinierendste) Persönlichkeit afrikanischer Herkunft in der früheren Geschichte Österreichs«.12 Musil kannte die Geschichte des »Hofmohren« Angelo Soliman (um 1721–1796) und seiner »Karriere vom Sklaven zum Hofangestellten, Freimaurer und bürgerlichen Privatier«, der nach seinem Tod ausgestopft und im Wiener Naturhistorischen Museum zur Schau gestellt wurde, aus einem 1922 publizierten Buch über dieses »exotische Kapitel Alt-Wien«, wie der Untertitel lautet.13 Der dort geschilderte Einzug des Fürsten Wenzel Liechtenstein beim Kurfürstentag 1764 in Frankfurt etwa, bei dem auch Soliman dabei gewesen sein muss, erinnert stark an die Gerüchte um Arnheims Ankunft in Wien, von der kolportiert wird, »daß der Nabob mit seinem eigenen Zuge angekommen sei, ein ganzes Hotel gemietet habe und einen kleinen Negersklaven mit sich führe« (MoE, S. 97). Zwar ist die »Wahrheit wesentlich bescheidener«, wie es gleich im Anschluss 8 9

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Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. Hg. v. Christine Hehle. Berlin 1998 (= Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15), S. 95. Vgl. Claudius Sittig: Gieshüblers Kohlenprovisor. Der Kolonialdiskurs und das Hirngespinst vom spukenden Chinesen in Theodor Fontanes »Effi Briest«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), S. 544–563. Richard David Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 1996, S. 216. Precht: Die gleitende Logik der Seele, S. 213. Walter Sauer: Angelo Soliman. Mythos und Wirklichkeit, in: ders. (Hg.): Von Soliman zu Omofuma. Afrikanische Diaspora in Österreich. 17. bis 20. Jahrhundert. Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 59–96, hier S. 59. Wilhelm A. Bauer: Angelo Soliman, der hochfürstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel AltWien. Hg. und eingeleitet v. Monika Firla-Forkl. Berlin 1993.

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heißt, aber es zeigt, dass diese »Chimäre der europäischen Phantasie«14 noch immer ihre Wirkung hat. Auch von Diotima heißt es, dass »der Mohrenjunge [. . .] merkwürdigerweise sogar ihre eigene Phantasie« ergriff (MoE, S. 97). Diese Bewegung der Phantasie ist das Entscheidende. Die Kennzeichnungen von Arnheims schwarzem Diener sagen nichts über dessen ›wahre‹ Identität aus, sondern sind eine Umsetzung des entsprechenden Diskurses in die Wahrnehmungsmodi anderer, entsprechend konstruierter Figuren des Romans, die ihn zum Fremden schlechthin stilisieren, dabei aber eigentlich nur auf das Vertrauteste, nämlich den Diskurshintergrund, vor dem sie sich bewegen, zurückgreifen. Fremdheit fällt somit zusammen mit dem Vertrauten, die Konstruktion von Fremdheit bestätigt die eigene Identität. »Das Fremde«, stellt Ortrud Gutjahr fest, ist »ein Relations- oder Unterscheidungsbegriff zum Eigenen und somit ohne das Eigene gar nicht denkbar und umgekehrt.«15 »Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens [. . .], das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle« (MoE, S. 129), was bei Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, dessen Gedanken die eben zitierte Stelle entstammt, Misstrauen auslöst. Die anderen Figuren, die sich im Gegensatz zu ihm durchaus für ›identisch halten‹, bringen diesen Abstand zum vorgefertigten Diskurs nicht auf. Das »Seinesgleichen geschieht«, womit der zweite Teil des Ersten Buches, in dem von der Parallelaktion berichtet wird, überschrieben ist, ist dann die Selbstperpetuierung der schon bestehenden Diskurse, mit der alle Beteiligten in die Treffen in Diotimas Salon hineingehen. Ergebnis ist das unendliche, um sich selbst kreisende Gerede, das dort stattfindet, eine »institutionalisierte Form der Gesprächigkeit«, »der Diskurstyp der Konversation«16 oder, wie Foucault Entsprechendes ausdrückt, »das Spiel einer Identität, welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat«.17

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Monika Firla-Forkl: Einleitung, in: Bauer: Angelo Soliman, S. 7–24, hier S. 12. Ortrud Gutjahr: Alterität und Interkulturalität. Neuere deutsche Literatur, in: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek b. Hamburg 2002, S. 345–369, hier S. 354. Vgl. auch die Einleitung von Rolf-Peter Janz in: ders. (Hg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt a. M. 2001, S. 7–31. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995, S. 358. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen v. Walter Seitter. Mit einem Essay v. Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 10 2007, S. 25.

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2. Rachel: Die scheinbare Alterisierung Rachels zu »Rachelle« Am deutlichsten wird das in der ersten Begegnung Solimans mit Rachel. Diese wird beschrieben als »kleines Stubenmädchen mit träumerischen Augen« (MoE, S. 95). Ulrich schreibt ihr »[e]twas Arabisch- oder AlgerischJüdisches« (MoE, S. 95) zu. Eigentlich aber stammt sie aus »einer häßlichen Hütte in Galizien«, aus der man sie vertrieben hatte, weil sie schwanger war (MoE, S. 163). Galizien, das bei der ersten Teilung Polens 1772 an Österreich gefallen war und »ab 1849 ein eigenes Kronland im Rang eines Herzogtums« bildete, war an der »entlegenen Peripherie des Reiches gelegen«. Mit seinem Völkergemisch, dem »jüdisch-ukrainisch-polnisch-deutsch besiedelten Ostgalizien« und der »Bukowina, wo noch Rumänen, Ungarn, Slowaken, Armenier, vor allem aber Zigeuner sich unter das Völkergewirr mengten«, war es eigentlich Inbegriff der Multikulturalität Österreich-Ungarns, gerade deshalb aber eher Objekt »bangen Staunen[s]«18 für die Bürger der westlichen, als zentral verstandenen Teile des Reichs. Wie Soliman stereotype Elemente des Schwarzen-Diskurses zugeschrieben werden, so Rachel ebensolche des jüdischen bzw. anti-jüdischen: »Rachel schneiderte und las geläufig, das war ihr jüdisches Erbgut« (MoE, S. 164). Diotima fügt sie noch in einen anderen Zusammenhang ein, der – wie schon bei Soliman – zugleich ein diskursiver wie ein literarisch-intertextueller ist: »es versteht sich von selbst, daß Diotima, wenn sie rief, diesen Namen französisch aussprach« (MoE, S. 97). Mit der Französierung des jüdisch-alttestamentarischen Namens legt Diotima ihre »kleine Zofe« (MoE, S. 97) auf eine vorgefertigte Rolle fest, die sie zu einem Teil des »Seinesgleichen« macht. Damit wird auch das literarische Stereotyp der unerlaubten sexuellen Begegnung im Vorzimmer, das seit Bodel, Boccaccio, Chaucer und La Fontaine zum festen Repertoire einer entsprechenden Literatur gehört und in der klassischen Moderne etwa am Beginn von James Joyces The Dead Verwendung findet, aufgerufen.19 Die scheinbare Exotisierung der galizischen Jüdin, die als solche Angehörige Österreich-Ungarns gleich Kakaniens ist, durch sprachliche Umkodierung – aus Rachel wird »Rachelle« – markiert eigentlich das Gegenteil, nämlich die Negierung der (für die Perspektive der Wiener großbürgerlichen Welt) Fremdheit ihrer Herkunft, »wo an dem Türpfosten der Thorastreifen hing und der Fußboden Spalten hatte, durch die Erde heraufquoll.« (MoE, S. 163) Dies geschieht durch die Festlegung auf eine Schein-Exotik – Rachel wird apostrophiert als »Eidechse« (MoE, S. 95), mit einem »weißen Fellchen« (MoE, S. 220), »ein schlüpfender, beweglicher, begeisterter, undeutscher Mensch« (MoE, S. 495) –, die eigentlich gar keine Fremdheit ist, sondern Manifestation des 18 19

Martin Pollack: Vorwort, in: ders.: Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Frankfurt a. M. 2001, S. 9–12, hier S. 9. Vgl. Gregory L. Lucente: Encounters and Subtexts in »The Dead«. A Note on Joyce’s Narrative Technique, in: Studies in Short Fiction 20/4 (1983), S. 281–287, bes. S. 282 f.

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»Seinesgleichen geschieht«. Die scheinbare Alterisierung Rachels zu Rachelle stabilisiert die wankende Identität Diotimas wie Kakaniens, indem die ›Fremden‹ wie Spiegelbilder ihrer selbst erscheinen. Es war »eine Freude«, heißt es im Text, »sich an Rachels Augensternen zu weiden, die bei jeder Mitteilung flammten und goldenen Spiegeln glichen, die das Bild der Herrin strahlend zurückwarfen.« (MoE, S. 164)20 Der Text macht diese Prozesse als Ergebnis von Signifikation sichtbar, wobei die Anführungszeichen, mit denen der Name »Rachelle« stets versehen wird, eine Distanzierung der Erzählinstanz von dieser Zeichenpraxis nahelegt.21 Was geschieht nun, wenn diese beiden Verkörperungen einer – mit Foucault gesprochen – dispositiven kulturellen Formierung aufeinander treffen? Rachel inszeniert diese Begegnung wie eine ›first contact‹-Szene22 zwischen Europäern und ›Wilden‹: Aber Rachel hatte gedacht, daß man mit ihm in der Mohrensprache reden müsse, und war einfach nicht auf den Einfall gekommen, es deutsch zu versuchen; sie hatte, da sie sich unbedingt verständigen mußte, rundweg den Arm um die Schulter des sechzehnjährigen Jungen gelegt, auf die Küche gezeigt, ihm einen Stuhl hingesetzt und an Kuchen und Getränken herangeschoben, was in der Nähe war. [. . .] »Wie heißen Sie?«, fragte Soliman; da sprach er deutsch! / »Rachelle!« hatte Rachel gesagt und war davongelaufen. (MoE, S. 181)

Rachel reagiert auf den Zusammenbruch vermeintlicher Fremdheit durch die Frage nach ihrem Namen, was ihre eigene Identität in Frage stellt, mit dem Vorschieben ihrer verliehenen Fremdheits-Identität: Rachelle. Die beibehaltene Stilisierung Solimans durch den Diskurs aber macht aus dem Haus Diotimas einen Urwald: Soliman [. . .] begann dann plötzlich mit phantastischen Sprüngen auf Rachels Spur durch das fremde Haus zu setzen. [. . .]. Er [. . .] ruderte durch das Halbdunkel [die Vorhänge sind zugezogen, A. D.] wie durch Blätterdickicht. [. . .] Rachel brach jedesmal beinahe das Herz ab, über solche Keckheit und beschworene Gefahr, sobald sich irgendwo das Halbdunkel zu einem schwarzen Gesicht verdichtete, aus dem zwei weiße Zahnreihen aufleuchteten. (MoE, S. 337 f.)

Diese Verdichtung des Fremdheits-Diskurses setzt sich fort, wenn das heimliche Eindringen Solimans und Rachels in Arnheims Hotelsuite Rachel dann vollends wie eine ethnologische Expedition erscheint: »[D]a wurde ihr nicht anders zumute wie einem Forscher, der durch eine unbekannte, vielleicht gefährliche Insel irrt und zum erstenmal auf Menschen stößt« (MoE, S. 498 f.), nur dass sie gemeinsam mit einem solchen Menschen, den sie selbst zu ei20

21 22

Ähnlich heißt es später für das Verhältnis Arnheim – Soliman: Arnheim »schritt mit verschlossener Miene im Zimmer auf und ab, und die schwarze Scheibe des Gesichts [Solimans, A. D.] drehte sich ihm nach.« (MoE, S. 541) Mein Dank gilt hier und an anderen Stellen Jan Beek für interessante Ideen. Vgl. Klaus R. Scherpe: Die First-Contact-Szene. Kulturelle Praktiken bei der Begegnung mit dem Fremden, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), S. 54–73.

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nem solchen gemacht hat, unterwegs ist und dort auf gar nichts wirklich Fremdes stoßen kann, weil es ihre eigene durch die Lektüre von Romanen, die Diotima ihr überlassen hat, angeregte Phantasie ist, durch die sie sich hindurchbewegt. Der Raum des Hotels – in realen Reisen in die außereuropäische Welt ein heterotopischer Ort des Immergleichen im Fremden, der »für die permanente Präsenz der Ersten in der Dritten Welt« steht23 – wird hier zum Schauplatz einer performativen Verräumlichung entsprechender Diskurse, die in der Performation sich immerfort fortzeugen. Das Gerede der Parallelaktion und das Gehabe Solimans und Rachels stehen somit in Analogie zueinander. Dazu passt, dass die beiden körperlich lange Zeit gar nichts miteinander anzufangen wissen: »Sie war in ihrem Edelmut kindlicher geworden, wurde durch ihn gleichsam wieder in die Zeit vor der Geschlechtsreife zurückversetzt« (MoE, S. 500). Auch aus der Parallelaktion geht lange Zeit keine Aktion hervor, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, der in den entstandenen Partien des fragmentarischen Romans nicht mehr erzählt wird, obwohl Musil das geplant haben muss. In den Entwürfen zum Essay Der deutsche Mensch als Symptom von 1923 verwirft Musil explizit alle »Rassen-›Theorien‹« (GW 8, S. 1366): »Ich glaube nicht an den Unterschied des deutschen Menschen vom Neger.« (GW 8, S. 1364) Ich will behaupten, daß ein Menschenfresser, als Säugling in europäische Umgebung eingepflanzt, wahrscheinlich ein guter Europäer würde, und der zarte Rainer Maria Rilke ein guter Menschenfresser geworden wäre, wenn ihn ein uns ungünstiges Geschick als kleines Kind unter Südseeleute geworfen hätte. (GW 8, S. 1372)

Begriffe wie »Rasse und Kultur, Volk und Nation«, heißt es dort, sind »Produkte und nicht Produzenten.« (GW 8, S. 1366) »Der Mensch existiert nur in Formen, die ihm von außen geliefert werden [. . .]; er preßt sich in ihre Hohlform« (GW 8, S. 1370). Diese Hohlform ist im Mann ohne Eigenschaften der Diskurs, der ein Dispositiv erstellt, das vor dem Hintergrund weniger äußerer Merkmale – Hautfarbe, Beruf, Herkommen, gesellschaftliche Stellung – den Menschen bestimmt. Der Roman zeigt im Unterschied zum eben zitierten Essay, dass diese Hohlform im Plural zu denken ist, variabel. So kann Soliman, wenn diese Seite seiner Herkunft in einer bestimmten Situation überwiegt, wegen seiner Jugend in Berlin auch als »verdorbener junger Berliner, den die Frauen [. . .] verwöhnten« (MoE, S. 180), auftreten. Die Identitätskategorien sind somit »Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen«24 , wie Judith Butler es vor dem 23

24

Paul Michael Lützeler: Einleitung: Der postkoloniale Blick, in: ders. (Hg.): Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–33, hier S. 19. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen v. Kathrina Menke. Frankfurt a. M. 2003, S. 9.

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Hintergrund der Foucault’schen Genealogie der Macht für Gender-Identitäten beschrieben hat. Kulturell-kollektive – und in Abhängigkeit davon auch individuelle – Identität ist nichts Fixiertes, sondern konstituiert sich immer wieder neu. Butler lässt in der Radikalisierung dieser Feststellung noch die Körperlichkeit des Menschen hinter den performativen Aktualisierungen der Diskurse zurücktreten. Vergleichbares, nur nicht auf Gender-Aspekte bezogen, lässt sich auch im Mann ohne Eigenschaften beobachten: Wenn Rachel das warme Wasser mischte, Seife schäumen ließ oder mit dem Frottiertuch Diotimas Körper so dreist abtrocknen durfte, als wäre es ihr eigener Körper, so machte ihr das viel mehr Vergnügen, als wenn es wirklich bloß ihr eigener Körper gewesen wäre. (MoE, S. 167)

Diotima, die mit dem Namen ›Rachelle‹ ihrer Zofe eine künstliche Identität verleiht, was natürlich auch einer Bemächtigungspraxis gleichkommt, löscht selbst noch die Körperidentität ihrer Dienerin aus. Für die Konstruktion von Musils Roman bemerkenswert ist allerdings auch die Tatsache, dass mit Rachel hier in gewisser Hinsicht etwas antizipiert wird, was mit Diotima im dritten Teil des publizierten Romans geschieht. Statt eine körperliche Verbindung mit Arnheim, in den sie sich verliebt hat, anzustreben, studiert sie als Ersatzhandlung Sexualratgeber, deren Lektüre die körperliche Performanz des Gelesenen völlig in den Hintergrund treten lässt. Die Partizipation am Diskurs über die Sexualität – etwa im Dialog mit der als Nymphomanin apostrophierten Figur der Bonadea – ersetzt Sexualität selbst. »[S]elbst unsre Gefühle«, heißt es in Der deutsche Mensch als Symptom, »formen sich wie Flüssiges in Gefäßen, welche Generationen gebildet haben« (GW 8, S. 1380). »Das Ich ist unrettbar«,25 ließe sich mit dem für Musil so wichtigen Ernst Mach anfügen, nur dass das im Roman eine andere Wendung bekommt.

3. Soliman und Rachel. Identitätskategorien als Effekte und die selbstreflexive Form des Romans Bisher sollte deutlich geworden sein, dass Rachel und Soliman mehr sind als nur Figuren, an denen Formen »weitgehend fremdbestimmter Identitätsbildung«26 exemplifiziert werden können, dass mit Rachel ein »antisemitische[s] Klischee [. . .] ad absurdum geführt«27 wird, dass sie wahlweise die 25 26 27

So das berühmt gewordene Schlagwort aus Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena 9 1922, S. 20. Stefan Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils. München 1984, S. 308. Friedrich Bringazi: Robert Musil und die Mythen der Nation. Nationalismus als Ausdruck subjektiver Identitätsdefekte. Frankfurt a. M. 1998, S. 537.

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Liebesaffäre zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe parallelisieren28 bzw. auf einer niedrigeren Stufe einlösen, was Arnheim und Diotima nicht vergönnt ist, oder dass Soliman Arnheims Triebnatur verkörpere, was sich auf eine Aussage über Arnheim berufen kann: »Also sprach Arnheim mißbilligend von der Begehrlichkeit und fühlte sie indes wie einen geblendeten Sklaven im Kellergeschoß rumoren.« (MoE, S. 503) All das erklärt nicht, dass wichtige Szenen des Romans in engem Zusammenhang mit einer der beiden Dienerfiguren stattfinden. So situiert Musil das einzige tête-a-tête zwischen Diotima und Ulrich, bei der die große Salondame überlegt, ob sie sich »wie eine Dirne benehmen« oder »flennen« (MoE, S. 477) soll, in Rachels Kammer. Hier erläutert Ulrich, die Persönlichkeit werde »bald nicht mehr sein als ein imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen« (MoE, S. 474), was Rachels und Solimans Existenz als Schnittpunkt verschiedener Diskurse auf den Begriff bringt. Und noch die letzte Szene des zweiten Bandes, die den Schluss des zu Lebzeiten von Musil publizierten Teils des Mann ohne Eigenschaften darstellt, spielt in Anwesenheit Rachels und Solimans in der Küche Diotimas. Wesentlich bemerkenswerter – und erklärungsbedürftiger – aber ist etwas anderes. Die beiden Dienerfiguren, die sich während der Versammlungen der Parallelaktion in Diotimas Salon im Vorzimmer aufhalten, betrachten das Geschehen wiederholt durchs Schlüsselloch. »›Sind österreichische Generale dabei?‹ fragte er [i. e. Soliman]. / ›Sehen Sie selbst!‹ sagte Rachel. ›Einer ist schon da‹; und sie gingen miteinander zum Schlüsselloch.« (MoE, S. 181) Wie sich später herausstellt, haben die beiden dafür gesorgt, dass General Stumm von Bordwehr, der eine zentrale Rolle in der Parallelaktion spielen wird, überhaupt dazu eingeladen wird. Da fiel denn der Blick bald auf ein weißes Papier, bald auf eine Nase, bald ging ein großer Schatten vorbei, bald glänzte ein Ring auf. Das Leben zerfiel in helle Einzelheit; man sah grünes Tuch sich wie einen Rasen erstrecken; eine weiße Hand ruhte ohne Gegend, irgendwo, wächsern wie in einem Panoptikum; und wenn man ganz schief durchblickte, konnte man in einer Ecke die goldene Säbelquaste des Generals glimmen sehn. [. . .] Märchenhaft und unheimlich schwoll das Leben an, durch einen Türspalt und eine Einbildung gesehen. (MoE, S. 181)

Das Bild des Salons zerfällt in einzelne Segmente, die sich unkontrolliert zu bewegen scheinen, die Inhalte, die dort verhandelt werden, sind nicht zu verstehen: »in flächenhafte Teile aufgelöst, schwammen die Personen darin, und die Stimmen waren nicht mehr in den schmalen Rand der Worte gefaßt, sondern wucherten als sinnloser Klang« (MoE, S. 336). Dennoch fasst Rachel ihre Wahrnehmungen auf bemerkenswerte Weise zusammen: »›Daraus kann auch ein Krieg werden!‹ hatte Rachel erregt hinzugefügt, und als höchste Steigerung kam nun ihre Meldung vom Schlüsselloch, daß es fast schon so28

Jonsson: Subject, S. 245.

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weit sei.« (MoE, S. 181) In einer späten Aufzeichnung zur Fortsetzung des Romans notiert Musil 1932: »Grundidee: Krieg. Alle Linien münden in den Krieg.« (MoE, S. 1851) Wie ist es zu erklären, dass eine scheinbar nebensächliche Nebenfigur wie Rachel im Dialog mit Soliman zu einem frühen Zeitpunkt des Romans dessen »Grundidee« und ganze Entwicklungsrichtung auf den Punkt bringt? Was Rachel durch das Schlüsselloch erblickt, eine Fläche, in der Personen schwimmen, und in der der Klang der Worte zum sinnlosen Geräusch geworden ist, was diese, sich durch die Abwesenheit von Reflexionsfähigkeit auszeichnende Figur auf den Begriff des Krieges bringt, entspricht der von Ulrich formulierten metatextuellen Kennzeichnung von Musils Romanprojekt. »Die meisten Menschen«, stellt Ulrich fest, lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ›Lauf‹ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (MoE, S. 650)

Wenn der Text hier, wie man häufig festgestellt hat, seine eigene Poetik selbstreflexiv erklärt, dann stellt das von Rachel und Soliman durchs Schlüsselloch Wahrgenommene wie in einem mise en abyme das ganze Romanprojekt mitsamt seiner Zielrichtung dar. Wenn man mit Walter Moser den Roman Der Mann ohne Eigenschaften als eine »Diskurs-Enzyklopädie« versteht, die »die Diskursgewohnheiten einer gegebenen Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt«29 aufzeichnet, so entsprechen diese beiden Figuren im besonderen Maße den Diskursgewohnheiten Kakaniens vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs: Als Verkörperungen von (interkulturellen) Spezialdiskursen bilden sie eine Art interdiskursives literarisches Selbst-Bewusstsein des Romans, das sich nicht in Begriffen, sondern in der Überwucherung des Narrativen durch das Essayistische – gewissermaßen flächig – realisiert. Soliman und Rachel stehen für die wechselseitige Affirmation und Negierung von Fremdheit, stets bezogen auf ein imaginäres Zentrum Kakaniens, in dem sich die Parallelaktion bewegt und ein phantasmatisches »Weltösterreich« hervorbringen soll, in dem die Nationen »so in höherer Einheit leben wie die österreichischen Stämme in ihrem Vaterland.« (MoE, S. 174) Tatsächliches Resultat ist der Krieg und damit die Realisierung der Interessen des Generals Stumm von Bordwehr und des Zugriffs Arnheims auf die galizischen Ölfelder. Das soll nun nicht heißen, der Roman ginge in diesen beiden Figuren, die meiner Interpretation nach eines der versteckten Zentren des Buches bil29

Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 170–197, hier S. 188.

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den, auf. Sie sind doppelte Erzeugnisse, einerseits der kakanischen Diskurse, andererseits des Romans, der sie aus diesen Diskursen als Figuren generiert. Die Erzählweise des Romans zeichnet sich durch Ironie aus – die Rachel und Soliman völlig abgeht –, d. h. durch einen reflexiven Abstand des Erzählens (und eingeschränkt Ulrichs) zum Regime der Diskurse, das in der Parallelaktion als »Seinesgleichen geschieht« flächenhaft arrangiert wird. Der Krieg als Realisierung der Diskurse – man denke an Karl Kraus’ berühmte Sentenz aus den Letzten Tagen der Menschheit: »Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines«30 – zerschlägt diesen Abstand, was für Musil, der nach dem Krieg schreibt, eine der grundsätzlichen Schwierigkeiten ausmacht. Der Krieg ist auch – aber eben nicht nur – ein Diskursereignis.

30

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. München 7 1980, Bd. 1, S. 5.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹ Arnheims phönikischer Schädel im Kontext antisemitischer Rassendiskurse Abstract: The Jewish character Arnheim in Musil’s The Man Without Qualities is described in the novel as ›Phoenician‹ from two different character-perspectives. If one reconstructs the discursive preconditions which allow for such anachronistic ethnic delineation, this suggests that ›Jews‹ and ›Phoenicians‹ are metonymic in many contemporary texts of quite different origin. Musil’s novel thus prompts its readers to identify a completely acculturated Jew in racial terms, even if he actually and ostensibly does ›not look in the least Jewish‹.

1. Zwischen 1874 und 1884 wurden im Deutschen Reich unter der Leitung des preußischen Anatomen und Anthropologen Rudolf Virchow an genau 6 758 827 Schulkindern Haut-, Haar- und Augenfarbe untersucht.1 Provoziert worden war diese gigantische Untersuchung u. a. durch die These Armand de Quatrefages’, dessen anthropologisches Museum in Paris 1870 von deutschen Truppen schwer beschädigt worden war, die Preußen seien rassisch Finnen oder Finno-Slawen, d. h. eine dunkle und kurzschädelige, minderwertige Rasse:2 »vorgeschichtliche Menschen«, die zur selben Zeit in Europa ansässig gewesen seien »wie das Nashorn und der Elefant, das Ren und der Moschusochse«.3 Das exorbitante statistische Material sollte aber nicht nur diese Vorstellung widerlegen, sondern Aufschluss über Unterschiede zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Kindern geben. Tatsächlich ermöglichten die Statistiken den Nachweis, dass es eine reine ›germanische‹ 1

2

3

Vgl. Rudolf Virchow: Gesamtbericht über die von der deutschen anthropologischen Gesellschaft veranlaßten Erhebungen über die Farbe der Haut, der Haare und der Augen der Schulkinder in Deutschland, in: Archiv für Anthropologie. Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 16 (1886), S. 275–475, hier S. 283–285, 369. Vgl. Erwin H. Ackerknecht: Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe. Stuttgart 1957, S. 174–178; Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Wien, München, Zürich 1977, S. 303–309; George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt a. M. 1990, S. 112–115. Armand de Quatrefages: La race prussienne. Paris 1871; zit. nach: Poliakov: Der arische Mythos, S. 303.

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oder ›jüdische‹ Rasse nicht oder nicht mehr gab. Den jüdischen Schulkindern, die in den Formularen der deutschen Gesellschaft für Anthropologie separat erfasst wurden, führten die Untersuchungen dennoch »ihren Minderheitenstatus und ihre angeblich unterschiedlichen Ursprünge vor Augen«.4 Eigentlich hätten Virchow und die Gesellschaft für Anthropologie jedoch nicht die Haar-, Haut- und Augenfarbe, sondern die Schädelformen der Kinder und Jugendlichen erforschen wollen.5 Aber den anthropometrisch unausgebildeten Lehrern an den Schulen trauten die Anthropologen die Durchführung von Schädelindexberechnungen nicht zu.6 Im Mann ohne Eigenschaften nun wird gerade die Schädelform an einer preußischen Figur exponiert, die realiter zur Altersgruppe gehört hätte, die in Virchows Statistiken erfasst wurde. Während der ersten großen Sitzung der Parallelaktion, an der Ulrich dem »gegen fünfzig Jahre alt[en]« (MoE, S. 382) Juden Paul Arnheim erstmals begegnet, registriert er mit kraniometrischem Blick dessen »phönikisch harte[n] Herrenkaufmannsschädel« (MoE, S. 178). Mindestens für Ulrich scheint diese »bemerkenswert[e]« »Einzelheit[ ] der Physiognomie« (MoE, S. 178) als ein Körperzeichen zu funktionieren, das im Sinn der komplexitätsreduzierenden Versprechen der Phrenologie unmittelbar auf bestimmte Eigenschaften des »Kaufmann[s]« (MoE, S. 192, 409, 571) verweist. Das soziale Herkunftsmilieu Arnheims, aber auch seine »Herrennatur« (MoE, S. 470) und die führende gesellschaftliche Rolle, mit der sich dieser aristokratisierende, »inkorrekt vornehme[ ] Bürgerliche[ ]« (MoE, S. 107) identifiziert, sind aus seinem ›Schädel‹ unmittelbar ableitbar. Als Sohn eines »königlichen Kaufmann[s]« (MoE, S. 389), des »mächtigste[n] Beherrscher[s] des ›eisernen Deutschland‹« (MoE, S. 96) vertritt er im Mann ohne Eigenschaften eine wirtschaftliche Elite, deren Netzwerke nicht mehr an nationalstaatliche Grenzen gebunden sind und die den Habitus und die Repräsentationsformen der feudalen ›Herren‹ imitiert, deren Macht sie beerbt – Arnheim am ostentativsten, indem er sich mit Soliman als Diener ganz unzeitgemäß gewissermaßen einen ›Hofmohren‹ hält. Ungleich größer erscheint das Irritationspotential des Epithetons ›phönikisch‹, mit dem Ulrich den »Herrenkaufmannsschädel« kraniologisch klassifiziert. Er zitiert damit eine atavistische ethnische Kategorie, die trotz ihrer Ausgefallenheit Arnheim merkwürdigerweise schon siebzig Seiten früher aus einer Figurenperspektive zugeschrieben wird, die mit Ulrichs eigener gewöhnlich gar nicht kompatibel ist. Bereits Diotima bemerkt bei ihrer ers4 5 6

Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 114. Vgl. Anonymus: Protocoll, in: Correspondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 6–10 (1871), S. 41–80, hier S. 53. Vgl. Christian Geulen: Blonde bevorzugt. Virchow und Boas: Eine Fallstudie zur Verschränkung von ›Rasse‹ und ›Kultur‹ im ideologischen Feld der Ethnizität um 1900, in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 147–170, hier S. 154; Andrew Zimmerman: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago 2001, S. 135 f.

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ten Begegnung mit Arnheim »entzückt«, dass dieser »nicht im geringsten jüdisch aus[sieht], sondern ein vornehm bedachter Mann von phönikischantikem Typus« ist (MoE, S. 109). Diese identische ethnische Verortung ist umso auffälliger, als beide Figuren mit ganz unterschiedlichen Phantasien von »Ähnlichkeit« (MoE, S. 108) und Differenz, mit ganz verschiedenen Erwartungshaltungen an Arnheim herantreten. Beide haben, als sie Arnheim zum ersten Mal begegnen, schon »viel von [ihm] gehört« (MoE, S. 177); und sie haben, als sie seine physische Erscheinung entziffern, auch die »Bücher und Abhandlungen« (MoE, S. 191) bereits gelesen, die der Großindustrielle schreibt, wenn er sich in seinen »Mußestunden« in einen nicht minder erfolgreichen »Großschriftsteller« verwandelt (MoE, S. 429). Ihre Lektüren dieser »Bücher« über »nichts Geringeres als gerade die Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht« (MoE, S. 108) unterscheiden sich aber grundlegend. Als Ulrich das »bemerkenswert[e]« Äußere Arnheims kategorisiert, gibt ihm der »unermeßlich«, »über die Maßen reiche[ ]« »große Finanzmann« (MoE, S. 96, 185) längst eine Negativfolie ab. Er kann »das Muster Arnheim«, diese »Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit« »nicht ausstehen«, »schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsätzlich« (MoE, S. 176). Diotimas Begegnung mit Arnheim hingegen steht im Zeichen einer »wundersame[n] Ähnlichkeit« (MoE, S. 108), die sich bekanntlich aus dem eher profanen Umstand ergibt, dass beide Figuren die gleichen vernunft- und modernitätskritischen Seelendiskurse einer Ellen Key, eines Maurice Maeterlinck oder Walther Rathenau reproduzieren. Als der »berühmte Ausländer« der sozialen Aufsteigerin in einem »Einführungsschreiben« mitteilen lässt, den »Ruf ihres Geistes« zu kennen und ihrem Wiener Haus vor allen anderen aufzuwarten, fühlt sie sich durch diese Bevorzugung »ausgezeichnet wie ein Schriftsteller, der zum erstenmal in die Sprache eines fremden Landes übersetzt wird« (MoE, S. 108 f.). Dass trotz der sehr unterschiedlichen Konstellationen, in denen beide zu Arnheim stehen, sowohl Ulrich wie auch Diotima unabhängig voneinander Arnheims ›Schädel‹ oder »Typus« als »phönikisch« bestimmen, vergrößert natürlich den Nachdruck, der auf dieses allem Anschein nach eindeutig klassifizierbare somatische Merkmal zu liegen kommt. Zugleich sagt die analogische Benennung etwas über die Figuren aus, zwischen denen die ethnische Kategorie zirkuliert. Beide haben offenbar nicht nur Arnheims Texte gelesen, sondern sind auch mit den anthropologisch-archäologischen Diskursen der Zeit vertraut, die ihre Wahrnehmung strukturieren. Sie schöpfen mithin aus einem gemeinsamen Vorrat an ›Wissen‹ über vergleichende Anatomie, das in der Handlungs- und Entstehungszeit von Musils Roman Konjunktur hatte, und scheinen geneigt, dieses ›Wissen‹ im lebensweltlichen Alltag auch einzusetzen. Die Forschung freilich ist diesem ›Wissen‹ bis anhin nicht nachgegangen und hat sich dem Erklärungsdruck nicht gebeugt, den das Epitheton »phönikisch« eigentlich erzeugt. Sie hat noch nicht ver-

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sucht, die Bedingungen zu rekonstruieren, die es überhaupt ermöglichten, dass der preußische Jude Arnheim ausgerechnet als Phönizier Eingang in Musils Roman finden konnte, und sich nicht gefragt, welche durchaus widersprüchlichen Vorstellungen seine ethnische Verortung abruft und welche stillschweigenden Voraussetzungen diese verschiedenen Vorstellungen dennoch teilen. Insbesondere hat sie auch in den einschlägigen Arbeiten zur Repräsentation des Antisemitismus im Roman nicht oder nur nachlässig sondiert, wie sich ein phönikischer ›Schädel‹ oder »Typus« zur Frage verhält, die auch in Virchows eingangs zitierter Studie schon im Zentrum des Interesses stand und die sich einem zeitgenössischen Stadtführer gemäß als allererste stellte, wenn man in den Straßen Wiens einem Passanten begegnete: »Ist er ein Jud?«7 Schon die Rekonstruktion der Bedeutung und Funktion, welche den Phöniziern in griechisch-antiken Diskussionen über das Fremde zukam, fördert durchaus Analogien zu gängigen antisemitischen Topoi zutage. Kein geringerer als Herodot, der »Vater der Geschichtsschreibung«,8 führt an prominentester Stelle, am unmittelbaren Beginn seiner Historien, die Ursache der fortwährenden »Auseinandersetzung« zwischen »Griechen und Nichtgriechen«, zwischen ›Okzident‹ und ›Orient‹, auf einen Frauenraub der Phönizier zurück, wobei er diese Schuldzuweisung über den rhetorischen Kniff objektiviert, sie einer den Phöniziern eigentlich verbundenen Partei in den Mund zu legen: Er für seine »Person möchte darüber keine Aus7

8

Ludwig Hirschfeld: Das Buch von Wien. Was nicht im Baedeker steht. München 1927, S. 56. Für Barbara Neymeyr z. B. ist Diotimas Feststellung über Arnheims »Typus« Ausdruck »der genußvollen wechselseitigen Selbstbespiegelung der beiden antikisch modellierten Figuren«. Dies.: Antikisierte Moderne – modernisierte Antike. Zur Idealismus-Problematik in Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Olaf Hildbrand, Thomas Pittrof (Hg.): ». . . auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Freiburg i. Br. 2004, S. 401– 417, hier S. 406. Franka Marquardt geht ebenfalls davon aus, dass Arnheim als Phönizier »hellenisch aussehe[ ]«. Dies.: Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Münster, Hamburg, London 2003, S. 62 f. Hildegard Hogen bemerkt zwar, das Phönikische spiele auf Arnheims »Tätigkeit als Geschäftsmann an«, die Phönizier würden »als Volk der Händler in der Antike« gelten, bringt diese Vorstellung aber nicht mit Arnheims jüdischer Herkunft in Verbindung. Dies.: Die Modernisierung des Ich. Individualitätskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti. Würzburg 2000, S. 112, Anm. 127. Nur Peter Sprengel schreibt in seinem Aufsatz über die ›fremden Blicke‹ Hauptmanns auf Walther Rathenau, der Sinn des »sondern« in Diotimas Beobachtung sei »wohl gerade, das Phönizische als heroisch-erhabene Variante des Jüdischen zu beglaubigen«. Ders.: Phantom des Reichstags: fremde Blicke Hauptmanns auf Rathenau, in: Zeitschrift für Germanistik 8/1 (1998), S. 97–107, hier S. 106. Und Friedbert Aspetsberger erwähnt in seiner Arnolt-Bronnen-Biographie sogar en passant, das Phönikische von Arnheims Schädel sei »auch ein Begriff des antisemitischen Diskurses« gewesen. Ders.: ›arnolt bronnen‹. Biographie. Wien, Köln, Weimar 2004, S. 360. M. Tullius Cicero: De legibus, in: ders.: De legibus. Paradoxa Stoicorum. Lateinisch und deutsch. Hg., übersetzt und erläutert v. Rainer Nickel. Zürich 1994 (= Sammlung Tusculum), S. 11 (1,5).

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sage machen, dass es so oder anders geschehen sei«.9 Aber ausgerechnet die »persischen Weisen«,10 die doch »Asien [. . .] und die dort wohnenden nichtgriechischen Volksstämme [. . .] für sich« beanspruchten,11 würden »behaupten, den Phoinikern sei die Schuld an der Auseinandersetzung zuzuschreiben«.12 Sie hätten die argivische Königstochter Io entführt, »und dies sei der Anfang der Feindseligkeiten gewesen«,13 die schließlich zum trojanischen Krieg geführt hätten. In der Odyssee liegt ein ähnliches Muster vor. Im vierzehnten Buch erzählt Odysseus, um seine wahre Identität zu verbergen, dem Schweinehirten Eumaios eine erfundene Geschichte über seine Herkunft. In dieser Geschichte, die als Teil seiner Verhüllungstaktik wohl besonders gezwungen ist, einem vorherrschenden kulturellen plot zu folgen, behauptet Odysseus, ein »phönikischer Mann« (»ein arger Betrüger / Und Erzschinder, der viele Menschen ins Elend gestürzt hat«) habe ihn zu sich nach Phönizien eingeladen, ihn dann jedoch in Libyen verkaufen wollen, um »großen Gewinn zu erwerben«.14 Und schon im nächsten Buch erfährt man, dass es sich bei Eumaios seinerseits um einen Königssohn aus Syria handelt, der als Kind von listigen phönizischen Händlern (»berühmt in der Seefahrt / Und Erzschinder«) entführt und nach Ithaka verkauft wurde, nachdem sie »ein ganzes Jahr« lang in seinem Herkunftsland »unzählige Güter« zusammengekauft hatten.15 In beiden Texten wird den Phöniziern demnach die Position eines komplementären ›Anderen‹ zugewiesen, das kollektiven hellenischen Werten, dem Selbstverständnis und way of life der Griechen antithetisch gegenübersteht. Besonders in der Odyssee fungieren die Phönizier als Projektionsschirm für Ängste und Probleme, mit denen sich die aufkeimenden griechischen Stadtstaaten selbst zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert v. Chr. angesichts eines raschen politischen, ökonomischen und sozialen Wandels konfrontiert sahen.16 Die Phönizier, mit denen die Griechen im Wettbewerb um Märkte und Ressourcen standen, verstoßen dem Profit zuliebe gegen griechische Ehrenkodizes, täuschen Freundschaft und Gastfreundschaft nur vor. Ihre Geschäftspraktiken erscheinen als korrupt und korrumpierend. Sie 9 10 11 12 13 14 15 16

Herodot: Historien. Erstes Buch. Griechisch/Deutsch. Hg. v. Kai Brodersen, übersetzt v. Christine Ley-Hutton. Stuttgart 2002, S. 11 (I. Buch, 1,1). Herodot: Historien, S. 11 (I. Buch, 1,1). Herodot: Historien, S. 15 (I. Buch, 4,4). Herodot: Historien, S. 11 (I. Buch, 1,1). Herodot: Historien, S. 13 (I. Buch, 2,1). Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung v. Johann Heinrich Voß. Frankfurt a. M. 1990, S. 696 (14. Gesang, Verse 288 f., 297). Homer: Ilias. Odyssee, S. 716 f. (15. Gesang, Verse 414 f., 418, 455). Vgl. Irene J. Winter: Homer’s Phoenicians: History, Ethnography, or Literary Trope? [A Perspective on Early Orientalism], in: Jane B. Carter, Sarah P. Morris (Hg.): The Ages of Homer. A Tribute to Emily Townsend Vermeule. Austin 1995, S. 247–272, hier S. 263.

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zeigen völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität der Ware, mit der sie handeln. Sie repräsentieren so etwas wie eine Vor- oder Frühform eines gewinnsüchtigen Kapitalismus, der sich um hergebrachte ethische und soziale Normen, um Gesetze und die Konsequenzen seines Handels und Handelns nicht kümmert. Strukturell besetzen sie eine Gegenposition insbesondere zum heroischen Odysseus, der zwar auch als trickster dargestellt wird, aber die traditionellen griechischen social codes respektiert.17 Innerhalb dieser Repräsentationsstrategie verkörpern die Phönizier als profitgierige, verräterische, gesetzlose und bedrohliche ›Barbaren‹ mithin eine Alterität, die für griechische Identität konstitutiv ist und die gleichzeitig einen frühen Ableger respektive einen der Ausgangspunkte des westlichen Orientalismus bildet.18

2. Die nachhaltige Wirkung dieser Stereotypisierungen verrät schon ein Blick in eine der populärsten Quellen des modernen Rassendenkens, in Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, aus denen sich auch Musil einige Exzerpte anlegte (vgl. Tb I, S. 491–493, 530– 532). Chamberlain hält darin dem phönizischen »Handel und Götzendienst« die »Wissenschaft und Kultur« der »Hellenen« entgegen.19 Er bezeichnet die Phönizier als »Räuber[ ]« von geradezu »entsetzenerregend[er]« »geistige[r] Unfruchtbarkeit«, die im Unterschied zu den Hellenen keine »künstlerischen Grosstaten« zuwege gebracht, »stets nur auf Handelsobjekte [ge]fahnde[t]« und »bei fremden Völkern im Interesse ihres Handels künstliche Bedürfnisse grosszuziehen« verstanden hätten.20 Dabei kann Chamberlain selbst aus Theodor Mommsens Römischer Geschichte zitieren, trotz der Diskrepanz zwischen ihren ›kulturellen Codes‹ und obgleich er sich bei anderer Gelegenheit nicht scheute, gegen Mommsen zu polemisieren.21 Denn Mommsen sah seinerseits in der »Verfassung« des phönizischen Karthago nichts weiter als ein »Capitalistenregiment« und sprach den Phöniziern im Gegensatz zu »uns Occidentalen«, zu den ›indogermanischen Nationen‹, »de[n] staatenbildende[n] Trieb, de[n] geniale[n] Gedanke[n] der sich selbst regierenden Freiheit« ab.22 17 18 19 20 21 22

Vgl. Winter: Homer’s Phoenicians, S. 257. Vgl. Winter: Homer’s Phoenicians, S. 263. Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. München 11 1915, S. 889. Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 159, 163, 840. Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Der voraussetzungslose Mommsen, in: Die Fackel 3/87 (1901), S. 1–13. Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Berlin 31861, Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna, S. 479 f., 491.

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Allerdings treten die Phönizier bei Chamberlain nur noch als Stellvertreter einer anderen outgroup und Rasse in Erscheinung, denn viel prominenter werden in den Grundlagen bekanntermaßen die Juden in die Position eines konstitutiven Außen gerückt. Chamberlains Hauptwerk, das zwischen der Erstpublikation 1899 und 1944 in nicht weniger als 29 Auflagen gedruckt wurde, stammt ja aus genau der Zeit, in welcher der rassistisch begründete Antisemitismus zu einem der Leitdiskurse der Epoche geworden war. Weil sich die Sammlung an antiphönizischen Stereotypen, wie sie bei Herodot und in der Odyssee nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern mitkonstituiert wurden, mit den um die Jahrhundertwende verbreiteten, im engeren und eigentlichen Sinn antisemitischen überschneiden, geht die Stellvertreterfunktion der Phönizier bei Chamberlain so weit, dass er Unterschiede zwischen ihnen und Juden beinahe vollständig nivelliert: Rassisch soll es sich bei beiden um »pseudosemitische[ ] Mestizen« handeln;23 und zeitlich stellt er sie in ein Nachfolgeverhältnis zueinander. Die Phönizier erscheinen sozusagen als ›verschobene‹ Juden, als weitläufig tätige und vernetzte Protokapitalisten der Antike, deren Erbe die Juden antraten. Sie sollen explizit »gewissermassen Juden« gewesen sein, »die niemals Propheten gekannt« haben.24 Wie sehr diese Verknüpfung von Phöniziern und Juden und damit auch Diotimas und Ulrichs Wahrnehmung von Arnheim als einem Phönizier von einer tief verankerten kollektiven Phantasie gesteuert wird, bekräftigt aber auch ein Text ganz anderer Provenienz: Freuds Traumdeutung. In deren fünftem Kapitel, in einer Reihe von Träumen, die alle Freuds sogenannte »Rome neurosis«,25 seinen Wunsch, endlich einmal Rom zu sehen, ausdrücken, werden Juden und ein Phönizier ebenfalls aufeinander bezogen. Freud interpretiert seine Romträume als eine Wunscherfüllung, die auf seiner jugendlichen Identifikation mit dem Phönizier Hannibal basiere, der weit mehr als nur individualpsychologische Bedeutung zukommt. Motiviert sieht er seine »Schwärmerei für den karthagischen General« besonders in ersten Erfahrungen seiner jüdischen Alterität, seinem »erste[n] Verständnis für die Konsequenzen der Abstammung aus landesfremder Rasse«.26 Hannibal bietet sich ihm als ein Modell eines »semitischen Feldherrn« an, das er antisemitischen Anfeindungen entgegenhalten kann und dessen Bedeutung sich ihm im Kontext des zunehmend virulenten rassistischen Antisemitismus nachgerade zur »Fixierung« entwickelt.27 Der heroische Phönizier wird ihm zum »Deckmantel und Symbol« für die »Zähigkeit« ausdrücklich »des Judentums«, die 23 24 25 26

27

Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 441. Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 163. Carl E. Schorske: Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture. New York 1980, S. 190. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud, Edward Bibring, Ernst Kris. London, Frankfurt a. M. 1940–1968 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1999), Bd. 2/3, S. 1–642, hier S. 202 f. Freud: Die Traumdeutung, S. 202.

Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

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er der überlegenen Macht und »Organisation der katholischen Kirche« Roms und dem vehementen Antisemitismus im römisch-katholischen Wien entgegenhält,28 wo der christlich-soziale Antisemit Karl Lueger zu genau der Zeit an die Macht kam, in der Freud seine Romträume hatte.29 Freuds Engführung von Juden und Phöniziern bleibt freilich nicht ohne Dissonanzen. Zwar verwandelt Freud den »semitischen Feldherrn« gleichsam in einen Juden und nutzt ihn als Imaginationsangebot dafür, wie Juden sich Handlungsmächtigkeit zulegen und sich dem Objektstatus widersetzen können, in den sie in den zahllosen, obsessiven Diskussionen über ihr Anderssein gezwungen wurden. Gleichzeitig aber stilisiert Freud Hannibal auch zur Antithese seines eigenen Vaters, setzt ihn als Männlichkeitsvorbild an dessen Stelle und lässt so erkennen, in welch verwickeltem Zusammenhang die Kategorien race und gender für ihn standen. Freud ortet als eigentlichen Ursprung seiner Hannibal-Fixierung nämlich ein »Jugenderlebnis«, das in seinen »Empfindungen und Träumen noch heute seine Macht« äußere: eine Geschichte seines Vaters darüber, wie er als »junger Mensch« von einem »Christ[en]« öffentlich gedemütigt wurde, wie dieser ihm sein Schtreimel – den traditionellen Sabbath-Pelzhut der osteuropäischen Chassidim – vom Kopf geschlagen und ihn beschimpft habe.30 Eingeprägt hat sich dem adoleszenten Freud diese Episode indessen nicht oder nicht in erster Linie wegen des aggressiven Antisemitismus, den sie veranschaulicht. Zentralen Stellenwert erhält die Geschichte für Freud erst, weil ihm sein Vater »gelassen[ ]« erzählt, er habe sich gegen diese Demütigung nicht gewehrt und lediglich »die Mütze« wieder »aufgehoben«.31 Diese passive Reaktion des eigentlich »starken Mann[es]«, die hegemonialen mitteleuropäischen Männlichkeitsvorstellungen widersprach und die der junge Freud so gar »nicht heldenhaft« fand, veranlasste ihn, sich ein erstes Mal zu wünschen, Hannibals Stelle einzunehmen: die Position eines Sohnes, dessen Vater Hamilkar »seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören« ließ, »an den Römern Rache zu nehmen«.32 Wie Daniel Boyarin in Unheroic Conduct aufzeigt, sind Freuds HannibalPhantasien paradigmatisch für »the parallel shift of Jews from ›traditional‹ to ›modern‹ and ›eastern‹ to ›western‹, and the ways that both are intimately implicated in questions of male gender«.33 Freuds Vater verkörpert ein herkömmliches jüdisches – für den akkulturierten Sohn ein offensichtlich 28 29

30 31 32 33

Freud: Die Traumdeutung, S. 202 f. Vgl. Gerald N. Izenberg: Seduced and Abandoned. The Rise and Fall of Freud’s Seduction Theory, in: Jerome Neu (Hg.): The Cambridge Companion to Freud. Cambridge 1991, S. 25– 43, hier S. 40. Freud: Die Traumdeutung, S. 202 f. Freud: Die Traumdeutung, S. 203. Freud: Die Traumdeutung, S. 203. Daniel Boyarin: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkeley 1997, S. 34.

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stigmatisiertes ostjüdisches – Männlichkeitsverständnis, das sich von höfischkriegerischen mitteleuropäischen Männlichkeitsnormen abgrenzte und in antisemitischen und zionistischen Diskursen gleichermaßen als unmännlich galt. Freud formuliert mithin eine Gedankenfigur, in welcher der eigentlich nicht-jüdische, antike Phönizier Hannibal zum Leitbild eines modernen, männlichen Juden avanciert und die bezeichnend ist für die Diskurse vom ›neuen jüdischen Mann‹ und ›Muskeljuden‹ um die Jahrhundertwende,34 für die Bemühungen in jüdischen Kreisen, jüdische Männlichkeit zu redefinieren und dem Ideal des antisemitischen Aggressors anzugleichen. Dieses Denkmuster, das Freud bei der komplexen Aushandlung seiner jüdischen Identität mobilisiert, klingt im Mann ohne Eigenschaften in Diotimas Wortlaut an, dass Arnheim »nicht im geringsten jüdisch« aussehe, »sondern ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus« sei. So oder jedenfalls so ähnlich wie Freud seine Zugehörigkeit zum Judentum gleichzeitig affirmiert und verdrängt, versucht auch Diotima, Arnheims mutmaßliche jüdische Herkunft an eine positiver konnotierte Antike zu knüpfen und so zu nobilitieren. Auch für sie stellt Arnheim als ›Phönizier‹ offenkundig eine Art ›besseren Juden‹ dar, der ihrem Stereotyp von jüdischer Unvornehmheit widerspricht und dieses gleichzeitig verrät, so wie auch Freuds eigenes Bemühen, Hannibal als heroischen Verwandten zu reklamieren, dem Rassendenken verhaftet bleibt, das ihn als Juden diskriminierte und dem er – so jedenfalls lautet eine These Sander Gilmans – mit dem universalen Gültigkeitsanspruch seiner Psychoanalyse gerade entkommen wollte.35 Spezifischer allerdings lässt sich Diotimas Beobachtung in dem ›Wissens‹-Gebiet der Rassendiskussionen verorten, das mit besonders naturwissenschaftlich-exaktem Anspruch auftrat und in dem auch schon Virchows eingangs erwähnte, extensive Untersuchung angesiedelt war: im Gebiet der vergleichenden Anthropometrie, in deren Diskurs sich Musil mit einer Tagebuchnotiz gewissermaßen selbst einschrieb, gleich nachdem er Walter Rathenau am 11. Januar 1914 in Berlin kennengelernt hatte. Denn die Physiognomie Rathenaus, der bekanntlich in mancher und auch in dieser Hinsicht das ›Vorbild‹ für Arnheim abgab, vermaß Musil durchaus im Duktus und in der Diktion eines Kraniologen – und nicht ohne gleich neben dieser Notiz viermal zu versuchen, ihn und seine Schädelform im Profil zu zeichnen:36 Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, einem Stoß – rückwärts empor. Die Linie Kinnspitze – weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 45° zur Horizontalen, was durch einen kleinen Spitzbart (der kaum als Bart sondern als Kinn wirkt) noch verstärkt wird. Kleine kühne gebogene Nase.

34 35 36

Vgl. Boyarin: Unheroic Conduct, S. 37. Vgl. Sander Gilman: Freud, Identität und Geschlecht. Frankfurt a. M. 1994, S. 67. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 7/36.

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Auseinandergebogene Lippen. Ich weiß nicht wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn. (Tb I, S. 295)37

Im Kontext anthropometrischer Diskurse also ist Diotimas Diagnose, dass der »phönikisch-antike Typus« des ›vornehmen‹ Arnheim »nicht im geringsten jüdisch« sei, anschließbar an die Frage, aus welchen ›Urrassen‹ die Juden und Phönizier hervorgegangen und an welchen somatischen Eigenschaften diese Mischungen ersichtlich sein sollen. Sie lässt sich mit der rassischen und kraniologischen Typologie eines anderen ›messenden‹ Anthropologen aus dem Umfeld der anfangs erwähnten deutschen anthropologischen Gesellschaft in Beziehung setzen, mit Felix von Luschan, der für seine Studie über Die anthropologische Stellung der Juden seinerseits immerhin 60 000 Schädelmessungen durchgeführt haben wollte. Von Luschan, der 1911 auf den ersten Lehrstuhl für Anthropologie in Berlin berufen wurde38 und dem Virchow seine 2300 Nummern zählende Skelettsammlung vererbte,39 stammt in der politisch-weltanschaulichen Landschaft der Zeit zwar aus einer anderen Umgebung als Chamberlain und versucht nachdrücklich, sich vom gängigen Antisemitismus abzugrenzen. Er unterstreicht die »ethischen Eigenschaften der Juden«, insistiert auf ihrer kulturhistorischen Bedeutung und greift, um ihre militärische und politische Stärke zu illustrieren, seinerseits auf das Beispiel Karthagos zurück, vor dem »Rom gezittert« habe.40 Wie schon Virchow widerspricht er der verbreiteten Meinung, dass es eine reine jüdische oder arische Rasse gibt. Aber dass sich die originalen Rassen rekonstruieren lassen, aus deren Durchmischung die »modernen Juden«41 hervorgegangen sind, zieht von Luschan nicht weiter in Zweifel. Er entwickelt ein Modell ihrer rassischen Genealogie, das auch die Varietäten der Haar-, Haut- und Augenfarbe unter ihnen erklären konnte, die Virchow statistisch nachgewiesen 37

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Notabene bezeichnet auch Gerhart Hauptmann, der von Musils Notiz kaum etwas wissen konnte, um den Jahreswechsel 1928/29 herum in seinem unvollendeten Manuskript Berliner Kriegs-Roman den »Kahlkopf« seiner Rathenau-Figur als den eines »Sufeten« und die Figur selbst als »Punier«, der »wahrscheinlich unter den alten Phöniziern seine Vorfahren gehabt habe«. Gerhart Hauptmann: Berliner Kriegs-Roman [Fragment], in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans-Egon Hass, Martin Machatzke, Wolfgang Bungies. Frankfurt a. M., Berlin 1970 (= Centenar-Ausgabe), Bd. 10: Nachgelassene Werke. Fragmente, S. 325–370, hier S. 370 (freundlicher Hinweis von Hans-Georg Pott vom 25. 09. 2009). Insofern ist es gut möglich, dass sich schon Musil bei seiner Tagebuchnotiz auf einen Prätext bezieht, den Hauptmann seinerseits kannte. Vgl. Neue deutsche Biographie. Hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 15: Locherer-Maltza(h)n. Berlin 1987, S. 529, s. v. Luschan, Felix Ritter von. Vgl. Anja Laukötter: Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2007, S. 42, 207. Felix von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, in: Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 13 (1892), S. 94–100, hier S. 99 f. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 99.

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hatte. Seine Klassifikationen, auf die sich Chamberlain wesentlich stützte, erklären, warum die Differenzen zwischen Juden und Phöniziern in den Grundlagen eben doch nur beinahe eingeebnet und warum Chamberlain sogar expressis verbis und wie Diotima selbst von einem »phönizische[n] Typus« spricht.42 Anhand einer »nicht ganz geringe[n] Anzahl von Schädeln« aus »Gräbern mit phönicischen Inschriften« diagnostiziert von Luschan, dass der phönizische im Gegensatz zum jüdischen Typus dem der »wirklichen Semiten«, der »ältesten Araber« noch sehr nahe gestanden habe.43 Diesen ältesten Semiten schreibt er die in aller Regel vornehm-adlig konnotierte,44 »hervorragende Eigenschaft« »lange[r] schmale[r] Köpfe« zu.45 In Übereinstimmung mit dem impliziten Schönheitsideal auch von Luschans sollen die Semiten und Phönizier »ausgesprochene Langschädel« gehabt haben,46 so wie auch Arnheim im Mann ohne Eigenschaften ein betont »vornehmer Kopf« attestiert wird (MoE, S. 183). Die hybriden Juden hingegen seien entstanden, indem sich die langschädeligen Semiten mit indoeuropäischen Amoritern, vor allem aber mit rundschädeligen Hethitern vermischt und dadurch ihre Langschädeligkeit größtenteils eingebüßt hätten. Hauptsächlich stellten sie heute Nachkommen dieser alten Hethiter mit ihrer »extreme[n] Kurzköpfigkeit« dar:47 Nur »etwa 5 Prozent« der Juden würden noch »gute Langschädel« darstellen, nur noch »ein kleiner Bruchteil« sich »aus wirklichen Semiten« rekrutieren, deren physische Eigenschaften aber »immer und immer wieder neu zum Vorschein kommen« könnten.48 Wie von Luschan »mit dem größten Nachdruck« betont haben will, sollen solche Eigenschaften auch »durch hunderte von Generationen vererbt werden« können49 – sodass folgerichtig auch der »phönikisch-antike[ ] Typus« unter den »modernen Juden« immer wieder in Erscheinung treten kann. »[N]icht im geringsten jüdisch« soll von Luschan zufolge am »phönikischantiken« oder semitischen »Typus« überdies eine physiognomische Partie sein, die die meisten »modernen Juden« ebenfalls den Hethitern verdankten. Die kurzschädeligen Hethiter sollen durch ein weiteres rassentypologisch signifikantes Kennzeichen markiert gewesen sein, das den impliziten Schönheitskriterien der Rassenforscher, ihrem anatomischen Leitbild nicht genügte, durch »genau dieselben grossen gebogenen Nasen, die wir hier als jüdisch zu bezeichnen pflegen«.50 Diese symptomatischen Nasen, die im anti42 43 44 45 46 47 48 49 50

Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 447, Anm. 2. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96. Vgl. z. B. Poliakov: Der arische Mythos, S. 313. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 98. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 95 f. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 95. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 98.

Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

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semitischen Bildrepertoire einen im Wortsinn prominenten Platz einnahmen und »das jüdische Gesicht in der westlichen Diaspora« wie kaum ein anderes Merkmal vermeintlich »sichtbar« machen sollten,51 spricht von Luschan den Semiten und Phöniziern prononciert ab. Ihre »kurze, kleine und wenig gebogene Nase« sei »in jedweder Beziehung das Gegentheil von dem«, »was der Laie bei uns zu Lande als eine echte Judennase zu bezeichnen« pflege.52 Mindestens ansatzweise im Sinn dieser Taxonomie hat der phönizisch anmutende Rathenau in Musils Porträt denn auch eine »[k]leine«, wenngleich mehr als nur ›wenig‹ »gebogene« Nase und fällt Arnheims im Gegensatz zu seinem ›Schädel‹ offensichtlich nicht »bemerkenswert[e]« Nase zumindest unter die Unbestimmtheitsstellen des Texts. Nur sein minder vornehmer Vater – »einfach« ein »kleine[r], breitschultrige[r] Kerl« – wird eigens mit einer ungewöhnlichen »Knopfnase« versehen (MoE, S. 270), die mit ihren ausladenden Nasenflügeln und ihrem flachen Nasenrücken in der zeitgenössischen Anthropologie in aller Regel als eine typisch afrikanische Nasenform eingestuft wurde53 und die vielleicht insoweit mit der jüdischen Herkunft des alten Arnheim in Verbindung steht, als die rassische Beziehung der Juden zu Afrikanern in der Ethnologie des 19. Jahrhunderts längst zum Gemeinplatz geworden war (worauf ja auch das »Negroide[ ] im Schädel« noch hinweist, das Musil an Rathenau beobachtet haben will).54

51

52 53

54

Sander L. Gilman: Der jüdische Körper. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden, in: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Hg. v. Jüdischen Museum der Stadt Wien. Wien 1995, S. 168–179, hier S. 168. Von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96. Der Wiener Anthropologe Josef Weninger etwa erklärte in seiner an hundert »westafrikanischen Negern« durchgeführten »morphologisch-anthropologisch[en] Studie« die Knopfnase zur überhaupt ›primitivsten‹ und in größtem Abstand zur ›europäischen Nase‹ stehenden Nasenform. Vgl. Josef Weninger: Eine morphologisch-anthropologische Studie. Durchgeführt an 100 westafrikanischen Negern, als Beitrag zur Anthropologie von Afrika. Wien 1927, S. 75– 89. Vgl. auch Margit Berner: From »Prisoner of War« Studies to Proof of Paternity: Racial Anthropology and the Measuring of »Others« in Austria, in: Marius Turda, Paul J. Weindling (Hg.): Blood and Homeland. Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe 1900–1940. Budapest 2007, S. 41–53, hier S. 45 f. Vgl. Gilman: Der jüdische Körper, S. 168 f.; ders.: Making the Body Beautiful. A Cultural History of Aesthetic Surgery. Princeton 1999, S. 85–91. Chamberlain zufolge sollen die Semiten »nach der jetzt fast überall geltenden Anschauung« aus einer »Kreuzung zwischen Neger[n] und Weissen« entstanden sein. Ders.: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 420, Anm. 2. Georg Zivier beschreibt in Deutschland und seine Juden, wie eine »Knopfnase« von »Nazi-Anthropologen gleichfalls als Merkmal jüdischer Abstammung eingestuft werden konnte und sich in einem [ihm] bekannten Fall für den ›Nasenträger‹ geradezu lebensgefährlich auswirkte, denn das Rasseamt wollte dem ›Mischling ersten Grades‹ den Versuch, in die deutsche ›Volksgemeinschaft‹ einzudringen, als heimtückisches Verbrechen ankreiden«. Georg Zivier: Deutschland und seine Juden. Ein Buch gegen Vorurteile. Hamburg 1971, S. 79.

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3. Zum Zeitpunkt jedenfalls, als Musil Diotima das also eigentlich nur auf einen ersten Blick irritierende rassenbiologische Merkmal Arnheims benennen und dessen »phönikisch-antiken Typus« auf eine Weise vom jüdischen unterscheiden lässt, die in den zeitgenössischen Rassendiskursen rekontextualisiert werden kann – zu diesem Zeitpunkt ist die Frage nach Arnheims »jüdischer Abstammung« noch nicht beantwortet, sondern durch eines von mehreren, sich noch widersprechenden »Gerüchte[n]« (MoE, S. 108), die über den Großindustriellensohn kursieren, eben erst gestellt. Sie wird aufgeworfen, obwohl oder gerade weil Arnheims Assimilations- und Akkulturationswille fast schon groteske Züge annimmt: Arnheim trägt nicht nur den Vornamen Paul, den Namen also des überhaupt berühmtesten Konvertiten; sondern er kann »mit jedem in seiner Sprache reden« (MoE, S. 188) und ist »imstande, ebenso unumschränkt« »mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen« wie »über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern« (MoE, S. 189). Er vermag Kennern die feinsten Stichworte ihres Wissensgebiets zu bringen, kannte aber ebensogut jede wichtige Person aus dem englischen, dem französischen oder japanischen Adel und wußte auf Renn- und Golfplätzen nicht nur in Europa, sondern auch in Australien und Amerika Bescheid. [. . .] Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten, er ist ein Gelehrter, ein Gutsbesitzer und ein Börsenmann; mit einem Wort, was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person [. . .]. (MoE, S. 189 f.)

Dieser kaum zu überbietende Eifer Arnheims, jegliche kulturelle Alterität aufzuheben, seine Überidentifikation mit der ›westlichen‹ Kultur, die Friedrich Bringazi in seinem Kapitel über »Musil und die Juden« noch 1998 zur Feststellung veranlasste, dass der Großindustriellensohn »überraschenderweise überhaupt nicht jüdisch wirke«,55 verhindert nicht, dass über seine jüdische Herkunft spekuliert wird. Selbst durch seine maximale Assimilation, die sich mindestens vordergründig an Rathenaus (auto-)aggressive Forderung in seinem notorischen Aufsatz Höre Israel! zu halten scheint, dass Juden alle Eigenheiten konsequent abzulegen hätten, die sie als Juden erkennbar machten,56 scheint er das Stigma seiner »Abstammung« nicht löschen und antisemitischen Diskriminierungen nicht entgehen zu können. Das gesellschaftliche, alltagsantisemitische Bedürfnis, angepasste Juden trotz oder gerade wegen ihrer Angepasstheit immer noch als Angehörige einer Minderheit zu identifizieren, wird in den sich widersprechenden »Gerüchte[n]« im Mann ohne Eigenschaften mithin manifest. Als Reaktion auf 55 56

Friedrich Bringazi: Robert Musil und die Mythen der Nation. Nationalität als Ausdruck subjektiver Identitätseffekte. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 530; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Walther Rathenau: Höre Israel!, in: ders.: Impressionen. Leipzig 1902, S. 1–20.

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exakt dieses Bedürfnis, auch nicht mehr plakativ erkennbare Juden immer noch als solche ausfindig zu machen, lässt sich das Aufkommen des rassenbiologisch argumentierenden Antisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstehen. Auch jene Juden, die eben nicht mehr, wie Graf Leinsdorf als »Gegner der Assimilation« es sich wünschte, »hebräisch« beziehungsweise jiddisch sprachen, »ihre alten eigenen Namen« trugen und sich »orientalisch[ ]« kleideten (MoE, S. 844), sollten trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung in der Habsburgermonarchie seit 1867 und trotz der rasch fortschreitenden Assimilation immer noch als Juden erkannt werden können: wenn auch nicht mehr über ihre kulturelle, so immerhin noch über ihre physische Differenz. »Ich gebe zu«, meint Graf Leinsdorf in seiner gerade anzitierten und überhaupt längsten Verhandlung der »Judenfrage« im ganzen Roman, daß ein soeben erst bei uns reich gewordener Galizianer im Steireranzug mit Gamsbart auf der Esplanade von Ischl nicht gut aussieht. Aber stecken Sie ihn in ein lang herabwallendes Gewand, das kostbar sein darf und die Beine verdeckt, so werden Sie sehen, wie ausgezeichnet sein Gesicht und seine großen lebhaften Bewegungen zu dieser Kleidung passen! Alles, worüber man sich jetzt Witze erlaubt, wäre dann am richtigen Ort [. . .]. (MoE, S. 844)

Mit Arnheim freilich will Leinsdorf diesen Vorschlag, dass die »ganze sogenannte Judenfrage« durch eine Unterbindung von Hybridität, durch Segregation »aus der Welt« zu schaffen wäre (MoE, S. 844), ausdrücklich gerade nicht in Zusammenhang bringen. In einer merkwürdigen und aufschlussreichen ›Paralipse‹ merkt er an, wie er zu seinem ›katholischen Scharfblick‹, »die Dinge« auch in der »Judenfrage« so »zu sehn, wie sie wirklich sind«, »geführt worden« sei: Nicht durch den Arnheim, von den Preußen red ich jetzt nicht. Aber ich habe einen Bankier, natürlich mosaischer Religion, mit dem ich schon seit langer Zeit regelmäßig konferieren muß, und da hat mich anfangs sein Tonfall immer etwas gestört, so daß ich auf das Geschäftliche nicht recht habe aufpassen können. Er spricht nämlich genau so, wie wenn er mir einreden möchte, daß er mein Onkel wäre; ich meine, so, wie wenn er grade vom Pferd abgestiegen wäre oder vom großen Hahn zurückkäme; so, wie unsere eigenen Leute reden, möchte ich halt sagen: Kurz und gut aber, hie und da, wenn er in Eifer kommt, mißlingt ihm das, und dann, kurz gesagt, jüdelt er halt. Das hat mich sehr gestört, habe ich, glaub ich, anfangs schon bemerkt; weil das nämlich immer gerade in den geschäftlich wichtigen Augenblicken vorgekommen ist, so daß ich unwillkürlich schon darauf gewartet habe und auf das andere schließlich gar nicht mehr habe aufpassen können oder einfach aus allem etwas Wichtiges herausgehört habe. Da bin ich dann aber eben darauf gekommen: Ich hab mir einfach jedesmal, wenn er so zu reden angefangen hat, vorgestellt, er spricht hebräisch, und da hätten Sie nun hören sollen, wie angenehm es dann klingt! (MoE, S. 844 f.; im Original keine Hervorhebung)

Die Kategorien ›des Juden‹ und ›des Preußen‹ kommen sich in Leinsdorfs auf Eindeutigkeit und Einheitlichkeit angelegtem Denken hier offensichtlich in

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die Quere. Wie Franka Marquardt gezeigt hat, erscheint Arnheim in Leinsdorfs Sprechen über ›den Juden‹ als »Störfaktor« und »Stolperstein«.57 Er taucht in einem Redekontext als Preuße auf, in dem er eigentlich nur als Jude etwas zu suchen hätte, und unterwandert Leinsdorfs Erörterung über das »wahre[ ] Wesen« der Juden, indem er aus ihr ausgeschlossen wird. Für den Grafen als Vorsitzenden und Initiator der auch gegen Preußen gerichteten Parallelaktion erweist sich die Distanzierung vom Kriegsgegner von anno 1866 bei der Konstruktion seiner eigenen, katholisch-habsburgischen Identität offensichtlich als weit vordringlicher als eine Abgrenzung gegenüber dem Judentum. Dass Arnheims Judentum in Leinsdorfs Erläuterung nur noch als ›Fehlleistung‹ einbricht, dass er in der Wahrnehmung des Grafen auch an anderer Stelle vorrangig als Preuße figurieren kann, unterstreicht und bestätigt jedenfalls noch einmal seine vorbehaltlose Assimilation. Arnheim ›jüdelt‹ eben auch nicht in »den geschäftlich wichtigen Augenblicken« oder »wenn er in Eifer kommt«. Sein Ausschluss aus Leinsdorfs Ausführungen lässt supplieren, dass er den Grafen wohl auch »im Steireranzug mit Gamsbart« nicht störte, oder zumindest nicht als Jude, sondern höchstens als Preuße: Denn neben Arnheim soll sogar Tuzzi »mit seinem Bärtchen und den südländischen Augen« aussehen »wie ein levantinischer Taschendieb neben einem Bremenser Handelsherrn« (MoE, S. 195), einem Kaufmann aus einer der Städte des Nordens also, der innerhalb der kulturellen Topographie Deutschlands ganz besonders ›germanisch‹ codiert war58 und der auch in Schädelstudien der deutschen Frühgeschichtsforschung zur »Urheimat der Germanen« mit ihren »lange[n] Schädel[n]« und ihrem »mächtigen Körperbau mit breiter Brust und schönem Maßverhältnis von Rumpf und Gliedern« bestimmt wurde.59 Obwohl er also wie ein prototypischer »Bremenser Handelsherr[ ]« aussehen soll – wenngleich er selbst dem »Gegner der Assimilation«, dem Grafen Leinsdorf, konstant als Preuße und nicht als Jude durchgeht – und trotz seiner maximalen, mutmaßlich kompensatorischen und jedenfalls überzeichneten Akkulturationsbemühungen bleibt Arnheim im Mann ohne Eigenschaften als Jude sichtbar. Zweifelsfrei belegt wird seine Zugehörigkeit zum Judentum erst auf Seite 543. Die Frage danach wird indessen schon 435 Seiten früher eigens gestellt und steht fortan unbeantwortet im Raum. Verlässlich geklärt wird sie erst, als Arnheim darüber nachdenkt, »wie er als Jude« in der preußischen Armee »nicht Reserveoffizier« werden konnte. Schon zwei Abschnitte nachdem Arnheims »jüdische[ ] Abstammung« kolportiert wird, lädt der Text eine dazu geneigte Leserschaft aber ein, sich an den Spekulationen um die Herkunft des preußischen Großindustriellen zu 57 58 59

Marquardt: Erzählte Juden, S. 291. Zum Nord-Süd-Gefälle bei Thomas Mann vgl. Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ›Deutsche‹. München 2000. Alfred Schliz: Rassenfragen, in: Johannes Hoops (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Straßburg 1911–1919, Bd. 3, S. 439–459, hier S. 440, 442, 444.

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beteiligen. Im Kontext des Status, den die Phönizier im völkergeschichtlichen und anthropologischen Diskurs erhalten, kommt er einem Bedürfnis jener Rezipienten entgegen, die gewillt sind, Arnheims jüdische Herkunft über eine rassische Kategorie zu dechiffrieren. Er macht dieser Leserschaft das Angebot, einen Juden selbst dann noch über ein somatisches Merkmal als solchen zu identifizieren, wenn dieser augenscheinlich oder wenigstens auf den ersten Blick »nicht im geringsten jüdisch« aussieht, und enthält somit einen gängigen alltagsantisemitischen Diskriminierungsmechanismus. Schrieb Werner Sombart, den Musil 1914 gleichzeitig mit Rathenau kennengelernt hatte, nur drei Jahre vor dieser Begegnung in Die Juden und das Wirtschaftsleben, »de[m] Jude[n]« gelinge es sogar, »seiner ausgesprochenen Körperlichkeit in weitem Umfange das Aussehen zu geben, das er ihr geben möchte«,60 so erreicht eben selbst Arnheim eine solche Anpassung nicht ganz restlos, sondern nur »in weitem Umfange«: Auch bei ihm versagen die rassenbiologischen Wahrnehmungskriterien letztlich nicht, trotz seiner immensen Bemühungen, sich eine Identität ohne die Kennzeichen des Andersseins zu konstruieren. Arnheim stellt für diese Kriterien zwar einen Prüfstein dar, aber letztlich muss selbst er in der Position eines Mimikry-Juden verharren und wird das antisemitische Phantasma der untilgbaren Erkennbarkeit von Juden vielleicht umso nachhaltiger bestätigt.61

4. Mit der Logik dieses Phantasmas korrespondieren freilich auch die stereotypen Verbindungen, die sich zwischen einer ganzen Reihe von Arnheims Charaktereigenschaften und seinem phönikischen ›Schädel‹ und »Typus« ausmachen lassen. Arnheims Physiognomie, die somatischen Rudimente seiner »jüdische[n] Abstammung«, spiegeln seine Mentalität und lassen durchaus im Sinn der gängigen, ubiquitären Rassendiskurse Rückschlüsse selbst über Wesensmerkmale zu, die er eigentlich zu verbergen versucht. Sie verraten seine eigentlichen wirtschaftlichen Motive, die er mit seiner Zivilisationskritik nur vordergründig kaschiert, und verweisen demnach auf die konstante Spannung oder fast schon systematische Divergenz zwischen seinen idealistischen 60 61

Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911, S. 327. Bekräftigt wird diese Erkennbarkeit im Übrigen auch durch die beiden anderen eindeutig jüdischen Figuren, die Ulrich erst während der erzählten Zeit kennenlernt: An der von Diotima zur französischen Kammerzofe stilisierten Rachel beziehungsweise Rachelle erfasst der Mann ohne Eigenschaften – so indefinit das pronominal Bezeichnete auch bleibt – »[e]twas Arabisch- oder Algerisch-Jüdisches« (MoE, S. 95); und an der Beerdigung seines Vaters ›entgeht‹ ihm nicht, dass der nervös dirigierende »Unternehmer der Leichenbestattung, der den katholischen Zug zum Friedhof« führt, »ein großer, kräftiger Jude von einigen dreißig Jahren« ist (MoE, S. 710), obschon dieser »Trauergeschäftsmann« (MoE, S. 692) einen wenig stereotypen »langen blonden Schnurrbart« trägt (MoE, S. 710).

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Äußerungen und seinen tatsächlichen materiellen Absichten. Wie schon die Phönizier in der Odyssee neigt Arnheim – etwa Diotima gegenüber – zum »Schwindel«, »um großen Gewinn zu erwerben«. Wie sie erscheint er als indifferent gegenüber der (ethischen) Qualität seiner Handelsware. Wie ein Phönizier wenigstens vorgeblich sogar den ›listenreichen Odysseus‹ überlistet haben soll, »legt[ ]« Arnheim »selbst die gerissensten hinein« (MoE, S. 192). Wie Homers Phönizier dient auch er als Projektionsfläche für verschiedene als misslich empfundene Aspekte ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Wie sie besetzt er strukturell eine Gegenposition zum Protagonisten, der in einer frühen Version des Romans seinerseits noch den Namen Achilles trug und dessen Aussehen und »Figur« auch unter dem späteren Namen »Anders« immer noch »griechisch« hätte sein sollen, »aber mit stärkeren Muskeln« (Tb II, S. 1102)! Und obendrein wird er wie die Phönizier mit Sklavenhandel assoziiert, wenn Soliman behauptet, »daß er der Sohn eines Negerfürsten und seinem Vater, der tausende Krieger, Rinder, Sklaven und Edelsteine besitze, als Kind gestohlen worden sei; Arnheim habe ihn gekauft, um ihn dereinst dem Fürsten furchtbar teuer wieder zu verkaufen« (MoE, S. 222). Gerade weil sich das »Muster« Arnheim, das Ulrich »grundsätzlich« »nicht ausstehen kann«, an den ›Schädel‹ und »Typus« des preußischen Juden rückkoppeln lässt, weist es Parallelen zu Topoi aus dem Repertoire des Antisemitismus auf, die sich nicht oder jedenfalls nicht immer aus Bezügen zur Biographie Rathenaus herleiten und plausibel erklären ließen. Vielmehr sind es – »so eng« sich Musil auch an »Rathenaus Lebenslauf« hielt62 – gerade bestimmte Abweichungen vom biographischen ›Modell‹ oder ›Vorbild‹, die Musils Figurenporträt ihrerseits mit solchen Topoi abstimmen. Zu diesen Unterschieden gehört etwa schon, dass der spätere Reichsaußenminister, dessen Name die Arnheim-Figur noch bis 1922 und also bis in genau das Jahr trug, in dem Rathenau von zwei ehemaligen Freikorps-Offizieren ermordet wurde63 – dass also der spätere Reichsaußenminister seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger in der preußischen Armee durchaus abgeleistet hat, wie übrigens zwischen 1885 und 1914 mehr als 25 000 Juden, ohne dass auch nur ein einziger zum Reserveoffizier berufen worden wäre.64 An der Vorlage des Rathenau’schen Lebenslaufs kann es folglich nicht liegen, wenn Musils jüdischer Figur selbst dort Privilegien eingeräumt werden, wo sie eigentlich diskriminiert wird: wenn der Kaufmannssohn, weil er »als Jude nicht Reserveoffizier« werden und »als Arnheim [. . .] nicht die geringe Stel62 63

64

Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 870. Walther Rathenau wurde am 24. 06. 1922 ermordet. Den Namenswechsel zu Arnheim realisierte Musil spätestens im August 1922. Vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 231. Vgl. Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt a. M. 2003, S. 584.

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lung eines Unteroffiziers einnehmen konnte«, »kurzerhand für untauglich zum Soldaten erklärt« wurde (MoE, S. 543). Vielmehr partizipiert die Figur durch diese Unstimmigkeit an einem Diskurs, der insbesondere während des Ersten Weltkriegs prävalent war und sogar zu einer Judenzählung innerhalb des deutschen Heers führte: am Diskurs, dass – so hieß es im offiziellen Erlass des Kriegsministeriums 1916, der diese Judenzählung initiierte – »eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke«.65 Darüber hinaus divergieren auch die Koordinaten der jüdischen Aufsteigergeschichte der Arnheims auffällig von den biographischen Vorgaben der vermeintlichen Figuren-›Vorbilder‹. Arnheims Großvater soll »mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen« und damit den »Grund zum Einfluß der Arnheims gelegt« haben (MoE, S. 269), Arnheim selbst gleichsam aus dem »Werden [. . .] einer Müllabfuhr zum weltumspannenden Wirtschaftskonzern [. . .] entstanden« sein (MoE, S. 545). Walther Rathenaus Großvater hingegen war Getreidekaufmann in Berlin, das Fundament für den »Einfluß« der Rathenaus, den Elektroindustriekonzern AEG (Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft), baute erst Walthers Vater Emil auf, nachdem er die Lizenz der Edison-Patente für Deutschland erworben hatte.66 Auch hier gewinnt die Familien- und Firmengeschichte gerade durch die Abweichung von den biographischen Richtlinien an Signifikanz. Sie wird nun dem Stereotyp des ›foetor iudaicus‹ angenähert, der Vorstellung, dass Juden von Natur aus unsauber seien und an ihrem abstoßenden Geruch erkannt werden könnten,67 der hier auf das Produkt verschoben wird, mit dem sie handeln. Und sie entspricht insbesondere dem antisemitischen Topos, den sie offensichtlich zitiert und den schon Sombart in Die Juden und das Wirtschaftsleben tale quale aufruft. Sombart zufolge, dem im Übrigen der »Streit um Abgrenzung« von Phöniziern und Juden »ziemlich müßig« scheint,68 ist es eine bekannte »Eigenart der Juden, ›aus den verworfensten Dingen hier und da sich Unterhalt und Gewinn zu verschaffen‹ und [. . .] ›die gemeinsten Artikel [. . .]‹ zu wertvollen Handelsartikeln zu machen. Vielleicht«, mutmaßt er, »könnte man sie auch die Väter der Abfallindustrie nennen«.69 Rathenaus kulturpessimistische Äußerungen gegen Rationalismus, Zweckbedachtheit und kühles Kalkulieren, die im Mann ohne Eigenschaften 65 66

67 68 69

Zit. nach: Shulamit Volkov: Die Juden in Deutschland 1780–1918. München 2 2000, S. 68. Vgl. Ernst Schulin: Die Rathenaus – Zwei Generationen jüdischen Anteils an der industriellen Entwicklung Deutschlands, in: Werner Mosse (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914. Tübingen 1976, S. 115–142, hier S. 120 f. Vgl. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, S. 227. Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 341. Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 177. Sombart zitiert hier zwischendurch aus einer »am 9. Jan. 1786 von der ungarischen und siebenbürgischen Hofkanzlei abgefaßten Denkschrift«. Ders.: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 462, Anm. 390.

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parodiert werden, lassen sich, wie Franziska Schößler unlängst aufgezeigt hat, auch und gerade als Reaktion auf solche Stereotypisierungen verstehen, die Juden auf ihren abstrakt-kühlen Geschäftsgeist reduzierten und ihnen ein genuines ›Werk- und Sachinteresse‹ absprachen.70 Seine Ausführungen über die »divinatorischen Qualitäten des Unternehmers«,71 seine Akzentuierung der Intuition und seine forcierten Vorstellungen einer beseelten Wirtschaft antworteten auf antisemitische Denkfiguren, die genau diese Eigenschaften Juden prinzipiell vorenthielten. Die Diskriminierungen, denen Rathenau als Jude im wilhelminischen Deutschland ausgesetzt war, spielen aber im Porträt Arnheims eine auffallend marginale Rolle. Sie kommen, abgesehen von der einen Erinnerung Arnheims eben daran, dass er nicht Reserveoffizier werden konnte, auch in den Gedanken der Figur überhaupt nicht vor. Vielleicht treten sie an der Stelle in den Roman ein, an der Arnheim »von seinem Vater« spricht und seine »Stimme«, »ihre dozierende Ruhe« plötzlich »einen kleinen Sprung« bekommt (MoE, S. 270). In aller Regel aber entlarvt Musils Roman die vordergründigen kultur- und rationalitätskritischen Aussagen Arnheims vorrangig als Ausfluss jenes »Primat[s] des Erwerbszwecks«,72 der Juden in antisemitischen Diskursen beständig unterstellt wurde. Die Leichtigkeit, mit der für zeitgenössische Leserinnen und Leser Paul Arnheims ethnische Markierung entzifferbar gewesen sein muss und mit der sich stigmatisierende Topoi an diese Markierung anlagern ließen, steht jedenfalls in auffälligem Widerspruch zu den hellsichtigen Analysen, die der Antisemitismus im Mann ohne Eigenschaften andernorts erfährt. Dass sich Musil in einem Antwortschreiben vom 3. März 1933 an Else Meidner, die ihn in einem verlorenen Brief offenbar mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontierte, nur auf die beiden ganz anders gestalteten jüdischen Figuren Rachel und Fischel beruft, um diesen Vorwurf zu entkräften, dürfte insofern kein Zufall sein. Musil erinnert Meidner daran, dass die »kleine jüdische Kammerzofe Rachel« »außer Ulrich und dem General die einzige warmgetönte Figur« im »ganzen ersten Band« sei (Br I, S. 564), und merkt an, er habe »bloß über jüdische Figuren mit der gleichen Freiheit verfügen wollen, wie über andere, also nach dem ressentimentfernen Gefühl, daß, was für Leinsdorf recht sei, auch für Fischel billig sein dürfe« (Br I, S. 563 f.). Just Arnheim jedoch spart er in seiner Replik wohl bezeichnenderweise aus. Ihn als eigentlich prominenteste jüdische Figur seines Romans erwähnt er gerade nicht, wenn er betont, er habe sich schon im Aufsatz Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit »gegen jede Rassen-Ideologie [. . .] ausgesprochen« und sehe »das allgemein Typenbildende in den sozialen Bedingungen« 70 71

72

Vgl. z. B. Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 320. Franziska Schößler: Der Unternehmer als Bauer. Judentum und Ökonomie bei Walther Rathenau, in: Walter Delabar, Dieter Heimböckel (Hg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Bielefeld 2009, S. 139–161, hier S. 149. Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 155.

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(Br I, S. 563). Zwar gehört diese Auffassung von Identität als gesellschaftlich implementiert und kontingent ja tatsächlich und unverkennbar zu den Hauptthemen des Romans. Aber der phönikische ›Schädel‹ und »Typus«, mit denen Musil Arnheim versah, obwohl er ausdrücklich nicht wusste, »wie Hannibal aussah«, scheinen als Körperzeichen vielmehr nach der Logik jenes »anthropologischen Küchenlateins« zu funktionieren, das er in seinem Nations-Aufsatz so pointiert kritisierte: jener »lasterhaften Denkgewohnheit«, »angeblichen Rassen« »mit der Stimme der Jahrtausende« allzu folgerichtig bestimmte »Eigenschaften« »zu oder ab[zusprechen]« (GW II, S. 1064).

Walter Fanta

Ah, Fm: Doppelschichtung, unten jüdisch Alles gilt, auch das Apokryph Abstract: Four characters in the Man Without Qualities merge into the isotopy of »Jewishness«: Leo Fischel, Rachel, Arnheim, and Feuermaul. The latter two form a sub-isotopy one could call »Jewish negative-isotopy«, which assigns them negative qualities corresponding with the attribute »Jewish«. Arnheim’s sexuality, cast as congested, queer, and ideologized, is described in Musil’s literary remains under the title »Arnheim’s inclination toward the butt«. Yet no indication of Arnheim’s sexuality is given in the published material. »Homosexual« and »Jewish« are connected by the oblique way they are communicated in the novel. In Feuermaul’s case, the description as »Jewish« is made, similarly, by establishing his links to pacifism, and describing the figure as opportunistic and infantile. Both the role of Feuermaul and Arnheim are severely reduced by Musil after 1933, as the rise of the Nazis makes any kind of satirical mocking of Jewish characters unbearable.

Um die methodische Voraussetzung dieser Untersuchung zu zwei jüdischen Figuren des Mann ohne Eigenschaften zu klären, sei eingangs gegen eine Position in Adornos Ästhetischer Theorie Stellung bezogen: Die Verwechslung des Kunstwerks mit seiner Genese, so als wäre das Werden der Generalschlüssel des Gewordenen, verursacht wesentlich die Kunstfremdheit der Kunstwissenschaften; denn Kunstwerke folgen ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genesis verzehren. Spezifisch ästhetische Erfahrung, das sich Verlieren an die Kunstwerke, ist um deren Genese unbekümmert.1

Solcher unbekümmerten Ästhetik, die sich von der Genese als »Generalschlüssel des Gewordenen« verabschiedet hat, sollten Leser/innen des Mann ohne Eigenschaften besser die Tür in die Hand geben. Ist der Roman Musils ein Kunstwerk, das seine Genesis verzehrt hat? Verdaut hat? Oder liegt die Genesis nicht dem Roman im Magen wie »Füchse[n] das Aas«2 , und der Rest unverspeist am Teller des Autors? Die Adorno’schen Formgesetze passen nicht zu einem Roman, dessen Verständnis gegen alle Grenzen wütet, dessen kanonische Sätze gegen seine apokryphen Vorstufenfassungen reden, dessen Fertigstellungsversuche immer nur »vorläufig definitiv«3 sind 1 2 3

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 267. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 85/606. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 56/359, Kap. 84/579; KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 20/298.

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wie die Beschlüsse der Parallelaktion, immer Gleiches in anderen Sätzen reden; und dessen Lektüren immer weiter reden bis heute. Musils unabgeschlossenes Schreiben am Mann ohne Eigenschaften, dokumentiert im vollständig edierten Nachlass, ist zu beschreiben als beinahe 25-jähriger Prozess der Umkodierung (1918–1942).4 Es gilt nicht nur, was der Autor aus der Hand gegeben hat, wie sonst; der Roman ist nicht nur Buch geworden, sondern es gilt vielmehr auch, was der Autor nicht aus der Hand gegeben, nicht verschwinden lassen, sondern mitgeschleppt hat, sogar was in seinen Schmierblättern steht. Der Roman ist nicht das Buch, sondern der Prozess; der unveröffentlichte unbeendete Diskurs des Autors mit seinen Figuren, der veröffentlichte endlose Diskurs des Romans mit seinen Leser/innen: Immer anders erscheinen im Licht der Neu-Edition die Text-Vor-Geschichte und im Licht der neuen Lektüren die Text-Nach-Geschichte und darin die Gegenstände – Gedanken – dieses Romans. Welche Gegenstände, welche Gedanken? Antisemitismus. Antisemitismus der bei Musil dargestellten Welt, die unserer nicht völlig fremd ist. Einzelne Sätze im Textkorpus repräsentieren antisemitische Zuschreibungen an Figuren des Romans. Die Deklination dieser Sätze durch den Prozess der Umkodierung von Apokryph zu Kanon5 und Lektüre hindurch zu verfolgen, darin besteht die Methode. Die Sätze sind den Figuren Arnheim und Feuermaul zugeordnet. Arnheim wie Feuermaul sind Männer mit Eigenschaften, solchen Eigenschaften, die ein Kontrastprogramm zum Mann ohne Eigenschaften Ulrich bilden, mehr oder weniger verhüllt jüdische Eigenschaften. Dadurch gehen die beiden Figuren eine Isotopie miteinander ein,6 die man beschriften könnte mit: jüdische Negativ-Isotopie. Die Fragestellungen lauten: Bezieht sich der Makel, anders zu sein als der eigenschaftslose Ulrich, auf das Jüdischsein der Figuren? Welches Funktionspotential nimmt der antisemitische Zuschreibungsmodus im unterschiedlichen Grad der Verhüllung im Textentstehungsprozess jeweils ein? Das Gegenstück, die jüdische Positiv-Isotopie zwischen Figuren, deren Eigenschaften möglicherweise Sympathie bei Leser/innen erwecken und welche die zeitgenössische Lektüre als sogenannte jüdische Eigenschaften ohne antisemitisches Hautgout gelten lassen mag, vertreten Leo Fischel und die Zofe Rachel. Auf sie nimmt Musils Brief an eine Leserin des Romans im Jahr 1933 Bezug. Er habe »bloß über jüdische Figuren mit der gleichen Freiheit 4

5

6

Vgl. Walter Fanta: Musils Umkodierungen: Wissenstransfer im Schreibfeld als Form der Intertextualität, in: Ulrich Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011, S. 323–343. Zur kategorialen Dichotomie apokryph (Nachlass) und kanonisch (zu Lebzeiten Musils gedruckt) vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 21–26. Zum Begriff der Isotopie vgl. grundlegend Jelka Schilt: Noch etwas tiefer lösen sich die Menschen in Nichtigkeiten auf. Figuren in Robert Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Bern u. a. 1995 (= Musiliana, Bd. 2).

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verfügen wollen, wie über andere, also nach dem ressentimentfernen Gefühl, daß, was für Leinsdorf recht sei, auch für Fischel billig sein dürfe.« Und: »Aber es scheint, daß ich Sie an die kleine jüdische Kammerzofe Rachel erinnern darf: Im ganzen ersten Band ist sie außer Ulrich und dem General die einzige warmgetönte Figur!«7 Die Gesamt-Isotopie jüdisch im Figurenensemble spaltet sich demnach in zwei Teil-Isotopien: Sie besteht insgesamt aus vier jüdischen Figuren, zwei davon, Fischel und Rachel, sind mit klassischen jüdischen Eigenschaften ausgestattet, für Romanleser/innen als jüdisch erkennbar und vom Romanerzähler als sympathisch vermittelt, qua: Ulrich mag sie. Das Jüdischsein der anderen beiden Figuren, Arnheim und Feuermaul, ist Denunziationen und Dementis ausgesetzt, durch den Erzähler, durch Figuren des Romans, durch sie selbst. Die strittigen, die Figuren denunzierenden, möglicherweise jüdischen Eigenschaften dementieren nicht bloß Figuren, dementiert nicht nur der Erzähler, sondern dementiert auch der Autor, indem er sie aus dem Roman nimmt, in einem Fall die Eigenschaften, im anderen am liebsten sogar die Figur selbst. Das Dementi gilt jedoch auf einer grundsätzlichen Ebene den Eigenschaften an sich. In dem Brief an Else Meidner steht noch: Liebesfähigkeit, Mitleid, Gerechtigkeit, Weichheit – solche und alle moralischen Verhaltensweisen variieren wohl individuell und sozial, sind aber nach meiner Ansicht weniger erbmäßig als erziehungs- und umstandsmäßig bedingt! Im ersten Band spreche ich sogar wiederholt davon, ja es ist einer seiner Grundsätze, daß man beinahe aus allem alles machen könnte.8

Darin äußern sich nicht Zweifel an der Milieubedingtheit, wohl aber an der biologischen Vererbbarkeit von Eigenschaften. Musil verweist am Anfang des Briefs auf seinen Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921). Dort hat er die Existenz nationaler Eigenschaften bestritten. Ein Kompositionsprinzip des Mann ohne Eigenschaften besteht darüber hinaus allerdings darin, die Eigenschaften auch von Einzelmenschen kontingent zu setzen, nach dem Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit.9 Die Addition ihrer Eigenschaften verleiht Menschen keine feste Form, durch die Addition ihrer Eigenschaften werden Menschen bloß erzählbar, so wie im Roman, oder im Film. Der ›wirkliche Mensch‹ bleibt gestaltlos. Man könnte »beinahe aus allem alles machen«, nicht nur im Roman oder im Film, sondern auch in der Realität hat man bereits aus allem alles gemacht, bei der »Zäh7 8 9

KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Else Meidner, 03. März 1933. KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Else Meidner, 03. März 1933. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/14–17, 36–39, 41–43. Musil formulierte sein Theo-

rem im Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923). Vgl. dazu Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Ulrich Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011, S. 237–254.

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mung des Kriegspferds«,10 im Moment der Massenpsychose im Sommer 1914. Im Schreibprozess Musils am Roman und als Kompositionsprinzip schlägt sich dies nieder als: Man könnte zum Beispiel am Ende die Spielfigurenwelt des Romans in den Krieg kippen und aus jeder einzelnen Figur des Romans in der Umkehrmühle der Gleichschaltung zum Krieg das Inverse herausziehen, wie aus einer Kippfigur.11 Die bisher der Figur zugeschriebenen Eigenschaften sind dementiert, im Vexierbild erscheint ein verstecktes, verdecktes Anderssein. Das Anderssein ist aber in den Figuren schon angelegt, die das Anderssein benennenden Sätze stehen im kanonischen Roman bloß als Andeutungen, Verzerrungen, Dementis, ausgeschrieben stehen sie in den Apokryphen. Das Vexierbildhafte der Figuren, wie es in der fertigen Textur des veröffentlichten Romanteils erscheint, hat seine verdeckte Entsprechung darin, dass die tieferen Schichten »in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins«12 textgenetisch-materiell mit den tieferen Schichten des Schreibprozesses und ihren Zeugen in den Konzepten und Schmierblättern des Nachlasses, dass das »untrennbare Aneinanderhaften der Ehr- und Kehrseiten des Lebens«13 mit dem Verschiebungsprozess zwischen dem apokryphen und dem kanonischen Text des Romans identifiziert werden kann.

Arnheims Neigung für den Popo Im Jahr 1924 notierte sich Musil auf einem Blatt mit der Überschrift Vorwort für den Roman Die Zwillingsschwester eine apokryphe Eigenschaft der Figur Arnheim, nämlich dessen »Neigung für den Popo«. Die gesamte Notiz lautet folgendermaßen: Oft zu gebrauchende Darstellungsart. Einen Menschen zusammensetzten (aber mit aufgedeckten Karten!) aus den fixen Ideen und zwangsläufigen paar Ideenverknüpfungen wie zum Beispiel Hagauer. In dieser Weise alle geistigen Menschen: Arnheim, Diotima usw. Was dann noch als menschlich besonders bei den NurMenschen dazukommt, ist zufällig, psychologisch übrigens auch typisch, häufig unappetitlich wie Arnheims Neigung für den Popo, oder so Wischiwaschi-Psychologie wie bei Schnitzler.14

Die Textstelle liefert den Beleg schlechthin für Musils Anthropologie: Was geistige Menschen und Nur-Menschen (quasi: wandelnde Ideologien) außer 10 11

12 13 14

KA/Transkriptionen/Mappe II/7/85. Vgl. Walter Fanta: Aus dem apokryphen Finale des Mann ohne Eigenschaften. Die Totalinversion der Nebenfiguren, in: Pierre Béhar, Marie-Louise Roth (Hg.): Musil an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Internationales Kolloquium – Saarbrücken 2001. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 10), S. 225–250. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 1/11. KA/Lesetexte/Bd. 3 MoE-Fortsetzung/Neuansätze (Erster Neuansatz)/47. Wandel unter Menschen. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/124.

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ihrem ideologischen Überbau bestimmt, ihr unappetitlicher Unterbau, hat mehr Bedeutung, als es die triviale Psychoanalyse ihrer literarischen Ableger zu benennen wüsste. An der Assoziation zwischen Arnheim und dem Popo bleibt allerdings manches zu hinterfragen: Welcher Popo ist gemeint? Damen-Popo, Herren-Popo, oder eigener Popo? In noch apokrypherer Schreibweise findet sich der Popo auf einem späteren Nachlassblatt wieder, dem Schmierblatt Bonadea von 1933. Die Notiz bezieht sich auf das geplante Romanfinale und lautet: »L 60. Bo. wirkt auf Ah (P . . o) Könnte erwähnt werden.«15

Das Blatt L 60, auf das Musil verweist, ist aus dem Nachlass verschwunden, genauso wie das ganze Konvolut Bonadea, aus dem nur zufällig eine Rückseite vorhanden ist, eine Bleistiftskizze, die schildert, wie Bonadea mit einer Rübe masturbiert.16 Die obsessiven Schweinereien früher Nachlassskizzen sind in den veröffentlichten Endtexten wegdestilliert. Was bleibt, sind sexuelle Versagungen. Im Versagungs-Parallelogramm Diotima/Arnheim – Rachel/Soliman, das Musil aufstellt, bildet Arnheim den Ausgangspunkt, weil ihm »der Antrieb des Begehrens«17 (nach einer Formulierung Thomas Pekars) zu fehlen – oder fehlzugehen – scheint. Hinter Arnheims Verzicht steht, aus einer wiederkehrenden Formulierung in Musils Notizen ablesbar, die Versagung sadistischer Wunschvorstellungen: »Heiraten will er nicht, was kann er bieten, wenn er aus der Buchsphäre tritt? Banalitäten und Brutalitäten.«18 Nicht nur in General Stumm von Bordwehr,19 sondern auch in Arnheim ist die ursprünglich Ulrich als der Figur des Autors übertragene sexuelle Wunschvorstellung als Versagung abgespiegelt. Arnheim ist geheimnisvoll, seine geschäftliche, aber auch die schriftstellerische Tätigkeit birgt Geheimnisse, deren Aufklärung sich konsequenterweise Diotimas Ehemann, Sektionschef Tuzzi, annimmt. Man erinnere sich an dessen Vermutung im Gespräch mit Ulrich, »daß in Arnheims Leben etwas nicht stimmt«.20 Dass in Arnheims Leben etwas nicht stimmt, seine Neigung für den Popo, ist im veröffentlichten Text des Romans bloß in subtilen Andeutungen mitgeteilt, die 15 16 17 18 19

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KA/Transkriptionen/Mappe II/1/31. Die chiffrierte Schreibung des Worts für den unaussprechlichen Körperteil zeigt den apokryphen Charakter des Schmierblatts. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/92. Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989 (= Musil-Studien, Bd. 19), S. 220. KA/Transkriptionen/Mappe VII/14/42 (auch: VII/14/52, VII/3/5, VII/7/89). Die Verwirklichung des Ratschlags von Anders, der Vorgängerfigur Ulrichs, an Rittmeister Horn, dem Vorgänger des Generals, »v . . D!« (›vögle Diotima‹, KA/Transkriptionen/Mappe VII/2/12), wird im kanonischen Roman an Ulrich delegiert, der im apokryphen Finale als Verführer Diotimas vorgesehen ist. – Vgl. Walter Fanta: Die Zuflucht des Zeitalters, in: MusilForum 29 (2005/06), S. 78–124, hier S. 104–124. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 91/667.

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Mitteilungen haben den Rang von Gerüchten. Es ist zum Beispiel in keinem Satz und mit keinem Wort davon die Rede, dass Arnheim homosexuell sei. Das Schweigen im Roman über Arnheims Homosexualität deckt sich aber mit dem Verfahren, im Zeitalter Arnheims jemandem Homosexualität zuzuschreiben: schon fünfzig, noch unverheiratet, statt einer richtigen Geliebten eine mütterliche Seelenfreundin usw. Dass jeder zeitgenössische Leser bei Arnheim Walther Rathenau vor Augen haben musste21 und die Öffentlichkeit mit Rathenaus angeblicher Homosexualität22 genauso verfuhr wie der Mann ohne Eigenschaften mit Arnheims Geheimnis verfährt, perfektioniert das System der aus Nicht-Behauptung hergestellten Behauptung.23 Nun wissen wir zwar nicht, was Musil mit Arnheims Neigung für den Popo genau meinte, aber wir können aus den Nachlassvorstufen ableiten, was er bezweckte: Dass Ulrich gereinigt in den Endtext geht, weil Arnheim den Dreck abbekommt, lässt sich aus dem apokryphen Text ohne Weiteres herleiten. Arnheims von Stauungen, Verkehrtheit und Ideologisierung bestimmte Sexualität erhält in Musils Vorstellung einen sprachbildlichen Ausdruck: eben in Arnheims Neigung für den Popo. »An Stelle der Moral tritt Popo«,24 merkt Musil als Kennzeichen von Arnheims anal-fixierter Psyche auch noch vor. In einem Entwurf zum Romanprojekt Die Zwillingsschwester ist diese Fixierung bereits 1923/24 genauer beschrieben: 21

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In ca. 20 Besprechungen des Ersten Buchs der Jahre 1930/1931 fällt zu Arnheim das Stichwort Rathenau. – Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/zeitgenössische Rezensionen (Suche nach »Rathenau«). Nur in einer dieser Besprechungen wird, was Rathenau im Roman widerfährt, problematisiert: »Und hier ist für mich die Peinlichkeit des Buches. [. . .] Aber ich komme nicht darüber hinweg, daß Rathenau für Deutschland gefallen ist.« (E. M.: Zur Psychologie der Zeit, in: Blätter der städtischen Volksbüchereien. Breslau, September 1931) Die Zeitschrift Die Literatur druckte in ihrem April-Heft 1931 (S. 374–375) einen Auszug aus dem Arnheim-Kapitel Nr. 48 des Mann ohne Eigenschaften unmittelbar nach Zwei RathenauBildnisse aus Emil Ludwigs Geschenke des Lebens ab. Darin stellt Ludwig fest, Rathenau wäre von seinem Judentum »so irritiert, daß er es ständig betonte«, und er beschreibt außerdem auch die Geste Rathenaus, jemandem »auf eine eigene Art die Hand auf die Schulter« zu legen, die auch Musil in seinem Tagebuch erwähnt und in den Roman aufgenommen hat (»und faßt einen freundschaftlich beim Oberarm«, KA/Transkriptionen/Heft 7/37; »er trat mit einer lächelnden Bewegung an Ulrich heran, legte ihm die Hand, ja eigentlich den Arm auf die Schulter«, KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 121/1032). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ueli Boss in diesem Band. Vgl. Udo Leuschner: Walther Rathenau. Ein Dissident seiner Klasse, seiner Rasse und seines Geschlechts, in: Zur Geschichte des deutschen Liberalismus: http://www.udo-leuschner.de/ liberalismus/liberalismus4.htm (Zugriff am 18. 08. 2010). Dieses ungefähre und nicht direkte Ansprechen setzt sich selbst in der wissenschaftlichen Rezeption fort, etwa im ansonsten instruktiven Aufsatz von Dagmar Barnouw zum Transfer Rathenau-Arnheim; Walther Rathenaus Homosexualität ist dort nur eine Andeutung wert: Er hätte dem blond-blauäugigen Typ seiner Attentäter »erotische Gefühle entgegen[ge]bracht[ ]«. Dagmar Barnouw: Zeitbürtige Eigenschaften. Musils Rathenaukritik, in: Josef Strutz, Johann Strutz (Hg.): Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. München 1985 (= Musil-Studien, Bd. 13), S. 166–184, hier S. 168, Anm. 10. KA/Transkriptionen/Mappe VII/3/137.

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Zuweilen quälte ihn eine fürchterliche Vorstellung. Es war ja bei ihm fast alles, was nicht Routine war, zu Worten ausgeschlagen und wie viele geistige Menschen, welche in dem ausweglosen Glasgarten mystischer Zartheiten zu Hause sind, war er in seinem innersten Ich unbeaufsichtigt geblieben. Gewisse primitive Anlagen hatten sich in seinem Wesen einfach erhalten und kausierten seine Entscheidungen, was immer deren Motive sein mochten. So liebte er Diotimas antike Schönheit des Leibes und Geistes, aber in jenen bis zur Verzweiflung gespannten Momenten, wo kein Wort über die gefundenen Worte hinaus mehr zu finden war, ereignete es sich, daß, astral, wie Kreidelinien, die sich nicht aus der Luft wischen lassen, sondern immer mehr verdichten, die üppigen Formen von Diotimas vermutlich großem Popo vor seinem geistigen Auge zu schweben begannen.25

In der Endfassung ersetzt, im Freud’schen Sinn folgerichtig, bei Arnheim die gedankliche Befassung mit Geld zur Gänze die mit Diotimas vermutlich großem Hinterteil.26 Außerdem schlüpft der braune Knabe Soliman in die Rolle der Verkörperung von Arnheims abgespaltetem Begehren. Es scheint überdies, als wäre Sexualität nur auf der Ebene der Lakaien möglich; sie funktioniert dort als Ersatz. Nun zum Konnex zwischen Arnheims Neigung für den Popo und seiner jüdischen Identität. Es greift als Erklärung zu kurz, ist allerdings als Brücke für das Verständnis notwendig, den Antisemitismus der Zeitgenossen der 1920er Jahre zu bemühen, wie er im nationalsozialistischen Grundtext, in Hitlers Mein Kampf, im Bild des schmutzigen Juden dargestellt ist.27 Die antisemitische Universalie, dass der Jude sein Schmutzigsein verbirgt, nimmt Musils Romanarbeit durch die Zuordnung dieser beiden Figurenzuschreibungen (Neigung für den Popo/jüdische Herkunft) an die Arnheim-Figur zunächst in ihr Repertoire. Beide Zuschreibungen unterliegen im Schreibprozess einer Tendenz zur Verleugnung, zum Dementi, zur Veredelung. Dem Rüstungsindustriellen, Kunst- und Kulturmäzen und Großschriftsteller Dr. Paul Arnheim bedeutet seine jüdische Herkunft, personifiziert in der kleinen Figur seines Vaters, einen Makel, den er mit allen Anstrengungen zu überwinden 25 26 27

KA/Transkriptionen/Mappe VII/3/25–26. Vgl. die Assoziationskette Kot – Gold/Geld in Freuds Vorlesung Angst und Triebleben. Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien 1933. Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1925, S. 61: »Überhaupt war die sittliche und sonstige Reinlichkeit dieses Volkes ein Punkt für sich. Daß es sich hier um keine Wasserliebhaber handelte, konnte man ihnen ja schon am Äußeren ansehen, leider sehr oft sogar bei geschlossenem Auge. Mir wurde bei dem Geruche dieser Kaftanträger später manchmal übel. Dazu kamen noch die unsaubere Kleidung und die wenig heldische Erscheinung. Dies alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken; abgestoßen mußte man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten Volkes entdeckte. Nichts hatte mich in kurzer Zeit so nachdenklich gestimmt als die langsam aufsteigende Einsicht in die Art der Betätigung der Juden auf gewissen Gebieten. Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein.«

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sucht, bis es ihm schließlich gelingt, den noch mit der »Intuition« (seiner Familie) begabten Vater loszuwerden, indem er ihn »unter die Götter versetzt«.28 Homosexuell und jüdisch treten erst durch die Art, wie Arnheims Jüdischsein im Mann ohne Eigenschaften kommuniziert wird, miteinander in Verbindung, und zwar unter dem Aspekt des »Gerüchts«, als das es in den Roman eingeführt wird: [D]aß Dr. Arnheim – wenn sich auch die Gerüchte widersprachen und verläßliche Nachrichten noch nicht vorlagen – von jüdischer Abstammung sein sollte: von seinem Vater wurde das nämlich mit Sicherheit erzählt, nur die Mutter war schon so lange tot, daß eine Weile vergehen mußte, ehe man Genaues erfuhr.29

Das Gerücht, Jude zu sein (das mit dem Verdacht, homosexuell zu sein, implizit spielt), ist der erste Teil von Arnheims Geheimnis; die teilweise Enthüllung des zweiten Teils betreibt die Erzählung in Kapitel 65. Im Gespräch mit Diotima bringt Arnheim seine platonische Seelenfreundin mit dem »mutigen Bekenntnis zum Erröten«, dass sein Großvater mit einem »Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen« habe. Es lässt Diotima zurückschaudern, weil er den großväterlichen Betrieb als »Veredelungsverkehr für Abfälle« bezeichnet und vor der sauberkeitsbesessenen herkunftsmäßigen Kleinbürgerin Diotima ganz ungeniert den Zusammenhang zwischen Fäkalien und Geld ausbreitet, vom Bedürfnis angetrieben, »sich ihr bis ins letzte Unbekannte ungeschützt anzuvertrauen«.30 Der Verweis auf diese Textstellen reicht vielleicht aus, um den Zusammenhang zu belegen. Wenn zuerst, in der Konzeptionsphase des Romans, die Nobilitierung Ulrichs auf Kosten Arnheims betrieben wird und im kanonischen Roman die Versuche der Selbstveredelung des Judensohnes Arnheim zum Gegenstand der Satire geraten, so zeigt sich der Autor ab 1932/1933 allerdings bemüht, Arnheim im Finale des Romans wenigstens einen ehrenvollen Abgang zu verschaffen. Inzwischen ist die historische Person Walther Rathenau, auch als reale Vorlage für die Symbolisierungen des Politischen und Zeitgeschichtlichen, die Musil mit seinem Roman erreichen will, schließlich doch vom Industriellen der Vorkriegszeit und Organisator der Kriegswirtschaft 1914–1918 zum Weimarer Versöhnungspolitiker und Opfer des rechten Terrors geworden. Schon im Entwurf einer verschobenen Vorrede von 1930 beklagt und verteidigt Musil seine Verspätung: Die Bedeutung liegt weniger in den Exempeln als in der Doktrin (exempla docent). Die Demokratie des Geistes ist zum Beispiel schon bei Emil Ludwig angelangt, 28

29 30

KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 112: »Arnheim versetzt seinen Vater Samuel unter die Götter und faßt den Beschluß, sich Ulrichs zu bemächtigen. Soliman möchte über seinen königlichen Vater Näheres erfahren.« – Das Wort von der »Intuition« des alten Arnheim fällt in diesem Kapitel zwölf Mal. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 26/168. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 65/428–429.

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während ich noch Arnheim-Rathenau schildere. [. . .] Alles das ist mir nicht ganz entgangen. Aber ich bin langsam. Und ich bin mit Absicht bei meinen alten Beispielen geblieben.31

Das schmutzige Geheimnis Arnheims, welches nicht als Tiefenschicht in der feinen Unterwäsche des Bewusstseins verwahrt bleibt, sondern von öffentlichem Belang ist und Arnheim als Betrüger an den philanthropischpazifistischen Idealen der Parallelaktion in der Öffentlichkeit diskreditiert, ist sein Interesse als Rüstungsindustrieller an den galizischen Ölfeldern. Die Idee einer Rehabilitierung Arnheims, die Musil in zahlreichen Notizen zur Weiterarbeit am Roman 1932–1936 umtreibt – er legt dazu seitenlange Selbstexzerpte zu Arnheim-Stellen im Ersten Buch an32 –, gipfeln im Dialog zwischen Arnheim und Ulrich, der für das letzte Kapitel Schlußsitzung der Parallelaktion im abschließenden Romanteil Eine Art Ende vorgesehen ist. In der Kapitelstudie von 1936 findet sich die brüchige Entwurfsstelle: Arnheim zu Ulrich: melancholisch. Mehrungsmittel. Zusammenbruch Humanität. Was werden Sie tun? Ulrich: Ich gehe in Krieg . . . Arnheim: Es ist die Flucht aus dem Frieden. Sie sollten in die Schweiz gehn, zu mir kommen. Einem Deutschen dürfte ich das nicht sagen. Ulrich: ?33

Die zahlreichen Selbstexzerpte, die ins Leere laufenden Formulierungsversuche und die Brüchigkeit dieses Entwurfs mit dem Fragezeichen an der Stelle von Ulrichs Antwort weisen allesamt darauf hin, wie schwer es Musil unter den geänderten historischen Bedingungen Mitte der 1930er Jahre fiel, die subtilen Zuschreibungen an die Figur Arnheim zu revidieren.

Der Pazifismus des Lyrikers Friedel Feuermaul Eben von den Schwierigkeiten aus, Arnheim bei der Weiterarbeit an dem Roman unter geänderten politischen Bedingungen gerecht zu werden, bietet es sich an, den Sprung zu Feuermaul zu wagen; den Ausgangspunkt bildet Musils Frage in einer Nachlassnotiz aus dem Jahr 1933: »Verschärfte Frage: Wie entfernt man wieder diese so nachdrücklich eingeführte Figur?«34 Die nachdrückliche Einführung im kanonischen Roman erfolgt bekanntlich erst in der Kapitelserie Ein großes Ereignis ist im Entstehen am Ende des Zweiten Buchs. Dort taucht der Dichter Feuermaul im Schlepptau der Frau Drangsal im Salon Diotimas auf. In seiner Lyrik, so wird mitgeteilt, vertrete er den Gedanken: Der Mensch ist gut. Sein pazifistisches Gutmenschentum scheint ihn nicht daran zu hindern, sich auch mit dem Rüstungsindustriellen Arnheim 31 32 33 34

KA/Transkriptionen/Mappe II/1/266. Vgl. z. B. KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/50–56; VII/14/70–76. KA/Transkriptionen/Mappe II/7/119. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/73.

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und mit dem auf der Soiree im Hause Tuzzi ebenfalls anwesenden Kriegsminister gut zu verstehen: »Feuermaul, der ein anerkannter Gefühlsmensch war, wurde von dem Einfall besessen, man müsse etwas zu Liebe und Frieden Ratendes dem Kriegsminister selbst sagen«, der Kriegsminister reagiert eher abwehrend: »Der Kriegsminister stand gleichfalls sehr aufrecht und lächelte ausdauernd, so wie er es gewohnt war, bei einer Parade die Hand lange dankend an den Kappenschirm zu halten.«35 Und trotz aller ideologischen Gegensätze finden am Ende der Abendgesellschaft der pazifistische Lyriker Feuermaul und der proto-faschistische Student Hans Sepp zueinander, um der Parallelaktion einen von ihnen gemeinsam formulierten ›Beschluss‹ aufzuzwingen: »Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!«36 Die Figur Feuermaul wird in den Roman erst spät eingeführt, aber dafür nachdrücklich, es führt zu weit, wiederzugeben, was über Feuermaul in den vier letzten Kapiteln des veröffentlichten Zweiten Buchs alles kolportiert wird, aber es ist viel. Auf alle Fälle ist die Figur Gegenstand satirischer Verspottung wie keine andere im Roman, eine ohne eigenes Innenleben gezeichnete Spottzielscheibe. In den vier Feuermaul-Kapiteln des kanonischen Romans werden ständig Erkundigungen über Feuermaul eingezogen; zuerst von Regierungsrat Meseritscher, dem man, der personifizierten Kolportage, der dann selber Auskunftsperson ist; anschließend wird Ulrich über Feuermaul ausgefragt, von Tuzzi, Leinsdorf und General Stumm; schließlich statten die anderen wieder Ulrich, der sich mit Agathe in die Küche zurückgezogen hat, Bericht über Feuermauls Aussprüche ab. An keiner Stelle der Erzählung kommt Feuermaul selbst zu Wort, auch aus seinen Gedichten wird nirgends zitiert. Die Anwendung der erzählerischen Vermittlungstechnik der Kolportage bei der Ausstattung dieser Figur mit Eigenschaften entspricht teilweise der Verfahrensweise mit Arnheim im Ersten Buch, mit dem Unterschied, dass die Feuermaul-Zeichnung komprimierter ist, dass Arnheim im Unterschied zu Feuermaul wohl zu Wort kommt und sein Innenleben ausführlich berichtet wird. Doch zitiert der Romantext auch aus den Schriften des Großschriftstellers Arnheim nicht wörtlich. Die Feuermaul primär zugeschriebene Eigenschaft ist Pazifismus. Wie schon aus der Zusammensetzung von Vor- und Familiennamen plastisch zu erkennen ist, gerät das Begriffsfeld Pazifismus/Pazifist mit der Figur in das Schussfeld der Karikatur. Feuermauls naiven Pazifismus denunziert der kanonische Text des Romans, indem er ihn in Widerspruch zu Feuermauls Herkunft setzt; Ulrich weiß zu berichten, dass Feuermauls Vater in Ungarn Phosphor-Fabriken unterhält, in denen »kein Arbeiter älter als vierzig Jahre 35 36

KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 37/569. KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 38/596. Der Satz entstammt dem Buch des österreichischen So-

zialreformers Josef Popper-Lynkeus: Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben (erstmals erschienen 1887). Musil verwendete die Auflage von 1903 (S. 227).

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wird«.37 Auch darin trifft sich der »Erzpazifist«38 und Fabrikantensohn mit dem Stehsatz Der Mensch ist gut mit dem Philanthropen und Rüstungsindustriellen Arnheim. Doch nie ist in der Kolportage über Feuermaul davon die Rede, dass er Jude ist, mit keinem Wort. Ähnlich wie Arnheim, aber noch schärfer, figuriert Feuermaul als Gerücht-Jude. So wie man in Österreich, übrigens noch heute, sich hinüber beugt und dem Tischnachbarn die Frage ins Ohr flüstert: »Du, ist der eigentlich ein Jud?« Feuermauls jüdische Identität geht bloß aus dem Nachlass hervor, die Figur hat eine apokryphe Vor- und Nachgeschichte. Erst aus der Lektüre der Apokryphen steigt der Verdacht auf, dass zumindest eine Schicht von Feuermauls Pazifismus von einem Jüdischsein geprägt sein könnte, das in der kanonischen Romanfassung nicht mehr explizit erscheint. Für die Inszenierung in der Romanfortsetzung ist eine Lesung Feuermauls vorgesehen, am Ende des letzten veröffentlichten Kapitels von Graf Leinsdorf angekündigt: Und die Drangsal hat dann einen wirklich rettenden Einfall gehabt, es ist nämlich beschlossen worden, die heutige Versammlung ein andermal fortzusetzen. Aber der Feuermaul, oder wie er heißt, wird dabei irgendein langes Gedicht von sich vorlesen, da wird es ruhiger zugehn.39

Mit Feuermauls Lesung hätte Musil einen alten Plan aktualisiert, der sich bis in die frühen Vorstufen des Romans (Der Spion, Der Erlöser) zurückführen lässt. Ein maschingeschriebenes Brouillon von 1922 sieht den Salon Diotimas als Austragungsort der Vorlesung vor, wie überhaupt Feuermaul dort direkt im Schlepptau von Diotima steht und noch nicht als Anhängsel der Frau Drangsal auftritt: Gottlieb (Friedel?) Feuermaul gehörte zu jenen, die teils aus Ängstlichkeit (Minderwertigkeitskomplex), teils einer neu aufkommenden Mode der Güte und des Vertrauens in die unverdorbene Menschennatur folgend, aber auch wegen einer im Gymnasium und im kaufmannsklugen Elternhaus erworbenen Abneigung gegen den kalten Verstand der Menschheit am liebsten dort hineingekrochen wären, wo sie am wärmsten ist.40

Feuermauls Grundwesenszug ist Regression, seine Sehnsucht nach allumfassender Menschenliebe und Frieden wird mit dem Wunsch identifiziert, in den Schoß der Mutter zurückzukehren, der Weltfrieden ist für Feuermaul eine uterine Utopie. Da sie als Mode der Güte und des Vertrauens gesellschaftliche Geltung erlangt, die von mütterlichen Frauen getragen wird, schließt sich ihr Feuermaul bereitwillig an; er betritt das Feld von Musils Dispositio37 38 39 40

KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 37/569. KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 36/548. KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 38/605. KA/Transkriptionen/Mappe I/6/49.

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nen als Protegé »kunstsinniger Frauen«.41 Josef Strutz, der sich mit dieser Figur beschäftigt hat, sieht nur den regressiven Protest Feuermauls gegen seinen Vater, einen Industriellen, in dessen Phosphor-Werken Arbeiter elend verrecken.42 Die Vorlesungsszene von 1922 schließt noch ein weiteres Element von Feuermauls Pazifismus ein: Sein Vortrag speist sich aus dem Alten Testament. Ein Anschlussblatt mit dem Titel Jüdisch-vorchristliche Ethik enthält eine Aufstellung von Zitaten aus der Thora. Hier bringt Musil in seinen Notizen Feuermauls Pazifismus direkt mit seiner Familienherkunft in Verbindung, er hat neben der individuell-psychologischen eine ethnisch-kulturelle Wurzel in Feuermauls jüdischer Abstammung. Erst nach dem Mai 1932 fasste Musil den Entschluss zur Verbreiterung des Feuermaul-Bereichs, mehrstufig eingeführt unter dem Motto Ein großes Ereignis ist im Entstehn. Die mütterliche Bezugsperson Feuermauls ist hier nicht mehr Diotima. Seine neue weibliche Begleitfigur, die Witwe eines berühmten Arztes, die nun, in General Stumms Worten, »wahrscheinlich [. . .] aus dem Feuermaul auch einen berühmten Mann machen [will]«,43 wegen ihres personifizierten gesellschaftlichen Ehrgeizes in Diotimas Salon Drangsal genannt, ist als Anspielung auf die Witwe Gustav Mahlers und spätere Ehefrau Franz Werfels, Alma Mahler-Werfel, konzipiert.44 Daraus ergibt sich die Erkennbarkeit Feuermauls als Franz Werfel, österreichischer Schriftsteller Prager Herkunft mit jüdischen Wurzeln, für das zeitgenössische Leserpublikum; in Musils Notizen seit den 1920er Jahren ist die Herausbildung der Feuermaul-Figur allerdings noch viel tiefer mit Werfel verknüpft als bloß über dessen bedeutsame gesellschaftliche Rolle im Wien der 1930er Jahre; es geht um den in Prag geborenen, pazifistischen und jüdischen – frühexpressionistischen jungen Lyriker der Jahre 1911–1915. 1932/1933 plante und skizzierte Musil noch ein weiteres zentrales Feuermaul-Kapitel mit dem Arbeitstitel Nationen-Kapitel, zeitweise unter der Titelerwägung »Eine Einschaltung über Kakanien. Der Herd des Weltkriegs ist auch der Geburtsort des Dichters Feuermaul«,45 aus dessen Genese über den Fall Werfel hinaus viel Grundsätzlicheres zu lesen ist. Der erste Ansatz dazu stammt aber aus dem Herbst 1928,46 die Einschaltung soll da die Einführung der Figur Feuermaul einleiten und begleiten, so beginnend:

41 42

43 44 45 46

KA/Transkriptionen/Mappe I/6/49. Josef Strutz: Politik und Literatur in Musils Mann ohne Eigenschaften. Am Beispiel des Dichters Feuermaul. Königstein i. Ts. 1981 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 6), S. 87. KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 27/429. In einer Notiz steht noch: »Frau M . . r mit Fm. ist stark hervorgetreten«; KA/Transkriptionen/ Mappe II/8/84. KA/Transkriptionen/Mappe VII/14/1. Vgl. das Konvolut KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/52–62.

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Feuermaul war in der Spinn- und Webstadt B. (Tuch- und Garnstadt) als der Sohn eines reichen Tuchkommissionärs geboren; aus irgendwelchen Gründen verdienten diese Zwischenhändler mehr als die Fabrikanten selbst, und die Feuermaul’s gehörten zu den reichsten Leuten, obgleich der alte Feuermaul damit zurückhielt.47

Musil führt zu Feuermaul die Gegenfigur Biermaul ein. Vom Biermaul-Einschub geht der Entwurf zur Darstellung der demographischen Entwicklung der Stadt B. (Brünn) über und gelangt zur Reflexion nationaler Romantik als Kompensation realer demographischer, ökonomischer und bildungssoziologischer Verhältnisse; der Versuch, das Wesen der nationalen Kämpfe in Kakanien über die Figur eines Deutschnationalen und dessen Geschichte zu erzählen, darzustellen, bleibt jedoch im Ansatz stecken. Sodann setzt Musil neuerlich an, nun unter Weglassung Biermauls und in Konzentration auf Feuermaul: »In dieser Stadt war Feuermaul geboren und er wurde Pazifist«, heißt es im Entwurf. »Um das ganz zu verstehn, ist es aber nötig, sich der Kämpfe zwischen Deutschen und Tschechen zu erinnern, die sich in dieser Stadt ohne Aufhören ereignet haben«.48 Musil führt seine Geschichtsrekonstruktion mit der Ableitung des Feuermaul’schen Pazifismus aus den nationalen Gegensätzen zwischen Deutschen und Tschechen in eine Richtung, aus der er sie nicht mehr herausführen kann, sodass er die Arbeit an dem Entwurfskomplex unter anderem deswegen abbricht und einer späteren Ausarbeitung überlässt, für die er notiert: »Überarbeitung muß Rücksicht nehmen auf: Das Problem ist so darzustellen, daß Oh-Mensch-Liebe als genügend verkehrte Lösung erscheint.«49 Worin besteht das Problem? Musil erklärt die Nation zum »Apparat« und »Riesenabstraktum«, die durch keinen Inhalt festzulegen sind; man streitet stets »um eine Form-Nation«:50 »Kein Mensch hat gar die Nation gesehen, kein Mensch ist von ihr geliebt und gehaßt, gefördert oder gehindert worden«, dennoch wird nationale Identität allgemein für unverzichtbar gehalten, es ist »das Gefühl für die Nation identisch mit dem Gefühl für das Leben selbst«. Die Selbstprojektion des Einzelnen in ein Größeres, die Identifikation mit »einer durchsichtigen, aber nur zum abermillionsten Teil durchsichtigen Kugel«, die die Einzelidentität umgibt und in der sie sich aufgehoben fühlen kann, scheint notwendig: »Es gibt keinen Menschen ohne System«. Feuermaul freilich steht durch Geburt außerhalb der akzeptierten nationalen Identifikationsangebote. Zwar wird im Entwurf nicht explizit formuliert, dass Feuermaul jüdischer Abkunft ist, aber es wird deutlich gemacht, dass er weder dem deutschen noch dem tschechischen Bevölkerungsteil in B. angehöre und nur deswegen Pazifist sei. Der Pazifismus gereicht Feuermaul zum Vorteil, weil er den Mangel an kollektiver Zugehörigkeit zum 47 48 49 50

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VII/1/52. VII/1/61. VII/1/57. VII/1/62 (so auch die folgenden Zitate).

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Verschwinden bringen kann; Feuermauls Pazifismus entlarvt sich damit als ideologisch. Musil notiert: »1. Feuermaul’s Ehrgeiz ist eine Form des Für. 2. In dieser Stadt weiß er nichts besseres als Menschenliebe. 3. Hinter dem Theater geboren, Ehrgeiz, Für und In im Leben eines Dichters.« Die Konstruktion des Feuermaul-Pazifismus unterliegt der Tendenz zur Pazifismus-Denunziation, von ihrer Wurzel her. Denn Für und In (Für etwas leben versus In etwas leben) gelten Musil für unvereinbar. Er gesteht einer als ideologisch erfassten Haltung nicht zu, sie könne zugleich ethisch sein, oder ästhetisch, das heißt: eines Dichters würdig. Es überrascht nicht, dass sich in einer Randnotiz am Abbruchblatt zur Reflexion über das Kolloidartige der Nation auch der Jude »Arnheim und die Nation« finden und in Nachbarschaft der Konnex, »wie es in der Ehe Fischel zuging«. Bei Menschen jüdischer Herkunft setzt das Vordringen des Nationalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts Kompensationsstrategien und -energien frei, die von Musil 1928 ebenso kritisch betrachtet werden wie der Nationalismus selbst. Ein Teil des seit langem für Feuermaul reservierten Materials bleibt 1932/ 33 für die in der Fortsetzung des Romans nach Teilband 2/1 zu schildernde Lesung Feuermauls bei Frau Drangsal vorbehalten: »Feuermaul strebt die Vorlesung an und warum –: Literat zentral für Pazifismus, das ist Krieg«.51 Die dazu konträre Überlegung taucht in der Zeit der Ablieferung des Teilbands (Ende 1932) auf. Bei der Darstellung der gegenläufigen Tendenzen Der Mensch ist gut und Er braucht eine starke Hand hat Feuermaul plötzlich »nicht mehr die zentrale, sondern nur eine laterale Stellung«. Jetzt stellt sich die »verschärfte Frage: Wie entfernt man wieder diese so nachdrücklich eingeführte Figur?«52 In den Entwürfen zum Nationen-Kapitel von Mitte 1933 ist der pazifistische Lyriker als Sohn der Stadt B. noch präsent,53 aber ohne Erwähnung seiner jüdischen Herkunft; 1934 verfertigt Musil den ersten Entwurf des späteren Kapitels 49 der Druckfahnen (»General Stumm läßt eine Bombe fallen. Weltfriedenskongreß«), wo Stumm bereits triumphierend feststellt: »Den Feuermaul sind wir los!«54 Die Demontage der Figur muss erzählerisch plausibel gemacht werden, es melden sich Bedenken, ob dies so leicht möglich wäre: »Feuermaul kann nicht einfach verschwinden! Zu breiter Raum in Band II [. . .]. Doch wäre es so möglich. Graf Leinsdorf lehnt ihn ab«.55 Eine weitere Notiz aus demselben Zeitraum bestätigt die Unsicherheit: »Feuermaul muß wieder vorkommen [. . .]. Wo? Graf Leinsdorf ist vom Vorsatz Feuermaul-Drangsal abgekommen: Zugestimmt [. . .] 51 52 53

54 55

KA/Transkriptionen/Mappe II/8/91. Zu datieren: Mai bis September 1932. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/73.

»[. . .] und die Feuermauls gehörten schon zu den reichsten Leuten in B., ehe der Vater in Ungarn mit Salpeter oder weiß Gott welcher Mordproduktion ein noch größeres neues Leben begann«; KA/Transkriptionen/Mappe I/8/4. KA/Transkriptionen/Mappe I/8/20. KA/Transkriptionen/Mappe II/7/35.

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abgekommen«.56 Das Schwanken wird auf die Romanfiktion übertragen, die Demontage der Figur vollzieht sich, indem Leinsdorf Argumente für die Ablehnung zugeschrieben werden. Feuermaul kommt nach den Plänen von 1936 in der Fortsetzung des Romans nicht mehr aktiv vor, in Kapitel 49 der Druckfahnen rapportiert Stumm nur mehr den oben aus der Vorstufe zitierten Satz. Welche Gründe haben Musil bestimmt, Feuermaul zum Verschwinden zu bringen? Die Antwort liegt im Dilemma des Feuermaul-Pazifismus: Er ist konzipiert als a) jüdisch, b) marginal, c) opportunistisch, d) infantil. Unter dem Eindruck der politischen Wende von 1933 scheint es nicht länger ratsam, eine Figur mit diesen Attributen ins Zentrum der Romanfortführung stellen und als (fast) einzige Gegenkraft gegen die Gleichschaltung zum Krieg im Sommer 1914 etablieren zu wollen. a) jüdisch: Friedrich Bringazi geht von einer dreifachen persönlich-künstlerischen Verflechtung des Autors Musil mit dem Judentum aus: der jüdischen Herkunft seiner Frau; der monetären Unterstützung, die Musil von jüdischen Kunstsponsoren erhalten hat; einer literarischen und philosophischen Verflechtung mit dem jüdischen Geistesleben. Bringazi schreibt Musil eine prinzipielle Gegnerschaft gegen Antisemitismus und völkische Literatur zu und erkennt Musils Haltung als »ideologisch unbestechlich«57 an. Ein wesentlicher Aspekt der Zurücknahme Feuermauls besteht also möglicherweise in der Abschätzung der negativen Wirkung, die von der Darstellung des Feuermaul-Pazifismus als kontraproduktive Gegenkraft gegen die Gleichschaltung zum Krieg 1914 im Roman, parallelisiert mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 in der Realität, ausgegangen wäre. Feuermauls jüdische Herkunft an sich schon, erst recht der im frühen Entwurf vorgesehene Konnex zur alttestamentarisch-pazifistischen Tradition in Feuermauls Vortrag würden ab 1933 anders wirken als noch 1922; das Klischee vom defätistischen jüdischen Weichling könnte sich mit größerer nachteilhafter Deutlichkeit abzeichnen. Die einsetzende barbarische Judenverfolgung im Dritten Reich schiebt dem künstlerischen Prinzip, »über jüdische Figuren mit der gleichen Freiheit verfügen [zu] wollen« (siehe oben, Brief an Else Meidner), intellektuell/moralisch einen Riegel vor. Josef Strutz geht über Feuermauls Judentum zu leichtfüßig hinweg, wenn er schreibt: »Musil hat mit dem Hinweis auf ›Vorlesung bei Diotima‹ [. . .] Zitate aus der Bibel gesammelt, um dieses bildungsbürgerlich-neurotische Verhalten Feuermauls zu belegen.«58 Feuermauls Verbindung mit der alttestamentarischen Tradition, anfänglich vorgesehen und offenbar wohlüberlegt fallengelassen, ist kaum 56 57 58

KA/Transkriptionen/Mappe II/7/90. Friedrich Bringazi: Robert Musil und die Mythen der Nation. Nationalismus als Ausdruck subjektiver Identitätsdefekte. Frankfurt a. M., Berlin 1998, S. 511. Strutz: Politik und Literatur, S. 56.

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mit bildungsbürgerlich-neurotischem Verhalten abzutun. Auch Bringazi übergeht Feuermauls Judentum übrigens fast völlig und übersieht die explizite Bezugnahme auf die jüdische Tradition im geplanten Vorlesungskapitel. b) marginal: Der Ausgangsentwurf von 1922 hat vor allem das Marginale und Wirkungslose des Feuermaul-Pazifismus im Blick. Die politischen Veränderungen ab 1933 sind nicht mehr dazu angetan, dies zu ironisieren, sie lösen das lähmende Gefühl aus, mit Ironie nicht mehr ankommen zu können. Die noch nicht ironische Ausgangsreflexion von 1922 lautet: Der ganze Pazifismus und Humanitarismus, der bei Feuermaul und den Seinen so unbegründet lückenhaft und aus der Kanone geschossen wirkt, findet sich schon im alten Testament und ist dort wunderschön, denn er ist dort die Tragik eines kleinen Volks, das die Wahrheit gewusst und gewollt hat und untergegangen ist. Aber wenn diese Predigten und Exklamationen bis heute zu keinem Resultat führen konnten, so kann die Ethik, die sie enthalten, doch nicht richtig sein. Die warme Predigt des Optimismus ist falsch und richtig ist nur, den Menschen für eine kolloidale Masse zu halten, aber ihm Institutionen zu geben. Hier entwickelt Anders etwas von der dynamischen Moral und alle fallen über ihn her.59

In diesem Zitat aus der frühen Notiz zum Romanprojekt Der Erlöser scheint mir das Schwergewicht auf der Opposition zu liegen, die Musil errichtet, zwischen der warmen Predigt Feuermauls und der Entwicklung einer dynamischen Moral seitens Anders, die Institutionen schafft. Hier zeichnet sich eine frühe Entscheidung des Autors für einen harten, von rationalen politischen und sozialen Überlegungen und gegen einen weichen, von Emotionalität geprägten Pazifismus ab, die auch für heutige Leser gut nachvollziehbar ist, weil die von dieser Opposition strukturierten pazifistischen Diskurse bis in die Gegenwart wiederkehren. Die Feuermaul-Predigt sei wirkungslos und daher abzulehnen. Ob es allerdings dafür steht, in der Situation von 1933– 1936 angesichts des Siegs des militanten Nationalismus in Deutschland die warme Predigt so zu ironisieren, wie es Musil in den Feuermaul-Kapiteln des Zweiten Buchs tut, ist eine andere Frage. Eine negative Folge des Feuermaul-Pazifismus liegt nach Strutz darin, »daß die ›starke Hand‹ [. . .] regelnd eingreift«.60 Feuermaul mache sich schuldig, weil sein lautstarker Pazifismus die Macht provoziere und die Mobilisierungsmaschinerie auslöse. In der aktualisierenden Perspektive (Mobilisierung 1914 = Gleichschaltung 1933) wird eine solche Lesart der Feuermaul-Figur zur brisanten Angelegenheit, dem Pazifisten/Juden Feuermaul ist aus der Sicht von 1933 die Opferrolle bestimmt. Die Opfer sind schuldig? Der Beschluss zur Demontage Feuermauls vermeidet diese Optik.

59 60

KA/Transkriptionen/Mappe I/6/49. Strutz: Politik und Literatur, S. 49.

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Walter Fanta

c) opportunistisch: Weitere Argumente liefert die inkongruente und unfertige literarische Inszenierung der Figur. Indem der Feuermaul-Pazifismus aus der Beobachtung der dichterischen Laufbahn Werfels und anderer resultiert, denen Musil Opportunismus unterstellt, wird in ihm literarisch verfremdet das »öffentliche Suchen nach Anerkennung unter einer ideologischen, hier pazifistischen Flagge«61 dargestellt. Im Versuch, den Literaten Feuermaul durch seine Texte als notorischen Fabrikanten literarischer Gemeinplätze zu kennzeichnen, bleibt Musil jedoch stecken. Da im kanonischen Romantext weder aus Gedichten Feuermauls zitiert wird noch solche Blüten Feuermaul’scher Lyrik in den apokryphen Materialien zur Romanfortsetzung bereitstehen, beschränkt sich die Leserkenntnis vom Werk des jungen Lyrikers auf die stereotype Aussage Der Mensch ist gut. Feuermauls Opportunismus ist durch Behauptungen des Erzählers und diverser Figuren des Romans indirekt zum Ausdruck gebracht, nicht durch direkte erzählerische Inszenierung. Der Eindruck persönlicher Penetranz haftet an Feuermauls Namen und an den über ihn kolportierten Eigenschaften, er geht nicht aus von ihm Gesagtem, Rezitiertem oder Geschriebenem hervor. Das Verfahren, den Unwert des Dichters nicht durch Wiedergabe seiner Gedichte bloß zu legen, sondern durch Wiedergabe der Kolportage über ihn, kommt einer Denunziation der Figur durch ihren Autor nahe. Zwar räumt Ulrich in einem dem Großen Abend vorausgehenden Gespräch mit dem General in Kapitel 27 ein, dass Feuermaul »sogar gute«62 Verse schreibe, am Großen Abend selbst bringt er aber nichts mehr zur Verteidigung Feuermauls vor. Die Erzählung weicht in der Feuermaul-Darstellung vom Prinzip der konstruktiven Ironie ab, das besagt, dass der Autor sich im ironisierten Subjekt selbst erkennen könne;63 er befleißigt sich gegenüber dem Feuermaul-Pazifismus einer destruktiven Ironie und Ablehnung. In einer Notiz wird die »Schwierigkeit« angesprochen, »daß Feuermaul keine Figur der Erzählung«64 sei. Tatsächlich vollzieht sich der Auftritt Feuermauls in den Kapiteln 34–38 des Zweiten Buchs in erzählerischer Sekundärbelichtung. Die extrem klischeehafte Einführung des Literatur-Opportunisten heischt nach Präzisierung und konstruktiv-ironischer Mehrfachbeleuchtung in einer Fortsetzung, an der Musil ja 1933 tatsächlich noch arbeitet, aber da das Unternehmen scheitert, bleibt die Feuermaul-Figur ein Phantom. d) infantil: Gäbe es neben dem lautstarken, öffentlichkeitsgeilen, infantilen Pazifismus Feuermauls, der nicht auf Reflexion beruht, sondern auf uteriner Regression – gäbe es daneben noch einen stillen, reflektierten, nicht korrumpierbaren Pazifismus, wäre der natürlich Ulrich vorbehalten. Es be61 62 63 64

Strutz: Politik und Literatur, S. 92. KA/Lesetexte/Bd. 2 MoE/Kap. 27/429. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/65. KA/Transkriptionen/Mappe II/9/61.

Ah, Fm: Doppelschichtung, unten jüdisch

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steht offenbar ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Ulrichs und Agathes Utopie des anderen Zustands – auch eine uterine Utopie – und Feuermauls Utopismus. Weitere Notizen am Blatt, das den ersten Demontagebeschluss enthält, legen nahe, dass der Anteil Feuermauls am anderen Zustand einen Aspekt bildet, der einen weiteren Grund liefert, diese unfertige Figur zurückzudrängen. Feuermauls Stehsatz Der Mensch ist gut wird dort als »ein Missverständnis des anderen Zustands« bezeichnet. Musil folgert, dass Feuermaul deswegen »peripher« bleiben müsse, weil »diese Problematik noch nicht weit genug entwickelt« sei, um das System und die Moral des anderen Zustands mit seiner bewussten »Steuerung« und »letzte[n] Motiviertheit«65 vom individuellen auf den gesellschaftlichen Bereich übertragen zu können. Weil die Frage nach dem wahren Pazifisten offen bleibt, muss der Radius des falschen eingegrenzt werden.

65

KA/Transkriptionen/Mappe II/8/73.

Norbert Christian Wolf

Doktor Demant und Direktor Fischel Zur ›Alterisierung‹ jüdischer Figuren in Roths Radetzkymarsch und Musils Der Mann ohne Eigenschaften Abstract: Through the consideration of two characters from Joseph Roth’s The Radetzky March (1932) and Robert Musil’s The Man Without Qualities (1930/32), this article shows the psycho-social consequences of the enforced ›alterisation‹ of Jews exacerbated by the rise of anti-Semitic discourses in the late Habsburg monarchy. Such an analysis, in spite of all aesthetical differences, reveals several surprising similarities and even topological structures in habitus and concept, as shown by the designing of Jewish characters in non-nationalistic novels of the early 1930s. The elegiac-melancholic Max Demant, and especially the suffering choleric Leo Fischel, in their ambivalent dispositions, can be read as a response to the anti-Semitic stereotypes which were predominant at the time.

Die Kulturtheorie der vergangenen Jahrzehnte ist sich über alle theoretischen und methodologischen Gräben hinweg – von der Stereotypenforschung bis hin zu den Postcolonial Studies1 – relativ einig, dass eine ›imaginäre‹ Konstruktion und Stereotypisierung des ›Anderen‹ bzw. ›Fremden‹ vor allem der (stets gefährdeten und ambivalenten) Konstitution, Integration und Stabilisierung des eigenen ›Selbst‹ oder der eigenen Gruppe dient.2 Während viel Energie aufgebracht wurde, diesen Sachverhalt an historischem Material zu veranschaulichen und zugleich verschiedene Optionen des Widerstands aufzuzeigen, hat man sich weniger darum gekümmert, welche konkreten Konsequenzen eine solche ›Alterisierung‹ für ihre Opfer hat, für jene ›Objekte‹, die den erfolgreichen Zuschreibungsvorgängen nichts entgegensetzen können. Dies scheitert häufig schon daran, dass es dafür kaum aussagekräftige Quellen gibt, an die man sich halten könnte. Zu einer historisch informierten Untersuchung jener ›anderen‹ Seite der diskursiven Erzeugung von Alterität eignet sich eine ganz besondere Gruppe von Dokumenten, 1

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Vgl. Sander L. Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek b. Hamburg 1992, S. 7–36, bes. S. 8–14, sowie Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort v. Elisabeth Bronfen. Tübingen 2000, S. 97–124, bes. S. 103 f., 110 f. Vgl. Annegreth Horatschek: Alterität, kulturelle, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, Weimar 3 2004, S. 11–12, bes. S. 12.

Doktor Demant und Direktor Fischel

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denen man aufgrund ihres fehlenden Referenzialisierungsanspruchs keinen privilegierten Zugang zur ›Wahrheit‹ zubilligt, obwohl sie ihn doch so gern für sich reklamieren: der fiktionalen Erzählliteratur. Hier lassen sich passiv erfahrene Stereotypisierungen und Stigmatisierungen gleichsam ›von Innen‹ beobachten, weil sich die Erzählliteratur viel stärker als andere Textsorten introspektiver Darstellungsverfahren bedient. Der folgende Beitrag zum Themenschwerpunkt »Musil und die Fremdheit der Kultur« verfolgt das Ziel, am Beispiel zweier höchst unterschiedlicher Romanfiguren die Auswirkungen solcher diskursiver, ja performativer Erzeugung von ›Fremdheit‹ auf deren unfreiwillige Protagonisten nachzuzeichnen, wie sie in zwei kanonischen Erzähltexten der frühen 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts vor Augen geführt wird, und sodann sozial- und diskursgeschichtlich bzw. kultursoziologisch zu kontextualisieren.3 Am verzweifelten Choleriker Leo Fischel lässt sich die bei Musil romankonstitutive Problematik der sozialen Produktion von Eigenschaften plastisch veranschaulichen, während der elegisch-stille Melancholiker Max Demant Roths »rückwärts gewandte Utopie«4 des untergegangenen multinationalen Habsburgerreichs verkörpert, jener ganz emphatisch verstandenen »Heimat«5 so vieler mitteleuropäischer Juden. Bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Charaktere sowie der Romananlagen im Ganzen überraschen jedoch mehrere habituelle und konzeptionelle Gemeinsamkeiten, die auf topische Strukturen in der literarischen Gestaltung jüdischer Figuren aus dieser Zeit verweisen und als Antwort auf die seinerzeit grassierenden antisemitischen Stereotypen gelesen werden können. 3

4

5

Als methodologische Grundlage dafür dient das in Auseinandersetzung mit Bourdieus Habituskonzept entwickelte Modell der Figurenanalyse, das ich in meiner noch unveröffentlichten Habilitationsschrift Kakanien oder Der moderne Roman als Gesellschaftskonstruktion. Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts im »Mann ohne Eigenschaften« (FU Berlin 2009; in überarbeiteter Form: Wien, Köln, Weimar 2011), auf der auch die folgenden Ausführungen zu Leo Fischel beruhen, vorgestellt habe. Dargelegt wird es auch in den einleitenden Bemerkungen zu Norbert Christian Wolf: Ein trojanisches Pferd des Militärs. General Stumm von Bordwehr als Exponent ›struktureller Herrschaft‹ in Musils Mann ohne Eigenschaften, in: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie Nr. 4 (Oktober 2010), S. 24–54, hier S. 24–30; Onlineausgabe: http://lithes.uni-graz.at/lithes/beitraege10_04/heft_4_wolf.pdf. Die Formel nach Martha Wörsching: Die rückwärts gewandte Utopie, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband Joseph Roth. München 1982, S. 90–100; vgl. in diesem Sammelband auch die Diagnose von Hartmut Scheible: Joseph Roths Flucht aus der Geschichte, S. 56–66. So Joseph Roth: Vorwort zu meinem Roman: »Der Radetzkymarsch«, in: ders.: Werke. Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936. Hg. und mit einem Nachwort v. Fritz Hackert. Köln 1990, S. 874–875, hier S. 874. Wenn Roth sich im selben Text auf viele andere seiner »internationalen Landsleute« beruft, die gleich ihm mit Österreich »ein Vaterland und damit eine Welt verloren haben« (S. 875), dann ist wohl in erster Linie die jüdische Bevölkerung der Habsburgermonarchie gemeint. Zu den sozialhistorischen Hintergründen dafür, dass diese im Vielvölkerstaat tatsächlich als »das Staatsvolk par excellence« bezeichnet werden konnte, vgl. Michael Pollak: Wien 1900. Eine verletzte Identität. Konstanz 1997 (= édition discours, Bd. 6), S. 79.

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Norbert Christian Wolf

Nicht von Anbeginn seiner Arbeit am Mann ohne Eigenschaften, sondern erst einige Jahren danach hat sich Musil entschieden, seine Figur des liberalen Bankprokuristen mit einer jüdischen Herkunft auszustatten. Dies ist soziologisch insofern plausibel, als das um 1900 mit 200 000 Mitgliedern zur »größten jüdischen Gemeinde Europas« angewachsene Wiener Judentum6 einen maßgeblichen Teil, ja geradezu den »Kern des ›liberalen Bildungsbürgertums‹« in der Hauptstadt des Habsburgerreichs ausmachte.7 Der kanonische Romantext präsentiert Leo Fischel als Sohn eines offenbar selbst bereits assimilierten Juden, »der Rechtsanwalt in Triest gewesen war« (MoE, S. 479). Zu Beginn der Basiserzählung ist er gut 50 Jahre alt.8 Die individuelle fiktionale Familiengeschichte verkörpert mithin auf idealtypische Weise den sozialen Aufstieg des österreichischen Judentums, dessen Generationenfolge häufig von der ländlichen Peripherie über Provinzhauptstädte ins politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Wien führte.9 Durchaus vergleichbar damit entwirft Roth die Herkunft seiner Nebenfigur Max Demant im Radetzkymarsch: »Er stammte aus einem der östlichen Grenzdörfer der Monarchie. Sein Großvater war ein frommer jüdischer Schankwirt gewesen, und sein Vater, nach zwölfjähriger Dienstzeit bei der Landwehr, mittlerer Beamter im Postamt des nächstgelegenen Grenzstädtchens geworden.« (R, S. 21010 ) Es handelt sich also in beiden Fällen um eine über drei Generationen verlaufende Assimilationsgeschichte, die allerdings jeweils auf halber Strecke steckenbleibt: Beruflich ist »Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank« nämlich »nur Prokurist mit dem Titel Direktor« 6

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Deborah Holmes, Lisa Silverman: Zwischenraum, Zwischenzeit. Wien nach 1918, in: Wolfgang Kos u. a. (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. Wien 2010 (= Sonderausstellung des Wien-Museums, Bd. 361), S. 32. Zur beeindruckenden quantitativen und qualitativen Entwicklung der jüdischen Population Wiens vgl. auch Pollak: Wien 1900, S. 109 f.; Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München, Zürich 1996, S. 468 f. So Steven Beller: Was nicht im Baedeker steht. Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Wien, Köln, Weimar 2009, S. 1–16, hier S. 5, unter Verweis auf ders.: Wien und die Juden. 1867–1938. Wien, Köln, Weimar 1993 (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 23), S. 42–81. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/97 sowie vor allem Fischels Aussage im nachgelassenen Kapitel »Gerdas Rückkehr« aus den Kapitelgruppen-Entwürfen der späten 20er Jahre: »Ich bin 7 Jahre alt gewesen, wie wir den Krieg gegen Preussen [1866] hatten.« (MoE, S. 1623) Diese Information, derzufolge Fischel zu Beginn der Basiserzählung 54 Jahre alt wäre, steht freilich unter dem Vorbehalt, dass sie aus dem apokryphen Romantext stammt, und weicht signifikant vom (angeblichen) biografischen Modell Wolfgang Theodor Reichle ab. Vgl. etwa Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 1991, S. 19. Zitiert wird im Fließtext hier und im Folgenden mit der Sigle R und (in Klammern gesetzten) Seitenangaben nach Joseph Roth: Radetzkymarsch. Roman [1932], in: ders.: Werke. Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936. Hg. und mit einem Nachwort v. Fritz Hackert. Köln 1990, S. 137–455.

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(MoE, S. 133) bzw. bloß »ein Abteilungsleiter« (MoE, S. 136), was auch für sein privates Leben ein gewichtiger und folgenreicher Sachverhalt ist und noch zu diskutieren sein wird. Max Demant hingegen ist – wie viele assimilierte Juden gegen Ende der Monarchie11 – Mediziner geworden, ja gilt »ohne Zweifel« sogar als »ein guter Arzt«, was »unter Militärärzten in jeder Beziehung eine Seltenheit« darstelle. Dennoch zeigt sich der Erzähler verwundert: »Seinem Alter wie seiner Dienstzeit nach hätte er Stabsarzt sein müssen. Niemand wußte, warum er es noch nicht war. Vielleicht wußte er selbst es nicht.« (R, S. 210) Dieser Umstand, den der nie um einen flotten Spruch verlegene Rittmeister Taittinger in der Formel »Karriere mit Widerhaken« auf den Punkt bringt (R, S. 210), wird von Roths Erzähler durch seine ausdrückliche Thematisierung als ominös in den Fokus des Interesses der Leserinnen und Leser gerückt. Die so eigenartig gebremste Karriere Max Demants ist für sein Leben von großer Bedeutung, resultiert doch daraus sowie aus der Unmöglichkeit, ziviler Arzt oder gar Universitätsmediziner zu werden,12 nicht zuletzt das Scheitern seiner Ehe: »Mich befriedigt dieser Beruf keineswegs [. . .]. Wo wäre ich heute schon, ohne diesen Dienst? Ich hätte eine ganz große Stellung in der Welt, und Evas Ehrgeiz wäre zufriedengestellt. Denn sie ist ehrgeizig, leider! [. . .] Sie ist unzufrieden [. . .] und sucht sich zu zerstreuen.« (R, S. 215) In der konstitutionellen Unzufriedenheit beider Eheleute gründet Demants persönliches Schicksal: »Der Regimentsarzt hatte keine Kinder. Er wünschte auch keine. . . Seine Frau nämlich – / An dieser Stelle pflegte Doktor Demant seine Erinnerungen abzubrechen.« (R, S. 211) Die Kinderlosigkeit erweist sich hier selbst als mittelbare Folge seines Karriereknicks. Wie im weiteren Verlauf des Romans deutlich wird, ist die Beziehung zu der von ihm lange geliebten, offenbar nichtjüdischen Gattin mit dem Geburtsnamen Eva Knopfmacher (vgl. R, S. 212), die ihm nur noch Blicke wie »falsche, nachgemachte

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Vgl. Hamann: Hitlers Wien, S. 470: »Die beliebtesten Fächer jüdischer Studenten waren Medizin – 1913 stellten sie mehr als 40 Prozent der Medizinstudenten in Wien – und Jus: 1913 mehr als ein Viertel der Jusstudenten. Juden bevorzugten die freien Berufe der Rechtsanwälte und Ärzte.« Die Angaben folgen Leo Goldhammer: Die Juden Wiens. Eine statistische Studie. Wien, Leipzig 1927, S. 40. Wie Hamann: Hitlers Wien, S. 472, mitteilt, übte der damals berühmte Mediziner Theodor Billroth sogar öffentlich Kritik »an dem seiner Meinung nach allzu hohen Anteil jüdischer Medizinstudenten aus Ungarn und Gallizien.« Vgl. Theodor Billroth: Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation, nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten. Eine culturhistorische Studie. Wien 1876, S. 153 f. Wie Ingrid Kästner: Der Regimentsarzt Dr. Demant in Joseph Roths »Radetzkymarsch«, in: Albrecht Scholz (Hg.): Das Bild des jüdischen Arztes in der Literatur. Frankfurt a. M. 2002 (= Medizin und Judentum, Bd. 6), S. 92–101, hier S. 97, aus den Informationen des Textes schließt, »hat sich Demant mit Stundengeben zuerst das Gymnasium, dann das Medizinstudium erhungert. Einzige Möglichkeit, der Armut zu entkommen, ist der Dienst bei der Armee.«

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Blitze aus Eis« entgegenwirft oder mechanisch hervorgebrachte Sätze, die »wie ein Gähnen« klingen (R, S. 216 f.), längst unrettbar erkaltet: Sie hob den schwarzen Vorhang ihrer Wimpern und maß ihn mit nackten, schrecklich nackten Augen, von Kopf zu Fuß [. . .]. Der schlanke und volle Schwung ihrer seidenen Beine erinnerte ihn flüchtig an Gliedmaßen in den Schaufenstern der Modehäuser, die ganze Frau war zusammengesetzt, aus Stücken zusammengesetzt.[13] Er liebte sie nicht mehr, er liebte sie nicht mehr. Er war erfüllt von einer Gehässigkeit, die er selbst haßte, einem Zorn, der wie ein unbekannter Feind aus fernen Gegenden zu ihm gekommen war und nun in seinem Herzen wohnte. (R, S. 218)

Der Militärarzt empfindet eine doppelte Fremdheit, denn einerseits kommt er in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft nie richtig an, andererseits bewirkt seine Assimilation eine Entfremdung von der eigenen Herkunft,14 wie die Erinnerung an seinen Großvater, den jüdischen Schankwirt, zeigt: »Wenn er gewußt hätte, daß sein Enkel einmal in der Uniform eines Offiziers und mörderisch bewaffnet durch die Welt spazieren würde, hätte er sein Alter verflucht und die Frucht seiner Lenden. Schon sein Sohn, Doktor Demants Vater, der mittlere Postbeamte, war dem Alten nur ein zärtlich geduldeter Greuel.« (R, S. 210 f.) Noch kurz vor seinem Tod wird Max Demant »die erloschene Stimme des Großvaters« mahnend als »ferne[n] Widerhall aus ferner Kindheit« vernehmen: »›Höre Israel‹, sprach die Stimme, ›der Herr, unser Gott, ist der einzige Gott!‹« (R, S. 240) Doch Demants Assimilation ist bereits so unumkehrbar wie unvollendet und führt in eine auswegslose Aporie (vgl. R, S. 239). Charakterlich zeichnet den nachdenklichen »Bücherwurm« mit dem »zivilistisch[en]«, ganz und gar »unmilitärische[n] Wesen« (R, S. 205) eine im dumpf-brutalen Kontext des Militärs auffallende moralische Integrität aus: So sträubt sich der verheiratete Mann gegen den als »Liebesmanöver« (R, S. 206) camouflierten gemeinschaftlichen Bordellbesuch (vgl. R, S. 207–209) und legt gegenüber dem jüngeren Freund Trotta großen Respekt sowie eine anrührende Brüderlichkeit an den Tag (vgl. R, S. 207, 220, 237), obwohl er ihn doch zwischenzeitlich einer Affäre mit der eigenen Frau verdächtigt (vgl. R, S. 219–221). Wie alle Offiziere leidet auch er an der lähmenden »Eintönigkeit« des Garnisonsalltags an der russischen Grenze und wartet »auf irgendein außergewöhnliches Ereignis«, das dann aber als »furchtbare Überraschung« ganz anders ausfällt als erwartet (R, S. 222). Der gleichsam 13

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Das traditionsreiche, latent misogyne Motiv der künstlichen, ›zusammengesetzten‹ Frau, idealtypisch etwa durch die Figur der Kunigunde von Thurneck aus Kleists Käthchen von Heilbronn verkörpert, wird hier bezeichnenderweise nicht einer jüdischen, sondern einer ›arischen‹ Figur auf den Leib geschrieben. Zu den aus strukturell vergleichbaren Erfahrungen (im Sinne von double-bind-Effekten) resultierenden »zerrissenen, in sich gespaltenen Habitus« vgl. Pierre Bourdieu: Widersprüche des Erbes, in: ders. u. a.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997, S. 651–658, hier S. 656.

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ex nihilo, nämlich aus dem allgemeinen ennui und der daraus resultierenden Inaktivität entstehende dramatische Höhepunkt der Demant-Episode im Radetzkymarsch ist zugleich ein nihilistischer Tiefpunkt der Fremdheitserfahrung des Militärarztes innerhalb der tagtäglichen Langeweile: Eine Reihe süffisanter Bemerkungen über die eheliche Treue Eva Demants seitens des betrunkenen Rittmeisters Tattenbach mündet in den unmotivierten und acht Mal wiederholten antisemitischen Ausfall »Jud, Jud, Jud!« (R, S. 226), den der Doktor aufgrund des militärischen Komments mit einer Duellforderung beantworten muss, hinter der er selber gar nicht steht (vgl. R, S. 226, 233). Max Demants ererbte ›jüdische‹ Humanität und Gewaltlosigkeit,15 aber auch seine ebenfalls topische kritische Rationalität (vgl. R, S. 234, 237 f.) kann sich gegen diese stärkere Macht nicht behaupten: »Ein stupides, eisernes Gesetz ließ keinen Ausweg frei.« (R, S. 239) In Form der erlebten Rede zeigt Roth die resignative Figurensicht: »Ein nichtswürdiges, infames, dummes, eisernes, gewaltiges Gesetz fesselte ihn, schickte ihn gefesselt in einen dummen Tod.« (R, S. 238) Die Unmöglichkeit eines friedlichen und gleichberechtigten menschenwürdigen Zusammenlebens hat bei ihm schon lange vorher jene melancholische Grundstimmung ausgelöst, die sich in regelmäßigen Friedhofsbesuchen (vgl. R, S. 209) sowie in einer überall und ständig empfundenen Einsamkeit niederschlägt (R, S. 216) und zuletzt seine Selbstaufgabe bewirkt: Er hatte, der kluge Doktor Demant, bereits mit der Welt Schluß gemacht, seine Frau zu ihrem Vater nach Wien geschickt, seinen Burschen beurlaubt, sein Haus verschlossen. [. . .] Er war fertig. Seitdem er angefangen hatte, den ungewohnten Schnaps zu trinken, war es ihm sogar möglich gewesen, in diesem sinnlosen Duell irgendeinen geheimen Sinn zu finden, den Tod herbeizuwünschen als den gesetzmäßigen Abschluß seiner irrtümlichen Laufbahn, ja einen Schimmer der jenseitigen Welt zu erahnen, an die er immer geglaubt hatte. (R, S. 235 f.)

Als Ausweg bleibt dem romaninternen Repräsentanten des Prinzips ›Menschlichkeit‹, in dem man wohl auch ein alter ego Joseph Roths erblicken kann,16 nur Apathie, Glaube und die Flucht in den Alkohol. Gemeinsam mit dem ›Antihelden‹ Leutnant Trotta ereilt ihn das traurige Schicksal der nachgeborenen Enkel (vgl. R, S. 220, 234, 237),17 wie der nostalgische Erzähler in 15

16 17

Zum kultursoziologischen Hintergrund vgl. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005, S. 94, Anm. 80: »Die Konstruktion des traditionellen jüdischen Habitus in den Ländern Mitteleuropas Ende des 19. Jahrhunderts stellt sich als die vollkommene Umkehrung des Konstruktionsprozesses des männlichen Habitus [. . .] dar. Die ausdrückliche Ablehnung des Gewaltdiskurses, selbst in seinen ritualisierten Formen, wie dem Duell oder dem Sport, führt zu einer Abwertung körperlicher Übungen, zumal der gewalttätigsten[,] zugunsten der intellektuellen und spirituellen Übungen, was die Entwicklung sanfter und ›friedliebender‹ Dispositionen (durch die Seltenheit von Vergewaltigungen und Bluttaten bezeugt) in der jüdischen Gemeinschaft begünstigt«. Vgl. Kästner: Der Regimentsarzt Dr. Demant in Joseph Roths »Radetzkymarsch«, S. 94. Vgl. Kästner: Der Regimentsarzt Dr. Demant in Joseph Roths »Radetzkymarsch«, S. 96.

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einer selbst etwas müde wirkenden Adaptation des damals schon betagten, von Thomas Manns Buddenbrooks (1901) in der Romankunst etablierten Degenerationsparadigmas18 nahelegt. Leo Fischel hingegen, dessen »gesunder Geschäftssinn vaterländischen Aktionen, die von hohen Kreisen ausgingen, abhold war« (MoE, S. 133), figuriert als Vertreter eines weitaus pragmatischeren, weil ökonomischen Rationalismus. Er ist habituell noch stärker als Demant geprägt vom österreichischen Gründerzeitliberalismus, der seiner Familie und ihm selbst die ersehnte Assimilation ermöglicht hat.19 Darüber hinaus lehnt er präzisere und weitergehende ideologisch-politische Festlegungen unter Berufung auf das dafür in ausdifferenzierten modernen Gesellschaften nötige Spezialistentum ab,20 wie Musils Erzähler mit einigem Amüsement berichtet: Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank glaubte, wie es alle Bankdirektoren vor dem Kriege taten, an den Fortschritt. Als ein Mann, der in seinem Fach tüchtig war, wußte er natürlich, daß man nur dort, wo man sich wirklich sehr genau auskennt, eine Überzeugung haben kann, auf die man selbst setzen möchte; die ungeheure Ausbreitung der Tätigkeiten läßt ihre Bildung anderswo nicht zu. Darum haben die tüchtigen und arbeitsamen Menschen, außer auf ihrem engsten Fachgebiet, keine Überzeugung, die sie nicht sofort preisgeben würden, wenn sie einen äußeren Druck dagegen spüren; man könnte geradezu sagen, sie sehen sich aus Gewissenhaftigkeit gezwungen, anders zu handeln, als sie denken. (MoE, S. 135)

Die ironisch geschilderte Bereitschaft, eigene Überzeugungen und Interessen hintanzustellen,21 die der Erzähler (in Übereinstimmung mit neueren sozio18

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Affirmativ vertreten etwa von der berühmten Rezension des Radetzkymarsch durch Georg Lukács, die 1939 (in russischer Sprache) in der Moskauer Literaturnaja gazeta erschien; in deutscher Übersetzung wiedergegeben in: Daniel Keel, Daniel Kampa (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk. Zürich 2010, S. 432–439, hier S. 437. Vgl. Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hg. v. Therese Nickl, Heinrich Schnitzler. Mit einem Nachwort v. Friedrich Torberg. Frankfurt a. M. 1981, S. 77, zu den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts: »Damals, es war in der Spätblütezeit des Liberalismus, existierte der Antisemitismus zwar, wie seit jeher, als Gefühlsregung in zahlreichen, dazu disponierten Seelen und als höchst entwicklungsfähige Idee; aber weder als politischer noch als sozialer Faktor spielte er eine bedeutende Rolle.« Zur weiteren Entwicklung vgl. Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918. Nachdruck der Ausgabe 1949. Mit einer Einführung v. Georg Knepler. Wien 1978, S. 6: »In kulturpolitischen Fragen, dann in der Judenfrage, die von den achtziger Jahren an in den Vordergrund rückte, blieb der Liberalismus demokratischen Auffassungen treu. In beinahe allen anderen Dingen stellte er während der letzten monarchischen Jahrzehnte eine reaktionäre Kraft dar.« Zur Gesamtproblematik vgl. den Abschnitt »Jüdische Liberalität« aus dem Kapitel »Der liberale Vater« in Ernst Hanisch: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2005, bes. S. 327 f. Vgl. Stefan Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils. München 1984 (= Musil-Studien, Bd. 9), S. 315. Zur problematischen »Funktionärsmoral« Fischels vgl. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 315, sowie Hartmut Böhme: Theoretische Probleme der Interpretation von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, in: Manfred Brauneck (Hg.):

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logischen Erkenntnissen22 ) als charakteristisch für das assimilations- und aufstiegswillige (Klein)Bürgertum kennzeichnet (vgl. MoE, S. 137), schließt eine über bloße Verlautbarungen hinausgehende idealistische Grundhaltung jenseits des ökonomischen Utilitarismus und technologischen Progressismus praktisch aus. Der von Fischel zum Ziel allen politischen und wirtschaftlichen Handelns erhobene »Fortschritt«, den er den »gefährlichen revolutionären Geschichtsphilosophien«23 als ideologische Schwundstufe des philosophischen Optimismus entgegenhält, trägt insgesamt recht amorphe Züge: »[A]ufgebraucht von Lombarden und Effekten oder was immer er unter sich hatte, einmal jede Woche einen Sitz in der Oper als einzige Erholung, glaubte er an einen Fortschritt des Ganzen, der irgendwie dem Bild der fortschreitenden Rentabilität seiner Bank ähneln mußte.« (MoE, S. 135) Fischel vertritt dergestalt ein ziemlich eindimensionales wirtschaftsliberales Credo, das ihm bei der Konfrontation mit idealistischen politischen Projekten so unterschiedlicher Romanfiguren wie Graf Leinsdorf (vgl. MoE, S. 135) oder Hans Sepp (vgl. MoE, S. 483 f.) zu passivem Widerstand oder gar zu leidenschaftlicher Entgegnung gereicht. Er erweist sich damit als Karikatur jenes österreichischen und europäischen Liberalismus,24 den der selbst aus einschlägigem Wiener Milieu stammende Stefan Zweig im Rückblick wie folgt beschrieben hat: Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Menschheit eben noch unmündig

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Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert. Analysen zur Theorie und Soziologie des Romans. Bd. 1. Bamberg 1976, S. 181–208, hier S. 192. Vgl. Pierre Bourdieu: Klassenschicksal, individuelles Handeln und das Gesetz der Wahrscheinlichkeit, in: ders., Luc Boltanski, Monique de Saint Martin, Pascale Maldidier: Titel und Stelle. Über Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt a. M. 1981, S. 169–208, hier S. 185: »Letztlich kennt und anerkennt das aufsteigende Kleinbürgertum bei der Entwicklung wie bei der Beurteilung der Praxen kein anderes Kriterium als den Beitrag, den diese Praxen zum sozialen Aufstieg leisten. Und obgleich es gewöhnlich viel strenger auf die Einhaltung von Sitte und Anstand achtet als die anderen Klassen [. . .], kann es sich deshalb – ohne daß darin ein Widerspruch gesehen wird – in bestimmten Fällen sehr viel weniger sittenstreng zeigen, als es der herrschenden Moral entspricht, weniger streng auch als die am stärksten auf diese Moral bedachten Fraktionen der herrschenden Klasse, nämlich immer dann, wenn die verurteilten Praxen [. . .] dem Aufstieg dienen.« So Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München 2004, S. 294, der Fischels »gewissermaßen schon postmoderne Abstinenz« von Ideologien schließlich doch recht kleinlaut als »auch eine Art Geschichtsphilosophie« (ebd., Anm. 35) bezeichnet. Blaschkes Analyse fehlt im Übrigen das Sensorium für die Ironie des Erzählerkommentars. Wohl etwas überzogen scheint hier die Deutung von Claudio Magris: Arnheim und Papa Fischel, in: ders.: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974, S. 144–151, hier S. 146, wonach sich die Figur Leo Fischels als Verkörperung der »Menschlichkeit der individuellen und liberalen Kultur des 19. Jahrhunderts in ihrer edelsten und echtesten Form« erweise.

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und nicht genug aufgeklärt gewesen. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und Technik. [. . .] An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.25

Eine angemessene Bewertung der patriotischen Vorhaben in Sachen Parallelaktion bereitet einem Mann vom Schlage Fischels deshalb Schwierigkeiten. So hält er an seinem bis dato bewährten »Glaube[n] an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts« (MoE, S. 204) beharrlich fest, ohne sich allzu intensiv um deren Voraussetzungen, Grundlagen, Implikationen und Konsequenzen zu kümmern: Der Lloyd-Bank-Direktor Fischel philosophierte gern, aber nur zehn Minuten täglich. Er liebte es, das menschliche Dasein als vernünftig begründet zu erkennen, glaubte an seine geistige Rentabilität, die er sich gemäß der wohlgegliederten Ordnung einer Großbank vorstellte, und nahm täglich mit Gefallen zur Kenntnis, was er von neuen Fortschritten in der Zeitung las. (MoE, S. 204; vgl. MoE, S. 134)

Leo Fischel folgt also »den alten«, ihm selbst »günstigen Grundsätzen des Liberalismus«, d. h. »den großen Richtbildern der Freigeistigkeit, der Menschenwürde und des Freihandels« (MoE, S. 204), ohne Konzessionen an die ›neue Zeit‹. Er entspricht damit auf das Genaueste den politischen Idealen der Vätergeneration der jüdischen Assimilation26 und leidet dementsprechend außerordentlich unter dem Niedergang des kakanischen Liberalismus vor 1900,27 dessen historische Folgen der Soziologe Michael Pollak umrissen hat: Der langsame Zerfall des Liberalismus ebnete in den 1880er Jahren die Bahn für die nationalistische und die christlich-soziale Bewegung. Sie hatten im Antisemitismus einen gemeinsamen Nenner. Diese Veränderungen stellten eine Bedrohung für das Reich und die jüdische Gemeinschaft dar, die einzige Gruppe, die im Falle eines Zusammenbruchs des Reiches kein eigenes Territorium für sich beanspruchen 25 26

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Zweig: Die Welt von Gestern, S. 16 f. Nach Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich, S. 6, wurden die österreichischen Liberalen seit den 80er Jahren »mehr und mehr zu einer konservativen Gruppe, der es als Ziel vorschwebte, die bestehenden Verhältnisse, welche ihr günstig waren, gegen empfindliche Eingriffe zu sichern.« Vgl. Ernst Bruckmüller: Sozialgeschichte Österreichs. Wien, München 2 2001, S. 333 f.; Hanisch: Männlichkeiten, S. 327 f.; Pollak: Wien 1900, S. 105 f.

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konnte. [. . .] Das Ende des Liberalismus und der damit einhergehende Aufstieg des Antisemitismus wurde von denen auf tragische Art und Weise empfunden, deren Status durch die Auflösung des Staates in eine unmittelbar bedrohliche Lage geriet: die Juden, die die 1883 publizierte höchstoffizielle Geschichte der Monarchie [Die Völker Oesterreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen, N. C. W.] ein ›Volk‹ nennt, ohne diesem Volk die Qualitäten einer Nation zuzuerkennen [. . .].28

Pollaks ideologiegeschichtliche Skizze verdeutlicht, dass Musil sich sehr genau an den konkreten historischen Erscheinungsformen des Wiener Antisemitismus orientiert29 und dessen erschreckende Ausbreitung seit 188030 zum Anlass nimmt, die überindividuellen Entwicklungen in einer idealtypischen Romanfigur und ihrer familiären Umgebung zu spiegeln. Die bei flüchtigem Blick vielleicht privat erscheinenden Ursachen für die Zerrüttung der Ehe Fischels liegen nämlich nicht zuletzt im grassierenden Antisemitismus verborgen, der den sozialen Aufstieg des Mannes jüdischer Herkunft massiv behindert. So erwähnt der Erzähler ausdrücklich, dass Leo »aus Gründen, über die er niemals richtig Auskunft geben wollte, über die Stufe eines Prokuristen nicht wegkam und alle Aussicht verlor, jemals wirklicher Bankdirektor zu werden« (MoE, S. 203; vgl. MoE, S. 481). Die ominösen ›Gründe‹ dafür, dass »die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblieben war« (MoE, S. 203), obwohl er sich doch stets »nach der leitenden Stellung« sehnt,31 sind dem Opfer des Rassismus selber zwar so peinlich, dass er sie sich nicht eingestehen, geschweige denn sie thematisie28 29

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Pollak: Wien 1900, S. 109, 119; vgl. auch ebd., S. 120, und – differenzierend – Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich, S. 8–10. Dagegen Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 315; vgl. auch ebd., S. 316: »Tatsächlich hat der Antisemitismus in der österreichischen Politik vor dem 1. Weltkrieg eine gewisse Rolle gespielt, doch stellt die Auseinandersetzung zwischen dem Liberalismus und den ›Rassentheorien‹ keineswegs den zentralen Gegensatz der Epoche dar. Diese wird vielmehr durch das Aufkommen der Arbeiterbewegung und des theoretischen Sozialismus bestimmt. [. . .] Die ›Verdrängung‹ des Liberalismus durch den Antisemitismus geschieht nicht als Kampf zweier antagonistischer Ideologien, sondern lässt sich begreifen als Ersetzung der vorherrschenden bürgerlichen Politik durch eine neue Form, wobei der Antisemitismus immer droht, sich der bürgerlichen Instrumentalisierung eigendynamisch zu entziehen. Musil beschreibt also nicht die gesamte gesellschaftspolitische Entwicklung, sondern nur den für seine Figur Fischel zentralen Bereich der dominierenden bürgerlichen Politik.« Eine adäquate Darstellung der ›gesamten gesellschaftspolitischen Entwicklung‹ wäre Musil demnach nur dann gelungen, wenn er statt der angeblich nebensächlichen Antisemitismus-Problematik den Konflikt zwischen bürgerlichen Kapitalisten und proletarischen Sozialisten gestaltet hätte. Vgl. Wolfgang Häusler: Stereotypen des Hasses. Zur Geschichte antisemitischer Ideologien und Bewegungen in Österreich bis 1918, in: Klaus Amann, Hubert Lengauer (Hg.): Österreich und der große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte. Wien 1989, S. 24–31, hier S. 27 f., sowie jetzt den instruktiven Überblick in Albert Lichtblau: Antisemitismus 1900– 1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte, in: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Wien, Köln, Weimar 2009, S. 39–58. KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/176.

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ren will – hier ähnelt er wieder Joseph Roths wenig später entworfenem Regimentsarzt Max Demant; sie lassen sich aber aus dem vom Erzähler eingenommenen analytischen und historischen Abstand unschwer in Fischels jüdischer Herkunft ausmachen, die in Kakanien zur Zeit des unaufhörlichen antisemitischen Diskursterrors eine ›normale‹ Karriere des Assimilanten extrem erschwerte oder gar verunmöglichte. Dass dies den Wiener historischen Gegebenheiten nicht nur der Zwischenkriegsjahre, sondern schon der unmittelbaren Vorkriegszeit entspricht,32 bestätigt Arthur Schnitzler in einer um 1912 entstandenen und für die Nachwelt bestimmten biographischen Notiz, in der er betont, was für eine Bedeutung, seelisch fast noch mehr als politisch und sozial, zur Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, der sogenannten Judenfrage zukam. Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger. [. . .] Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte [. . .], ganz unberührt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren [sic] ließ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt.33

Genau eine solche schlechterdings ›unmögliche‹ Taktik der ostentativen ›Gleichgültigkeit‹ verfolgt indes Leo Fischel, doch angesichts der von seiner eigenen ›christlichen‹ Frau aus ganz anderen als primär ideologischen Motiven provokant verteidigten antisemitischen Umtriebe im eigenen Haus fühlt er sich gleich von zwei Seiten in die Enge getrieben: »›Ich lache!‹ behauptete Fischel. Aber er irrte sich, er weinte; innerlich, vor Unmacht [sic], der geistigen Veränderungen in seiner Umgebung Herr zu werden.« (MoE, S. 480) Wie Demant konfrontiert mit Diskursmächten, die stärker sind als er, wirkt sein zäher Kampf so aussichtslos wie anrührend. Der schleichende Antisemitismus vergiftet noch die scheinbar voraussetzungslose persönliche Weltwahrnehmung der Ehefrau: Seit die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblieben war, vermochte Klementine nicht mehr, gewisse seiner Eigenheiten damit zu entschuldigen, daß er eben nicht in einem spiegelstillen alten Ministerialbüro, sondern am »sausenden Webstuhl der Zeit« sitze, und wer weiß, ob sie ihn nicht gerade wegen dieses Goethezitats geheiratet hatte?! Sein ausrasierter Backenbart, der sie seinerzeit gemeinsam mit dem auf der Mitte der Nase thronenden Kneifer an einen englischen Lord mit Favorits erinnert hatte, mahnte sie jetzt an einen Börsenmakler, und einzelne Angewohnheiten in Gebärde und Redeweise begannen ihr geradezu unerträglich zu werden. (MoE, S. 203 f.)

Während Leo wie ehedem seiner beruflichen Tätigkeit als Prokurist nachgeht und die ihn umgebende äußere Welt – analog zu seiner steckengebliebenen 32 33

Vgl. Holmes, Silverman: Zwischenraum, Zwischenzeit, S. 32. Schnitzler: Jugend in Wien, S. 322.

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Karriere – für unveränderlich ansieht, verficht Klementine neuerdings das offenbar an ihren Brüdern gemessene »christlich-germanische Schönheitsideal eines Ministerialrats« (MoE, S. 204) und beklagt die Abweichung davon bei ihrem Gatten34 – als wäre ihr dessen Erscheinung nicht schon vor der Hochzeit bekannt gewesen. ›Jüdisches‹ Aussehen erweist sich dergestalt als Frage der eingenommenen Perspektive. An diesem Beispiel verdeutlicht Musil die diskursive Zurichtung des scheinbar voraussetzungslosen physiognomischen Blicks, die je nach vorherrschendem ideologischen Umfeld aus dem Anschein eines ›englischen Lords‹ recht umstandslos das eines jüdischen ›Börsenmaklers‹ machen kann, ohne dass sich der damit verglichene Mensch anatomisch ändert. Gegenüber solchen Zumutungen beharrt der in den Grundfesten seiner Existenz attackierte Fischel auf seinem bewährten liberalen Rationalismus und legt dabei eine in mancher Hinsicht durchaus zeittypische, defensive ›jüdische‹ Verhaltensweise35 an den Tag: »[J]e mehr seine Gattin an Einzelheiten Anstoß nahm, desto mehr betonte er die großen Richtlinien der Vernunft. Dadurch verwandelte sich das Haus Fischel allmählich in den Kampfplatz zweier Weltanschauungen.« (MoE, S. 204) Der innereheliche Antisemitismus entfaltet dabei zunächst noch fast unmerklich eine fatale Wirkung: Dieser Glaube an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts hatte es ihm lange Zeit ermöglicht, über die Ausstellungen seiner Frau mit einem Achselzucken oder einer schneidenden Antwort hinwegzugehn. Aber da es das Unglück gewollt hatte, daß sich im Verlauf dieser Ehe die Zeitstimmung von den alten, Leo Fischel günstigen Grundsätzen des Liberalismus [. . .] abwandte, und Vernunft und Fortschritt in der abendländischen Welt durch Rassentheorien und Straßenschlagworte verdrängt wurden, so blieb auch er nicht unberührt davon. (MoE, S. 204)

Musils Erzähler leistet in der Folge eine sezierende Analyse der ehelichen Entzweiung, wobei er die allgemeinen ideologiegeschichtlichen Umstände keineswegs allein dafür verantwortlich macht, sondern sich der besonderen Vorteile erzählerischer Individualisierung bedient, um einen komplexen und ambivalenten plurikausalen Zusammenhang zu zeichnen. Der antisemitische Diskurs wird mit der strukturellen Unzufriedenheit Klementines hinsichtlich der herrschenden Geschlechterordnung sowie mit den tendenziell geschlechtsspezifischen habituellen Schwächen Leos konfrontiert, was eine besonders unglückliche Kombination ergibt: Der Trieb, recht zu haben, ein Bedürfnis, das fast gleichbedeutend mit Menschenwürde ist, begann im Hause Fischel Ausschreitungen zu feiern. [. . .] [W]enn dieser 34 35

Vgl. dazu und zu den diskursiven Hintergründen Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 893 sowie S. 1724, Anm. 126. Vgl. Hanisch: Männlichkeiten, S. 328: »Dieser ›weiche‹ Liberalismus [jüdischer Väter, N. C. W.] scheute den Konflikt, im öffentlichen wie im privaten Leben. Das Regiment zu Hause führte die starke Mutter.« Obwohl Leo Fischel dem Konflikt ausdrücklich nicht ausweicht, argumentiert er defensiv und beschreitet emotional zunehmend einen Rückzug.

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bewundernswerte, aber auch fanatische und ungeheure, mit der menschlichen Natur geborene Trieb sich mit zehn Minuten Lebensphilosophie oder Aussprache über die grundsätzlichen Fragen des Hauswesens begnügen muß, so ist es unvermeidlich, daß er wie ein Tropfen glühenden Bleis in ungezählte Spitzen und Zacken zerplatzt, die auf das schmerzhafteste verwunden können. Er zersprang an der Frage, ob ein Hausmädchen zu entlassen sei oder nicht, und ob Zahnstocher auf den Tisch gehören oder nicht; aber woran immer er zersprang, besaß er die Fähigkeit, sich sofort zu zwei, an Einzelheiten unerschöpflich reichen Weltanschauungen zu ergänzen. (MoE, S. 205)

Die enttäuschte Ehefrau wird zunehmend »spitz und unnachgiebig« (MoE, S. 205) und offenbart auf diese Weise ihre rasant voranschreitende emotionale Abkühlung, womit sie auf Eva Demant aus dem Radetzkymarsch vorausweist, deren Blick den jüdischen Gatten erbarmungslos durchbohrt, »ein grauer, kühler, trockener und flinker Blick, wie ein stählernes Geschoß« (R, S. 217): »Seit Klementine Leo nicht mehr schön fand, fand sie ihn unerträglich, und seit Leo sich von Klementine angezweifelt fühlte, erspähte er bei jedem Anlaß eine Verschwörung in seinem Haus.« (MoE, S. 206) So ist die Wirkung des in der Gesellschaft grassierenden antisemitischen Diskurses sowie der überindividuellen Machtverhältnisse im sozialen Raum auf individuell geformte Akteure, ja auf die intimsten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Ehepartner aus der Nähe zu beobachten, die »Trennung von Politik und Intimsphäre« wird bereits hier – lange vor dem staatlichen Totalitarismus der 30er Jahre – »aufgehoben«.36 Im Unterschied zu Roths eher andeutendem Erzählverfahren kommentiert Musils Erzähler die beschriebene Konstellation und ihre traurige Entwicklung erstaunlich scharfsichtig: »Das Schicksal dieser beiden Gatten hing zum größern Teil von einer trüben, zähen, ungeordneten Schichtung von Gedanken ab, die gar nicht ihrer, sondern der öffentlichen Meinung angehörten und sich mit dieser verändert hatten, ohne daß sie sich davor bewahren konnten.« (MoE, S. 207) Er weiß schon lange vor Foucault: »In Wahrheit besteht [. . .] das Dasein mehr als zur Hälfte nicht aus Handlungen, sondern aus Abhandlungen, deren Meinung man in sich aufnimmt, aus Dafürhalten mit entgegensprechendem Dagegenhalten und aus der aufgestapelten Unpersönlichkeit dessen, was man gehört hat und weiß.« (MoE, S. 207) Noch ohne Kenntnis diskursanalytischer Begrifflichkeit führt Musil vor Augen, wie überindividuelle gesellschaftliche Redeweisen und Machtgefälle die Interaktion einzelner Menschen in ihren privatesten Aspekten zu tangieren vermögen, wobei sich individuelle Erfahrung und Diskurs nicht nur aus Sicht der Akteure wechselseitig bestätigen und verstärken können: »Die alltäglichen Erfahrungen werden dadurch zu gegensätzlichen Weltanschauungen ausgebaut, die ihrerseits entzweiend auf 36

So Hanisch: Männlichkeiten, S. 216, mit Blick auf die ›rassistische Volksgemeinschaft‹ des Nationalsozialismus.

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den Alltag zurückwirken.«37 Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die gemeinsame Tochter Gerda, die als Streitobjekt und Einsatz im ehelichen Kampf fungiert. Wie bereits angedeutet, vertritt Leo Fischel eine Schwundstufe des allmählich zerfallenden Gründerzeitliberalismus, indem er allein ökonomische Belange als ausschlaggebend betrachtet (vgl. etwa MoE, S. 133, 208).38 Weniger Empathie und Interesse bringt er indes für die andere Seite des Liberalismus auf, wie sich in seiner relativ nüchternen Haltung gegenüber der bürgerlich-liberalen Kultur offenbart: Das auf »nur zehn Minuten täglich« (MoE, S. 204) beschränkte Philosophieren, das man in einen Gegensatz zu Ulrichs »Dauerreflexion« gebracht hat,39 zeugt von einem provokant leidenschaftslosen Umgang mit geistigen Fragen, der charakteristisch für den Angehörigen der ersten Generation nach der religiös-kulturellen Assimilation und dem sozialen Aufstieg ist. Leo Fischels rein instrumentelles Verhältnis zu Kunst und Kultur ist aber für den romanesken Handlungsverlauf insofern folgenreich, als es in seinem engsten Familienkreis den Boden für die salbaderischen Aktivitäten der Gruppe um Hans Sepp40 bereitet, wie Musil bereits in einer frühen Notiz treffend bemerkt: »Daher die Chance marktschreierischer Kunstaufmachung, Explosivismus der Jugend.« (Tb I, S. 394) Mit solchen lapidaren Worten bezeichnet er die enorme Energie und Kraft, die Angehörige der nachwachsenden Generation aus generationellem Distinktionsstreben gegenüber dem inhaltsleer erscheinenden Kulturverständnis der eigenen Väter (und Mütter) beziehen können. Genau unter diesem Distinktionsbedürfnis der nachfolgenden Generation wird Leo Fischel besonders leiden müssen, hat er doch einen »ausgeprägten Familiensinn« (MoE, S. 207).41 Mehr noch: »[E]r war [. . .] ein 37 38

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Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 316. Dazu Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 315: »Als politische Theorie [. . .] ist dieser Liberalismus nirgends ausgeführt; Leo Fischel reduziert ihn vielmehr auf blossen [sic] ökonomischen Fortschrittsglauben.« So Helmut Kuzmics, Gerald Mozetiˇc: Musils Beitrag zur Soziologie, in: dies.: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Konstanz 2003, S. 225–258, hier S. 237. Eine soziologisch orientierte Analyse der antisemitischen Romanfigur Hans Sepp findet sich in Norbert Christian Wolf: Verkünder des Terrors, Propheten der Erlösung: Hans Sepp und Meingast, in: Hans Feger, Hans-Georg Pott, N. C. W. (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 93–140, hier S. 104–122. Vgl. Magris: Arnheim und Papa Fischel, S. 147: »Im Gegensatz zu fast allen anderen Gestalten im Mann ohne Eigenschaften ist Leo Fischel ein Vater, und seine – physische wie moralische – Vaterschaft bildet einen Kontrast zur Unfruchtbarkeit, von der die ganze Musilsche Welt gezeichnet ist.« Ja, Fischel sei »ein echter Vater, dessen Vaterschaft auf Liebessubstanz beruht, nicht der Vater als Pädagoge und Haustyrann, wie er in der Figur Lindners karikiert wird«. Mehr noch: »In Leo Fischel scheint hinter der melancholischen Fassade des Bankdirektors der ostjüdische pater familias auf. Seine Vaterschaft erwächst ihm aus überliefertem Familienkult, der im jüdischen Bereich zu absoluter Geltung erhoben worden war.«

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unverbesserlicher Familienmensch und würde alles darum gegeben haben, wenn er bloß den Höllenkreis daheim in einen um Gottvater-Titulardirektor schwebenden Kreis von Engeln hätte verwandeln können.« (MoE, S. 481) Dazu kommt es aber nicht, denn wie bereits angedeutet, zeichnet sich der rationell denkende Liberale charakterlich zu seinem Unglück durch große Sturheit und Rechthaberei aus: Der Erzähler berichtet, dass Fischel »gar nicht der Mann« ist, »der sich hätte verbessern lassen.« (MoE, S. 204) Die zermürbenden Familienkonflikte duldet er »nicht schweigend, denn das lag nicht in seiner Natur.« (MoE, S. 206) Besonders quält den assimilierten Juden indes die seit 1880 und mehr noch nach 1900 spürbare Konjunktur des Antisemitismus. Sogar im eigenen Haus sieht er sich durch die Treffen des ›christgermanischen Kreises‹ um Gerdas Lehrer und Verehrer Hans Sepp ständig »Worte[n] und Grundsätze[n]« ausgeliefert, die ihm gehörig »auf die Nerven« fallen (MoE, S. 478). Der Erzähler gibt ein paar charakteristische Kostproben dieses Sounds, wofür Musil sich aus einer einschlägigen Quellensammlung bedient, die er schon früh in seinem Arbeitsheft 8 (1920) zusammengestellt hat (vgl. Tb I, S. 397; Tb II, S. 252–254): [D]ie Worte hochbedeutsam, Empormenschlichung und freie Menschbarkeit machten allein schon den Zwicker auf Fischels Nase erzittern, jedesmal wenn er sie hörte. In seinem Hause wuchsen Begriffe wie Lebensdenkkunst, geistiges Wuchsbild und Tatschwebung. Er kam darauf, daß alle vierzehn Tage bei ihm eine ›Läuterungsstunde‹ abgehalten wurde. Er drang auf Aufklärung. Es stellte sich heraus, daß dabei gemeinsam Stefan George gelesen wurde. Leo Fischel suchte vergeblich in seinem alten Konversationslexikon, wer das sei. Was ihn, den alten Liberalen, aber am meisten ärgerte, war, daß diese Grünschnäbel, wenn sie von der Parallelaktion sprachen, alle beteiligten Ministerialreferenten, Bankpräsidenten und Gelehrten ›aufgestutzte Menschlein‹ nannten; daß sie blasiert behaupteten, es gebe heutzutage keine großen Ideen mehr oder es sei niemand mehr da, der sie verstünde; daß sie sogar die Humanität für eine Phrase erklärten und nur noch die Nation oder, wie sie es nannten, das Volkstum und Brauchtum für etwas Wirkliches gelten ließen. (MoE, S. 478 f.)

Auch seine eigene Tochter Gerda kann sich »unter Menschheit nichts vorstellen«, womit sie den Schlüsselbegriff des gerade für die Emanzipation assimilationswilliger europäischer Juden so wichtigen Projekts humanistischer und universalistischer Aufklärung preisgibt, während sie ihre »Nation« – was immer das in diesem verwickelten Fall sein mag – nachgerade »körperlich« zu fühlen vermeint (MoE, S. 479). Indem ein relativ inhaltsleeres Kollektivabstraktum solcherart durch ein anderes, nicht minder abstraktes ersetzt wird, veranschaulicht Musil die ontologische Arbitrarität und Wandelbarkeit intellektueller Moden. Leo Fischel, dem die heillose Zerrüttung seiner Ehe und die damit zusammenhängenden unerquicklichen Verhältnisse in seinem konfliktreichen Haus – ähnlich wie der Figur Max Demant – sehr nahegehen, befindet sich in einer doppelten Frontstellung zwischen Gerdas mythischirrationalem Antisemitismus und den zwar höchst rationellen, aber ent-

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täuschten Aufstiegshoffnungen Klementines. Er führt einen aussichtslosen und zermürbenden Zweifrontenkrieg, in dem er sich immer mehr aufreibt. Eine besondere Herausforderung für das nichtjüdische Bürgertum der Habsburgermonarchie bestand generell im weit überdurchschnittlichen »Bildungseifer« der assimilierten Juden,42 mit dem die Emanzipation und der mühelos scheinende soziale Aufstieg bewerkstelligt oder abgesichert werden konnten, aber auch in ihren beeindruckenden bis spektakulären wirtschaftlichen »Erfolgsgeschichten«,43 die unter den Handeltreibenden oder Unternehmern der christlichen Bevölkerungsgruppen – im Roman vertreten durch die alleinstehende Mutter Hans Sepps, »die ein kleines Geschäft betrieb, von dem sie ihn und seine Geschwister ernährte« (MoE, S. 554) – kaum ihresgleichen hatten. In einer gemeinsam mit Luc Boltanski und Monique de Saint Martin verfassten soziologischen Studie über das Bildungskapital identifiziert Pierre Bourdieu einen mentalen und wirtschaftlichen Hintergrund, der »zum faschistischen Kult des starken Mannes führt«, in folgender idealtypischen Konstellation: Wenn die niedergehenden Klassen oder Klassenfraktionen auf den Rassismus oder, allgemeiner, auf eine falsche Konkretisierung dessen, was hinter ihren aktuellen und potentiellen Schwierigkeiten steckt, in der Gestalt irgendeiner Gruppe (Jesuiten, Freimaurer, Juden, Kommunisten usw.) verfallen, so deshalb, weil ihnen Erklärungsmuster fehlen, mit deren Hilfe sie die Situation verstehen und (sich) zu ihrer Veränderung kollektiv mobilmachen könnten, anstatt panisch jeder für sich nach einer Zuflucht zu suchen.44

Diese Tendenz, »sich vor dem wirklichen oder befürchteten Statusverlust ins reaktionäre Ressentiment oder in historische Verschwörungstheorien zu flüchten«,45 ist im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (nicht nur) in den 42

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Vgl. Hamann: Hitlers Wien, S. 469 f.: »Die unterschiedlichen Antriebskräfte und Wertmaßstäbe zeigten sich vor allem im Bildungseifer. Die Zahl der christlichen Gymnasiasten stieg von 21 213 im Jahre 1851 auf 99 690 im Jahre 1903/04, die der jüdischen im selben Zeitraum von 1251 auf 15 880. 1912 war jeder dritte Wiener Gymnasiast Glaubensjude, [. . .] dreimal mehr, als es dem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Alle Arten von höheren Schulen zusammengenommen, betrug der Anteil jüdischer Schüler 1912 47,4 Prozent also fast die Hälfte. Während – ohne Theologie – zwischen 1898 und 1902 nur 5,3 Prozent von 10 000 Christen eine Universität besuchten, lag die Zahl bei den Juden bei 24,5 Prozent. Jüdische Studenten stellten in Wien wie in Prag [. . .] fast ein Drittel der Studenten. [. . .] Jüdische Intelligenz wurde in Wien um 1900 zum Schlagwort.« In diesem Zusammenhang ist freilich noch einmal darauf hinzuweisen, dass Leo Fischel – im Unterschied zu Max Demant – aus den erwähnten Gründen kaum als exemplarisch für den jüdischen »Bildungseifer« gelten kann. Vgl. Hamann: Hitlers Wien, S. 470: »In Handel und Wirtschaft gab es spektakuläre Erfolgsgeschichten, wie etwa die des Warenhauskönigs Alfred Gerngroß, die nach seinem Tod in aller Munde war«, aber auch die nicht ganz so spektakulären, in ihrer Breitenwirkung jedoch mindestens ebenso bemerkenswerten der zahlreichen jüdischen Handwerker. Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Monique de Saint Martin: Kapital und Bildungskapital. Reproduktionsstrategien im sozialen Wandel, in: dies., Pascale Maldidier: Titel und Stelle. Über Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt a. M. 1981, S. 23–87, hier S. 61 f. Bourdieu, Boltanski, de Saint Martin: Kapital und Bildungskapital, S. 61.

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deutschsprachigen Ländern allgegenwärtig. Pollak skizziert die allgemeinen sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe der diskursiven Attraktivität des politischen Antisemitismus in Wien dementsprechend: Die politisch-antisemitische Agitation schürte die Ängste des Handwerk und Handel treibenden Kleinbürgertums angesichts der durch die Einwanderer hervorgerufenen Konkurrenz. Im Gegensatz zu der in Wien seit Generationen ansässigen jüdischen Großbourgeoisie unterschieden sich diese Einwanderer durch ihre religiösen Gebräuche und ihren Lebensstil und boten sich derart um so leichter der Karikatur und dem Sarkasmus an. Was die jüdische Großbourgeoisie angeht, so diente sie, auch wenn sie nur einen Teil der ›Modernisierungsagenten‹ Wiens stellte, nach dem Scheitern des politischen Liberalismus in Österreich als Sündenbock für antiliberale Tendenzen.46

Zum diskriminatorischen Zweck wurde jede Form gedanklicher Differenzierung konsequent nivelliert, »das Judentum als durch Abstammung (›Rasse‹) pseudowissenschaftlich bestimmte Kategorie mit negativen, unveränderlichen Eigenschaften«47 systematisch ausgegrenzt, was bei den Opfern der essentialisierenden kollektiven Schuldzuweisung eine ähnlich undifferenziert und pauschal wirkende Abwehrhaltung als Antwort heraufbeschwörte, die ihnen letztlich die Chance nahm, den Aggressoren mit Erfolg entgegenzutreten. So bestätigt auch Klementine Fischel die ungeschickte, weil reflexhaftwütende Idiosynkrasie ihres Gatten gegen jede Spiel- und Abart des leidigen Antisemitismus: »Leo – Sie wissen ja, wie er ist – regt sich über den Antisemitismus auf, ob dieser nun bloß mystisch und symbolisch ist oder nicht.« (MoE, S. 308) Bezeichnend – und historisch durchaus signifikant48 – ist die vollkommene Hilflosigkeit, mit der das fiktionale Opfer des immer weiter um sich greifenden antisemitischen Diskurses auf diesen reagiert und dabei dessen zunehmend radikalere und abstrusere Steigerungsformen letztlich nur passiv hinzunehmen vermag: Er hatte diese Entwicklung anfangs schlechtweg geleugnet [. . .]; er wartete darauf, daß sie [die Rassentheorien und Straßenschlagworte, N. C. W.] von selbst verschwinden würden, und dieses Warten ist der erste, kaum noch fühlbare Grad der Tortur des Ärgers, die das Leben über Menschen mit aufrechter Gesinnung verhängt. Der zweite Grad heißt gewöhnlich, und hieß darum auch bei Fischel so, das ›Gift‹. Das Gift ist das tropfenweise Auftreten neuer Anschauungen in Moral, Kunst, Politik, Familie, Zeitungen, Büchern und Verkehr, das bereits von einem ohnmächtigen Gefühl der Unwiderruflichkeit begleitet wird und von empörter Leugnung, die eine gewisse Anerkennung des Vorhandenseins nicht vermeiden kann. Direktor Fischel blieb aber auch der dritte und letzte Grad nicht erspart, wo die einzelnen Schauer und Strähnen des Neuen zu einem dauernden Regen zusammengeronnen sind, und mit der Zeit wird das zu einer der entsetzlichsten Martern, die ein 46 47 48

Pollak: Wien 1900, S. 112; vgl. daneben Häusler: Stereotypen des Hasses, S. 25–27. Häusler: Stereotypen des Hasses, S. 24. Vgl. dazu Lichtblau: Antisemitismus 1900–1938, S. 39: »Es schien, als spiele die Welt völlig verrückt, denn antisemitische Beschuldigungscollagen übernahmen die Diskurshoheit.«

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Mensch erleben kann, der täglich nur zehn Minuten Zeit für Philosophie hat. (MoE, S. 204 f.)

Es handelt sich hierbei um die äußerst schmerzliche Erfahrung der vollkommenen Ohnmacht rationaler Argumentation angesichts des überhandnehmenden rassistischen Irrationalismus. Auch hier entwickelt Musil eine erstaunlich genaue sozialpsychologische Diagnose. Zu den historischen Versuchen der Wiener jüdischen Population, mit dem grassierenden Antisemitismus umzugehen, bestätigt Pollak: »Angesichts dieser Gefahr war Attentismus die am häufigsten in der jüdischen Gemeinde anzutreffende Haltung, zumal hinzukommt, daß sie sich aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Heterogenität mehr und mehr aufzuspalten begann.«49 Da dem Bankprokuristen Fischel die intellektuellen »Rekonstruktionsversuche einer bedrohten Identität«, die »vom Zionismus über den Sozialismus bis hin zur Rückkehr zum Mythos Österreich reichten«,50 aus sozialen und beruflichen Gründen nicht offenstehen, bleibt ihm nur der Rückzug in eine innere Verweigerungshaltung. Die psychosomatischen Folgen seines Leidens an der wachsenden sozialen Diskriminierung, der er mehr oder weniger schutzlos ausgesetzt ist, sind nicht zu unterschätzen, führt sie doch zu einer weitgehenden Lähmung der eigenen Lebensfreude: »Es befiel Leo Fischel manchmal ein Erstickungsgefühl, das, nirgends greifbar, von allen Seiten auf ihn eindrang. Er war eine tüchtige kleine Zelle im sozialen Körper, die brav ihre Pflicht tat, aber von überall vergiftete Säfte erhielt.« (MoE, S. 207) Musil bedient sich hier einer Metapher aus der von Rudolf Virchow vertretenen, gleichsam ›republikanischen‹ Theorie der Zellularpathologie, wonach Krankheiten auf Störungen der Körperzellen beruhen, und vermengt sie ironisch mit der von ihr verdrängten, ›vormodernen‹ humoralpathologischen Säftelehre, die nunmehr für eine regressive Gefahr einsteht. Mit dem dabei bemühten systemischen Körperverständnis, das schon Virchow selbst auf soziale Zusammenhänge übertragen hat51 (und das dann in die Kollektivsymbolik eingegangen ist), profiliert Musil auch bildlich seine sezierende Analyse der psychosozialen Auswirkungen des Antisemitismus, die den im Nachlass skizzierten späteren Wandel Fischels zum zynischen Spekulanten52 sozialpsychologisch 49 50 51

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Pollak: Wien 1900, S. 109. Pollak: Wien 1900, S. 109. Vgl. die berühmten Worte Virchows aus der Rede Ueber die neueren Fortschritte in der Pathologie, mit besonderer Beziehung auf öffentliche Gesundheitspflege und Aetiologie (1867): »Die Zelle ist so gut der eigentliche Bürger, der berechtigte Repräsentant der Einzel-Existenz, wie jeder von uns beansprucht, es in der menschlichen Gesellschaft, in dem Staate, wie er eben konstituirt ist, zu sein.« Virchow: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medizin und der Seuchenlehre, Bd. 1, S. 99 f.; hier zit. nach: Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner – Anthropologe – Politiker. Köln, Wien, Weimar 2002, S. 280; vgl. Heinz Schott: Chronik der Medizin. Dortmund 1993, S. 288. Vgl. das Kapitel »Werden eines Tatmenschen« aus den Kapitelgruppen-Entwürfen der späten 20er Jahre: »[M]it L[eo] F.[ischel] gingen in jener Zeit große Veränderungen vor sich. Um es

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motiviert (vgl. MoE, S. 1555 f., nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/100– 102). Am konkreten Fall seiner Romanfigur Leo Fischel exemplifiziert Musil also die dispositionellen Auswirkungen des Antisemitismus auf die allgemeine Einstellung zur Welt, die als regelrechte – wenngleich vorerst kaum merkliche – Deformation des Opferhabitus unter dem unaufhörlichen Leiden an diskursiver Diskriminierung beschrieben werden kann. Zunächst sind nur ein paar unscheinbare und schleichende Veränderungen alltäglicher Eindrücke und Gewohnheiten zu beobachten: Direktor Fischel empfand jetzt öfter als früher das Bedürfnis nach frischer Luft; nach Schluß der Arbeit drängte es ihn nicht, nach Hause zu eilen, und wenn er noch bei Tag aus seinem Büro kam, liebte er es, sich ein wenig in einem der Stadtgärten herumzutreiben, obgleich es Winter war. Er hatte noch aus seiner Praktikantenzeit eine Vorliebe für diese Gärten. Aus einem Grund, den er nicht einsehen konnte, hatte die Stadtverwaltung im Spätherbst die eisernen Klappstühle darin neu anstreichen lassen; nun standen sie frischgrün, aneinander gelehnt auf den schneeweißen Wegen und erregten die Phantasie mit Frühlingsfarben. Leo Fischel ließ sich zuweilen auf einem solchen Stuhl nieder, ganz allein und eingemummt, am Rand eines Spielplatzes oder einer Promenade, und sah den Kinderfräulein zu, die sich mit ihren Pfleglingen in der Sonne ein Ansehen von Wintergesundheit gaben. (MoE, S. 480)

Bezeichnenderweise ertappt sich der rationell denkende Bankprokurist, der sogar über die Verschwendung öffentlicher Gelder für den unzeitigen Anstrich von Klappstühlen sinniert, beim sentimentalen Beobachten von Kindern und ihren Betreuerinnen im Garten und verrät dabei einen verborgenen Wunsch nach infantiler Regression in die Geborgenheit des Kindes.53 Sein reales Erwachsenenleben in Beruf und Familie empfindet Leo hingegen als »kläglich« (MoE, S. 481). Er orientiert sich deshalb immer mehr an den ›festen‹ Werten, wie sie das Geld als scheinbar umstandsunabhängige und Sicherheit verbürgende Vergleichs- und Verrechnungseinheit darstellt:

53

kurz zu sagen, aus dem verläßlichen Prokuristen mit dem Titel Direktor, der niemals mehr zum Kummer seiner Gattin Kl.[ementine] ein wirklicher Direktor zu werden schien, begann gerade damals ein erpichter Spekulant zu werden« etc. (MoE, S. 1554, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/99). In diesem Passus nimmt Magris: Arnheim und Papa Fischel, S. 146, eine »gerührte, sehnsüchtige Achtung vor dem individualistischen bürgerlichen Ethos« wahr, »von dem Fischel sich auf seinem Spaziergang durch den Garten im Grunde endgültigen Abschied nimmt. Vielleicht ist die humanistische Kultur des alten Europa nirgendwo so sublim, so voller pietas und Schwermut, in so vollem Bewußtsein ihrer Werte verabschiedet worden, wie auf diesen Seiten Musils. Hier erscheinen diese Werte von jedem Kompromiß mit der Logik der Macht gereinigt, sie erscheinen sozusagen in ihrer Essenz, als humanistisches Maß des Individuums. [. . .] Diese Werte verkörpern sich ein letztesmal und verabschieden sich zugleich nicht in der Gestalt eines hypersensiblen Künstlers oder eines unternehmenden Tatmenschen, sondern in der ›Durchschnittsgestalt‹ eines jüdischen Bankprokuristen.« Was Magris hier freilich unterschlägt, ist Fischels spätere Entwicklung just zum »Tatmenschen« (MoE, S. 1552).

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Kehrte [. . .] sein Wirklichkeitsbewußtsein [. . .] zurück, so dachte er, merkwürdig genug, jedesmal an sein Einkommen; Geld gibt Unabhängigkeit, aber derzeit ging sein Gehalt ganz für die Bedürfnisse der Familie und die von der Vernunft geforderten Rücklagen auf; man müßte also wohl – überlegte er – neben seinem Dienst noch irgendetwas anderes tun, um sich unabhängig zu machen, vielleicht die Kenntnis der Börse ausnutzen, die man besitzt, so wie es die Hauptdirektoren taten. (MoE, S. 481)

Als ob er seine Figur vor dem antisemitischen Vorwurf typisch ›jüdischer‹ Denkweise bewahren wollte, erwähnt Musil die ethisch zweifelhafte Tätigkeit der nichtjüdischen Leiter von Fischels Bank (vgl. MoE, S. 1555), die man heutzutage wohl als Insiderhandel bezeichnen würde, und schränkt in der Folge ausdrücklich ein: »Solche Gedanken nahten Leo aber nur, wenn er den spielenden Mädchen zusah, und er wies sie zurück, weil er keineswegs das zur Spekulation nötige Temperament in sich fühlte.« (MoE, S. 481) Wenn Fischel, der sich früher an der »Lockerung der Moral« sowie daran gestoßen hatte, dass »alles so materiell und überhastet« geworden sei (MoE, S. 481), sich den überlieferten Plänen zufolge im weiteren Verlauf der dargestellten histoire schließlich doch zu einem Spekulanten, aber eben nicht zu einem Wucherer, Schieber oder Kriegsgewinnler (vgl. dazu Tb I, S. 353, 605) entwickelt,54 liegt dies keineswegs in einem angeborenen Charakterzug – etwa spezifisch jüdischen ›Eigenschaften‹ – begründet (vgl. MoE, S. 1554). Es ist aber auch nicht bloß auf »die fehlende Anerkennung der Frauen« zurückzuführen, wie man kurzgeschlossen hat.55 Seine schleichende Einstellungsänderung, die später auch Ulrich registriert, ohne ihr »nachzugehn« (vgl. MoE, S. 1008),56 ist vielmehr ein scheinbar abstraktes Produkt ganz konkreter gesellschaftlicher Diskriminierung. Eine mentale Begleiterscheinung besteht in Fischels wachsender Einsicht in die menschliche ›Gestaltlosigkeit‹, die er mit Ulrich und ihrem gemeinsamen Autor teilt und die hier einen resignativen Beigeschmack erhält: [O]bgleich das weit über seinen Bedarf an Philosophie hinausging, so begann er, von seiner Lebensgefährtin im Stich gelassen, als alternder Mensch, der keinen Grund einsah, von der vernünftigen Mode seiner Jugend abzulassen, die tiefe Nichtigkeit des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosigkeit, die ewig die Gestalten wech54

55

56

Vgl. die Kapitelentwürfe »Leo Fischel Spekulant I« und »Leo Fischel Spekulant II« aus den nachgelassenen Kapitelgruppen-Entwürfen (MoE, S. 1577 f., nach KA/Transkriptionen/ Mappe II/1/104–106, sowie MoE, S. 1602–1606, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/107– 112). So die Deutung von Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 297, Anm. 39: »Musils Konstruktion lautet also (im gender-theoretischen Klartext): [. . .] Die Frauen sind schuld – an den Männern und ihren exorbitanten Projekten. Eine Logik, die dem Anfang des Wagnerschen Ring des Nibelungen entspricht«. Vgl. auch den Kapitelentwurf »Hans Sepps Briefe« aus den Kapitelgruppen-Entwürfen: »U.[lrich] hatte das Gefühl von Veränderungen. Dir[ektor] F.[ischel] schien den Schneider gewechselt zu haben; sein Einkommen mußte größer u.[nd] seine Gesinnung weniger groß geworden sein.« (MoE, S. 1495, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/91)

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selt, die langsame, aber ruhelose Umwälzung, die immer alles mit sich dreht. (MoE, S. 207)

Weniger harmlos sind die handlungspraktischen Konsequenzen, die der Ökonom aus solchen Erkenntnissen zieht. So verneint Fischel in einem Gespräch mit Ulrich (das allerdings nur im Kapitelentwurf »Hans Sepps Briefe« aus den nachgelassenen Kapitelgruppen-Entwürfen überliefert ist), dass »man auf die Gesinnung, die Liebe, die Ideale eines Menschen bauen« könne, und erläutert: Ideale sind wie Luft, die sich verändert, du weißt nicht wie; bei geschlossenen Fenstern! Hat man vor 25 Jahren eine Ahnung vom Antisemitismus gehabt? Nein, man hatte die großen Gesichtspunkte der Humanität! Sie sind zu jung. Ich aber habe noch einige große Parlamentsdebatten gehört. Die Ausklänge! Verläßlich ist nur, was man in Ziffern ausdrücken kann! Glauben Sie mir, die Welt wäre viel vernünftiger, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot u.[nd] Nachfrage überließe, statt sie mit Panzerschiffen, Bajonetten, wirtschaftsfremden Diplomaten u.[nd] sogenannten nationalen Idealen auszurüsten. (MoE, S. 1496, nach KA/Transkriptionen/ Mappe II/1/92)

Als Ulrich diesen Überlegungen entgegenhält, »daß doch gerade die Schwerindustrie u.[nd] die Banken durch ihre Ansprüche die Völker zu Rüstungen antreiben«, rechtfertigt Fischel, der früher »feste moralische Werte sogar höher bewertet [hat] als eine feste Börse«, auch solche Spekulationen auf die ›niederen Instinkte‹: »Wenn die Welt ist, wie sie ist, u.[nd] am hellen Tag in Narrenkostümen herumläuft, sollen sie nicht damit rechnen? Wenn nun einmal Militär für Zollverhandlungen oder gegen Streikende gut ist?! Wissen Sie, das Geld hat seine eigene Vernunft, damit läßt sich nicht spaßen!« (MoE, S. 1496, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/92)57 Den Kapitelgruppen-Entwürfen zufolge sollte Fischel im Selbstgespräch eine eigene »Philosophie des Geldes« (MoE, S. 1389) formulieren, die jener von Arnheim vertretenen in mehrerer Hinsicht ähnelt:58 57

58

Wie an den unterschiedlich triftigen Argumenten der beiden ersichtlich wird, handelt es sich bei Ulrichs Einwänden gegen den eklatanten Ökonomismus Fischels keineswegs bloß um »moralische Kritik«, die »der überlegenen ›Vernunft‹ des Marktes und des Geldes« nicht standhält, wie Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 293, in Anlehnung an Luhmanns provokanten ›Antimoralismus‹ etwas reflexhaft meint, sondern um kühle Gesellschaftsanalyse. Klar ist jedenfalls, dass die »Kanonen- und Panzerplattenfabrik« Arnheims, der außerdem »für den Ernstfall auf ungeheure Munitionserzeugung eingerichtet« ist (vgl. MoE, S. 404), sowie die »Mordproduktion« der Familie Feuermaul, die »große Pulverlieferungen für das K[riegs]M.[inisterium]« bereitstellt (MoE, S. 1443), von dem sich ankündigenden Waffengang erheblich profitieren werden. Vgl. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 288, bes. S. 317 f.; Hans-Georg Pott: Besitz und Bildung. Zur Figur des Großindustriellen Arnheim im Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Susanne Hilger (Hg.): Kapital und Moral: Ökonomie und Verantwortung in historisch-vergleichender Perspektive. Wien, Köln, Weimar 2007, S. 121–137, hier S. 133, Anm. 11.

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Einem tüchtigen Menschen hilft man gern, m.[it] a.[nderen] W.[orten], er findet überall Kredit: das war eine positive Formel, mit der man etwas schaffen konnte. Sie lehrte hilfsbereit sein, ohne auf Dankbarkeit zu rechnen, genauso wie es die christliche Lehre verlangt, aber schloß nicht die Unsicherheit ein, daß man sich auf irgendein edles Gefühl eines anderen Menschen verlassen müsse, sondern benutzte den Egoismus als die einzige verläßliche Eigenschaft des Menschen[,] die er ohne Zweifel ist. Das Geld aber ist ein geniales Mittel, um diese Grundeigenschaft berechenbar u.[nd] regulierbar zu machen. Es ist geordnete Selbstsucht, ins Verhältnis gebracht zur Tüchtigkeit. Eine ungeheure Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung, es zu verdienen. Es ist eine schöpferische Großorganisation, aufgebaut auf der Gemeinheit[.] – Nicht Kaiser, noch Könige haben die Leidenschaften so gezähmt wie das Geld. [. . .] Wäre schon alles dem Gelde zugänglich und würde jede Sache ihren Preis haben, wovon man leider noch entfernt ist, so würde eine andere Moral als das Bestehen des Handels überhaupt nicht nötig sein. Dies war seine Meinung und Überzeugung. (MoE, S. 1610, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/117–118)

Einen Niederschlag findet diese insgesamt zynische Sicht der Dinge,59 die freilich auch an Musils eigene Diagnosen aus dem Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom erinnert (vgl. GW 8, S. 1358, 1386–1391),60 im allmählichen Wandel von Fischels beruflichem und privatem Verhalten: etwa in seiner wenig romantischen Liaison mit Ulrichs ehemaliger Geliebten Leona, die ebenfalls nur in den nachgelassenen Kapitelgruppen-Entwürfen überliefert ist (vgl. MoE, S. 1497 f., nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/94; MoE, S. 1552– 1557, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/97–103) und mit der sich der erfolgreiche Spekulant auf recht grobe Weise für seine zerrüttete Ehe schadlos hält. Der assimilierte Bankprokurist jüdischer Herkunft verfällt mehr und mehr einer reinen Anthropologie à la baisse, wie etwa eine späte Lebensweisheit zeigt, die er in einer Passage des Kapitels »Gerdas Rückkehr« aus den Kapitelgruppen-Entwürfen gegenüber seiner Tochter zum Besten gibt: Nur wenn du sein Begehren reizt oder wenn du es einschüchterst, kannst du einen Menschen genau dorthin bringen, wohin du willst.[61] Wer auf Stein bauen 59

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Laut Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 295 f., legt Fischel hier »das radikale Bekenntnis eines homo oeconomicus« ab, »dessen Credo die totale Akkreditierung des Gelds als universal-optimalem Medium gesellschaftlicher Organisation und Problemlösung ist.« Zugestanden werden in dieser recht eindimensional-affirmativen Deutung des Bankprokuristen aus dem antimarxistischen Geist Luhmanns immerhin die »ironischen Verdrehungen« in Fischels Figurenrede sowie die Gefahr einer gesellschaftlichen »Entdifferenzierung der Sphären [. . .] durch universale Käuflichkeit«, worin »der verdeckte Preis des totalen Ökonomismus« liege. Vgl. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 288–294. Allerdings spricht Musil schon 1920 in einem Eintrag in sein Arbeitsheft 8 kritisch von der »Indolenz«, »mit der man sich hinter der Valuta versteckt. Das Geld zeigt hier wieder einmal seine Fähigkeit, für moralische Entscheidungen einzuspringen.« (Tb I, S. 359) Seine Skizzen zur Figurengestaltung Leo Fischels aus dem Erlöser-Projekt versieht er mit einem Verweis auf diese Stelle (vgl. Tb II, S. 223, Anm. 68a). Fischel betreibt damit eine Pervertierung jener Dialektik des Begehrens, die Alexandre Kojève im Anschluss an Hegel als ›Begehren des Begehrens‹ beschrieben hat – im Unterschied zur

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will, muß sich der Gewalt u.[nd] der Begierden bedienen. Dann wird der Mensch plötzlich eindeutig, berechenbar, fest, u[nd] was du mit ihm erlebst, wiederholt sich überall in der gleichen Weise. Mit der Güte kannst du nicht rechnen. Mit den schlechten Eigenschaften kannst du rechnen. Gott ist wunderbar, mein Kind, er hat uns die schlechten Eigenschaften gegeben, damit wir zu einer Ordnung kommen. (MoE, S. 1624, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/1/126)

Die historische Dominanz rassistischer Diskursivierung über alle Standards rational-aufgeklärten und um Gerechtigkeit bemühten Denkens erscheint zuletzt durch das traurige Ende des liberalen jüdischen Bankprokuristen als risikofreudiger und gewissenloser Spekulant besiegelt,62 was die Stereotypisierung des geldgierigen Juden zur self-fulfilling prophecy geraten lässt: Die »spätere Entwicklung Fischels, seine vollständige Abkehr von geistigen Idealen und die Zuwendung zum reinen Geld- und Machtstreben«63 ist keineswegs eine maliziöse und problematische Erfindung eines selbst nicht über jeden Zweifel erhabenen Autors – und nicht als solche zu bedauern, wie es vorderhand wirken mag. Sie ist aber auch keine ambivalenzfreie romaninterne Verkörperung der »Reinform des homo oeconomicus« im Sinne eines erstaunlich »erfolgreichen und recht sympathischen Typ[s]«,64 wie Bernd Blaschke in seiner ›kapitalismusaffirmativen‹65 Interpretation suggeriert. Auf paradigmatische Weise und recht anschaulich stellt sie vielmehr die soziale Erzeugung einer scheinbar ›rassisch‹ begründeten charakterlichen ›Eigenschaftlichkeit‹ als Konsequenz unaufhörlichen antisemitischen Diskursterrors und sozialer Diskriminierung vor Augen.66 Fischels bedauerlicher

62 63

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›animalischen Begierde‹ nach Besitz des anderen Körpers; vgl. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Mit einem Anhang: Hegel, Marx und das Christentum. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a. M. 31988, S. 23, 36 f., 43. Sie kann auch in gendertheoretischer Hinsicht fruchtbar gemacht werden. Zur Adaptation der Kojève’schen Hegel-Deutung durch Jacques Lacan, die in der Folge auch den französischen Poststrukturalismus geprägt hat, vgl. Malcolm Bowie: Lacan. Göttingen 1997, S. 78 f. Mehr dazu sowie zum Unterschied zwischen weiblich und männlich codiertem Begehren vgl. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (darin das Kap. II .2.2 zu den Frauenfiguren im Mann ohne Eigenschaften). Vgl. Corino: Robert Musil [2003], S. 1724, Anm. 127. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 314. Während des Schreibprozesses am Roman versieht Musil seine Notizen zur Figurengestaltung Leo Fischels im Arbeitsheft 36 mit Hinweisen auf frühere Eintragungen zur Substitution moralischer und sozialer Erwägungen durch die Logik des Geldes und des kruden Utilitarismus; vgl. Tb II, S. 223, Anm. 68a; Tb II, S. 379, Anm. 18. Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 301. Vgl. Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 390. Walter Fanta: Aus dem apokryphen Finale des Mann ohne Eigenschaften. Die Totalinversion der Nebenfiguren, in: Marie-Louise Roth, Pierre Béhar (Hg.): Musil an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Internationales Kolloquium Saarbrücken 2001. Berlin, Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 10), S. 225–250, hier S. 247: »Unter dem sozialen Transformationsdruck wird der Außenseiter und Assimilant Fischel wieder auf sein Einzelgängertum, auf Identitätszuschreibungen des Juden zurück geworfen.« In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation von Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik, S. 317.

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Charakterwandel, der in den Fortsetzungsentwürfen des Jahres 1936 ausdrücklich wieder aufgegriffen und weiter vorangetrieben wird (vgl. MoE, S. 1387–1390), entspringt nicht dem essayistischen Experimentieren eines zukunftsoffenen ›Möglichkeitssinns‹, sondern erweist sich im Gegenteil als konsequentes Resultat einer brutalen und systematischen Vernichtung von Möglichkeiten. Abschließend sei nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Musil trotz seiner kritischen Darstellung der Ideale des Gründerzeitliberalismus in der Person Leo Fischels nicht dazu neigt, den gut zehn Jahre nach ihm auch von Stefan Zweig diagnostizierten »optimistischen Wahn jener idealistisch verblendeten Generation zu belächeln, der technische Fortschritt der Menschheit müsse unbedingterweise einen gleich rapiden moralischen Aufstieg zur Folge haben.«67 Im Gegenteil: 1933 hält er im »Studienblatt Soziale Fragestellung« fest, dass sich in der geplanten Romanfortsetzung so unterschiedliche Figuren wie Leinsdorf, Meingast und Lindner schon vor Kriegsbeginn angesichts der schwelenden sozialen und nationalen Unruheherde Kakaniens für eine politisch-ideologische »Gleichschaltung« aussprechen, während Schmeißer und Leo Fischel dem politischen »Liberalismus« die Treue halten sollten (MoE, S. 1865 f.). Dementsprechend heißt es in einer Studie zum Problemaufbau von 1936 zur Hysterie nach »Kriegsausbruch«: »L[eo] F.[ischel,] die Stimme der Vernunft, wird abgekanzelt.« (MoE, S. 1902, nach KA/Transkriptionen/Mappe II/2/15) Der liberale jüdische Bankprokurist sollte offenbar fast als einziger im allgemeinen Taumel kühlen Kopf bewahren.68 Bereits in einem frühen Studienblatt aus den Jahren 1923–26 figuriert Fischel als »Repräsentanz der Vernunft«, wenngleich nur als »[s]chwache« (KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/88).69 ›Schwach‹ ist er wohl nicht zuletzt insofern, als er einem unterkomplexen Rationalismus verhaftet bleibt, der die menschlichen Affekte zwar statuiert, aber – im Unterschied zur Gefühlstheorie Ulrichs – nur auf negative, gesellschaftlich unproduktive Weise einzusetzen weiß.70 Dennoch hat Leo Fischel – neben Ulrich und Agathe – das nahezu alleinige Privileg, ihnen nicht besinnungslos zu verfallen.71 Wohl auch in diesem Sinn ist es in bester Aufklärungstradition »das ›Jüdische‹ an der Figur Leo Fischel, das ihr ihre moralische Bedeutung im Roman verleiht«, wie Claudio Magris hervorgehoben hat.72 Der von Musil allenthalben problematisierte Begriff 67 68

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Zweig: Die Welt von gestern, S. 17. Gemeint ist damit aber wohl keineswegs ein Lob des Spekulantentums, wie Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 293, 301, etwas kurzschlüssig sowie unter konsequentem Absehen von der umsichtigen und vielschichtigen Figurenentwicklung Musils behauptet. Vgl. Joseph Strutz: Politik und Literatur in Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Am Beispiel des Dichters Feuermaul. Königstein i. Ts. 1981 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 6), S. 37. Vgl. dazu Strutz: Politik und Literatur, S. 39. Vgl. Fanta: Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 247. Magris: Arnheim und Papa Fischel, S. 147.

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des ›Moralischen‹ ist dabei nicht im herkömmlichen Verständnis einer fix kodifizierten Verhaltenslehre zu verstehen, sondern im essayistischen Sinn des beweglichen Gestaltlosigkeitstheorems, wie unter anderem aus seinem Brief an die besorgte jüdische Leserin Else Meidner vom 3. März 1933 hervorgeht: »Liebesfähigkeit, Mitleid, Gerechtigkeit, Weichheit – solche und alle moralischen Verhaltensweisen variieren wohl individuell und sozial, sind aber [. . .] weniger erbmäßig als erziehungs- und umstandsmäßig bedingt!« (Br I, S. 564) Zweifelsohne existieren zahlreiche und gewichtige Unterschiede zwischen dem elegisch-nostalgisch erzählten Radetzkymarsch und dem ironischanalytisch reflektierenden Mann ohne Eigenschaften. Dennoch erweist sich die Romanfigur Leo Fischel insgesamt als in mehrerer Hinsicht vergleichbar mit der wenig später entworfenen und nicht ganz so vielschichtigen Figur Max Demant: In seiner habituellen Ambivalenz verkörpert Fischel die multinationale und multikulturelle Habsburgermonarchie, vertritt in ihr trotz seiner cholerischen Rechthaberei die Haltung fortschrittlicher Liberalität gegenüber den verschiedenen Kulturen, Ethnien und Religionen und beharrt politisch auf den Standards aufgeklärter Rationalität, die auch der Assimilation und der eigenen gemischtkonfessionellen Ehe zu Grunde liegen. Er zerbricht aber schließlich an der unaufhaltsamen Konjunktur von Nationalismus und Antisemitismus, die alle bestehenden Formen friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens im Vielvölkerstaat ideologisch aushöhlen und materiell vernichten. Seine erworbenen, nicht angeborenen ›Eigenschaften‹ stellen ihn zuletzt in jene bemerkenswerte Reihe sympathetisch gezeichneter, wenngleich nicht ›unfehlbarer‹ jüdischer Charaktere, die Arthur Schnitzlers Werk für die österreichische Literatur eröffnet hat. Sie alle fungieren in ihrer habituellen Ambivalenz als mahnende Gegenentwürfe angesichts jener plump-schematischen Zeichnung des ›bösen Juden‹, die zur selben Zeit in der sogenannten völkischen Dichtung allenthalben proliferierte. Ihre trotz menschenverachtender Umgebung aufrechterhaltene ›Vernunft‹ und ›Menschlichkeit‹ sind in der Literatur der klassischen Moderne seitdem sprichwörtlich geworden.

Alexander W. Belobratow

Musil in Russland lesen Eine Reise zu Ulrich mit dem Fürsten Myschkin, Ilja Oblomow und dem ›Kellerlochmenschen‹ Abstract: This article considers the reception of the 19th-century Russian novel (Tolstoy and Dostoevsky) in the work of Robert Musil, and endeavors to undertake a reading of his fundamental work within this cross-cultural context.

Die Erwähnung Russlands im ersten Satz von Musils Erstlingswerk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ist kaum je interpretiert worden.1 Man scheint sie lediglich als eher zufällige, bloß sachlich-geographische Angabe aufzufassen, als Bezeichnung für den östlichen Rand des Habsburgerreiches, wo die Geschichte des jungen Törleß spielt. Ich möchte diesen Satz von der »Strecke, die nach Russland führt«, als Anlass zu einer imaginären Reise nehmen, die von Russland zu Musil führt, vor allem zu seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ich versuche also, indem ich als Reisegefährten jene Figuren der russischen Literatur wähle, die auch Musil nicht völlig fremd sind, mir die Rezeptionssituationen und -modalitäten vorzustellen, um dadurch zu einer ›Erweiterung des Sinnpotentials‹ des Originaltextes zu gelangen, welche durch den fremden Kontext der russischen Literatur erzeugt wird. In der Übersetzungswissenschaft wird seit ungefähr 20 Jahren die Möglichkeit und potentielle Fruchtbarkeit der ›mehrstimmigen‹ Lektüre diskutiert, d. h. des Zuganges zum Fremden, Anderen in den poetischen Texten durch den Vergleich des Ausgangstextes mit seiner Übersetzung bzw. seinen Übersetzungen. Peter Utz, der Musils Roman aus der Perspektive »unverwechselbarer Verschwisterung« mit seiner französischen und englischen Übersetzung liest, formuliert das so: Wir verstehen mit ihnen [i. e. mit den Übersetzungen, A. B.] unsere eigene Befremdung vor dem Roman, wir verstehen unser Nicht-Verstehen. Denn die Übersetzungen holen uns Leser dort ab, wo wir selbst stehen; sie formulieren jene Erwartungen aus, die im Roman eingeschrieben sind, damit er sie überschreiten kann.2

1 2

»Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.« (GW 6, S. 7) Peter Utz: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, S. 238.

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Utz nennt diesen Zugang »die konstellierende Übersetzungslektüre«, denn »die Übersetzungen formulieren als Lektüren in einer fremden Sprache aus, welche Verstehenserwartungen dem Text eingeschrieben sind.«3 Der interpretatorische Ertrag dieses Zugangs kann durchaus fruchtbar sein, obwohl im Falle von Utz’ Mikroanalysen des Musil’schen Torsos auch manche Zweifel am Wert der Resultate entstehen können (siehe z. B. die Interpretation der ›Eigenschaftslosigkeit‹ bei Utz)4 . Doch scheint gerade diese Grenzüberschreitung der Kulturen, die Wechselwirkung der Alienität und Alterität für die Textanalyse fruchtbar zu sein. Es muss aber hervorgehoben werden, dass die Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Anderen in der Form seiner Alienität nicht so sehr auf der Mikroebene der einzelnen Begriffe, Ausdrücke, Figurenbeschreibungen und direkter bzw. verdeckter Zitate vor sich geht, sondern auch andere Schichten des Textes betrifft. Das bedeutet, dass die intertextuelle Ebene auf die interkontextuelle Ebene5 erweitert wird und so die Lektüre des fremden Textes über die Kontexte des in der eigenen Kultur schon Vertretenen, Vertrauten, Durchdachten, Interiorisierten läuft, der Leser den Text also vor dem Hintergrund seines eigenkulturellen Referenzrahmens liest. Es geht im Folgenden nicht um die Einbettung des österreichischen Autors und seines Romans in den kontextuellen Rahmen der russischen Rezeption, sondern im Besonderen um das Wiedererkennen des Eigenen im Fremden, indem einerseits das Eigene, d. h. die Texte der russischen Romanciers des 19. Jahrhunderts, hinsichtlich seiner Rezeption durch Musil geprüft wird (1.) und anderseits das Musil’sche Œuvre vor dem Hintergrund der russischen Kultur gelesen werden soll (2.).

1. Zunächst soll Musils Kenntnis der russischen Literatur skizzenhaft dargestellt werden. Musils Rezeption der russischen Kultur und der russischen Literatur wurde von der Musil-Forschung bisher wenig beachtet. Meistens beschränkt sie sich auf kurze Erwähnungen oder eher beiläufige Bemerkungen zum Thema.6 Einige Arbeiten haben sich ausführlicher mit Musils Rezep3 4 5 6

Utz: Anders gesagt, S. 240. Utz: Anders gesagt, S. 259. Zum Begriff »Interkontextualität« vgl. Thomas Homscheid: Interkontextualität. Ein Beitrag zur Literaturtheorie der Neomoderne. Würzburg 2007, S. 224 ff. Burton Pike verweist auf Musils Lektüre von Dostojewski, Gogol und Tolstoi und vergleicht »the view of history« im Mann ohne Eigenschaften und in Krieg und Frieden. Burton Pike: Robert Musil. An Introduction to His Work. Ithaca 1961, S. 135. Wolfgang Schraml entdeckt in Arnheims »blasphemische[r] Rede, die er in seinem Überschwang unmittelbar an Gott richtet«, die Anspielung auf Dostojewskis Legende vom Großinquisitor. Und aus Musils Lektüre von Krieg und Frieden (Tagebucheintragung aus dem Jahre 1934; Tb I, S. 856 ff.) kommt

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tion der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts befasst. Dominique Iehl hat in seinem Aufsatz von 1974 Ulrich mit Fürst Myschkin verglichen, wobei er zu der vereinfachenden Schlussfolgerung gelangte, dass Der Mann ohne Eigenschaften im Sinne Bachtins der Roman einer Stimme (»à une voix«) sei, während Dostojewskis Idiot mehrstimmig (»multivocalisme«) sei, d. h. polyphon.7 Catherine Martin bedient sich in ihrer Staatsexamensarbeit, die Musils Einstellung zur russischen Literatur gewidmet ist, der Begriffe »élément rationnel« in Bezug auf Tolstoi und »élément irrationnel« für Dostojewski.8 Willi Feld beschreibt zum ersten Mal ausführlich die produktive Rezeption der Werke Dostojewskis durch Musil.9 Josef Strutz stellt das Verhältnis von Dostojewskis Dämonen zu Musils Roman dar, wobei er eher typologische Interessen verfolgt.10 Philippe Chardin schließlich widmet dem Vergleich Musils mit Dostojewski im Kontext seiner Untersuchung zu Musils Verhältnis zur europäischen Literatur und Philosophie ein ganzes Kapitel (»Dostoïevski/ Musil: le ›tout est permis‹ et son application problématique«).11 Robert Musils Lektüre russischer Autoren gehört nicht zu den bedeutendsten in seinem Leben, obwohl er die wichtigsten Texte russischer Autoren, die seit den 1880er Jahren den europäischen Leser beschäftigten, kannte. Er las hauptsächlich Fjodor Dostojewski (Schuld und Sühne, Der Doppelgänger, Der Hahnrei, Brüder Karamasow, Der Werdende, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, Tagebuch eines Schriftstellers, Der Idiot), und Lew Tolstoi (Anna Karenina, Die Auferstehung, Autobiographische Trilogie, Krieg und Frieden). Nikolaj Gogol, den Autor der Toten Seelen, erwähnt Musil unter den Autoren, von denen seine Generation ihre »gestige Bildung« gewann.12 Tief beeindruckt hat ihn die Lektüre von Maxim Gorkis autobiographischem Buch Unter fremden Menschen (vgl. Tb I, S. 313 f.). Es wurde in der Rezeptionsforschung schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die Aufnahme der russischen Literatur im deutschsprachigen

7 8 9 10

11 12

Schraml zum Gedanken, dass »Tolstois Blick auf die geschichtlichen Ereignisse [. . .] an Musils Spekulationen über die ›Gesetze der großen Zahlen‹ [erinnert].« Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994, S. 213, 303. Dominique Iehl: Le prince Michkine, Karl Bühl, Ulrich ou de quelques qualités de héros sans qualités, in: Études germaniques 29/2 (1974), S. 179–191, hier S. 189. Catherine Martin: Musils Verhältnis zur russischen Literatur, in: Musil-Forum 2/1 (1976), S. 95–99. Willi Feld: Die Bedeutung der Reflexion für Musil: Am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Dostojewski, in: Musil-Forum 13–14 (1987/88), S. 241–256. Josef Strutz: Dostojewkis »Dämonen« und Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, in: Alexander W. Belobratow, Alexej I. Žerebin (Hg.): Dostojewskij und die russische Literatur in Österreich seit der Jahrhundertwende. St. Petersburg 1994, (= Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg, Bd. 1), S. 225–239. Philippe Chardin: Musil et la littérature européenne. Paris 1998, S. 73–92. Robert Musil: Bedenken eines Langsamen. N.-R.-Aufsatz [1933], in: GW 8, S. 1413–1435, hier S. 1429.

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Raum unter dem Einfluss des vorgeprägten Bildes dieser Literatur und ›des Russischen‹ insgesamt stand. Eine bedeutende Rolle spielten dabei die Auffassungen der kulturellen Vermittler, wie z. B. die sehr gut erforschte Rolle von Dmitri Mereschkowski als Vermittler der russischen Literatur für Thomas Mann zeigt.13 Dieser Kontextualisierung der Rezeption müsste bei der Erforschung der Rezeptionsverläufe Rechnung getragen werden. Russische Kultur im Allgemeinen stand um die Jahrhundertwende unter dem Zeichen des Exotischen, sie wurde als Ausdruck der ›rätselhaften slawischen Seele‹ verstanden, als eine Erscheinung, die den westlichen Menschen fremd war und sie wenig bzw. überhaupt nichts anging, für die sie sich aber interessierten. Musil schrieb relativ selten über die russische Literatur, im Gegensatz etwa zu Thomas Mann oder Hermann Hesse. Aber schon aufgrund seiner Aufzeichnungen in den Tagebüchern und einzelner Textstellen in seinen Essays, Rezensionen und fiktionalen Texten kann man sagen, dass Musil zielgerichtet gegen die Tradition der ›Anpassung‹ der russischen Literatur an die Klischees des westlichen Kulturbewusstseins anschrieb. In einer seiner Theaterkritiken, Nachwort zum Moskauer Künstlertheater (1921), bemerkte er im Zusammenhang mit der Aufnahme des russischen Theaters seitens des deutschen Publikums: Trifft eine neue Vorstellung von dem, was Theater sein kann, aber auf die alten Kategorien in einem Augenblick, wo Gedankenlosigkeit, eine unternehmungslustige Zeit und Selbstbehagen den Boden gefrieren ließen, so tritt das ein, was den Moskauern gegenüber anscheinend eingetreten ist. Man lobt sie verstockt, mit den alten, unveränderten Gedanken, fühlt, daß diese Lobgedanken irgendwo nicht decken, und nennt das die Exotik; scheinbar auch mit diesem Wort noch lobend, in Wahrheit aber kaum bewußt eine reservatio mentalis hineinlegend. Damit ist das Erlebnis dann zum nur ästhetischen degradiert, und aus einer Lebensangelegenheit zu einer des Gesprächs gemacht. Exotik hieß hier »das Russische« oder auch »ihre realistische Darstellungskunst«. Ich habe, was für einen Dichter nicht schwer ist, gleich zu Beginn vor diesen beiden Mißverständnissen gewarnt, mit denen man sich den Weg zum Verständnis versperrt. Was die Moskauer spielen, ist nicht Realismus, sondern es ist das Bühnenwerk als Kunstwerk, und es ist ebendeshalb nicht russisch, sondern Europa. (GW 9, S. 1526)

Dostojewskis und Tolstois Werke werden im Mann ohne Eigenschaften zitiert, wobei Musil seinen Protagonisten Gedanken Dostojewskis und Tolstois in den Mund legt, was Hermann Bernauer zu der Bemerkung veranlasst, »ihre Lektüre« werde »karikierend entwertet«.14 Dies findet sich beispielsweise in einer Szene zwischen Arnheim und Diotima, die einer Liebeserklärung nahekommt: »Die taktvolle Diotima fand auch dafür das richtige Wort. 13

14

Iwan Golik: Thomas Mann, Merežkovskij und die russische Literatur, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 25 (1976), S. 339–343. Hermann Bernauer: Zeitungslektüre im »Mann ohne Eigenschaften«. Paderborn 2007 (= Musil-Studien 36), S. 34 f.

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Sie erinnerte einmal in solchem Augenblick daran, daß schon der große Dostojewski einen Zusammenhang zwischen Liebe, Idiotie und innerer Heiligkeit festgestellt habe, unerachtet dessen aber Menschen von heute, die nicht sein gläubiges Rußland hinter sich haben, wohl erst einer besonderen Erlösung bedürften, um diesen Gedanken verwirklichen zu können.« (MoE, S. 510 f.)15 Anders geht Musil mit der russischen Literatur in seinen Tagebucheintragungen um. 1911 fixiert er seine Leseeindrücke zu Anna Karenina. Danach folgt eine Skizze eines nicht zustande gekommenen, satirisch-phantastischen Romans, dessen Protagonistinnen die Frauennamen aus Tolstois Text – Anna und Kitty – tragen (vgl. Tb I, S. 243 ff.). Viel wichtiger scheint aber Musils Reaktion auf eine der Besonderheiten von Tolstois Schreibweise zu sein. Am 13. Oktober 1911 notiert er zu Anna Karenina: Das Prinzip der ministeriellen Bekleidungsstücke in wunderbarer Konsequenz. Nie sieht ein Mensch irgendwie aus, sondern immer bemerkt ein anderer, daß er so aussieht. So streng, daß von Karenins Händen als von groben u. knochigen gesprochen wird, wenn Anna sie ansieht, von weichen, weißen, wenn dies Lydia Iwanowna tut. Die Reflexionen sind immer Gedanken der einzelnen Personen. So entsteht der starke Eindruck des Nebeneinanderbestehens der verschiedenen Weltbilder, ohne daß das irgendwie forciert würde, man sieht wie zb. Anna aussieht, wenn sie wohlwollend u. wenn sie nicht wohlwollend empfunden wird. (Tb I, S. 243)

In den 1920er Jahren, als er am Mann ohne Eigenschaften arbeitete, schien Musil bestrebt zu sein, diese ›Mehrstimmigkeit‹, diesen »Eindruck des Nebeneinanderbestehens der verschiedenen Weltbilder« in seinem Werk zu erzeugen, wobei er bemerkenswerterweise den Drang nach dem Polyphonischen nicht bei Dostojewski, sondern bei Tolstoi entdeckt. Musil zeigte auch Interesse für die Analyse der Rezeptionsprozesse der klassischen Literatur. In seinem Roman spricht er über die »Überhebung der Jugend, der die größten Geister gerade gut genug sind, um sich ihrer nach Beliebigkeit zu bedienen« (MoE, S. 56). Er beschreibt hier auch die eigene schöpferische Jugend, das eigene Aufnehmen der kulturellen Tradition, wobei er sehr genau eine wichtige Besonderheit dieses Stadiums des künstlerischen Werdens skizziert: »So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen« (MoE, S. 57). 15

Auch Tolstois ›Gedankengut‹ wird von einer satirisch umrissenen Figur zitiert, vom Moralisten und Prediger Lindner, der die ›lebendigen Gedanken‹ von Tolstoi für sein eigenes ›totes‹ Wissen verwendet, für seine Lehre, die sich in den banalen Gemeinplätzen und der kleinlichen Tyrannei eines Tugutes findet: »Peter hatte schon längst eine äußerst unvorteilhafte Vorstellung von der Philosophie, aber auch die Dichtkunst brachte ihm sein Vater nun in üble Erinnerung, denn er fuhr fort: ›Auch der Dichter Tolstoi sagt, die Enthaltsamkeit sei die erste Stufe zur Freiheit. Der Mensch hat viele knechtische Begierden, und damit der Kampf gegen alle erfolgreich sei, muß man bei den elementarsten beginnen: der Eßsucht, dem Müßiggang und der Sinnenlust.‹« (MoE, S. 1068)

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In den Aufzeichnungen zur ›Krise des Romans‹ (1931) wendet Musil seine Aufmerksamkeit auf die Untersuchung des »Vorgangs des Lesens« – »nicht elementar-psychologisch, sondern als soziales Phänomen« –, und hebt dabei hervor: Die erste Bekanntschaft mit Dostoj[ewski]. Ich hab ihn damals ›glühend‹ über alles weggelesen, was mir nicht sofort einging. Ich hab vieles nicht verstanden, ohne überhaupt zu wissen, ob es Undeutlichkeit der Übersetzung oder meine Schwäche ist. / In den Zyklen von wenigen Jahren [. . .] kann man ›neu‹ lesen. Was geht da vor sich? (GW 8, S. 1409)

Immer wieder bezieht sich Musil bei der Beschreibung seiner Leseerfahrungen auf Dostojewski. In seinem Aufsatz Literarische Chronik (1914) reflektierte Musil darüber, wie der junge Leser die Werke seiner literarischen Vorgänger aufnimmt: Was bleibt uns von Büchern? Die Erinnerung. Als mir diese Banalität einfiel, hat sie mich erschüttert. Das, was wir, uns erinnernd, von ihnen sagen können, einen knapp begrenzten Nebel halbheller Unsagbarkeiten darum herum: und dann lebten die Bücher, so gering ist ja die Erinnerung, voll ihrer Aufgabe nur in den Augenblicken des Lesens. Rückte unser Schaffen bedenklich nah dem Kreis jener Ästhetik, die das Kunsterlebnis nur als aktuell kennt, die Kunstwirkung als Kontakt von Werk und Beschauer untersucht, die Wirkung in die zeitliche Ferne nicht einbezieht. Kunst nur als »ästhetische« Frage, als Frage eines spezifischen Erlebnisses anschaut, nicht als menschliche, die sie vor allem bedeutet. / . . . Was ich in diesem Augenblick vom Raskolnikow weiß, ist das Bewußtsein einer ungeheuren Erschütterung. Nichts sonst. Alles in der Betäubung untergegangen einer durchlesenen Juninacht . . . [. . .] Was bleibt von Kunst? Wir bleiben . . . Wenige und ungenaue Einzelheiten; biographische Zufälle des Lesers; Wissen um eine große Erschütterung, die so nie wiederkehrt; alles nicht das Entscheidende. Das Eigentliche: Wir, als Geänderte, bleiben. (GW 9, S. 1460 f.)

Dabei bedeutete für Musil die Zuwendung zu den philosophisch-künstlerischen Systemen russischer Autoren in erster Linie die Suche nach der Untermauerung seines Verhältnisses zur Kunst als einem ›Morallaboratorium‹. In einem unabgeschlossenen Aufsatz mit dem Titel Der Dichter und diese Zeit. Oder: Der Dichter und seine Zeit (1921/22) bemerkt Musil in Bezug auf Baudelaire, aber auch auf Dostojewski und Tolstoi: »Die Hauptsache ist, daß Kunst nichts Ästhetisches ist, als wäre das ein gesondertes Reich, sondern daß sie eine Form zu leben ist, eine menschliche Betätigung, Wachsen.« (GW 8, S. 1351) Es ist auffallend, besonders im Vergleich zu anderen Autoren, dass Musil nie versucht, Tolstoi und Dostojewski gegeneinander auszuspielen. Für ihn repräsentieren sie beide das, was er in seinem Aufsatz Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) als »de[n] Kampf um eine höhere menschliche Artung« (GW 8, S. 1021) bezeichnet. Musil entdeckt bei Tolstoi und Dostojewski auch eine Ähnlichkeit zu seinen eigenen künstlerischen Bemühungen (bei allem Unterschied in der künstlerischen Form), nämlich

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die Gestaltung der menschlichen Charaktere in der Literatur. So schreibt er 1910 zu Anna Karenina: Fast ein Tric, aber überwältigend ist, wie Tolstoi den glücklichen Durchschnittsmenschen – Katja, Ljewin, Oblonsky – das Familienblättliche nimmt: indem er leise lächerliche oder böse Nebenregungen nicht verschweigt, zb. Oblonsky kommt zu Thränen gerührt von Karénin u. ist glücklich über das gute Werk, das er versucht, zugleich aber auch glücklich über einen Witz, den er sich ausdenkt: was ist der Unterschied zwischen mir, der ich hier Frieden mittle u. einem Feldherrn, oder so – Überhaupt sieht er seine Menschen immer als Mischungen von Gutem u. Bösem oder Lächerlichem. (Tb I, S. 243)

In der Hauptfigur eines der »persönlichsten« Werke Tolstois, dem Drama Und das Licht erscheint in der Finsternis (Erstausgabe 1912), sieht Musil in seinem Moissi-Epilog (1921) einen »Neurastheniker der Güte«, den Menschen, »der das Unrecht in der Welt nicht ertragen kann und den rechten Entschluß auch nicht. [. . .] Solche Naturen sind nicht Ärzte, sondern brüllende Stimmen der wehen Menschheit; ihre Kraft liegt nicht im Zuendekommen mit ihren Ideen, sondern in der Ohnmacht. Deshalb auch die völlige Ablehnung, der Tolstoj bei vielen begegnet, in denen westliche Geistesüberlieferung lebt.« (GW 9, S. 1498 f.) Das Zusammenprallen von zwei inneren Stimmen in der Seele der Tolstoi’schen Figur entspricht der Musil’schen Idee der ›Eigenschaftslosigkeit‹ der Persönlichkeit, mit seiner Kritik der ideologischen und ethischen Systeme, die auf der Vorstellung über den konstanten Charakter des Individuums fußen, seiner Kritik an der ›statischen‹ Moral. Tolstoi schreibt 1898 in einem Tagebuch: »Einer der üblichsten Irrtümer besteht darin, die Menschen als gut, böse, dumm, gescheit anzusehen. Der Mensch ist immer im Fluß und birgt in sich alle Möglichkeiten«.16 Diese Vorstellung vom Charakter konnte Musil in Tolstois Romanen finden. So schreibt er in einem Essayentwurf Nationalismus. Internationalismus (1919/ 1920): »Der Mensch ist nicht gut, wenn man ihm bloß die verschiedenen Joche des Kaiserismus, Militarismus, Kapitalismus usw. abnimmt. Er ist auch nicht schlecht, sondern er ist eine liquide Masse, die geformt werden muß.« (GW 8, S. 1348) Musil ist der Auffassung, dass sich die Kunst nur auf dem Wege des Verzichts auf den einheitlichen Charakter als Basis für die literarische Gestalt weiter entwickeln kann, dies sieht er in Tolstois, Dostojewskis und Ibsens Werken bestätigt. Die Kunst lehrt das Zweifeln, die Suche nach einer besonderen, ›dynamischen‹ Moral. Die Dostojewski’schen und Tolstoi’schen Figuren entsprechen weder dem ›guten‹ Bild der Welt noch der rationalistischen Vorstellung über die Wirklichkeit, die auf einem positivistischen Modell basiert. Das Problem von Charakterologie u. Dichtung, so der Ti16

Leo N. Tolstoi: Tagebücher. 1847–1910. Aus dem Russischen übersetzt v. Günter Dalitz. Ausgewählt, mit Vorwort und Zeittafel versehen sowie zusammen mit Ulrike Hirschberg kommentiert v. Eberhard Dieckmann. München 1979, S. 574.

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tel eines Essayfragments, das wohl aus dem Jahr 1926 stammt (vgl. GW 8, S. 1402–1404), ist eines, das Musil immer wieder beschäftigt. Er glaubt, dass nur die Zerstörung des starren charakterologischen Schemas dazu führen kann, in seinem Roman jene philosophisch-ethischen Probleme zu lösen, die – wie er meint – die Literatur des 19. Jahrhunderts nicht lösen konnte. Am Ende seines Lebens kommt Musil wieder zu Tolstois ethischer Haltung zurück (interessant sind hier zahlreiche Exzerpte aus der Auferstehung, Vgl. Tb I, S. 866–868) – er denkt über das Verhältnis von Künstler und Moralist in seinem Werk nach: Tolstojs Moral, im Verhältnis zu mir. [. . .] Die Moral der Auferstehung ist nicht einwandfrei, er denkt theoretisch sogar unschärfer als sonst. Ich halte meine eigene Problemfassung für eine berechtigte Fortsetzung (Nächstenliebe usw). Aber: er sucht keine Theorie, er sucht eine Antwort auf Fragen, die ihn erschüttern!! Dieses Menschliche reißt die Menschen mit, auch wenn sie solchen Überlegungen nicht geneigt sind. Und eigentlich ist es ganz gleich, ob die Überlegungen mehr oder weniger richtig sind. / Gefahr für mich: in der Theorie stecken zu bleiben. Dringe immer wieder zurück zu dem, was dich auf diese theoretischen Hilfsuntersuchungen geführt hat! (Tb I, S. 863 f.)

Tolstoi und Dostojewski (»eine Jugendliebe von mir«, Br I, S. 1384) beeinflussten Musil nicht so, dass er ihr ethisch-moralisches System übernommen hätte. Beide Autoren repräsentierten für Musil eher den »Kosmos einer gestalteten Dichtung« (GW 9, S. 1480), wie er in der Theaterkritik Moskauer Künstlertheater von 1921 schrieb. Er verfasste diese Kritik aus Anlass der Aufführung von Stücken Tolstois, Tschechows und Gorkis und einer Inszenierung von Dostojewskis Roman Brüder Karamazow. Er schrieb, dass das Kunstwerk als »innere[ ] Totalität« erst dann entsteht, »wenn sich die Seele des Dichters an einem Werk erschöpft hat [. . .]. Denn wer ein Dichter und kein Schwätzer ist, gestaltet ja doch nicht seine Einfälle, sondern im einzelsten Einfall noch sein Weltbild, seinen Weltwunsch und Weltwillen.« (GW 9, S. 1479)

2. Im Folgenden möchte ich mich den ›Reisenden‹ zuwenden, die unterwegs zu Ulrich sind und folgende Fragen stellen: Wie kommt der russische Leser an Musil heran? Welche Alteritäten seiner eigenen Kultur und Literatur führen ihn an die Grenzen der kulturellen Fremde, des Anderen, an die Alienitäten der Musil’schen Romanwelt? Welche eigenkulturellen Kontexte erleichtern bzw. erschweren die Lektüre von Musils Roman für einen russischen Leser? Ich versuche in der Folge an einigen interkontextuellen Beispielen zu zeigen, wie die Rezeption der von Musil produzierten Situationen und Figurenkonstellationen durch einen russischen Leser vermittels der ihm aus seiner

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Literatur bekannten Texte und Kontexte in Richtung einer polyperspektivischen Lektüre gelenkt wird. Dabei wende ich mich nicht dem umfangreichen Komplex der russischen Kulturkontexte zu, die so oder so den Erwartungshorizont des russischen Rezipienten formen, sondern den Texten, die einerseits Musil selbst nicht unbekannt waren und sein konnten (Dostojewski, Tolstoi, Gogol, eventuell auch Gontscharow) und die andererseits als Folie für den russischen Leser von Musils Mann ohne Eigenschaften dienen, als ›Rezeptionsflächen‹ und aktualisierte Kontexte. Als erster Text aus dem Bereich der Alienität soll Iwan Gontscharows Oblomow untersucht werden, der als Kontext beim russischen Leser aufgerufen wird, wenn er sich mit Musils Roman auseinandersetzt. Auf der Reise zu Ulrich ist Ilja Iljitsch Oblomow ein bekannt-unbekannter Mitreisender. In Gontscharows voluminösem vierteiligem Roman, der das Schicksal und den Untergang der Titelfigur Oblomow beschreibt, dessen »Seele rein und klar wie Glas«17 war, ist der erste Teil – also ein Viertel des gesamten Textes – einem einzigen Ereignis, einer einzigen Handlung gewidmet: den Versuchen Oblomows, seinen Schlaf zu unterbrechen und den neuen Tag zu beginnen: In der Gorochowajastraße, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag des Morgens Ilja Iljitsch Oblomow in seiner Wohnung auf dem Sofa. Er war ein etwa zweiunddreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs und angenehmem Äußern, mit dunkelgrauen Augen, die über Wand und Zimmerdecke sorglos streiften und jenes unbestimmte Sinnen ausdrückten, welches darauf hinwies, daß ihn nichts beschäftigte und nichts beunruhigte. Die Sorglosigkeit ging vom Gesicht auf die Stellung des ganzen Körpers und selbst auf die Schlafrockfalten über. Manchmal trübte sich sein Blick durch einen Anflug von Müdigkeit oder Langeweile. Aber weder die Müdigkeit noch die Langeweile konnte von seinem Gesicht auch nur für einen Augenblick die Weichheit vertreiben, die der herrschende und grundlegende Ausdruck nicht nur seines Gesichtes, sondern seiner ganzen Seele war.18

Die Handlung des Romans wird von Gontscharow maximal retardiert, ja sie tendiert zur Nicht-Handlung, zur Absage an jede Art von Handlung, dies sowohl aus der Perspektive der Hauptfigur als auch aus der der Romanerzählung. Der russische Leser von Oblomow ist also vorbereitet auf die endlose Retardierung der Handlung im Musil’schen Text mit seinen ständigen Abund Verzweigungen, seinen Digressionen, die durch Ulrichs ›Aufstehen‹ in den Tag hinein markiert sind, durch seine Einbeziehung in die ›Parallelaktion‹ wider seinen Willen und sein Ziel, einen »Urlaub von seinem Leben« zu nehmen, »um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen.« (MoE, S. 47) 17 18

Iwan Gontscharow: Eine alltägliche Geschichte. Oblomow. Übersetzt v. Fega Frisch und Clara Brauner. Zürich 1960, S. 1066. Gontscharow: Eine alltägliche Geschichte. Oblomow, S. 405.

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Oblomow – er ist am Anfang des Romans wie Ulrich 32 Jahre alt – lebt auch in einer Art Zustand des ›Urlaubs vom Leben‹: Er arbeitet schon einige Jahre unermüdlich an diesem Plan,19 überlegt ihn sich und grübelt im Gehen und Liegen, zu Hause und wenn er auf Besuch ist darüber nach; er ergänzt und ändert die verschiedenen Teile oder stellt das gestern Erfundene und in der Nacht Vergessene in seinem Gedächtnis wieder her; und manchmal flammt in ihm plötzlich ein neuer, unerwarteter Gedanke wie ein Blitz auf, und sein Hirn beginnt fieberhaft zu arbeiten. Er ist nicht irgendein unbedeutender Vollstrecker fremder, fertiger Gedanken; er selbst ist der Schöpfer und zugleich Vollstrecker seiner Gedanken. Sowie er des Morgens aufgestanden ist, legt er sich gleich nach dem Frühstück auf das Sofa, stützt seinen Kopf auf die Hand und denkt, ohne seine Kräfte zu schonen, so lange nach, bis sein Kopf endlich von der schweren Arbeit müde wird und das Gewissen ihm sagt: Du hast heute für das allgemeine Wohl genug geleistet.20

Oblomows Position, sein Schwärmen vom »richtigen Leben«, von der Ganzheit des Lebensgefühls, wird im Roman mit der Position und der Ideologie seines engsten Freundes Andrej Stolz konfrontiert, eines Menschen mit Eigenschaften, eines tatkräftigen Menschen, der die Arbeit und das Erreichen seiner Ziele als höchsten Wert predigt. Mit Ilja Oblomow: »Worin besteht denn deiner Ansicht nach das Lebensideal? [. . .]« fragte er schüchtern und ohne Begeisterung, »streben denn nicht alle nach dem, wovon ich träume? Ich bitte dich«, fügte er dreister hinzu, »ist denn das Erreichen der Ruhe, das Streben nach diesem verlorenen Paradiese nicht das Ziel eurer ganzen Geschäftigkeit, eurer Leidenschaften, eurer Kriege, eures Handelns und eurer Politik?«21

Die zwei Romanfiguren, Oblomow und Stolz, als Vertreter zweier Lebenspositionen, zweier Lebenseinstellungen – einer kontemplativen, auf die Tätigkeit verzichtenden auf der einen und einer, die auf ein aktives, tatkräftiges, unternehmerisches Leben und die Arbeit setzt, auf der anderen Seite –, werden vom russischen Leser des Mann ohne Eigenschaften in Verbindung gebracht mit dem gegensätzlichen Paar von Ulrich und Arnheim, die als Repräsentanten zweier Existenzmodi, zweier Arten der Anwendung des geistigen und seelischen Potentials, gelten können. Gontscharows Roman stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und doch scheint dieser Text – bei aller realistischen Schilderung des privaten und sozialen Lebens jener Zeit – nicht oder nur zum kleinsten Teil ein Gesellschaftsroman zu sein; er ist auch kein Bildungsroman, obwohl die Entwicklung der beiden Protagonisten konzis geschildert wird. Vielmehr handelt es sich hier um einen Bewusstseinsroman, dessen erzählerische Welt 19

20 21

Oblomow entwirft einen den Anforderungen der Zeit entsprechenden Plan der Einrichtung des Gutes und der Verwaltung der Bauern, der utopischen Umgestaltung des menschlichen Zusammenseins, die das allgemeine Glück bringen soll. Gontscharow: Eine alltägliche Geschichte. Oblomow, S. 486. Gontscharow: Eine alltägliche Geschichte. Oblomow, S. 640.

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nicht auf der Basis der ›Naturnachahmung‹, der Schilderung und Analyse der sozialen Zustände entsteht, sondern aus der Opposition zweier, dem Roman zugrunde liegender Modi der Lebenseinstellung, kurz: zweier Lebensformeln. Die Suche nach dem ›anderen Leben‹, dem ›anderen Zustand‹ des Lebens, nach der kontemplativen Aneignung der Lebensharmonie und nach ihrer Dauerhaftigkeit ist bei Ilja Iljitsch Oblomow mit einem anderen Modell ihres Aneignens als bei Musil verbunden, aber der höchste Wert dieses angestrebten Zustandes ist unbestreitbar, ebenso unbestreitbar scheint auch die Hoffungslosigkeit zu sein, diesen je zu erreichen – verbunden auch mit der persönlichen Degradierung, mit der Gefahr, die Musil noch in seinen frühen Texten erwähnt.22 Das Lebensprinzip von Andrej Stolz, das bei Musil in Arnheim verkörpert erscheint, nämlich das Prinzip der Handlung, der Tat, der äußeren Bewegung, bringt – bei allen Unterschieden der sozialen und historischen Kontexte und der ideologischen Begründungen in der ›Realität‹ – den Wohlstand, die nach außen positiv wirkende Gestaltung des privaten Lebens, verhindert aber zugleich das höchste Glück. Diese Konzeption ist mit einem Modell von Geschichte verbunden, über das ein anderer unserer Mitreisenden nachdenkt: Dostojewskis ›Kellerlochmensch‹ aus den Aufzeichnungen aus dem Untergrund (1864): Versuchen Sie es doch, werfen Sie einen Blick auf die Geschichte der Menschheit: nun, was? Großartig, wie? [. . .] Oder finden Sie sie bunt? [. . .] Oder einförmig? Nun, meinetwegen einförmig: sie raufen sich, und raufen sich, und haben sich schon früher gerauft und werden sich auch hinfort raufen, – Sie müssen doch zugeben, daß das schon gar zu einförmig ist. Mit einem Wort, man kann alles über die Weltgeschichte sagen, alles, was der hirnverbranntesten Einbildungskraft nur einfällt. Nur eines kann man nicht sagen: daß sie vernünftig sei.23

»Seinesgleichen geschieht«, und diese unendliche »Totschlägerreihe«24 führt die Dostojewski’sche Figur zu den Gedanken über seine eigene »Eigenschaftslosigkeit«: Es war nicht nur dies, daß ich nicht verstand, böse zu werden, – ich verstand überhaupt nichts zu werden: weder böse noch gut, weder ehrlich noch schlecht, weder Held noch Insekt. Und jetzt lebe ich so dahin in meinem Winkel, verhöhn mich selbst mit dem boshaften und völlig zwecklosen Trost, daß ein kluger Mensch doch 22

23

24

Vgl. Tb I, S. 17: »Vorstellung eines anderen Lebens Verwandt mit erotischem Traum. Jäh abwendend vom Leben. / Ich empfand, daß ich mich ganz vom Leben abwenden und ganz diesem zuwenden würde, – weil das Leben nicht im Stande ist, mir etwas Gleichwertiges zu bieten. Und noch während sich meine Gefühle hinter die hohen Mauern dieses Gartens träumten – kam mir schon dieser wie der Park eines Irrenhaues vor.« Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Eine Erzählung, in: ders.: Der Spieler. Späte Romane und Novellen. Übertragen v. E. K. Rahsin. München 17 1999, S. 429– 576, hier S. 461 f. Franz Kafka: Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1990, S. 892.

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überhaupt nicht ernsthaft etwas werden kann, sondern nur ein Dummkopf etwas wird. Jawohl, ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, ja, ist moralisch verpflichtet, ein vorherrschend charakterloses Wesen zu sein; ein Mensch jedoch mit Charakter, ein tätiger Mensch, hat vorherrschend beschränkt zu sein.25

Willi Feld behauptet, Musil habe »sogar die Abgebrühtheit besessen [. . .], die Figur Dostojewskis um die ganze Winzigkeit einer Nuance zu verändern, um aus diesem ›charakterlosen‹ Menschen im Kellerloch den Mann ohne Eigenschaften zu produzieren.«26 Der »charakterlose Mensch« von Dostojewski spricht auch über die Dinge, die mit der Karriere von Ulrich als Ingenieur und Mathematiker, mit seinem zweiten und dritten Lebensversuch, zu tun haben, nämlich über die Berechenbarkeit von Handlungen, gegen die er aufbegehrt: Selbstverständlich werden dann alle menschlichen Handlungen nach diesen Gesetzen mathematisch in der Art der Logarithmentafeln bis 10 000 berechnet [. . .]. Dann also [. . .] werden die neuen ökonomischen Verhältnisse beginnen, vollkommen ausgearbeitete und gleichfalls mit mathematischer Genauigkeit berechnete, sodaß im Handumdrehen die verschiedensten Fragen ganz verschwinden werden, – eigentlich aus dem Grund, weil man sonst die verschiedensten Antworten auf dieselben erhielte.27

Den Möglichkeitssinn, die »verschiedensten Antworten« auf »verschiedenste Fragen«, begehrt die Dostojewski’sche Figur genauso stark wie jene im Mann ohne Eigenschaften. Der Kellerlochmensch hinterfragt aber auch das Modell des »richtigen Lebens«, das Problem des Resultats, des möglichen Erreichens eines bestimmten Ziels. Für den suchenden Menschen ist nicht das Ziel, sondern der Weg dahin wichtig; der Urlaub vom Leben darf kein inhärentes Ende haben. Dostojewski polemisiert in seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund gegen Gontscharows Roman, doch plötzlich schlägt seine Polemik um in die Richtung der »Idee des Lebens als Leben« von Oblomow und der »ewigen Arbeit« von Stolz: Der Mensch liebt es, sich als Schöpfer zu erweisen und Wege zu bahnen, das ist unbestreitbar. Warum aber liebt er bis zur Leidenschaft ebenso Zerstörung und Chaos? [. . .] Liebt er Zerstörung und Chaos vielleicht deswegen so sehr [. . .], weil er sich instinktiv fürchtet, das Ziel zu erreichen und das zu erbauende Gebäude zu vollenden? [. . .] Und wer weiß [. . .], vielleicht liegt auch das ganze Erdenziel, zu dem die Menschheit strebt, nur in dieser ununterbrochenen Fortdauer des Strebens zum Ziel, mit anderen Worten: im Leben selbst, nicht aber im eigentlichen Ziel, das natürlich nichts anderes sein kann als Zweimal-zwei-ist-vier, also die Formel.28

25 26 27 28

Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 433 f. Feld: Die Bedeutung der Reflexion für Musil, S. 246. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 456. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 465 f.

Musil in Russland lesen

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Ulrichs Verlorensein bei den – wenn auch nur in seinen Reflexionen und geistig-seelischen Experimenten – erreichten Zielen, seine Bewegung ohne erreichtes Resultat scheint die Formel des Musil’schen Protagonisten zu sein, aber auch die Formel des Romans als solchem, des Romans, der sich der unendlichen Bewegung öffnet, der zu keinem Ende findet, der am Gewebe des Textes weiter arbeitet. Denn gerade diese Bewegung zum Ziel, ohne es erreichen zu können bzw. zu wollen, wird bei der Lektüre von Musils Roman vor dem Hintergrund der russischen Literatur im kontextuellen Vergleich deutlich sichtbar. Und diese »andere Sprache« des Musil’schen Textes kann als ein wichtiger Strang seiner interkulturellen Existenz bezeichnet werden, wie Christiaan L. Hart Nibbrig meint, wenn er schreibt: »›[D]ie Aufgabe‹ des Übersetzers [läßt sich] auch dahin bestimmen, die Vorstellung von einem einsprachigen Original aufzugeben, von Dichtung zumal, die nicht immer schon in nachbabylonischem Exil wäre.«29

29

Christiaan L. Hart Nibbrig: Übergänge. Versuch in sechs Anläufen. Frankfurt a. M., Leipzig 1995, S. 224.

Alexander Honold

Fremdheit, Feindschaft Österreichische Ökumene bei Musil und Handke Abstract: »Kakania« was Musil’s designation for the Austro-Hungarian Empire in its pre-war period. The Man Without Qualities refers to a political system without individual qualities, a country that defines itself only by means of metaphors and metonymies. The name also suggests the fragile construction of a multicultural society avant la lettre. While Europe’s nations became restrictive ideological frameworks for hegemonical attitudes, the Habsburg Empire had passed into a post-imperial agony. As Musil puts it, late Kakania was quite a modern society, even without knowing it. In Peter Handke’s writings concerning Slovenia and the myth of the »ninth land«, the idea of a multicultural and multilingual community appears as a similarly vivid concept.

Die Fragen der Kultur und dann auch der kulturellen Konflikte gehen zunächst aus vom ersten und ursprünglichen menschlichen Kulturverhältnis, demjenigen der Bebauung des fruchtbaren Bodens und der Besiedlung bewohnbarer Landschaften.1 Die Ökumene, der gemeinsam bewirtschaftete und bewohnte Raum, umfasst alle diejenigen menschlichen Gesellungsformen, die ihre gemeinschaftsbildende Kraft dem miteinander geteilten Horizont eines gemeinsam erfahrenen, gemeinsam gestalteten Lebensraumes verdanken. Unter heutigem Begriffsgebrauch hat sich diese breite, umfassende Bedeutung der Ökumene, die sie zu einem Schlüsselkonzept menschlicher Siedlungsgeschichte prädestiniert, auf ein primär religiöses Verständnis des interkonfessionellen Miteinanders eingeengt. Eine vergleichbare Reduktion aufs Religiöse lässt sich bei dem von der griechischen Antike ebenfalls zunächst kulturgeographisch gebildeten Begriff der Diaspora beobachten, den Vorgängen der räumlichen Zerstreuung also. Unter den kulturbildenden Kräften stehen gemeinschaftsfördernde und gemeinschaftszerstreuende in einem labilen Wechselverhältnis, einer mechanischen Balance von zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen vergleichbar, doch ohne deren eher simple, geometrisch schematisierbare Ausgleichsverfahren. Auf dem Feld des kulturellen Handelns spielen, wie Pierre Bourdieu gezeigt hat, Konsens und 1

Zur agrikulturellen Grundlage des Begriffs Kultur vgl. Hartmut Böhme: Vom Cultus zur Kulturwissenschaft. Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs, in: Renate Glaser, Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, S. 48–68, bes. S. 51, 61.

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Dissens eine gleich entscheidende Rolle,2 und sogar der umstrittene Konsens über die Art und Austragung des Dissenses kann in den Widerstreit beider als eine zusätzliche Volte des Spannungsaustausches von Neuem eingespeist werden. Das Feld der Kultur ist zunächst einmal nichts anderes als ein Acker mit besonderen Anbau-Gesetzen; unter den Polarisierungen notwendig kontroverser Sinngebung wird das konkrete Stück Land zu einem Handlungsfeld, auf dessen Areal sich Positionen und Oppositionen, Grenzlinien und Verbindungswege herausbilden. Territoriale Konflikte sind soziale Konflikte, die einen territorialen Darstellungsmodus annehmen. Der Kultursemiotiker und Literaturwissenschaftler Jurij Lotman verwendet das Bild von disjunkten semantischen Feldern, um die logischen Operationen von Differenzbildung sinnfällig werden zu lassen.3 Das Kräftespiel zentripetaler und zentrifugaler gesellschaftlicher Tendenzen räumlich zu verstehen, bedeutet, Konsens und Dissens analytisch, aber auch praxeologisch, auf die Grundlage eines einzigen, ungeteilten Handlungsfeldes zu beziehen. In den aus der griechischen Antike entlehnten siedlungsgeographischen Termini gesprochen, geht es darum, in der Ökumene auch die Diaspora mitzudenken. Von einem »untergegangenen, unverstandenen« Experiment kultureller Ökumene ist hier zu berichten. Mit der Hilfe literarischer Quellen lässt sich dieses versunkene Land aus der gebotenen ethnographischen Distanz besichtigen. »So oft man in der Fremde an dieses Land dachte«, beklagt der Dichter halb schmunzelnd, »schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen« (MoE, S. 32). Die unermessliche Weite des Territoriums steht in auffälligem Kontrast zur Gemächlichkeit, mit der sich Zivilverwaltung und Militärposten anschicken, es zu beherrschen und zu erschließen. Kein Volk ohne Raum drängt hier in Torschlusspanik zur Besetzung scheinbar herrenloser Ländereien vorwärts; man hat Zeit, die Dinge reifen zu lassen. Schließlich befinden wir uns nicht in einem imperialen Kolonialstaat, sondern in Robert Musils entschwundenem Vielvölkergebilde Kakanien, einem »Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist« (MoE, S. 32). 2

3

Wie Pierre Bourdieu dargelegt hat, setzen kulturelle Distinktionen und Antagonismen ein gemeinsames symbolisches Terrain gleich dem »intersubjektiven Verständigungsmodus« der Linguistik voraus; »die manifesten Konflikte zwischen Richtungen und Doktrinen verschleiern, zumindest den darin Befangenen, die verschwiegene Komplizität in ihren Voraussetzungen, [. . .] nämlich den Konsensus im Dissensus, der die objektive Einheit des kulturellen Kräftefeldes einer beliebigen Epoche bildet« (Pierre Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld [1966], in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Übersetzt v. Wolfgang Fietkau. Frankfurt a. M. 21983, S. 75–124, hier S. 122 f.). Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russischen übersetzt v. RolfDietrich Keil. München 21981, S. 313 ff.

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Im achten Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften hat Musil diesem Staate und seiner immer schon großen, alten und vergangenen Zeit ein Denkmal gesetzt. Er meint jene viel besungene Habsburger Ära, als Böhmen noch bei Österreich war – und infolgedessen in gewisser Weise tatsächlich am Meer lag, wie es ihm großzügig gesonnene Dichter von Shakespeare über Ingeborg Bachmann bis Volker Braun nachzusagen beliebten. »Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es da«, hilft Musil unserer Erinnerung auf, »Nächte an der Adria [. . .] und slowakische Dörfer« (MoE, S. 32 f.). Böhmen am Meer? ›Ein Stück weit‹ jedenfalls, denn Kakanien besaß mit Triest auch einen Adriahafen, von dem aus Erzherzog Maximilian, der spätere kurzzeitige Kaiser von Mexiko, im Jahre 1857 zu einer dreijährigen Weltumseglung an Bord der Fregatte Novara aufgebrochen war. Auch diese vergessene überseeische Ader des k. u. k. Regiments bringt Musil mit der gebotenen Dezenz in Erinnerung. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- oder Weltmachtsehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. (MoE, S. 32)

Die weltpolitische Rolle dieses alten Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts war widersprüchlich, seine Lage verzwickt. Zwar stellte Kakanien im Zentrum Europas zweifellos immer noch eine der imperialen Großmächte dar, doch besaß es, anders als seine Nachbarn im Westen, keine territorialen Schutzgebiete oder Rohstoffreserven in überseeischen Gefilden. Zwar unterstanden dem kakanischen Vielvölkergebilde auch etliche Nationen und Ethnien, die das Habsburgerregiment als Apparat einer Form der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterdrückung erlebten, die von kolonialen Verhältnissen nicht weit entfernt war; das bekannte Wort vom »Völkergefängnis« deutet es an. Doch war dieser supranationale Verband andererseits keineswegs in der Lage, die partiellen Nationalismen und Insurgentenbewegungen tatsächlich effektiv zu unterdrücken, und musste sich daher weit mehr an fundamentaler Opposition gefallen lassen als andere europäische Imperialmächte. Zwar spricht auch Musil leicht verklärt vom entschwundenen Kakanien, doch lässt seine Schilderung deutlich genug die Risse und Bruchstellen jener labilen Konstruktion hervortreten. Dem Scharfsinn des Wortkünstlers stellt sich die mit dem Weltkrieg zusammengebrochene k. u. k. Monarchie als der erste Staat dar, der »an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist« (MoE, S. 445). Die Karriere, die Musils ex post gebildeter Terminus Kakanien machte, zeigt, wie recht er hatte mit diesem Befund. Denn nicht Österreich war der Identitätskern dieses Gebildes, sondern seine k. u. k. Struktur, die linguistische Schizophrenie einer Bindestrich-Beziehung. Seit dem Verfas-

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sungsausgleich mit Ungarn 1867 bildete das kaiserlich-königliche Österreich die Hälfte einer Doppelmonarchie, deren andere, ungarische Hälfte sich mit ihrer kulturellen Eigenständigkeit offensichtlich sehr viel leichter tat. Auch hier galt zwar, dass die ›andere‹ Reichshälfte die Voraussetzung für die Identität der eigenen darstellte (»Der Österreicher kam nur in Ungarn vor und dort als Abneigung«; MoE, S. 170), doch geriet eben diese interkulturell plausible Wechselbestimmung im kakanischen Dualismus in die Krise. Das »österreichisch-ungarische Staatsgefühl«, so versucht Musils Erzähler die verzwickte Situation zu ordnen, bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und aus einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. (MoE, S. 170)

Während die Ungarn sich innerhalb des Vielvölkergefüges als eigene Kulturnation definieren konnten, so insinuiert diese Erklärung, war dies den Bewohnern der österreichischen Reichshälfte verwehrt, da sie zur kulturellen Distinktion sich allenfalls nach ihrer jeweiligen Teilnation hätte klassifizieren können, was letztlich die Preisgabe des übergreifenden habsburgischen Herrschaftsanspruches bedeutet hätte. Tatsächlich hatte von den fünf Nationalitäten, deren Siedlungsgebiet vollständig oder überwiegend innerhalb der Reichsgrenzen lag – Ungarn, Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten –, einzig das Königreich Ungarn mit dem Verfassungsausgleich von 1867 politische Souveränität erlangt. Zog man dieses kulturell vergleichsweise klar konturierte Gebilde also ab, worin bestand dann eigentlich das kakanische Österreich? Nach offizieller Sprachregelung aus den »im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern«, doch weil diese hölzerne Formel kaum jemand über die Zunge brachte, geschweige denn sie in sein Herz zu schließen vermochte, konnte man es ihm nicht verübeln, bemerkt Musil, »wenn er sich lieber nach seiner Umgangssprache kurz als Deutscher, Italiener, Ruthene, Tscheche usw. bezeichnet«.4 Zu dieser Feststellung, die in leicht abgewandelter Form in das 98. Kapitel des Mann ohne Eigenschaften Eingang fand (vgl. MoE, S. 451), gelangte Musil bereits zu Lebzeiten des alten Kakaniens, in einem jener Artikel, die er in den letzten beiden Kriegsjahren als Redakteur für die Bozener Soldatenzeitung verfasste. Die Unaussprechlichkeit des von einer höchst fragilen Konstruktion zusammengehaltenen Staatsgebildes ist notabene nichts anderes als ein Problem des Eigennamens und damit der Eigenschaft – womit sich Kakanien tatsächlich als ein kollektives Double des Protagonisten erweist. Die charakterologische Handschrift Ulrichs wird bekanntlich bereits bei der Wahl seines 4

Soldatenzeitung 1917; zit. nach: Elena Giovannini: Der Parallel-Krieg. Zu Musils Arbeit in der »Soldatenzeitung«, in: Musil-Forum 13–14 (1987/88), S. 88–99, hier S. 91.

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Domizils und seiner Inneneinrichtung auf eine entscheidende Probe gestellt. Über sein sogenanntes »Schlößchen« erfahren wir, dass es »einst ein vor den Toren liegender Sommersitz gewesen war, der seine Bestimmung verlor, als die Großstadt über ihn hinwegwuchs« (MoE, S. 13). Zum Fremdkörper in der umgebenden Großstadtszenerie geworden, ist dieses Anwesen geradezu ein Emblem jener Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die durch die Interferenz verschiedener Geschichts-, Kultur- und Sozialformen auf ein und demselben Fleck entsteht. Auch der eklektische Baustil des Schlösschens ist ein Spiegelbild heterogener Zeiten und Stilrichtungen, was es prädestiniert zum Wohnort einer multiplen und insofern eigenschaftslosen Persönlichkeit: »[S]eine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden« – spätestens hier ahnen wir, dass es sich bei dem Hause Ulrichs um eine fast maßstabsgetreue historische Allegorie Kakaniens handeln muss, und Musil fährt fort: »das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder; aber es war so, daß man unfehlbar stehen blieb und ›Ah!‹ sagte.« (MoE, S. 12) Nur konsequent erscheint es angesichts dieses stilistischen und funktionalen Pluralismus, dass Ulrich auf den von einer Modezeitschrift verhängten Charaktertest: »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist« damit reagiert, dass er, wie es diplomatisch heißt, »die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten« überlässt, »in der sicheren Überzeugung, daß sie für Überlieferung, Vorurteile und Beschränktheit schon sorgen würden.« (MoE, S. 20 f.) Der Kompromiss zwischen widerstreitenden Anforderungen und stilistischen Richtungen kann nicht durch ästhetisches Räsonnement gebildet werden, sondern nur durch völliges Gewährenlassen – eine erzkakanische Lösung also. Nicht nur dem architektonischen Eklektizismus der Wiener Ringstraßenära hat Musil damit ein Denkmal gesetzt, er zieht darüber hinaus eine ästhetische Analogie zwischen diesem verwackelten Sinn übereinanderphotographierter Stiltraditionen und der kulturellen Heterogenität des kakanischen Staatsgebildes. Gleich nah und weit zu allen Eigenschaften möchte Ulrich sich selbst situieren, als derjenige, dem dauerhaft alle Optionen offenstehen. Doch bis es soweit ist, dass der Protagonist von einer seiner überragenden Fähigkeiten den standesgemäß fulminanten Gebrauch zu machen gedächte, gibt er sich damit zufrieden, in Tat und Wahrheit einen zurückhaltenden, unauffälligen Berater für diffizile diplomatische Angelegenheiten der Wiener k. u. k. Bürokratie abzugeben, der teils gelangweilt, öfter auch amüsiert in den Salons des Ersten Bezirks ein- und ausgeht. Die gelebte Indifferenz des Protagonisten bewirkt eine Art Vorbehalt oder Einklammerung all dessen, was den Handlungsgang in seiner Konkretion ausmacht. Ulrich avanciert, fast gänzlich ohne sein Zutun, und ebenso sehr von Zufällen geleitet wie von der unerbittlichen Bestimmtheit väterlicher Au-

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toritäten gedrängt, zu einem der wichtigsten Funktionsträger im Planungsbereich der anberaumten Staatsfeierlichkeiten, er wird Sekretär oder sogar Generalsekretär der sogenannten ›Parallelaktion‹, einem Planungsstab zur Vorbereitung des für 1918 anstehenden feierlichen Thronjubiläums des österreichisch-ungarischen Kaisers. Für Ulrich und seine Mischung aus kalter Pedanterie und ironischer Handlungsreserve ist dies genau die richtige Position. Ein Sekretär befindet sich in herausgehobener Stellung und ist dem Wortsinne gemäß dazu bestimmt, Geheimnisse zu bewahren; er fertigt wichtige Schriftstücke an (oder ab), ohne dabei Autor im emphatischen Sinne zu sein. Es gibt keine Diskurs- und Archivordnung, die besser mit den divergenten Positionen und Anforderungen an die ideologische Fokussierung eines Gemeinwesens umgehen könnte, als die sekretariale Kultur des verwaltungstechnischen Etikettierens, Umschichtens und Ablegens. Die Zuschriften der Ausschüsse an den Hauptausschuß konnten sich bereits nach kurzer Zeit auf andere Zuschriften berufen [. . .], und begannen mit einem Satz zu beginnen, der von einem zum andern Mal wichtiger wurde und mit den Worten anfing: ›Unter Bezugnahme auf diesstellige Zahl Nummer soundsoviel, beziehungsweise Nummer soundso, gebrochen durch römisch. . .‹, worauf wieder eine Zahl folgte; und alle diese Zahlen wurden mit jeder Zuschrift größer. (MoE, S. 224)

Der Initialprozess der Parallelaktion wiederholt exemplarisch die Geburt der administrativen Schriftkultur; eine Geburtsszene allerdings, die es insofern nie gegeben haben kann, als Schriftstücke sich immer schon auf vorangegangene Schriftstücke beziehen, und die Bürokratie, wie jedes Universum, seit ihrem Urknall kein Außen mehr kennt. Die bürokratische Datenverarbeitung dieser Ablageordnung setzt ihr Codierungssystem ein zum Zwecke der Mortifikation des in den Daten akkumulierten gesellschaftlichen Lebens. Musil kennt, schätzt und schildert die bürokratische Lebenswelt just wegen ihres morbiden Charmes. Das Schreibprogramm der Amtsstuben wiederholt sich in der archivalischen Figurenbehandlung des Romans, die niemanden vergisst und niemanden voranbringt, auf sympathetische Weise. In der Parallelaktion, die als solche ein Modell der Verwaltungslogik des habsburgischen Österreich darstellt, nimmt jede Anregung die Form einer Eingabe, jede Eingabe wiederum die Textgestalt eines Vermerks oder einer Akte an, und jedes dieser Dossiers wird dann auf ein und dieselbe Weise behandelt, nämlich mit der Bearbeitungsnotiz »Ass.« in einen der stetig wachsenden Aktenschränke eingeordnet und abgelegt. »Diese Zauberformel Ass, die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß ›Asserviert‹, auf deutsch soviel wie ›Zu späterer Entscheidung aufgehoben‹, und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts verloren gehen läßt und nichts übereilt.« (MoE, S. 225) Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte des kleinen Beamten um eine außergewöhnliche Wöchnerinnenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig

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erwerbsfähig war, aus keinem anderen Grunde als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vorgesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte [. . .]. (MoE, S. 225)

In dem 1919 erschienenen Aufsatz Der Anschluß an Deutschland sieht Musil die Gründe für den Untergang Kakaniens in der Kombination von mangelnder Modernisierungsdynamik und fehlender Integration seiner disparaten Nationalitäten. »Wäre Österreich ein Staat von so großem Tempo gewesen«, wie es der deutsche Nachbarstaat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei seiner Industrialisierung hatte gewinnen können, »so hätte es vielleicht die Interessen seiner Völker in einem dynamischen Gleichgewicht verschmelzen können«, spekuliert Musil, um dann zu schlussfolgern: »da es schwerfällig und schlecht ausbalanciert war und langsam fuhr, fiel es vom Rad.« (GW II, S. 1038) Unmittelbar nach Kriegsende und Niederlage also schätzte Musil die österreichische Gemächlichkeit längst nicht so positiv ein wie später in den Kakanien-Schilderungen des Romans. Die Erfahrungen der Kriegsjahre und ihrer Resultate bilden für Musils Anatomie Kakaniens den entscheidenden Ansatzpunkt. »Bin ich Österreicher?« hatte er seine oben zitierte Glosse für die Soldatenzeitung betitelt – was für eine Frage, noch dazu im Kriegszustand, dem ›anderen Zustand‹ schlechthin. Gerade im Kriege aber entfaltete sich das Nationalitätendilemma des österreichischen Staatsgefühls in seiner vollen Schärfe, denn an vielen Fronten sahen sich die grenznahen Nationalitäten in einen Kampf gegen ihre eigenen nationalkulturellen Zugehörigkeiten hineingezogen. Insbesondere an der italienischen Front lag die Gefahr des Irredentismus nahe, und auf dieses Problem richteten sich auch Musils Propagandabestrebungen bei seiner Arbeit für die Soldatenzeitung. Die ideologische Mobilmachung konnte sich im Unterschied zu den europäischen Nationalstaaten eben nicht auf nationale Identität stützen, sondern nur auf die »Erziehung zum Staat«, so die Überschrift eines anderen Beitrags der Soldatenzeitung. In einem weiteren, 1917 verfassten Zeitungsartikel versucht Musil das Phänomen der Ungleichzeitigkeit in einem Bild zusammenzufassen, das zwar die strukturelle Überalterung Kakaniens und die Disparität seiner geschichtlichen Kulturen nicht verleugnet, sie aber in ein wohlwollendes Licht treten lässt – und die dabei eingesetzte Metaphorik kommt der Beschreibung von Ulrichs Gartenschlösschen schon erstaunlich nahe. Die »Gegenwart«, so Musils Vergleich, »ist ein bejahrter Kasten, dessen Grundmauern fast so alt sind wie die Zeit, während seine Wände von jeder Generation verändert wurden, die ihre Umund Anbauten machte, soweit es ihr nötig schien, bis endlich die heutige Gestalt herauskam.«5 Nimmt man das mit dieser Metaphorik entworfene Modell Kakaniens beim Wort, geht es nicht mehr um Propaganda oder militärische Vorwärtsver5

Soldatenzeitung 1917; zit. nach: Giovannini: Der Parallel-Krieg, S. 93.

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teidigung – die Devise kann nur noch lauten, sich in diesem Durcheinander noch einigermaßen kommod einzurichten, während es bereits in sich zusammenfällt. Erkenntnisse oder gar Empfehlungen für die multikulturelle Integration sind von der Fallgeschichte Kakaniens durchaus nicht zu erwarten, wohl aber Einsichten und Aufschlüsse in das historische Schichtengefüge seiner kulturellen Interferenzen. Ein wie mir scheint analytisch recht weitreichendes Modell der soziokulturellen Situation dieses Vielvölkerstaates hat Musil in den Ansätzen und Entwürfen zur Schilderung der Stadt Brünn entwickelt, der Heimat seiner Jugendjahre. In der Endfassung des Romans spielt Brünn als Kindheitsort und Vaterstadt Ulrichs den Gegenpart zur Residenzstadt Wien, ein Hort verdrängter Erinnerungen. Das an handlungsentscheidender Stelle plazierte Telegramm vom Ableben seines Herrn Vaters wird Ulrich jene Reise in die Vergangenheit aufnötigen, die zur Wiederbegegnung mit der Schwester führt und damit den Gesellschaftsroman schlagartig in eine Kammerspielsituation umwandelt. Doch wie Brünn als ein räumlicher Katalysator für die vergessene Schwester fungiert, so sollte es der Konzeption nach am Ende des Romans auch für die politische Situation Kakaniens eine anamnetische Bedeutung haben – als emblematischer Schauplatz der kakanischen Kulturkonflikte und »Herd« des Weltkrieges. Im später verworfenen Nationen-Kapitel ist Brünn der Ort vehementer Demonstrationen gegen die Parallelaktion. Zu längeren Ausführungen über die Stadt sollte es zwischen den Geschwistern und General Stumm von Bordwehr anlässlich der Figur des Dichters Friedel Feuermaul kommen (einer recht unfreundlich geratenen Karikatur Franz Werfels), der, so Musils Entwurf, in Brünn »als Sohn eines reichen Tuchkommissionärs geboren« wurde; die Stadt wird von Musil gerne als »Tuch- und Garnstadt« oder »Spinn- und Webstadt« apostrophiert,6 womit nicht nur ihre für kakanische Verhältnisse relativ weit fortgeschrittene Industrialisierung angedeutet ist, sondern auch eine assoziative Nähe zur Verwebung dieses Schauplatzes in das textile Motivgeflecht des Romans geschaffen wird. In einem ausführlichen Kapitelentwurf aus dem Nachlass fungiert Brünn als die kakanische Stadt schlechthin, seine Verwerfungen und Konflikte sind die eines multiethnischen, historisch vielschichtigen und sozial höchst disparaten Nationalitätenund Klassengefüges. »Dieses Br. [Brünn]«, so führt das Nachlass-Kapitel aus, war um das Jahr 1890 herum, wo der junge Fm. [Feuermaul] geboren wurde, eine sonderbare Stadt. Um eine alte, häßliche auf einem Berg liegende Festung herum, deren Kasematten in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient hatten u. berüchtigt waren, lag ein alter, wenn auch längst vermauerter Stadtkern, von dem nicht allzu zeitgemäßen Geschäftsbetrieb wohlhabender Bürger erfüllt; um diesen Kern breiteten sich im Ring die Fabriksviertel, große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, aufgefädelt längs einiger gewundener, breiter, schlecht gehaltener Straßen u. einem Gewirr von Nebengäßchen, 6

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hohe graue Kamine ragten als traurige Flaggenmaste darüber hinweg; wo sich das dann ins Land verlor, begann schwarzbraune, fette fruchtbare Erde, geduckte Dörfer, in einer Zeile die Landstraße begleitend u. in den Farben des Regenbogens angestrichen, fremd reizvolles Bauernland, aus dem die Fabriken ihre Arbeiter, Männer u. Frauen, sogen, u. weites Rübenland, das Großgrundbesitzern gehörte.7

Von außergewöhnlichem Reiz ist dieses Fragment, da hier ausdrücklich Phänomene der Industrialisierung und Modernisierung in den Blick genommen und in ihren Auswirkungen auf Stadtbild und Siedlungsstruktur beleuchtet werden. In einer Randbemerkung notiert Musil, die geschilderten Verhältnisse führten in Brünn zu einem »Nebeneinander, wie es für Kakanien typisch« sei. Das bedeutet: Die Spuren unterschiedlicher Zeiten sind als diachrone Dimension in einem synchronen Raum präsentiert, eben als unverbundenes Nebeneinander einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Wiederum erinnert das beschriebene Weichbild der Stadt an die kompositorische Eklektik der Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften, nur diesmal nicht schichtweise vom Gewölbe zur Beletage aufsteigend, sondern in peripherem Wachstum, wie es in der europäischen Stadtentwicklung vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert das häufigste Muster war, von innen nach außen fortschreitend wie Jahresringe. Handel, Industrie und Agrikultur sind in konzentrischer Topographie der bürgerlich-wohlhabenden Stadt und ihrem symbolischen Kern angelagert, als ringförmig segregierte Areale von Fabrikflächen und umliegendem Bauernland. In der Druckfassung des Romans erscheint, als hierzu komplementäre Vorstellung der Heimatstadt Ulrichs, die soziale und kulturelle Disparität Brünns in einem physiognomischen Bild dargestellt. Ein Bild, das sich zum Porträt gerade nicht runden will und das deshalb, einmal mehr, das Signum der Eigenschaftslosigkeit, der sich selbst dekomponierenden Andersheit trägt. »In ihrem Wesen«, so also die Beschreibung Brünns zu Beginn des Zweiten Buches, lag [. . .] etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums, der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war [. . .]; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz, mit den Haupt- und Hochschulen, den Kasernen, Gerichten, Gefängnissen, dem Bischofssitz, der Redoute, dem Theater, allen Menschen, die dazugehörten, und den Kaufleuten und Handwerkern, die sie nach sich zogen, so daß sich schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflußt hatten als alles andere. (MoE, S. 671 f.)

Soweit Musils chronologisch-topographische Skizze, nun aber folgt ihre abschließende physiognomische Quintessenz: »Diese Stadt hatte eine Ge7

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schichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin paßten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist.« (MoE, S. 672) Zum »Schauplatz erbitterter Kämpfe«8 , wie es das in den Weltkrieg führende finale Szenario des Romans vorsah, konnte Brünn vor allem deshalb werden, weil es die für Kakanien typischen Nationalitätenkonflikte in besonders dichter Weise beherbergte. Wenn man, so Musil, von Offizieren und Beamten absah, »lebten [. . .] beinahe ebensoviel Tschechen wie Deutsche in dieser Stadt, und außerdem war sie die Hauptstadt einer Provinz, in der doppelt soviel Tschechen als Deutsche lebten«.9 Geschichtliche Überlieferungen betrachteten diese kulturelle Überlappung nicht als Chance, sondern vorwiegend als Antriebskraft zu religiösen, ethnischen und kulturellen Aggressionen. »Man konnte in den Schulen dieser Stadt lernen, daß hier der Türkenprediger Kapistran gegen die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher auch in Neapel geboren werden konnten«10 – was den kulturellen Abgrenzungsversuchen, bei aller Militanz, einen ebenso verzweifelten wie lächerlichen Anstrich verleiht. In einer späteren Fassung der Skizze dieser kakanischen Stadt lässt Musil die groteske Austauschbarkeit der Nationallegenden noch drastischer hervortreten. »Natürlich war«, so heißt es dort, die Stadt ebenso auch in die stolzen hussitischen Erinnerungen der Tschechen verflochten und in die selbständigen geschichtlichen der Ungarn [. . .], und es fehlte in den nichtdeutschen Schulen der Stadt keineswegs an Hinweisen darauf, daß diese Stadt nicht deutsch sei und daß die Deutschen ein Diebsvolk seien, das sich sogar fremde Vergangenheiten aneigne. (MoE, S. 1444)

Was aber kann, unter solchen Voraussetzungen, die Formen des alltäglichen Gemeinschaftslebens der Menschen dann noch zusammenhalten? Wenn Kultur eine Art gemeinsamer Teppich ist, aus vielerlei Fäden von verschiedensten Seiten zugleich geknüpft und fortgewoben, so verdient die kulturelle Melange dieser Musil’schen Web- und Spinnstadt, als ziemlich fadenscheinig bezeichnet zu werden. Nur in einem Punkte deutet Musils schonungslose Anatomie der kakanischen Stadt eine Form jener Hybridität an, die in der gegenwärtigen Interkulturalitätsdebatte eine so prominente und positive Rolle spielt. Das Medium, in dem die Kulturen sich aufeinander zubewegen, in welchem Effekte der Vermischung sich am ehesten bezeugen, ist – wenig verwunderlich – die Sprache. Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses Zeichen von Kultur, so würde Diotima hier besondere Funde zur österreichischen

8 9 10

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Kultur machen können, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder tschechisch noch deutsch, sondern ein selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen.11

Das Habsburger Großreich mit seinen slawischen und muslimischen, mediterranen und mitteleuropäischen Völkerschaften verlor mit dem Ersten Weltkrieg und dessen Ende nicht bloß seinen Mythos, sondern einen Großteil der realhistorischen Basis seiner multiethnischen Kultur. Geburt, Schicksal und Ende Kakaniens, und erst recht die skurrilen Episoden dazwischen, erweisen sich einmal mehr als die Folge eines Sprachfehlers. Eines Fehlers allerdings, zu dem es, wie zum Musil’schen Fabelland mit Namen »Kakanien«, das korrekte Wort, das »mot juste« niemals gegeben hat. Für Peter Handke ist nicht das kakanische Österreich, sondern das jugoslawische Slowenien zu einem solchen ferngerückten, verklärten Ort der Ökumene geworden. Nicht erst im Licht der späteren Kriegshandlungen und ihrer Zerstörungsarbeit erscheint ihm, Handke, Jugoslawien als ein der Kärntner Heimat naher und zugleich sehr fremd gegenüberstehender Schauplatz eines multikulturellen Gemeinwesens, das im Einklang mit sich, seinen Menschen und seiner Landschaft lebte. Seit Ende der 70er Jahre arbeitet Handke an der epischen Vergegenwärtigung dieser je schon gefährdeten, aber eben nicht von vornherein zum Scheitern verurteilten Ökumene. Es ist die Lebensdramaturgie einer Rück- und Zuwendung nach Kärnten, Slowenien und zu den Kulturlandschaften Südosteuropas, die in der Tetralogie der Langsamen Heimkehr zu einem Programm zusammentritt und in dem Slowenien-Roman Die Wiederholung 1986 ihren an erzählerischer Intensität kaum zu überbietenden Ausdruck findet. Über ein dichtes Netz an gemeinsamen Motiven und assoziativen Querverbindungen des Romans ist Die Wiederholung mit den einzelnen Etappen der Langsamen Heimkehr und insbesondere mit dem in sich selbständigen zweiten Teil, der Lehre der Sainte-Victoire, verwoben. Dass die als Einzelwerke konzipierten Bände von Handke unter dem Obertitel der 1979 vorgelegten romanartigen Erzählung Langsame Heimkehr zu einer Vierergruppe zusammengefasst wurden, ist kein nachträglicher Eingriff in die Selbständigkeit der Einzelteile, sondern eine kompositorische Geste, welche die bei aller Disparität diesen Bänden eben doch gemeinsame Haltung einer reflexiven, im Wortsinne also sich zurückwendenden Aufmerksamkeit betont. In dem an die Initiationsrituale des Bildungsromans erinnernden Erzählwerk Die Wiederholung unternimmt Handke mit der Figur seines IchErzählers den Versuch, durch die Inszenierung des Schwellenübertritts in das südlich an die Heimat angrenzende Land »seinen Blick und sein Erzählen neu zu begründen.«12 Oberhalb von Jesenice und dem gekerbten Flusstal der Sava 11 12

KA/Transkriptionen/Mappe VII/1/61. Hans Höller: Peter Handke. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 98; zum Muster des Bildungsromans ebenda, S. 99.

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Dolinka oder der »Wurzener Save«13 hat der 19-jährige Filip Kobal bei seiner nach dem Schulabschluss angetretenen Reise durch Slowenien soeben seine erste ›ausländische‹ Nacht verbracht, in der Nische eines Eisenbahntunnels kampierend. Am nächsten Morgen blickt er, noch ein wenig schlaftrunken, über den Wiesenabhang in den Talgrund mit den Geleisen der Eisenbahn und dem rauschenden Fluss, er folgt, abwärts steigend, mit dem Auge den kleinen Gärten und ihrem Muster des Wechsels von Gemüsebeeten und Obstbäumen. »Dieses Muster, teils in Schräglage, teils in Terrassen, zog sich hinab bis zum Fluß, und es war, als würden die Gärten von ihm bewässert.« Schon Handkes Wahrnehmungsarbeit an den Bildern und Landschaften Cézannes hatte in ihren Engführungen von Aisthesis und körperlicher Bewegung den Versuch unternommen, die Formenbildungen von Kunst und Natur zusammenzudenken. Die Dinge, so erkennt der Betrachter, »hatten sich in jenem historischen Moment auf der reinen Fläche [. . .] zu einer zusammenhängenden, [. . .] einmaligen Bilderschrift verschränkt«,14 in der Gegenständlichkeit und Zeichenhaftigkeit ineinandergreifen. In der Wiederholung ist mit diesem Blick über die Landschaft eine geradezu feierlich-zeremonielle Form der Initiation verbunden, der Aufnahme Filip Kobals in das legendäre Land des verschollenen Bruders. Inmitten der von Tautropfen feuchten Wiese wurden dem Betrachter regelrecht »die Augen gewaschen«, erinnert sich der Ich-Erzähler in phantastisch anmutender Genauigkeit, steht doch seine Retrospektive in 25-jährigem Abstand zu den beschriebenen Ereignissen. »In mich aufgenommen hatte ich die Einzelheiten des Tals auch zuvor, nun aber erschienen sie mir in ihrer Buchstäblichkeit, eine im Nachhinein, mit dem grasrupfenden Pferd als dem Anfangsbuchstaben, sich aneinanderfügende Letternreihe, als Zusammenhang, Schrift.«15 In dieser Passage, wie noch mehrfach in dem Roman, schwingt sich der Erzählton zu einer emphatischen, fast hymnischen Stilhöhe auf, die darauf aus ist, den beschriebenen Landschaftseindruck aus dem Gefüge des Textes als augenblickhaft hervortretende Epiphanie herausragen zu lassen. Die Fortsetzung dieser Szene rückt das Geschehen dann ausdrücklich in eine ästhetischmethodische Dimension, die demonstrativ an die Wahrnehmungsarbeit mit Cézannes Sainte-Victoire und die Vorstellung der landschaftlichen BilderSchrift anknüpft. Das Weitergehen in der Vormorgenstunde wurde so ein Entziffern, ein Weiterlesen, ein Merken, ein stilles Mitschreiben (aber hatte ich nicht schon in der Kindheit, von der Familie belächelt, ständig etwas in die Luft geschrieben?). Und zweierlei Träger der Welt unterschied ich da: den Erdboden, welcher das Pferd trug, die hängenden

13 14 15

Peter Handke: Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1986, S. 113; das folgende Zitat ebenda. Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M. 1980, S. 78. Handke: Die Wiederholung, S. 114.

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Gärten, die hölzernen Hütten; und den Entzifferer, der diese Dinge geschultert hatte, in der Form ihrer Merkmale und Zeichen.16

Mit starker, emphatischer poetischer Selbstreferenz feiert Handkes Text seine eigene Gestaltwerdung als Erzählung, womit Handlung und Resultat gleichermaßen gemeint sind. Gegen Ende des Textes, wenn mit dem zurückgelegten Weg der Reise und der Lektüre ihre Evidenz mit Händen zu greifen ist, wird die Erzählung den Gang durch die Landschaft abgelöst haben als dessen in Dauer gefasstes Gedächtnis, das sich mit jeder Lektüre, in jedem Lesenden wiederholt. »Das Gehen, selbst das Gehen im Herzland, wird eines Tages nicht mehr sein können, oder auch nicht mehr wirken. Doch dann wird die Erzählung da sein und das Gehen wiederholen!«17 Das ›WiederHolen‹ als Grundfigur des Slowenien-Romans verwirklicht sich in dem Spannungsbogen von Landschaftserfahrung (»Erdboden«) und Textkonstitution (»Entzifferer«), in den zugleich auch, in diesem Text erstmals und unüberhörbar, die politische Botschaft von der Vorbildlichkeit der multikulturellen Ökumene »Jugoslawien« eingearbeitet ist. Im Vergleich zu Handkes in vielen späteren Beiträgen eher forciert wirkender Identifikation mit dem Projekt Jugoslawien – im Augenblick seines Scheitern oder eben seiner gewaltsamen, von innen wie von außen angefachten Zerstörung – nimmt sich die Würdigung des Landes im Sinne eines politisch-gesellschaftlichen Modellfalls in der Wiederholung als eine zögerlich und sanft vorgebrachte Liebeserklärung an das kleine, stellvertretende Slowenien aus,18 die nur gelegentlich in den Ton des Bekenntnisses einfällt und selbst dann eine Affirmation nationaler oder staatlicher Geltungsansprüche bewusst abwehrt. Ausgerechnet zu dem Natur- und Siedlungsland im Anblick des Industriestädtchens Jesenice kann Filip Kobal sagen, was Goethes immer strebender Faust zum Augenblick sehnlichst sagen zu können wünschte, nämlich das possessive Erfüllungs-Pronomen ›mein‹: »[. . .] diese Landschaft, ohne daß ich damit das Tal der Save oder Jugoslawien meinte, konnte ich anreden als ›Mein Land!‹«.19 (In gewissem Sinne meint nicht nur der Protagonist, sondern auch der Autor freilich 16 17 18

19

Handke: Die Wiederholung, S. 114 f. Handke: Die Wiederholung, S. 298. Wie stark die Slowenien-Thematik und ihre autobiographisch codierten Schlüsselmotive mit Handkes gesamtem Werk verwoben und darum auch mit der dezidierten politischen Positionsnahme in den Jugoslawien-Kriegen verbunden sind, zeigt Fabjan Hafners breit angelegte, materialreiche Studie; Fabjan Hafner: Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien 2008. Zu den – hier nicht weiter zu erörternden – Serbien-Texten Handkes vgl. Susanne Düwell: Peter Handkes Kriegs-Reise-Berichte aus Jugoslawien, in: Lars Koch, Marianne Vogel (Hg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg 2007, S. 235–248; zu den kontroversen, überwiegend negativen Reaktionen vgl. Susanne Düwell: Der Skandal um Peter Handkes ästhetische Inszenierung von Serbien, in: Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 577–587. Handke: Die Wiederholung, S. 114.

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doch auch ›Jugoslawien‹ und muss sich auf den Staat und seine Staatsform beziehen, selbst wenn nur von einem kleinen Gebiet in Slowenien die Rede ist.) Um die »Wiederholung« des eigenen Bruders aus dem Verschwundensein bewerkstelligen und seine eigene Erkundung Sloweniens unternehmen zu können, muss der Protagonist Filip Kobal auf eine Reise nach Griechenland verzichten. Von der Gruppe der nun ehemaligen Mitschüler demonstrativ sich abkehrend, »spielte ich den Einzelgänger, der lieber für sich nach Jugoslawien wollte.«20 Oder anders gesagt: Sein Griechenland, seine Urform der Ökumene, findet Handkes Protagonist in der zum Modell Jugoslawien gehörenden Kulturlandschaft Sloweniens. Mit Slowenien und seiner politischen Geschichte verbindet den Erzähler seit Kindheitstagen die Erinnerung an jene »historische Begebenheit, aus der unsere Hauslegende geworden war«. Der Familienname Kobal lasse sich nämlich ableiten von oder vielmehr zurückführen bis zu einem gewissen Gregor Kobal, dem Anführer des Tolminer Bauernaufstands. Dessen Nachkommen seien nach seiner Hinrichtung aus dem Isonzotal vertrieben worden, und einen von ihnen habe es über die Karawanken nach Kärnten verschlagen. Jeder Erstgeborene werde deswegen auf den Vornamen Gregor getauft. Was von dieser Geschichte für meinen Vater zählte, das war freilich nicht das Aufrührer- oder Anführertum, sondern die Hinrichtung und die Vertreibung.21

Noch einmal durchlebt der Vater von Gregor und Filip Kobal in der eigenen familialen Konstellation die alte historische Verzweigung von Gemeinschaftsbildung und Zerstreuung, von Einwurzelungs-Bedürfnissen und Vertreibungsgewalt. Eine zweite, von der Mutter des Erzählers aufgebrachte »Legende« rankt sich um das Schicksal des im Zweiten Weltkrieg verschollenen Sohnes Gregor, von dem sie sagen zu können glaubte oder einfach »wollte«, »daß ihr Sohn, nach einem sogenannten ›Anbauurlaub‹, sich den Partisanen angeschlossen habe und zum Kämpfer geworden sei.«22 Genau so, wie des ersten Gregor Kobals Geschichte in der makrohistorischen Vorvergangenheit zum 20. Jahrhundert und der zeitgenössischen Kärntner Kobal-Familie verharrt, nämlich als unerreichbares, mythisch beschworenes, durch Erinnerungsgesten angerufenes Urbild, so liegen die Lebensspuren des eigenen Bruders Gregor für Filip Kobal in einer persönlich unerreichbaren Vorvergangenheit, aus der weder die akribisch ausgewerteten Aufzeichnungen und Bücher des Bruders (paradigmatisch: ein Arbeitsheft mit Methoden landwirtschaftlichen Anbaus und ein Wörterbuch) noch das reisende Nachverfolgen seiner slowenischen Lebensstationen durch den IchErzähler sie herausholen können. Und wenn zwischen der nachspürenden 20 21 22

Handke: Die Wiederholung, S. 9. Handke: Die Wiederholung, S. 69, 70. Handke: Die Wiederholung, S. 183.

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Reise Filips und ihrer Wiederholung im Erzählvorgang die seltsame Frist von 25 Jahren oder auch, wörtlich, einem »Vierteljahrhundert« vergehen musste, so bedeutet diese Zeitspanne als symbolische Distanz ein Wiederholungsecho jener zehnfach größeren epochalen Differenz, die den Grenzüberschreiter Filip von dem legendären slowenischen Volkshelden Gregor Kobal trennt, und die nicht weniger als ein »Vierteljahrtausend«23 beträgt. Ein über Generationen weitergegebener Wiederholungszwang verknüpft die Familie mit der geschichtlichen Urszene einer politischen Weichenstellung Sloweniens. Die soziale Rebellion ist über ihrem Schauplatz im Isonzotal wiederum topographisch verbunden mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und einem der verlustreichsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Aus dessen Wiederholung mit dem Zweiten Weltkrieg resultiert sodann die tiefe und nachhaltige Kluft zwischen Deutschland, Österreich und dem deutschsprachigen Teil Kärntens einerseits und den Ländern und Sprachen jenseits der Karawanken andererseits. Und auch diese Grenzlinie geht mitten durch die Familiengeschichte der Kobals und sogar durch die Etymologie und Semantik ihres Namens hindurch. Sobald Filip Kobal an der slowenischen Grenze seinen »frischausgestellten österreichischen Paß« vorweist, macht ihn der jugoslawische Grenzsoldat in deutscher Sprache auf den slawischen Familiennamen und dessen figurative, topologische Bedeutung aufmerksam. »Kobal sei doch ein slawischer Name; ›kobal‹ heiße der Raum zwischen den gegrätschten Beinen, der ›Schritt‹; und so auch ein Mensch, der mit gespreizten Beinen dastehe.«24 Der Winkel, den die gespreizten Beine bilden, verweist auf den im Deutschen verlegenheitsweise Schritt genannten Sitz des Geschlechtes als ihren Dreh- und Angelpunkt. Hier aber sitzt in diesem Scheitelpunkt der Beine auch und vor allem das Geschlecht im genealogischen Sinne, denn das Familienschicksal der Kobals besteht darin, die ewige Verzweigung aus Ortsidentität und Vertreibung in sich selbst und in den eigenen Nachkommen immer wieder zu reduplizieren, und zwar so lange, wie der Erstgeborene im Vornamen zeichenhaft auf diese Vergangenheit jeweils neu eingeschworen wird. Die gespreizt dastehenden Kobals sind Ortssuchende und Ortlose zugleich; der spitz aufragende Winkel ihrer Beine formt bildlich die Dreiecksfigur jenes Gebirgszuges nach, der zwischen Kärnten und Slowenien als Grenzmarke und Wasserscheide fungiert.25 Schon auf seinen täglichen Schulfahrten hatte der junge Filip realisiert, »daß auch die Eltern in dem Dorf Fremde waren.«26 »Ein Teil des Ver23 24 25

26

Handke: Die Wiederholung, S. 9, 10. Handke: Die Wiederholung, S. 9 f. Vgl. folgende demonstrative Symbolisierung dieser Topik der Zwischenposition: »Auf der Kammlinie, hinter der Jugoslawien anfing, stellte sich der Vater einmal gegrätscht auf, den einen Fuß hier, den anderen dort, und hielt mir eine seiner kurzen Reden: ›Sieh her, was unser Name bedeutet: nicht der Breitbeinige, sondern die Grenznatur. [. . .]‹« (Handke: Die Wiederholung, S. 234 f.). Handke: Die Wiederholung, S. 67.

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bannungsurteils«, dem sich der Vater durch das Diaspora-Leben in dem Südkärntner Dorf unterstellt sah, hatte für ihn darin bestanden, »das Slowenische, welches doch die Sprache seiner Vorfahren gewesen war, bei sich im Haus nicht bloß hintanzustellen, sondern geradezu abzuschaffen«.27 Insofern vollzieht Filip, der zweite Sohn, mit dem Weg hinaus zugleich eine Rückkehr in die erinnungsgeschichtliche Heimat, von der Diaspora zurück in die Ökumene. Für den Protagonisten der Wiederholung ist der Grenzübertritt nach Slowenien ein Vorgang, der ihn in ein Geflecht von widersprüchlichen Wahrnehmungen und Zeichenordnungen verwickelt. Eigenartig, wie das allgemeine Grau, das Grau der Häuser, der Straße, der Fahrzeuge, ganz im Gegensatz zu der Farbigkeit der Städte in Kärnten, das in dem angrenzenden Slowenien, Refrain aus dem 19. Jahrhundert, den Beinamen ›das Schöne‹ trägt, in dem Abendlicht meinen Augen wohltat.28

Man merkt: Filip ist fest entschlossen, Slowenien ›gut‹ zu finden, es hat, schon aufgrund der Familienlegende, einen uneinholbaren Vorsprung an geschichtlicher Legitimität und geographischer Attraktivität. Aber die distinktiven Mechanismen dieses Satzes und des darin wiedergegebenen Wahrnehmungsvorgangs liegen komplizierter, sie laufen eigentümlich über Kreuz. Dem oberflächlichen Eindruck folgend, würde man gegen »das Grau der Häuser« im noch spätkommunistischen Jugoslawien positiv die Buntheit der österreichischen Alltagswelt abheben können; mit gewissem Trotz dreht Filip Kobal diese Hierarchie nun jedoch um zugunsten des Eintönigen. Eine zweite, nochmals komplexere Abweichung vom manichäischen Gegensatz zwischen Heimat und Fremde ergibt sich jedoch daraus, dass Kobal ein stereotypes Positivbild der Fremdwahrnehmung aufgreift, wie es in der Fremde, also in Slowenien, über das nördlich angrenzende Kärnten gehegt wird. Was für Slowenien spricht, ist nicht zuletzt diese Wertschätzung, die es, mit einer standardisierten Wendung, die in den Sprachschatz eingegangen ist, für den Nachbarn hegt. Sie ist um so bemerkenswerter, als später, d. h. in der Geschichte des 20. Jahrhunderts unausweichlich andere, leidgeprüfte und bittere semantische Merkmale mit den deutschsprachigen Ländern nördlich der Grenze in Verbindung gebracht werden mussten. Es gehört zu den – unter dem hohen Ton der Landschafts-Epiphanie nicht sogleich zu entdeckenden – humorvoll-ironischen Zügen des in der Wiederholung veranstalteten Experiments der Spurensuche, dass der IchErzähler sich bei seinem slowenischen Initiationsprozess in eine subtile Dialektik der interdependenten Fremd- und Selbstwahrnehmungen verwickelt, die ihm in der Fremde das zurückgelassene Heimatgebiet als sprichwörtlich ›schön‹ ins Bewusstsein ruft, während an der neuen Umgebung selbst noch die graue Monotonie als erfreuliches Phänomen gewürdigt wird. Dem Reise27 28

Handke: Die Wiederholung, S. 70. Handke: Die Wiederholung, S. 11.

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drang vorausgegangen war ein zuhause beständig gepflegtes Stereotyp über die bunte, lebendige Welt jenseits der Karawanken, die sich nun, sobald der erste Zielort erreicht ist, in ebenso stereotyper Form auf die verlassene Gegenseite wendet, während am neuen Aufenthaltsort sich des Erzählers trotzig beharrliche Wohlfühl-Entschlossenheit bemüht, eine bedrückende Stimmung der Desillusionierung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Diese in Jesenice etwas seltsam anmutende Euphorie eines neuen, raumerschließenden Gefühls von Mediterraneität ist getragen von subtiler Komik und doch auch von tiefempfundener Zärtlichkeit. Hatte ich, vor dieser Reise, zuhause bei klarem Wetter südwärts geblickt, so konnten unter dem blauenden Himmel jenseits des Grenzkamms nur die farbenprächtigsten Städte liegen, von keinem Hügelzug behindert sich ausbreitend bis hinunter ans Ufer des Meers. Die Industriestadt Jesenice jetzt, grau-grau, wie sie war, in eine Talenge gezwängt, eingesperrt zwischen beschatteten Bergen, bewahrheitete doch vollkommen das Vorausbild.29

Das eigene Wunschbild ist hier der Vater des Süd-Gedankens; und wenn dieses erste Verspüren des Südens bei dem Reisenden Filip Kobal in der nächstbesten slowenischen Grenzstadt einigermaßen kontraevident dennoch schon auflebt, dann, so die politisch folgenreiche Pointe, weil das mit dem Grenzübertritt erreichte Slowenien in einem gemeinsamen Staats- und Gesellschaftsgebilde mit jenen südlicheren Regionen von Kroatien bis Griechenland verbunden ist, in welchen das mediterrane Sehnsuchtsgefühl dann auf um so reichlichere Erfüllung hoffen darf. Auch der an Kärnten angrenzende nördliche Teil Sloweniens ist als pars pro toto Sinnzeichen, oder, so wörtlich, »Vorausbild« des Kommenden. Das »Gepolter der Fernlaster« erinnert den Erzähler an begeisterte Briefe seines Bruders, der einst davon berichtet hatte, wie er auf der Fernstraße Marburg-Triest nach dem Kopfsteinpflasterbelag sich schon »ganz in der Salzluft« gefühlt hatte.30 Nicht einmal so sehr das weiträumige Jugoslawien-Gebilde reizt Handke in solchen Fernwehmotiven aus, als die noch weiter zurückreichenden Ausdehnungsspuren des alten Habsburgerreiches, des altösterreichischen Vielvölkergebildes »Kakanien«, wie es von Robert Musil retrospektiv auf ein bündiges Gedächtniszeichen gebracht worden war. Und wie schon Musil seinem elegischen Kakanienporträt jenen »verwackelten Sinn« übereinandergelegter Photographien verliehen hatte (MoE, S. 12), in welchen sich geschichtlich aufeinanderfolgende Stilkulturen und Gesellschaftsformen in einer eklektischen Mischung abgelagert fanden, so betrachtet auch der Erzähler der Wiederholung das gegenwärtige Slowenien als Teil einer Gemengelage, die in ihren tieferen Regionen noch durch die epochalen Schicht-Lagerungen des ›Hauses Habsburg‹ gekennzeichnet ist. 29 30

Handke: Die Wiederholung, S. 126. Handke: Die Wiederholung, S. 126.

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Wie in Jugoslawien ein anderes Raummaß zu gelten schien als jenseits der nördlichen Berge, daheim im Binnenland, so auch ein anderes Zeitmaß. Die Gebäude vor meinen Augen wiesen, oft ein jedes für sich, vergleichbar einem Ablagerungsgestein, auf die Schichten der Bauvergangenheit, von den Sockeln des österreichischen Kaisertums über die Erkervorsprünge des südslawischen Königreichs bis hinauf in die glatten, unverzierten Obergeschosse der gegenwärtigen ›Volksrepublik Slowenien‹, samt den Mündungslöchern für die Fahnenstangen unten am Dachfenster.31

Mit solchen sanft, aber nachdrücklich den Fokus der Aufmerksamkeit verschiebenden Abtastbewegungen des Blicks gelingt es Handke, eine räumlicharchitektonische Koexistenz der historisch-politisch durchaus konträren und in ihrer Abfolge sehr konfliktreichen staatlichen Ordnungsmächte zu evozieren, die auf diesem Landstrich nacheinander in Geltung waren. Im Kulturraum der Ökumene, so zeigt dieses baugeschichtliche Auseinanderlegen der slowenischen, jugoslawischen und habsburgischen Siedlungszeichen, ist je schon der Möglichkeit nach die Ko-Präsenz ihres zentrifugalen Gegenmodells mitgemeint, der Diaspora. Diasporische Elemente nicht zu negieren, sondern sie einwirken und einwurzeln zu lassen, darin besteht der einzig erfolgversprechende Existenzmodus und letztlich die Überlebensform des Prinzips Ökumene. Ein Wiederaufleben des »Habsburger-Mythos«, das wäre das Letzte, worauf das Slowenien-Porträt in der Wiederholung abzielte; es geht eher, im Gegenteil, um eine Abrechnung mit allzu vergangenheitsseligen Fortschreibungen einer austro-hegemonialen Mitteleuropa-Ideologie.32 Mit Robert Musils »Kakanien«-Steckbrief im Mann ohne Eigenschaften teilt Handkes Slowenien-Roman das Plädoyer für eine Option der Vielstimmigkeit und Diversität, die in den kulturellen Distinktionsprozessen nicht etwa bedrohliche imperiale Auflösungserscheinungen fürchtet (dies eine Tendenz in Handkes späteren Jugoslawien-Äußerungen), sondern ein bemerkenswertes Potential an nationalkultureller ›Rollendistanz‹ am Werke sieht. Kunstvoll hatte Robert Musils ins Romangeflecht gekleidete Analyse den Nationalcharakter Österreichs aus einem singulären Alleinvertretungsanspruch in eine plurale Diversität von nicht weniger als neun Rollencharakteren aufgespalten und damit in einen selbstironischen Als-ob-Modus des »Seinesgleichen« überführt.33 Von Musils spöttisch inszenierter Welt der Un31 32

33

Handke: Die Wiederholung, S. 127. Die kritische Dimension von Handkes Österreich-Adressierungen in der Wiederholung und seines Gegenkonzepts der Ortlosigkeit betont Karl Wagner: Ins Leere gehen. Handkes ›Epos eines Heimatlosen‹: ›Die Wiederholung‹, in: Andreas Brandtner, Werner Michler (Hg.): Zur Geschichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Wien 1998, S. 389–400. Zum Entwurf eines Heimatkonzepts ›Slowenien‹ als Gegenbild vgl. ferner W. G. Sebald: Jenseits der Grenze – Peter Handkes Erzählung Die Wiederholung, in: ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Frankfurt a. M. 1995, S. 162–178. »[. . .] es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, ei-

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eigentlichkeit, gruppiert um einen eigenschaftslosen Helden, sind die mit Emphase beschriebenen Augenblicke und Ding-Bilder der Wiederholung in ihrem Beharren auf dem eigenen physischen So-Sein denkbar weit entfernt. Und doch: Dieses Slowenien, das den Spurensucher Filip Kobal in eine ungekannte Freiheit der Funktionslosigkeit setzt, ein Land, »welches, anders als das sogenannte Geburtsland, mich nicht beanspruchte als einen Schulpflichtigen, als Wehr-, Ersatz- oder überhaupt ›Präsenz‹-Diener«34 , erweist sich als ein von Identitätszwängen entlastetes und entlastendes Gebiet der Unbestimmtheit. Nicht nur die zuvor durch Vergangenheitslasten fixierte Person des Besuchers erfährt durch den Landeswechsel eine Befreiung; das Land jenseits der Grenze kann, indem es seiner geographisch-politischen Konkretionen durch die Entzifferungsarbeit des Reisenden wieder entkleidet wird, zu einem Raum der Kunstutopie werden, zum sagenhaften »Neunten Land«. In Peter Handkes aus märchenhafter Ferne erinnertem und herbeigeholtem »Neunten Land« hat Slowenien den Status eines so eigenschafts- wie schwerelosen Gebildes, das dem Möglichkeitssinn Musils erstaunlich nahesteht. Als ein ökumenisches Erzählgebiet ist es reich an Widersprüchen. Ein so zärtliches wie grobianisches Volk entstand da vor ihm, in vielen Spielarten die Schnelligkeit im Denken und die Langsamkeit im Handeln verspottend; arbeitssam [. . .]; die Erwachsenensprache durchwirkt von Kinderausdrücken; einsilbig, fast stumm, in der Hoffnungslosigkeit, mehrsilbig, geradezu beschwingt, in der Freude und Sehnsucht; ohne Adel, ohne Marschtritt, ohne Ländereien [. . .]. Und dabei war es doch, recht bedacht, gar nicht das besondere slowenische Volk, [. . .] welches ich, kraft der Wörter, wahrnahm, vielmehr ein unbestimmtes, zeitloses, außergeschichtliches [. . .].35

Von der politischen Katastrophe des späteren, gewaltsamen Zerfalls ist dieses »Neunte Land« der Wiederholung in Handkes Werkchronologie viel weiter entfernt, als die relativ kurze Zeitdistanz zu den Ereignissen der 90er Jahre es anzeigt. Noch erscheinen die Kulturzeichen der Diversität und der zentripetalen Tendenzen nicht als Unheilsboten, sondern als ein Ferment der Intensivierung und Steigerung des gemeinsamen Raumes. »Klar waren noch die kyrillischen Buchstaben mancher Passantenzeitungen, lesbar der Rest einer altösterreichischen Inschrift an einem Amtsgebäude, ebenso wie das altgriechische Chaire, Sei gegrüßt! im Giebelfeld einer Villa – aber vieldeutig erschien dann schon das PETROL-Schild einer Tankstelle, welches, durch das Geäst eines Baumes gesehen, an ein, nur im Traum erlebtes, China erinnerte«, und zuletzt springt dem Beobachter »im Vorbeifahren das Fragment einer hebräischen Schriftrolle« in die Augen.36 Nicht nur im slowenischen

34 35 36

nen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter« (MoE, S. 34). Handke: Die Wiederholung, S. 119. Handke: Die Wiederholung, S. 201. Handke: Die Wiederholung, S. 135.

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Wörterbuch blättert der Protagonist der Wiederholung, er hat, wenn er seine Augen durch die Straßen spazieren lässt, etwas vor sich, was überall spielen könnte; ein Wörterbuch der Sprachen und Völker in ihrer Vielstimmigkeit.

Barbara Thums

Fremdheit und Heterochronie in Robert Müllers Tropen Abstract: With the multi-layered considerations of the self and the other, civilization and wilderness, the modern and the primitive, in his novel Tropen (1915), Robert Müller reflects upon that which has become strange in one’s own culture. This article depicts how the novel treats the debate with race-hygienic and race-theoretic discourses around 1900 and shows the connections that Müller makes with Edward Burnett Tylor’s (1832– 1917) anthropological conception of a »primitive society«. The thesis is that Tylor’s understanding of primitivism as a cultural-theoretic appropriation of the evolutionarytheoretic concept of heterochrony is aesthetically transformed in Müller’s novel. With the novel’s accentuated reference to the category of a »cross« or »mix« – and indeed understood both from the standpoint of historical epistemology and as a poetic category – a poetic view of heterochronic evolution is presented. Understanding a »mix« in this way makes it possible to understand how the membership in the historical avant-garde is part of the comprehensive evolutionary paradigm that is dominant for ethnology, anthropology, and folklore as well as for the literary debate with theories of (Social) Darwinism, primitivism, archaeology, or with interpretations of degeneration, race, and gender.

Die ›Fremdheit der Kultur‹ ist grundlegend nicht nur für das Werk Robert Musils, sondern auch für das seines Zeitgenossen Robert Müller. Es umfasst Novellen, darunter Irmelin Rose. Die Mythe der großen Stadt (1914) und Das Inselmädchen (1919), zahlreiche kulturkritische Essays sowie folgende Romane: Der Barbar (1920), der von der Amerikareise eines anarchistischen Nomaden handelt, den Kriminalroman Camera Obscura (1921) und den neusachlichen Schieberroman Flibustier (1922). Ein zentraler Bezugspunkt seines literarischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit dem Fremden, mit dem Exotischen und/oder dem Kolonialen, mit Konzepten einer imperialen Neuordnung der Welt und mit utopischen Konzepten der Rassenmischung als Voraussetzung für einen neuen Menschen. Ob Müller die Tropen auch selbst bereist hat, darüber ist – insbesondere mit Rekurs auf den Roman Der Barbar – zwar immer wieder spekuliert worden, einen faktischen Nachweis gibt es hierfür allerdings nicht.1 1

Vgl. dazu das Nachwort der Reclam-Ausgabe von Günter Helmes, in: Robert Müller: Tropen. Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Hg. v. Günter Helmes. Stuttgart 1993, S. 407–438, hier S. 410.

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Sicherlich am bekanntesten ist sein 1915 erschienener Roman Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, von dem Robert Musil in seinem Nachruf auf Müller nach dessen Selbstmord im August 1924 gesagt hat, er sei »eine[r] der besten der neuen Literatur überhaupt«.2 Betrachtet man, wie der Roman mit dem Problem der ›Fremdheit der Kultur‹ umgeht, wie er nämlich eine Wahrnehmungsperspektive auf die eigene Kultur gestaltet, in der das Eigene vom zeitlich und räumlich Fernen des Fremden nicht zu unterscheiden ist, so ist diesem Urteil durchaus zuzustimmen. Ein besonderes Augenmerk verdient dabei die ästhetische Aneignung des aus der Evolutionstheorie bekannten Phänomens der Heterochronie: Sie kommt in den vielschichtigen Überblendungen von Modernem und Primitivem zum Ausdruck, genauer in der Art und Weise, wie der Roman den kolonialen Terror ethnographiert, wenn er seine Europäer auf ihrer Reise zum indigenen Volk der Amazonas-Indianer als Barbaren auftreten lässt und den Umgang mit dem Fremden nach einer binären Freund-Feind-Unterscheidung strukturiert.3 Zur Debatte steht mithin die Frage, wie der Roman das nicht-literarische Wissen seiner Zeit ästhetisch wendet, um den doppelten Schriftsinn des Begriffs ›Tropen‹ stärker zu betonen: Wendungen werden im Griechischen bekanntlich Tropen genannt, und um ›Tropen‹ im rhetorischen wie geographischem Sinn geht es in Müllers Roman, dessen Verbindungslinien ins kulturelle Feld und damit auch zum zeitgenössischen rassentheoretischen und rassenhygienischen Denken unübersehbar sind. Die ältere Forschung hat daraus einen Faschismusvorwurf abgeleitet, dem die jüngere Forschung mit guten Gründen widersprochen hat. Sie betont die Zugehörigkeit zur klassischen Moderne,4 die etwa an der literarischen Destruktion des Exotis-

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Robert Musil: Robert Müller, in: GW 8, S. 1131–1137, hier S. 1134. Zum Verhältnis zwischen Müller und Musil vgl. Roger Willemsen: Die sentimentale Gesellschaft. Zur Begründung einer aktivistischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils und Robert Müllers, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58/2 (1984), S. 289–316. Zum Barbarenmotiv in Robert Müllers Tropen vgl. Thomas Schwarz: Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus. Heidelberg 2006, S. 38–41; Michaela Holdenried: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin 2004, S. 263–296; dies.: Der technisierte Barbar. Magie und Mimesis in Robert Müllers ›Tropen‹, in: Alexander Honold, Klaus R. Scherpe (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Bern, Wien u. a. 2000 (= Zeitschrift für Germanistik, Beiheft 2), S. 303–319; Barbara Thums: Modernes Barbarentum. Poetische Alterität in der Moderne, in: Brigitta Schmidt-Lauber, Gudrun Schwibbe (Hg.): Narrative Identitätskonstruktionen. Göttingen 2010, S. 45–62. Vgl. etwa Wolfgang Riedel: »Whats the difference?« Robert Müllers Tropen (1915), in: Nicolas Saul u. a. (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 62–76; Christian Begemann: Tropische Welten. Anthropologie, Epistemologie, Sprach- und Dichtungstheorie in Robert Müllers »Tropen«, in: Anil Bhatti, Horst Turk (Hg.): Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik. Bern u. a. 1998 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte, Bd. 48), S. 81–91; Christian Liederer: Der Mensch und seine

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mus,5 an der Poetik der Paradoxie,6 an der Großstadtdarstellung,7 an der Teilhabe des Romans am zeitgenössischen Abstraktionsdiskurs8 oder auch an der Affinität von literarischem Konstruktivismus und filmischen Darstellungstechniken9 abgelesen wird. Die Verbindungslinien ins kulturelle Feld spielen in diesen Forschungsbeiträgen jedoch keine wesentliche Rolle.10 Zum einen stehen poetologische Fragestellungen im Vordergrund, zum anderen soll der Autor gegen den Vorwurf des Rassismus geschützt werden. So nimmt etwa Stephanie Heckner, die Müller zum »Vordenker einer multikulturellen Gesellschaft« erklärt,11 weil sein Roman die Idee der Hybridität entfalte, die erkennbaren Bezüge zum zeitgenössischen Verständnis von Hybridität und damit auch zu rassentheoretischen und rassenhygienischen Konzepten nicht zur Kenntnis.12

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Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller. Würzburg 2004. Vgl. Frank Werner Raepke: Auf Liebe und Tod. Symbolische Mythologie bei Robert Müller – Hermann Broch – Robert Musil. Münster 1994; Volker Zenk: Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oldenburg 2003. Vgl. Stephan Dietrich: Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa. Siegen 1997. Vgl. Thomas Köster: Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers. Paderborn 1995. Vgl. Jutta Müller-Tamm: Abstraktion und Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i. Br. 2005. Vgl. Holdenried: Der technisierte Barbar. Holdenried weist zwar auf die Möglichkeit einer Lesart des Romans als »Manifestation des literarischen Primitivismus« hin, ist aber der Ansicht, dass die Ambiguität des Textes dieser Lesart »in die Quere« kommt und »jede diskursive Rückbindung der Interpretation von vornherein aussichtslos« erscheint. Vgl. dazu Holdenried: Der technisierte Barbar, S. 306 f. Vgl. dagegen die dezidiert postkoloniale Lesart von Schwarz: Robert Müllers Tropen, der den Roman diskursiv verortet. Vgl. in Abgrenzung zum Faschismusvorwurf der älteren Forschung Stephanie Heckner: Eine Einführung, in: Robert Müller: Rassen, Städte, Physiognomien. Mit einer Einführung hg. v. Stephanie Heckner. Paderborn 1992, S. 7–23, hier S. 9: »Tatsächlich verwendet Müller die Vokabel ›Rasse‹, aber in seinem Denken ist er kein Rassist. Der Begriff der ›Rasse‹ bestimmt sich für ihn vornehmlich nicht unter den Vorzeichen der Abtrennung, sondern unter denen der Vermischung, Assimilation, der wechselseitigen Bereicherung. Müllers idée fixe ist die fortschreitende ›Weltvermischung‹ [. . .]. Der Aspekt der Weltvermischung spielt auch in Müllers literarischen Schriften eine wichtige Rolle, insbesondere in den Tropen (1915) und im Inselmädchen (1919) [. . .]. Robert Müller [ist ein] Vordenker einer multikulturellen Gesellschaft.« In der postkolonialen Theorie – etwa bei Homi Bhabha – dient Hybridität der kritischen Analyse kolonialer Diskurse, insbesondere der subversiven Effekte von kulturellen Dynamiken der Mischung und Durchdringung. Hybridität ist mittlerweile jedoch auch ein gefeiertes Konzept der Kulturindustrie und der Ökonomie. Kulturelle Vermischung steht dann weniger im Zeichen eines Dem-Marginalisierten-eine-Stimme-Gebens, als vielmehr im Zeichen gesellschaftlicher Hierarchisierung und kultureller Ausschließungspraktiken. Begriffsgeschichtliches spielt in diesen Perspektiven auf Hybridität zumeist keine Rolle. Ursprünglich jedoch kommt Hybridität aus der Biologie und bezeichnet eine ›Rassenmischung‹ oder botanische Kreuzung. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff erstmals auf den Menschen übertragen,

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Im Folgenden sollen im Gegenzug jedoch gerade die in Müllers TropenRoman entfalteten Konzepte des Hybriden nicht nur poetologisch, sondern auch wissensgeschichtlich verortet werden. Erst auf dieser Basis lässt sich die kritische Stellungnahme von Müllers Roman zu jenem Reinheitsphantasma profilieren, das um 1900 die unterschiedlichsten Wissensformen durchquert – Reinheit gilt als Zielvorstellung moralischer, hygienischer und politischer Diskurse, etwa in bürgerlicher Ratgeberliteratur, aber auch in darwinistisch und/oder kolonialistisch geprägten Rassentheorien sowie in der Tropen- und Rassenhygiene – und einen Diskurszusammenhang von Reinheit und Moderne formiert. In dieser Perspektive Reinheit zu postulieren, heißt aber auch, strukturelle Schwierigkeiten im Umgang mit Fremdem und Eigenem zu negieren. Hier setzt Müllers Roman an, indem er emphatisch verneint, dass eine objektive Wahrnehmung und Darstellung des Fremden möglich ist. Seine ästhetische Erfindung der Tropen setzt nicht auf Reinheit, sondern auf Hybridisierung. Zu fragen ist also: Wie, auf welchen Ebenen und mit welchen ästhetischen Ambitionen eignet sich der Roman das Mischungsparadigma an und wie sind die Verbindungslinien zum Reinheitsphantasma der Moderne zu ziehen?

1. Reinheit und Moderne um 1900 Die für Müllers Roman relevanten Wissensfelder Primitivismus und Kolonialismus, wissenschaftliche Anthropologie sowie Völker- und Volkskunde sind Teil eines im Folgenden näher zu bestimmenden Diskurszusammenhangs von Reinheit und Moderne. Hierfür gilt es in einem ersten Schritt, den Stellenwert der Darwin’schen Evolutionstheorie für die Anthropologie und Völkerkunde im ausgehenden 19. Jahrhundert zu erläutern. Der Anthropologe Edward Burnett Tylor (1832–1917) definiert 1873 seinen Kulturbegriff in diesem Horizont. Er fasst Kulturentwicklung als dynamisches Geschehen auf – dies indizieren insbesondere die zentralen Kategorien ›Fortschritt‹, ›Verfall‹, ›Überleben‹ und ›Umgestaltung‹ – und behandelt Kulturen wie Individuen, die beschrieben, analysiert und miteinander verglichen werden können. Der ethnographische Kulturvergleich befasst sich dabei auch mit Phänomenen, die im Darwin’schen Kontext der heterochronen Evolution zugeordnet werd. h. in der historischen Perspektive ergeben sich aufschlussreiche Verbindungslinien etwa zu den Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der Mono- und Polygenese oder zur Vererbungslehre des Botanikers Gregor Mendel. Insbesondere für den biologischen Rassismus wurde die ›rassische Vermischung‹ oder ›Bastardisierung‹ zu einem Kampfbegriff, um die kulturelle Norm rassischer Einheitlichkeit, Reinheit und Gesundheit durch die krankhafte Abweichung des hybriden Bastards zu bestätigen. Vgl. dazu ausführlicher Kien Nghi Ha: Hybride Bastarde. Identitätskonstruktionen in kolonial-rassistischen Wissenschaftskontexten, in: Eva Kimminich (Hg.): Kulturelle Identität. Konstruktion und Krise. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 107–160.

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den: d. i. das Auftreten von Merkmalen früher Entwicklungsstadien eines Vorfahren im Erwachsenenstadium eines Nachfahren. Tylors Entwurf einer ›primitive society‹ als Gegenbild der Moderne lässt sich demnach als kulturtheoretische Aneignung des evolutionstheoretischen Konzepts der Heterochronie verstehen. Die Kategorie des ›Primitiven‹ steuert dabei jenen Diskurs der Abgrenzung und Ausschließung, der maßgeblich an der Selbstbeschreibung einer als durch Fortschrittlichkeit, Rationalität und Innovation ausgezeichneten Moderne beteiligt ist.13 Die aus dem modernen Fortschrittsparadigma ausgeschlossenen ›Primitiven‹ sind nach Tylor ›survivals‹, mithin aus einer anderen Zeit kommende, fremde Reste in der gegenwärtigen Kultur: These [survivals] are processes, customs, opinions, and so forth, which have been carried on by force of habit into a new state of society different from that in which they had their original home, and they thus remain as proofs and examples of an older condition of culture out of which a newer has been evolved.14

In dieser Perspektive auf kulturelle Merkmale einer heterochronen Evolution, auf Indikatoren eines ›gleichzeitig Ungleichzeitigen‹, einer Mischung von Primitivem und Modernem, meint die ›Fremdheit der eigenen Kultur‹ verstehen folgerichtig, Unterscheidungen zu treffen und Grenzen zu ziehen. Anders formuliert: Das ›Primitive‹, auch im Sinne eines räumlich Anderen des Europäischen, wird zum archaischen Rest innerhalb der modernen Gegenwart gemacht, um so das Moderne vom Primitiven zu reinigen.15 Doch nicht nur für die Anthropologie und Völkerkunde, auch für die Volkskunde ist das ›Primitive‹ von systematischer Relevanz. Hier ist es das ›primitive Andere‹ innerhalb Europas, das ebenfalls als ›Überlebsel‹ im Raum der Moderne beschrieben wird und dazu dient, die Eintragungen auf der ›Stufenleiter des zivilisatorischen Fortschritts‹16 zu markieren. Diese »Konstruk13

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Vgl. hierzu Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. München 2005, S. 393, mit Bezug auf Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object. New York 1983. Edward Burnett Tylor: Primitive Culture. Researches into the Development of Methodology, Philosophy, Religion, Art and Custom. 2 Bde. London 1871, Bd. 1, S. 15. Vgl. in diesem Sinne Bruno Latours Modernetheorie. Nach Latour gehören Reinigungspraktiken und Moderne zusammen, ginge es doch in der Moderne um »unentwegte und sogar manische Reinigung«. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008, S. 148. Zu rituellen Reinigungstechniken, die innerhalb moderner Gesellschaften die Funktion haben, ›Fremde‹ entweder als Vertraute einoder als Feinde auszuschließen, vgl. Armin Nassehi: Der Fremde als Vertrauter. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen, in: Andrea Wolf (Hg.): Neue Grenzen. Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien 1997, S. 133–165, hier S. 141– 145. Zu Praktiken des Ordnungsschaffens, die orientiert sind an einem »Traum der Reinheit« vgl. außerdem Zygmunt Bauman: Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg 1999, S. 16, 24. Zur Evolution als eine »Stufenleiter des Fortschritts« vgl. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen. Berlin 3 1872, S. 278. Haeckel argumentiert auf der Basis seiner These vom biogenetischen Grund-

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tion eines europäischen Primitiven« ist die Voraussetzung für die Begründung der Volkskunde als eigenständige Fachdisziplin.17 Insgesamt erschließt die Ethnographie des Fremden, welche die Völkerkunde und die Volkskunde gleichermaßen betreiben, eine ausladende ›Topographie des Primitivismus‹: Das ethnographische Begehren der Unterscheidung und Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem lässt so eine bunte Welt von ›Überlebseln‹ entstehen, die ebenso gut von ›Wilden‹ wie von Heidebauern, Fabrikarbeitern, Zigeunern oder Geisteskranken, Kindern oder Ostjuden bevölkert werden kann.18 Interessant ist nun, dass im Zusammenhang dieser reinigenden Unterscheidungsnarrative der Begriff der ›Mischung‹ eine nicht unerhebliche Rolle spielt, was offensichtlich auf die Übertragung des ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriffs ›Hybridität‹ auf den Menschen zurückzuführen ist.19 So kann man etwa bereits 1865 in der von Lazarus und Steinthal herausgegebenen Zeitschrift für Völkerkunde und Sprachwissenschaft den Gedanken formuliert finden, dass die durch den historischen Austausch der Weltkulturen, also eine durch Mischung unterschiedlicher Anlagen entstehende Vereinheitlichung der Weltkulturen, Kennzeichen eines weltumspannenden Modernisierungsprozesses sei. Sowohl die Idee politischer Gleichheit als auch fremdenfeindliches nationalistisches Gedankengut gehe, so der Autor Ludwig Rüdiger, darauf zurück: [D]ie Unterschiede der Völker verlieren sich immer mehr, jeder Tag schleift irgend eine vorragende Ecke ab, welche als besonderes Kennzeichen des Deutschen, Franzosen, Italieners etc. diente. [. . .] Diese vielfältige Ausgleichung und Mischung hat denn auch der Meinung Eingang verschafft von der wesentlichen Gleichheit al-

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gesetz, wonach die Individualgeschichte eines Lebewesens die verkürzte Rekapitulation der Abstammungsgeschichte dieses Lebewesens ist. Nicht nur lassen sich damit Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Arten aus dem Vergleich der jeweiligen Embryonen ableiten, auch die Ontogenese lässt sich nun als Repräsentation des linearen und hierarchisch strukturierten Verlaufs der Stammesentwicklung des Menschen verstehen, bildet sie doch eine »einfache, unverzweigte oder leiterförmige Kette von Formen« (S. 280). Reinhard Johler: Konjunktur und Krise des (volkskundlichen) Primitiven. Warburg – Weltkrieg – Wien, in: Gottfried Korff (Hg.): Kasten 117: Warburg, Krieg und Aberglaube. Tübingen 2007, S. 165–179, hier S. 170. Vgl. hier auch die These: »Erst die durch die Volkskunde und deren Sammlungen möglich gewordene Anmutung, Provokation und Befremdung durch den europäischen Primitiven hat im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Potenziale einer neuen Kulturwissenschaft angedeutet.« Vgl. dazu Helmut Lethen: Die Masken der Authentizität. Der Diskurs des ›Primitivismus‹ in Manifesten der Avantgarde, in: Hubert van den Berg, Ralf Grüttemeier (Hg.): Manifeste: Intentionalität. Amsterdam 1998, S. 227–258, hier S. 248. Vgl. dazu Andreas Ackermann: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfer, in: Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2004, S. 139–154, hier S. 139–150.

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ler Menschen. Alle Menschen, sagt man, haben dieselben geistigen und sittlichen Anlagen; die Unterschiede kommen nur von der verschiedenen Ausbildung.20

Die Ende des 19. Jahrhunderts häufig aufgestellten Gleichungen zwischen Rassenmischung und Moderne zeichnen also nicht zwangsläufig ein negatives Bild der Rassenmischung:21 Rassentheoretiker und Rassenhygieniker stehen zwar in engem Austausch, es gibt aber weder eine klare Ausdifferenzierung zwischen wissenschaftlichen und ideologischen Aussagen, noch liegt ein wissenschaftlich einheitlich gefasster Rassenbegriff vor.22 Es ist dieses Umfeld, in dem die Erkenntnis vom »chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern« aber auch zu Praktiken der Reinigung,23 Grenzziehung und Ausschließung führt: zu einem Reinigungsbegehren, das zwischen Eigenem und Fremdem, gesund und krank oder auch Modernem und Primitivem zu unterscheiden sucht. So wird etwa die ›Rassenmischung‹ unter Degenerationsverdacht24 gestellt und als moralische, sexuelle und politische Gefahr für die bürgerliche Ordnung nicht nur der Kolonien angesehen. Die 1912 heftig geführte Reichstagsdebatte um ein Verbot von Mischehen ist als politischer Ausdruck solcher Ängste einzuordnen. Immer deutlicher zeichnet sich ein biologisch aufgefasstes Reinheitsphantasma ab, zu dem nicht selten eine regelrechte »Germanenschwärmerei« gehört.25 Denn im Völkervergleich und 20

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Ludwig Rüdiger: Über Nationalität, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 3 (1865), S. 95–130, hier S. 95–98. Dies führt nach Rüdiger auf der einen Seite zu einem Streben, auch in politischer Hinsicht eine Gleichheit herbeizuführen, auf der anderen Seite lässt sich jedoch auch eine »nationale Strebung« feststellen, welche »diese Unterschiede festhalten oder gar vermehren will und nothwendig einerseits in Überschätzung der Landsleute und Parteilichkeit für dieselben, andererseits in Unkenntniß und Mißachtung der Fremden und Feindseligkeit gegen das fremde Land ausläuft«. Eine positive Beurteilung der Rassenmischung findet sich etwa bei Alfred Ploetz: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Berlin 1895, S. 142. Vgl. auch Wilhelm Schallmayer, der 1891 die »Begünstigung der Rassenmischung durch die moderne Verkehrserleichterung« zu den wenigen positiven Auswirkungen der modernen Kultur rechnete. Wilhelm Schallmayer: Die drohende physische Entartung der Culturvölker. Berlin/Neuwied o. J., S. 22, zit. nach: Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 101. Vgl. dazu Weingart, Kroll, Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 92. Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des XIX . Jahrhunderts. Bd. 1. München 1919 [1898], S. 320: »Wer einer ausgesprochenen, reinen Rasse angehört, empfindet es täglich. [. . .] Rasse hebt eben einen Menschen über sich selbst hinaus, sie verleiht ihm ausserordentliche, fast möchte ich sagen übernatürliche Fähigkeiten, so sehr zeichnet sie ihn vor dem aus einem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenen Individuum aus.« Vgl. zur Abwertung von Hybridität v. a. Arthur de Gobineau: Versuch über die Ungleichheit der Menschen [1853]. Erster Band. Übersetzt v. Ludwig Schemann. Stuttgart 21902, S. 31 f.: »Ich meine also, daß das Wort degeneriert, auf ein Volk angewandt, bedeuten muß und bedeutet, daß dieses Volk nicht mehr den inneren Werth hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Werth fortwährende Vermischungen allmählich eingeschränkt haben; [. . .].« Vgl. dazu Weingart, Kroll, Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 94. Vgl. dort auch den Hinweis auf die rassenhygienischen Schriften von Alfred Ploetz. Der Anhänger Darwins und Haeckels,

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im Gegensatz zum ›Deutschen der Moderne‹ waren, so die im rassenhygienischen Kontext anzutreffende Auffassung, die Germanen »am längsten vor Vermischungen [. . .] geschützt und hatten die meiste Zeit, ihre [. . .] hervorragenden [. . .] Eigenschaften auszubilden und, gewissermaßen in Reinzucht, erblich zu befestigen«.26 Einschätzungen wie diese stehen stellvertretend für eine nach 1900 zunehmende Negativbewertung der Rassenmischung, die mit den empirischen Studien Eugen Fischers zum »Vorgang der Bastardierung« in Südafrika eine vermeintlich wissenschaftliche Basis bekommt.27 Dieses unübersichtliche Feld rassentheoretischer und rassenhygienischer Vorstellungen ist für die Auseinandersetzung mit Müllers Tropen-Roman zu berücksichtigen, der einerseits exzessiv Vokabular aus diesen Vorstellungsbereichen aufnimmt,28 dessen polyphone, tropische und paradoxe Textstruktur sich aber andererseits der Suche nach einer ideologisch eindeutig decodierbaren Bedeutung des Rassenbegriffs widersetzt.29 Es ist vielmehr die doppelte – d. h. rhetorische und geographische – Aneignung des Tropenbegriffs und die damit verknüpfte diskursive Umstellung von Reinheit auf Mischung,30 die

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Alfred Ploetz, gilt mit seiner Schrift Grundlinien einer Rassen-Hygiene von 1895, deren Ziel die Abwehr degenerativer Tendenzen war, als Begründer des Begriffs ›Rassenhygiene‹. Ludwig Wilser: Die Bedeutung der Germanen in der Weltgeschichte, in: Politisch-Anthropologische Revue 2 (1903/04), S. 640–649, hier S. 642 f.; zit. nach: Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion. Darmstadt 2001, S. 88. Eugen Fischer: Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen. Anthropologische und ethnographische Studien am Rehobother Bastardvolk in DeutschSüdwest-Afrika. Jena 1913. Auch ohne eigentlichen empirischen Beweis stellt er die »grundsätzliche Schädlichkeit von Rassenmischungen« fest und plädiert für ein Mischehenverbot. Vgl. dazu Weingart, Kroll, Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 101. Dabei gelingt Fischer der Nachweis Mendel’scher Erbgänge, wichtiger aber ist ihm der Nachweis, dass die farbigen Völker im Vergleich mit den »reinen Weißen minderwertig« seien und dass selbst die vergleichsweise überlegenen Mischlinge eine »selbständige Weiterbildung der ihnen überkommenen Kultur« ohne »dauernde weiße Führung« nicht erreichen könnten (Fischer: Die Rehobother Bastards, S. 299, 298). Zu Robert Müllers Roman Tropen als einen »Höhepunkt der Darwinismus-Rezeption in der deutschen Literatur« vgl. Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998, S. 43. Vgl. außerdem Werner Michler: Darwinismus, Literatur und Politik: Robert Müllers Interventionen, in: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X . Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. »Zeitenwende« – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Bd. 6. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 361–366. Vgl. dazu bereits Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien, Köln 1991, S. 84–89, die Müllers Verständnis von ›Rassen‹ als nicht biologistisch deutbare, sondern vielmehr kulturgeschichtlich ausgebildete Bewusstseinstypen beschreibt. Zu Bedeutungsverschiebungen des Rassenbegriffs im Roman vgl. Angelika Jacobs: ›Wildnis‹ als Wunschraum westlicher ›Zivilisation‹. Zur Kritik des Exotismus in Peter Altenbergs Ashantee und Robert Müllers Tropen, in: Bogdan Mirtschev, Maja RazboynikovaFrateva, Hans-Gerd Winter (Hg.): Mythos und Krise in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dresden 2004, S. 89–115. In der Forschung zu Müllers Roman wird die Kategorie der Mischung bislang nicht systematisch betrachtet, sondern klingt nur in dem Sinne an, dass der Roman als »ein wahrhaft

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nach einer eingehenden Analyse verlangt. Denn Mischung – so die These – ist in Müllers Tropen-Roman ein übergreifendes Konzept, das auf verschiedenen Ebenen wissensgeschichtliche und ästhetische Denkfiguren ins Verhältnis setzt. In den Fokus rückt so erstens der Zusammenhang zwischen Exotismuskritik und den unterschiedlichen Gattungsangeboten, die der Roman im Modus der ironischen Verkehrung aufruft, zweitens die Utopie des neuen Menschen, der nicht mehr als Charakter, sondern als Typus aufzufassen ist, und schließlich drittens die Romanpoetik bzw. die Frage, warum die Poetik des Hybriden paradoxerweise eine ästhetische Utopie der Reinheit begründet.

2. Exotismuskritische Gattungsspiele Müllers Tropen-Roman kennt keine klar auszumachende Chronologie. Gleichwohl lässt sich eine Handlung rekonstruieren: Er erzählt von der Reise in den Urwald, in dem sich der deutsche Ingenieur Hans Brandlberger (zugleich Verfasser und Ich-Erzähler der Reisebeschreibung), der ehemalige holländische Kolonialoffizier und Kaufmann van den Dusen und der amerikanische Abenteurer Jack Slim auf Schatzsuche begeben. Drei Wochen lang durchqueren sie auf dem Fluss und zu Fuß den Urwald,31 bis sie in einem Indianerdorf auf den Stamm der Dumara-Indianer treffen. Dort kommt es zu Konflikten mit den Eingeborenen, v. a. zu Rivalitäten um die Gunst der Frauen, sodass die Reisegruppe zusammen mit der Priesterin Zana, der Geliebten Slims, nach dem Mord an einer Eingeborenen das Dorf verlässt und sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Schatz macht. Was sie findet, ist allerdings nur ein »Lager von altem Eisen«, verrostete Werkzeugreste früherer Schatzsucher.32 Zunehmend verfallen die Reisenden dem Tropenkoller, auf ungeklärte Weise kommt erst Jack Slim, dann van den Dusen um. Brandlberger gelingt mit der Hilfe Zanas die Rückkehr in die Zivilisation. Aber auch Brandlberger stirbt, er wird – wie bereits das Vorwort berichtet –

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›denkwürdiges‹ Amalgam von Literatur und Theorie gelten« könne. Vgl. dazu Begemann: Tropische Welten, S. 81. Zur tropischen Flussfahrt »als Wiederholung der Evolutionsgeschichte« und »als Wiederholung der biopsychischen Individualentwicklung« vgl. Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung, S. 354 sowie Begemann: Tropische Welten, S. 82. Robert Müller: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915. Hg. und mit einem Nachwort v. Günter Helmes. Paderborn 1991, S. 168. Vgl. dort auch: »Es war kein Schatz. Die Besitzer dieser Gegenstände waren arme Teufel gewesen wie wir, Soldaten, Globetrotter, Erdteilentdecker und Schatzsucher wie wir. Das Gewaffen bestand aus schartigem Eisen, die Griffe der Schwerter und Degen bleckten skelettiert ihren einzigen langen Stoßzahn vor. Wir wandten dem freudlosen Anblick den Rücken, nachdem wir vergebens mit den Fußspitzen einige Unruhe und den Verfall in diesem Stilleben erregt und fette Moder- und Schimmelschichten entblößt hatten.« Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden in Klammern im Text.

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beim Versuch, eine Kolonie zu gründen, Opfer eines von Zana angeführten Indianeraufstandes. All dies wird nicht chronologisch erzählt: Immer wieder kommt es durch lange reflektierende Exkurse zu Unterbrechungen des Erzählstroms, und kalkulierte Paradoxien erweisen jede Vorstellung eines narrativen Kontinuums als Illusion. Der Roman handelt also nicht nur vom Dschungel, und er ist es auch – nicht nur nach Aussage seines Erzählers – »Ich glaube, dieser Djungle ist für den Leser unzugänglich« (202) –, sondern er ist es auch in seiner gesamten ästhetischen Faktur.33 So treibt er etwa ein ironisches Spiel mit verschiedenen Gattungsversionen, konkret mit dem Reise-, Kriminal- und Abenteuerroman.34 Gezielt werden Widersprüche inszeniert: Man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die Reise in die südamerikanischen Tropen überhaupt stattfindet, oder ob sie vielleicht nur eine Schreibtischreise des ›Nordländers‹ Brandlberger ist, der die Großstadt nie verlassen hat.35 Die Mordfälle werden in einander widersprechenden Versionen erzählt, zu einer Auflösung des ›whodunit‹ kommt es nicht. Und auch die abenteuerliche Schatzsuche löst sich in Wohlgefallen auf,36 ist doch das eigentliche Reiseziel das ethnographisch-empirische Vorhaben, »die Allmählichkeit einer Wirkung tropischer Zustände auf ein nordisches Nervenleben festzuhalten; oder als Frage gestellt: Wie kann man auf distinguierte Weise verrückt werden?« 33

Die ältere Forschung liest den Roman als Beitrag zum literarischen Exotismus. Vgl. die Interpretationen von Wolfgang Reif: Zivilisationsflucht und literarische Wunschträume. Der exotische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1975; Daniela Magill: Literarische Reisen in die exotische Fremde. Topoi der Darstellung von Eigen- und Fremdkultur. Bern u. a. 1989; Stephanie Heckner: Das Exotische als utopisches Potential. Zur Neubestimmung des Exotismus bei Robert Müller, in: Sprachkunst 17 (1986), S. 206–233. Die neuere Forschung hingegen betont die kritische Destruktion des Exotismus, die der Roman leistet. Vgl. dazu Raepke: Auf Liebe und Tod, S. 54–130, bes. S. 70; Köster: Bilderschrift Großstadt, S. 129–144; Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 38–41, 92–123; Jacobs: ›Wildnis‹ als Wunschraum westlicher ›Zivilisation‹. 34 Zur Erweiterung der Gattungsangebote zum »Romanessay mit kulturtheoretischer und -kritischer Akzentuierung«, zur »Novelle mit mehreren, sich allerdings durch ihre Wiederholungsstruktur gegenseitig entwertenden unerhörten Begebenheiten« sowie zum »Psychogramm« vgl. Holdenried: Der technisierte Barbar, S. 304. 35 Zum Verhältnis von erzählerischer Konstruktion und gleichzeitiger Dekonstruktion vgl. Michael C. Frank: Die Exotik von Robert Müllers Tropen (1915). Begegnung mit einem fremden Roman, in: Aleida Assmann, Michael C. Frank (Hg.): Vergessene Texte. Konstanz 2004, S. 187–206, hier S. 202. Zur paradoxen Konstruktion der Fiktionsebenen vgl. Ingrid Kreuzer: Robert Müllers »Tropen«. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie, in: Helmut Kreuzer, Günter Helmes (Hg.): Expressionismus, Aktivismus, Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924). Göttingen 1981, S. 101–145. Zur mise en abyme-Struktur vgl. J. J. Oversteegen: Spekulative Psychologie. Zu Robert Müllers ›Tropen‹, in: Kreuzer, Helmes (Hg.): Expressionismus, Aktivismus, Exotismus, S. 146–168. Vgl. dazu auch Raepke: Auf Liebe und Tod, S. 126–128, Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 60–65 sowie zuletzt Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung, S. 359. 36 Brandlberger gesteht dem Leser: »Ich bin nicht der Held und Abenteurer, für den sie mich halten« (121).

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(23)37 Erzählen heißt im Kontext des Tropen-Romans also, Unklarheiten zu produzieren, vermeintliche Identitäten aufzulösen und fortwährend neue Ereignisse, Theorien und Zustände zu kreieren. Dabei nimmt die ästhetische Reflexion über gängige ethnographische Praktiken einen besonderen Stellenwert ein. Ausschweifend wird der ästhetische Reiz ferner Landschaften und fremder Menschen geschildert, doch nur, um den Mythos des Exotischen, den der Exotismus des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hatte, zu zerstören.38 Dies geschieht, indem »das Verdrängte des Exotismus«39 – etwa die Brutalität des Kolonialismus – unverhohlen als ›Barbarentum‹ bezeichnet wird.40 Dabei wird das Übertragungsschema einer Exotisierung des Fremden durch eines ersetzt, das im Fremden nur das Eigene wahrnimmt. D. h. für den Reisenden: »Überallhin trägt er seinen inneren Menschen mit, für den es keine Geographie gibt. Und exotischer denn eine brasilianische Wildnis ist die Straße im Verkehrszentrum einer großen Stadt. [. . .] Menschen, die nie bei sich sind, finden überall das andere.« (120) Die Praxis, über die Exotisierung des Fremden die eigene Kultur als fortschrittlich zu bestimmen und hierfür das exotisch Fremde aus dem Eigenen auszuschließen, wird auf diese Weise durchkreuzt. So eröffnet der Roman zum einen eine Reflexion auf Probleme der Repräsentation des Fremden, zum anderen eine im Gewand von Exotismus- und Rationalitätskritik geführte ästhetische Debatte: Ferne Länder, exotische Landstriche, seltsame Erfahrungen. Und darin haben wir sie heute überholt. Wir haben die Sehnsucht überwunden; mit ihr wohl auch die Beobachtungen, all das, was man unter der Etikette der »Analyse« verstand. Wir sind zu einer synthetischen Lebensform gekommen. Den Kombinationen ist freier Spielraum gelassen, die Kombination ist das Merkmal dieser Zeit. Es ist eine im letzten Grunde artistische Zeit; [. . .] Die große Synthese bricht an. Wir stülpen

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Erzählerisch umgesetzt wird dies, indem Slim als »historische Figur« (12) konstruiert wird und zugleich eine »freie Erfindung« (11) Brandlbergers ist, »die Gestalt eines Buches« (181), das er schreibt. In seinem Essay Der Kolonialmensch als Romantiker und Sozialist aus dem Jahr 1919 schreibt Müller: »Es gibt heute nichts landschaftliches Exotisches mehr. Nur die Seele hat noch seltsame Kontinente. Dort kann man sich noch verirren, dort kann man noch auf Entdeckungen ausgehen. Das Exotische ist und war überhaupt nur eine Projektion des Seelischen.« Vgl. Robert Müller: Der Kolonialmensch als Romantiker und Sozialist, in: ders.: Kritische Schriften 2. Mit einem Anhang hg. v. Ernst Fischer. Paderborn 1995, S. 338–344, hier S. 339. Frank: Die Exotik von Robert Müllers Tropen, S. 196. Vgl. etwa: »Wir waren aktiv bis zur Tollheit, nervös bis zur Unzurechnungsfähigkeit. [. . .] Da erkannte ich endgültig, daß unser Herz mit dem wilden Trieb des Urwalds zusammenschlug und die Sitten seiner Erholungen angenommen hatte. Wir waren Barbaren geworden.« (39) Oder: »Wir erobern dieses Land! Wir sind die Vertreter der allerneusten Zustände auf dem Gebiete der Kultur, wir ergreifen Besitz von der Schönheit dieses Erdstrichs und wollen nebenbei eine Landkarte verfassen. Respekt vor unserem Wissen, unserer abstrakten Tiefe, unserer Humanität, andernfalls wird geschossen! Punkt; Amen. Wir sind ein Geschlecht von Herren.« (42)

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Asien und Europa und Amerika aufeinander. Und was entsteht, ist eine Menschheit. (201)

Mit dem Entwurf eines neuen Menschen41 verknüpft ist die programmatische Forderung nach einer Ablösung des Impressionismus durch den Expressionismus.42 Die »Literatur der letzten Generation« mit ihrer exotistischen »Sehnsucht« wird als evolutionär rückständig diffamiert,43 und zwar mit dem Argument, der »repräsentative Typus« dieser Literatur sei der »nie aus guten Familien« kommende »Parvenü« (200) mit bäuerlicher, proletarischer oder jüdischer Herkunft. Die zeitgenössische europäische Ethnographie oder Volkskunde hätte diese »Bauern, Arbeiter und Juden« (200) als ›Überlebsel‹ bezeichnet. Sie hätte an ihnen jene auf eine heterochrone Evolution hinweisende Mischung von Primitivem und Modernem konstatiert, die der Selbstbeschreibung der eigenen Fortschrittlichkeit und Modernität zuarbeitet. Dieses Beschreibungsmuster aus der vergleichenden Methode der Ethnographie wird in Müllers Roman ästhetisch gewendet und für die Positionierung des eigenen poetologischen Programms funktionalisiert. Die Farbe Grau, die Mischfarbe schlechthin, die Farbe der Zwischentöne, des Langweiligen und Undefinierten, spielt hierfür eine ausgezeichnete 41

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»Die moderne Poetik der autonomen Einbildungskraft wird dergestalt aufgenommen und überführt in eine expressionistische Poetik der invertierten Visualität, der die Erprobung und Entgrenzung der Wahrnehmungswirklichkeit im psychologischen Experiment ihr Modell gibt.« Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung, S. 366. Vgl. dazu in den Tropen: »Man könnte vermuten, daß die Beobachtung ein Dichter ist, der sein Buch aus dem eigenen Kopfe abschreibt. Je besser der Beobachter, desto größer das Plagiat seines Ichs. Ich sehe Moräste, Raubtiere und Jägermenschen nur darum, weil alles in mir nach der Gestaltung dieser Erscheinungen drängt. Ich finde dieses Prinzip in mir vor, und es wird mir der Schlüssel zur Außenwelt. Nun beobachte ich den Beobachter, ich falle ihm in den Rücken, ich recke und turne mich an meinem Gesichtswillen empor [. . .]. [. . .] Forschung ist Konstruktion.« (117) Vgl. etwa: »Man muß den irreführenden und laxen Impressionismus tunlichst vermeiden. Tropen gibt es nicht; das ist ein Wortspiel, wir aber entdecken von Tag zu Tag die Wirklichkeit und den ehrlichen Stil. ›Tropen‹ ist ein Appell an das Gedächtnis meiner Eingeweide, aus den Zeiten, da ich noch aus nichts anderem denn jenen bestand; die biographische Erinnerung an die Faulenzerperiode, als auf Nowaja Semlja noch meine Krokodile im warmen Flußbad plätscherten. Alles dies ist jetzt internisiert, die ganze Tropenlandschaft fahrbar gemacht auf zwei Hinterfüßen, und nur innerlich ist die Sonne poetisch, da gibt es glutige Seufzer und wuchernde Pracht, mannshohes Dickicht, ein Jägerleben, Lauerposten, Überfälle und Wildhatzen. Und dort haben wir auch die ganze gärende Poesie; die Tatsachen draußen aber stehen für sich da. Dieses Land hier liegt unter dem Äquator, ist ein wenig heiß, spröde und langweilig und wird erst vernünftig sein, wenn eine Eisenbahnschiene quer durch den Djungle gelegt ist. Tropen, Tropen, das ist ein verdammtes Wort, ein Salonvokabel, um für die paar Orchideen Platz zu machen, die an diesem Platze herumwelken.« (85) Vgl. auch Brandlberger: »Mit der Exotik war ich fertig. Dies war ein veralteter Standpunkt. Impressionismus? Er war falsch; er war ein Defekt der Beobachtung. Er war nicht tief, absolut nicht tief. Oh, ihr Exotiker, nun habe ich euch? Welches stammelnde Geschrei, welche Überraschungen und Perspektiven, welches schäbige Glück der Vagheit würdet ihr an meiner Stelle aus diesem Amerika erdichten? Welche Melodien würdet ihr diesem Ansichdasein abhören?« (71)

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Rolle; etwa, wenn das Rationalitätsprinzip in der sengenden Hitze an einer »sinnlichen Mauer des Widerstand[s]« zerbricht, sodass »die graue Masse [der] Gedanken« wie ein archaisches ›Überlebsel‹, wie »ein Rest, eine unbequeme Originalität, am Grunde [des] Bewußtseins« hängt (15);44 oder wenn das Schreibprojekt selbst als Referat der »Gedanken eines von Hitze verbrannten und zu Asche gewordenen Gehirnes« (24) ausgewiesen bzw. insgesamt dem Prinzip der Mischung unterstellt wird. [I]ch schildere einen Mann, der inmitten gesegneter, abenteuerlicher Umstände, wie er sich einbildet, das Buch schreibt, das er erst erleben wird. Dieser Mann war ich. Ich war mit visionärer Kraft meiner eigenen Zukunft vorangeeilt. Ich fuhr als Schreibtisch einen Strom hinauf und vermengte in der Geschwindigkeit ein wenig die Zeit. Mein Gehirn aber war, zu meiner Entschuldigung sei’s gesagt, der Brennpunkt eines Dutzends ehrgeiziger Sonnen, die sich einander eine Schlacht um die Weltherrschaft lieferten. (24)

Grau steht für ein transgressives Konzept des Hybriden, das insbesondere in der Auflösung der raum-zeitlichen Ordnungsstrukturen zum Ausdruck kommt. Das ›Vermengen der Zeit‹ wird zu einer Theorie der »Wiederholung« ausgebaut, die auch Brandlbergers Frage, wo er »diesen Zustand der Tropen« schon einmal »durchgemacht« habe (15), beantwortet: Im Schachte meines Bewußtseins, im Berge meiner Herkunft schlummerte eine Stimmung aus der Vorzeit von Millionen Wesen, das mütterliche Säugen und Tränken des Stromes, die brütende Wärme der Zone, die hilfreiche Ruhe des Müßiggangs hatten meinem simplen Triebe geschmeichelt. Wie lange war es her: . . . dreiundzwanzig Jahre und neun Monate hatte ich zurückzugehen, dann hatte ich die 44

»Halt; was war das? Einen Augenblick lang rafften sich die eingeschläferten Geisteskräfte auf, die Lethargie platzte wie eine der Fruchtkapseln im brütendstillen Walde, sechs Sekunden lang fühlte ich mich so frisch und hell, als ginge ich auf dem Sonntagspflaster einer hübschen mitteleuropäischen Stadt und dächte einen unbekannten Gedanken. Ich hatte eine blitzartige vorüberhuschende Erkenntnis, eine Erinnerung wollte sich formen, ein paar Vorstellungen liefen vage zu einem Urteil zusammen . . . und da wurde das weiße Licht des Tages grau vor Weiße, es türmte sich zu einer sinnlichen Mauer von Widerstand, an der das Denken zerbrach. Ich nahm mich in Zucht, quälte mich zu einer höchsten Verengung zusammen, aber die graue Masse meiner Gedanken, die sich der Monotonie der Außenwelt angeglichen zu haben schien, rührte sich nicht. Meine Spannung wurde weich, sie löste sich wieder in jene einförmige dicke Empfindung auf, in ein üppiges Dahinsein, eine gierige Benommenheit. Aber die Wollust der Öde war durch ein lauerndes Interesse getrübt. Ich konnte unter diesen Verhältnissen die angemessene Lebensfreude nicht mehr zurückgewinnen, inmitten des süßen Stumpfsinns quälte eine Plumpheit, ein Rest, eine unbequeme Originalität, am Grunde meines Bewußtseins hing ein Ballast und machte Schwierigkeiten. Der Gedanke, der meinen entwöhnten Kräften entglitt, bevor er unter dieser sengenden Hitze reif ward, er kam wieder, er machte sich lästig: plötzlich summten mir die Ohren von ihm, als hätte ihn einer ausgesprochen. Der Gedanke war: All dies hatte ich schon einmal erlebt. Diese milden müden Wasser hatten um mich gespült. Dieses scheinhafte Licht, diese Süße, diese Laune, dieses Dämmern im Unausgesprochenen war nicht neu, es traf auf Erinnerung im Menschen, es war eine – Wiederholung. Wo aber, wo hatte ich diesen Zustand der Tropen, diese Szene willenlosen Wachsens durchgemacht, wo, wo?« (14 f.)

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Lebenshöhe eines dieser knorpeligen Zellenstöcke erreicht. Meine Identität mit diesem Zustande war festgestellt. (17)45

Die Flussreise ist folglich auch tropisch als Zeitreise in die Urgeschichte des Lebens und an den onto- wie phylogenetischen Ursprung des eigenen Ich zu lesen:46 »[D]ie Tropen waren in mir vorweggenommen, irgend einmal in grauer Vorzeit mußte ich sie erlebt haben, als ich noch in meiner Mutter Schoß im lauen Klima, von Nahrung umbrandet und umspült, lag.« (77)47 Die graue Vorzeit des chaotisch-tropischen Zustandes, in dem alles mit allem in Verbindung ist, wird positiv als Chronotopos eines uneingeschränkten Möglichkeitssinnes gefasst. Zugleich wird das im Prozess der Zivilisation kultivierte Reinheitsbegehren negiert: »Alle diese Lebewesen, all dies Generelle um mich her war einmal ich. Nun lag es da, von meinem Reinlichkeitstriebe verabscheut, die Schlangenhaut auf meinem Entwicklungspfade!« (18) Der Reinlichkeitstrieb gilt als Instanz einer Normalisierungspraxis, die auf Prozessen der Unterscheidung und Ausschließung beruht. Was zählt, ist jedoch die Erkenntnis, dass das geltende Prinzip der Welterschließung nicht Differenz und Trennung, sondern »materielle Identität« (18), mithin Gleichartigkeit ist. Alles erscheint dann gleichnishaft, d. h. in den so verstandenen Tropen wird alles zum Tropus. Das vermeintlich Differente – zeitlich gedacht als Entwicklung vom Primitiven zum Modernen, räumlich gedacht als Unterschied zwischen Urwald und Großstadt – ist lediglich die »Umstülpung eines Prinzips« (18). Den modernen, von Anthropologie und Ethnologie unterstützten Versuchen der reinigenden Unterscheidung von Primitivem und Modernem setzt der Roman also eine tropische Perspektive der Mischung entgegen, 45

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Vgl. auch: »Wohl, ich trug die Tropen in mir.« (20); »Bergab sauste ich in die Tropen der Menschheit, in Urzustände der Kräfte, in einen ökonomischen Großbetrieb des Wachsens und Werdens.« (35) Vgl. Heckner: Das Exotische als utopisches Potential, S. 82: »In den ›Tropen‹ ist alle Topographie des Exotischen Psychologie. Alles Landschaftliche besitzt seinen Stellenwert nur in Hinsicht auf die Disposition, deren Tropus es ist. Die guayanische Urwaldlandschaft ist Korrespondenzlandschaft, das Exotische Relief eines psychischen Zustandes.« Zur individual- und gattungsgeschichtlichen Regression in ihren Anklängen an Haeckels biogenetisches Grundgesetz, wonach die Ontogenese eine Rekapitulation der Phylogenese ist: »Was war meine ganze Reise bisher mit ihren Abenteuern, denen der gewünschte schöngeistige Zug des Heldenhaften empörend mangelte, anderes gewesen als ein kurzer Abriß gattungshafter Erfahrungen? Wohin anders reisen wir, als nach rückwärts in unser eigenes Gedächtnis? Mit erhellterem Kopfe sah ich mich in die Chancen unmündiger Zustände tauchen, in wilde Ureigentümlichkeiten und Katzbalgereien, in die Moräste meines Blutes und des pflanzenhaften Glücksbetriebes. [. . .] Von der Zelle bis zur Selbstbespiegelung: dies ist ein langer Weg, ist der Amazonenstrom der Menschenseele, ist ein brasilianisches Urwald- und Flußsystem des Gemütes!« (115 f.) Zur Bedeutung Haeckels für Müllers Tropen sowie zur Gleichsetzung der Reise mit einer »Anamnese [. . .] der pränatalen Lebensphase« vgl. Riedel: »Whats the difference?«, S. 68–71. Vgl. dazu außerdem Begemann: Tropische Welten, S. 82. Vgl. dagegen Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung, S. 355, die davor warnt, diese Reise als »Variation auf das geschichtsphilosophische Denkmodell mit seinem dialektischen Dreischritt von Einheit, Entfremdung und höherer Einheit resp. Natur, Zivilisation, neue Natur« zu lesen.

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in der stets das Eigene im Fremden enthalten ist und umgekehrt.48 In der Konsequenz dieses poetischen Verfahrens der Hybridisierung, bei dem Heterochrones produktiv gemacht wird und Tropen im Sinne der Rhetorik als Metapherntrieb, »Wortspiel«, »Salonvokabel« und »Appell an das Gedächtnis meiner Eingeweide« (85) bezeichnet werden, lösen sich auch die Gattungsunterschiede auf. Die adäquate neue Form ist der Romanessay,49 eben jene Mischgattung, die geprägt ist von »einem komplexen Wechselverhältnis von Ästhetik und Ethik, von Phantasie und Ratio, von Diffusion und Exaktheit, sowie [. . .] von epischer Fiktionalität und Diskursivität«.50

3. Rassenmischung poetologisch: Der neue Typus Insbesondere auf der Figurenebene wird das poetische Verfahren der Hybridisierung zum strukturierenden Prinzip: Sie kommt explizit bei den Figurenbeschreibungen Brandlbergers, des Künstlers Kelwa und Jack Slims zur Geltung: Brandlberger »war als der Typus des beginnenden 20. Jahrhunderts vor dem großen Kriege ein Mann ohne eigentliche Begabung und ohne Charakter, ja, kaum ein Mann von Geist – wenn man unter Geist die harmonische Mischung von Freiheit und Gebundenheit des Urteils versteht« (7); Kelwa, »[d]er Künstler, da war er: eine Mischung aus Idiotenhaftigkeit und Rassenahnung.« (138) Wie auch die indianischen Musiker, die als »Mischrasse« (82) bezeichnet werden, scheint Kelwa die Mischung des sinnlich-archaischen Urwaldprinzips und des modern-zivilisierten Intellektualitätsprinzips zu verkörpern. Über solche Zuschreibungen wird ein positiv bewerteter Zusammenhang von Rassenmischung und Künstlertum konstruiert,51 der im Gegensatz etwa zu Max Nordaus wissenschaftlicher Ab48

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Auf diese Weise lässt sich etwa erkennen, dass »die weibliche Natur der Tropen in jener weiblichen einer modernen Großstadt wiederkehrt, und, daß der Schritt vom europäischesten Europa mitten in den Djungle hinein nicht so abenteuerlich ausfällt, als man es sich erwartet hat. Denn was immer man erlebt, es ist stets dasselbe Abenteuer, es ist gleichgültig, ob man unter einen Panter oder einen Autobus gerät, das Gleichgültigste aber ist, ob sie Zana oder Fräulein Soundso heißt. [. . .] Ich denke dabei nicht einmal an Zana, in der vielleicht erst all dieses zur Auslösung kam; ich denke an den Wald, den Urwald, an die Sinnlichkeit dieser Natur, ihre Roheit, ihren ursprünglichen Elan, ihren schrecklichen, verwirrenden Trieb, ich denke an den Trieb, die Tropen im Gemüt des weißen Mannes. Die Frau nämlich ist ihrerseits nie aus den Tropen herausgekommen; und so gewiß der weiße Mann ein gänzlich verändertes System im Verhältnis zu seiner Urwaldherkunft darstellt, so gewiß ist es, daß Zana sich von keiner Boulevarddame wesentlich unterschieden hat.« (23) Bereits das Vorwort macht auf diese »ungeheuerlichen Ausschweifungen« aufmerksam und bezweifelt, »ob der Verfasser überhaupt je so etwas wie einen erzählenden Stil beabsichtigt habe« (6). Vgl. dazu Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 128. Vgl. dazu Robert Müller: Europäische Wege. Im Kampf um den Typus. Berlin 1917, S. 79: »Wenn Rassen zusammenkommen sollen, wird es eine künstlerische [. . .] Angelegenheit [. . .]. Die Völkersynthese ist immer Dichtung.«

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handlung Entartung steht: bei Nordau nämlich ist dieser Zusammenhang in das Degenerationsschema eingegliedert.52 Erneut folgt Müllers Textverfahren dem Prinzip einer ästhetischen Wendung, die Reinheit als ideologisches Phantasma durch Hybridisierung als poetisches Prinzip ersetzt. Anschaulich wird dies vor allem an der Figurenzeichnung Jack Slims: Im Vorwort wird er vorgestellt als historische Figur, steht also für das faktische Geschehen der im Untertitel genannten Urkunden eines Ingenieurs. Doch im Untertitel wird mit Der Mythos der Reise auch jene Ebene des Fiktiven, Phantastischen und Imaginären eröffnet, für die im Roman selbst ebenfalls Jack Slim steht. Überdies repräsentiert er das Imaginäre der Rassenhygieniker in potenzierter Form, die so gefürchtete Vermischung des Blutes: Slims Mischlingsherkunft – »[s]ein Vater, der Schiffskapitän, war ein Yankee; seine Mutter Chilenin, spanisches Halbblut« (57) – reicht mehrere Generationen zurück, und in seinem Blut mischen sich mit Indien, Afrika und Amerika gleich eine ganze Reihe der den Exotismus bebildernden Räume des Fremden. Der stereotypen Überblendung von Wildheit und Weiblichkeit folgend ist hierfür insbesondere seine Mutter verantwortlich. Die Kreolin hatte ihm dunkle Herkunft vererbt, eine knochige Wildheit aus dem Innern Amerikas in den Zügen, dunkles, rotes und vielleicht schwarzes Blut unter der gelben Haut und tiefsitzende Manieren, Liebenswürdigkeit und Herrschsucht im gleichen Wink. Was gilt die Wette, sie war nicht eben eine reine Kastilianerin? (28)

Sodann rückt er als Vertrauter des deutschen Kaisers Wilhelm II . in die Nähe des imperialistischen Machtstrebens in Europa, als Freund berühmter impressionistischer Künstler dagegen in die Nähe exotistischer Europaflucht. Überdies ist das narrative Konzept einer Vermischung von Wahn und Wirklichkeit, Wach- und Traumwelt an ihn gebunden. Für Brandlberger schließlich ist in Slim der neue Typus vorweggenommen, gerade weil er so viele Rassen in sich vereint. Aber: Slim ist auch eine Projektion Brandlbergers, Produkt eines im Zeichen des Tropenkollers stehenden Imaginationsprozesses, der dem »schöpferischen Willen«, einem neuen, »überscharf[en]« und »krankhaft[en]« Sehen sowie dem Wahrnehmungsmodus des Paradoxen und der Verkehrung verpflichtet ist; Brandlberger erläutert dieses imaginative Verfahren, das ausschließlich »künstliche[ ] Realitäten« hervorbringt, wie folgt: Mittels einer sogenannten Sinnestäuschung konnte die Welt zu einer andern umgestülpt werden. [. . .] Das, was ich hier entdeckt habe, ist ja nichts anderes als das Symbol der Paradoxie. Wir alternieren eine Sache, wir machen es anders, absurd, verkehrt, und siehe da, es ist auch etwas. Wir denken einen Gedanken pervers, und 52

Max Nordaus Abhandlung Entartung gibt eine hirnphysiologische Begründung der ungeregelten Ideenassoziation bei Degenerierten, d. h. in seinem Verständnis bei Mystikern, Künstlern, Hysterikern und Neurasthenikern, deren Gehirn aufgrund einer ererbten Willensschwäche unfähig ist, aufmerksam zu sein und die deshalb nur halbdunkle Vorstellungen im Sinne von »Gedankengespenster[n]« haben. Vgl. dazu Max Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin 31896. Bd. 1, S. 106.

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er ist frisch wie eine Jungfrau. Wir stellen einen Akzent um, und das Neue ist eine neuere Welt als irgendein Amerika. (34)

Dieses paradoxe Prinzip des Alternierens wendet Brandlberger auf Slim an, bis dieser ihm plötzlich als »Prototyp des zukünftigen Menschen« vor Augen steht: Er sieht »bekannte Züge, Eigenschaften aus einer modernen Kultur, eine zerebrale Spannung, gemischt mit der eigentümlichen Relaxation des Urmenschen.« (28)53 Einerseits wird hier aufgewertet, was im nicht-literarischen Wissen der Zeit als primitivistisches Zeichen einer heterochronen Evolution abgewertet wird. Andererseits jedoch wird Slim ausgerechnet als Bastard zum imperialen Kolonisator, wobei die sexuelle Verfügung über die indigenen Frauen zum Ausdruck seiner rassischen Überlegenheit stilisiert wird. Insgesamt zeigt sich hier also der ironische Umgang mit dem rassenbiologisch fundierten Männlichkeitsideal des Kolonialismus. Und: Paradoxerweise konstruiert das paradoxe Prinzip des Alternierens ausgerechnet jungfräuliche, also reine Gedanken.

4. Poetik des Hybriden als Utopie der Reinheit Auf der Basis einer komplexen mise-en-abyme-Struktur54 etabliert Müllers Tropen-Roman ein System sich wechselseitig erfindender Figuren, wobei – und hier zeigt sich erneut seine paradoxe Grundstruktur – der neue, reine Typus die Mischung aus Slim und Brandlberger wäre.55 So wie also das auf Vermischungen basierende Prinzip des Alternierens paradoxerweise jungfräulich reine Gedanken konstruiert (›perverse Gedanken, frisch wie eine Jungfrau‹), bestünde der reine Typus ausgerechnet aus der Mischung verschiedener Figuren. Dieser zukünftige Typus kommt aber als Figur im Roman nicht vor,56 und auch Slim kann nicht als dessen Einlösung verstanden werden – was bereits das Vorwort im Konjunktiv ankündigt: »Es ist, als ob die

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Zur Deutung Slims als »›radikalisierte Trope‹« Brandlbergers vgl. Liederer: Der Mensch und seine Realität, S. 153. Auf der Darstellungsebene des Romans entspricht die potenzierte mise-en-abyme-Struktur dem Wiederholungsprinzip jenes heterochronen Evolutionismus, der im Roman mit Bezug auf das biogenetische Grundgesetz von Haeckel aufgerufen wird und mit dem Behauptungen wie etwa folgende legitimiert werden: »Der Neurastheniker ist eine atavistische Jägernatur.« (68) Vgl. dazu: »Es gilt, das Abstrakte mit dem Sinnlichen, Wildheit, das Naive mit einer hochgespannten zerebralen Kultur, Rationalismus, zu begatten, die männliche und die weibliche Seele zu vermischen.« Robert Müller: Die graue Rasse [1919], in: ders.: Rassen, Städte, Physiognomien, S. 168–174, hier S. 168. Auf die Selbstrelativierung im Entwurf des neuen Menschen weist Frank: Die Exotik von Robert Müllers Tropen, S. 200, hin.

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Natur in ihm nach Kämpfen, Mischungen und Versetzungen einen wirklich reifen Typus hätte schaffen wollen.« (11)57 Letztlich erweist sich in diesem literarischen Kosmos mit seinem imaginären Figurenkarussell und den paradox konstruierten Fiktionsebenen auch die Jagd nach dem neuen Menschen nur als Wortspiel: »Ich besitze die Witterung, die Beobachtung, die Kombinationsgabe des Jägers. Ich habe aber in meinem Köcher Worte, Worte, nichts als Worte.« (139) Diese Absolutsetzung literarischer Fiktion steht im Zeichen einer das Modell heterochroner Evolution funktionalisierenden Poetik des Hybriden. Damit radikalisiert sie, was Literatur generell ausmacht. Denn das System der Literatur operiert genuin mit Vermischungen: mit Vor- und Rückverweisen, strukturellen Verflechtungen oder mit Tropen, die wie die Metapher, die Metonymie oder die Ironie Übertragungseffekte durch die Vermischung einander ursprünglich fremder Bereiche generieren. Auf dieser rhetorischen Basis ist ›Hybridität‹ strukturbildend für den gesamten Roman mit seinen Übertragungseffekten zwischen moderner und primitiver Kultur, Urbanem und Exotischem, Eigenem und Fremdem, Nord- und Südländischem oder Sinnlichem und Geistigem. Abschließend bleibt also festzuhalten: Robert Müllers Tropen-Roman setzt dem um 1900 in den Diskursen der Anthropologie und Ethnologie zirkulierenden Reinheitsphantasma eine Poetik des Hybriden entgegen.58 Konstitutiv für diese Poetik des Hybriden ist die Logik des Paradoxen, die den Roman strukturiert. Sie formiert eine Weise des Aussagens, die im Gegensatz zu den diskursiven Regeln des Reinheitsphantasmas steht. Während nämlich im normalisierenden Denken der Reinheit alles Schmutzige, Fremde, Unreine, mithin alles Gemischte ausgeschlossen wird, um die Ordnung des Reinen zu garantieren, produziert die Logik des Paradoxen ein narratives Geflecht aus gleichsam ›unreinen‹ Beziehungen. Dazu gehören ganz allgemein Diskursvermischungen, dazu gehört die unreine Gattung des Romanessays, dazu gehört aber auch das bastardisierte Männlichkeitskonzept des imperialen Kolonisators und modernen Barbaren. Außerdem gehört das ethnographische Schreibprojekt im Zeichen des Tropenkollers dazu, denn die ansteckende Krankheit Malaria – die in Robert Kochs Großprojekt moderner Bakterio57

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Gleichzeitig entwirft Slim selbst einen ›Prototyp des zukünftigen Menschen‹: Dieser hat die exotistische Sehnsucht ebenso überwunden wie die »Analyse als Affekt« (202); er ist »seiner Bewegung nach Synthetiker«, und zwar »so stark, daß das Kritische und Kombinatorische in ihm identisch sind«, dass er Realitäten aus sich hervorbringt, die dem Grundsatz folgen: »Sehen und Produzieren ist das Gleiche« (203). Dies ist auch im Gegensatz zum Irrationalismus-Vorwurf der älteren Forschung zu sehen. Vgl. bereits in diesem Sinne zu Müllers Anliegen als »Philosophieren im Affektbereich« Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus, S. 69 f. Dort auch eine Auseinandersetzung mit folgenden Interpretationen, die Müller eine irrationalistische Haltung zuschreiben: Kreuzer: Robert Müllers »Tropen«, sowie vor allem Günter Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen seiner publizistischen Schriften. Frankfurt a. M., Bern, New York 1986.

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logie und Tropenhygiene eine zentrale Rolle spielt – wird hier konstitutiv für die Positivierung des Wahnsinns im Expressionismus. Zudem wird die Ansteckungskrankheit Malaria in ein ästhetisches Modell von Ansteckung verkehrt. Tropen derart nicht nur geographisch, sondern auch rhetorisch verstanden, meint dann, dass sich die metaphorischen, metonymischen, ironischen und assoziativen Techniken der Bedeutungsproduktion, d. h. die sprachlichen Übertragungen in ein poetisches Konzept von Hybridität einordnen lassen. Interessant ist nun jedoch, dass diese vielschichtige Poetik des Hybriden letzten Endes ebenfalls die Kategorie der Reinheit für sich in Anspruch nimmt. Allerdings – und dies ist entscheidend – im Rahmen utopischer Ideale, für die es innerhalb des Romans keine Anschauung in der Wirklichkeit gibt. Dies gilt, wie bereits erwähnt, für den utopischen Entwurf eines neuen Menschen, der als reiner Typus gedacht wird. Ebenso gilt es aber auch für den utopischen Entwurf einer »Hygiene des Denkens« (118), d. h. eines »reine[n] Denken[s]« (119), das nicht an die Dimensionen von Zeit und Raum gebunden ist. Dieses ›reine Denken‹ soll ein Denken wider alle Kausallogik sein, ein Denken, das keine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Einbildung kennt und erkenntnistheoretisch dem Relativismus verpflichtet ist. Vorgestellt wird es als ein Denken, das zugleich ein Dawider-Denken ist: Können Sie um die Ecke sehen? Wir aber, wir denken um die Ecke. Wir denken in Winkeln, Kanten und Kristallen. Und wir werden es, verlassen Sie sich darauf, dahinbringen, daß wir sozusagen in Dodekaedern denken, wo der Gedanke zu gleicher Zeit einen ganzen Korb von Malen gegen sich verschoben hat! Uff, wie es anstrengt! (119)

Der Kristall symbolisiert hier Reinheit und Abstraktion, und mit dem Denken in Dodekaedern wird eine Nähe zu kubistischen Bildern hergestellt. Insgesamt erschließt sich in Müllers Tropen-Roman also ein mehrfach bestimmtes Reinheitskonzept, zu dem der reine Typus ebenso gehört wie seine Wahrnehmungsstruktur: das reine Sehen, die absolute Klarheit der Beobachtung sowie das Denken in Paradoxien. Wahrnehmen im Modus der Reinheit heißt dann, dass »Alles bis ins Unendliche gespiegelt wird« (125) und dass die abstrakte Form ebenso zum Ideal erhoben wird wie der »Geist« (125). Die Nähe des hier ausformulierten Reinheitsbegehrens zur Romantik ist nicht zufällig. Auch in der Romantik wurde die Kristallkunde wesentlicher Bestandteil komplexer Spiegelungsstrukturen sowie eines utopischen Denkens, das im Unendlichen eine negative Darstellung des Absoluten erkannte.59 Zugleich war das romantische Denken des Reinen ein ästhetisches Konzept: An eben dieses ästhetische Reinheitskonzept schließt die Abstraktionskunst der Moderne und mit ihr auch Müllers Tropen-Roman an. Allerdings mit 59

Vgl. dazu das Kapitel IV .1.3 in Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008.

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einer markanten Differenz: Denn für die Programmatik der künstlerischen Avantgarden ist zugleich der Bruch mit ideologischen und ethnozentrischen Vorurteilen, also der Bruch mit der pathologisierenden Abwertung des Primitiven grundlegend. Carl Einsteins bahnbrechende Studie zur Negerplastik, wie Müllers Roman ebenfalls 1915 entstanden, ist hierfür das beste Beispiel. Insgesamt sollte also deutlich geworden sein, dass es zwischen dem eingangs ausgeführten Reinheitsphantasma der Anthropologie und Ethnologie sowie insbesondere der Rassenhygienik und Rassentheorie und der Ästhetik der Reinheit, wie sie als Utopie in Müllers Tropen-Roman entworfen wird, grundsätzliche Unterschiede gibt. Denn neben dem Hygienediskurs um 1900 müssen für Müllers Roman zudem ästhetikgeschichtliche Kontexte berücksichtigt werden; und d. h. eben jene avantgardistischen Strömungen, die den Bruch mit geltenden Normen und damit zugleich auch mit den normativen Vorgaben des Hygienediskurses zum Programm gemacht haben. Doch auch dort, wo der Roman explizit auf das rassen- und tropenhygienische Reinheitsphantasma Bezug nimmt, dürfen diese Bezüge nicht als einfache Übertragung in den literarischen Text aufgefasst werden. Dagegen spricht die paradoxe Grundstruktur des Romans, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer vielschichtigen narrativen Ausfaltung des Mischungsparadigmas steht. Man kann also sagen, die Aneignung des Reinheitsphantasmas erfolgt im Modus einer ästhetischen Transformation, die in eine Poetik des Hybriden mündet. Damit aber nicht genug: Diese Poetik des Hybriden wiederum mündet in die Utopie eines neuen Menschen und einer neuen Kunst, die zwar im Roman keine Anschauung in der Wirklichkeit hat, aber gerade deshalb, weil sie im Unendlichen situiert ist, als Ästhetik der Reinheit formuliert werden kann. Letztlich erfüllt sich auch auf dieser Makroebene die Logik des Paradoxen: In diametralem Gegensatz zum Rassendiskurs der Moderne um 1900 mit seinen biopolitischen Reinigungspraktiken der Unterscheidung und Ausschließung zielt Müllers Tropen-Roman auf eine Ästhetik der Reinheit, aus der die Kategorie der Mischung nicht wegzudenken ist.

Gábor Kerekes

Das Fremde im Werk Joseph Roths Abstract: This study deals with the question in which form the alien appears in the works of Joseph Roth. Over the decades, a remarkable change appears in this aspect of his work: in his early works the alien carries quite positive connotations, alien figures primarily coming from the Eastern European Jewish-Slavic sphere. In Roth’s later works, however, the connotation of the alien has changed completely. Now alien characters become a threatening power in form of German-speaking, Russian or Hungarian figures. The most extreme example of all of his alien figures is the devil himself, who is described by Roth as a Hungarian man.

1. Einleitung Joseph Roth wird heutzutage in den Literaturgeschichten normalerweise als der nostalgische Gestalter der untergehenden Habsburgermonarchie etikettiert, was selbstverständlich seine Richtigkeit besitzt, jedoch sein Lebenswerk etwas einseitig zusammenfasst. Dabei war die Auffassung des späten Roth davon, was die österreichisch-ungarische Monarchie im Wesentlichen ausmachte, ziemlich speziell und – wie die meisten Dinge bei ihm – auch etwas paradox: »Das Wesen Österreichs ist nicht das Zentrum, sondern Peripherie«1, lässt er sein Alter Ego, den Grafen Chojnicki in dem Roman Die Kapuzinergruft sagen, und an anderer Stelle wird der Erzähler des Textes, Franz Ferdinand Trotta, konkreter, als er anführt: Die Zigeuner der Pußta, die subkarpatischen Huzulen, die jüdischen Fiaker von Galizien, [. . .] die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die schwäbischen Tabakpflanzer aus der Bacska, die Pferdezüchter der Steppe, die osmanischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowina, die Pferdehändler aus der Hanakei in Mähren, die Weber aus dem Erzgebirge, die Müller und Korallenhändler aus Podolien: sie alle waren die großmütigen Nährer Österreichs; je ärmer, desto großmütiger.2

In reinstem Deutsch ist dies ein Hohelied auf die nicht deutschsprachigen Völkerschaften der Monarchie, die – laut Roth – die treuesten Erhalter Österreichs sind. Im Gegensatz zu ihnen werden gerade die deutsch sprechenden Österreicher und die Sudetenböhmen (die Roth an anderer Stelle »Alpentrot1 2

Joseph Roth: Werke. Hg. v. Klaus Westermann. Bd. 6: Romane und Erzählungen 1936–1940. Köln 1991, S. 235. In der Folge mit der Sigle RW 6 abgekürzt. RW 6, S. 270.

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tel« und »kretinische Nibelungen«3 nannte) sowie die Ungarn nicht erwähnt. Dies deutet schon an, wie vielfältig sich die Kategorie des »Fremden« in den Werken Joseph Roths auslegen lässt.

2. Roth und Musil Robert Musil und Joseph Roth haben sich gekannt, sie haben sich mehrfach getroffen, doch kann man von keiner tieferen Bindung oder einer Beziehung zwischen den beiden sprechen. Ihr Verhältnis blieb eher oberflächlich. Bekannt ist, dass Roth den Mann ohne Eigenschaften seinem Cousin Fred Grubel mit den Worten geschenkt und empfohlen haben soll, »dass dies wirklich ein großes Buch sei« – was Fred Grubel tatsächlich zur Lektüre veranlasste.4 Inwieweit die Lektüreempfehlung Roths ehrlich gemeint war, ist kaum zu klären, jedenfalls ist eine andere Äußerung von ihm aus dem Jahre 1938 überliefert, er habe Musils Buch »ein ganzes Stück mit Vergnügen gelesen. Aber wie er dann auf tausend Seiten Österreich immer wieder Kakanien nennt, und noch einmal Kakanien und noch einmal Kakanien, habe ich aufgehört. Das ist ekelhaft!«5 Musil seinerseits zeigte den Werken Roths gegenüber eine ähnlich zwiespältige Haltung. Soma Morgenstern wollte unbedingt ein Urteil Musils zu Roths Hauptwerk Radetzkymarsch hören, musste dann aber eher enttäuscht dessen Einschätzung zur Kenntnis nehmen: »Ein sehr hübsch geschriebener Kasernenroman. [. . .] In seinem ›Hiob‹ ist Roth einmal ein Dichter [. . .]. Im Radetzkymarsch ist er es keinmal.«6 Mit dem Mann ohne Eigenschaften wurde Roths vermutlich bekanntestes Werk, Radetzkymarsch, oft in eine Parallele gestellt, so auch im Jahre 1932 in der Neuen Zürcher Zeitung von Hermann Hesse7 oder der Österreicherin Hilde Spiel, wobei solche Vergleiche zumeist mit der Konklusion enden, »Musils Monumentalroman [. . .] kann man bewundern, Roths schlichteres Buch darf man lieben [. . .].«8 Das ist symptomatisch für die Vergleiche, die zwischen Musil und Roth durch Nichtmusilianer angestellt werden. Während Musil als überragender Intellektueller immer wieder anerkannt war 3 4 5 6

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RW 6, S. 315. Fred Grubel: Schreib das auf eine Tafel, die mit ihnen bleibt. Jüdisches Leben im 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 95. Zit. nach: Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1022. Zit. nach: Corino: Robert Musil [2003], S. 1023. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass es sich um eine Erinnerung Soma Morgensterns und keine von Musil selbst schriftlich formulierte Aussage handelt. Hermann Hesse: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12: Schriften zur Literatur 2. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt a. M. 1996, S. 470–471. Hilde Spiel: Eine Welt voller Enkel, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen. 1918–1933. Frankfurt a. M. 1996, S. 355.

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(wobei dies mit einer gewissen Furcht zu geschehen scheint), wird Roth zumeist mit emotionalen Argumenten verteidigt. Ein Grund hierfür dürfte auch die erklärte Theorie- und Programmferne Roths sein, der so gut wie nie über das Schreiben spekuliert oder philosophiert hatte. Allein aus verstreuten Bemerkungen in einzelnen Artikeln lässt sich so etwas wie ein Ansatz zu einer ars poetica, einer Literaturtheorie Roths, herauskristallisieren. Sich selber machte Roth die Sache leicht, wenn er zum Beispiel 1929 schrieb: »Es gibt kein ›Gesetz‹, keine ›Norm‹, keine ›Regel‹. Es gibt nur schlechte Autoren und gute.«9 Dem entspricht auch das, was Soma Morgenstern in Erinnerung an die Gespräche zwischen Musil und Roth ausgeführt hatte. Roth soll zu Musil gesagt haben: »Ich bin kein Denker. Soma hat mich verleitet, eine Roman-Theorie von Georg Lukács zu lesen. Ich habe ihm zuliebe den Versuch gemacht, das Buch zu lesen. Zwei Seiten habe ich mich quälen lassen. Und dann war ich mit dem Buch fertig.«10

3. Das Fremde im Roth’schen Lebenswerk Roths Charakterisierung als nostalgischer Verklärer der untergehenden Habsburgermonarchie besitzt seine Richtigkeit lediglich für den Roth der 1930er Jahre, jedoch nicht für den der Zeit des Ersten Weltkriegs und der auf ihn folgenden Jahre. Dementsprechend ist es möglich, Roths Lebenswerk thematisch in drei Komplexe einzuteilen, die aber auch nicht vollkommen voneinander getrennt werden können. Das Frühwerk zeigt in manchen Erzählungen oder etwa im Roman Das Spinnennetz bis in die Sprache hinein einen »sehr deutschen« Autor, der keine Austriazismen gebraucht und häufig deutsche Schauplätze in seinen Werken gestaltet. Roth ist in dieser Zeit deutlich ein republikanisch Gesinnter, dem das Kaisertum ein Gräuel ist. Seine Werke bis ins Jahr 1929 sind geprägt von der Darstellung der Kriegsfolgen – die psychische und moralische Verwahrlosung der Menschen, die instabile Nachkriegsordnung steht im Mittelpunkt der Darstellung –, ohne dass es in diesen Werken einen Fixpunkt für seine Figuren gäbe. Die Monarchie kommt zwar vor, doch ist sie hier noch nicht als eine Art nostalgisch betrachtete rückwärtsgewandte Utopie zu finden, denn Roth war nach dem Ersten Weltkrieg deutlich antihabsburgisch und antimonarchistisch eingestellt – was heute oft ausgeblendet wird. Roths vielleicht deutlichster Aufruf gegen den Monarchismus findet sich in dem Artikel Die Wahrheit über Westungarn11, in dem der spä9 10 11

Joseph Roth: Werke. Hg. v. Klaus Westermann. Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939. Köln 1991, S. 46. In der Folge mit der Sigle RW 3 abgekürzt. Soma Morgenstern: Dichten, denken, berichten. Gespräche zwischen Roth und Musil, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05. 04. 1975, BuZ S. 6. Joseph Roth: Die Wahrheit über Westungarn, in: Der Neue Tag vom 26. 08. 1919.

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tere Schriftsteller – besorgt um die ungestörte demokratisch-republikanische Entwicklung Österreichs – warnend schreibt: »Hand in Hand mit dem Militarismus rasselt der Monarchismus durchs Land. In und um Steinanger[12] stecken sie alle, die Parasiten der Habsburger Herrlichkeit, die Goldkragler und Schmarotzer, und warten auf Karl.[13] [. . .] Westungarn ist einer der gefährlichsten Herde des Monarchismus.«14 Diese Äußerung ist mit der Monarchie-Nostalgie des späten Roth kaum zu vereinbaren. Auffällig ist, welch große Rolle im Roth’schen Frühwerk rätselhafte, aus der Fremde, zumeist aus dem ostjüdisch-slawischen Raum, wie aus dem Nichts auftauchende Gestalten spielen, die undurchsichtig, geheimnisvoll sind, die Gesetze des Lebens kennen und (auch) für das Schicksal der zentralen Figuren eine große Bedeutung gewinnen. Es sind Figuren wie Benjamin Lenz, der für das Schicksal des Leutnants Theodor Lohse in Das Spinnennetz wichtig wird, oder der Kroate Zwonimir Pansin, der eine bedeutende Rolle für den Kriegsheimkehrer Gabriel Dan in Hotel Savoy spielt. Sie sind unergründliche Führerfiguren, die schließlich auch wieder unvermittelt verschwinden. Die Romane Hotel Savoy (1924), Die Rebellion (1924) und der Essay Juden auf Wanderschaft (1927) gehören zu diesem Komplex von Werken, in denen das Fremde durchaus positive Eigenschaften besitzt. Es wird einerseits in diesen geheimnisvollen und den Hauptfiguren überlegenen Gestalten verkörpert und andererseits in Amerika und Frankreich als Sphären der Sehnsucht und Verheißung, wobei diese attraktive ferne Fremde den Hauptfiguren genauso verschlossen und unerreichbar bleibt wie sie den ostjüdisch-slawischen Figuren auch nicht ebenbürtig sein konnten. Einen Wendepunkt in der Bewertung des Fremden stellt der Roman Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht (1927), mit seiner Hauptfigur, dem aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Franz Tunda, dar. Der Roman erzählt, was Tunda zuerst bei den Russen, dann bei den Sowjets erlebt, schließlich seine Rückkehr nach Österreich sowie sein rastloses Leben in Deutschland und Frankreich. Dabei ist der Titel des Werkes schon das Programm. Tunda findet sich nirgendwo zurecht, es gibt für ihn keine Heimat mehr, aber auch keine Hilfe aus der Fremde, wie das in den früheren Romanen noch der Fall war. Fremde und Heimat (eigentlich: inzwischen zur Fremde gewordene Heimat) sind in diesem Werk kaum noch zu unterscheiden. Geradezu typisch für Roth ist auch, dass die häufig als erste Artikulation der Zielsetzungen der Neuen Sachlichkeit angesehenen einleitenden Worte dieses Romans – die auch Musil Roth gegenüber, zumindest sinngemäß, zi12 13 14

Roth verweist hier auf die westungarische Stadt Szombathely, deren korrekter deutscher Name jedoch »Steinamanger« lautet. Gemeint ist hier Karl I ., Kaiser von Österreich, als Karl IV . letzter König von Ungarn. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. München 1981, S. 198 f.

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tieren konnte15 (»Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu ›dichten‹. Das wichtigste ist das Beobachtete.«16 ) –, keineswegs eingehalten werden, indem Roth versichert, er habe weder etwas erfunden noch etwas komponiert, um dann eine völlig erfundene Geschichte zu präsentieren. Diese viel zitierte Grundsatzschrift der Neuen Sachlichkeit ist – genau besehen – ein Text, der den eigenen Ansprüchen bzw. dem behaupteten Inhalt gar nicht gerecht wird. In Flucht ohne Ende gibt es für die Roth’schen Zentralfiguren in der ganzen Welt nichts anderes als das Fremde; Heimat, im Sinne einer Geborgenheit darstellenden Sphäre, gibt es nur für die als Durchschnittsmenschen und Spießer gezeichneten Figuren – ganz gleich, ob das in Österreich, Deutschland, Frankreich oder der Sowjetunion der Fall ist. Das Fremde hat seinen bis dahin bei Roth behaupteten positiven Charakter verloren, zugleich ist die Heimat, das Heimatliche und das Bekannte immer noch nicht positiv besetzt – doch das sollte sich ändern. Dem ersten Komplex der Werke sowie dem Übergangsroman Flucht ohne Ende folgt das Spätwerk, in dem zwei thematische Bereiche, die sich schon in den frühen Werken ansatzweise belegen lassen, teilweise zeitlich parallel zueinander auftreten, sich in einigen Werken auch vermischen. Gemeinsam ist ihnen, dass die Rolle des Fremden auf ähnliche Weise konstruiert wird. Thematisch handelt es sich hier einerseits um die Werke mit galizischer und/oder ostjüdischer Thematik – wie den Welterfolg Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930) oder die Erzählungen Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters (1937) und Leviathan (1940) – und andererseits um jene mit dominanter Habsburgermonarchie-Thematik, wie Radetzkymarsch (1932), Die Büste des Kaisers (1934), Die Kapuzinergruft (1938) sowie Die Geschichte von der 1002. Nacht (1939). Bei letzteren ist jene Veränderung unübersehbar, die sich im Laufe der Jahre in Roths Einschätzung der Habsburgermonarchie vollzogen hat. Im Schatten Nazideutschlands beginnt seine Aufwertung des untergegangenen Reiches, das er immer entschiedener als einen Faktor zu begreifen beginnt, der Hitlerdeutschland hätte in die Schranken weisen können. Die Verortung der Werke des späten Roth – in Wien und Umgebung bzw. im ostjüdischen Raum – ist zwar unterschiedlich, doch die Rolle des Fremden in ihnen ist identisch. In allen diesen Werken wird ein Untergang, der Einbruch des Fremden in eine einst als ideal angesehene Heimat beklagt, wobei diese Heimat eindeutig der Vergangenheit zugeordnet wird, eine reale neue gibt es aber nicht. Einerseits bricht in die ostjüdische Welt der Terror der Kosaken und Russen bzw. ›der Teufel, der ein Ungar ist‹, ein, und andererseits wird die Monarchie, d. h. die alte Ordnung zerschlagen: von den Deutschösterreichern und nicht zuletzt von den Ungarn. 15 16

So Soma Morgenstern, vgl. dazu Corino: Robert Musil [2003], S. 1020. Joseph Roth: Werke. Hg. v. Klaus Westermann. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916–1929. Köln 1989, S. 391. In der Folge mit der Sigle RW 4 abgekürzt.

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4. Der fremdeste Fremde: der Teufel Als ein Beispiel für das Fremde soll an dieser Stelle die in einer ganzen Reihe von Roths Werken auftretende Figur des Teufels untersucht werden. Man kann ihn getrost als den bedrohlichsten Unbekannten unter den Fremden in seinem Œuvre bezeichnen. Dieser in mehreren Werken wiederkehrende Teufel kommt bei Roth aus Ungarn und hat auch einen Namen, er heißt Jenö Lakatos.

4.1 Quasi eine Comédie humaine Man findet in Roths Prosawerken eine Reihe wiederkehrender Namen. Während »Lakatos« immer wieder für den Teufel steht, ist z. B. »Kapturak« immer eine Schmugglerfigur in Galizien. Der Name »Efrussi« trägt die Konnotation von Reichtum, Judentum und Bankgewerbe; »Schinagl« hingegen jene von Gewöhnlichkeit (›Proletariat‹) und Einfältigkeit. Ein Überblick über die Liste der in insgesamt 27 Roth’schen Prosawerken wiederkehrenden Namen mag auf den ersten Blick an die Comédie humaine erinnern, doch mehr auch nicht. Anders als bei Balzac bedeuten bei Roth die gleichen Namen in der Regel nur ähnliche Charaktere und Typen, eine ähnliche Herkunft der jeweiligen Figur.17 Lediglich in ganz wenigen Fällen handelt es sich bei den Gestalten identischen Namens in unterschiedlichen Werken Roths auch um die gleiche Figur. Dies trifft auch auf die Gestalt des Lakatos’ in den verschiedenen Texten Roths zu. In Triumph der Schönheit ist er ein Rechtsanwalt aus Budapest, im Leviathan betätigt er sich als Korallenhändler und in Beichte eines Mörders ist er Hopfenkommissionär aus der »Rakocziutca 31« in Budapest. Auch das Äußere dieser Figur wird variiert, und wenn schließlich Dr. Skowronnek in der Erzählung Triumph der Schönheit feststellt, »Lakatos aus Budapest ist ein Typus, keine Persönlichkeit«18 , so kann man dies durchaus gelten lassen.

4.2 Lakatos’ Auftritte Die teuflischen Züge von Lakatos und die Assoziation der Figur mit der Hölle treten immer deutlicher hervor. Zum ersten Mal ganz deutlich im Leviathan, in dem für Nissen Piczenik, den Korallenhändler in Russland, das überraschende Auftreten des bereits genannten Jenö Lakatos folgenschwer ist. Im Städtchen Progrody erscheint ein Fremder: 17

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Ausführlicher hierzu: Gábor Kerekes: Eine »Comédie humaine« Joseph Roths?, in: Péter Bassola, Regina Hessky, László Tarnói (Hg.): Im Zeichen der ungeteilten Philologie. Festschrift für Professor Dr. sc. Karl Mollay zum 80. Geburtstag. Budapest 1993, S. 171–180. Joseph Roth: Werke. Hg. v. Klaus Westermann. Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936. Köln 1990, S. 653. In der Folge mit der Sigle RW 5 abgekürzt.

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Dieser Mann hieß Jenö Lakatos und stammte, wie man bald erfuhr, aus dem fernen Lande Ungarn. Er sprach Russisch, Deutsch, Ukrainisch, Polnisch, ja nach Bedarf und wenn es zufälllig einer gewünscht hätte, so hätte Herr Lakatos auch Französisch, Englisch und Chinesisch gesprochen. Es war ein junger Mann, mit glatten, blauschwarzen, pomadisierten Haaren – nebenbei gesagt, der einzige Mann weit und breit in der Gegend, der einen glänzenden, steifen Kragen trug, eine Krawatte und ein Spazierstöckchen mit goldenem Knauf.19

Lakatos’ äußeres Erscheinungsbild ist elegant und er wird zur Konkurrenz für den alten Korallenhändler, der mit seiner ganzen Seele an seinen Korallen hängt, da Lakatos billigere und schönere, allerdings aus Zelluloid angefertigte Korallen anbietet. Nissen Piczenik geht zu Lakatos und sah, daß er etwas hinkte. Offenbar war sein linkes Bein kürzer, denn er trug am linken Stiefel einen doppelt so hohen Absatz wie am rechten. [. . .] Blauschwarz wie eine Nacht waren seine Haare. Und seine dunklen Augen, die man im ersten Moment für sanft hätte halten können, glühten von Sekunde zu Sekunde so stark, daß eine merkwürdige Brandröte mitten in ihrer Schwärze aufglühte.20

Der derart deutlich als Teufelsfratze gekennzeichnete Lakatos klärt Piczenik über die Beschaffenheit seiner Korallen auf: »Wir stellen einfach künstliche Korallen her. Meine Firma heißt: Gebrüder Lowncastle, New York. In Budapest habe ich zwei Jahre mit Erfolg gearbeitet. Die Bauern merken nichts. Nicht die Bauern in Ungarn, erst recht nicht die Bauern in Rußland.«21 Lakatos, dessen Korallen aus Lowncastle (»Unterweltsschloss«) stammen, bietet Piczenik die Zusammenarbeit in Form des gemeinsamen Verkaufs falscher Korallen an. Auf diese Weise versuchte der Teufel den Korallenhändler Nissen Piczenik zum erstenmal. Der Teufel hieß Jenö Lakatos aus Budapest, und er führte die falschen Korallen im russischen Lande ein, die Korallen aus Zelluloid, die so bläulich brennen, wenn man sie anzündet, wie das Heckenfeuer, das ringsum die Hölle umsäumt.22

Piczenik geht auf das Angebot ein und verliert schließlich alles – auch sein Leben. Auf ähnliche Weise, als Verführer, war Lakatos auch schon in Triumph der Schönheit aufgetreten – und wird es später in Beichte eines Mörders wieder tun.23 In der Beichte eines Mörders facht Lakatos die Unzufriedenheit der 19 20 21 22 23

6, S. 566. 6, S. 567. 6, S. 567. 6, S. 568. Gershon Shaked hat in seiner Analyse des Leviathan (Kulturangst und die Sehnsucht nach dem Tode, in: Michael Kessler, Fritz Hackert [Hg.]: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989. Tübingen 1990 [= Stauffenburg-Colloquium 15], S. 283) darauf hingewiesen, dass eine der Bedeutungsebenen sich auf die Frage nach echter und falscher Kunst bezieht. So sei seiner Ansicht nach auch die Wahl des Namens Lakatos für die falsche Koralle, d. h. falsche Kunst verbreitende Figur, kein Zufall, sondern eine direkte Anspielung Roths auf den ungarischen Schriftsteller László RW RW RW RW

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Hauptfigur Golubtschik an und ist maßgeblich daran beteiligt, dass sie bei der zaristischen Geheimpolizei, der Ochrana, für die auch Lakatos Spitzeldienste leistet, als Mitarbeiter landet. Auch später tritt Lakatos immer wieder als Bedrohung für Golubtschik auf und greift in dessen Schicksal ein. Die Lakatos-Figur ist nichts anderes als die Verkörperung für »das Prinzip des Bösen«24 , weshalb es bei allen Abweichungen in seinem äußeren Erscheinungsbild25 aber auch immer wieder Andeutungen des Teuflischen in seiner Beschreibung gibt, indem er in Triumph der Schönheit sowohl durch die Physiognomie (sein Angesicht besteht »lediglich aus schwarzen Knopfäugelchen, einem Näschen und einem pechschwarzen Schnurrbärtchen« und ist »wie aus Wachs, gerötetem Wachs«, wobei er »keine Hautfarbe, sondern eine Art Schminke« trug26 ) als auch durch die Erwähnung des »Bandwurms« mit der Schlange in Zusammenhang gebracht wird. In Beichte eines Mörders erfahren wir aus dem Munde des erzählenden Golubtschik viel über das Äußere des uns bereits bekannten Lakatos: [E]r war, was man so einen ›Stutzer‹ nennt. Er hielt ein ganz weiches feines PanamaStrohhütchen in der Hand, eines, wie es gewiß in ganz Rußland nicht zu kaufen war, und ein gelbes Rohrstöckchen mit silbernem Knauf. Er trug ein gelbliches Röckchen aus russischer Rohseide, eine weiße Hose mit zarten blauen Streifen und gelbe Knopfstiefel. Und statt eines Gürtels schlang sich um sein zartes Bäuchlein eine halbe, ja, weniger: eine Viertelweste aus weißem, geripptem Stoff, zusammengehalten von drei wundervollen, schillernden Perlmutterknöpfchen. Außerordentlich wirkte seine geflochtene goldene Uhrkette mit großem Karabiner in der Mitte und vielen zierlichen Anhängseln, einem Revolverchen, einem Messerchen, einem Zahnstocher und einem niedlichen winzigen Kuhglöckchen; alles aus purem Gold. [. . .] Er hatte pechschwarze, in der Mitte gescheitelte Haare, sehr dicht, eine kurze knappe Stirn und ein winziges Schnurrbärtchen, aufwärts gezwirbelt, so daß die Endchen direkt in die Nasenlöcher krochen. Die Hautfarbe war eine blasse, bleiche, was man so eine ›interessante‹ nennt.27

Großes Sprachtalent, glänzend weiße, aber etwas gefährliche Zähne und rotes Zahnfleisch gehören zu seinen weiteren Charakteristika ebenso wie der exzessive Umgang mit Parfüm,28 der auch im Leviathan im Zusammenhang

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Lakatos (1882–1944), der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Paris emigrierte und 1944 in Nizza starb. Ironie des Schicksals: Gerade dieser Lakatos hat in Ungarn als einer der ersten auf »echte Korallen«, auf Kafkas Werke aufmerksam gemacht. . . Hanswerner Hofstetter: Wirtschaft der Verworrenheit. Analyse des Romans »Beichte eines Mörders« von Joseph Roth. Zürich 1980, S. 30. In Triumph der Schönheit: »Ich sah ihn also zuerst von hinten. Aber es genügte vollkommen. Ein kleines, rundes Köpfchen mit glänzenden, schwarzen, geölten Haaren: als ob die Natur selbst Perücken herstellte. Ein großer, quadratischer Rumpf, eine Art bekleidete Kommode. Darunter der Körperteil, den man nicht nennt, mindestens sechsmal umfangreicher als der Kopf, hellgraue Hose, knallgelbe Schuhe. Dies war Lakatos.« (RW 5, S. 642 f.) RW 5, S. 642 f. RW 6, S. 21 f. RW 6, S. 22 f.

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mit Lakatos vorkommt. Ein deutlich teuflisches Attribut, das auch im Leviathan angesprochen wird, ist natürlich das Hinken, das sich bei Lakatos in der Beichte eines Mörders auf ganz eigentümliche Weise äußert: Er hinkte nur leicht, es war kaum zu sehen, es war eigentlich kein Hinken, sondern eher, als zeichnete der linke Fuß eine kleine Schleife, ein Ornament, auf das Pflaster. Niemals seither habe ich solch ein graziöses Hinken gesehn, es war kein Gebrechen, eher eine Vollkommenheit, ein Kunststück [. . .].29

Dabei wird betont, dass Lakatos durch das Hinken nicht gehandicapt ist, sondern sich durchaus schnell bewegen kann. Das Unheimliche der Figur wird dadurch noch verstärkt, dass der geheimnisvolle und mächtige Solowejczyk, der in der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei der Vorgesetzte von Golubtschik ist, über Lakatos sagt: »Ich glaube selten und nur sehr widerwillig an übernatürliche Erscheinungen. Aber bei Lakatos, der mich von Zeit zu Zeit besucht, kann ich mich eines gewissen abergläubischen Gefühls nicht enthalten!«30 Dieses »abergläubische Gefühl« wird durch das Erscheinungsbild Lakatos’ auch im Erzähler der Rahmengeschichte ausgelöst, den bereits der Anblick der »in blutroter Schrift«31 auf den Lakatos’schen Koffern angebrachten Initialen »J. L.« nervös macht und der schließlich »am selben Tage noch« abreist.32 Das im Zusammenhang mit Triumph der Schönheit erwähnte Schlangen-Motiv ist in Beichte eines Mörders ebenso in der oben zitierten äußeren Charakterisierung (»kleine Schleife«) nachvollziehbar wie auch in der Rahmengeschichte, wo er mit »seinen straff in der Mitte gescheitelten Haaren, die so aussahen, als ob nicht ein Kamm, sondern eine Zunge sie geglättet hätte«33 , den Erzähler trifft. Doch der Teufel erscheint nicht in jedem Fall als Figur im Werk, sondern manchmal nur als sprachliches Konstrukt, als Verweis, wobei man sich an Thomas Manns Dr. Faustus erinnert fühlt. So zum Beispiel tritt im Roman Die Kapuzinergruft das zerstörerische »Prinzip Lakatos« auf subtilere Weise auf. Im Verlauf des Romans bekommt eine Ungarin, eine gewisse Frau Jolanth Szatmary, eine wesentliche Rolle, und sie ist dann auch von großer negativer Wirkung auf Elisabeth, die ungarische Frau des Ich-Erzählers Franz Ferdinand Trotta. Bevor Trotta nach seiner Rückkehr aus dem Krieg seine Frau wieder treffen kann, hört er von seiner Mutter über Elisabeth, dass diese »eine Kunstgewerblerin« geworden sei, was von der Mutter als etwas besonders Verwerfliches angesehen wird, denn wo solle das hinführen, »[w]enn man anfängt, aus wertlosem Zeug etwas zu machen, was wie wertvoll aussieht«?34 Dieser Einfluss geht auf Frau Szatmary zurück, die laut Elisabeth 29 30 31 32 33 34

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6, S. 23. 6, S. 87. 6, S. 124. 6, S. 125. 6, S. 124. 6, S. 299 f.

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»eine berühmte Frau«35 sei, zu der aber Trotta keinen Zugang findet und deren Gespräche mit Elisabeth er nicht verstehen kann.36 Jolanth Szatmary, die von ihren Bewunderern »Frau Professor« genannt wird, die aber – wie es sich schließlich herausstellt – »keine von den Wiener oder Budapester Akademien jemals besucht«37 hatte, entzweit Elisabeth und Trotta, nimmt Elisabeth zu Vorträgen »über freiwillige Sterilisierung«38 mit, ein Indiz dafür, dass sie Elisabeth ein Attribut ihrer Weiblichkeit und somit ihrer Menschlichkeit überhaupt zu nehmen versucht. Jolanth Szatmary wird durch Trottas Mutter explizit mit Lakatos in Verbindung gebracht. Einmal geschieht dies dadurch, dass Trottas Mutter, die sich den Namen Szatmary nicht merken kann und deshalb irrtümlicherweise ähnlich klingende andere Namen gebraucht, bei einer Gelegenheit »nach einiger Überlegung«39 , also nicht spontan, den Namen Lakatos für Szatmary gebraucht, und ein anderes Mal, indem sie – eine Anspielung auf Roths Erzählung Leviathan – sagt, Szatmary müsse sich damit begnügen, »neue Korallen aus Tannenzapfen herzustellen«.40 Der Querverweis innerhalb des Roth’schen Lebenswerkes ist nicht zu übersehen: Lakatos und Szatmary stehen in Die Kapuzinergruft für das Dämonische, das Glück Zerstörende, die Versuchung. Tatsächlich gibt es deutliche Parallelen zwischen den beiden Figuren, denn Jolanth Szatmary hat ebenso wie Lakatos mit der Herstellung unechter Gegenstände zu tun. Das Kunstgewerbe – also nicht die Kunst – und der Film sind die Gebiete, auf denen sie sich betätigt (wenn auch nicht sehr erfolgreich), und beide Bereiche waren Joseph Roth verhasst. Man denke nur daran, wie oft Roth gegen den Film gewettert hat und im Antichrist aus Hollywood »Hölle-Wut« machte, den Ort, wo die Hölle wütet.41 Jolanth Szatmary, die schließlich auch für Trotta als »eine Art Höllenweib«42 erscheint, gelingt es schließlich, Trottas Frau Elisabeth in die Hölle, nämlich nach Hollywood zu locken.43 Dabei gelingt ihr das auch erst, nachdem sie Elisabeths Schwanken überwinden kann, denn diese zögert, so wie Golubtschik und Nissen Piczenik gegenüber den Versuchungen durch Lakatos gezögert hatten. Eine weitere Anspielung auf Lakatos findet sich im Roman Die Geschichte von der 1002. Nacht. Sie erfolgt durch Josephine Matzner, Puffmutter von Beruf, über die es heißt, als sie sinnierend im Volksgarten auf einer Bank sitzt: »Aber ihre Jugend liebte sie und selbst noch die Art, in der sie diese ihre Jugend vergeudet hatte. Alle anderen Mädchen, die sie 35 36 37 38 39 40 41 42 43

RW 6, S. 303. RW 6, S. 303. RW 6, S. 321. RW 6, S. 308. RW 6, S. 313. RW 6, S. 313. RW 3, S. 664. RW 6, S. 328. RW 6, S. 339.

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später bei der Jenny Lakatos in Budapest bei der ›Arbeit‹ kennen gelernt hatte, waren irgendwo untergegangen.«44 Dieser erneute Querverweis auf Lakatos erfolgt allerdings als Frauenname. Dabei ist die phonetische Nähe von »Jenö« zu »Jenny« sicherlich nicht zufällig.45

4.3 Lakatos – eine Konstruktion aus Roth’schen Vorurteilen Lakatos wird von Roth als Ungar eingeführt, wobei die ungarische Abstammung der Figur – wenn wir über den Umstand hinwegsehen, dass alles Ungarische bei Roth ab ovo schlecht ist46 – für den Handlungsablauf keine Bedeutung hat; es wird nicht eine einzige »nationale Eigenheit« oder Ähnliches im Zusammenhang mit Lakatos ins Felde geführt. Umso auffälliger ist, dass Roth stattdessen weitere seiner Vorurteile in diese Personifizierung des Bösen hineinprojiziert hat, nämlich jene gegenüber Nazis, Juden, Frauen und dem Film, um so aus Lakatos einen ungarisch-jüdisch-nazistisch-femininen Ausbund des Schrecklichen zu kreieren. Von diesen Vorurteilen dürften jene gegen die Nazis auf der Hand liegen, im Falle eines jüdischen Autors, der durch den Nazismus ins Exil getrieben worden war, offensichtlich sein. Roths Vorurteile gegenüber den Juden – oder vielleicht besser: die negative Kehrseite seines Verhältnisses zum Judentum – werden auch im Zusammenhang mit Lakatos angedeutet, denn dessen Visitenkarte lautet: J E N Ö L A KAT O S Hopfenkommissionär Firma Heidegger und Cohnstamm, SAAZ Adresse: Budapest, Rakocziutca, 31.47

Der eindeutig jüdische Name »Cohn« im Zusammenhang mit »Stamm« als jener des einen Firmeninhabers ist hier eng verbunden mit dem Namen Heideggers, der als deutscher Philosoph und als Rektor der Universität Freiburg sich von den Nazis 1933/34 hat zu Propagandazwecken missbrauchen lassen,48 und somit entspricht diese sicherlich nicht zufällige Verbindung der beiden Namen ganz einer brieflichen Äußerung Roths aus dem August des 44 45

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RW 6, S. 665. Wenn auch Jenö, eigentlich ungarisch korrekt mit langem »ö«, also »Jen˝ o«, die ungarische Form des Vornamens Eugen ist und somit nichts mit dem weiblichen Vornamen Jenny zu tun hat, der eine Koseform von Jane oder auch Jennifer ist – in dieser Hinsicht war das Ungarische Roth tatsächlich fremd. Siehe ausführlicher dazu in: Gábor Kerekes: Prag liegt zwischen Galizien und Wien. Das Ungarnbild in der österreichischen Literatur 1890–1945. Budapest 2008. RW 6, S. 38. Vgl. Silvio Vietta: Heidegger, Martin, in: Metzler-Philosophen-Lexikon. Dreihundert biographisch-werkgeschichtliche Porträts von den Vorsokratikern bis zu den neuen Philosophen. Hg. v. Bernd Lutz. Stuttgart 1989, 326–339, bes. S. 331 f.

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Jahres 1935, nach der »ein Zionist ein Nationalsozialist, ein Nazi ein Zionist« sei.49 Diese Sicht der Dinge war sicherlich nicht besonders differenziert, doch das soll dahingestellt bleiben. Roths Ablehnung des Nationalsozialismus ist klar, seine Ablehnung des Zionismus ist ebenfalls belegt, da sie deutlich zum Vorschein trat, »als er [Stefan, G. K.] Zweigs Plan ablehnte, den Zionistenführer Chaim Weizmann zu bitten, ein Manifest gegen die Nationalsozialisten zu unterschreiben«.50 Ob die Ablehnung des Zionismus nur darin begründet lag, »weil er der Meinung war, dessen nationalistische Inhalte seien die Geißel des zwanzigsten Jahrhunderts«51, mag angezweifelt werden, da Roth sich normalerweise [. . .] bemühte [. . .], seine jüdische Abstammung zu leugnen, er versuchte sogar, eine Geschichte zu erfinden, nach der er der uneheliche Sohn eines nichtjüdischen Vaters gewesen sei. Er betonte ausdrücklich, daß er auf den Nationalsozialismus – wie auf jede politische oder existenzielle Herausforderung – als Mensch und nicht als Jude reagiere [. . .]. Dieses Bekenntnis zum Weltbürgertum verhinderte aber nicht, daß sein Selbsthaß, so sehr er persönlich-psychologische Gründe hatte, sich in jüdischen Selbsthaß wandelte.52

Ein vierter Aspekt, den Roth in Beichte eines Mörders in die Figur des Lakatos mit integriert, ist sein Vorurteil gegenüber den Frauen. Das weiter oben angeführte längere Zitat, in dem Golubtschik Lakatos’ Aussehen beschreibt, deutet über das Beschriebene hinaus schon durch die vielen Verkleinerungsformen das Zierliche, Gezierte, eben auch das Feminine in Lakatos’ Wesen an. Hierfür findet sich eine Reihe noch eindeutigerer Zitate. Golubtschik erinnert sich an einer Stelle daran, wie er mit Lakatos und seiner eigenen Freundin Lutetia zusammen war: Es roch betäubend nach Schminke, Parfüm, Puder und Frau. Ich hatte vorher nichts von all diesen Gerüchen gespürt; oder ich hatte sie nicht gemerkt; was weiß ich? Auf einmal aber überfiel mich dieser vielfältige Geruch wie ein süßlicher Feind, und es war, als hätte ihn nicht Lutetia hinterlassen, sondern mein Freund Lakatos. Es war, als hätten vorher, bevor er angekommen war, die Parfüms, die Schminke, der Puder, die Frau gar nicht gerochen, sondern als hätte erst Lakatos alle diese Gerüche zum Leben erweckt.53

Lakatos wird ganz deutlich in den Bereich bzw. in die Nähe des Femininen verwiesen – ein weiterer Vorurteilsbereich für Roth, für den »die Frau zum Triebobjekt und zur Inkarnation der Selbstsucht [wurde], an der der Mann zugrundegeht«.54 So finden wir u. a. unter Roths Skizzen auch die folgenden – wenig schmeichelhaften – Bemerkungen über die Frau: 49 50 51 52 53 54

Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. und eingeleitet v. Hermann Kesten. Köln 1970, S. 420. Gershon Shaked: Die Macht der Identität. Frankfurt a. M. 1992, S. 69. Bruce F. Pauley: Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Wien 1993, S. 274. Shaked: Die Macht der Identität, S. 69. RW 6, S. 58 f. Bronsen: Joseph Roth, S. 271.

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Gábor Kerekes

Es ist viel leichter, mit einer Frau als aus ihr einen Menschen zu machen. Sie ist nämlich nur ein Gefäß für Menschen. Wie aber macht man doch einen Menschen aus einer Frau? Indem man: 1. sie nicht liebt. 2. sie nicht liebt. 3. sie nicht liebt. Wenn man sie aber doch liebt? – Da kann man nix machen! Die Sitte ist ebenfalls weiblichen Geschlechts. Ein Beweis dafür, wie wandelbar sie ist.55

Dieser Frauenhass ist nicht außergewöhnlich in der österreichischen Literatur. Er hat bereits in Otto Weininger einen Ideologen gefunden: »Er setzte Sexualität einfach mit der Frau gleich, die den Mann in den Krämpfen des Orgasmus ansteckt. Er diagnostizierte die Hysterie als eine der Frau spezifisch eigene Krankheit, hervorgerufen von dem Konflikt zwischen ihrer ausschließlich sexuellen Natur und dem Keuschheitsideal, das ihr der Mann auferlegt.«56 In der Reihe österreichischer Autoren, unter ihnen viele Juden, die die Frauen hassten, finden wir eben auch Joseph Roth.57

5. Fazit Die Bedeutung und Rolle des Fremden wandelt sich in den Werken Roths im Laufe der Jahre. Zunächst ist im Frühwerk das Fremde positiv konnotiert, die Fremden sind Helfer, während das Heimatliche, das Bekannte, Kälte ausströmt. Dies wandelt sich, bis sich schließlich das ursprüngliche Verhältnis gedreht hat: Das Fremde wird nun zum zerstörerischen Element. Blickt man über die Textwelt der Werke hinaus, so ist der Sachverhalt unübersehbar, dass für Roth das von ihm in seinen fiktionalen Werken als das Fremde Gestaltete ihm persönlich in vielen Fällen ebenso nicht fremd war, wie er das ebenda von ihm als das Bekannte Gestaltete auch nicht wirklich kannte – dass Roth z. B. bei aller Begeisterung für das Ostjüdische und das Slawische in diesen Bereichen bei weitem nicht dermaßen zuhause war, wie er das zu sein glaubte.58 55 56

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Bronsen: Joseph Roth, S. 272. William M. Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938. Wien, Köln, Weimar 1992 (= Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 1), S. 170. Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, S. 171. Bronsen hat z. B. gezeigt, dass Roths Beschreibung dessen, was ein »Batlen« unter den Ostjuden sei, vollkommen falsch ist, und Untersuchungen zu Roths Beschreibungen des Südslawischen im Radetzkymarsch zeigten wiederholt, dass Roth in dieser Hinsicht deutliche Defizite – oder zumindest Unsicherheiten – aufzuweisen hatte. Umgekehrt war er, was Ungarn anbetraf, nicht ohne eigene Erfahrungen und Bekannte. Vgl. Bronsen: Joseph Roth, S. 60.

Peter Henninger (†)

Erlebnis, Dichtung und Kritik in Robert Musils Literarischer Chronik vom August 1914* Abstract: This essay analyzes Robert Musil’s Literarische Chronik, a review of four volumes of short stories by Robert Walser, Franz Kafka, Max Brod, and Arthur Holitscher, published in August 1914. It considers Musil’s text as an attempt to come to terms with his concepts of the novella and the author, which he had developed in his own collection, Vereinigungen (1911).

Beim Lesen von Musils in der Neuen Rundschau im August 1914 unter dem Titel Literarische Chronik1 publizierten Sammelrezension fiel mir auf, dass diese Buchkritik der Forschung noch einiges zu sagen hat, dass sie vor allem auch darüber Auskunft gibt, welche Rolle dem Kontakt eines Schriftstellers mit den Schriften anderer Verfasser für sein eigenes Werk zukommt. Besprochen werden in Musils Rezension fünf Bücher von vier Verfassern, Robert Walsers Band Geschichten,2 Kafkas Betrachtung und das Fragment Der Heizer,3 ferner das Novellenbuch Weiberwirtschaft von Max Brod4 und von Arthur Holitscher der Band Geschichten aus zwei Welten.5 Den vier jeweils durch einen Zwischentitel abgehobenen Teilen, die den einzelnen Autoren gelten, steht ein einleitender Abschnitt voran, der den Titel »Die Novelle als Problem« trägt. Auf den ersten Blick mag es nicht außergewöhnlich sein, dass einer Kritik kürzerer erzählender Prosatexte eine allgemeine Betrachtung über diese Literaturgattung vorausgeschickt wird. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass dieser zwei Druckseiten umfassende Anfangsteil des Artikels sich als derjenige erweist, der dem Leser am meisten Rätsel aufgibt. Ein erstes ist schon der Gebrauch und das gehäufte Vorkommen *

1 2 3 4 5

Den vorliegenden Vortrag hat Peter Henninger anlässlich einer von Philip Payne an der University of Lancaster 2007 organisierten Tagung mit dem Titel »Re-contextualising Robert Musil. The author ›without qualities‹ and European Culture« gehalten. Er wird hier, von Rosmarie Zeller leicht redigiert und mit Nachweisen der Textzitate versehen, als Hommage an den Autor, der von 2001 bis zu seinem Tod 2008 Präsident der Internationalen RobertMusil-Gesellschaft war, abgedruckt. Robert Musil: Literarische Chronik [August 1914], in: GW II, S. 1465–1471. Eine Buchbesprechung aus dem Juni 1914 trägt den gleichen Titel (vgl. GW II, S. 1457–1464). Robert Walser: Geschichten. Mit Zeichnungen von Karl Walser. Leipzig 1914. Franz Kafka: Betrachtung. Leipzig 1913. Ders: Der Heizer. Ein Fragment. Leipzig 1913. Max Brod: Weiberwirtschaft. Drei Erzählungen. Berlin 1913. Arthur Holitscher: Geschichten aus zwei Welten. Berlin 1914.

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Peter Henninger (†)

des Wortes ›Erlebnis‹ in dieser Einleitung, mit dem der Text auch gleich einsetzt. Ein Erlebnis kann einen Menschen zum Mord treiben, ein anderes zu einem Leben fünf Jahre in der Einsamkeit; welches ist stärker? So, ungefähr, unterscheiden sich Novelle und Roman. Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung ergibt die Novelle; eine lang hin alles an sich saugende den Roman. (GW II, S. 1465)

Das Wort kehrt in verschiedener Form (in der Einzahl, im Plural und als Bestandteil eines Kompositums) auf den zwei Seiten noch sechs Mal wieder. Ebenso wird auch die Differenzierung der Novelle von den anderen Dichtungsgattungen noch weitergeführt: Ein bedeutender Dichter wird jederzeit einen bedeutenden Roman schreiben können (und ebenso ein Drama) [. . .]. Aber man möchte denken, daß er nur als Ausnahme eine bedeutende Novelle schreiben wird. Denn eine solche ist nicht er, sondern etwas, das über ihn hereinbricht, eine Erschütterung [. . .]. – In diesem einen Erlebnis vertieft sich plötzlich die Welt [. . .]; an diesem einen Beispiel glaubt er zu sehen, wie alles in Wahrheit sei: das ist das Erlebnis der Novelle. Dieses Erlebnis ist selten und wer es öfters hervorrufen will, betrügt sich. Die sagen, der Dichter hätte es immer, verwechseln es mit den gewöhnlichen intuitiven Elementen des Schaffens und kennen es überhaupt nicht. (GW II, S. 1465)

Unvermeidlich gemahnt der emphatische Gebrauch, den Musil hier von dem Wort ›Erlebnis‹ macht, an den Dichtungsbegriff Wilhelm Diltheys, wonach ein Dichtwerk in der sprachlichen Artikulation eines Erlebnisses seinen Ursprung findet.6 Zugleich aber bleibt der mögliche Zusammenhang mit Diltheys Lebensphilosophie dabei so vage, dass man sich keinen rechten Reim darauf machen kann, worauf die Anspielung abzielen könnte und wie sie zu interpretieren wäre. Fragt man, ob Musil sich je mit Diltheys Denken befasst hat, ist das Ergebnis ein ebenso zwiespältiges. Einerseits begegnet man im Nachlassmaterial zum Mann ohne Eigenschaften dem Namen Dilthey verhältnismäßig oft. In der digitalen Klagenfurter Ausgabe kann man nicht weniger als elf Okkurrenzen zählen. Andererseits aber kann die einzige Erwähnung des Philosophen in den zu Lebzeiten Musils gedruckten Texten wieder nur Anlass sein zu neuer Verwunderung. Die Stelle findet sich in dem Essay Symptomen-Theater I vom Juni 1922, wo es heißt: 6

Wilhelm Dilthey äußert diese Auffassung vor allem in seinem Werk: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. 4 Aufsätze. Leipzig 1906. Dilthey schreibt etwa im Kapitel »Goethe und die dichterische Phantasie«: »Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer die Lebenserfahrung, als persönliches Erlebnis oder als Verstehen anderer Menschen, gegenwärtiger wie vergangener, und der Geschehnisse, in denen sie zusammenwirkten. Jeder der unzähligen Lebenszustände, durch die der Dichter hindurchgeht, kann im psychologischen Sinn als Erlebnis bezeichnet werden: eine tiefergreifende Beziehung zu seiner Dichtung kommt nur denjenigen unter den Momenten seines Daseins zu, welche ihm e i n e n Z u g d e s L e b e n s aufschließen.« Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Hg. v. Gabriele Malsch. Göttingen 2005, S. 128 (= Gesammelte Schriften, Bd. XXVI).

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Vor die Wahl zwischen Impressionismus und Expressionismus gestellt, würde ich mich für den zwischen Deutschen von heute so wunderlich wirkenden toten Dilthey entscheiden, der die Sendung des großen Dichters in einer Linie mit der der großen Propheten, Denker, Weisen, Religionsbildner und andren großen Gestalter des Menschengeistes sah. Man messe einmal deutsche Künstler der Gegenwart an diesem geistigen Maß und man wird verstehn, warum die meisten – ob von dieser oder jener Partei – darauf halten, daß das Dichten eben das Dichten und eine Sache für sich bleiben müsse, welcher zuviel Intellektualität nur schaden kann. (GW II, S. 1097 f.)

Gestorben war Dilthey 1911, also noch vor dem Ersten Weltkrieg. Der Satz über den »zwischen Deutschen von heute so wunderlich wirkenden toten Dilthey« meint also dessen Unzeitgemäßheit in der Nachkriegssituation, in der Musil jedoch für ihn Partei zu ergreifen scheint. Nur kann man wegen der offenbaren Ungereimtheit, dass von der Wahl zwischen Impressionismus und Expressionismus die Rede ist und dann von der Entscheidung für etwas Drittes, nämlich Dilthey, das gar nicht zur Diskussion stand, nicht umhin, die zitierten Sätze als eine Art Witz zu empfinden. Dabei ist ihre Quelle, die Frisé ausfindig gemacht hat, der frühe, in den Gesammelten Schriften Diltheys wieder abgedruckte Aufsatz Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, auf den sich Musil etwa gleichzeitig (Anfang der 20er Jahre) zwei Mal im Tagebuch bezieht,7 und zwar in einwandfrei affirmativer Form: Dilthey habe in dem fraglichen Aufsatz erkannt, dass die »Ethiker«, als Beispiel nennt Musil »Kung-fu-tse, Lao-tse, Christus und Christentum, Nietzsche, die Mystiker, die Essayisten«, mit dem Dichter verwandt seien. Das Stichwort »Essayisten« führt uns zu einer weiteren Erwähnung Diltheys, diesmal in dem zu Lebzeiten ungedruckten Werk Musils, in einem allem Anschein nach vor dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Entwurf ohne Titel zu einem Aufsatz über den Essay, der mit dem Satz beginnt: »Für mich knüpfen sich an das Wort Essay Ethik und Ästhetik«, und wo Musil neben Maeterlinck, Emerson, Nietzsche auch Dilthey und Taine als »in den Kreis des Essays« gehörend bezeichnet (GW II, S. 1334–1337). Da im gleichen Text auch der Name Rathenau auftaucht, mit dem Musil im Januar 1914 in Berlin zusammentraf, entstanden diese Notizen zu einem Essay über den Essay offenbar etwa zu jener Zeit, zu der Musil die Literarische Chronik, die uns hier beschäftigt, verfasste, was es also durchaus plausibel erscheinen lässt, dass die nachdrückliche Verwendung, die dort von dem Wort ›Erlebnis‹ gemacht 7

KA/Transkriptionen/Heft 25/7 bzw. Tb I, S. 645. Die KA datiert das Heft etwas später (1923– 1924) als Frisé (1921–1923); vgl. auch: KA/Transkription/Mappe VI/2/55: »Wilh. Dilthey hat so das Wesen des Dichters bestimmt, indem er ihn in eine Reihe rückte mit den Religionsgründern u[nd] [-]veränderern, Kritik ist die dazugehörige begriffliche Theologie.« Musil benützte folgende Ausgabe: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: ders.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion. Leipzig 1914 (= Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, Bd. 2), S. 1–89.

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wird, tatsächlich auf den Begründer der Lebens- und Erlebnisphilosophie Wilhelm Dilthey Bezug nimmt. Da Dilthey bis 1905 einen Lehrstuhl an der Berliner Humboldt-Universität innehatte, hätte ihn Musil, als er im Jahre 1904 dort sein Philosophiestudium begann, also noch hören können. Mit Sicherheit war ihm von diesem Zeitpunkt an der Name des Professors geläufig. Völlig schleierhaft bleibt bis auf Weiteres nur, warum Musil es in seinem Text vom August 1914 unternahm, eine Art alternativer Novellentheorie zu entwickeln, in der das Erlebnis gewissermaßen als Initialzündung und notwendige Bedingung für das Zustandekommen eines Literaturwerks dieser Gattung fungiert. Aber lassen wir den Vorspann zur Literarischen Chronik vorläufig auf sich beruhen und wenden wir uns der Rezension der fünf Bücher zu. Die Nachwelt ganz allgemein (und nicht nur die Musil-Hagiographie) pflegt dem Kritiker große Achtung zu zollen, der so viel Gespür bewiesen hat, dass er bereits damals Kafkas Wert erkannt hat wie auch schon aufgrund weniger Textproben die Verwandtschaft zwischen dessen Schreibart und jener Walsers. Diese Hochschätzung von Musils kritischem Talent, das er später auch bei anderen Gelegenheiten noch beweisen sollte, geschieht sicher zu Recht. Allerdings tut es ihr keinen Abbruch, wenn man die Hintergründe des Zustandekommens der Sammelbesprechung mit in Betracht zieht, was für gewöhnlich unterbleibt. Erstens ist die Zusammenstellung Walser, Kafka, Brod, Holitscher kein reines Produkt des Zufalls. Jeder kennt die Rolle, die der sehr früh mit Berliner Literaturkreisen in Verbindung getretene Max Brod im Leben Kafkas gespielt hat. Nicht jedermann ist gegenwärtig, dass Franz Blei, der seit seiner 1907 erschienenen Törleß-Kritik mit Musil befreundet war und der ab 1912 in Berlin wohnte, Walsers literarischer Wegbereiter gewesen war,8 und dass Arthur Holitscher seinen Durchbruch als Autor dem 1912 erschienenen Buch Amerika heute und morgen verdankt. Dieses hat Kafka die wichtigsten Anregungen für seinen Roman Der Verschollene geliefert, woraus Musil das als Der Heizer. Ein Fragment 1913 veröffentlichte Anfangskapitel in seiner Literarischen Chronik bespricht. Hinzu kommt, dass – mit Ausnahme Walsers – alle Genannten (Blei, Kafka, Brod, Holitscher und nicht zu vergessen: Robert Musil) der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie entstammten. Musils Sammelrezension war, wenn man so sagen darf, das Produkt einer Art von ›kakanian connection‹. Die vier Unterabschnitte der Rezension behandeln in der schon erwähnten Ordnung Walser, Kafka, Brod und Holitscher. Die Reihenfolge impliziert zugleich eine Art Gewichtung. Es zeichnen sich dabei zwei Gruppen ab: eine 8

Franz Blei hat Walsers ersten Roman Geschwister Tanner besprochen, den er zusammen mit Musils Törleß heraushebt aus der Masse der Unterhaltungsliteratur. Franz Blei: Geschwister Tanner, in: Die Opale 1 (1907), S. 213–214; abgedruckt in: Katharina Kerr (Hg.): Über Robert Walser. Frankfurt a. M. 1978, Bd. 1, S. 63–64.

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erste mit Walser und Kafka, denen 60 bzw. 58 Zeilen gewidmet sind, und eine zweite mit Brod und Holitscher, die innerhalb von nur 45 bzw. 41 Zeilen abgehandelt werden. Fasst man den Zeitschriftenartikel als Ganzes ins Auge und bezieht man auch den 83 Zeilen umfassenden Vorspann in die Betrachtung ein, stellt man fest, dass die Gedanken über die »Novelle als Problem« insgesamt darauf hinauslaufen, dass Musil zwei Fälle scharf unterscheidet: Nämlich einerseits, was er als den »Idealfall der Novelle« bezeichnet, und andererseits die Novelle als »Handelsartikel«. Diese Differenz wird im letzten Absatz des Vorspanns genauer ausgeführt: »Dichtungen sind nur in einer Wurzel Utopien, in einer andren aber wirtschaftliche und soziale Produkte.« (GW II, S. 1466) Und schließlich zeigt sich, dass Musil nicht bloß zwei Novellentypen auseinanderhält, sondern auch zwei verschiedene Weisen, die Texte zu rezipieren und einzuschätzen, je nachdem, ob man »von der Erlebnisbedeutung« oder »von den ästhetischen Wundern« der Novelle spricht. Nun könnte man versucht sein, beide Sichtweisen und beide Novellentypen mit der unterschiedlichen Behandlung in Zusammenhang zu bringen, die innerhalb der Rezension den zwei Autorengruppen zuteil wird. Und diese Annahme erscheint ein Stück weit sogar recht plausibel, so wenn Musil von Holitschers Novellen sagt: »Sie haben einen sicher geführten Aufbau, haben Vortrag, Verve«, oder wenn er von dessen »Leistung« spricht – Ausdrücke, die sich auf schriftstellerische Qualitäten und ästhetische Werte beziehen. Und das Gleiche trifft auch für die Kommentierung von Brods Texten zu, an denen Musil aber ganz offensichtlich weniger Gefallen fand, wenn er etwa schreibt: »Und viel aus dem Kreis dieser seltsamen Reize ist auch in dem Novellenbuch«.9 Kurz, es erscheint nicht verfehlt, wenn man zum Schluss gelangt, Musil schätze im Rahmen dieses Aufsatzes Holitschers und Brods Kunst als die zweier ›Novellisten‹ ein, da es nun mal »Novellisten gibt und die Novelle ein Handelsartikel ist«, wie es im Vorspann heißt. Wenn man nun auf dieser Linie fortfahrend versuchen wollte, Musils Kommentar zu Walser und Kafka mit dem »Erlebnis der Novelle« in Zusammenhang zu bringen und mit dem »Idealfall der Novelle« in eins zu setzen, sieht man sofort, dass dies nicht funktioniert. Was Musil mit dieser Gegenüberstellung von der Novelle als Handelsartikel und der Novelle als Erlebnis gemeint hat, bezieht sich ganz offensichtlich auf etwas, das außerhalb der im Rezensionsteil des Artikels berührten Gegenstände liegt. Und tatsächlich: Wer sich ausgiebiger mit dem Musil’schen Frühwerk (bis 1914) befasst hat, kann nicht umhin, den Schluss zu ziehen, die in der Rezension kommentierten Bücher seien nur nominell fünf, in Wirklichkeit aber sechs an der Zahl: Der ganze Anfangsteil des Textes dreht sich in Wirklichkeit um Robert Mu9

Die »seltsamen Reize« beziehen sich auf das, was in Brods Novellen dargestellt ist und was Musil »Entzückungen, die für einfache Gemüter berechnet sind«, nennt (GW II, S. 1470).

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sils 1911 erschienenen Band Vereinigungen, genauer: um die erste Novelle in diesem Band: Die Vollendung der Liebe. Ich will hier nur daran erinnern, dass Musil, als er sein zweites Buch schrieb, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, mit sich selbst eine Art Wette eingegangen war, indem er sein weiteres Fortkommen als Schriftsteller auf diese eine Karte setzte. Er hat den Einsatz verspielt, was ihn für lange Jahre aus dem Gleichgewicht brachte. Er hatte schon, während er das Buch schrieb, das Gefühl, dass die Singularität dessen, was er zu Papier brachte, um verstanden zu werden, der Erläuterung bedarf. Er versuchte daher in mehreren Ansätzen, den Band mit einem Vorwort zu versehen,10 wobei diese Versuche einer theoretischen Rechtfertigung des Geschaffenen schon damals in Richtung gattungstheoretisch orientierter Überlegungen gingen. Faktisch sollte die Demonstration darauf hinauslaufen, dass es neben der konventionellen Novellenproduktion – beiläufig erwähnt er einmal die Namen von Heyse und Marie von Ebner-Eschenbach (vgl. GW II, S. 1323) – noch einen weiteren Novellentyp, nämlich den in dem Band Vereinigungen vertretenen, gäbe, der sich von dem, den die ›Novellisten‹ praktizieren, vorteilhaft abhebt. Neue Dringlichkeit bekamen diese Überlegungen, die jeweils schon nach wenigen Absätzen oder Zeilen zu versanden pflegten, nachdem das Buch erschienen war und Musil auf die zum größten Teil negativen Rezensionen antworten wollte. Dieser recht heiklen Aufgabe ist er, mit einer gewissen Verzögerung, aber in höchst eleganter Weise, in dem Essay Über Robert Musil’s Bücher gerecht geworden, welcher in der von Blei herausgegebenen Zeitschrift Der lose Vogel im Januar 1913 erschien (vgl. GW II, S. 995–1001). Was im Vorspruch der Literarischen Chronik vom August 1914 steht, ist also der Überhang von jener gattungspoetisch argumentierenden Selbstverteidigung, die sich über die Vorwortentwürfe hinaus in Texten niedergeschlagen hat, die Profil eines Programms überschrieben sind oder Novelleterlchen. Bei letztgenanntem Text, einer zur Versendung an eine Zeitschriftenredaktion bestimmten Reinschrift (am oberen Rand steht Musils Wiener Adresse), ist die Übereinstimmung des Vokabulars mit dem in der Vorrede zur WalserKafka-Brod-Holitscher-Rezension gebrauchten am frappierendsten: nicht nur hier wie dort die abschätzige Verwendung des Wortes »Novellisten«, sondern auch der Ausdruck »Glück der Kontur« oder die Formel »Wahl eines repräsentativen Augenblicks« – die in Novelleterlchen leicht abgewandelt erscheint als »das Repräsentative eines gut gewählten Augenblicks« (GW II, S. 1323). Das Interessante an den Ausführungen in der Literarischen Chronik über »Die Novelle als Problem« ist allerdings weniger die Wiederaufnahme von 10

Siehe die in GW II, S. 1311–1327, abgedruckten Texte: [Typus einer Erzählung] [1910/11?], Vorwort [1910/11], Vorwort zu den Novellen [1911], Vorwort zu Novellen [1911], Novellen [1911], Über 2 Novellen »Vereinigungen« von Robert Musil und über Kritik [1911/12], Profil eines Programms [1912], Novelleterlchen [1912].

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Gedanken aus der verworfenen Vereinigungen-Apologie als das Neue, das sich dort aufgrund der Konfrontation mit den Texten anderer Schriftsteller in Musils Selbstreflexion niederschlägt. Der zweite Absatz enthält in jeder Hinsicht erstaunlichste Sätze: Ein Mensch ist vorausgesetzt, der an sein Tun die stärksten Ansprüche stellt; dem Schreiben keine selbstverständliche Lebensäußerung ist, sondern der jedesmal eine besondere Rechtfertigung von sich dafür verlangt, wie für eine leidenschaftliche Handlung, die ihn (vor der Ewigkeit) exponiert. [. . .] Der durchaus nicht nur darauf angewiesen ist, sich auszudichten, sondern auch ein Denker ist [. . .]. Und der schließlich mit indianischer Eitelkeit zu tragen vermag, daß vieles ihm nicht zu sagen gelingt und mit ihm zugrunde gehn wird. Dieser Mensch wird freilich sogar selten ein Gedicht machen, seine Phantasie wird nicht strömen wie ein Brunnen auf einem öffentlichen Platz. Er wird fremd bleiben und ein Sonderling; er wird vielleicht gar kein Mensch sein, sondern ein Etwas in mehreren. Wenn Kritik einen Sinn hat, so ist er, diese Möglichkeit nicht zu vergessen [. . .]. (GW II, S. 1465 f.)

»Wenn Kritik einen Sinn hat. . .«, schreibt Musil – sehen wir zu, was ihm an den Erzählungen Walsers und Kafkas aufgefallen ist. Sein Kommentar zu Walsers »dreißig kleinen Geschichten« (genau genommen sind es siebenundzwanzig) schließt mit den Worten: Daß das keine Spielerei sei, möchte ich eigentlich gar nicht behaupten, aber es ist jedenfalls [. . .] keine schriftstellerische Spielerei, sondern eine menschliche, mit viel Weichheit, Träumerei, Freiheit und dem moralischen Reichtum eines jener scheinbar unnützen, trägen Tage, wo sich unsere festesten Überzeugungen in eine angenehme Gleichgültigkeit lockern. (GW II, S. 1468)

Bemerkenswert ist auch der autoreflexive Charakter dieses Satzes, wo sich das Gesagte in der Sprachform abbildet und der komplexe Satz sich in Entspannung auflöst. Die Formulierung »unsere festesten Überzeugungen« stellt mit der Pluralform des Pronomens sowohl die Verbindung zum Leser her wie sie zu erkennen gibt, dass der Sprecher das Bezeichnete, nämlich die Lockerung ›fester‹ Überzeugungen als eine Wohltat mitempfindet. Die Lockerung der festesten Überzeugungen bezieht sich auf den einzigen Text in Walsers Geschichten, dessen Titel Musil nennt, nämlich Theaterbrand, und den er auf folgende Weise kommentiert: Wir haben in vielen Dingen so feste Verhaltungsweisen unseres Gefühls, daß wir sie wie in den Dingen selbst gelegen behandeln. Wir finden [. . .] einen großen Theaterbrand zum Beispiel nie anders als ein entsetzliches Unglück. Nun könnte ihn jemand als ein prächtiges Unglück empfinden oder als ein wohlverdientes [. . .]. (GW II, S. 1467)

Diese Art sich aufzulehnen gegen vorgeformte Empfindungsweisen und Verhaltensmuster ist etwas dem Musil-Leser Wohlvertrautes, das man als nonkonformistische Moral kennzeichnen könnte oder als eine spezifische, diesem Autor zugehörige Form des Amoralismus. Auf jeden Fall etwas, das

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in wechselnden Ausprägungen im gesamten Werk zu finden ist. Mit anderen Worten: Was Musils Aufmerksamkeit im fremden Text erweckt, ist etwas ihm Eigenes, die moralische Haltung des Autors. Nicht viel anders verhält er sich übrigens bei seiner Begegnung mit Kafkas Heizer, gegen den er als einzigen von allen besprochenen Texten keinerlei Einwände vorbringt. Auch hier berührt ihn, was er »moralische Zartheit« nennt: Die Forderungen an das, was man tun soll, werden hier von einem Gewissen gestellt, das nicht von ethischen Grundsätzen getrieben wird, sondern von einer feinen, eindringlichen Reizbarkeit, welche fortwährend kleine Fragen von großer Bedeutung entdeckt [. . .]. (GW II, S. 1469)

Wiederum greift er ein Textbeispiel heraus und erläutert es. Es handelt sich um die Stelle in der Erzählung, wo nach der von Karl Roßmanns Onkel coram publico gegebenen Erklärung, dass sein Neffe von den Eltern zwecks Vermeidung von Alimentenzahlungen nach Amerika geschickt wurde, eine etwa eineinhalb Seiten lange Sequenz eingeblendet wird, die den Vorfall, welcher Karls Exilierung zur Folge hatte, aus dessen Perspektive schildert. Diesen Passus des Heizers zieht Musil in einen Satz zusammen: »Und dann steht inmitten von all dem eine Stelle, wo berichtet wird, wie eine ohne Liebe angejahrte Magd unbeholfen verlegen einen kleinen Jungen verführt« (GW II, S. 1469). Die Charakterisierung ist ebenso bündig wie exakt: In Kafkas Text wird das Alter des »angejahrte[n]« Dienstmädchens mit 35 Jahren angegeben, ebenso richtig ist, obwohl das nirgends gesagt wird, dass sie sich bei der Verführung »unbeholfen verlegen« anstellt. Nur dass die Magd »ohne Liebe« in die Jahre gekommen sei, ist eine, wenn auch plausible Folgerung Musils auf der Grundlage der Informationen, die Kafkas Text zur Verfügung stellt. Kurz, Musil hat sich die Szene assimilatorisch angeeignet, er hat Kafkas Text zu seinem gemacht. Dies braucht uns letztlich nicht zu verwundern, denn unerotische Sexualszenen nach Art der von Kafka hier geschilderten sind in Musils Werk, wenn nicht immer die Regel, so doch recht zahlreich. Wie soll man das, was geschieht, wenn Musil, wie hier im Falle Walsers und Kafkas seines Kritikeramtes waltet, interpretieren und nennen? – Vielleicht ein zu sich und zum Eigenen Finden im Text eines anderen? Die Formel, die Musil im Vorspruch zur Literarischen Chronik vom August 1914 dafür vorschlägt, ist eine viel radikalere. Bei der Schilderung des Menschen, der die ideale Novelle schreibt, welche zunächst auf ein Selbstporträt Musils hinauszulaufen scheint und welche den Dichter als »Sonderling« und »fremd« beschreibt, heißt es am Ende: »er wird vielleicht gar kein Mensch sein, sondern ein Etwas in mehreren.« (GW II, S. 1466) Auf dem Hintergrund der vor 40 Jahren in der Literaturtheorie geführten Diskussion um die Infragestellung von Subjekt, Autor und Werk mag Musils Ersetzung einer Text produzierenden Person, man nenne sie Dichter, Denker oder wie auch immer, durch »ein Etwas in mehreren« außerordentlich modern anmuten.

Erlebnis, Dichtung und Kritik in Robert Musils Literarischer Chronik

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Natürlich ist das ein Geistesblitz, ein nur hier festgehaltener Schreibeinfall. Immerhin hat die abendländische Kunstrevolution, die Abdankung des Autors, eben stattgefunden, knapp vor dem Ersten Weltkrieg. Es steht allerdings unmittelbar davor in dem Text auch noch ein anderer Satz, der seltsam berührt: »Er wird fremd bleiben und ein Sonderling«. Die Frage stellt sich, was Musil veranlasst haben mochte, ihn nach der Lektüre von jüngst erschienenen Geschichten und Novellensammlungen hinzuschreiben. Da Musil Walser und Kafka nicht gleich behandelt wie Brod und Holitscher, könnte dieser Satz ebenso wie die Erfahrung des »Etwas in mehreren« mit Musils Auseinandersetzung mit Kafka und Walser zusammenhängen. So ungleich Walser, Kafka und Musil auch sind, so sind sie in mancher Hinsicht dennoch insofern vergleichbar, als sie alle drei an der Peripherie des deutschen Sprachgebiets aufgetreten sind, was zweierlei impliziert: erstens ein besonderes Verhältnis zur Schriftsprache, was vor allem damit zusammenhängt, dass sie umgeben von anderen Sprachen groß geworden sind; und zweitens, dass sie vom Zentrum des deutschsprachigen Kulturlebens (zu der Zeit zweifellos Berlin) entfernt waren – daher der von allen drei Schriftstellern einmal oder mehrere Male unternommene Versuch, sich dort niederzulassen. Ein weiterer, ihnen gemeinsamer Zug ist ein gewisses Außenseitertum, das vor allem damit zusammenhängt, dass sie von der Schreibtätigkeit, die sie als ihre wahre Aufgabe empfanden, nicht leben konnten und deshalb den einen oder anderen Kompromiss eingehen mussten. Walser verlegte sich darauf, fürs Feuilleton und bald nur noch dafür zu schreiben. Kafka, der sich darauf nicht einlassen wollte, schrieb nachts und übte bei Tag seinen juristischen Beruf aus, Musil fand sich mit seiner Nebentätigkeit nur widerwillig ab, verweigerte auch bald den Dienst und war, bis der Krieg ihn der Notwendigkeit, weitere Kompromisse zu schließen, enthob, Herausgeber einer Zeitschrift, und als er der militärischen Pflichten ledig war, schrieb er wieder ein paar Jahre lang für die Zeitung. Und schließlich bestimmte der Außenseiterstatus auch das bürgerliche Leben der drei Autoren: Kafkas Widerstreit in Sachen Familiengründung, Walsers Junggesellentum, ja der eingestandene Verzicht auf sexuelle Kontakte, und Musils Rückzug mit dreißig Jahren in eine kinderlose Ehe. Und zu guter Letzt ist Walser, Kafka und Musil vor allem gemeinsam, dass das vorhandene Material, die Natur ihrer literarischen Hinterlassenschaft die Chance in sich barg, der Erfolglosigkeit dieser Schriftsteller posthum abzuhelfen, sodass sie fünfzehn oder zwanzig Jahre nach ihrem Tod die Anerkennung finden konnten, die ihnen zu Lebzeiten verwehrt worden war. Könnte es also sein, dass Musil, als er in der Buchbesprechung das Wort Sonderling gebrauchte, etwas sowohl von diesen Gemeinsamkeiten wie von solcher »Fügung des Geschicks« (GW II, S. 1465) innegeworden war?

Regina Schaunig

Viribus unitis Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität* Abstract: Contrary to the accepted opinion that Robert Musil lacked in political dedication, a consideration of his anonymous articles written during World War I raises some questions about the lieutenant being garrisoned at the southern front of the Habsburg Empire. The break in his literary writing was probably caused by his involvement in a propaganda battle against the Entente. He was constituted as a chief editor of both the (Tiroler) Soldaten-Zeitung (1916–1917) and the Viennese Heimat (1918), and organized the military newspapers as political organs to educate the servicemen, the civil population, and the state at the same time. He did not sign the stories with his name, but sometimes with the collective concept »editorship«. The list of texts potentially coming from the »editor« includes nearly 300 items. Regina Schaunig, an assistant to the digital Klagenfurter Ausgabe, to be published in 2012, wrote this article following new studies on the two war papers.

Im November 1917 wurde Robert Musil auf Antrag des Generalstabschefs der Heeresgruppe Feldmarschall Erzherzog Eugen Alfred Krauß (1862–1938) mit dem Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens dekoriert – einer Insignie mit karminrot emailliertem Goldkreuz und dem Bild des österreichischen Doppeladlers, der, an einer goldenen Kette befestigt, in seinen Schnäbeln den kaiserlichen Wappenspruch Viribus unitis (»Mit vereinten Kräften«) trägt. Er erhielt die gewöhnlich Angehörigen der sozialen Mittelschicht verliehene Auszeichnung für seine Tätigkeit als Chefredakteur der (Tiroler) SoldatenZeitung, eines der einflussreichsten Propagandablätter des Krieg führenden Vielvölkerstaates.1 Als »verantwortlicher Redakteur«, wie man die Position *

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Die Verfasserin ist für Anregungen und die Förderung dieses Beitrags folgenden Musil-Forschern zu Dank verpflichtet: Rosmarie Zeller, Karl Corino, Walter Fanta, Klaus Amann und Norbert Christian Wolf. Zur Begründung der Ordensverleihung heißt es im Antrag des Generalstabschefs: »Robert Musil [. . .] hat sich unter den schwierigsten Verhältnissen bereit erklärt, diese Zeitung fortzuführen. Er hat sie durch unermüdlichen Fleiß, besonderes Taktgefühl und außerordentliche Begabung auf eine solche Höhe gebracht, daß sie heute alle übrigen Soldatenzeitungen weit überragt und an der Front nicht allein durch ihre unterhaltenden, sondern insbesondere durch ihre belehrenden Aufsätze von ganz besonders patriotischem Einfluß ist. Dieser Einfluß wurde auch vom Armeekommando anerkannt; es hat dem Heeresgruppenkommando mit Op. Nr. 36771 vom 29. Jänner 1917 mitgeteilt, daß die Zeitung ›sehr gut und geschickt geführt ist‹, daß sie [›]eine Resonanz zu erreichen wußte, die in Österreich-Ungarn bei ei-

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des Chefredakteurs damals bezeichnete, setzte er gemäß den Prinzipien moderner psychologischer Kriegsführung2 Weisungen seiner militärischen Vorgesetzten um und wachte bis zur Auflösung der Zeitung über eine ihm gleichfalls von höherer Stelle vorgegebene politische Linie. Musil reagierte in dieser Funktion wiederholt auf kritische Stellungnahmen und Vorwürfe seitens betroffener Leser, ziviler Behörden und argwöhnischer Beobachter aus der regionalen Presselandschaft. Im Gegensatz zu den verantwortlichen Schriftleitern vergleichbarer Soldatenzeitungen wie Leutnant Alois (Luigi) Cavaler von der in Klagenfurt gedruckten KarnischJulischen Kriegszeitung zeichnete Musil die politischen Stellungnahmen, Entgegnungen, Kommentare und Leitartikel seines Blattes nicht mit seinem eigenen Namen, sondern unterschrieb sie (gleichsam im Pluralis Majestatis) mit »Die Schriftleitung«. Betrachtet man im Kontext dieser Kollektivierung Musils übrige anonym oder unter einem Pseudonym erschienene Zeitungsprosa seit 1898,3 in der er den Grad einer Autorisierung eindeutig von der Qualität der Texte abhängig machte, erscheint es mehr als begreiflich, dass der Autor und frühere Redakteur der Berliner Neuen Rundschau sich weigerte, seinen Namen für militärisch-politische Propagandazwecke zur Verfügung zu stellen, auch wenn dies seit Ausbruch des Krieges – nach Thomas Manns Worten ein Akt der »Reinigung, Befreiung [. . .] und eine[r] ungeheure[n] Hoffnung« – eine große Zahl seiner Schriftstellerkollegen voll Begeisterung und Selbstvergessenheit taten.4 Obgleich Musil in Tagebuchaufzeichnungen und einem Essayfragment den Ausbruch des Krieges als »religiöses Erlebnis« beschreibt, übertrug er dieses Fazit nicht ungebrochen in sein literarisches Schaffen.5 Er setzte

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5

nem militärischen Blatt einzigartig dasteht‹. Da diese Leistungen lediglich dem LandsturmOberleutnant Dr. Musil zuzuschreiben sind, halte ich ihn für eine neuerliche allerhöchste Auszeichnung für besonders würdig.« Zit. nach: Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, in: Karl Dinklage (Hg.): Leben – Werk – Wirkung. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 187–264, hier S. 230 f. Vgl. M. L. Sanders, Philip M. Taylor: Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg 1914–1918. Berlin 1990 (= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 12). Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 11 Kleine Prosa bzw. den entsprechenden Werkkommentar. Zit. nach: Eberhard Sauermann: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar 2000 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 4), S. 361. Robert Musil Anfang 1918 zum Stichwort »Roman«: »Das ›große Erlebnis‹. Ohne Kritik darstellen; den Rausch. Etwas, das Gott nahebringt, das Gefühl einen Göthe u. u. u. zu verteidigen, das die Inversion von Todesunbehagen zu Lebenshingabe bewirkt, ist nichts Geringes.« KA/Transkriptionen/Heft II/52; vgl. ebenso: »Es war ganz richtig, was man anfangs gestammelt hat u. später zur Phrase entarten ließ: der Krieg war ein religiöses Erlebnis. Wie immer bleibt dann der leere Nimbus des Worts. Man muß das religiöse Erlebnis durch den Krieg verstehn, nicht umgekehrt. Das Irrationale, Unvernünftige des Kriegs. Das Aufreißen des Problems der Existenz. Ich jammere nicht darüber, daß der Krieg zu lang gedauert hat um das zu bewahren; die nachträglichen Auslegungsversuche hätten es auch zerstört. Mir selbst ist es bald verloren gegangen; warum? Es blieb nur wo man allein mit dem Tod, dem unsichtbaren

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sich noch im Herbst 1914 im Rahmen der Septembernummer der Neuen Rundschau essayistisch mit dem Kriegsbeginn auseinander, doch vertrat er in diesem Text mit dem Titel Europäertum, Krieg, Deutschtum keineswegs politische und volkserzieherische Konzepte, wie sie in den Beiträgen der beiden von Musil wenig später geleiteten Propagandablätter, der (Tiroler) Soldaten-Zeitung (08. 07. 1916–15. 04. 1917) und der Zeitschrift Heimat (07. 03. 1918–24. 10. 1918), zutage traten. Vor und nach seiner Abkommandierung zu den beiden Soldatenzeitungen wirkten seine politischen Stellungnahmen sehr zurückhaltend.6 Konnte sich Robert Musil nach dem »Sommererlebnis« von 1914 aber derart gewandelt haben, dass er vom distanziert beobachtenden Autor plötzlich zum Vorkämpfer realpolitischer Anschauungen und zu einem Propagandastrategen wurde, dass er sich für die politische Richtung des Zentralismus und gegen den Parlamentarismus bzw. Nationalismus entschied, dass er davon überzeugt war, dass Pazifismus grundsätzlich von Übel sei und nur ein heldenhaftes, unbedingtes und jedwedes Opfer rechtfertigendes Ringen um den Sieg der k. u. k. Armee die Zukunft Österreichs und eine Erneuerung des Staates bewirken könne? Nachdem er als Soldat zwischen Sommer 1914 und Sommer 1916 eher landschaftliche Schönheiten und kulturelle Eigenheiten seines Einsatzgebietes sowie hin und wieder eine Beobachtung der Kampfhandlungen an der italienischen Südfront einer Eintragung ins Tagebuch würdigte, erscheint es sehr verwunderlich, dass der Autor mit seiner Übernahme der Schriftleitung der (Tiroler) Soldaten-Zeitung am 8. Juli 1916 gleichsam über Nacht zum Propagandisten politischer Reformen geworden sein sollte – es sei denn, er erfüllte seine Aufgaben, wie es in der Begründung der RitterkreuzVerleihung heißt, »durch unermüdlichen Fleiß, besonderes Taktgefühl und außerordentliche Begabung«7 nicht im Dienste seiner Interessen als Schriftsteller, sondern in Erfüllung militärischer Pflichten und Befehle, wobei die Bedingungen eines solchen Schreibens in ›höherem Auftrag‹ psychologisch sicherlich noch weiter zu untersuchen wären. Das Prinzip militärischer Pflichterfüllung würde allerdings erklären, warum Musil die Texte oder Passagen seiner propagandistischen Produktionen andernorts nicht erwähnte, sie offensichtlich nicht in sein literarisches Werk einfließen ließ und es nach dem Ende des Krieges auch nicht für nötig hielt, sich für allzu patriotisch-blauäugige Entgleisungen zu entschuldigen. Was er schrieb, was er vertrat, schrieb und vertrat er augenscheinlich nicht als Autor, sondern als weisungsgebundener Angehöriger der Krieg führenden

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Gegner u. der Natur war.« KA/Transkriptionen/Heft 19/20. Vgl. auch Das Ende des Krieges (1918), in: KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/492–497. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007. Zit. nach: Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, S. 230.

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Armee. Seine spätere völlige Ausklammerung dieses Kapitels entsprang vielleicht weniger einem psychischen Verdrängungsmechanismus, als vielmehr der Tatsache, dass er seinen Propagandaauftrag bei den Soldatenblättern als Teil seines Kriegsdienstes verstand und im Kollektiv aller unter höherem Befehl »vereinten Kräfte« aufgehoben sah. Mag Musil in dieser Lebensphase als Autor auch interessante Anregungen empfangen haben, wie sie etwa im Dramenfragment Der kleine Napoleon/Panama wiederkehren,8 so verstand er doch sein Schreiben und Redigieren als verantwortlicher Schriftleiter nicht als Teil seines Werkes. Der vorliegende Beitrag entstand im Zusammenhang mit Studien im Rahmen der Klagenfurter Ausgabe des Gesamtwerks Robert Musils (erste Ausgabe 2009, geplantes Update April 2012), in denen es um ein wissenschaftliches Konzept zur Edition der Kriegspublizistik ging. Die Frage, die das Herausgeberteam der Klagenfurter Ausgabe beschäftigte, war, welche und wie viele Texte der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und der Heimat als Texte Musils ausgewiesen bzw. als Lesetexte dargestellt werden sollten und wie die Zuschreibungen im Einzelnen zu begründen seien, wobei die Vorschläge und Argumentationsweisen, die bisher von Musil-Forschern erbracht wurden, den Ansprüchen einer historisch-kritischen Edition streng genommen nur in ganz wenigen Fällen wirklich genügen konnten. Bei der Erstellungen der Klagenfurter Ausgabe war es dementsprechend notwendig, die beiden Soldatenzeitungen im Hinblick auf eine Auswahl von Beiträgen Musils wissenschaftlich zu untersuchen. Diesem Auftrag konnte insofern nur begrenzt entsprochen werden, als im Fall der Heimat bisher nur die Hälfte aller Exemplare auffindbar war.9 Noch schwieriger ist es festzustellen, welche Beiträge in die ebenso fragmentarisch erhaltenen ungarischen bzw. tschechischen Ausgaben eingegangen sind. Durch den militärischen Schriftverkehr wird dazu nahegelegt, dass Artikel der (Tiroler) Soldaten-Zeitung auch in anderen Militärblättern oder sogar in zivilen Organen publiziert worden sind.10 Trotz dieser noch unvollständigen Quellenlage schien es methodisch sinnvoll, die Gesamtheit der derzeit verfügbaren Texte zu analysieren. Es galt, das Profil und den redaktionellen Aufbau der beiden Zeitungen miteinander zu vergleichen und auf der Grundlage beobachteter Übereinstimmungen Musils Haltung als Chefredakteur näher zu beleuchten. Die recht zurückhaltende Zuschreibungsdiskussion 8 9

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KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Dramatische Fragmente/Unvollendete Projekte/Der kleine Napoleon. Von den deutschsprachigen Nummern der Heimat haben sich nur etwa die Hälfte der Exemplare in der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten, in Leipzig gab es noch vor einiger Zeit zusätzliche Bestände, die aktuellen Mitteilungen zufolge jedoch nicht mehr auffindbar sind. Vgl. Roman Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte«? Die »(Tiroler) Soldaten-Zeitung« 1915–1917, in: eForum zeitGeschichte 3/4 (2001), www. eforum-zeitgeschichte.at (Zugriff am 03. 01. 2011).

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in Bezug auf Musils Beiträge in den beiden Soldatenzeitungen könnte damit neu angeregt und auf eine breitere Basis gestellt werden. Bisher ging diese Diskussion von unterschiedlichen Vorstellungen eines Musil’schen ›Stils‹ aus und betrieb eine vorerst individualistische, wenig systematische Suche nach Soldaten-Zeitungs- und Heimat-Texten. Den Anfang der Bemühungen um die Zuschreibung publizistischer Kriegstexte machte 1960 der Historiker und Archivar Karl Dinklage. Er vertrat die auch spätere Forschungsansätze prägende Ansicht, Musil habe »nur einen gewissen und keineswegs großen Anteil von eigenen Arbeiten zur ›Soldaten-Zeitung‹ beigetragen und sich im Rahmen seiner Kompetenz vorwiegend der Leitung und Ausrichtung dieses Publikationsorgans gewidmet«.11 In dem von Dinklage herausgegebenen Sammelband Leben – Werk – Wirkung wurden die ersten beiden Soldaten-Zeitungs-Texte Seiner Hochwohlgeboren! und Vermächtnis abgedruckt.12 Den nächsten Schritt setzte die Saarbrückener Musil-Forscherin Marie-Louise Roth, indem sie im Anhang ihrer Untersuchung Robert Musil. Ethik und Ästhetik 17 Beiträge von Herr Tüchtig und Herr Wichtig bis zu Vermächtnis Musil zuschrieb und einen davon, Eine österreichische Kultur, vollständig abdruckte.13 Die Kriterien für diese Zuschreibungen wurden von Roth nicht weiter diskutiert. Karl Corino wies in einem 1973 publizierten Aufsatz auf eindeutige Übereinstimmungen zwischen der Soldaten-ZeitungsKurzprosa Aus der Geschichte eines Regiments und Musils Tagebuchaufzeichnungen während des Krieges hin.14 Nach diesen verstreuten Anläufen zu einer Identifizierung der Musil’schen Kriegspublizistik führte Helmut Arntzen 1980 in seinem Kommentar zu den unselbständig erschienenen Schriften des Autors eine Abstufung der Sicherheit von Zuschreibungen ein, die von »mit einiger Sicherheit« bis zu »mit einiger Wahrscheinlichkeit« reichte. Zusätzlich zu den drei Beiträgen, die Dinklage und Corino ausgewählt hatten, schrieb Arntzen noch den Leitartikel Eine gute persönliche Beziehung Musil zu.15 Bei den weiteren neun von Marie-Louise Roth Musil zugeschriebenen Texten, die er »mit einiger Wahrscheinlichkeit« gelten ließ, schränkte Arntzen – ohne dies näher zu begründen – die Zuschreibung des Beitrags Sonderbare Patrioten durch den Zusatz »[bis auf den Schluß]« weiter ein. Fünf Beiträge aus Roths Zuschreibungsliste von 1972 wurden von ihm »mit einiger Sicherheit« Musil wiederum aberkannt: Herr Tüchtig und Herr Wichtig, Opportunität, Föde11 12 13 14 15

Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, S. 229. Dinklage (Hg.): Leben – Werk – Wirkung, S. 265–272. Marie-Louise Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. München 1972, S. 528. Im MusilForum 4/2 (1978), S. 187–192, wurde der Text Herr Tüchtig und Herr Wichtig abgedruckt. Karl Corino: Robert Musil, Aus der Geschichte eines Regiments, in: Studi Germanici 11 (1973), S. 109–115. Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. München 1980, S. 179.

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ralismus und Zentralismus, Ist die »österreichische Frage« schwierig?, Der Frieden versprochen! und Presse und Krieg. Dafür stellte er in einer vierten Liste neun »weitere Texte« zur Diskussion.16 Eine erste geschlossene Edition von 36 Musil zugeschriebenen, bis dahin nur verstreut abgedruckten Beiträgen aus der (Tiroler) Soldaten-Zeitung in italienischer Übersetzung besorgte 1987 eine Forschergruppe unter Leitung von Fernando Orlandi.17 Zugleich entstand im Umfeld dieser Publikation die bisher einzige Dissertation zur vorliegenden Thematik mit dem Titel Robert Musils Beiträge in der »Soldatenzeitung« von Elena Giovannini.18 Sie hat einzelne Artikel der (Tiroler) Soldaten-Zeitung erstmals einer wissenschaftlichen Textanalyse unterzogen und interessante stilistische und ideologische Parallelstellen zu den Essays Politik in Österreich (1912), Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914), dem Essayfragment Das Ende des Krieges19 und dem Mann ohne Eigenschaften zutage gefördert. Karl Corino weitete seine Recherchen Ende der 80er Jahre erstmals auch auf das zweite Soldatenblatt aus, das unter Musils Leitung erschien, nämlich die Heimat, und vertrat die Auffassung, dass der Leitartikel Der Staat vom 16. Mai 1918 »mit ziemlicher Sicherheit« von Musil selbst verfasst wurde.20 Als Zeugin für eine weitere Zuschreibung lässt sich Martha Musil zitieren, die in Bezug auf den Beitrag Kriegswucher. Taschendiebe beim Weltbrand vom 25. April 1918 ihrer Tochter Annina mitteilte: »Der Leitartikel ist von Robert. Man sieht ihr [der Heimat, R. S.] nicht an, daß sie vom K.[riegs] P.[resse] Q.[uartier] herausgegeben wird, es soll auch nicht bekannt werden. Offiziell ist Robert der Besitzer der Zeitung.«21 16

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19 20 21

Arntzen: Musil-Kommentar, S. 180. Es sind die Texte Kameraden arbeitet mit!, Bin ich ein Oesterreicher?, Das Schlagwort, Die Erziehung zum Staat, Aus einer öffentlichen Schwulstfabrik, Schnucki in der »großen« Zeit, Luxussteuern, Das Staatsprogramm der Deutschen sowie Teile der Rubrik Kannst Du Deutsch? Alessandro Fontanari, Massimo Libardi: La guerra come sintomo, in: Robert Musil: La guerra parallela. Trento 1987, S. 201–255. Elena Giovannini: Robert Musils Beiträge in der »Soldatenzeitung«. Dissertation Universität Pescara, S. 41 f. Eine Kurzfassung der Dissertation erschien im Musil-Forum: Elena Giovannini: Der Parallel-Krieg. Zu Musils Arbeit in der »Soldatenzeitung«, in: Musil-Forum 13–14 (1987/88), S. 88–99. Giovannini differenziert in ihrer Dissertation zwischen »gesellschaftlichpolitischen Anschauungen« und Propagandaformulierungen Musils. Die pädagogische Ausrichtung der dem Autor zugeschriebenen Texte und die Verwendung damals allgegenwärtiger Phrasen wird von ihr nicht gewertet und mit dem Hinweis auf das Publikationsorgan (»Musil schreibt so, wie es in einer solchen Zeitung [einem Agitationsblatt] angebracht ist«) und eine ähnliche Position Franz Grillparzers entschuldigt, der während der Revolution von 1848 eine Auflösung der Habsburgermonarchie befürchtet hatte (vgl. S. 50 bzw. 141). KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/Politik in Österreich, KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/Europäertum, Krieg, Deutschtum bzw. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/93–98. Karl Corino: Profil einer Soldatenzeitung aus dem Ersten Weltkrieg, »Heimat«, und ihres Herausgebers Robert Musil, in: Musil-Forum 13–14 (1987/88), S. 74–87. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 29. März 1918.

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2001 erschien im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Innsbruck eine grundlegende Studie zur (Tiroler) Soldaten-Zeitung als Teil des Tiroler Pressewesens von 1914 bis 1918. Der Historiker Roman Urbaner förderte darin eine Fülle interessanter Details aus den Akten zuständiger militärischer und ziviler Verwaltungsstellen rund um die Bozener Redaktion zutage und erschloss außerdem einen Teil des publizistischen Umfelds, in dem Musil zwischen 1916 und 1917 wirkte.22 Als Teil seiner biografischen Auseinandersetzung mit Musils Kriegspublizistik analysierte Karl Corino 2003 nochmals die von ihm identifizierten Texte und druckte in einer Fußnote einen weiteren Feuilletonartikel mit dem Titel Der Augenzeuge ab.23 Seine letzte Zuschreibung (des Leitartikels Kunst hinter der Front) stammt aus dem Jahr 2010.24 Was ganz allgemein die Anzahl der Texte betrifft, die Musil zugeschrieben werden können, ist Corino der Meinung, dass noch viele – wenn nicht gar alle – Leitartikel sowie auch zahlreiche Feuilletonbeiträge in den beiden Soldatenzeitungen von Musil stammen könnten.25 Von der Notwendigkeit editorischer Entscheidungen und der Annahme ausgehend, dass beim Versuch, Musils Kriegspublizistik zu identifizieren, in jedem Fall eine Grauzone niemals eindeutig zuschreibbarer Texte bestehen bleiben wird, entschied sich die Verfasserin dieses Beitrags dazu, ihre Untersuchungen nicht wie bisher auf eine punktuelle Auswahl, sondern auf kontextuelle Strukturen im Gesamtkorpus auszurichten. Gesucht wurde nicht nach Einzeltexten, sondern nach Textgruppen, nicht nach markanten Stichworten und Motiven, sondern nach Strukturen, Linien und Entwicklungen. Die bisherige Recherche innerhalb der Kriegszeitungen, die sich auf das Ziel konkreter Identifikationen von ›Musil-Texten‹ richtete, manövrierte sich schon vom Ansatz her in eine Sackgasse, indem sie ignorierte, dass Musil innerhalb seiner speziellen Funktion als Chefredakteur nicht als Autor, sondern als Befehlsempfänger handelte. Aus dieser Überlegung heraus konzentrierte sich die Untersuchung besonders auf die redaktionellen Strukturen der beiden Militärblätter und einen Vergleich der Beiträge untereinander. Beim Studium der 43 Nummern der (Tiroler) Soldaten-Zeitung, an denen Musil nachweislich mitwirkte, und der 17 (von 34) erhaltenen Nummern der Heimat fällt die große Einheitlichkeit der redaktionellen Aufmachung und 22

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Der Titel des Forschungsprojektes lautete »Tirol im Ersten Weltkrieg«. Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 1–27. In einem späteren Beitrag erhebt Urbaner die Forderung nach weiteren Auseinandersetzungen mit der Thematik und einer deutschsprachigen Edition der Soldatenzeitungsbeiträge Musils. Vgl. Roman Urbaner: Schriftführer Musil: Der Jahrhundertschriftsteller als Chefredakteur der Soldatenzeitung, in: Quart-Heft für Kultur Tirol 5 (2005), S. 54–67. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg, S. 1759, Anm. 7; SoldatenZeitung 2/29 (24. 12. 1916), S. 8. Karl Corino: Klaviersonnen über Schluchten des Gemüts. Robert Musil und die Musik, in: Das Plateau Nr. 120 (02. 08. 2010), S. 12–13; Soldaten-Zeitung 2/18 (08. 10. 1916), S. 7. Elektronische Mitteilung an die Verfasserin.

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des Zeitungsstils ins Auge. Insbesondere weisen die politisch motivierten Beiträge der beiden Blätter viele Übereinstimmungen auf, obwohl die 1918 erschienene Heimat im Vergleich zu ihrer Vorgängerin ihr kritisches Engagement deutlich abschwächt.26 Angesichts der Parallelen zwischen den beiden Presseorganen lässt sich, vor allem in redaktioneller Hinsicht, ein gemeinsamer ›Werkmeister‹ nur bestätigen. In der (Tiroler) Soldaten-Zeitung spricht die »Schriftleitung« als selbstbewusste, meinungsbildende Instanz und Vertreterin einer, allen Angriffen zum Trotz, unbeirrt beibehaltenen Blattlinie. Unter der neuen militärischen Kommandoführung in der Heimat-Redaktion des Wiener k. u. k. Kriegspressequartiers (KPQ) wird diese Linie fortgesetzt – allerdings unter dem Banner einer etwas ›biedermeierlichen‹ Zurückhaltung. Zu den Parallelen zählen neben formalen und stilistischen Merkmalen unter anderem recht markante Titel, die auch über weniger gut formulierten Beiträgen erscheinen, ebenso die Gepflogenheit, Fremdtexte aus einschlägigen Büchern und renommierten Presseorganen für sich selbst sprechen zu lassen und nur mit kurzen redaktionellen Bemerkungen zu kommentieren. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch die charakteristische Form eines pädagogischen Schreibens, das sich einerseits auf ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen der Schriftleitung und den im Felde stehenden Soldaten stützt und andererseits warme patriotische Töne anschlägt, wenn es sich an die österreichische Zivilbevölkerung richtet. Unterschiede zwischen den beiden Soldatenblättern ergeben sich zum Teil aus der Zusammensetzung der beiden Redaktionen, wobei Musil in Wien geradezu mit einem Überfluss an zugeteilten Schriftstellern gesegnet war, während seine Mitarbeiter in Bozen nach derzeitiger Einschätzung nur begrenzt in der Lage gewesen sein konnten, brauchbare Beiträge beizusteuern.27 Stilistische Disharmonien ergeben sich in den zusammengenommen über 200 anonymen Beiträgen politischen Inhalts vor allem durch Schwankungen im pädagogisch-patriotischen Engagement und einem davon abhängigen intellektuellen und stilistischen Niveau, das mitunter – vor allem in der Endphase des Kriegs – merklich abnahm. Die bisherige Zuschreibungspraxis orientierte sich nicht zuletzt an diesen Niveauunterschieden, indem sie bei ihrer Auswahl von Artikeln vor allem auf ironisch-kritische Elemente und brillante Formulierungen achtete. Die im Gesamtkorpus der beiden Zeitungen erfassten strukturellen und stilistischen Zusammenhänge und Differenzierungen erlauben eine Definition einzelner Textgruppen als ›redaktionell eher abhängig‹ bzw. ›redaktio26 27

Vgl. das programmatische Flugblatt vom 7. März 1918 als Beilage zu: Heimat 1/1 (07. 03. 1918). Der Mitarbeiterstab der Soldaten-Zeitung setzte sich noch aus zwei Oberleutnants, Hans Kleindienst und Ernst Feigl, sowie Leutnant Rudolf Neumann zusammen. Das Kürzel »r. n.« (= Rudolf Neumann?) steht lediglich unter einem Beitrag mit dem Titel Über die Entstehung der Kurzsichtigkeit; Soldaten-Zeitung 2/24 (19. 11. 1916), S. 8–9. Vgl. auch Dinklage (Hg.): Leben – Werk – Wirkung, S. 228.

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nell eher unabhängig‹. Den Kern der redaktionell und in der Regel meinungsbildend gestalteten Texte bilden dabei jene, die mit »Die Schriftleitung« unterzeichnet oder mit der souveränen Geste eines Chefredakteurs präsentiert werden. Entsprechend der Unterteilung in Rubriken ließen sich einzelne Bereiche der Soldatenzeitungen als weitgehend ›redaktionsunabhängig‹ bestimmen, wie etwa die Rubrik zu Landwirtschaftsthemen. Außerhalb der politischen Linie der Zeitung steht eine zweite Gruppe von Texten, in denen Musils Handschrift deutlich wird, nämlich die populärwissenschaftliche und feuilletonistische Prosa, beispielsweise Buchkritiken und Sprachglossen. In diesen Beiträgen agierte der Autor offensichtlich weniger weisungsgebunden. Man könnte also argumentieren, dass sich gegenüber den politischen Artikeln in den eher ›literarischen‹ Beiträgen Musils vielleicht vermehrt persönliche Schreibinteressen manifestierten. Eine Sonderstellung nehmen außerdem einzelne Fachartikel ein, die von der sachlichen Kompetenz her dem enzyklopädisch gebildeten Autor durchaus zuzutrauen sind, stilistisch jedoch kaum markante Merkmale aufweisen.28 Musils Stil lässt sich gerade im Fall von Gebrauchstexten und populärwissenschaftlichen Arbeiten, wie er sie zwischen 1921 und 1932 in finanziell prekären Lebensphasen verfasste, nur mit Hilfe brieflicher Hinweise wiedererkennen, zumal diese sich, wie beispielsweise die ebenfalls anonym erschienenen Kulturchroniken für die Prager Presse,29 völlig der geforderten Sachlichkeit unterordnen. Stilistisch neutral wirken neben der Dissertation Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) auch die beiden frühen Aufsätze Musils über Die Kraftmaschinen des Kleingewerbes30 und Die Beheizung der Wohn28

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Die Zuschreibung von Texten aufgrund stilistischer Eigenheiten ist grundsätzlich problematisch. Anders als die Texte Shakespeares, die ein beliebtes Objekt stilometrischer Untersuchungen bilden, wurden die Soldatenzeitungsbeiträge bisher keiner forensischen Analyse unterzogen. Stilistische Merkmale wie Satzlänge, Häufigkeit einzelner Wörter, Umfang und Differenziertheit des Wortschatzes sowie syntaktische Spezifika können heute mit Hilfe aufwändiger Computerprogramme in Vergleichstabellen aufgelistet werden und unterstützen Kriminalisten und Plagiatjäger bei ihren Recherchen. Die Ergebnisse der aufwändigen Untersuchungen vermögen jedoch nur Vergleichswerte, keine absoluten Beweise zu liefern. Die Idee vom sicher identifizierbaren ›sprachlichen Fingerabdruck‹ eines Textes erweist sich dabei als Mythos. Auch die Erstellung sogenannter Autorprofile gemäß Herkunft, Muttersprache/Dialekt, Alter, Beruf, Bildung, Weltanschauung, Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen usw. lässt bestenfalls »mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeiten möglicher Zuschreibungen« erwarten. Vgl. dazu Christa Derm: Sprachwissenschaft und Kriminalistik: Zur Praxis der Autorerkennung, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 31/1 (2003), S. 44– 77. In diesen Feuilletonbeiträgen widmete sich Musil Themen wie dem Nervenschock, der Tuberkulose, Wirtschaftsfragen, der Technik, der medizinischen Literatur sowie der Begabungsund Vererbungsforschung. Er nannte es ein Schreiben »vom Melonenbaum und dem Gurkenstrauch« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Arne Laurin, 15. Juni 1923). Publiziert in 4 Teilen in: Natur und Kultur. Zeitschrift für Jugend und Volk 1/10–14 (15. 02.– 15. 04. 1904), S. 305–309, 330–336, 374–378, 434–441.

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räume.31 An den »populärwissenschaftlich[en]« Arbeiten32 des Autors fällt jedoch eine wie selbstverständlich anmutende volkserzieherische Absicht auf. Musil schreibt hier etwa: »Gerade in betreff der Heizung wird noch recht viel gesündigt. Es kommt daher, daß die Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse häufig eine mangelhafte ist«.33 Die sachlich-belehrende Haltung findet eine sehr ausgeprägte Parallele in einzelnen Leitartikeln der Soldaten-Zeitung. Unter dem Titel Die Speisepumpe wird auf ebenso anschauliche wie populärwissenschaftliche Weise der Staatshaushalt der gerade Krieg führenden österreichisch-ungarischen Monarchie erklärt (und für die Zeichnung der 5. Kriegsanleihe geworben): Hast Du schon einmal eine große Dampfmaschine gesehen? Die braucht Kohlen und Oel und Wasser. Und erst, wenn alles in genügender Menge vorhanden, dann drehen sich die Scheiben und fliegen die Kolben. Kohlen siehst Du greifbar in großen Haufen vor Dir, das Oel zittert in den großen Glasbechern und Du siehst es tropfenweise heruntersickern und zwischen den bewegenden Teilen glänzen. Nur das Wasser siehst Du nicht, aber Du weißt, es ist da, und ganz hinten zeigt man Dir ein unscheinbares Ding, aber doch die Seele der Maschine: Die Speisepumpe. Aus irgend einem Sammelbecken entnimmt sie das Wasser, preßt es in die Röhren und irgendwo draußen, außerhalb des Maschinenhauses, wirbelt der Dampf heraus und zeigt Dir, daß die lebende Kraft da ist. Und der Dampf wird wieder verflüssigt, der Fachmann nennt es kondensiert, so daß wieder Wasser daraus wird, und wieder im Kreislauf saugt es die Maschine auf und speist sich neu und arbeitet um so eifriger. Genau so ist es mit unseren Kriegsanleihen [. . .].34

Auch Helmut Arntzen gibt in seinen lakonischen Anmerkungen zur Autorisierung anonymer Musil-Texte zu bedenken, dass »die Abweichung des journalistisch arbeitenden Schriftstellers von seinem Personalstil und von seiner Thematik [. . .] von Fall zu Fall erheblich« sein kann und attestiert Musil – insbesondere in Hinblick auf seine Kriegspublizistik – einen »funktionalen Stil« mit einem großen Maß an literarischer Anpassungsfähigkeit.35 Aus diesen Überlegungen heraus entschieden sich die Herausgeber der historischkritischen Ausgabe, die beiden Soldatenzeitungen zu faksimilieren und die Gesamtheit der Texte als Digitalisat für die breitere Diskussion bereitzustellen. Der redaktionelle Wandel der Tiroler Soldaten-Zeitung zur SoldatenZeitung drückt sich mit der Übernahme der Schriftleitung durch Robert Mu31 32 33

34 35

Publiziert in 2 Teilen in: Natur und Kultur. Zeitschrift für Schule und Leben 2/6 (15. 12. 1904), S. 166–170 bzw. 2/7 (01. 01. 1905), S. 201–204. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Stefanie Tyrka, 1. August 1903. KA/Lesetexte/Bd. 10 Wissenschaftliche Veröffentlichungen/Wissenschaftliche Beiträge/Die Beheizung der Wohnräume, S. 166 (zu den Seitenzahlen vgl. Anm. 30). Vgl. auch: »Das ästhetische Vergnügen an einem solchen [offenen] Kamin muß teuer bezahlt werden.« (Ebd., S. 167) Soldaten-Zeitung 2/24 (19. 11. 1916), S. 3. Arntzen: Musil-Kommentar, S. 178.

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sil im Sommer 1916 in einer entscheidenden Steigerung des sprachlichen und intellektuellen Niveaus, einer neuen politischen Linie und strafferen Strukturen aus. Militärische Berichte, Zahlen und Fakten, die bisher nur aneinandergereiht wurden, erscheinen jetzt durchwegs in kommentierter Form. Berichte ausländischer Zeitungen und politisch-militärische Neuerscheinungen werden im Sinne gezielter Propagandaabsichten zitiert und besprochen. Dabei etabliert sich das Südtiroler Blatt als Vorreiter einer psychologischen Kriegsführung, die sich dem Feldzug der einflussreichen britischen Propagandamaschine entgegenstellt.36 Im Unterschied zum einfachen Frontblatt bringt die Zeitung allwöchentlich gleich mehrere politische Leitartikel mit volkserzieherischer Tendenz. Unter Musils Führung werden nicht nur die militärische Lage und die Dokumentation des Soldatenlebens, sondern auch wichtige Wirtschaftsfragen, der italienische und slowenische Irredentismus, die Stärkung des österreichischen Staatsgedankens, die öffentliche Moral, eine europäische Friedenspolitik und die Neugestaltung Österreichs zu zentralen Themen. Insbesondere nahm sich das Blatt die Freiheit, unter den erstaunten Augen ziviler und militärischer Beobachter kritisch gegen die innerstaatliche Opportunitätspolitik und Parteienwirtschaft ins Feld zu ziehen, sich über ungerechtfertigte Privilegien einzelner Klassen zu ereifern und selbst die Phrasenhaftigkeit der Kriegsdichtung anzuprangern.37 Auf die stereotype Zielsetzung der Zeitung, wie sie bis zum 26. Juli 1916 auf der Titelseite angegeben war, nämlich »den Tiroler Landesverteidigern die neuesten Nachrichten über die militärische Lage, ferner über einzelne militärische Begebenheiten auf den Kriegsschauplätzen sowie über sonstige Angelegenheiten, die das Interesse der Armee oder einzelner berühren, [zu] vermitteln«, wird seit der Übernahme der Schriftleitung durch Oberleutnant Musil (und der neuen militärischen Führung) verzichtet. Das Blatt entwickelt sich zu einer journalistisch anspruchsvollen Wochenzeitschrift mit steigender Auflage, die auch in Wien, beispielsweise von Karl Kraus, gelesen und kommentiert wird.38 Ihre Titelseite ziert ein stimmungsvolles und meist auch den technischen Fortschritt dokumentierendes Foto vom Frontgeschehen. Das Motto »Für Gott, Kaiser und Vaterland!« verschwindet nach dem Tod Kaiser Franz Josephs I. am 21. November 1916. Die neue Soldaten-Zeitung richtet sich nur zum Teil an den Mann im Schützengraben. Man beantwortet zwar Feldpostbriefe und ruft weiterhin zur Mitarbeit auf (Soldaten, arbeitet mit!39 ), adressiert die Beiträge jedoch 36

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Mit der als »Improvisation« begonnenen, häufig mit Gerüchten arbeitenden britischen Kampagne gegen die feindlichen Mittelmächte besaß die Entente »die effektivste Propagandaorganisation überhaupt« (Sanders, Taylor: Britische Propaganda, S. 11). Vgl. auch Corino: Robert Musil [2003], S. 650 f. In der Nummer vom 2. August 1916 gibt es drei Glossen, die Die Fackel der (Tiroler) SoldatenZeitung widmet. Ein Aufruf der Schriftleitung in: Soldaten-Zeitung 2/9 (06. 08. 1916), S. 3–4.

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zugleich an die Zivilgesellschaft im Hinterland, für die man als Stimme »im Felde«40 erhöhte Aufmerksamkeit fordert – und nicht zuletzt an ein utopisches »Neu-Österreich«. Die eigentliche Domäne der Schriftleitung bildet neben den Leitartikeln vor allem die neu geschaffene Rubrik »Am Beobachterstand«, in der in- und ausländische Presseberichte regelmäßig einer kritischen Analyse unterzogen werden. Im Gegenzug dazu werden die von aktiven Soldaten und patriotischen Schriftstellern eingesandten Texte, die vorher den Großteil des Lesestoffes ausgemacht hatten, deutlich zurückgedrängt. An ihre Stelle treten in der Rubrik »Unterhaltung« Erzählungen Peter Roseggers, Gottfried Kellers oder (in der Abschiedsausgabe) Heinrich von Kleists.41 Die auffällige Niveauverschiebung, eine kritische Hinterfragung der österreichischen Innenpolitik und das Brandmarken irredentistischer Tendenzen auf der Grundlage von Gerichts- und Polizeiakten brachte Musils Redaktion zunehmend in Konflikt mit zivilen Behörden und den zuständigen Zensurorganen, zumal hier unter anderem mit politisch sensiblem und vertraulichem Material recht freizügig umgegangen wurde.42 Die Schriftleitung kümmerte sich jedoch erstaunlich wenig um die Zurufe von außen und agierte als Vertreterin ›höherer‹ strategischer Interessen und Ziele aus einer Haltung der Immunität. Ein Oberleutnant, der hier seine eigenen Ideen umsetzte, hätte der Beschwerdeflut, die auf einen tiefgreifenden Konflikt zwischen Zivil- und Militärbehörden hinauslief,43 kaum standhalten können, wäre er nicht von übergeordneter Stelle wirkungsvoll abgeschirmt worden. Im Zusammenhang mit der Verteidigung der Zeitungslinie, insbesondere im Kontext der Irredenta-Affäre um den Trienter Bürgermeister Maximilian Graf Manci,44 wird deutlich, dass die politische Stoßrichtung der Südtiroler Soldatenzeitung nicht durch ihren Chefredakteur Robert Musil angeordnet oder ›erfunden‹ wurde, sondern ganz konkret mit der Person des Kommandanten selbst, des späteren Generals Alfred Krauß (auch: Krauss), zusammenhing. Sein Erlass an das Tiroler Landesverteidigungskommando und die 5., 10. und 11. Armee vom 18. Juni 1916 brachte zum Ausdruck, daß die bisher erschienenen Soldatenzeitungen wohl der harmlosen Freude an der Selbstbetätigung während des Schützengrabenkrieges ihre Existenz verdanken, aber zu nützlicheren Zwecken zu gebrauchen seien, nämlich den Leser »zum Verständnis der Lebensfragen des Staates und der Armee« zu erziehen.45

40 41 42 43 44 45

Angegebener Erscheinungsort für: Soldaten-Zeitung 2/9 (06. 08. 1916) bis 3/45 (15. 04. 1917). Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, in: Soldaten-Zeitung 3/45 (15. 04. 1917), S. 5–10. Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 8–12. Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 17 f. Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 17–19. Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, S. 228.

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Konkret ging es der Führung des Heeresgruppenkommandos Erzherzog Eugen, wie in einem Schreiben Anfang Juni ausgeführt wird, um grundlegende innerstaatliche Reformen und deren Verankerung in der »Masse« des Volkes: Um die Bestrebungen des HGKmdos für eine Besserung der innenpolitischen Verhältnisse zu unterstützen, wäre es zweckmäßig, wenn die [. . .] Soldatenzeitungen in jeder Ausgabe kurze, geschickt verfaßte, populäre Aufsätze über den Irredentismus (sein Wesen, seinen Zusammenhang mit dem Kriege, Teilnahme von Beamten, Lehrern und Geistlichen, Vereine usw. und über seine Bekämpfung in Haus, Schule und Amt) bringen wird. Es müßte die Notwendigkeit von Reformen bis zum letzten Mann bekannt werden, damit auf diese Weise die anzustrebenden Ziele eine Förderung durch die Masse erfahren.46

Die Persönlichkeit des politischen Vor- und Querdenkers Alfred Krauß blieb in der bisherigen Diskussion um Musils Redaktionszugehörigkeit nahezu unbeachtet. Auf seine und Major Maximilian Bechers Veranlassung wurde Musil am 6. Juli 1916 als Chefredakteur der Tiroler Soldaten-Zeitung eingesetzt. Generalstabschef Krauß war es auch, der Musil 1917 für eine Ordensverleihung vorschlug. Und an ihn richtete der Autor im Frühjahr 1938 ein persönliches Schreiben mit der Bitte um Intervention im Zusammenhang mit einem Pensionsansuchen.47 Auch in seinem Brief an Ministerialrat Karl Schönauer erwähnt Musil den Kommandanten des Bozener Heeresgruppenkommandos als Gewährsmann, mit dem er allen Indizien zufolge in engerem persönlichen Kontakt gestanden haben muss.48 46 47

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Zit. nach: Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 10. Musil schreibt hier u. a.: »Euer Exzellenz sehr geehrter Herr General der Infanterie! Der Aufruf Eurer Exzellenz, daß sich Kriegsteilnehmer, die in Not geraten sind, an Sie wenden mögen, entschuldigt dieses Schreiben. Ich habe als Landsturmoffizier unter Ihnen sowohl an der Front gedient als auch beim Kommando der Heeresgruppe Erzherzog Eugen, wo ich Herausgeber der ›Soldaten Zeitung‹ gewesen bin, die immer in einer sehr freimütigen Weise und, wenn ich nicht irre, in Ihrem Sinne für den engsten Anschluß an Deutschland eingetreten ist. Ich bin für diese Dienstleistung als Oberleutnant mit dem Ritterkreuz des Franz Josef Ordens ausgezeichnet worden und vorher für tapferes Verhalten vor dem Feinde mit dem Signum laudis. Sollten sich Euer Exzellenz aus dieser Zeit an mich und vornehmlich an die ›Soldaten Zeitung‹ erinnern, so wäre mir eine Bestätigung dessen unter Umständen von großem Vorteil, denn ich befinde mich in einer meines Namens als Dichter unwürdigen Lage und habe ein Gesuch an die Regierung um Zuerkennung einer Pension gerichtet.« KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Alfred Krauss, April/Mai 1938. Vgl. Robert Musil an Karl Schönauer am 18. Mai 1938: »[Es] erscheint [. . .] mir als gegeben, darauf hinzuweisen, daß ich auch schon während des Krieges, und zwar nach einer meinen Frontdienst beendenden schweren Erkrankung, als Herausgeber und Schriftleiter der ›Soldatenzeitung‹, die beim Heeresgruppenkommando Erzherzog Eugen erschienen ist, auf die engste Einheit zwischen den beiden Reichen, die damals zu fordern möglich war, hingewirkt habe. Das ist, soviel ich weiß, nach den Intentionen des Herrn Generals der Infanterie Alfred Krauss geschehen, der damals Generalstabschef dieses Kommandos gewesen ist und sich meiner Tätigkeit vielleicht noch erinnern dürfte.« KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Karl Schönauer, 18. Mai 1918.

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Alfred Krauß, der nach einer Kommandantur bei der 29. Infanteriedivision in Serbien und einer Berufung zum Generalstabschef der Balkanstreitkräfte im Mai 1915 zum Chef des Generalstabs der Südwestfront ernannt und von Juli 1916 bis März 1917, also genau innerhalb des Zeitraums, in dem Musil die (Tiroler) Soldaten-Zeitung leitete, der Heeresgruppe Erzherzog Eugen in Bozen zugeteilt wurde, steigt wenig später zum General der Infanterie auf und erhält im Mai 1918 sogar das Oberkommando über die 2. Österreichische Armee. Mit dem Weggang des hochrangigen Militärchefs Ende März 1917 verschwindet auch die schützende und treibende Kraft hinter der neuen Soldaten-Zeitung, sodass deren weiteres Bestehen nicht mehr gesichert war.49 Betrachtet man Krauß’ persönlichen und ideologischen Werdegang, so fällt auf, dass der zunächst als »hervorragender Lehrer und kritischer Militärdenker« bekannte k. u. k. General »nach dem Weltkrieg [. . .] immer mehr in ein rechtsradikales, antiösterreichisches Fahrwasser [geriet], das ihn sowohl von seinen Offizierskameraden isolierte als auch von der Seite gemäßigt deutsch-nationaler österreichischer Historiker abgelehnt wurde.«50 Die Wandlung vom Österreich-Patrioten zum späteren NSDAP-Minister und SAFührer erfolgte offensichtlich aufgrund von Verstimmungen des streitbaren Feldherren mit den österreichischen Behörden nach 1918.51 Verschiedene Details zur militärisch-politischen Einstellung und zur Persönlichkeit seines Vorgesetzten machen klar, dass Musils Rolle als Schriftleiter der Bozener Soldaten-Zeitung keine freie und unabhängige war. Für eine eher ›gehorsame‹ Rolle des Chefredakteurs spricht auch die politische Entwicklung der redaktionellen Beiträge. Offenbar begann Musil seine Tätigkeit mit feuilletonistischen Einstandstexten (Eine welthistorische politische

49 50

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Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 21–23. Edmund Glaise von Horstenau: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Hg. v. Peter Broucek. Bd. 3: Deutscher bevollmächtigter General in Kroatien und Zeuge des Untergangs des »Tausendjährigen Reiches«. Wien, Graz, Köln 1988 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 76), S. 191– 192, Anm. 148. Krauß hatte sich wiederholt – und vergeblich – betreffend einer angeblichen Fehleinschätzung seines Anteils an den siegreich geführten Schlachten des Ersten Weltkriegs beschwert und möglicherweise aus Verbitterung, weil ihm in dieser Sache eine entsprechende Genugtuung verweigert wurde, vielleicht auch wegen seiner Unzufriedenheit mit der politischen Lösung eines »Restösterreich«, die Seite gewechselt. Vgl. Glaise von Horstenau: Ein General im Zwielicht, S. 434–435, Anm. 476. Vgl. auch Willi Drofenik: General Alfred Krauss. Eine Biographie. Dissertation Universität Wien 1967. Ab 1920 schrieb Krauß außerdem eine Reihe historisch-theoretischer Darstellungen, in denen er die militärische Niederlage der Donaumonarchie aus seiner Warte als Feldherr analysierte, darunter: Unser Deutschtum! (1920), Die Ursache unserer Niederlage (1920), Die Wesenseinheit von Politik und Krieg als Ausgangspunkt einer deutschen Staatslehre (1921), Die Bedeutung Österreichs für die Zukunft des deutschen Volkes (1923).

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Komödie, Der Weg zu den Sternen, Aus der Geschichte eines Regiments),52 Berichten (Bilder von der Irredenta)53 sowie Kurzkommentaren und etablierte sich erst schrittweise als Verfasser souveräner Leitartikel, die ihm offenbar die Zustimmung des Generalstabschefs sicherten.54 Bei den für Beobachter etwas sonderbar anmutenden Feldzügen gegen Parteienmissbrauch, Parlamentarismus, Föderalismus, Pazifismus und Irredentismus könnte es sich durchaus um einen von Krauß angezettelten Privatkrieg handeln, den er um mehr politischen Einfluss innerhalb der Armee und der österreichischen Innenpolitik führte. Der ›General und sein Redakteur‹ – zwei kongeniale Strategen in getrennten Welten – standen hier womöglich in engem Ideenaustausch. Die Aufzählung von Vorzügen und Verdiensten Musils durch seinen Vorgesetzten lässt auf ein gutes Einvernehmen der beiden Offiziere schließen.55 Das geistig-strategische Zusammenwirken wäre etwa vorstellbar in Form der Gespräche zwischen Ulrich und dem fähnchensteckenden General Stumm von Bordwehr im Mann ohne Eigenschaften. Vielleicht fördert die weitere Forschung mehr über Alfred Krauß’ Motive sowie zusätzliche Einzelheiten einer solchen Kooperation mit dem »Jahrhundertschriftsteller« zutage.56 Für den vorliegenden Beitrag mag es genügen, auf diese bisher unbeachtet gebliebene redaktionelle Achse hinzuweisen und Musils Beteiligung am Bozener Soldatenblatt dahingehend einzuschränken, dass er hier zwar gute ›Handwerksarbeit‹ leistete, nicht jedoch als ›geistiger Vater‹ und Chefideologe fungierte. Einen weiteren Hinweis auf mögliche ideologische Drahtzieher innerhalb der Schriftleitung gibt das Innsbrucker Tyrolia-Blatt, das während des Kriegs in der Regel wenig stichhaltige Gerüchte in die Welt setzte. Es vermutet hinter der Politisierung der (Tiroler) Soldaten-Zeitung den Vorarlberger Schriftsteller und Journalisten Albert Ritter alias Karl von Winterstetten (1872–1931).57 Eine solche Option widerspricht jedoch nicht nur den Aktenvermerken über die Bozener Redaktion, sondern sie lässt sich auch deshalb schwer nachvollziehen, weil Ritter, der bereits vor dem Krieg Geschäftsführer des Alldeutschen Verbandes in Wiesbaden war, von Anfang an für die Vereinigung aller deutschen Bevölkerungsgruppen Europas in einem großdeutschen Reich eintrat und in Bezug auf die österreichische Politik – im krassen Gegensatz zur Soldaten-Zeitung – eine föderalistisch-nationalistische Position vertrat. 52 53 54 55 56 57

Soldaten-Zeitung 2/188–190 (08. 07. 1916), S. 4–5, und Literarische Beilage, S. 9, bzw. Soldaten-Zeitung 2/194–196 (26. 07. 1916), Literarische Beilage, S. 9. Soldaten-Zeitung 2/191–193 (20. 07. 1916), S. 1–3. Soldaten-Zeitung 2/9 (06. 08. 1916), S. 10. Vgl. Ansuchen um Verleihung des Ritterordens, zit. nach: Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, S. 230. Urbaner: Schriftführer Musil, S. 54–67. Vgl. Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen«, S. 22.

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Das erklärte Ziel der militärischen Führung der Soldaten-Zeitung, den Vielvölkerstaat zu erhalten und ihn zugleich geistig, moralisch und politisch zu reformieren, ließ sich trotz bemerkenswerter Erfolge (Erhöhung der Auflage, finanzielle Selbständigkeit) von der Bozener Redaktionsstube aus nicht erreichen. Hartnäckig verteidigte das Blatt – viribus unitis – jedoch bis zu seiner Auflösung die von einigen Beobachtern als »zweifelnd und verneinend« empfundene Linie: Die öffentliche Meinung ist dermaßen befangen in Gedankenlosigkeit – sei es patriotische oder oppositionelle und kennt so wenig die wahren Verhältnisse, – daß sie die Sprache des unbefangenen Wahrheitswillens kaum mehr versteht und sich ihn unwillkürlich in ihrer Weise, das heißt wieder als eine Parteinahme, zurechtlegt. Aus diesem Grunde waren wir auch verurteilt, vorwiegend zweifelnd und verneinend zu erscheinen, indem wir zuerst auf die Hindernisse hinweisen mußten, die sich im Charakter des Österreichers einer an das Wesen greifenden und energischen Behandlung aller dieser Probleme entgegenstellen.58

Die politische Haltung der Schriftleitung wird als »kritische[r] Patriotismus« beschrieben, der im Gegensatz stehe zu einem »bequemen Patriotismus, der in jedem Land der Welt – wo er gerade zu Hause ist – den Himmel blauer findet als in der Fremde«.59 Solcher Rechtfertigungen bedurfte es 1918, als Musil zum Chefredakteur eines anderen Soldatenblattes, der Heimat (07. 03. 1918–24. 10. 1918), bestellt wurde, nicht mehr. Die Rolle des inzwischen dekorierten und durch Verdienste seines Vaters in den Adelsstand erhobenen Autors im KPQ in Wien gestaltete sich um vieles differenzierter als unter der militärischen Führung in Bozen. Musil, der die letzten drei Isonzoschlachten (12. 05. 1917–27. 10. 1917) unter dem Kommando des berüchtigten Generals Boroevi´c an Schreibtischen in Adelsberg/Postojna und Marburg/Maribor verbrachte, bemühte sich wiederholt um eine Versetzung in die Hauptstadt der Donaumonarchie und die Auslandsgruppenleitung des KPQs.60 Dieser Plan verband sich mit dem Wunsch, sein Schauspiel Die Schwärmer, an dem er seit der Entlassung als Redakteur der Soldaten-Zeitung wieder arbeitete, ehestmöglich abzuschließen. Zunächst gelang es ihm im Rahmen eines Fronturlaubs, nach Wien zu kommen. Martha Musil weist gegenüber ihrer Tochter Annina auf die Aussicht seines »Hierbleibens« hin, allerdings unter der Bedingung, dass ihr Mann in geheimem Auftrag des KPQs nochmals als Zeitungsredakteur tätig werden soll:

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Soldaten-Zeitung 3/45 (15. 04. 1917), S. 3 f. Soldaten-Zeitung 3/45 (15. 04. 1917), S. 4. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 15. September 1917.

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Du bist gewiß sehr erstaunt über die Aussichten des Hierbleibens. Ganz sicher ist es noch nicht; weil Robert noch Bedenken hat. Sie wollen eine neue patriotische Wochenschrift machen und sind froh, daß sie Robert dazu gefunden haben. (Man darf noch nicht darüber sprechen!) Robert muß aber seinen Namen hergeben und weiß noch nicht, ob er es tun soll. Er muß sich aber bald entscheiden. Es wäre ja ganz lustig für ihn, weil er mit vielen Menschen in Berührung kommt und neue Verhältnisse kennen lernt. Viel zu tun, aber natürlich nicht so lange Bürostunden wie in Udine. Und er kann für später mit allen möglichen Leuten in Fühlung treten.61

Die Aufgabe der Auslandsgruppe des KPQs bestand darin, »die Presse der Feindstaaten zu sichten und zu exzerpieren, vor allem im Hinblick auf Meldungen, die für Österreich günstig waren und auf den baldigen Zusammenbruch der Entente hindeuteten.«62 Mit der Lektüre und Kommentierung feindlichen Pressematerials war Musil zu diesem Zeitpunkt bereits bestens vertraut, ein Umstand, der auch von den vorgesetzten Stellen des KPQs als Grund für eine neue »Sonderbestimmung« des Oberleutnants genannt wird.63 Seinen Namen setzt Musil tatsächlich nicht sofort ins Impressum der in der Folge von ihm redigierten Soldatenzeitung Heimat; hier scheint zunächst der spätere Direktor der Wiener Lehrerbildungsanstalt und Autor des Buches Im serbischen Feldzug (1918), Josef Neumair, als Strohmann auf. Erst ab 9. Mai 1918 wird »Dr. Robert v. Musil« als »verantwortlicher Schriftleiter« der Wochenzeitung einschließlich ihrer tschechischen und ungarischen Ausgaben Domov und Üzenet genannt. Die im ersten Monat gratis verteilte Heimat war offiziell nur für Soldaten der Ostfront bestimmt. Über dem Zeitungskopf auf Seite 1 prangte die Aufforderung: »Halt! – Lies mich und gib mich weiter!« Zivilisten wie Musils Stieftochter Annina bekamen die Wochenzeitung nur ausnahmsweise zu Gesicht, wie aus den Briefen ihrer Mutter hervorgeht: »Morgen schicke ich Dir die Zeitung [vom 28. März 1918?]« – und nach dem offensichtlich misslungenen Versuch heißt es am 7. April 1918: »morgen schicke ich endlich 2 Nummern [vom 28. März und 4. April?] davon« und am 8. Juni: »eigentlich bekomme ich sie [die Heimat] wohl nicht, aber uneigentlich wohl doch; wir lassen sie ab morgen holen«.64 Martha Musil erscheint die Wochenzeitung, die sich Zierleisten und aufwändige Illustrationen wie die (Tiroler) Soldaten-Zeitung nicht leisten kann, als ein »[häßliches] Blattl«.65 Ihr Mann schuf, nicht ohne Anfälle von Lange61 62 63 64 65

KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 7. März 1918. Corino: Robert Musil [2003], S. 575. Corino: Robert Musil [2003], S. 579. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 29. März 1918 (vgl. auch die folgende Korrespondenz). KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 7. April 1918.

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weile,66 mit der Heimat, in der sich die politische Linie der Soldaten-Zeitung fortsetzt, wieder ein formal und inhaltlich straff durchorganisiertes Blatt von acht Seiten Umfang und einer Mischung aus politischen Leitartikeln, Informationen, Leserdienst und Feuilleton. Er fügte bald auch eine literarische Beilage mit dem Titel Der Heimkehrer hinzu. Politische Richtung, Stil und »Zweck« des Propagandaorgans werden auf einem Beilageblatt zur ersten Ausgabe im Detail erläutert: Jenen Einflüssen, die verwirrend auf die Front wirken, entgegenzuarbeiten [. . .]. Österreichs Vaterlandskenntnis und Vaterlandsliebe in geeigneter Methode durch Aufklärungen aus Gegenwart und Geschichte zu vertiefen. Die wichtigsten Fragen des Krieges in überzeugender Form mit Daten und Zahlen zu behandeln. [. . .] Jede Polemik, alle Parteistreitigkeiten müssen fern bleiben, Politik darf nur in jenem Maße behandelt werden, als es das Staatsinteresse und militärische Rücksichten erfordern. [. . .] Die Zeitung soll durch sich selbst aufklärend und überzeugend wirken.67

Leicht lesbar und informativ, enthält die Berichterstattung Zahlen und Fakten in sorgsam ausgewählter, interpretierter (und zensurierter) Form. Über Leitartikeln, Kommentaren und Feuilletonbeiträgen walten unverhohlen pädagogisch-propagandistische Absichten, die im offiziellen KPQ-Bericht vom 15. August 1918 mit den Worten zusammengefasst werden: »Die Heimat ist der Feindespropaganda energisch entgegengetreten und versucht das allgemeine Vertrauen in die Kraft der Monarchie zu festigen.«68 Die Auflage der für das KPQ als ›Geheimwaffe‹ gehandelten Zeitung betrug für die deutschsprachige und die ungarische Ausgabe (Herausgeber Lázlo Zoltán) insgesamt 60 000 Exemplare, für die tschechische 15 000, wobei sich bis Ende Juni 1918 für alle drei Ausgaben ganze 1840 zahlende Abonnenten fanden.69 Der Großteil der Auflage wurde – u. a. in Heimkehrerlagern – gratis verteilt. Im Bericht über Propagandatätigkeit vom 15. August 1918 ist zu lesen: Durch die Erfolge der »Heimat«, »Üzenet« und »Domov« erhält ihre Gründung eine besondere militärisch-politische Bedeutung. Immer mehr zeigt es sich, daß eine zielbewußte Propaganda imstande ist, auch unter den schwierigsten Umständen erfolgreich zu wirken und gegnerischen Absichten hindernd entgegenzutreten.70

Wie Karl Corino mitteilt, stieß die tschechische Ausgabe der Zeitung, an der auch Arne Laurin, Musils späterer Freund und Unterstützer bei der Prager 66

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»Robert hat einen politischen Artikel zu machen, der ihn furchtbar langweilt.« KA/Lesetexte/ Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 7. April 1918. Titellose Ankündigung auf einem Flugblatt, das gleichzeitig mit der ersten Nummer der Heimat vom 1. März 1918 erschienen ist. K. u. k. KPQ-Bericht, 15. 08. 1918, S. 2. K. u. k. KPQ-Bericht, 15. 08. 1918, S. 2. K. u. k. KPQ-Bericht, 15. 08. 1918, S. 2.

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Presse, maßgeblich beteiligt war, auf heftige Kritik seitens nationaler tschechischer Kreise.71 Nicht nur auf tschechischer Seite wurden bekannte böhmische Schriftsteller zur Mitarbeit an der Heimat herangezogen,72 auch der Redaktionsstab Musils in der Zentrale des KPQs verzeichnete, wie seine Frau in einem ihrer Briefe verrät, prominente literarische Zuwächse: »Blei ist jetzt auch bei der ›Heimat‹, ist für Robert eine gute Hilfe. Ich glaube Robert hat 10 Herren unter sich, denn sie erscheint jetzt in 4 Sprachen.«73 Franz Blei scheint für Chefredakteur Musil vor allem deshalb eine willkommene Verstärkung bedeutet zu haben, da der von ihm kurze Zeit später in der Zeitschrift Der Friede porträtierte Essayist nicht nur gebildet, flüssig und geistreich zu räsonieren vermochte, sondern auch als Vertreter einer »aktive[n] Wandelbarkeit der Anschauungen«, einer »vermeintliche[n] Anteillosigkeit«74 und Gleichgültigkeit, »ob man katholisch oder protestantisch fühlt. Ob man für den Sozialismus eintritt oder an seiner Stelle für etwas Unbekanntes«,75 in der Lage war, sich so gut wie über jedes Thema zu äußern – einschließlich politischer Fragen. So lässt sich hinter einer Anzahl von Leitartikeln der Heimat ab April 1918 eventuell Franz Blei als Schreiber vermuten.76 Lange hielt der Autor der Puderquaste es jedoch nicht beim Wiener Soldatenblatt aus, wie Martha Musil am 9. September 1918 berichtet: »Daß Hegner enthoben wird, weißt Du wohl schon; jetzt wollen sich Blei und Gütersloh auch entheben lassen.«77 Als Verfasser unsignierter Beiträge der Heimat kommen prinzipiell Autoren in Frage, die entweder dem KPQ angehörten oder als freie Mitarbeiter der Presseabteilung geführt wurden. Neben Musil, Blei und Albert Paris Gütersloh eventuell Alfred Kubin, Egon Erwin Kisch, Leo Perutz, Alexander Roda Roda, Ferenc Molnár, Robert Michel, Franz Werfel, Hermann Bahr und Jakob Hegner. Im Leitartikel Kriegswucher. Taschendiebe beim Weltbrand erkennt Karl Corino »auch stilistisch die Feder Musils. Man stößt immer wieder auf eingängige rhetorische Figuren, wie man sie aus seinen Artikeln in der ›Soldaten-Zeitung‹ schon kennt«.78 71 72 73

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Corino: Robert Musil [2003], S. 585. Vgl. K. u. k. KPQ-Bericht, 15. 08. 1918, S. 2, sowie Corino: Robert Musil [2003], S. 585. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 8. Juni 1918. Eine Ausgabe in slowenischer Sprache mit dem Titel »Domovina« kam aus Mangel an geeigneten Redakteuren nicht zustande. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/Franz Blei. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Essaybücher. Auf der Basis sprachlich-stilistischer Vergleiche kämen dafür insbesondere in Frage: Das unbekannte Österreich (17. 04. 1918, S. 1), Militarismus (02. 05. 1918, S. 2, Pseudonym: Pankraz Schittenhelm), Das irische Feuer (02. 05. 1918, S. 2–3) und Die Liebe zum Vaterland (09. 05. 1918, S. 2–3). KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 9. September 1918. Corino: Robert Musil [2003], S. 580.

Viribus unitis

221

Der Ankündigungstext zur neuen, an die Soldaten gerichteten Zeitung stellt – insbesondere für die militärischen Auftraggeber – klare Bezüge zur 1917 aufgelösten Soldaten-Zeitung her, indem darin auf programmatische Weise auf jene Punkte eingegangen wird, mit denen sich die in Bozen erschienene Vorgängerin die Kritik offizieller Stellen zugezogen hatte: Jede Polemik, alle Parteistreitigkeiten müssen fern bleiben, Politik darf nur in jenem Maße behandelt werden, als es das Staatsinteresse und militärische Rücksichten erfordern. Der Schein des Offiziellen, irgend eine Pression auf den Soldaten müssen ausgeschaltet werden. Die Zeitung soll durch sich selbst aufklärend und überzeugend wirken. Es soll nicht ein Konkurrenzunternehmen für die bereits bestehenden Armeezeitungen, keine »Kriegszeitung« werden, sondern dem Titel entsprechend ein Heimatblatt in dem Sinn, daß die Heimatliebe darin gepflegt und zum größten Teil von der Heimat gehandelt wird.79

Statt der Irredenta-Thematik stehen im Nordosten Österreichs nun vor allem der Kampf gegen den Bolschewismus, Fragen zur Geldentwertung, das Problem der Waisen und Kriegsversehrten und die Parole des Durchhaltens auf der Tagesordnung. Von der zu Beginn festgelegten Linie des Blattes weicht Musil bis zu dessen Einstellung Ende Oktober 1918, kurz vor dem Zusammenbruch der Monarchie, nicht ab. Er umgibt sich in den Räumlichkeiten des KPQs mit einem noch nicht näher recherchierten anonymen Autorenkollektiv, das offenbar dazu angehalten wird, Leitartikel und andere Beiträge nach den hier ebenfalls von höherer Stelle vorgegebenen Mustern zu verfassen: »Der Geist des Blattes, soll einheitlich, eine Linie sein. [. . .] Die Methode: Einfacher, möglichst volkstümlicher, lebendiger, leicht lesbarer Stil, kurze Aufsätze. [. . .] Würdiger, ernster und warmer, gemütvoller Ton.«80 Aus Solidarität mit dem ›namenlosen‹ Soldaten im Schützengraben oder weil sich ohnehin fast keiner der Autoren, die zuletzt das KPQ bevölkerten, mit der Propagandaarbeit identifizieren wollte, wurde fett gedruckt am Schluss des Heimat-Programms festgelegt: »Autoren zeichnen nicht, oder nur mit Chiffre«.81 In einer peniblen Festschreibung von ›Zweck‹, ›Methode‹ und ›Inhalt‹ geht es der Redaktion um eine konsequente Kollektivierung des Schreibens möglichst gleichgeschalteter Propagandastimmen. Das Bild eines im Gleichschritt marschierenden Heeres von Autoren, über das Schriftleiter Musil zu wachen hatte, eines »Ameisenstaat[es]«82 der schreibenden Lakaien, trübte vor allem der Umstand, dass die Langeweile der dafür abkommandierten Schriftsteller überhandnahm.83 79 80 81 82 83

Beilageblatt zu: Heimat 1/1 (07. 03. 1918). Heimat 1/1 (07. 03. 1918), Flugblatt. Heimat 1/1 (07. 03. 1918), Flugblatt. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/345. Über das Ausscheiden Franz Bleis berichtet ein Brief: KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 8. Juni und 12. September 1918

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Regina Schaunig

Über die konkrete Gestaltung des kooperativen Schreibens im Rahmen der von Musil herausgegebenen Soldatenzeitungen kann nur spekuliert werden. Wurden ihm als Auftragsredakteur nur ganz allgemein die Themen und Ziele vorgegeben oder griffen Vorgesetzte wie Krauß auch in konkrete Formulierungen ein? Wie lässt es sich erklären, dass Musil hier Gebrauchstexte schuf und – ein Eindruck, den zahlreiche Passagen entstehen lassen – letztlich sogar Spaß daran fand? Gefiel es ihm – in der Vergesellschaftung des Krieges oder in einem Tête-à-tête mit seinem Auftraggeber –, die moderne Forderung der Einheit von Autor und Werk (autopoesis) so konsequent zu umgehen?84 Oder waren es Experimente mit der Theorie des »Doppel-Ichs«, die ihn reizten?85 Die Idee eines kollektiven Schreibens interessierte Musil nicht erst während des Krieges, sondern schon 1910, als er die Herausgabe einer Zeitschrift mit dem Titel Das Pasquill erwog, »eine anonyme Schmähschrift, ein Angriff aus der Deckung des Dunkels, eine namenlose Gemeinheit«.86 Zu einer Realisierung kollektiver Autorschaft kam es dann 1912/1913 innerhalb des Losen Vogels, in dem auch ungezeichnete Beiträge Musils erschienen.87 Die frühexpressionistische Zeitschrift, die unter der Leitung Franz Bleis das anonyme Schreiben zum Programm erklärt hatte, fand aufgrund der ›Namenlosigkeit‹ ihrer Beiträger fast keine Abnehmer. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte Musils langjähriger Weggefährte Blei seine Idee des kollektiven Schreibens mit Musils Hilfe nochmals im Rahmen seines Großen Bestiariums der modernen Literatur um.88 In den bisherigen Auseinandersetzungen mit Musils Kriegspublizistik blieb oftmals die Tatsache ausgeklammert, dass Musil, auch wenn er vielleicht der Verfasser vieler dieser Beiträge war, hier nicht die literarischästhetischen Ziele eines Autors verfolgte. Dennoch schien es sinnvoll, alle jene Beiträge zu erfassen, die er erwiesenermaßen als Redakteur geschrieben hat, aber auch eine Liste jener Titel zusammenzustellen, für die eine Verfasserschaft Musils weiter diskutiert werden müsste. Einen Überblick über 38 Musil bisher zugewiesene und ca. 250 weiter zu diskutierende publizisti84

85 86 87

88

Vgl. Frank Zöllner: Leonardo und Michelangelo: Vom Auftragskünstler zum Ausdruckskünstler, in: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2006/178/pdf/Zoellner_LDVAE_ 05.pdf, S. 5 (Zugriff am 10. 01. 2011). Robert Musil: Das Doppel-Ich oder Der Verlust der Persönlichkeit, in: KA/Transkriptionen/ Mappe IV/2/25a-54. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/159. Zu den im Losen Vogel erschienenen Essays gehören Erinnerung an eine Mode, Penthesileade, Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik, Politik in Österreich, Über Robert Musil’s Bücher, Moralische Fruchtbarkeit, Der mathematische Mensch und die Buchrezension Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays. Musils Beiträge darin trugen die Titel Von der geistigen Ernährung durch Intuition, Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur und Sechster Exkurs. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Beiträge in Franz Bleis Das große Bestiarium der modernen Literatur.

Viribus unitis

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sche Beiträge in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und der Heimat geben zwei Tabellen, die auf der Homepage der Musil-Gesellschaft veröffentlicht werden.89 Angesichts der großen Zahl an Titeln, die die Verfasserin damit zur Diskussion stellen möchte, erhebt sich die Frage, ob es Musil überhaupt möglich gewesen wäre, in den insgesamt eineinhalb Jahren seiner Redakteurstätigkeit (abzüglich der 16 Wochen mit fehlenden Heimat-Ausgaben) eine so große Zahl an Texten, nämlich rund 290 Beiträge, zu verfassen? Eine Überschlagsrechnung ergibt im Durchschnitt weniger als fünf Beiträge pro Woche bei ca. 30 Prozent Kurzbeiträgen – also ein durchaus zu bewältigendes Pensum für jemanden, der hier quasi »hauptberuflich« tätig war. Allerdings wäre aufgrund der sensiblen Autorschaftsfrage davon abzuraten, eine Textauswahl dieser Größenordnung in eine Werkausgabe Musils zu integrieren, auch wenn zukünftige Studien für eine wesentliche Erweiterung des bisher zugeschriebenen Kanons plädieren sollten. So wurde auch seitens des Herausgeberteams der Klagenfurter Ausgabe entschieden, Musils Kriegspublizistik in eine ausführliche Dokumentation der Schreibgeschichte aufzunehmen, nicht aber in Form von Lesetexten zu edieren.

89

Unter der Internetadresse http://www.musilgesellschaft.at/musilforum_online.htm.

Heinz-Peter Preusser

Die Masken des Ludwig Klages Figurenkonstellation als Kritik und Adaption befremdlicher Ideen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Abstract: Meingast, the fictive character in Musil’s voluminous and fragmentary novel, has a real model: the philosopher and graphologist, poet and psychologist Ludwig Klages. However, Musil’s sketch of the ›prophet‹ in The Man Without Qualities is primarily a satire and an exposure of the real person. Nevertheless, Klages’ theory of image and of Eros exerts a detectable influence on Musil’s narrative. His occasionally disconcerting ideas take effect on other figures, such as the memorable Hans Sepp or the protagonist Ulrich. Rather than disentangling biographical involvement, the following essay aims to illuminate Klages’ philosophical approaches in order to show their influence on Musil, and reads their concrete fictional adaptation as a masquerade.

1. Das Klages-Bild in der Forschung und im Roman Die Figur Meingast, das ist hinlänglich bekannt, hat in Robert Musils großem Romanfragment ein realhistorisches Vorbild gehabt: den Philosophen, Grafologen, Psychologen, Ausdrucksforscher und Dichter Ludwig Klages. Sicherlich ging es Musil hier nicht um ein Porträt, sondern, wenn eine solche Rückbeziehung auf den realen Charakter überhaupt statthaft ist, um eine Karikatur des so Gezeichneten. Aber Klages ist nicht allein in Meingast gegenwärtig, sondern seine Ideen greifen auch über auf andere Figuren wie insbesondere den denkwürdigen Hans Sepp und auf den Helden Ulrich. Rezeption und biografischer Kontext der Konstellation Musil/Klages gelten inzwischen nicht mehr als terra incognita.1 Aber es fehlt doch an einer Durchleuchtung der philosophischen Gedankengebäude bei Klages selbst, um dessen Einfluss auf Musil und die konkrete fiktionale Adaption und Kritik dieser überwiegend befremdlichen Ideen im Geflecht der agierenden Figuren in groben Umrissen darlegen zu können. Dieses Unterfangen ist nicht leicht umzusetzen, denn eben dieser Klages gehört zu jenen Personen, denen seine Anhänger vielleicht mehr geschadet haben als seine ohnehin zahlrei1

Vgl. Norbert Christian Wolf: Verkünder des Terrors, Propheten der Erlösung: Hans Sepp und Meingast, in: Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009, S. 93–140, hier S. 122.

Die Masken des Ludwig Klages

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chen Gegner. Für viele seiner Kritiker reicht bereits ein Buch aus, ihn zur persona non grata zu stempeln: das Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele. Mancher dürfte sich schon mit der Lektüre des Titels zufrieden gegeben haben, um dessen Verfasser als Irrationalisten und Antimodernen – und außerdem als Antisemiten vom Hörensagen einzustufen. An allen diesen Vorwürfen ist schließlich auch vieles richtig. Klages ist wissenschaftlich förmlich doppelt umstellt, was den Zugang zu seinem Werk nicht eben einfacher erscheinen lässt. Die Literatur zu Klages, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, wurde zunächst und über lange Zeit exklusiv aus dem Umkreis der Schüler und Verehrer sowie von persönlichen Bekannten verfasst. Sie verarbeitete bevorzugt Erinnerungen und betrieb Studien zur Biografie.2 Vor allem neuere Arbeiten jüngerer Forscher haben die Hagiografie3 hingegen durch den sachlicheren Gestus der Nobilitierung abgelöst. Hier wird die Dignität des eigenen Anspruchs wie des Gegenstandes, Ludwig Klages, begründet durch die Affinität seiner Werke und Gedanken mit solchen der inzwischen etablierten Philosophie und Soziologie.4 2

3

4

Vgl. Roderich Huch: Die Enormen von Schwabing. Erinnerungen aus der Zeit der Jahrhundertwende, in: Atlantis 30 (1958), S. 143–150. Ders.: Alfred Schuler, Ludwig Klages und Stefan George. Erinnerungen an Kreise und Krisen der Jahrhundertwende in MünchenSchwabing, in: Castrum Peregrini 110 (1973), S. 4–49. Sehr ausführlich Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil. Die Jugend. (Zugleich Ludwig Klages: Sämtliche Werke. Hg. v. Ernst Frauchiger, Gerhard Funke, Karl J. Groffmann, Robert Heiss, Hans Eggert Schröder. Supplement, 1. Teil.) Bonn 1966. Ders.: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Zweiter Teil. Das Werk. Erster Halbband (1905–1920). (Zugleich Ludwig Klages: Sämtliche Werke. Supplement, 2. Teil, Bd. 1) Bonn 1972. Ders.: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Zweiter Teil. Das Werk. Zweiter Halbband (1920–1956). Bearbeitet und hg. v. Franz Tenigl. (Zugleich Ludwig Klages: Sämtliche Werke. Supplement, 2. Teil, Bd. 2) Bonn 1992. Die Arbeit von Müller, für lange Zeit die ausführlichste Dissertation zum Hauptwerk von Klages, beleuchtet, überwiegend referierend, die psychologischen und philosophischen Implikationen der Bildtheorie im Widersacher und bleibt noch allein dem Kreis der Anhänger verpflichtet. Vgl. Roland Müller: Das verzwistete Ich – Ludwig Klages und sein Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele. Bern, Frankfurt a. M. 1971, insb. S. 48–65. Eine ähnlich dienende Funktion hat Hans Kasdorff: Ludwig Klages. Werk und Wirkung. Bd. 1: Einführung und kommentierte Bibliographie. Bd. 2: Kommentierte Bibliographie [Fortsetzung]. Bonn 1969 (Bd. 1), 1974 (Bd. 2), hier insb. Bd. 2, S. 49–66. Siehe zur Poetologie von Klages auch die ältere Arbeit von Johannes Pfeiffer: Die dichterische Wirklichkeit. Versuche über Wesen und Wahrheit der Dichtung [1950]. Hamburg 1962. Darin: Dichtung und Metaphysik. Zur Deutung des Dichterischen bei Ludwig Klages, S. 114–152. Vgl. Werner Fuld: Walter Benjamins Beziehung zu Ludwig Klages, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur 28 (1981), S. 274–287. Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne. Berlin 1994, S. 139 f. Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997, S. 126. Michael Großheim: »Die namenlose Dummheit, die das Resultat des Fortschritts ist« – Lebensphilosophie und dialektische Kritik der Moderne, in: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie 3/2 (1996), S. 97–133, hier S. 99. Ders.: Auf der Suche nach der volleren Realität. Wilhelm Dilthey und Ludwig Klages. Zwei Wege der Lebensphilosophie, in: Dilthey Jahrbuch

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Heinz-Peter Preußer

Ein anderes Feld der Nobilitierung bildet die Ökologie, als deren früher Theoretiker Klages vielfach gefeiert wird.5 Das Gleiche gilt für die Matriarchats-Diskussion, die durch den Feminismus seit den 70er Jahren erneut belebt wurde und für die Klages, der Wiederentdecker Bachofens, ein wichtiger indirekter Vermittler ist.6 Von dem wiederauflebenden Interesse konnte Klages selbst allerdings kaum profitieren. Vielmehr geriet er durch den Vorwurf des Präfaschismus7 infolge der 68er Bewegung zusehends ins Aus der wissenschaftlichen Befassung; ja er galt lange Zeit als schlicht indiskutabel. Die Verdikte, mit denen Klages abgeurteilt wurde, sind zahlreich8 und übertreffen in ihrer Wirkung deutlich die Publikationen der Hagiografie wie der Nobilitierung. Klages kommt aber auch, in der ausführlichen Biografie des Thomas Karlauf etwa, als Teil eines weitgreifenden Beziehungsgeflechts zur Sprache, wird bei Zeichnung vieler negativer persönlicher Züge – Erotomane und Päderast, Trinker und Intrigant, im Detail ihrerseits fraglich9 – dennoch als der »brillanteste[ ] Kopf der Schwabinger Szene« vorgestellt.10 Ist er hingegen Hauptgegenstand der Betrachtung, bleibt man bei dem umstrittenen Philosophen im Wesentlichen auf der Ebene der Nobilitierungen

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6

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9 10

für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 10 (1996), S. 161–189. Ausführlich ders.: Ludwig Klages und die Phänomenologie. Berlin 1994. Siehe auch ders. (Hg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion. Berlin 1994. Reinhard Falter: Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik. München 2003, S. 9 f., 128–136. Martin Kagel: Widersacher des Fortschritts. Zu Ludwig Klages’ ökologischem Manifest Mensch und Erde, in: Jost Hermand (Hg.): Mit den Bäumen sterben die Menschen. Zur Kulturgeschichte der Ökologie. Köln u. a. 1993, S. 199–220, insb. S. 217. Siehe auch Walter Machtemes: Mahner und Warner von gestern. Ausgewählte Positionen philosophischer Kulturkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lesezeichen zur Überwindung der ›Bodenlosigkeit‹ gegenwärtiger Ökologie- und Zeitkritiken. Bochum 1986. Vgl. ebenfalls Hans Kasdorff: Klages im Widerstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgeschichte von 1895–1975. Bonn 1978, S. 540–543. Zur Bachofen-Rezeption vgl. etwa Paul Bishop: »Mir war der ›Geist‹ immer mehr eine ›explodierte Elephantiasis‹«. Der Briefwechsel zwischen Alfred Kubin und Ludwig Klages, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 49–95, hier S. 54. Hans Eggert Schröder: [Katalog zur Centenar-Ausstellung] Ludwig Klages 1872–1956. Bonn 1972, S. 149–151. Tobias Schneider: George und der Kreis der Kosmiker, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 154–176, hier S. 158–160. Vgl. Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft [1954], in: ders.: Werke. Bd. 9. Darmstadt, Neuwied 21974, S. 461. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung [1959]. Frankfurt a. M. 1979, S. 65. Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt a. M. 1971, S. 79. Walther Killy (Hg.): Die Deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Bd. 7: 20. Jahrhundert, 1880–1933. Texte und Zeugnisse [1967]. München 1988, S. 1086 f. Siehe insb. Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die »Kosmiker« Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des Schwabinger Beobachters. Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 51–85. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007, S. 319 f., 326–331, 336–338; vgl. S. 316–323 passim. Karlauf: Stefan George, S. 317. Ähnlich bereits Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995, S. 106.

Die Masken des Ludwig Klages

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stecken. Die wissenschaftliche Ausleuchtung der Beziehung Musil/Klages leidet bis heute daran, dass es kaum eine nüchterne Aufarbeitung11 gibt. So klar die Rezeption zur Person des Philosophen dieses Versäumnis vorgeprägt haben mag, auch Der Mann ohne Eigenschaften ist nicht ganz schuldlos daran. Bringt die Narration doch, in der Figur des Propheten Meingast, eine Persiflage von Klages vor, die sich selbst desavouiert. Dabei steckt im Romanfragment viel von der Bild- und Erostheorie des Ludwig Klages, verteilt auch auf andere Figuren. Hier soll nicht der Beweis erbracht werden, es handele sich um eine nachzuzeichnende Einflussgeschichte. Das wäre weder möglich noch meinerseits erwünscht. Die Figuren des Romans, Meingast und Hans Sepp insbesondere, sind ohnedies eher Kondensate zeitgeschichtlich virulenter Diskurse, die im fiktionalen Gefüge ihre Eigendynamiken entwickeln, als dass sie Belege wären für konkrete Rezeption.12 Aber vieles, was man bislang vorwiegend bei mystischen Quellen oder anderen Philosophen verortet hat,13 ließe sich ebenso gut oder besser bei Klages finden, der aus den skizzierten, verständlichen Gründen, insbesondere der ablehnenden Haltung zu seiner Person, aus dem Blickfeld geraten ist. Und der Roman selbst bekräftigt diese Verkennung durch den Bezugsrahmen der Figurenkonstellation. Das Versäumte zu korrigieren und an das bereits Vergessene erneut zu erinnern, ist der Anspruch dieses Beitrages. Um hier nicht missverstanden zu werden: Die ontologische Differenz von Figur und Person soll gerade nicht nivelliert werden.14 Eher geht es um eine »kulturhistorische Analyse« der »Figurendarstellungen in Schlüsselromanen«. Wir begeben uns auf die Ebene eines ›auktorialen‹ oder ›Modell11

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14

Vorläufer dazu sind u. a. Jürgen Habermas: Ludwig Klages – überholt oder unzeitgemäß? Zum Tode des deutschen Philosophen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03. 08. 1956. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland [1971]. Mit einem neuen Text: ›Post-histoire?‹, Bemerkungen zur Situation des ›Neokonservatismus‹ aus Anlaß der Taschenbuchausgabe 1986. Frankfurt a. M. 1986, S. 89, sowie Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945. Tübingen 1998, S. 55, 67, 87– 94; S. 69 f., 70 f.; vgl. S. 83. Vgl. Wolf: Verkünder des Terrors, S. 111, 113, 129, 135. Unstrittig bildet die berühmte Sammlung mystischer Schriften des Mittelalters, welche Martin Buber herausgegeben hatte, eine der Hauptquellen für Musil. Das belegt bereits ausführlich die Schrift von Dietmar Goltschnigg: Mythische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 1974, hier mit Rückgriffen auf Bausinger und Heydebrand. Für unseren Kontext interessant vor allem S. 119–128, 132, 141–147, 169. Gegen die Kompilation pointiert Spreitzer den direkten Einfluss Meister Eckharts. Vgl. Brigitte Spreitzer: Meister Musil. Eckharts Predigten als zentrale Quelle des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 564–588, hier für das Nachfolgende insb. S. 566–570, 575–577. Siehe auch Werner Fuld: Die Quellen zur Konzeption des »anderen Zustands« in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 664–682, hier insb. S. 668 f., 672 f. Manfred Pfister betont das »intentional Gemachte[ ], Konstrukthafte[ ], Artifizielle[ ]« der Figur in: Das Drama. Theorie und Analyse [1977]. München 81994, S. 221, 223.

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Heinz-Peter Preußer

Lesers‹, der, anders als ein ›narrativer Leser‹, auch die Absichten des Autors einschätzen kann und sie in Bezug setzt zur ästhetischen Gestalt und der Gesamtbedeutung des Romans.15 Ich frage dann, in einer Beobachtung zweiter Ordnung, ob der Autor Musil sich eine Philosophie aneignet und zugleich, für den ›auktorialen‹ Leser, der die Diegese verlässt, camoufliert, weil sie ihm selbst zuweilen unangenehm ist. So könnte er profitieren von befremdlichen Ideen, die ihm sein sachlicher Intellekt verwehren muss. Das Mittel wäre ihre Aufteilung innerhalb der Figurenkonstellation16 und die gleichzeitige Aburteilung ihres Urhebers – in Gestalt einer Karikatur mit dem Namen Meingast. Die Person Klages und die Gedankenwelt des Philosophen erscheinen also, meine ich, in verschiedenen Masken – und geraten deshalb nicht selten in Konflikt mit der Figur Meingast.

2. Das Konzept der Pathik Musils fragmentarischer Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist ein erratischer Block in der Geschichte der Literatur des 20. Jahrhunderts.17 »Ein riesenhaftes Panorama unseres Seins«, schrieb die zeitgenössische Kritik bereits emphatisch, oder auch: »der Wilhelm Meister unserer Epoche«.18 Ein Werk, das »längst zu einem Mythos der literarischen Moderne geworden« 15

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Vgl. Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004, S. 252, 30 f., 244. Zum Modell-Leser Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten [1979]. Übersetzt aus dem Italienischen v. Heinz-Georg Held. München, Wien 1987, S. 61–82. Zur allgemeinen Bedeutung der Figurenkonstellation im Mann ohne Eigenschaften vgl. Zeller, die gegen die Tendenz der bisherigen Musil-Forschung der Hauptfigur Ulrich keine grundlegend privilegierte Stellung mehr zubilligt und konstatiert, auch andere Figuren, wie Graf Leinsdorf, Diotima und sogar Arnheim, dürften »ab und zu etwas Richtiges« sagen. Rosmarie Zeller: Musils künstlerische Lösungen zur Darstellung des Wertesystems und der Ideologie der Moderne, in: Marie-Louise Roth, Pierre Béhar (Hg.): Musil an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Internationales Kolloquium Saarbrücken 2001. Bern u. a. 2005, S. 55–78, hier S. 66. Vgl. etwa Tim Mehigan: Robert Musil. Stuttgart 2001, S. 9, 14, dort mit dem gängigen Vergleich zu Joyce und Proust; siehe auch ebenda, S. 59. Heftrich, der sich recht kritisch mit dem großen Fragment auseinandersetzt, will lediglich »die allmähliche Verwandlung eines Gerüchts in einen Mythos [. . .] überprüfen: daß es sich um den bedeutendsten deutschsprachigen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts handle; um das einzige Werk also, kraft dessen unsere Literatur in der durch Joyce und Proust realisierten Moderne vertreten sei«. Eckhard Heftrich: Das lebenslängliche Schreibexperiment. Über Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1943), in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen. Bd. 3: 1933–1945. Frankfurt a. M. 1990, S. 304–311, hier S. 304. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1002–1009, 1750, bringt zahlreiche der ersten Reaktionen auf Band 1 des Romans; vgl. insb. das Faksimile auf S. 1004 f. Die Zitate stammen von Oskar Maurus Fontana im Berliner Börsen-Courier (Morgen-Ausgabe) vom 06. 12. 1930 und von Otto Ernst Hesse in der Vossischen Zeitung vom 16. 11. 1930.

Die Masken des Ludwig Klages

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ist.19 Der Roman selbst bietet für seine moderne Einordnung reichlich Belege, etwa in seinen Reflexionen zur erzählerischen Ordnung20 oder zur Kritik des Anthropozentrismus.21 Man könnte Ulrich, den Titelhelden, genau in diesem modernen Sinne auch als Pathiker verstehen: ein Medium für seine Umwelt, das passivisch aufnimmt, reagiert, statt zu agieren und in seiner ›eigenartigen Eigenschaftslosigkeit‹ gerade negiert, was unsere Vorstellung von einem willensorientierten ›Subjekt‹ ausmacht. Ulrich hat Zeit und ist bindungslos wie sein Ingenieurspendant Hans Castorp im Zauberberg – nur ganz so »simpel« ist er nicht.22 Weil er in drei Anläufen gescheitert ist, »ein bedeutender Mensch« zu werden,23 nimmt Ulrich danach ein Jahr lang »Urlaub von seinem Leben« (MoE, S. 35, 47). Ulrich verabscheut das Ungefähre und hängt doch, interessanterweise, an so wenig präzisen Begriffen wie Seele und Liebe. Und noch als Sekretär in der »Parallelaktion« (MoE, S. 87 f.) – in der das zeitkritische, satirische Potenzial des Romans auf den Punkt gebracht wird – hält er an dieser Obsession fest.24 Es sind seine zwei Seiten, die »beiden Bäume des Lebens« (MoE, S. 583). Als »paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit« soll die »Utopie des Essayismus« (MoE, S. 247)25 institutionalisiert werden (MoE, S. 246 f.). Anleihen bei der Quantenphysik befeuern eine

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Ingo Leiß, Hermann Stadler: Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 9: Weimarer Republik. 1918– 1933. München 2003, S. 209–224, hier S. 209. Dazu Matthias Wilde: Die Moderne beobachtet sich selbst. Eine narratologische Untersuchung zu Uwe Johnsons Jahrestage, seinem Fragment Heute Neunzig Jahr und zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2009, insb. S. 207, 213–216, 222; vgl. S. 268 f. Von »rührender Inkonsequenz« sei es, dass »ein Autor, der in seinem ganzen Werk die Auflösung anthropozentrischen Verhaltens beschrieb, nun die persönliche Gratifikation einforderte«, vermerkt Corino: Robert Musil [2003], S. 1010, zum 50. Geburtstag und dem Erscheinen des Romans. Das lässt sich genau so auch von Klages sagen. Vgl. affirmativ, mit der Unterscheidung von »Werkwille und Machtwille«, Konrad Eugster: Die Befreiung vom anthropozentrischen Weltbild. Ludwig Klages’ Lehre vom Vorrang der Natur. Bonn 1989, S. 41–68. Zum Gegenstand als Epochenphänomen vgl. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin, New York 2008, passim und insb. S. 388–391. Thomas Mann: Der Zauberberg [1924]. Frankfurt a. M. u. a. 1982, S. 760. Vgl. auch Herbert Kraft: Musil. Wien 2003, S. 191. Vgl. dazu Josef Strutz: Versuche, ein bedeutender Mann zu werden: Musil, Trakl, Freud, in: Hans-Georg Pott (Hg.): Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. München 1993, S. 45–56, insb. S. 45–47. Kremer macht darauf aufmerksam, dass es, neben der Satire, auch eine psychoanalytische und selbstreflexive Lektüre der Parallelaktion gibt. Vgl. Detlef Kremer: Parallelaktion. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Hans-Georg Pott (Hg.): Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. München 1993, S. 22–44, insb. S. 33 f. Vgl. Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 146–182, zu jenen Schriften Musils, die den Essayismus im Mann ohne Eigenschaften vorbereiteten.

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Kritik der Tatsachenwissenschaft, ohne den Anspruch der Rationalität aufzugeben.26 Wer den Roman aufmerksam liest, wird bemerken, dass sich sein Held allerdings immer weiter entfernt von dieser grundlegenden Ambivalenz zwischen ›exakt‹ und ›nicht exakt‹. »Es gab etwas in Ulrichs Wesen, das in einer zerstreuten, lähmenden, entwaffnenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeutigen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte, und auch das hing mit dem [. . .] Namen Essayismus zusammen« (MoE, S. 253). Ahnungen werden bedeutsamer in der Suche nach dem ›anderen Zustand‹. Sein Selbst löst sich zunehmend auf. Vor allem in der Annäherung an die »vergessene« Schwester Agathe (MoE, S. 671, vgl. S. 674) erhält der pathische Anteil an ihm ein deutliches Übergewicht. Das Adjektiv »pathisch« erwähnen ältere Nachschlagewerke noch mit einem Hinweis auf Ludwig Klages. In Differenz zum Pathetischen heißt es soviel wie: »ohne eigene Aktivität schauend, erlebend, ›leidend‹ an etwas hingegeben« sein.27 Es setzt sich somit einerseits vom Überschwang des Pathos ab, andererseits aber auch von den medizinischen Besetzungen des Wortfeldes, bei denen man alle Formen von Krankheit, alles Pathogene eben und schlimmstenfalls die Pathologie assoziiert.28 Pathisch nennt Klages dagegen ein erlebendes Ich, welches »etwas über sich ergehen lasse«. Das Erlebnis etwa gehört darum zu den transitiven Lebensvorgängen und setzt das so erlebende Selbst von der Subjektstelle an diejenige des Objekts. Erleidend werde das Ich »sachlich vielmehr Objekt eines Geschehens«, das außerhalb seiner selbst liege.29 Affekte zeigten den »Widerfahrnischarakter der Gemütsbewegung«, ja sogar den »Anheimfall des Ichs an ein lebendiges Geschehen«, was einer 26

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Vgl. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). Berlin, New York 1995, S. 101–116, hier insb. S. 112. Zitat mit Verweis auf Klages in: Der große Duden. Bd. 5: Fremdwörterbuch. Mannheim u. a. 21971, S. 522. Der definitorische Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes ist weitgehend identisch mit einer Passage aus meinem Beitrag: Pathische Ästhetik. Skizze einer lebensphilosophischen Bildtheorie im 20. Jahrhundert, in: Andrea Jäger, Gerd Antos (Hg.): Wahrnehmungskulturen. Erkenntnis – Mimesis – Entertainment. Halle a. d. S. 2008, S. 300–322, insb. S. 304–307. Vgl. die einschlägigen Wörterbücher, z. B. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Neu bearbeitet v. Elmar Seebold. Berlin, New York 221989, S. 531 f.; Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch. Berlin u. a. 1968/1972, S. 2679. Siehe auch zum Gegensatzpaar Ethos und Pathos den aufschlussreichen Artikel zum Lemma »Pathos« im Damen Conversations Lexikon. Hg. v. Carl Herloßsohn. Leipzig 1834–1838, Bd. 8, S. 122. Klages’ Schriften werden zitiert nach der Ausgabe Ludwig Klages: Sämtliche Werke. Hg. v. Ernst Frauchiger u. a., Bonn 1966 ff., 8 Bde. [1. Abt.: Philosophie, Bde. 1–3; 2. Abt.: Charakterkunde, Bde. 4 u. 5; 3. Abt.: Ausdruckskunde, Bd. 6; 4. Abt.: Grafologie, Bde. 7 u. 8], Registerband [Bd. 9] und Supplement, Bde. 1, 2 (erster und zweiter Halbband) [Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages – Die Geschichte seines Lebens]. Im Folgenden als Sigle SW, dann Bandnummer und anschließend Seitenzahl; hier: Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele [1929–31], SW 1 und SW 2, zit. SW 1, S. 244, vgl. S. 239–250. Hervorhebungen bei

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»eigenmächtigen Tat des Erfassens« diametral entgegenstehe. Gegenüber der Neuzeit war »die gesamte Antike im Grunde pathisch gesonnen«, das heißt auf das Wirken von Schicksalsmächten bezogen. Klages selbst glaubt sich deshalb in der Rolle eines Zurückschauenden.30 Er definiert den Zustand oder die »Gabe« der Pathik auch folgendermaßen: unter Abweisung des Willens zum persönlichen wie zum gedanklichen Besitzergreifen vom wirkenden Geschehen hingenommen und von ihm allererst zu den findenden Akten des Geistes genötigt zu werden. Sie kann, wenn verschüttet, ausgegraben, aber nicht über das eingeborene Maß hinaus gesteigert und nicht erneuert werden, wo sie aus langer Gewohnheit aneignungssüchtiger Lebenshaltung verdorrt ist.31

Auch wenn er die Position der »währenden Ekstasis« höher einschätzt, sieht er doch recht deutlich, dass diese Versenkung ins Leben kaum mehr lebbar, die Verneinung von Rationalität nur als philosophische Kritik möglich ist.32 Er überbietet den Trennungsschmerz, den Verlust der Unmittelbarkeit des Lebenszusammenhangs deshalb nicht romantisch, noch fällt seine vehemente Geistkritik zurück auf reinen Irrationalismus. Nein: Im Konzept des Pathischen wird stattdessen eine Haltung der Welt als Wirklichkeit gegenüber aufgezeigt, die alle Modernität, die inhärente Beschleunigung und die in ihr wirkende Teleologie hinter sich lässt. Das Selbst soll sich dem Strom des Erlebens überlassen. Nicht die »Dingnatur des Wahrgenommenen« muss der Pathiker anstreben, sondern das ihr Zugrundeliegende, die »Wirklichkeitsnatur des Empfindbaren«.33 »[D]as Bild fließt mit dem immerfließenden Erleben; das Ding beharrt, dauert [. . .] – das Bild wird von der Seele empfangen; das Ding aufgrund des Empfangenen durch die Urteilstat des Geistes geleistet – das Bild hat bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit; das Ding ist in die Welt vom Bewußtsein hineingedacht«.34 Pathiker sind demnach nicht Treibende, sondern Getriebene: Gegenfiguren zu allen Tatheroen seit der Antike, denn ihr Selbst hängt am Bild. Willenlos überlassen sie sich dem »Spiel ihrer Einfälle und Phantasmen«35 und trotzen darin den Machern und Handelnden, deren Dasein im Wollen aufzugehen scheint. Das »Kommando des Geistes«, sagt Klages streng, mache »aus Antrieben Zwecksetzungen« und »aus dem getriebenen Ich allererst ein wollendes Ich«.36 Der Pathiker steht auf der Seite des Vi-

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Klages sind im Original in der Regel gesperrt. Sie werden hier durchgängig kursiv wiedergegeben. SW 3, S. 299. SW 6, S. 422. SW 1, S. 119, 122. SW 3, S. 199. SW 3, S. 416 f. SW 1, S. 520. SW 1, S. 558.

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talen, Wesensnotwendigen, während der Tatmensch »eigenmächtig Akte vollbringt«; und seien es nur die Akte der Wahrnehmung, die er in die Wirklichkeit trägt, nach deren Auffassungsgabe die Welt fragmentiert und – im Erkennen – auf den Begriff gebracht wird.37 Das ist ein radikaler Dualismus, dem jede Form der Vermittlung und Versöhnung fremd bleibt. Klages überbietet deshalb, wie der Poststrukturalismus, die eingeschränkte romantische Kritik am souveränen, wollenden Subjekt.38 Ähnlich hatte schon Nietzsche über die Subjektivität des lyrischen Sprechens und seines ›Ichs‹ gehöhnt.39 Aber Klages interessiert sich bereits für eine Wirklichkeit jenseits des Subjekts; er kritisiert, das gilt zumindest in der Theorie, die ›Persönlichkeit‹, das tatbezogene Ich, durch die Schau der Bilder. Hier treibt er die Auffassung Schopenhauers ins Extrem. Es ist nicht eine Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit schlechthin, die sich dem Pathiker, und nur ihm, offenbart. In der Reduktion des Ichs liegt die Möglichkeit der Schau. Klages bringt den Pathiker in die Nähe des ›elementaren Menschen‹, dem etwas, dem es geschieht, der einem Müssen folgt und dieses bejaht. Der Pathiker stehe der Wirklichkeit als »webende[r] Macht« gegenüber.40 So hat er Anteil am Es als »Träger des Geschehens«, während das Ich als »Träger des Tuns« firmiert und das Wirkliche ausgrenzt.41 In der Extremform kann er selbst dem Wahnsinn anheimfallen, der griechischen μανὶα. Der Sinne beraubt, geht die bewusste Persönlichkeit hier über in den göttlich gedachten Lebensantrieb: »Und Raserei gleicht wunderbar der Seherkunst«, zitiert Klages den Euripides der Bakchen.42 Den vollkommen Schauenden nennt Klages einen »Pathiker der Seele«, mehr der Pflanze verwandt als dem Tier oder dem jeweiligen Anteil beider in ihm.43 Offen für Stimmung erweist sich der Pathiker; in ihm spiegelt sich das Getriebensein als ein innerliches Geschehen.44 Wenn er aus der Fassung gerät, hingerissen oder überwältigt wird, zeige seine körperliche »Rückäußerung die Erlittenheit des Vorganges«, den »Erleidnischarakter der Gemütsbewegungen«.45 Seine schauend37 38 39

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SW 1, S. 558; SW 1, S. 80, 82 f. SW 3, S. 417–421.

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [1872/1886], in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe [KSA]. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1988, S. 9–156, hier S. 44. SW 1, S. 549. SW 1, S. 249. SW 1, S. 236. Es spricht der Seher Teiresias. Klages gibt keine weiteren Belege an. Die Stelle ist Vers 299, nach Donner/Kannicht: »Das trunkne Rasen trägt in sich die Seherkunst.« Euripides: Die Bakchen, in: ders.: Sämtliche Tragödien in zwei Bänden. Übersetzt aus dem Griechischen v. J. J. Donner, bearbeitet v. Richard Kannicht. Bd. 1. Stuttgart 1984 [unveränderter Nachdruck der Auflage von 1958], S. 91–143, hier S. 103. SW 2, S. 1110. Klages nennt das Tier an dieser Stelle einen »Dynamiker«, die Pflanze einen »Pathiker des Leibes«. SW 2, S. 1040 f. SW 2, S. 1461.

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wirkende Seele ist ›ferneempfänglich‹, anders als die reizempfindlich-eigenbewegliche Leibseele.46 Bei Klages verliert sich das Selbst traumverwoben in die Bildwelt, in der es die Urphänomene erblickt.47 Es lebt im Augenblick, in der Unwiederholbarkeit des Einzigen im Erleben.48 Das »Eindrucksbild« übersteigt das »Wahrnehmungsding«. Es hat die Wucht eines Erhabenheitsschauers. Und dieser Zustand ist dann wieder näher am Pathos, als es die eingangs versuchte Definition vermuten ließ. Das ›Getriebensein‹ des Pathikers kann zudem nach zwei Seiten ausschlagen: verwunschen oder begnadet. Auf der einen steht Hoffmanns Figur des »dämonischen« René Cardillac, »der Mordtat auf Mordtat häuft«, oder ebenso gut Dostojewskis Raskolnikow, auf der anderen Eichendorffs Taugenichts: Gestalten »des finstersten Grausens« oder der »lichtesten Trunkenheit«, wie Klages, verliebt in Adjektive und nicht ohne dichtenden Übermut, formuliert. »Dämmerzustände« und »Somnambulismen« umgeben die Pathiker, so auch den Peer Gynt Ibsens: Fälle, wie der Autor selbst einräumt, die im 20. Jahrhundert in die »seelische Krankheitslehre« gehören.49 Alle nur scheinbare Handlung, weil sie doch gegen den Willen einer bewusst erfahrenden Person verübt wird, erfolgt aus »dunklen Notwendigkeiten des eigenen Wesens«. Machte die Antike ein außerweltliches Schicksal verantwortlich für das Pathische, so entspringt der »Fatalismus der Neueren« einem »Verhängnis des Inneren«. Die Menschen der Moderne werden zum »Spielball[ ] geheimer Seelengewalten« oder zum »willenlosen[ ] Leiter ›magischer‹ Ströme«,50 weil es in ihnen selbst angelegt ist. Die Antike erlebte noch den Zustand äußerster Pathik als Einswerden mit der Gottheit, als Unio mystica oder Hierogamos.51 Der moderne, gottlose Pathiker wäre dagegen eine Erscheinungsform der Säkularisation, die freilich nicht das Selbst begründet, sondern seine Negation. »›Ins Bewußtsein erhoben‹, spräche sich das Weltgefühl des Pathikers mit der Überzeugung aus, die Wirklichkeit sei eine Welt des unaufhaltsamen Kommens und Gehens beseelter Urbilder«.52 Und genau dazu ist er nur Medium.

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SW 2, S. 1043 f. Vgl. SW 4, S. 616: »[J]e mehr er in den Zustand des Schauens hineingerät, den die Alten mit Recht für einen Zustand der Pathik hielten, umso inniger tritt er in Verkehr mit der Seele des Bildes«. SW 3, S. 419 f. SW 3, S. 421–423. SW 1, S. 233. SW 1, S. 232; auch SW 3, S. 105 f. SW 3, S. 478. Vgl. etwa Angela Maria Kochs: Chaos und Individuum. Robert Musils philosophischer Roman als Vision der Moderne. Freiburg i. Br., München 1996, S. 194, auch S. 179. Zur Hierogamie allgemein Michel Maffesoli: Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus [1982]. Übersetzt aus dem Französischen v. Martin Weinmann. Frankfurt a. M. 1986, insb. S. 46. SW 4, S. 407.

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Klages beschreibt eine Schwundstufe nicht allein des metaphysischen, sondern des magischen Denkens.53 Das Wort Seele, ein ambivalenter Schlüsselbegriff auch im Mann ohne Eigenschaften, überträgt er auf Tiere, Pflanzen, Landschaften und Wahrnehmungszustände.54 Einerseits schließt er hier an die antike philosophische Tradition der Weltseele – als einer den Kosmos durchwaltenden Macht – an, andererseits rekurriert Klages bewusst auf die vorklassischen und die sogenannten primitiven Kulturen des Animismus, welche die umgebende Dingwelt beseelt glauben und die strikte Unterscheidung in Subjekt und Objekt aufheben. Lateinisch Anima, griechisch ψυχή oder das indogermanische Atman bedeuten allesamt auch: Wind, Hauch, Atem. Die Wortursprünge erweisen die Seele als verbunden mit dem lebendigen, atmenden Körper: als etwas Flüchtiges. In einem »gewaltig lebentauschenden Einvernehmen« teilt sich die Seele »dem kosmischen Raum« mit.55

3. Meingast und Klages: Die Karikatur des Propheten Robert Musil übernimmt mehr von dieser späten lebensphilosophischen Wahrnehmungstheorie und ihrer impliziten Subjektkritik, als gemeinhin gesehen wird. Ja, ich stelle sogar die These auf, dass der Mann ohne Eigenschaften durch das Schlüsselkonzept des Pathischen anders und damit neu verstanden werden kann. Und erst mit der Verteilung der verschiedenen Spielarten einer pathischen Schau auf konträre Figuren, und ihre dadurch bewirkte ironische Brechung in Musils Roman, wird das Verführungspotenzial des Lebensphilosophen und seiner – für Musils sachlichen Gestus – befremdlichen Ideen eingehegt. Das Pathische ist in der Prosa – anders als in der Theorie von Klages – aus dieser Sicht nur noch eine Option der radikalen Andersheit, eine Anschauungsform, die den »Möglichkeitssinn« (MoE, S. 16), ganz nach dem Protagonisten Ulrich, verteidigt gegen das »Abstraktwerden des Lebens« (MoE, S. 649). Diese These scheint nur auf den ersten Blick verwunderlich. Lange ist bekannt, dass im Roman mit der Figur Meingast die Person Klages skizziert und für die Narration funktionalisiert wurde. Die Fragmente aus dem Nachlass bringen dafür mehrere, eindeutige Belegstellen.56 Aber gerade die Zeichnung des Propheten ließ nicht erwarten, aus dessen Gedankengängen Substanzielles im Mann ohne Eigenschaften vorfinden zu können. Schon Adorno fand

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Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen [1923–29]. 2. Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 9 1994. SW 2, S. 1110, 1112. SW 2, S. 1111 f. Vgl. insb. MoE, S. 1773, 2014, 2115, 2117, sowie MoE, S. 1790, 1806, 1999, 2009, 2015, 2116, 2118.

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die karikierende »Maske[ ] von Klages« »großartig«,57 weil er darin nur die Ablehnung sah. Im Romanfragment selbst erscheint Meingast als weitgehend unerfreuliche, herrische Figur, deren Mystik den ihr verfallenen Jüngern das Denken auszutreiben scheint. Wenn diese sich dann doch einmal getrauen, »so unverschämt über die kostbare Zeit eines Philosophen« zu verfügen, gewärtigen sie sogleich, dass aus seiner »Radieschenschüssel Blitz und Donner brechen« mögen: »aber der große Mann nahm die Zumutung freundlich hin – was seine Bewunderer als ein äußerst anekdotisches Ereignis betrachteten – und nickte mit dem Auge wie ein Adler, der einen Sperling neben sich auf der Stange duldet.« (MoE, S. 828)58 Kaum vorstellbar scheint, nach dieser ironischen Zuspitzung, dass Musil den so Karikierten überhaupt ernst nehmen könnte, geschweige denn ihm fundamentale Einsichten verdankt. In der Regel findet man deshalb nur knappe Verweise auf den Kosmogonischen Eros von Klages,59 der sicherlich auf einen der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts eingewirkt habe. Andere Publikationen – auch die primär Klages gewidmeten Untersuchungen – rekurrieren oftmals nur auf die wichtige, aber schon sehr frühe Studie von Renate von Heydebrand,60 ohne den Befund erneut zu prüfen oder seine Tragweite zu hinterfragen. Corino gibt die Lektüre des Werkes durch Musil zum Jahreswechsel 1920/21 an.61 Arntzen vermerkt Exzerpte hierzu 57

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Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Bd. 2: Theodor W. Adorno, Alban Berg: Briefwechsel 1925–1935. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt a. M. 1997, S. 288. Die Einzelausgabe von Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros [1922]. Bonn 9 1988, bringt ein Bildnis des Autors auf dem Titelumschlag, das wie eine Illustration zur Personenbeschreibung bei Musil wirkt. Dazu etwa Thomas Pekar: Robert Musil zur Einführung. Hamburg 1997, S. 144, 185, Anm. 81. Siehe auch ders.: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989, S. 267, 293. Selbst Corino geht in seinem großen Buch über Musil nur auf diesen Text ein, hier S. 165, sofern er nicht ausschließlich Biografisches aus seinem Archivstudium beisteuert. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966, hier insb. S. 133–143. Vgl. etwa Reinhard Falter: Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik. München 2003, S. 67, 147, dort Anm. 106. Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933. Paderborn u. a. 1999, S. 166. Siehe auch Nübel: Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, S. 36, Anm. 153, und Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995, S. 459, dort auch Anm. 25, S. 449–470 passim; vgl. S. 503. Außerdem Roger Kingerlee: Psycological Models of Masculinity in Döblin, Musil, and Jahnn. Männliches, Allzumännliches. Lewiston u. a. 2001, S. 229, mit Einschränkungen, sowie Klaus Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 1970, S. 133 f., 166, und Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Würzburg 2000, S. 193. Vgl. Stefan Hajduk: Die Figur des Erhabenen. Robert Musils ästhetische Transgression der Moderne. Würzburg 2000, S. 401–415, zur »erotische[n] Umarmung«, u. a. mit Auslassungen über die »kosmogonische Erotik«, S. 411–415, ohne Klages zu erwähnen. Corino: Robert Musil [2003], S. 1898. Die Lektüre vermerkt die Zeittafel gegen Ende des Buches. Die Jahresangabe 1920/21 ist insofern irritierend, als das Werk Vom kosmogonischen

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im Mai 1923.62 Berghahn notiert, Musil habe Klages bereits in der Studienzeit, bis 1910, allerdings »höchst kritisch«, zur Kenntnis genommen.63 Eine persönliche Begegnung soll schon 1909 stattgefunden haben.64 Wenige Arbeiten gehen auf das Hauptwerk, Der Geist als Widersacher der Seele, ein, bleiben demgegenüber aber eher randständig.65 Viele verweisen nur summarisch auf Klages, meist im Kontext anderer, einschlägiger Autoren wie Mach, Wittgenstein, Carnap sowie Freud, Jung und Adler oder Kassner und Buber, manche mit Belegangaben aus den Tagebüchern.66 Nur zwei Publikationen, eine noch dazu in japanischer Sprache und mit einer für uns peripheren Frage, nehmen im Titel direkt Bezug auf das Verhältnis der beiden.67 Eine Monografie über Musils Philosophie kommt ganz ohne einen Hinweis auf

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Eros erst 1922 erschienen ist. Dazu SW Supplement, 2. Teil, 2. Halbband, S. 963. Vgl. auch Gnam, die auf Musils Tagebucheinträge hierzu kurz eingeht. Andrea Gnam: Die Bewältigung der Geschwindigkeit. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und Walter Benjamins Spätwerk. München 1999, S. 95, dort auch Anm. 233; S. 173, Anm. 442. Siehe ebenfalls Tb I, S. 615–624. Maier-Solgk streift in seinem Kapitel »Bilderwelt« die Exzerpte Musils aus dem Kosmogonischen Eros, mit Verweis auf Tb I, S. 623: »Urbilder sind erscheinende Vergangenheitsseelen«. Vgl. Frank Maier-Solgk: Sinn für Geschichte. Ästhetische Subjektivität und historiologische Reflexion bei Robert Musil. München 1992, S. 113–128, hier insb. S. 127. Zum Geist als Widersacher der Seele ein kurzer Eintrag ebenda, S. 74; vgl. dort auch S. 12. Etwas ausführlicher die Bezüge bei Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994, S. 224, 227 f.; siehe auch S. 356. Helmut Arntzen: Musil-Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1982, S. 22, 40, vgl. S. 219. Siehe auch Fuld: Die Quellen zur Konzeption des »anderen Zustands«, S. 668. Wilfried Berghahn: Robert Musil – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek b. Hamburg 20 2001, S. 47. Ähnlich die kritisch-distanzierte Haltung Musils noch um 1940 – mit dem Nachweis des Tagebucheintrags; dazu Hildegard Hogen: Die Modernisierung des Ich. Individualitätskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti. Würzburg 2000, S. 104, Anm. 83. Vgl. Tb I, S. 948. Arntzen: Musil-Kommentar Der Mann ohne Eigenschaften, S. 17. Herbert Kraft erwähnt das Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele [1929–31], zitiert daraus aber nur das vorangestellte Motto von Omar Khajjam: »Reicht dir ein Weiser Gift, / so trink’s getrost, / reicht Gegengift ein Tor dir, / gieß es aus!« Sein Kommentar dazu: »Lebensphilosophie unterm Führerprinzip.« Kraft: Musil, S. 186. Ähnlich knapp, vor allem zu den Stichworten ›Kulturpessimismus‹ und ›Irrationalismus‹, Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005, S. 366, Anm. 668; S. 363, dort auch Anm. 665. So Jacques Bouveresse: Robert Musil. L’homme probable, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’histoire. Paris u. a. 2 2004, S. 40, 271. Ebenfalls Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006, S. 305, Anm. 305; hier, neben den einschlägigen Schriften zur Mystik von Kassner, Fechner und Buber, Ludwig Klages: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft [1913]. Erneut in SW 6. Im Mann ohne Eigenschaften aufschlussreich zur Ausdrucksbewegung MoE, S. 1166. Isamu Okawa: Das Österreichische bei Musil zwischen Klages und Mach [in japanischer Sprache, deutsche Zusammenfassung], in: Doitsu-bungaku 42 (1988), Nr. 81, S. 46–55. Tobias Schneider: Robert Musil – Gustav Donath – Ludwig Klages. Marginalien zur MeingastEpisode im Mann ohne Eigenschaften, in: Musil-Forum 25–26 (1999/2000), S. 239–252.

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jenen Mann aus, der als einzige Figur eines Philosophen handelnd in die Fiktion eingehen durfte,68 wenn man Walther Rathenau, alias Dr. Arnheim, diese Berufsbezeichnung nicht zusprechen will.69 »Anders vertritt gegen Klages nur deshalb das Wissenschaftliche«, notiert Musil selbst in den Entwürfen, »weil er seine ideologische Bestimmtheit nicht verträgt« (MoE, S. 1773). Anders ist (wie Achilles) ein früherer Name des Helden Ulrich, also des Mannes ohne Eigenschaften; auch Klages wird erst später in Meingast umgetauft.70 Das signalisiert Ablehnung und Anerkennung gleichermaßen. Diese Ambivalenz findet sich auch in der Porträtzeichnung. Meingast, der, in leichter Asynchronität zu den realen Ereignissen, »jetzt in der Schweiz war und ein berühmter Mann«,71 wird in der Rückwendung als großer Verführer fünfzehnjähriger Mädchen gezeichnet, den Clarisse einerseits von sich weist, ja als »ein Schwein« beschimpft, und sich andererseits doch zu ihm hingezogen fühlt, ihn regelrecht bewundert. Nun kommt er erneut nach Wien, »eine Schar von Schülern und Schülerinnen um sich« versammelnd (MoE, S. 438 f.), und gibt den »Prototypen des Nietzscheschen Schauspielers«.72 Clarisse ließ sich einst immer wieder von dem Philosophen in spe küssen, selbst im Beisein ihres späteren Mannes, Walter. Beim Händedruck fühlte sie »ihren ganzen Körper gereinigt durch seine Hand«. »Dr. Meingasts Atem hatte etwas, worin der Widerstand schmolz, etwas wie reine leichte Luft, in der man sich glücklich fühlt, ohne sie zu merken« (MoE, S. 440). Erst als er »in die Fremde geflüchtet« war, vollzog sich »jene ungeheure Verwandlung [. . .], die aus einem leichtfertigen Lebemann einen berühmten Denker machte« (MoE, S. 441). Clarisse bildet sich darum sogar ein, etwas zur Läuterung des Meisters beigetragen zu haben

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Hans-Joachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002. »Daß seine Philosophie [. . .] zweitklassig ist, spürt der Leser sofort«, schreibt etwa Wolf Lepenies, der Rathenau, den »Mann so vieler Eigenschaften«, »Arnheim Junior«, gleichwohl anerkennend als eine »Megaperson« und die Verkörperung »mehrere[r] Institutionen in einem Fall« bezeichnet. Wolf Lepenies: Das Geheimnis des Ganzen, in: Thomas P. Hughes u. a. (Hg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990, S. 140–142. Vgl. Corino: Robert Musil [2003], S. 823–842, und Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 150; vgl. S. 139–149, 305–315 bzw. die Grafik auf S. 254 zur Figurenkonstellation der Romanfrühphase. Im MoE, S. 2115, ist notiert: »Klages [. . .]: Ludwig. K. (1872–1956), Freund von Gustl Donath und Alice, Modell zum ›Philosophen‹ Meingast (zuerst: Lindner)«. Den Namen Lindner erhält später eine andere Figur. Die Romanhandlung spielt in den Jahren 1913/1914, ohne bis zum Krieg zu führen; Klages siedelt erst im Kriegsjahr 1915 in die Schweiz über. Dazu kurz Schröder: Ludwig Klages 1872–1956, S. 69–73. So, über die Figur Meingast, Kordula Glander: »Leben, wie man liest«. Strukturen der Erfahrung erzählter Wirklichkeit in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. St. Ingbert 2005, S. 68, dort Anm. 134. Siehe zu Klages sonst S. 34, Anm. 66, und S. 209.

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(vgl. MoE, S. 293), indem sie sich für Walter, den sie seither verachtet, und gegen Meingast entschied. Zur Konstellation Clarisse, Walter, Meingast – und Ulrich – gibt es eine biografische Referenz, die Schneider und Corino rekonstruiert haben.73 Die Rede ist von den Realpersonen Alice und Gustl Donath, von Klages und von Musil selbst, der alle Vorgänge vom Freund Gustl übermittelt bekommt. Klages übernimmt in dieser Tragikomödie die Rolle des Seelenführers, Alice adoriert den Meister förmlich, Gustav sieht in ihm den Mentor. Das einzige Kind der beiden, 1912 geboren, nennen sie nach dem Philosophen Ludwig.74 Klages hingegen diagnostiziert Alices psychische Erkrankung, gibt Gustl väterliche Ratschläge, wie er der sexuellen Verweigerung seiner Frau begegnen könne. Doch auch nach der Trennung von Gustl dichtet Alice Donath noch Hymnen auf Klages und übersendet sie ihm per Post.75 Musil überblendet die Zeichnung von Klages zudem mit dem Porträt eines »brutalen Charmeur[s]« – eines »Draufgänger[s] und Rockheber[s]« – mit Namen Sieczynski, eben jenem, der sich die dreisten Übergriffe auf Alice tatsächlich herausnahm, und die der Roman dann der Figur Meingast, in ihrer Jugendzeit (MoE, S. 292), zuschreibt.76 Andere, inzestuöse Szenen mit dem Vater Alices treten in diesen Kontext: Erfahrungen, die sie später für den Zustand ihrer geistigen Zerrüttung verantwortlich macht.77 Alice verbrachte ihr weiteres Leben in Irrenhäusern. Musil war, über Gustl, immer Zeuge der fortlaufenden Verschlimmerung ihres Zustandes, aber auch der Mutmaßungen über die Ursachen. Donath ließ den Freund an allem teilhaben und war entsetzt, sich porträtiert zu finden im Mann ohne Eigenschaften – wie auch Alice und Klages und viele andere mehr –, sprach von »Bloßstellung« und brach endgültig mit dem Jugendfreund.78 Die Kompilation der Figur Meingast, mit einem aus anderen Biografien bezogenen Hintergrund, sollte Klages diskreditieren. So wurde der Auftritt des Philosophen durchweg verstanden. Das passt auch zur despektierlichen Notiz Musils, der von den »Opfer[n] der heutigen Sektierer à la Kl[age].s« spricht (MoE, S. 2014). Das Drama der Alice Donath, also Clarisses im Roman, konnte zeigen, wohin »geistige Diktatorenverehrung« führen kann: eine Wendung, die Musil später, angesichts des Naziterrors gebraucht. 73

74 75 76 77 78

Früher der Aufsatz von Schneider: Robert Musil – Gustav Donath – Ludwig Klages, S. 239– 252. Dazu ebenfalls Matthias Luserke: Robert Musil. Stuttgart, Weimar 1995, S. 6, 8, sowie S. 89 f., 98 f. Corino: Robert Musil [2003], S. 451 f., 459, 460, 463. Siehe auch Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften«, S. 102 f. Corino: Robert Musil [2003], S. 461, 465. Siehe auch ders.: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 392 f., sowie Tb II, S. 57. Corino: Robert Musil [2003], S. 296 f. Corino: Robert Musil [2003], S. 300, 294. Corino: Robert Musil [2003], S. 466. Berghahn: Robert Musil, geht nur am Rande auf die Konstellation mit dem Ehepaar Donath ein, hier S. 35, 53, 65 f.

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Aber sowenig Meingast allein auf Klages referiert, findet man umgekehrt die Person Klages kaum hinreichend in der Figur Meingast wieder. Meingast verkörpert fast ausschließlich »das Bedürfnis nach Herrschaft und Führerschaft«,79 weniger die pathische Theorie, die dieser Subjektanmaßung im Wege stehen müsste. Und die Theorie wiederum ist verteilt auf viele Figuren, die ganz ungleich Zu- oder Abneigung ihres Erzählers erfahren. Meingast selbst bleibt überwiegend auf den »Schausteller« reduziert, von dem Clarisse, als Zuschauerin und in Verkennung der Selbstinszenierung erwartet, er werde sich diesmal, auf Besuch in Wien und zu Gast bei ihnen, verwandeln wie ein indischer Gott (MoE, S. 780 f.) und weitere Schritte tun von »einem oberflächlichen Lebemann [zu] eine[m] Propheten« (MoE, S. 789). Der Philosoph arbeitet »in kriegerische[r] Einfachheit«, die »ihm schmeichelte«. Ulrich hält sich auf Distanz, lässt »spitze Bemerkungen« fallen, etwa die, »besonders tiefe Philosophen« seien »gewöhnlich flache Denker«. »Es ist zu erwarten gewesen, daß dir dieser Mensch nicht passen wird«, konstatiert Walter (MoE, S. 783). Doch Ulrich lässt nicht ab: Meingast lebe davon, dass »heute Ahnen und Glauben verwechselt wird«. Was man nicht wisse, könne man nur ahnen. Das aber brauche »Leidenschaft und Vorsicht«. Ulrich sieht in Walter und Clarisse hingegen Menschen, die sofort glauben, »sobald euch einer wie Meingast kommt«, den Walter auch gerne »Heilbringer« nennt, weil er alles heil, ganz mache (MoE, S. 784). Und mit großem, selbstzufriedenem innerlichen Spott wartet Ulrich dann auf »diesen Sendboten [. . .], der sich aus Zarathustras Bergen auf das Familienleben von Walter und Clarisse niedergesenkt hatte« (MoE, S. 785), auf einen Mann mithin, in den Clarisse immer noch verliebt ist, aber nicht »wie eine Frau, sondern eher so wie ein Knabe, der einen Mann bewundert; beseligt, wenn es ihm gelingt, in gleicher Weise seinen Hut aufzusetzen wie jener« (MoE, S. 789). Bei aller Häme dringt aber auch Anerkennung, selbst in der Karikatur, durch. Ulrich nennt Meingast zwar abwertend einen »Schwätzer«, findet ihn aber, »nach einer Atempause«, »als Denker interessant« (MoE, S. 839). Nun ist der Mann ohne Eigenschaften immer gut für Ambivalenzen. Doch wird man diese Anerkennung nicht allein situativ und rhetorisch auffassen dürfen, etwa um die bornierte Biederkeit der Figur Siegmund bloßzustellen.80 Wenn der Philosoph den Wahn als Gnade postuliert (MoE, S. 834) und gegen die sexuelle Begierde ins Feld führt, ist er nahe bei der Charakterzeichnung von 79 80

Berghahn: Robert Musil, S. 125. Vgl. Bouveresse: Musil, S. 271, sowie Tb I, S. 967; Tb II, S. 506. Nach diesem Verständnis greift Ulrich bewusst zur Negation, weil ihm Siegmund einmal, in der Ablehnung gegenüber Meingast, beipflichten will. Gunther Martens meint sogar, hier rede nicht Ulrich, sondern abermals Siegmund. Der Verfasser belegt seine Zuordnung mit dem inflationären Gebrauch des Wortes »interessant«. Der Text Musils markiert die Sprecherrolle nicht. Vgl. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006, S. 189.

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Clarisse und Moosbrugger, welche die Narration doch viel ernster nimmt. »Bockspiele des Zeitwollens« (MoE, S. 792) nennt Meingast die allgemeine Ausrichtung auf die Triebstruktur: eine wunderbare Persiflage der Wortbildungsungetüme bei Klages, die dennoch ernst gemeinte Züge von dessen genuiner Erostheorie transportiert.

4. Philosophie des Eros In der Tat lehnt Klages die vordergründig auf den Sexus gerichtete Begierde ab. Sexus wäre genau das, was mit den »Bockspiele[n] des Zeitwollens« bei Musil karikiert werden soll. Klages selbst spricht von der »Werbelogik der nackten Geschlechtsbrunst«.81 Dagegen setzt er, strikt antinomisch, den Eros als umfassendere Erfahrung von Sinnlichkeit. Man vergegenwärtige sich den wehgemischten Taumel des Entzückens, in den uns bisweilen der erste Anhauch von Veilchendüften im Vorfrühjahr versetzen konnte, und danach die beunruhigenden und aufregenden Lockungen, die von den herausfordernden Blicken, Gebärden, Stellungen einer reizvollen Chansonette ausgingen, und man wird [. . .] keinen Augenblick zögern, ihre große Verschiedenheit anzuerkennen. Durch und durch irdisch sind beide, und voreilig Werte hineinzutragen, hüten wir uns. Das aber sehen wir: in der ersten Regung, die wir versuchsweise für eine erotische nehmen, liegt ein starkes, jedoch unbestimmtes Ziehen, eine ahnungsvolle Sehnsucht; in der zweiten, deren sexuellen Charakter niemand bezweifeln wird, ein nicht minder starkes, jedoch bestimmtes Verlangen, eine vielversprechende Begierde.82

Sehnsucht denkt Klages also universell, ja weltumspannend. Deshalb kann er hier auch von einem Eros der Ferne oder gar vom kosmogonischen Eros sprechen.83 Nicht das zu Greifende, Naheliegende der körperlichen Befriedigung wird intendiert, sondern ein sehnender Aufschub. Im Sehnen gibt sich das Subjekt preis und wird Teil der Natur, aus der es hervorging. Die Begierde hingegen, die den Sexus ausmacht, ist vom Wollen getragen. Sie verlangt nach Befriedigung einer Bedürftigkeit. Durch diese Zielvorstellung lässt sich der Sexus auch von einer tierischen Triebhaftigkeit unterscheiden. Er ist vom Ich, von der Besitzgier geleitet, nicht mehr ›reiner‹ Trieb. Eros heißt das »einende und verbindende Prinzip«. Der Sexus hingegen trennt und vereinzelt.84 Er bleibt bezogen auf den Willen des Individuums und drückt deshalb Herrschaftsverhältnisse aus. Die Frau ist dabei in der Regel Objekt, Opfer der männlichen Triebabsicht und Besitzstand des Mannes, gesichert

81 82 83 84

Klages: Vom kosmogonischen Eros [1922], in: SW 3, S. 353–497, hier S. 356. SW 3, S. 483. SW 3, S. 412, 398 z. B. SW 3, S. 490.

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durch die Institutionalisierung der Ehe.85 Mehr lässt dieser »enterotisierte[ ] Sexus«, »vornehmlich auf männlicher Seite«, nicht zu.86 Damit wird gefährdet, was bei Klages Eros der Ferne heißt.87 Auch Bilder im emphatischen Sinne sind für den Lebensphilosophen nicht unmittelbar erreichbar, liegen also in einer – räumlichen oder zeitlichen – Ferne, auf welche die Seele mit dem Mittel der »Schauung« reagiert.88 Diese Schauung ist nicht kontrolliert, nicht von den Instanzen des Ichs herbeizuführen, und sie reicht weiter als der rein körperliche Sinneseindruck. Klages beschreibt das in seiner Schrift Vom Wesen des Bewußtseins:89 »[D]as Schauen verwandel[t] den Schauenden«.90 Zur Schauung gehört die Versenkung, zum pathischen Ergriffenwerden die Muße eines frei flottierenden Ichs. Wie der Eros ist die Schau der Bilder nicht verfügbar. In ihrer Radikalität markieren beide Erscheinungsformen das, was Musil den anderen Zustand nennt.91 Der Sexus hingegen ist das Nahe, ›Zuhandene‹, das dem pathischen Weltverhältnis nicht genügt. Wo der Zauber der Bilder wirkt, wo der Eros oder die Schau in die Ekstase führt, bleibt Kritik undenkbar. Musil hat gezeigt, dass diese Kapitulation nicht zwangsläufig sein muss. Dazu entwickelt er seine Bildtheorie 85 86 87

88 89

90 91

SW 2, S. 1353. SW 3, S. 489. SW 3, S. 410–413. Vgl. Gernot Böhme: Erscheinen und Erscheinen-machen, in: Michael

Großheim (Hg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion. Berlin 1994, S. 19–30, hier S. 21 f. SW 5, S. 279. Zuerst 1921; SW 3, S. 239–351, insb. S. 308–319. Ob Musil diese Schrift kannte, ist ungewiss. Klages versteht sie aber selbst als eine »sehr knappe Zusammenfassung einiger Hauptergebnisse der Forschungen des Verfassers« (SW 3, S. 243), weshalb sie hier angeführt wird. Vgl. auch Eugster: Befreiung vom anthropozentrischen Weltbild, S. 128–134. SW 3, S. 447; vgl. S. 167. Siehe auch Thomas Behnke: Naturhermeneutik und physiognomisches Weltbild. Die Naturphilosophie von Ludwig Klages. Regensburg 1999, S. 139–146. Die Konzeption des ›anderen Zustands‹ im Mann ohne Eigenschaften führen in der Forschung mehrere Autoren auf Klages zurück. Vgl. etwa Pauen: Dithyrambiker des Untergangs, S. 197, Anm. 319. Musil selbst hat diese Verbindung hergestellt durch eine ausführliche Notiz (vgl. GW II, S. 901). Andere, auch frühromantische Quellen nennt Manfred Frank: Auf der Suche nach einem Grund. Über den Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983, S. 318–362, hier S. 330; S. 356 mit weiteren Verweisen. Auch der Androgynenmythos könnte über Klages rezipiert und interpretiert worden sein. Siehe Laermann: Eigenschaftslosigkeit, S. 133 f., 140–150, insb. S. 146. Für Mackowiak ist hingegen die kabbalistische Gnosis als Quelle wahrscheinlicher. Vgl. Klaus Mackowiak: Genauigkeit und Seele. Robert Musils Kunstauffassung als Kritik der instrumentellen Vernunft. Marburg 1995, S. 58. Diese Auffassung vertritt, gegen Laermann, bereits Fuld: Die Quellen zur Konzeption des »anderen Zustands«, S. 669, und bringt zudem die Schriften Franz von Baaders als Referenztexte ins Spiel, S. 672, 679 f. Siehe auch Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 21. Zur Unio mystica als Äquivalent des ›anderen Zustands‹ verweise ich auf Spreitzer: Meister Musil, S. 566, 570, 576, 580, 585, und Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils, S. 119–128 und passim.

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als intellektuelles Korrektiv, im modernen Sinne,92 und greift, in verschiedenen Konstellationen, immer wieder auf die Erostheorie von Klages zurück. Deutlich wird die Dichotomie am Helden Ulrich selbst, der zunächst seine sexuellen Abenteuer und Avancen sucht und auslebt wie einen Sport,93 den er, scheinbar unbeteiligt, ironisch von außen betrachtet. Leona, die »gelegentlich Prostitution« betreibt (MoE, S. 23), steht ebenso dafür wie Bonadea, die »Gattin eines angesehenen Mannes und die zärtliche Mutter zweier schönen Knaben«, deren »Lieblingsbegriff [. . .] hochanständig« ist, die aber »in einem ganz ungewöhnlichen Maß schon durch den Anblick von Männern erregbar war«, und die durch diese Eigenschaft Ulrichs Geliebte werden sollte (MoE, S. 42). Wenn Letzterem die Lage – wie im Falle der eindeutigen Angebote Gerdas oder Clarisses – zu heikel wird, hält er auch einmal inne oder nimmt Reißaus (vgl. MoE, S. 621–624, 660 f.). Ulrichs durchweg praktisches Verhältnis zur eigenen Libido94 entsteht aber erst, als ihm die Liebe zur Frau eines Majors entrückt und uneinholbar scheint. Der Held erinnert sich, durch sie liebeskrank geworden zu sein (MoE, S. 123); »echte Liebeskrankheit« sei aber »kein Verlangen nach Besitz [. . .], sondern ein sanftes Sich-entschleiern der Welt« (MoE, S. 123). Vor »lauter Liebe« floh er »so rasch und weit wie möglich aus der Nähe des Ursprungs dieser Liebe« (MoE, S. 124) und vertauschte sein sexuelles Begehren mit dem erotischen Verschmelzen in der Natur, in der »Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel«. So glaubte sich der Mann ohne Eigenschaften »›keinen Scheidungen des Menschentums mehr untertan‹« und fühlte wie ein gottgläubiger Mystiker.95 »Er versank in der Landschaft, obgleich das ebenso gut ein unaussprechliches Getragensein war [. . .]. Er war ins Herz der Welt geraten; von ihm zu der weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum nächsten Baum; Ingefühl verband die Wesen ohne Raum«. Alles war klar in ihm, »bloß bewegte sich nichts [. . .] nach Ursache, Zweck und körperlichem Begehren« (MoE, S. 125). Das »große Zu-Liebe-leben«, schrieb der junge Ulrich der frühen Geliebten im Abschiedsbrief, habe »eigentlich gar nichts mit Be92 93

94

95

Vor allem MoE, S. 751–765, 801 f., 857–860, 927 f., 966, 1277, 1312, 1320. Vgl. im Haupttext weiter unten. Sport ist ein eigenes Thema, ja ein eigenes Paradigma im Mann ohne Eigenschaften, das in diesem Kontext allerdings nicht weiter verfolgt werden kann. Vgl. dazu Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin u. a. 2008. Vgl. hierzu u. a. Stéphane Gödicke: Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, oder Geschlecht, Gewalt und Erkenntnis, in: Marie-Louise Roth, Pierre Béhar (Hg.): Musil an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Internationales Kolloquium Saarbrücken 2001. Bern u. a. 2005, S. 21–44, insb. S. 26, 34 f. Das direkte und durch Anführungszeichen im Mann ohne Eigenschaften markierte letztgenannte Zitat nimmt Musil aus Martin Buber (Hg.): Ekstatische Konfessionen. Jena 1909, S. 218. Vgl. Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils, S. 112. Zu den Anleihen bei mystischer Literatur vgl. auch Bernd-Rüdiger Hüppauf: Von sozialer Utopie zur Mystik. Zu Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften«. München 1971, hier S. 109–117, 121–131; vgl. S. 44–58, 99–108.

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sitz und dem Wunsche Seimein zu tun [. . .], die aus der Sphäre des Sparens, Aneignens und der Freßsucht stammten« (MoE, S. 126). Diese Formulierung trifft nun, ob indirektes Zitat oder unbewusst gesetzt, recht gut den Tonfall von Klages. Musil kompiliert aber dessen zuweilen drastische und ruppige Ausdrucksweise, die dann zu Lehrsätzen und letzten Weisheiten wechselt, ganz pointiert und kontrastiv mit dem sphärischen Gestus mystischer Rede. In der Summe entsteht der Typus des Pathikers. Im Gespräch mit Diotima, der Kusine und Salondame, ruft Ulrich im Augenblick ihrer größten Nähe die Empfindung des Kindes wach, »ganz weiche Glut« zu sein – oder die des Jugendlichen, »dem die Sehnsucht auf den Lippen brannte« (MoE, S. 290). Erreicht hat er sie, in dieser Begegnung, allerdings nicht. Ulrich versetzt sich in diesen pathischen Zustand erst wieder durch die unmögliche Liebe zur Schwester Agathe, der lange »vergessenen«, die sodann zur Zwillingsschwester, ja sogar zum »Siamesischen Zwilling[ ]« aufsteigen darf (MoE, S. 671, 899). Das Tabu des Inzests zeichnet deren Beziehung aus. Den Beischlaf der Geschwister hat Musil freilich nie für den Druck freigegeben.96 Die entsprechende Szene findet sich nur in den Entwürfen zu einem Reisekapitel mit den Figuren Anders (alias Ulrich) und Agathe. Durch die Ausnahme des Verbots wird aber auch die Übertretung geheiligt,97 die Kopulation wird zum Hierogamos, zur heiligen Hochzeit: Die Körper, während die Seelen in ihnen hochaufgerichtet waren, fanden einander wie Tiere, die Wärme suchen. Und da gelang den Körpern das Wunder. A. war mit einemmal in Ag. oder sie in ihm. [. . .] So sehr sie seit Wochen jeder Tag darauf vorbereitet hatte, fürchteten sie in dieser Sekunde, den Verstand verloren zu haben. Aber es war alles klar in ihnen. Keine Vision. Eher eine übermäßige Klarheit. Und doch schienen sie nicht nur den Verstand, sondern alle ihre Vermögen verloren und abgelegt zu haben; es regte sich kein Gedanke in ihnen, sie konnten keinen Vorsatz fassen, alle Worte waren weithin zurückgewichen, der Wille leblos [. . .]. Es war eigentlich wundersam einfach: Mit den begrenzten Kräften hatten sich alle Grenzen verloren, und da sie keinerlei Scheidung mehr spürten, weder in sich, noch von den Dingen, waren sie eins geworden. (MoE, S. 1656 f.)

Jede Berührung wird in diesem Zustand zur Verschmelzung, wenn die »Stufe des Verlangens« erst überwunden ist. »Erfüllung« (MoE, S. 1657) umfasst alle Stellen des Leibes, überwindet die genitale Fixierung. Die »schweren Körper« werden leicht und bestehen »aus zärtlicher Beweglichkeit«. Sie lassen eine »Vereinigung« entstehen, »die vollendeter und glückseliger ist als die 96

97

Heute wird dieses lange bestehende Darstellungstabu gerne und rigoros gebrochen. Vgl. die ähnliche Konstellation einer inzestuösen Zwillingsliebe bei Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman [2006]. Übersetzt aus dem Französischen v. Hainer Kober. Frankfurt a. M. u. a. 2008. Dort die expliziten Szenen zwischen dem Protagonisten, Maximilian Aue, und seiner Schwester, Una von Üxküll, S. 670 f. Der Gedanke der darauf gründenden »unzerstörbaren Einheit« ebenda, S. 680, mit Bezug auf Proust. Vgl. Georges Bataille: Die Erotik [1957]. Übersetzt aus dem Französischen v. Gerd Bergfleth. München 1994, S. 52–54, 193–215, hier insb. S. 214.

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[rein] körperliche« (MoE, S. 1659). Im Bruch des Inzesttabus kommt Ulrich also zurück zur einzigartigen Erfahrung der Ersten Liebe, zum Schönheitsempfinden desjenigen, der »zum erstenmal die Welt mustert« (MoE, S. 249). Selbst im Vollzug ist der inzestuöse Akt keine Entweihung des asexuellen Sehnens, sondern dessen Bestätigung auf einer höheren Ebene. Er bleibt heilige Ausnahme, der keine Dauer folgen kann. Ulrich fühlt sich zurückversetzt in das Selbstbewusstsein seiner Jugend, die ahnt: »[D]iese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese« (MoE, S. 250). »Παντα ῥει«,98 notiert Musil in den Entwürfen, alles fließt (MoE, S. 2015), und der »potentielle Mensch« erscheint »als Inbegriff seiner Möglichkeiten« (MoE, S. 251). Die faktische Kopulation lässt sich deuten als Erschütterung der Ordnung und Vorstoß zum potenziellen Menschen. Der einmalige Regelverstoß heiligt den Geschlechtsakt, gibt der »seraphischen«, engelsgleich beschwingten Geschwisterliebe (MoE, S. 877 f.) die letzten, quasi mystischen Weihen. »Liebe«, sagt Ulrich einmal zu Agathe, ist »ein Ausnahmefall, und kann nicht das Muster für das alltägliche Geschehen abgeben« (MoE, S. 941). Der herausgehobene Moment, der reine Augenblick als Kairos ist ein Testfall für die »schrankenlose Verwandelbarkeit«, die das »mythische Denken« einst auszeichnen konnte.99 Genau das wird im Akt rekapituliert: Er eröffnet den Raum des Möglichen und stiftet den Allbezug. Der Koitus bestätigt also paradoxerweise das Konzept einer Liebe ohne Geschlechtlichkeit, indem es dieses vordergründig bricht. Der Roman zeigt uns Agathe aber schon in den publizierten Teilen als Figur, die im Gefühl des Eros kosmogonos eine tiefe Wandlung erfährt, welche die Begegnung mit dem Bruder angestoßen hatte. Sie verspürt nun »den eigentümlichen Reiz der Allgegenwart [. . .], der mit dem Übertritt der gefühlten Welt in die Wahrnehmungen verbunden ist«. Die »Aufmerksamkeit« findet einen direkteren Weg als den über die Sinne: Sie scheint vielmehr »gleich tief innen im Gemüt geöffnet zu sein«. Eine »grenzenlose[ ] Gegenwart« lässt alle Trennungen schmelzen, »und ihre Bewegung schien der Weg zu sein, den die Dinge selbst herankamen«. »Ich bin verliebt«, sagt Aga98

99

So auch – allerdings in korrekter Schreibung: Πάντα ῥεῖ – nachgewiesen bei Georg Büchmann: Geflügelte Worte und Zitatenschatz. Verbesserte Neuausgabe. Konstanz, Stuttgart 1950, S. 197. Der Satz des Heraklit ist, naturgemäß, auch ein leitendes Motto der Werke von Klages. Vgl. SW 2, S. 853–859. Diels/Kranz bringen den aus Plutarch überlieferten Spruch: »Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluß hineinzusteigen, so Heraklit. [Der Fluss] zerstreut und bringt wieder zusammen [. . .] und geht heran und geht fort.« Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch hg. v. Walther Kranz. Berlin 6 1951, hier: 22 B 91; vgl. 22 B 12, 22 B 49a. SW 2, S. 854.

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the von sich, »aber ich weiß nicht, in wen.« (MoE, S. 858) Die erotische Schmelzung ist – wir sehen es hier ganz deutlich – eine Form der anderen, pathischen Welterfahrung. Ohne Selbstsucht ist das Ich »in alle Welt verflochten«. Der »Genuß am Besitz« wird vertauscht gegen ein »grenzenloses sich Verschenken und Verschränken« (MoE, S. 765). Und diesen Zustand nennt Musil, anspielungsbeladen, das »Tausendjährige Reich« (MoE, S. 669). Die Liebe fließt nicht mehr, wie ein Bach, einem Ziel entgegen, sondern bildet »wie das Meer einen Zustand«. »[W]ir werden weder Güter, noch Erkenntnisse, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier« (MoE, S. 801 f.). Hier, in diesem Moment der Emphase, ist der Text wieder ganz nah am ›Ideologen‹ Klages, mit dem Unterschied freilich, dass der Erzähler der Diegese kurz darauf dieses »kleine Zwischengespräch« als »Scherz« abtun kann (MoE, S. 802). Wenn zuvor, in einem anderen Kontext, ernsthaft der Unterschied zwischen »einem Erotiker, in dem der Geist der Liebe, unbelastet von Begehrlichkeit, frei schwebt, und einem Sexualiker« erörtert werden soll, heißt es darauffolgend, das seien »Leseklugheiten, über die man lachen könnte« (MoE, S. 333). Auch in diesem Falle reagiert der Erzähler, als habe er sich hier neoromantisch verstiegen. Aber sein Autor will die Wirkung offenbar nicht missen, die er diesen Zeilen zutraut. Deshalb bleiben sie stehen und erhalten (nur) einen ironischen Kontrapunkt. Ironie, definiert Uwe Japp, ist »ein Versuch zur Versprachlichung der Welt in Form einer gleichzeitigen Gegenrede«.100 Sie transportiert immer mit, was sie verwerfen will. Zahlreich und eigentlich recht redundant sind deshalb jene Passagen, die von der asexuellen Liebe zu Gott und der Welt handeln (MoE, S. 941), die Leidenschaft ohne »Begehren« beschreiben (MoE, S. 878, 943), die Fernliebe verklären (MoE, S. 891), »Zärtlichkeit« gegen den nackten »Trieb« setzen (MoE, S. 901) oder das liebenswerte, »alltägliche[ ] Leben ganz ohne Gedanken« feiern (MoE, S. 937). Von Agathe heißt es: »Sie liebte ihn in einer so schamlosen Weise, wie man das Leben liebt. Er erwachte des Morgens in allen ihren Gliedern, wenn sie die Augen aufschlug.« (MoE, S. 966) Das dazu notwendige Sich-Lösen des Selbst wird als ein pathisches »Erlösen« wünschenswert.101 Bei dieser Häufung fällt kaum auf, dass die letzte Formel wieder Meingast in den Mund gelegt wird, nämlich als »Erlösung der Welt

100 Uwe Japp: Theorie der Ironie. Frankfurt a. M. 1983, S. 327; vgl. S. 24–37, 57 f. und passim sowie S. 316–326 zum Mann ohne Eigenschaften. Zur Ironie bei Musil neuerdings auch Kevin Mulligan, Armin Westerhoff (Hg.): Robert Musil. Ironie, Satire, falsche Gefühle. Paderborn 2009. 101 Zur Wortgruppe »erlösen« in säkularisierter Zeit vgl. bereits Dietrich Hochstätter: Sprache des Möglichen. Stilistischer Perspektivismus in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M. 1972, S. 263–272, insb. S. 271 f. Siehe auch z. B. MoE, S. 517 f., 1320.

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durch Gewalt« (MoE, S. 834). Klages selbst wählt zur Kennzeichnung unterschiedlicher Erosformen die Antinomie von Sprengung und Schmelzung: Neben der Ekstase kraft innerer Sprengung steht die Ekstase kraft innerer Schmelzung. Wenn von jener das mänadische Rasen [. . .] zeugt, so wird uns diese durch den Umstand bestätigt, daß sämtliche Rauschgötter, allen voran Dionysos, Bakchos und Eros, den Beinamen ›Lysios‹, ›Lysimeläs‹, als ›lösende‹, ›gliederlösende‹ führen. Und wie die Sprengung an den leiblichen Tod erinnert, so die Schmelzung an den ›gliederlösenden‹ Schlummer.102

Die Todesassoziation, die dem Eros strukturverwandt ist,103 wird aber nur selten im Mann ohne Eigenschaften explizit (z. B. MoE, S. 859, 966, 1673). Das Rasen hat in der Figur des gestörten Sexualmörders Moosbrugger, zum Teil auch in Clarisse seinen Platz. Statt von Sprengung ist also ganz überwiegend von Schmelzung, von einem sanften Lösungsprozess die Rede. Der »Wortkern ›lösen‹«, den der Roman Meingast zuschreibt, wird aber von Musil wie von Klages diametral anders gefasst. Es geht beiden nicht um »Erlösung der Welt durch Gewalt« und auch nicht um die »Entschlossenheit des Willens«, die Meingast, sinnwidrig zu den Erläuterungen von Klages, vorbringt. Gerade die Kritik des Willens und die Verneinung der Tat zeichnen den Pathiker aus.104 Das Wettern gegen »die Intellektualität« als »Werkzeug eines ausgetrockneten Lebens« (MoE, S. 834) ist hingegen, im selben Kontext, wiederum mimetisch Klages nachgebildet. Aber die Willensphilosophie, eine Lehre der Tat, kompiliert Musil hier von Nietzsche und überträgt sie auf seine Kunstfigur Meingast. Dagegen kanzelt Klages den Willen apodiktisch ab: Der Wille ist der mechanische Vollzieher der Blindheit [. . .]. Im Willen wird seelenloser Zerstörungsdrang, was in der Blindheit Unglaube ist [. . .]. Aus der Verneinung kommt die Blindheit, aus der Blindheit der Wille, der, was jene nicht schauen kann, zerstört. Weil das Nichts ›ins Leben trat‹, wurde es Lebensfeindschaft; weil ihr Lebensfeindschaft innewohnt, wird die Seele blind; weil er blind ist, muß der Geist des Menschen wollen. Darum ist die unbewußte Taktik des Wollenden, sich abzublenden gegen den Gehalt des Widerstehenden: er unterhöhlt und entwürdigt die Welt. Die ›Energie‹ seines Wollens ist geraubtes und entheiligtes Lebenswasser [. . .]. Wille ist immer erneuter Lebensmord und sein Symbol der Selbstmord.105

Wir erkennen hier Schopenhauer wieder; und es ist gleichfalls Schopenhauer, der durch die radikale Kritik der Tyrannei des treibenden Willens und durch 102 SW 3, S. 394 f. 103 Dazu Bataille: Die Erotik, S. 16 f., 19, 55–59, 61 f., 91–105 sowie Maffesoli: Der Schatten des Dionysos, S. 87–105, insb. S. 91 f. 104 SW 1, S. 520, 522. Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 379, weist darauf hin, Musil habe die »neue[ ] Lehre vom Willen« aus »Nietzsche und Klages zusammengebastelt«. Das stimmt für die Passage mit der Figur Lindner, verdreht Klages aber ebenfalls in die Intentionen Nietzsches, die Ersterer hier entschieden ablehnt (MoE, S. 1519 f.). Darauf verweist auch schon Schneider: Robert Musil – Gustav Donath – Ludwig Klages, S. 245. 105 SW 1, S. 664 f.

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die Gegenbewegung der kontemplativen, reinen Vorstellung jenes Ich präfiguriert, das Klages als ein fundamental erotisches begreift:106 »Aufgehn in der Anschauung, Verlieren ins Objekt, Vergessen aller Individualität«.107 Der Wollende ist zu eben diesem Vollzug der erotischen Öffnung, dem Sich-Einlassen auf die Bilder, zur Verschmelzung nicht mehr fähig. Der Wille zielt, ist teleologisch gerichtet und hat den »Charakter der Geradlinigkeit. Zweckbewußtsein und Geradlinigkeit fordern einander«.108 Doch die Tat, als das Ergebnis dieses zweckbezogenen Zielens, hatte der Philosoph Klages nur als junger Dichter und Theoretiker des Ästhetischen gefeiert, später aber ebenso radikal verworfen.109 Der Verfasser des Hauptwerks, Der Geist als Widersache der Seele, hat hingegen erkannt: Das »Objekt der Tat ist das Ergreifbare und Begreifliche«,110 eben dasjenige, was für die Eigeninteressen fungibel gemacht werden kann. Wille ist vor allem »Zerstörungswille«:111 Nicht die Natur ja rodet Wälder, kanalisiert Flüsse, zieht Telegraphendrähte, legt Schienenstränge, errichtet Fabrikschlote, sondern gegen die Natur, sie in sich selber entzweiend, erzwang das alles der menschliche Wille, und so redet es unvergleichlich weniger vom Leben der Erde als von den Vergewaltigungen, die dem Erdleben durch die Intelligenz widerfuhren, deren Endziel es wäre, das Nichts zu verwirklichen.112

Die ironischen Brechungen Musils zu diesem Thema treten prägnant auch in der Figur Arnheims hervor, der die Weltumspannung des kosmogonischen Eros empfinden darf (vgl. MoE, S. 386–393), etwa in der unerlösten Fernliebe zu Diotima, und gleichzeitig an der Verwirtschaftung der Welt unaufhörlich weiterarbeitet. Er ist so praktisch, so sehr Mann der Tat, dass er sogar den Verlust des »Ur- und Weltliebeserlebnis[ses]« in Handlung überführt und die »Überlegenheit« der »männlichen Verhältnisse über die träumerisch jugendlichen [. . .] unter Führung der neuen Manneserkenntnisse [. . .] [zur] Verschmelzung« bringt (MoE, S. 387). Das klingt wie bitterer Hohn auf die Emphase des ›anderen Zustands‹. Aber das Handeln Arnheims, 106 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [1819], in: ders.: Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1986, S. 257. 107 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1, S. 280. Die Kritik von Klages an Schopenhauer, auf die hier nicht eingegangen werden kann, erläutert mein o. g. Beitrag: Pathische Ästhetik. Skizze einer lebensphilosophischen Bildtheorie, insb. S. 308 f. 108 SW 1, S. 671. 109 Vgl. dazu Heinz-Peter Preußer: Ein Neuromantiker als Ästhetizist. Über den Dichter Ludwig Klages, in: Bettina Gruber, Gerhard Plumpe (Hg.): Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg 1999, S. 125–163, hier S. 153–157. Ders.: Pathiker und Täter. Ludwig Klages liest Stefan George und Johann Wolfgang von Goethe, in: HeinzPeter Preußer, Matthias Wilde (Hg.): Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren. Festschrift für Wolfgang Emmerich. Göttingen 2006, S. 63–91, hier S. 64, vgl. S. 89 f. 110 SW 1, S. 647. 111 SW 1, S. 673. 112 SW 1, S. 673.

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»die Interessenfusion Seele-Geschäft« (MoE, S. 389; vgl. S. 569) dieses eitlen Selbstinszenierers (vgl. MoE, S. 505–511), wird auch anderweitig folgenreich. Seine Mitwirkung in der Parallelaktion, als schriftstellernder großindustrieller Deutscher in einer patriotischen Unternehmung Österreich-Ungarns, hat das primäre Ziel, die »galizischen Ölfelder [. . .] unter die Kontrolle seines Konzerns zu bringen« (MoE, S. 616). Zum ironischen Schlusspunkt passt denn auch, dass die fiktionale Figur bei Walther Rathenau als Person Anleihen nahm.

5. Von Hans Sepp zu Ulrich: Subjektkritik und Wahrnehmung Der Gegenpol zu dieser Selbstherrlichkeit, welche die kapitalistische Unterjochung der Erde betreibt, ist wieder die Karikatur eines Propheten: hier seine Verballhornung durch die Figur Hans Sepp, die ebenfalls deutliche Züge von Klages übernimmt.113 Dem Namen nach schon eine Kreuzung von Hans Wurst und dem Seppl des Kasperltheaters, kommt er auch im Roman nie über die verächtlich vorgebrachte Typologie hinaus. Und gerade ihm wird aufgetragen, am deutlichsten das »Verhängnis der Selbstheit« zu geißeln, das Klages so sehr bekämpft, weil er in ihm die »Selbstaufbrauchung des Lebensstoffes« erkennt:114 Die »Lebenszelle« sieht der Philosoph an einem »Erstarrungspunkt« angekommen, wo sie, »ausgeschlossen von ihrer Teilhaberschaft am Leben des Alls, der Vernichtung anheimfällt, der keine Erneuerung folgt. Der Weg der Verselbstung [. . .] ist der Weg von der Lebensfeuchte zur Lebensverdorrung, von der Eigenherrlichkeit des Rhythmus zur Zwangsherrschaft der Regel«.115 »Die Lust des Eroberns ist eine Lust am Ich, die Seligkeit des Schauens eine Seligkeit am Wirklichen«, bündelt 113 »Kein Zweifel, in Figuren wie Rathenau/Arnheim oder Hans Sepp wollte Musil falsche Propheten porträtieren«, schreibt Corino: Robert Musil [2003], S. 830. Vgl. davor die Passage über die Reformbewegungen der Jahrhundertwende (S. 829). Klages wird beide Male nicht genannt. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose, S. 348, Anm. 641, bezieht hingegen die Parodie des Hans Sepp und seiner Gruppe bereits auf den Klages-Kreis. Peter Christian Pohl, dessen Dissertation in Bremen entstanden ist, sieht gleichfalls die Analogien von Hans Sepp zu Klages, setzt den Akzent aber dezidiert auf die Jugendbewegung. Vgl. ders.: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln, Weimar, Wien 2011 [voraussichtlich]. Ich danke ihm und den Studierenden in meinen beiden Musil-Seminaren in Osnabrück und Bremen für zahlreiche Hinweise und Anregungen. Auf die Jugendbewegung (und auf Mach) geht ebenfalls Robert Krause ein: Abstraktion – Krise – Wahnsinn. Die Ordnung der Diskurse in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2008, insb. S. 78–81. Klages wird dort nicht erwähnt. Wolf: Verkünder des Terrors, S. 132, sieht in Hans Sepp »einen paradigmatischen Studenten, bei dem die nicht nur von Meingast vertretenen Ideologeme auf fruchtbaren Boden fallen«. Dabei ist entscheidend, »dass Musil seinen faschistoiden Propheten [. . .] als Vertreter außeruniversitärer Philosophie zeichnet«. 114 SW 1, S. 445–457, hier S. 445. 115 SW 1, S. 446.

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Klages erneut seine Lehrgrundsätze; deshalb werde »jede Befriedigung des ›Willens zur Macht‹ [. . .] gebüßt mit einem Verlust am Vermögen zur Seligkeit«.116 Es liegt, wie gesagt, an Hans Sepp, diese Apodiktik in Fiktionalität zu überführen. So macht sich der Individualist Musil die Subjektkritik der Lebensphilosophie zu eigen.117 Hans Sepp redet tapfer von der »Entpanzerung des Ich«, wo Klages von der »übergewaltsamen Sprengung spricht, die bereits die Alten ›Ekstase‹ tauften«;118 und er ruft auf zur Gründung einer »Gemeinschaft der vollendet Ichlosen« (MoE, S. 555). Das Kind stilisiert er, ganz im Geiste der Romantik, zur Urkraft des Schöpferischen, an dem die Eltern frevelten, weil sie es in wirtschaftlicher Abhängigkeit hielten. Hans Sepp spricht hier gespreizt von »Kapitalismus am Kinde« (MoE, S. 553 f.) und fordert die »Zerstörung der bürgerlichen Welt durch die Welt der Liebe« (MoE, S. 555). Dazu hat er, gleich passend, »eine große Theorie der Liebe« parat (MoE, S. 557). Doch »Selbsthaftigkeit« charakterisiere noch den »selbstlosesten Menschen«: [J]eder Sinneseindruck, jedes Gefühl, selbst die Hingabe, ist in unserer Ausführung mehr ein Nehmen als ein Geben, und diesem Panzer von Durchtränkung mit Eigensucht kann man kaum [. . .] entrinnen: So ist Wissen nichts als An-Eignung einer fremden Sache [. . .]. Begriff, das reglos gewordene Getötete. Überzeugung, die nicht mehr veränderliche erkaltete Beziehung. Forschung gleich Fest-Stellen. Charakter gleich Trägheit, sich zu wandeln. Kenntnis eines Menschen soviel wie nicht mehr von ihm bewegt werden [. . .]. Wahrheit der erfolgreiche Versuch, sachlich und unmenschlich zu denken. In allen diesen Beziehungen ist Tötung, Frost, ein Verlangen nach Eigentum und Erstarren [. . .]. (MoE, S. 555 f.)

Heute gelte es, sich künstlich anzueignen, »womit man vordem eins war«: »je mehr jemand sich vergessen, auslöschen, von sich abrücken könne, desto mehr Kraft für die Gemeinschaft werde in ihm frei«. Das »Sichöffnen« solle in »steigende Grade des Teilnehmens und der Hingabe« und zu einer »bis zu dem höchsten Grad einer Gemeinschaft der ganz von der Welt aufgenommenen, vollendet Ichlosen« führen (MoE, S. 555). Hans Sepp also ist auch ein Pathiker, der von »überkörperlicher« »Schauung« spricht, vom »Symbol«, von »Zeichen des Lebens«, und er preist das »unbedingte Erlebnis«. Nach diesem Überschwang folgt, wir kennen das Muster schon, die Distanzierung durch den Helden: »Ulrich war ärgerlich über dieses abergläubische Geschwätz.« (MoE, S. 557) Doch gerade der Mann ohne Eigenschaften partizipiert an dem oben geschilderten »Grunderlebnis einer veränderten

116 SW 1, S. 451. 117 Vgl. über Ulrichs »Rettung der Eigenheit« – bei Verwerfung des Konzepts des Individuums und gleichzeitiger Überwindung des gebrochenen Weltbezugs – Jörg Theis: Individuum und Individualität in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2004, S. 232–241, insb. S. 240. 118 SW 1, S. 446.

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Weltsicht«.119 Später spricht er dennoch verächtlich von »Schleudermystik« als einer besonderen Form der Einfalt, »die sich einbildet, wenn sie kaum den Kopf ins Gras lege, kitzle sie Gott schon am Hals« (MoE, S. 1088). Die antike oder mittelalterliche Mystik hingegen sieht Ulrich als eine »Vermengung grob irdischen Verhaltens mit den Erlebnissen eines äußerst ungewöhnlichen und unbestimmten Ahnungszustandes«. Es geht ihm um den »reine[n] Erlebniskern, der auch nach strengen Erfahrungsgrundsätzen glaubwürdig sein« müsste (MoE, S. 552), und den er selbst einem Hans Sepp nicht aberkennen will. Klages und sein zweites, hier indirektes Porträt als Maske, Hans Sepp, haben beide ein Faible für alles Germanische.120 Fiktive wie reale Gestalt sehen sich selbst als »Träger[ ] versprengten Germanenbluts«, wenngleich ihnen bewusst bleibt, dass »das dauernde Ergreifen des Wesenhaften der Vergangenheit angehöre und der Gegenwart entzogen sei« (MoE, S. 557). Die »tellurischen Wendezeiten«,121 die beide erhoffen (MoE, S. 562 f.), sind beim realen Philosophen aber als Wiedergeburt des Paganen ausgewiesen – was der Option für das Germanische durchaus entspricht –, während diese bei Hans Sepp mit christlicher Religiosität vermengt werden (MoE, S. 562 f.). Für die Konstruktion der antisemitischen Attitüde hat das Konsequenzen. Während Hans Sepp bieder den Affront der Christenheit gegen die Juden reproduziert, argumentiert der Neuheide Klages subtiler und entwirft einen geschichtsphilosophisch und metaphysisch begründeten Antijudaismus. Klages richtet sich prinzipiell gegen den Eingott, das Abstraktwerden des Glaubens im Monotheismus, die Loslösung vom Naturzusammenhang. Der Gott der Juden wie der Christen habe das willens- und logoszentrierte Subjekt erst hervorgebracht, das für die Vernichtung des Planeten verantwortlich sei.122 Trotz aller späteren Ausfälle des Philosophen, die tatsächlich als antisemitisch einzuschätzen sind,123 ist das ein schlüssiger Gedanke und nicht reines antijüdisches Ressentiment. Hans Sepp, als Figur des Romans, reicht 119 So Pekar: Musil zur Einführung, S. 143. 120 Das gilt vor allem für den frühen Ludwig Klages: Rhythmen und Runen. Nachlaß. Hg. v. ihm selbst. Leipzig 1944, S. 245 f., 249 f., 262 f. 121 SW 2, S. 915 f. Vgl. Klages: Mensch und Erde, in: SW 3, S. 628. 122 Ausführlich dazu mein Aufsatz: Monotheismus, Aufklärung und Judaismus. Fundamentalkritik an Religion aus dem Geist des Antirationalismus bei Ludwig Klages und Alfred Schuler, in: Carsten Jakobi, Bernhard Spies, Andrea Jäger (Hg.): Religionskritik in Literatur und Philosophie nach der Aufklärung. Halle a. d. S. 2007, S. 121–142. 123 Hierzu mein Beitrag: Antisemiten aus Kalkül? Über Alfred Schuler, Ludwig Klages und die Instrumentalisierung des rassistischen Ressentiments im Nationalsozialismus, in: Walter Delabar, Horst Denkler, Erhard Schütz (Hg.): Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Berlin 1999, S. 121–136. Schneider sieht hingegen eine deutliche Kontinuität der antisemitischen Haltung bei Klages. Vgl. Tobias Schneider: Ideologische Grabenkämpfe. Der Philosoph Ludwig Klages und der Nationalsozialismus 1933–1938, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 275–294, insb. S. 278. Zu den späten Schriften der 40er Jahre insb. S. 277 f. und 294.

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nicht annähernd an diese gedankliche Kohärenz. Er soll und muss sie auch nicht ›erreichen‹ für seine Funktion innerhalb der Narration. Der »Seelenführer« Gerdas (MoE, S. 478), selbsternanntes Oberhaupt der »christ-germanischen« Gemeinschaft (MoE, S. 477), erklärt, ähnlich schwungvoll wie Klages, »die Humanität für eine Phrase« und lässt dagegen nur noch »Volkstum und Brauchtum für etwas Wirkliches gelten« (MoE, S. 479). Im »nationale[n] Gefühl«, der »Verschmelzung ihrer Ichs«, liege »eine erträumte Einigkeit«, die »etwas von geflügeltem Eros an sich« habe, vermerkt der Erzähler im Mann ohne Eigenschaften: gegen die »›Gier‹«, die »›aufgestutzte Lüge des plumpen Daseinsgenusses‹«. Auch Hans Sepp und die »germanische Christbürgergemeinschaft« prämieren das »zarte Gedenken an Sinnlichkeit« und verachten die »Brunst« wie den »Besitz« (MoE, S. 479 f.). Sie wettern gegen den Fortschritt, gegen »Rationalismus«, »Intelligenz« und die »Begriffe der mechanischen Denkweise einer vom Kapitalismus zerfaserten Zeit« (MoE, S. 484, 491 f.). Leo Fischel, Jude, Bankdirektor und Vater der Gerda, muss sich all diese Schmähreden gegen die Finanzwelt, die antisemitischen Anwürfe und die Hetze gegen Elternschaft gefallen lassen von denjenigen, die er in seinem Hause duldet und bewirtet: wie die mythische Penelope ihre Freier. Hans Sepp und seine Kumpane wollen »den deutschen Adel retten«, der »in die Netze des Judengeistes gefallen« sei (MoE, S. 478). Ulrich fasst die Intention der Christgermanen recht gut zusammen: »der Mensch, der etwas erobern will; der Mensch, der überhaupt etwas will: alles das lehnen Sie ab? Sie wollen Wanderer sein. Schweifende Wanderer« (MoE, S. 492) oder: Pathiker. Mit ihrem irrationalen, eifernden Hass gegen die Juden verträgt sich dieser Gestus sicher nicht. Indirekt wird auch hier Klages als Ideologe attackiert.124 Man erkennt ihn in vielen Details der Figurenzeichnung. Weil an Hans Sepp das Verführungspotenzial des realen Philosophen, mit all seinen Verdrehungen und Übertreibungen, ironisch auf die Spitze getrieben wurde, kann mit den Figuren Ulrich und Agathe vor allem wiederkehren, was Musil selbst am Konzept des Pathischen reizte, ja offenkundig faszinierte. Die Figurenkonstellation des Romans betreibt also Kritik und Adaption dieser befremdlichen, bisweilen riskanten Ideen gleichermaßen. Anders gesagt: In der Kritik ist das Kritisierte zugleich aufgehoben, ja sogar prononciert ausgestellt.

6. Unsichtbarkeit statt Camouflage Es ist genau die Dialektik von Ausstellen und Verbergen, die Musils entlehnte Philosophie vor dem impliziten, ihm zeitgenössischen und ›auktorialen‹ Leser schützen sollte. Man platziert, wie in Edgar Allan Poes Der entwendete 124 Vgl. den Verweis bei Pekar: Sprache der Liebe bei Musil, S. 233 f., Anm. 3.

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Brief, den Jacques Lacan analysierte,125 etwas so offensichtlich, dass es als nicht mehr bedeutsam erscheint – und macht es damit unsichtbar. Ganz anders in der historischen Distanz. Hier schiebt sich die Unkenntnis der Person Klages vor die Figur Meingast. Das reale Individuum ist desavouiert – vor allem durch antisemitische Ausfälle in den 40er Jahren; die werden im Gefolge der 68er Kritik zum Fallbeil für jede weitere Befassung. Eben dadurch wird die Camouflage nicht gesehen, die durch die Aufteilung der Philosopheme in die Figurenkonstellation und insbesondere durch die Karikatur Hans Sepp erreicht werden konnte. Der ›auktoriale‹ Leser wird von Jannidis verstanden als ein textbasiertes und anthropomorphes Konstrukt.126 – In unserer Gegenwart scheint ein interpretatives Verfahren, das auf ebendieses, eigentlich ahistorisch gedachte Konstrukt baut, unfähig, das Spiel der Textstrategie zu durchschauen. Denn die Kenntnis des realen Philosophen Klages – und die seiner Schriften – ist inzwischen verblasst. Der »erotische[ ] Fundamentalismus«127 des Lebensphilosophen ist ein ferner Horizont, den die gewöhnliche hermeneutische Anstrengung nicht mehr erreicht. Man hat heute kaum noch eine Vorstellung von der Bedeutung des Ludwig Klages, gegen die sich die Textstrategie Musils meinte immunisieren zu müssen. Die Ähnlichkeiten, wären sie in ihrer Tragweite erkannt worden, hätten für den Roman und seinen Autor in der Tat riskant sein können. Folgendes macht den Pathiker auch bei Musil aus: Statt »angreifend und tätig-lebensgestaltend« sich die Welt anzueignen, bleibt er »leidend, erleidend, zart, empfindsam, hegend«, hingebend oder »kurz«, wie Ulrich zu Agathe sagt, im Zustand der »Liebe« (MoE, S. 1320). Zu Walter und Ulrich spricht Clarisse von einem »aktive[n] Passivismus« als Ideal (MoE, S. 368, vgl. S. 356); doch der Held hat sich anscheinend ganz, nicht nur partiell, der »süße[n] Lähmung«, dem »flimmernd untätigen« Sein überlassen (MoE, S. 391). Statt der guten Tat strebt er die Güte als Haltung an (vgl. MoE, S. 729). Das Wahrnehmen wird ihm zum Ereignis: »Die Dinge waren von den Empfindungen durchdrungen worden und die Empfindungen von den Dingen«, bemerkt Agathe (MoE, S. 860). »Gerade die einfachsten sinnlichen Eindrücke [. . .] bereiten mitunter der Beschreibung Überraschungen, als kämen sie aus einer anderen Welt«, registriert Ulrich (MoE, S. 1277). In der Schauung wird alles Zeichen; und eben das sei »der wirkliche Zustand des Menschen«, ruft Walter aus (MoE, S. 927 f.): »Man besitzt nichts auf der Welt, man hält nichts mehr fest, man wird von nichts festgehalten«, meint die 125 Edgar Allan Poe: The Complete Tales of Mystery and Imagination. The Narrative of Arthur Gordon Pym. The Raven and Other Poems. London 1981; hier: The Purloined Letter [1845], S. 242–254. Jacques Lacan: Das Seminar über E. A. Poes Der entwendete Brief [1957], in: ders.: Schriften 1. Ausgewählt und hg. v. Norbert Haas. Übersetzt aus dem Französischen v. Rodolphe Gasché u. a. Weinheim, Berlin 31991, S. 7–60, insb. S. 7–40. 126 Zum ›auktorialen‹ Leser vgl. oben und Jannidis: Figur und Person, S. 252, 30 f., 244. 127 Vgl. den Begriff bei Stefan Breuer: Erotischer Fundamentalismus. In der Manier von Ludwig Klages, in: Recherches Germaniques 30 (2000), S. 105–123, dort direkt bezogen auf Klages.

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Schwester. Die »Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ›innig‹ untereinander verbunden.« (MoE, S. 762) Und Ulrich ergänzt, dieser Zustand sei »etwas unendlich Ruhendes und Umfassendes, und alles, was in ihm geschieht, mehrt seine ruhige steigende Bedeutung« (MoE, S. 763). Der Augenblick erscheint den beiden als Bild, als Abwesenheit des Willens, als Polyvalenz des Bedeutens und als Entgrenzung des Körpers (MoE, S. 1311 f.). »Im nicht-identischen Bilde nur kann sich aussprechen, was Musil ›die gleitende Logik der Seele‹ nennt« (MoE, S. 593), schreibt Manfred Frank.128 Und die Liebe zur Schwester, diese unmögliche Liebe, ist der »Ursprung« des anderen Weltbezugs (MoE, S. 1312). Im Bildaugenblick ereignet sich das Leben: Durchaus nicht das »Flüchtigste von der Welt«, sondern das »ganze Leben« scheint »in solche Bilder aufgelöst; nur sie stehen am Lebensweg«. Es ist die »in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl des Körpers verändert[ ]«, der nun, in der Schau der Bilder, in »einen weicheren und weiteren Zustand« übergeht. Das »Schicksal hat nicht Beschlüssen und Ideen gehorcht, sondern diesen geheimnisvollen, halb unsinnigen Bildern«, erkennt Ulrich, unmittelbar bevor er die Schwester wiedersieht (MoE, S. 663). Das Bilderlebnis ist eine Vorbereitung dieser Begegnung. Die Annäherung des Helden an Agathe, der Mangel an Selbstdistanz und der Verlust des beißenden Sarkasmus und der Ironie, der für Ulrich damit einhergeht, mag auch ein Grund sein für die Unabschließbarkeit des gesamten Romans. Im »Tausendjährigen Reich« (MoE, S. 669 ff.) schwindet die spöttische Gegenrede. Figuren wie Hans Sepp, Arnheim oder Meingast treten zurück, die als Persiflage, indirekte Kritik und notwendige Korrektur dessen gelten könnten, was doch der eigentliche Grund des handlungsarmen Erzählens bei Musil zu sein scheint: die Wirklichkeit der Bilder, »heilige Gespräche« darüber (MoE, S. 746–771, insb. 762 f.) oder, nur anders formuliert, eine pathische Ästhetik.

128 Frank: Suche nach einem Grund, S. 343. Ein Verweis auf den Kosmogonischen Eros von Klages ebenda, S. 359, Anm. 54. Dem widerspricht Hartmut Böhme direkt und betont stattdessen den entgrenzenden, sprengenden Charakter des ›anderen Zustands‹ mit Rückgriffen auf Nietzsche und Bataille. Vgl. Hartmut Böhme: Die »Zeit ohne Eigenschaften« und die »Neue Unübersichtlichkeit«. Robert Musil und die posthistoire, in: Josef Strutz (Hg.): Kunst, Wissenschaft und Politik von Robert Musil bis Ingeborg Bachmann. Internationales RobertMusil-Sommerseminar 1985 im Musil-Haus, Klagenfurt. München 1986, S. 9–33, hier insb. S. 27 f.

Rezensionen Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Wädenswil: Nimbus 2010 (= En face – Texte von Augenzeugen, Bd. 2). 507 S. € 36,00. Man kann diesen Band von Augenzeugenberichten als Ergänzung oder auch als Nebenprodukt zu Corinos Musil-Biographie sehen. Corino kann, wie nicht anders zu erwarten, aus dem Vollen schöpfen, wenn es darum geht, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sprechen zu lassen. Er kennt die entlegensten Archive – so zum Beispiel das Alois-Musil-Archiv in Vyškov; er hat Zeitungsartikel, die zu Musils Lebzeiten erschienen sind, gesammelt, Briefausgaben und Autobiographien auf Äußerungen über Musil hin durchforstet; er hat seit Ende der 60er Jahre Freunde, Bekannte und andere Zeitzeugen über Musil befragt und dabei ein umfangreiches Archiv angelegt. Die Art der hier abgedruckten Zeugnisse entspricht der Vielfalt dieser Sammlertätigkeit; sie reichen von der Abbildung und Transkription des Geburts- und Taufscheins über einen Bericht des späteren Schwiegersohnes über Musils Gallenoperation, Erinnerungen von Menschen, die mit Musil in Kontakt gekommen sind, bis zu Auszügen aus Martha Musils Briefen an Hermann Kesser. Der Band ist chronologisch in acht Lebensabschnitte gegliedert (1880–1900, 1900–1914, 1914–1918, 1918–1925, 1926–1930, 1930–1933, 1933–1938, 1939–1942). Ein sehr großer Wert des Bandes liegt im Abdruck bisher unveröffentlichter Zeugnisse aus Corinos Archiv, von den 136 hier publizierten Dokumenten stammt ungefähr ein Drittel aus diesem, d. h. es sind direkte Berichte von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen an den Herausgeber bzw. Gesprächsaufzeichnungen Corinos. So kann man etwa einen Bericht des Regisseurs der Uraufführung der Schwärmer, Paul Gordon, über die Probleme im Vorfeld der Uraufführung und über die vorauszusehende Reaktion des als schwierig geltenden Musil lesen, der auch einen Einblick in die damalige Theaterszene gibt; oder man erfährt von der Köchin der Musils in der Rasumofskygasse, dass Martha nicht gerne kochte und wie sonst der Alltag ausgesehen hat; es gibt einen Bericht von Musils Studienkollegen Johannes von Allesch über seine letzte Begegnung mit Musil in Zürich. Lesen kann man auch ein Interview von Adolf Frisé mit Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, welches 1952 vom Hessischen Rundfunk gesendet wurde. Verdienstvoll ist außerdem der Wiederabdruck schwer aufzufindender Zeitungsartikel wie zum Beispiel Alfred Polgars Bericht »Ein Interview mit Robert Musil«, der in Der Tag (Wien, 28. 02. 1926) erschienen ist, oder der Artikel von Walther Petry über Musils Rede zur Rilke-Feier (Frankfurter Zeitung, 26. 01. 1927). Wieder aufgenom-

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men werden auch Zeugnisse aus den nicht mehr greifbaren Bänden Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung (1960) und Robert Musil. Studien zu seinem Werk (1970). Die meisten der in diesen beiden Bänden abgedruckten Zeugnisse wurden damals eigens für diese Publikationen verfasst, wie der zurückgezogene und nun hier wieder abgedruckte Text Gustav Donaths »Aus Robert Musils Jugendzeit«. D. h., sie sind elaborierter und ausgewogener als die brieflichen Äußerungen an Corino oder gar die von Corino aufgezeichneten Gespräche, was letzteren einen eigenen Reiz gibt, der diesen Band attraktiv macht. Die Texte werden ausführlich kommentiert, es werden Kurzbiographien der betreffenden Zeitzeugen gegeben, und es wird erklärt, welche Beziehung diese Personen zu Musil hatten. Anspielungen werden erläutert und Angaben, wo sich der Autor oder die Autorin täuscht, werden richtig gestellt. Ein Personenregister erschließt die Publikation. Der Band in einem hübschen, wenn vielleicht auch für das Büchergestell nicht unbedingt praktischen Hochformat ist reich illustriert mit Fotos von Personen, Örtlichkeiten, Zeitschriften, Buchdeckeln. Alle Personen, die zu Wort kommen, werden abgebildet, manchmal auch mit Zeichnungen oder Karikaturen. Man liest mit Vergnügen in dem Band, welcher viele Facetten Musils, eines Manns »mit vielen Eigenschaften«, wie der Herausgeber in der Vorbemerkung schreibt, und auch seiner Frau Martha zeigt; in dem man aber auch aus den verschiedensten Perspektiven Einblick in die Gepflogenheiten einer Zeit erhält, die sehr weit von der unseren entfernt ist. Die Lektüre des Buches hat auch etwas vom Reiz des Blätterns in einem alten Fotoalbum. Es könnte mit seiner lebendigen Darstellung noch mehr Leute als nur die Musil-Gemeinde interessieren. Rosmarie Zeller

Claudia Lieb: Crash. Der Unfall der Moderne. Bielefeld: Aisthesis 2009 (= Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur, Bd. 3). 344 S. € 34,80. Im 20. Jahrhundert wird der Unfall zum Modell einer Poetik der Moderne. Denn das Ereignis des gewaltsamen Autounfalls avanciert zum Inbegriff einer Literatur, die sich selbst als krisenhaft und unverständlich darstellt. So lautet die These der 2006 abgeschlossenen Dissertation von Claudia Lieb. Sie hat sich vorgenommen, das bereits breit erforschte Unfallthema aus neuer Perspektive zu erschließen. Dieses Vorhaben gelingt ihr überzeugend. Sie kann den umfassenden Studien zur Faszination und Symbolik des Unfalls im Bereich der Literatur- und Mediengeschichte des Automobils neue Detailuntersuchungen hinzufügen und die weniger dicht gestreuten Arbeiten zu medizinischen, juristischen und versicherungstechnischen Unfallaspekten er-

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weitern. Insbesondere die von ihr markierten strukturellen Bezüge zwischen Unfall und Krise einerseits, Chaos und experimenteller Literatursprache andererseits, wurden von der Forschung kaum wahrgenommen. Bislang fehlt es an systematischen Untersuchungen, die den Unfall nicht nur als »Motiv« der modernen Literatur, sondern insbesondere als ein »Modell der Selbstbeschreibung literarischer Texte« ernst nehmen.1 Liebs »in erster Linie germanistische« Arbeit (S. 15) schließt insofern mit zumeist profunden Einzelanalysen der unfallbezogenen, selbstreflexiven Verfasstheit prominenter literarischer Texte (von Bierbaum, Marinetti, Kafka, Döblin, Musil und Brecht bis zu Dorst, Bernhard und Jelinek) eine Forschungslücke. Den zentralen Textanalysen zur Literatur des 20. Jahrhunderts sind zwei Kapitel vorgeschaltet: Das erste thematisiert das Verhältnis von »Literatur und Unfall um 1800« (S. 18–56). Im zweiten Kapitel, »Automobil und Unfall um 1900« (S. 57–156), untersucht Lieb den Autounfall als Gegenstand der Presse, der Enzyklopädie, des Rechts- und Versicherungswesens, der Medizin und Psychoanalyse, bevor das dritte Kapitel wieder auf den strukturalen Zusammenhang zwischen Literatur und Unfall, allerdings nach 1900, zu sprechen kommt (S. 157–318). Der Einstieg ins Thema über die literarische Unfallbewältigung um 1800 ist als Vorarbeit aufschlussreich und notwendig, da er erstens demonstriert, dass der Unfall nicht immer schon die uns wohlvertraute »moderne« Bedeutung besaß, und zweitens diese Epoche eine Übergangsphase in der literarischen Wahrnehmung des Verkehrsunfalls markiert. Bis zum 19. Jahrhundert fast ausschließlich als göttlicher Eingriff wahrgenommen, avanciert der Unfall im Zuge einer fortschreitenden Säkularisierung und Mobilisierung zur Figur des »gewaltsamen Ereignisses«, das für »den Einzelnen anormal, absichtslos und unvorhersehbar«, für die Masse aber »kalkulierbar und voraussehbar« erscheint (S. 11). Poetologische Relevanz – so die These – gewinnt der Unfall erstmals in der Romantik, insbesondere bei Autoren wie E. T. A. Hoffmann, Achim von Arnim und Heinrich von Kleist. Wurden Unfallgefahren bis dahin und vor allem in klassizistischen Texten eher verdrängt, da sie dem ästhetischen Ideal körperlicher Unversehrtheit widersprachen, avancieren sie in romantischen Texten in mehrfacher Hinsicht zum poetischen Modell: Unfälle können den Einbruch des Phantastischen ins Reale symbolisieren (Hoffmann), als groteskes Ereignis den Paradefall des antiklassizistischen Erzählens manifestieren (Arnim) oder zum »kommunikativen Störfall« und damit zur metapoetischen Figur für das Prinzip des Unverständlichen werden (Kleist). Insbesondere am Beispiel von Kleists Charité-Vorfall kann Lieb zeigen, wie der Kutschenunfall »zur allegorischen Figur der Selbstauslegung des Textes« wird (S. 39). Denn das hier durch 1

Erste programmatische Überlegungen zu diesem Ansatz liefert Inka Mülder-Bach: Poetik des Unfalls, in: Poetica 34 (2002), S. 193–221.

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endlose Wiederholungen pervertierte Unfallgeschehen entfaltet eine Eigendynamik, die über die verkehrsbedingte Katastrophe hinaus auf die Kollision rhetorischer Figuren anspielt und damit den »Unfall der Sprache« inszeniert (S. 41). Der Befund erweist sich als wegweisend für die Rolle des Autounfalls als »poetologische Leitfigur der Moderne« (S. 315), die Lieb im dritten Teil anhand zahlreicher Textbeispiele von Marinetti über Musil bis Jelinek untersucht. Schon die ersten Automobiltexte der Literaturgeschichte von Bierbaum machen nicht nur die Unfallfahrt zum »Symbol der Narration«, sondern lassen zugleich die »Sprache ungewollt verunfallen« (S. 159) und nutzen damit den Autounfall als einen selbstreflexiven Kommentar. Beispielhaft wird der Zusammenhang zwischen Unfall und Sprache sowohl an der bereits gut erforschten destruktiven Literaturprogrammatik Marinettis belegt als auch an den futuristisch inspirierten Texten Döblins, in denen die »Krise des Romans« reflektiert und eine Poetik gefordert wird, die am Unfall geschulte Fragmentarisierung, Heterogenität und Achronizität umsetzen soll. Für Musil wiederum stellen sich strukturelle Analogien zwischen modernem Erzählen und einer Unkalkulierbarkeit bzw. Gesetzlosigkeit des Autounfalls her. Und Brecht dient der Autounfall als »moderne Variante der tragischen, schuldhaft-schuldlosen Handlung« (S. 261) als Ausgangspunkt seiner Theorie des epischen Theaters. Auch die Nachkriegsliteratur findet im Autounfall einen Anlass, sich selbst zu thematisieren. So ironisiert und profaniert Dorsts parodistisches Theaterstück Die Kurve Unfall und Schreibprozess gleichermaßen. Noch radikaler verfahren Bernhard und Jelinek. Der Unfall gerät hier ins Zentrum einer umfassenden Literatur- und Mediensatire, die das krisenhafte moderne Erzählen umkreist. Anhand akribischer Einzeluntersuchungen zu Texten beider AutorInnen kann Lieb demonstrieren, dass auch im Ausgang des 20. Jahrhunderts der Unfall poetologischer Bezugspunkt bleibt – wenn auch in gewandelter Form: War er zunächst Ausdruck des Umsturzes und der sprachlichen Erneuerung einer modernen Literatur, wird er nach 1960 zum Inbegriff der Krise modernen Erzählens in einer massenmedial trivialisierten Spektakelkultur. Der zweite, diskursgeschichtliche Teil über rechtliche, versicherungstechnische und medizinische Implikationen des Unfalls um 1900 hätte knapper ausfallen können. Zwar wird hier neues Material vorgestellt und ausgewertet, was an sich verdienstvoll ist, doch kappt das Zwischenkapitel die konstatierten Kontinuitäten zwischen Romantik und Moderne. Zudem wird ein zu strikter Gegensatz zwischen Literatur auf der einen und rationalisierenden Diskursen auf der anderen Seite konstruiert. Denn Lieb vertritt die These, dass Literatur im Gegensatz zu anderen Diskursen den Unfall nicht rationalisieren und damit disziplinieren will, sondern allein programmatische Selbstbeschreibung betreibt. Vielfach ist es aber so, dass die literarischen Texte beide Seiten verbinden. So schult Bierbaum am Unfall seine sprach-

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lichen Fähigkeiten, propagiert aber zugleich einen therapeutischen Fahrstil und schreibt sich damit in die medizinische Debatte ein. Döblin nutzt die in Versicherungswesen und Statistik implementierten Redeweisen, um sie einem Montagestil einzuverleiben. Und auch Musil verhandelt im Mann ohne Eigenschaften explizit statistische, juristische und medizinische Strategien der Unfallbewältigung und macht sie zu einem Strukturprinzip seiner Poetik. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Blick auf den frühen Verkehrsfilm. Er erprobt am vorgeführten Unfallgeschehen sowohl neue filmische Formen als auch seine Rolle als volksaufklärendes Medium. Überhaupt wäre eine Einbettung der literarischen Einzelanalysen in eine Mediengeschichte des Unfalls lohnenswert gewesen.2 Denn erstens hätte sich herausgestellt, dass die Entwürfe der »Poetiken des Unfalls« im Kontext einer weiter gefassten kulturellen Bewegung des 20. Jahrhunderts zu verorten sind. Zweitens wäre deutlich geworden, dass die Unfallpoetiken durch intermediale Bezugnahmen vielfach konditioniert und hervorgebracht werden. Drittens hätte die Einbeziehung der selbstreflexiven Dimension von Unfalldarstellungen in anderen Medien die Chance eröffnet, das spezifische Potential des Unfalls für die »literarische Selbstfindung« herauszuarbeiten. Ungeachtet dieser Einschränkung bleibt Liebs Hauptargumentation schlüssig. Denn sie kann überzeugend zeigen, wie die moderne Literatur nach 1900 den Unfall ihrer eigenen Krisenhaftigkeit analog setzt und ihn zum »Paradefall einer Literatur« werden lässt, die »selbst damit kokettiert, sinnlos, anormal und unverständlich zu sein« (S. 14). Das flüssig geschriebene, durch umfangreiche Detailstudien beeindruckende Buch bereichert so nicht nur die Diskussionen zum Verhältnis von Technik, Kultur und Moderne um literaturtheoretische Aspekte, sondern stellt auch einen ernst zu nehmenden Beitrag im Rahmen wissenspoetologischer Untersuchungen dar. Dorit Müller

Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37). 299 S. € 34,90. Der Sammelband Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit, herausgegeben von Hans Feger, Hans-Georg Pott und Norbert Christian Wolf, nimmt sich eines Themas an, das vordergründig in den Sozialwissenschaften, insbesondere seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York, als Kulminationspunkt sozialer und ökonomischer Konflikte in einer globalisierten, immer undurchsichtiger werdenden 2

Vgl. Christian Kassung (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls. Bielefeld 2009.

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Welt kontrovers verhandelt wird. Dabei vermag Robert Musil, jener Denker des Widerspruchs und Seismograph gesellschaftlicher Dissonanzen, Erkenntnishorizonte zu eröffnen, die auch heute noch wichtige Perspektiven auf eine überkomplexe, unklar konturierte Wirklichkeit anzubieten vermögen. Wer glaubt, dass der zwischenkriegszeitlich fixierte Diskurs im Mann ohne Eigenschaften nur von historischem Interesse sei, dem ist dieses Buch dringend zu empfehlen, weil es mit detailreichen und klugen Analysen aufzeigt, dass der Konnex von Terror und Erlösung eine konstante Wechselbeziehung impliziert, die sich bis hin zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt – und das gerade über das Medium der Literatur. Im Anschluss an die Veröffentlichung von Klaus Amanns einflussreicher Studie Robert Musil – Politik und Literatur (2007) versucht der Sammelband in elf Beiträgen, einen kursorischen Überblick über Robert Musils Beziehung zum Politischen, zur terroristischen Gefahr der Zwischenkriegszeit und der aufkommenden Nazi-Herrschaft zu entwickeln – einerseits mit Rückgriff auf biographische Daten und andererseits durch Detailanalysen hinsichtlich Musils erzählerischem Œuvre. Nach der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) steht nun also auch Musils Haltung gegenüber historischen Gewalteruptionen zur Debatte. Hans Feger führt im seinem Beitrag »Terror und Erlösung. Über die Moral des Anderen Zustands« in Musils literarische Verarbeitung seiner Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg ein, die in dessen unvollendetem Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften nur indirekt einsehbar seien. In Abgrenzung zu Ernst Jüngers Essay Kampf als inneres Erlebnis (1922), in dem der »Rausch der Vernichtung« (S. 28) in einer mimetischen, der Gewalt Herr werdenden Sprache zur Entfaltung gelange – ein Versuch, der Feger zufolge misslingt (S. 29) –, gehe Musil einen abstrakten Weg durch die Entwicklung von Dissoziierungseffekten, die eine auktoriale Deutungshoheit des Erzählers konsequent unterminierten und durch die Konzentration auf das betont Poetische für eine Erzählstruktur verantwortlich zeichneten, in der die Erfahrung des Krieges, wie Feger anhand der Erzählung Die Amsel (S. 30) nachzuweisen sucht, bloß als distanziertes, poetisch gebrochenes Sprachgeschehen zum Ausdruck komme. Den ›anderen Zustand‹, der im Mann ohne Eigenschaften zwischen Ulrich und Agathe in komplexer Metaphorik angedeutet wird, begreift Feger demgegenüber als »ästhetischen Widerstand [. . .], der sich den verlockenden Angeboten mit ihren beweglichen Sinnattitüden, ihrem Polytheismus von Werten und ihrem Taumel der Subversion hartnäckig verweigert.« (S. 35) Auf diese Weise lasse sich der ›andere Zustand‹ als Gewinnung einer literarisch errungenen Moral verstehen, die auf einer brüchigen Erfahrung der Entfremdung beruhe – mit dem Ziel, durch kontemplative »Seelenruhe« (S. 40) menschliche »Affekte in Ordnung zu halten« (MoE, S. 1864).

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Hans-Georg Pott nimmt in seinem Beitrag »Anderer Zustand/Ausnahmezustand« zu Hans Fegers These eine konträre Stellung ein, obwohl auch er die Beziehung zwischen Agathe und Ulrich als ein Symbol poetisch-politischen Protests versteht, nur eben ex negativo in Anbetracht des Scheiterns ihrer inzestuös anmutenden geschwisterlichen Beziehung: »Ich betrachte das gescheiterte Experimentierfeld des ›anderen Zustands‹ metonymisch als Gegenentwurf, als Entwurf einer Ordnung friedlichen und liebenden Zusammenlebens diesseits der ›heilsgeschichtlichen‹ Utopien von Kommunismus und Faschismus.« (S. 146) Hans-Georg Pott liest den ›anderen Zustand‹ als ambivalente Erfahrung, die in keiner positiven Definition aufgefangen werden könne, sondern – negativ gedeutet – einem Entzug rationaler Determinismen gleiche. Musil fehle daher »ein kognitives Konzept« (S. 157), um den ›anderen Zustand‹ zu erklären. Deshalb stelle sich der österreichische Schriftsteller auch nicht die Frage, »wie gesellschaftliche Ordnung dann möglich ist.« (S. 158) Vielmehr möchte der Romancier, so Pott weiter, auf Grundlage einer fein ziselierten Gefühlspsychologie Ideologiekritik als Massenkritik betreiben, indem er den Konnex von Terror und Gewalt als orgiastische Verzückung interpretiert, die in einer antirationalistischen Gefühlswelt zwischen erbittertem Hass und ungestümer Liebe hin und her pendelt. Mit Verweis auf Max Scheler, dessen gefühlspsychologische Werke Musil 1937 zur Kenntnis nahm (S. 163), baut Hans-Georg Pott seine Argumentation auf Musils Gefühlsverständnis auf, wonach ideologisch-moralisierende und gewaltbereite Gruppierungen, die prinzipiell dem Terror zugeneigt seien, sich »intentionale[ ] Fühlfunktionen« (S. 165) zur Massenbegeisterung zunutze machten, um aus der Undurchschaubarkeit der Moderne ihre Profite zu schlagen. Der ›andere Zustand‹ als Ausgestaltung dieser Fühlfunktionen und prekäres Experiment, das »gegen Musils eigene analytisch-rationale Erkenntnis seine poetische Einbildungskraft herausforderte« (S. 146), müsse darum als Erlebnis puren Affekts ein herber Misserfolg bleiben. In diesem Scheitern identifiziert Hans-Georg Pott das kritisch-selbstreflexive Potenzial des Musil’schen Textes. Gunther Martens wählt in seinem Beitrag »Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik: Jünger – Kraus – Musil« ein komparatistisches Verfahren, um Musils Strategie der Vermeidung ideologischer Polarisierungen textintern, das heißt: auf der Mikroebene des Romans, zu verdeutlichen. Mit narratologischen Mitteln zeigt Martens auf, dass Musils Mann ohne Eigenschaften weder Kriegsbegeisterung noch Pazifismus propagiert, sondern sich gerade umgekehrt durch eine ironische Schreibweise der Zurückhaltung auszeichnet, die jene unterschiedlichen, in Kakanien präsenten Ideologien, welche im Gefüge des Romans durch Stellvertreter wie Hans Sepp oder den Regierungsrat Meseritscher vorgeführt werden, der Lächerlichkeit preisgibt. Der auktoriale Erzähler ist Martens Auffassung nach die narrative Instanz, »um Figuren ironisch gegen den Strich des eigenen Selbstverständnisses zu

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deuten.« (S. 62) Einerseits zeigt der Verfasser durch sein textanalytisches Verfahren ein feines Gespür für destillierbare Positionen der Polemik, die schließlich »Musils Nähe zu Kraus’ Schreibweise« (S. 63) verdeutlichten, andererseits drängt sich die Frage auf, ob der von Martens hervorgehobene ironische, prinzipiell bedeutungsoffene Stil des Mann ohne Eigenschaften sich tatsächlich mit einem streng definierten narratologischen Wissensbegriff vereinbaren lässt. Auch Florence Vatan tendiert in ihrem Aufsatz »Beruf: Entzauberer? Robert Musil und Max Weber« dazu, Musils ästhetische und politische Standpunkte durch hermeneutische Analogien definitorisch zu fixieren, wobei sie Musils konzeptuelle Nähe zu Max Weber als argumentative Grundlage dafür verwendet, um dem Autor des Mann ohne Eigenschaften einen der Wissenschaft hörigen Rationalitätsglauben zu unterstellen. Diese vergleichende Argumentation lässt sich einerseits in vielen Fällen durch Textstellen im Romanwerk sinnvoll belegen, verhindert aber andererseits das Sichtbarmachen und Hervorheben der mystischen, ambivalenten und geradezu sinnlichen Qualitäten von Musils gegen einen roten Faden sich stemmender Poetologie. Gefährliche Erlösungsphantasien und regressive Kulturpessimismen, wie sie die Autorin als Ursache für die Kulmination von Gewaltexzessen in der Zwischenkriegszeit identifiziert, sind, wenn man Walter Fantas Aufsatz »Krieg & Sex – Terror & Erlösung im Finale des Mann ohne Eigenschaften« zur Analyse hinzuzieht, auch im Mann ohne Eigenschaften präsent, genauer besehen: sogar in Ulrichs verbrecherischer Anlage erkennbar (obgleich nicht in plump formulierter Affirmation). Wenn Florence Vatan also schlussfolgert, dass Musil dem gesellschaftlichen Kulturpessimismus eines Oswald Spengler den »›bewußten Optimismus‹ des Mannes ohne Eigenschaften entgegen[stellt]« (S. 75), dann suggeriert sie einen bei Musil klar definierten und Erlösung versprechenden Wissenschaftsglauben, der durch andere Textstellen im Mann ohne Eigenschaften und insbesondere durch Tagebucheinträge genauso gut relativiert werden kann. Außerdem bezieht sich Vatan in einem ihrer Argumente auf ein inkorrekt wiedergegebenes Zitat, das auf Seite 16 des Romans verweist, wo nicht vom »bewußten Optimismus« die Rede ist, sondern vom »bewußten Utopismus«[!], der im Übrigen »etwas sehr Göttliches« (MoE, S. 16) und Phantastisches, also per definitionem Beschränkt-Rationales in sich habe. Auch Walter Fantas Beitrag verdüstert die Vorstellung, nach der Ulrich als Mathematiker (und damit gleichschaltend: Musil als Schriftsteller) ein nicht zu beirrender wissenschaftlicher Entzauberer sei im Geiste eines Max Weber. Vielmehr lässt Fantas Analyse den Schluss zu, dass Ulrich als figurale Verdichtung epistemologischer Probleme die Möglichkeit eröffnet, eine ambivalente menschliche Grundstruktur zu reflektieren, durch die Musil seine Anlage, selbst dem Fieber des Ersten Weltkrieges erlegen zu sein, zu ergründen sucht (S. 212). Hierzu analog rückt Joachim Harst in seinem Beitrag den ›anderen Zustand‹, der zwischen Ausnahmezustand, Nächsten-

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liebe und Traum changiere, in ein Licht ambivalenter Erfahrungen, die »im Anspruch absolut allgemein, konkret unformulierbar und praktisch unausführbar« seien (S. 259 f.), also jeder ratioïden Terminologie widersprächen. Nur mit der Kenntnis, dass sich Musil diesen ideologischen Verheißungen annähern und sie verstehen wollte, lässt sich nachvollziehen, warum er – wie Izabela Surynt in ihrem Aufsatz erklärt – eines der Werke des RathenauMitattentäters Ernst von Salomon, Die Geächteten von 1930, in seinen Aufzeichnungen als »das beste Buch des Jahres« hervorhob (S. 169). Insbesondere der Aufsatz von Norbert Christian Wolf »Verkünder des Terrors, Propheten der Erlösung: Hans Sepp und Meingast« bestätigt den anfänglichen Verdacht, dass nur eine den Widerspruch in Kauf nehmende, differenzierte Analyse sicherstellen kann, den vertrackten politischen Implikationen in Musils Werk gerecht zu werden. Norbert Christian Wolf bezieht sich in seinem kenntnisreichen und stilistisch ansprechenden Beitrag sowohl auf die Feldtheorie des Soziologen Pierre Bourdieu als auch auf historische Studien von Norbert Elias, um die soziale Binnenstruktur Kakaniens und somit das »geistige Klima« (S. 101) eines Staates zu rekonstruieren, »der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte« (vgl. MoE, S. 35). Dabei gelingt es dem Autor zu zeigen, dass die ideologischen Stellvertreter im Roman wie etwa Hans Sepp oder Meingast einen augenscheinlichen Kontrast zum essayistisch denkenden Ulrich bildeten, indem sie »unhintergehbare[ ] Letztbegründungen« (S. 110) als einen einheitlichen Lebenssinn reflexionsarm propagierten. Wenn man den Roman in seiner Wechselbeziehung von erzählter Zeit (1913/14) und Erzählzeit (1918–1942) betrachtet – so Wolfs Strategie –, ergeben sich interessante Zusammenhänge, die nicht nur aufschlussreich sind hinsichtlich der realen terroristischen Bedrohung der Zwischenkriegszeit, sondern auch fiktional gewendet: hinsichtlich der konfusen, den Krieg hervorrufenden Eigendynamik Kakaniens. So beweisen Ulrichs klare Karikierungen nationalistischer Irr-Gedanken, wie sie Hans Sepp artikuliert, dass der Protagonist des Mann ohne Eigenschaften gegen derlei ideologische Verirrungen »überraschend deutlich Stellung« (S. 116) bezieht. Zugleich bleibe aber zu bedenken, so hebt Norbert Christian Wolf hervor, dass sich Ulrich »von der gedanklichen ›Funktion‹ der Utopie einer funktionierenden Gemeinschaft – wenn auch nicht von ihren ›falschen Inhalten‹ – durchaus angezogen« fühle (S. 122). Dieser Kontradiktion lässt sich nur mit einer differenzierten Analyse begegnen, die schließlich tendenzhaft bestätigt, dass Musils Programmatik des ›Essayismus‹ im Wesentlichen eine Programmatik des Widerspruchs ist, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer doppeldeutigen Semantik aufzuzeigen vermag, dass der moderne Mensch Terror und Gewalt »nicht einfach fatalistisch hinnehmen muss.« (S. 139) Todd Cesaratto wiederum zeigt in seiner systemtheoretisch angehauchten Lesart des Generals Stumm von Bordwehr, der als »beliebte[r] Beleib-

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te[r]« (S. 188) nahezu allen Figuren seine erlogenen Absichten der Friedenserhaltung vorzutäuschen vermag, dass nur eine sukzessive Gesamtbetrachtung der Figurenbeziehungen zu sinnvollen interpretatorischen Lösungsansätzen führt. Der Autor belegt in seiner überzeugenden, auf emotionale Zeichen konzentrierten Kommunikationsanalyse (»Politik durch Gefühlseinsatz: General Stumm von Bordwehr als unwahrscheinlicher Erlöser in Der Mann ohne Eigenschaften«), dass selbst der über-wache Held Ulrich auf das Geplapper und den klug komponierten Empathieaufbau des harmlos sich darbietenden, geradezu liebenswert auftretenden Generals hereinfällt. »Dieses Plappern ist aber strategisch und hilft Stumm beim Manipulieren der Erwartungen der anderen« (S. 200), stellt Todd Cesaratto mit pointiert artikulierten Gegenüberstellungen fest, um sodann mit der These zu schließen: »Aber eine Person, die fühlt, wie andere fühlen, und danach handelt – eine fühlende Person zweiter Ordnung sozusagen – kann andere Personen auf äquivalente Weise mit Gefühls- bzw. Machtkommunikationen bezwingen.« (S. 207) Anders gesagt: Der Roman vollzieht eine von Musil mehrfach hervorgehobene, auf keine Figurenkonstellation hin beschränkte narrative Umkehrung, die, ironisch gesprochen, von größter Friedensliebe in aggressive Kriegslust kippt. Wenn man dieser komplexen Struktur im Mann ohne Eigenschaften gerecht werden will, lässt sich eine strikte Freund-Feind-Dichotomie nicht mehr überzeugend vertreten. Daher ist Kai Evers zuzustimmen, der in seinem Beitrag feststellt, dass die »Genealogie des Krieges« (S. 249) sich nicht »durch Ursachen und Kausalitäten beschreiben [lässt]« (S. 249), sondern nur durch die Analyse einzelner Situationen, die in Musils poetischer Auseinandersetzung zu keiner linearen Erzählung mehr zusammenfänden. Evers erinnert daher an eine überraschende Metaphorik aus dem Mann ohne Eigenschaften, die Musils Geschichtsverständnis in seiner poetischen Vertracktheit verdeutlicht: »Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe [. . .] abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte.« (MoE, S. 361) Vielleicht sind daher die Aufsätze in dem vorliegenden Sammelband so anregend und zugleich widersprüchlich und ambivalent: Sie versuchen, Musils Möglichkeitssinn gerecht zu werden, der, wie Michael Makropoulos in seinem klugen Beitrag betont, sich als Kontingenzsinn soziologisch bestimmen lässt. Nach der verstörenden Entdeckung kontingenter Geschichtsprozesse spielt Musil die Konsequenzen einer doppeldeutigen Welt radikal durch und erkennt, dass die von starren Gesetzmäßigkeiten befreite Moderne – und hier ist Musil aktueller denn je – zwei Seiten einer Medaille offenbart: die eine, die »als Gewinn neuer Möglichkeiten menschlicher Frei-

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heit« wahrgenommen wird; und die andere, die dem Menschen »akute Orientierungslosigkeit und bodenlose Unsicherheit« einflößt (S. 285). In der scharfsinnigen Analyse beider Teile liegt die große Stärke dieses insgesamt erhellenden, zeitgeschichtlich präzisen und thematisch breit ausgelegten Sammelbandes zeitgenössischer Musil-Forschung. Tomasz Kurianowicz

Lothar Gall: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche. München: C. H. Beck 2009. 302 S. € 22,90. »Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches«, heißt es im Tagebuch des jungen Robert Musil. »Ich weiß nicht wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn.« Im Januar 1914 hatte der österreichische Romancier im Hause seines Verlegers Samuel Fischer den AEG-Erben und Essayisten Walther Rathenau kennen gelernt, der den »lieben Doktor« gleich »freundschaftlich beim Oberarm« fasste und großmännisch den Wert der »Intuition« im Geschäftsleben pries. Ein, könnte man sagen, für den Industriemagnaten fataler Annäherungsversuch, »erleuchtete« er Musil doch sogleich »als Vorbild zu meinem großen Finanzmann«:3 Der Großschriftsteller Paul Arnheim, Gegenspieler Ulrichs im Mann ohne Eigenschaften, war geboren. Arnheim ist ein intellektueller Hochstapler, der mit Goethe-Zitaten erfolgreich von seinen Geschäften ablenkt. Äußerlich modern, innerlich hohl, verkörpert diese Figur bei Musil die Antwort auf die Frage, warum der gesellschaftliche Aufbruch der Jahrhundertwende in der europäischen Katastrophe endete. Ein Porträt, an dem manches richtig ist, das dem realen Rathenau aber doch unrecht tut, glaubt Lothar Gall. Wie Musil interessiert sich auch der Frankfurter Historiker nicht für Rathenau als Person, sondern als Typus und Repräsentant seiner Epoche; weshalb man in seiner trotz einiger Redundanzen ebenso anspruchsvoll wie luzide formulierten Biografie über Rathenaus Privatleben nur wenig erfährt. Abgesehen von einer platonischen Liebe zur Ehefrau eines Konkurrenten um die AEG-Nachfolge bleibt Galls Rathenau ein Mann ohne Unterleib. Weder seine angebliche Homosexualität (von der zuletzt 2005 Wolfgang Brenner sprach4 ) noch sein ambivalentes Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft ist nach Gall für das Verständnis Rathenaus entscheidend, ungleich wichtiger sei der Vater-Sohn-Konflikt. Von Jugend an litt der 1867 geborene älteste Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau darunter, nur der potenzielle Erbe eines übermächtigen Vaters zu sein. Was er daher anstrebte, war eine vom Vater unabhängige, seinen Ehrgeiz befriedigende Tätigkeit. Er versuchte sich erst als Offizier, dann als Dramatiker und landete 1899, mit 31 Jahren, schließlich doch im Vor3 4

KA/Transkriptionen/Heft 7/37. Wolfgang Brenner: Walther Rathenau. Deutscher und Jude. München 2005.

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stand der AEG – damals ein Weltkonzern, der auf Augenhöhe mit General Electric verhandelte. Drei Jahre später wechselte Rathenau an die Spitze der Berliner Handels-Gesellschaft, der Hausbank der AEG, wurde in so viele Aufsichtsräte berufen, dass er bald den Spitznamen »Aufsichtsrathenau« (S. 133) erhielt, und gehörte zur Wirtschaftselite des Kaiserreichs, ja Europas. Parallel zu dieser Karriere entstand ein umfangreiches Essaywerk, in dem Rathenau seine »geheime Opposition« (S. 34) zur Welt des Vaters auslebte – und sich zum »Wortführer« (S. 74) eines neuen Bürgertums machte. Ihm, dem Träger all der vielfältigen, in sich teils widersprüchlichen Aufbruchsbewegungen um 1900, von der Lebensreform bis zum »neuen Bauen«, von der Jugendbewegung bis zur atonalen Musik, fühlte Rathenau sich zugehörig, und ihm gilt auch Galls Sympathie. Eine etwas sperrig zu lesende soziologische Analyse gleich zu Beginn von Galls Buch ist diesem neuen bürgerlichen Aufbruch gewidmet: Mit Recht erinnert der Historiker an die Breite und Internationalität dieser europäischen Bewegung, der der Kriegsausbruch 1914 ein vorzeitiges Ende bereitete. Widersprochen werden muss dagegen Galls These, dass ihr gegenüber die völkischen und nationalistischen Kreise vor 1914 nur »marginale Nebenlinien« gewesen seien. Waren sie nicht vielmehr so etwas wie die untrennbare Schattenseite des Modernisierungsprozesses?5 Von den Verhältnissen im Habsburgerreich gar nicht erst zu reden.6 Rathenau jedenfalls wollte für die sich entfaltende »Moderne« umfassende Lösungsvorschläge liefern und tatkräftig mitwirken: Er sah in der »Seele« die Rettung vor der zunehmenden »Mechanisierung«, trat, ausgerechnet, für eine Reform des Erbrechts und die Ablösung der überkommenen Eliten durch eine liberale Leistungsgesellschaft ein und plädierte für eine Art dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Nebenbei schloss er Freundschaft mit Kulturgrößen wie Alfred Kerr, Stefan Zweig oder Max Liebermann. Rathenau, Wirtschaftsboss und Essayist, wurde zu einem »amphibisches Wesen«, wie Stefan Zweig 1912 in der Wiener Neuen Freien Presse schrieb (zit. nach S. 68), einem »Jesus im Frack«, dem »paradoxeste[n] aller paradoxen Wesen«, wie es in der Zeitung Die Republik am 19. Dezember 1918 hieß (zit. nach S. 211). Die Folgen seiner »Doppelexistenz« (S. 119) waren, so Gall, fatal: Hier wie dort begegnete man ihm mit Misstrauen und Skepsis. In der Wirtschaft galt sein kulturelles Engagement als Flucht vor seinen eigentlichen Aufgaben, vielen Literaten erschien er als Dilettant. Dabei waren seine Vorschläge 5

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Zur Sehnsucht gerade auch der bürgerlichen Eliten nach nicht zuletzt auch nationaler Erlösung angesichts des einerseits euphorisch begrüßten, andererseits aber verunsichernden Modernisierungsprozesses vgl. die jüngst erschienene materialreiche Studie über den Salon des Münchner Verlegerehepaars Hugo und Elsa Bruckmann: Wolfgang Martynkewicz: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945. Berlin 2010. Dazu grundlegend: Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1996.

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zukunftsträchtiger, als es seine Gegner wie der Industrielle Hugo Stinnes einsehen wollten: Nur sieben Monate vor Kriegsausbruch forderte er die Schaffung einer mitteleuropäischen Wirtschaftsunion: »Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht Erschlaffung, aber es ist die Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.« (S. 177) Für Neoliberalismus und die Verheißungen unkontrollierter Märkte hätte Rathenau nur ein müdes Lächeln übrig gehabt, er plädierte für eine Kombination von staatlicher Lenkung und privatwirtschaftlichem Engagement, die heute moderner denn je klingt: »Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache [. . .], nicht Anspruch, sondern Verantwortung.« (S. 198) Selbst mitgestalten durfte Rathenau aber erst, als der Reformprozess längst gescheitert war: zu Beginn des Krieges als Organisator der Kriegswirtschaft, in der Anfangszeit der jungen Republik erst als Wiederaufbau-, dann als Außenminister. Der Vertrag von Rapallo, sein größter Erfolg, schien alles Misstrauen der Nationalisten zu bestätigen; die Rechtsradikalen schufen das Zerrbild vom jüdischen »Erfüllungsgehilfen« der »Versailler Mächte«. Rathenaus letzte Äußerungen vor seiner Ermordung belegen seinen tiefen Pessimismus, in dem sich die Überzeugung spiegelte, dass der Aufbruch des neuen Bürgertums endgültig gescheitert war. Oliver Pfohlmann

Kevin Mulligan, Armin Westerhoff (Hg.): Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Paderborn: mentis 2009. 279 S. € 44,00. Der Band vereinigt im Wesentlichen die Beiträge einer Robert-Musil-Tagung, welche im Dezember 2005 in Genf stattgefunden hat, vermehrt um einige weitere Aufsätze. Die Tagung wollte aus einer komparatistischen Sicht Musil als Dichter und Philosoph erforschen, ein Aspekt, welcher gemäß den Herausgebern von der internationalen und insbesondere französischen Forschung mehr als von derjenigen in Deutschland und Österreich verfolgt werde. Man bedauert unter diesen Umständen, dass unter den Beiträgern so profilierte französische Komparatisten wie Philippe Chardin oder Florence Godeau und ein Philosoph und Musil-Kenner wie Jean-Pierre Cometti aus Frankreich fehlen, die sich alle gerade auch mit dem Thema Musil als Dichter und Philosoph auseinandergesetzt haben. Umso erfreulicher, dass der Band mit einem Beitrag des in der deutschsprachigen Musil-Forschung noch immer zu wenig wahrgenommenen Jacques Bouveresse beginnt, in welchem es um die wenig attraktive Wahrheit und die große Verführungskraft des Falschen geht, über welche Musil

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immer wieder reflektierte. Bouveresse weist nach, dass dieses Problem schon ausführlich bei Nietzsche auftritt und untersucht dann insbesondere Musils Aufsatz über Spengler (Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind; GW II, S. 1042–1059). Das Wahre ist gemäß Musil vom Falschen genauso wenig streng trennbar wie das Gute vom Bösen. Musil hat auch erkannt, dass die Wissenschaft nicht ohne das Böse entstehen kann. Sein Eintreten für das Rationale und seine Ablehnung einer Haltung, die den Glauben über die Rationalität setzt, macht Musil, wie Bouveresse anmerkt, zu einem Kritiker gerade auch der Postmoderne, wo man gegenüber allem, was rational ist, skeptisch ist und hingegen alles glaubt, was einem »gerade einfällt«. Leider ist der gehaltvolle Aufsatz sehr schlecht übersetzt, was das Vergnügen der Lektüre stark einschränkt. Zwei Aufsätze befassen sich mit dem Thema Dummheit. Stefan Imhoof wendet sich in »Kultur und Dummheit: Eine Analyse der Wiener und Pariser Reden von Robert Musil als Dyptichon« Musils wenig interpretierten Reden Der Dichter in dieser Zeit (1934) und Über die Dummheit (1937) zu. Der Beitrag bleibt in einer textimmanenten Analyse stecken und erfüllt die Vorgaben eines komparatistischen Ansatzes nicht, der gerade beim Thema Dummheit nahe gelegen hätte, beschäftigte doch dieses Thema auch andere Schriftsteller der Zeit wie etwa Ödön von Horváth oder Elias Canetti. Den komparatistischen Anspruch erfüllt hingegen Florence Vatan mit ihrem Beitrag über Flauberts und Musils Beschäftigung mit der Dummheit. Sie kommt zum Schluss, dass die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Dummheit, von welcher beide Autoren auf eine gewisse Weise auch fasziniert waren, ihnen vor allem auch dazu diente, die Kunst als »Erschließung neuer Darstellungs- und Erlebensweisen der Gefühle« (S. 171) zu legitimieren. Gerhard Schurz widmet sich dem Thema Weltanschauung, das er zunächst theoretisch entfaltet, wobei er Weltanschauung durch die drei Dimensionen des Wahren, Guten und Schönen definiert. Musil ist in diesem Aufsatz eher Demonstrationsobjekt des Analysemodells als wirklicher Gegenstand der Analyse. Zwei Beiträge befassen sich mit Musils Gefühlstheorie. Catrin Misselhorn untersucht diese im Kontext der neueren emotionstheoretischen Debatte und kommt zum Schluss, dass er Positionen sowohl des Kognitivismus wie des Non-Kognitivismus vertrete. Ihre konkrete Analyse gilt dem Gefühlshaushalt Diotimas, wobei der theoretische Ansatz kaum mehr eine Rolle spielt. Hier wie im Aufsatz von Gerhard Schurz hat man als Literaturwissenschaftlerin den Eindruck, dass Musil eher als Demonstrationsobjekt benutzt wird, als dass es darum ginge, das Werk besser zu verstehen. Als Laie hätte man bei Termini wie Kognitivismus und Non-Kognitivismus natürlich auch erwartet, dass sie mit Musils Begriffen ratioïd und nicht-ratioïd irgendwie vermittelt würden.

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Wie man als Philosoph nahe an Musil bleiben und trotzdem Kontexte einbeziehen kann, zeigt Kevin Mulligan in seiner Untersuchung zu Konzepten der Selbstliebe, der Liebe, des Mitgefühls und der Sympathie bei Max Scheler (Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass) und Musil, wobei er Scheler gewissermaßen mit den Augen Musils liest. Den größten Unterschied zwischen Scheler und Musil sieht Mulligan in ihrer Auffassung des anderen Zustands. Während für Musil der andere Zustand ein geistiges Phänomen ist, ist für Scheler die »Einsfühlung« ein vitalistisches. Zudem ist für Musil der andere Zustand ein Grundzustand der Ethik, welche aber auch eine ästhetische Dimension hat, was für Scheler undenkbar ist. Musils Held soll zwar das Gefühl der Sympathie nicht kennen, seine Fähigkeit zur intellektuellen Teilnahme kenne aber kaum Grenzen, er verstehe alle seine Freunde und Feinde und erkenne auch, dass er selbst oft sehr nahe bei ihren Fragen und Antworten stehe. Ganz offensichtlich lasse sich in Musils Augen »mangelnde Sympathie und fast unbegrenzte intellektuelle Teilnahme« (S. 73) kombinieren und darin übertrifft Musil Scheler bei weitem, dessen Ähnlichkeit im Denken er einmal als fast tödlich für ihn beschrieb. Patrizia Lombardo vergleicht mithilfe eines sehr konventionellen komparatistischen Ansatzes die Darstellung der Gefühle bei Stendhal und Musil. Wie immer bei solchen mehr oder weniger unmotivierten Vergleichen von zwei Schriftstellern, die verschiedenen Epochen und daher verschiedenen Denksystemen angehören, kann man sich fragen, was der Erkenntnisgewinn einer solchen Untersuchung ist. Einem in der letzten Zeit etwas aus der Mode gekommenen Thema, nämlich dem der Ironie, wenden sich zwei Beiträge zu. Philip Payne untersucht die Ironie in Musils Tagebüchern, die er ins Englische übersetzt hat; Stéphane Gödicke beschäftigt sich mit Satire und Ironie bei Musil und Karl Kraus, wobei er auf den Fall Moosbrugger als Anlass für satirisch-ironische Bemerkungen zum österreichischen Rechtssystem eingeht. Er fragt sich zum Schluss, warum es nicht mehr konkrete Beziehungen zwischen Kraus und Musil gegeben habe und warum Kraus Musil offensichtlich nicht ins satirische Visier genommen hat. Die Spiegelung Musils in fremden Sprachen, wie sie in Paynes Beitrag eine Rolle spielt, untersucht auch Peter Utz in ausgewählten Passagen der englischen und französischen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften, in denen Gefühle thematisiert werden. Dominik Müller wendet sich dem Feuilleton zu und zieht Parallelen zwischen Musils und Joseph Roths diesbezüglichen Beiträgen. Armin Westerhoff und Bernhard Böschenstein befassen sich unter stilistisch-rhetorischen Aspekten mit Texten aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Villö Huszai untersucht die Beschreibung von Gefühlen mit narratologischen Mitteln, wobei sie leider nur das für Unterrichtszwecke zusammengestellte veraltete Buch Aspekte erzählender Prosa von Jochen Vogt verwendet und die weit-

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aus differenzierteren Analyseinstrumente von Gérard Genette und Dorrit Cohn7 nicht zu kennen scheint. Cohn hat die raffinierte Mischung von Erzähler- und Figurenposition, die Musil seit den Vereinigungen verwendet, gründlich analysiert und müsste eigentlich von jedermann, der sich mit Musils Darstellung von Gefühlen befasst, zur Kenntnis genommen werden. Im ganzen Band setzt sich eigentlich niemand mit der neueren (Musil-) Forschung auseinander und auch der Bezug zu zeitgenössischen Kontexten bzw. die Reflexion darüber, was für einen Erkenntnisgewinn es bringt, wenn man Musil als Objekt für die Demonstration theoretischer Konstrukte verwendet, fehlt weitgehend. Die löbliche Absicht, andere Gesichtspunkte in die Musil-Forschung einzubringen, wird durch die oft schmale Textgrundlage der Beiträge und die fehlende Kenntnis der Forschung geschmälert. Rosmarie Zeller

Andrea Pelmter: »Experimentierfeld des Seinkönnens« – Dichtung als »Versuchsstätte«. Zur Rolle des Experiments im Werk Robert Musils. Würzburg: Königshausen und Neumann 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 621). 187 S. € 26,00. Robert Musils literarisches Werk mit dem des Naturwissenschaftlers Musil in Beziehung zu setzen, wurde unter verschiedensten Einzelschwerpunkten immer wieder unternommen8 – zuletzt widmete sich ein Internationales MusilSymposium in Darmstadt im Jahr 2003 explizit dem Thema »Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne«.9 Gerade in neuerer Zeit geht es hierbei verstärkt darum, naturwissenschaftliche Themengebiete und Begriffe, mit denen Musil umging, in ihrem wissenschaftshistorischen Kontext zu untersuchen und von hier aus sein literarisches Werk in den Blick zu nehmen, anstatt sie vorschnell den Philologien einzuverleiben und ih7

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Gérard Genette: Die Erzählung. München 1998. Dorrit C. Cohn: Transparent minds. Narrative modes for presenting consciousness in fiction. Princeton 1978 (frz. Übersetzung unter dem Titel: Transparence intérieure. Modes de représentations de la vie psychiques dans le roman. Paris 1981). Vgl. etwa: Gerd Müller: Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« und »Der Mann ohne Eigenschaften«. Uppsala 1971; Jürgen Kaizik: Die Mathematik im Werk Robert Musils. Zur Rolle des Rationalismus in der Kunst. Wien 1980; Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München 1990, S. 265–288; Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« im Diskurs der modernen Physik. München 2001 (= Musil-Studien, Bd. 28). Die Tagungsbeiträge sind nachzulesen in: Matthias Luserke-Jacqui (Hg.): »Alle Welt ist medial geworden«. Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne. Internationales Darmstädter Musil-Symposium. Tübingen 2005 (= Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur, Bd. 4).

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nen damit letztlich eher metaphorische Konnotationen zuzuweisen. Diesem Anliegen folgt auch Andrea Pelmters Dissertation zum Experiment in Musils Werk – unter der Leitfrage, »ob bei Musil ein die metaphorische Ebene [. . .] hinter sich lassender Transfer des Experimentbegriffs in sein literarisches Schaffen hinein nachzuweisen ist« (S. 14), dessen Ausleuchtung neue Aspekte in die Musil-Forschung einbringen könnte. Bekanntermaßen sprach Musil sowohl den Naturwissenschaften als auch der Literatur die Erkenntnissuche als Ziel zu, der Vorzug des Dichterischen lag für ihn jedoch in der Möglichkeit, auch ethische Fragestellungen thematisieren zu können. Für Pelmter ergeben sich daher als weiterführende Fragen ihrer Arbeit, ob Musil die Erkenntnissuche jeweils mit denselben Mitteln – eben jenen des Experiments – für realisierbar hielt und wenn ja, ob im Bereich des Literarischen überhaupt noch vom ›Experiment‹ im streng naturwissenschaftlichen Sinn die Rede sein könne (vgl. S. 11). Erst in diesem Fall, so Pelmter einleitend, sei es möglich, von »literarischer Experimentation« (S. 18) zu sprechen. Der Hauptteil ihrer Untersuchung nähert sich diesen Fragen zunächst in einem eher definitorischen Kapitel (B.1), das die naturwissenschaftliche Praxis und das Verhältnis der Literatur zum Experiment skizziert. Mit erfrischender Klarheit umreißt Pelmter hier noch einmal die zu Musils Zeit und großenteils bis heute gängige Praxis naturwissenschaftlichen Experimentierens (man vermisst hier allenfalls die Bezugnahme auf einige ›Klassiker‹ der Wissenschaftstheorie10 ), das stets dazu dient, bestimmte von vornherein festliegende Fragestellungen zu klären bzw. Hypothesen als vorläufig bewährt zu akzeptieren11 oder zu falsifizieren. Die Parametrisierung der Ergebnisse erlaubt es, das Experiment hinsichtlich der einzelnen Parameter immer wieder zu variieren, um so zu neuen Hypothesen und schließlich zur Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Entscheidende Kriterien des Experiments auf dem Weg zur Theoriebildung sind seine Wiederholbarkeit und damit die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Ergebnisse. Literarische Anstrengungen, die naturwissenschaftliche Praxis in die künstlerische zu integrieren, gab es, wie Pelmter darlegt (B.1.1), in der Literaturgeschichte häufiger, nicht alle Autoren waren jedoch wissenschaftlich so bewandert wie Musil. In einem (vielleicht etwas zu ausführlichen12 ) biografischen Abriss 10

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12

Etwa Karl Popper: Logik der Forschung [1934]. Tübingen 1984; Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Hg. v. Lothar Schäfer, Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980; Carl G. Hempel: Aspekte wissenschaftlicher Erklärung. Berlin, New York 1977. Wie vor allem Karl Popper dargelegt hat, ist eine »Verifizierung« von Theorien (aufgrund des verwendeten All-Operators) nicht möglich, sodass sich allenfalls von vorläufiger Bewährung sprechen lässt. Anliegen wissenschaftlicher Theoriebildung müsse es stets sein, Hypothesen falsifizierbar, d. h. nachprüfbar zu machen (vgl. Popper: Logik der Forschung, S. 47 ff.). Sicherlich noch auf lange Zeit müssen sich alle detaillierteren biografischen Ausführungen zu Musil an Corinos großer Studie (Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek

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seiner Ausbildungs- und Studienzeit (B.2) beschreibt Pelmter Musils Vertrautheit mit der experimentellen Methodik seiner Zeit. Als wichtigste historische Quellen für Musils spezifischen Experimentbegriff, die innerhalb der Musil-Forschung schon häufiger im Blickfeld waren, ermittelt Pelmter (in Kapitel B.3) die Mach’sche Wissenschaftslehre, die Gestalttheorie und Nietzsches Experimentalphilosophie, deren Besonderheit sie insgesamt darin sieht, von einer streng naturwissenschaftlichen Versuchskonzeption abzuweichen und Schnittstellen zum Bereich des Literarischen zu eröffnen: So lässt etwa Mach neben dem quantifizierend-messenden Experiment auch das ›Gedankenexperiment‹ zu (die von ihm postulierte psychophysische Einheit will Musil jedoch nicht übernehmen, sondern sieht sie als noch zu lösende Aufgabe der Analogiebildung, wie Pelmter aufzeigt). Auch die Gestalttheorie lässt Modifikationen der experimentellen Praxis zu: Wenn sie etwa bei Köhler nicht mehr strenge Versuchspläne und Theoriebildung als Vorgaben ansetzt, sondern Versuchsvariationen auch aus rein qualitativ-explorativem Interesse heraus durchführt, weist auch sie bereits Übergänge in das Literarische und seine freie beschreibende Form auf. Nietzsches Konzeption einer ›Experimentalphilosophie‹ bewegt sich ohnehin im Grenzbezirk zwischen wissenschaftlichem Vorwärtsschreiten und künstlerischem Schaffen. Verbindungslinien zu Musil sieht Pelmter hier vor allem in Nietzsches Bereitschaft zur Selbstexploration und in der Konstatierung einer grundsätzlichen Unabgeschlossenheit des Kunstwerks, das daher – wie die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Experiments – stets aufs Neue zu hinterfragen sei. In der anschließenden Untersuchung ausgewählter Erzähltexte Musils (B.4), dem eigentlichen Kern ihrer Studie, versucht Pelmter zu zeigen, »dass das Experiment durch Musil aus seiner engeren naturwissenschaftlichen Funktion herausgelöst wird. Es wird nicht länger als bloßes Instrument klassischer Naturwissenschaft verstanden, sondern vielmehr als Werkzeug der Beschreibung innerer Prozesse« (S. 94). Für Musils oft untersuchten Prosatext Triëdere wird hier die interessante Lesart als ›Experiment auf zwei Ebenen‹ (S. 96) entworfen: Zum einen zeige der Text die Durchführung eines Experiments nach dem Mach’schen ›Drei-Stufen-Verfahren‹ (Ausgangshypothese – experimentelle Prüfung in Variationen – Bestätigung oder Widerlegung der Hypothese), gleichzeitig sei auch der auktoriale Erzähler ein Experimentator und die beobachtende Figur am Fernrohr eine Versuchsperson, deren Reaktionen (wie etwa in den Versuchen Carl Stumpfs) mit beschrieben werden. In Musils frühem Fragment Monsieur le Vivisecteur, dessen Betrachtung sie aufschlussreiche Erläuterungen zur Geschichte der Vivisektion anfügt, sieht Pelmter hingegen eher Nietzsches ›Selbstexploration‹ b. Hamburg 2003) messen lassen, sofern sie nicht neues Quellenmaterial liefern oder sich um Ergänzung des vorhandenen bemühen (wie etwa Nanao Hayasaka es immer wieder unternimmt – vgl. zuletzt: Robert Musil und Bozen – Der vermutliche Schauplatz der Novelle »Die Portugiesin«, in: Doitsu-bungaku Nr. 63 (2008), S. 63–110).

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am Werk, ebenso die Köhler’sche Variante eines Experiments ohne spezifische Fragestellung. Einflüsse Köhlers werden auch für Musils Affeninsel nachgewiesen: Wie bei Köhler werde hier ohne schlussfolgernde Auswertung beobachtet (interessant sind die aufgewiesenen Parallelen zu Köhlers Versuchen mit Menschenaffen). Der Zögling Törleß und Ulrich im Mann ohne Eigenschaften verhalten sich wie Experimentatoren, die ihre Mitmenschen als ›Fremdobjekte‹ (S. 111) – und durchaus mit einer gewissen Kälte – zu Versuchspersonen psychologischer Studien machen (Pelmter zieht hier eine Verbindung zu frühen Tagebuchnotizen Musils, die ihn selbst als MenschenExperimentator im privaten Umfeld ausweisen, vgl. S. 123). Im Unterschied zum wissenschaftlichen Versuch kann die Literatur auch Kausalbeziehungen beschreiben und die Involviertheit des Experimentators in die beobachteten Vorgänge thematisieren. Literarisches Schaffen bedeutet also für Musil gegenüber wissenschaftlichem einen Zugewinn: Fragestellungen, die ihn wissenschaftlich beschäftigen, kann er literarisch auf vielfältige und nicht restringierte Weise bearbeiten. Dies gilt insbesondere für die ›Gefühlstheorie‹, die Musil im Mann ohne Eigenschaften von Ulrich entwickeln und gemeinsam mit Agathe quasi experimentell erproben lässt. Im Mann ohne Eigenschaften sieht Pelmter denn auch den eigentlichen Vollzug jenes Transfers von naturwissenschaftlicher Experimentation in die Literatur geleistet, dem ihre Untersuchung gilt: Das letzte Kapitel, »Anwendung des empirisch-analytischen Experiments auf Dichtung« (B.5), beschreibt die zugrunde liegende Implementierungstheorie Musils: seine ›Utopie des Essayismus‹ und seine eigene essayistische Schreibweise, die nicht nur das ›Prinzip der unaufhörlichen Variation‹13 aus den Wissenschaften übernommen hat, sondern zugleich wissenschaftlich-›ratioïde‹ Merkmale mit literarisch-›nicht-ratioïden‹ vereint. Gerade im Mann ohne Eigenschaften habe Musil damit das Experiment nicht nur über inhaltliche Momente implementiert (wie in anderen Texten), sondern zugleich über die essayistische Schreibweise auch formal angewendet. Pelmters Studie führt, wie oben gezeigt, immer dann zu erhellenden Einsichten, wenn sie wissenschaftshistorische Hintergründe in unmittelbare Beziehung zu Musils Texten bringt und ihnen damit neue Lesarten eröffnet, die die Musil-Forschung sicherlich bereichern werden. Schade nur, dass die Auseinandersetzung mit den Texten im Verhältnis zum begriffsgeschichtlichen Teil der Arbeit zu kurz gerät (man hätte sich – gerade im Blick auf den wissenschaftlichen Kontext – eine Einbeziehung der Vereinigungen gewünscht); schade auch, dass sie zwar auf den Begriff der (wissenschaftlichen) Analogie eingeht, nicht aber auf das Gleichnis, das sich bei Musil als Medium eines ›Transfers‹ sicherlich ebenso angeboten hätte wie das Experiment. Wenn er stattdessen am vielfach untersuchten literarischen Essayismus und 13

Vgl. Musils Diktum: »Das Prinzip der Kunst ist unaufhörliche Variation.« (GW II, S. 868)

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seiner Synthese ratioïder und nicht-ratioïder Momente festgemacht wird, so muss dies als Gesamtergebnis doch eher enttäuschen. Problematisch erscheint zudem Pelmters Begriff des ›Experiments‹, den sie eingangs klar in seinem naturwissenschaftlichen Kontext konturiert, dann jedoch immer mehr ausweitet: Da sie als Quellen für Musil ausschließlich solche Autoren ansetzt, die bereits Abwandlungen der ›harten‹ experimentellen Praxis in Richtung künstlerischer Kreativität vornahmen, erscheint zudem nicht nur Musils Übertragungsarbeit geschmälert, auch seine eigentliche poetische Leistung gerät aus dem Blick. Gleichwohl gebührt Pelmter das Verdienst, das Experiment erstmals ins Zentrum einer Studie zu Musil gebracht und damit wertvolle Einsichten zur immer noch aktuellen Thematik »Musil und die Naturwissenschaften« geliefert zu haben, die sicherlich auch der weiteren Diskussion Anstöße geben werden. Kordula Glander

Ruth Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein. Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs »Eine methodologische Novelle« und Robert Musils »Drei Frauen«. Würzburg: Königshausen und Neumann 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 650). 479 S. € 68,00. Hermann Broch und Robert Musil sind in der Literaturwissenschaft schon häufiger miteinander verglichen worden, meist im Blick auf ihr Romanwerk. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag dabei eher auf philosophischen oder geistesgeschichtlichen14 Schnittstellen oder, wie zuletzt bei Gunther Martens, im Vergleich ihrer erzählerischen Strategien.15 Der naturwissenschaftliche Bildungshintergrund beider Autoren und sein möglicher Einfluss auf ihre literarischen Arbeiten wurden in vergleichenden Studien bisher kaum thematisiert. Ruth Bendels’ Studie tritt an, diese Forschungslücke zu füllen. Sie wendet sich Texten zu, die unter diesem Aspekt noch wenig analysiert wurden, Musils Drei Frauen und Brochs Methodologischer Novelle – wie sie überhaupt ein sehr ehrgeiziges Unterfangen verfolgt, das im Grunde drei Schwerpunkte zu vereinigen sucht: Zum einen geht es darum, zu vergleichen, auf welche je besondere Weise Musil und Broch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Grundlagenkrise in den Naturwissenschaften literarisch verarbeiteten. Zum anderen soll die jeweils gewählte Erzählform 14

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Vgl. etwa: Frank Werner Raepke: Auf Liebe und Tod. Symbolische Mythologie bei Robert Müller, Hermann Broch, Robert Musil. Münster u. a. 1994; Stephen D. Dowden: Sympathy for the abyss. A study in the novel of German modernism: Kafka, Broch, Musil, and Thomas Mann. Tübingen 1986. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006.

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(als Reaktion auf die Grundlagenkrise) herausgestellt werden, und zugleich soll verdeutlicht werden, dass gerade die literarisch eher abseitige Novelle für Broch und Musil zu einem Medium wurde, das sowohl Erzählkrise als auch Wissenschaftskrise in besonderer Weise spiegeln und sprachlich umsetzen konnte. Diesen Schwerpunkten entsprechend beschreibt der erste Teil der Untersuchung (I .) zunächst die Umbruchsituation in Mathematik und Physik um 1900 und die zeitgleich zu beobachtende ›Krise des Erzählens‹, um sich in den folgenden beiden Hauptteilen der eingehenden Analyse der Methodologischen Novelle (II .) und der Drei Frauen (III .) zu widmen. Im ersten Kapitel (I.1) ihrer Studie beeindruckt Bendels’ solide Kenntnis naturwissenschaftlicher Theorien und der zugehörigen Terminologie, die in vergleichbaren Arbeiten nicht immer vorhanden ist. Prägnant und verständlich beschreibt sie zentrale Aporien der modernen Naturwissenschaften – etwa das Grundlagenund das Unendlichkeitsproblem in der Mathematik, ebenso das anlässlich der Boltzmann’schen Theorien zur Thermodynamik neu diskutierte Kausalitätsproblem in der Physik. Die Literatur der Jahrhundertwende reagierte auf die fragwürdig gewordenen Grundlagen der Erkenntnis bekanntermaßen mit neuen Darstellungsformen, die dem Brüchigen und Momenthaften Ausdruck zu geben suchten – allen voran der Roman, der zum zentralen Medium der Moderne avancierte. Die Novelle hatte in ihrer Konventionalität zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon ausgedient, trotz einer ursprünglichen Nähe zur Naturwissenschaft, wie Bendels (in Kapitel I.2) zeigt. Ihr Festhalten an einem Nacheinander des Erzählens und einer betonten Faktizität des Geschilderten zeugte allerdings von einer Bindung an Kausalitäts- und Objektivitätsprinzipien einer klassischen Naturwissenschaft, die nun obsolet geworden war. Warum also, fragt Ruth Bendels selbst, sollte die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften »ausgerechnet in Novellen stattfinden?« (S. 47; Hervorhebung im Original) Dass zumindest für die beiden mathematisch-naturwissenschaftlich geschulten Autoren Broch und Musil die Novelle ein Ort solcher Auseinandersetzung sein konnte (wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung), weist Bendels in den Hauptteilen (II. und III.) nach. Beide, so scheint es, erkannten und nutzten die Chance für eine Neubewertung der Novelle in dieser Umbruchsituation: Mit der Krise der Mathematik und Physik um die Jahrhundertwende hat die Novelle plötzlich die Möglichkeit, sich von der Not, einer eindimensionalen Naturwissenschaft gehorchen zu müssen, zu befreien – ohne damit gleichzeitig eine Opposition zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis als solcher beziehen zu müssen. (S. 54)

Brochs Methodologische Novelle freilich hat mit der klassischen Novellistik etwa eines Paul Heyse kaum noch etwas gemeinsam. Es geht nicht mehr um die Vorgabe, etwas scheinbar tatsächlich Vorgefallenes zu schildern, son-

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dern – wie in der mathematischen Axiomatik – um den bewussten und für den Leser jederzeit transparenten Akt der Setzung. Dass dieses offengelegte Konstruieren gerade auch in Abgrenzung vom Naturalismus geschieht, der doch seinerseits eine programmatische Nähe zur Naturwissenschaft aufwies (allerdings zu einer klassischen, dem Objektivitätsprinzip verpflichteten), ist ein erhellender Nebenaspekt in Bendels’ Untersuchung. Wie sie zeigt, arbeitet Broch hier mit den Mitteln der Ironie und der permanenten Diskreditierung seiner Figuren, die alle Ansprüche von Objektivität der Darstellung ad absurdum führen. Wenn Broch dabei alles vermeintlich Besondere und Individuelle in der ständigen Betonung statistischer Werte und Zufälligkeiten von vornherein nivelliert, gelingt ihm – als poeta doctus – damit zugleich der erzählerische Verweis auf neueste mathematische Theorien seiner Zeit, vor allem aber auf die Einstein’sche Relativitätstheorie, wie Bendels an konkreten Textbeispielen nachweist. In eigenen Äußerungen (allerdings auf den Roman bezogen) formulierte Broch das Anliegen, lebendige Wissenschaft in die Literatur zu integrieren – dies jedoch nicht durch bloße Thematisierung, sondern mittels einer »strukturellen Imitation« (S. 121; Hervorhebung im Original), die das Literarische selbst einer Transformation aussetzen will. So gerät etwa die vom Protagonisten Antigonus als ›unendlich‹ empfundene Liebe im ironischen Spiel unversehens in Beziehung zur zeitgenössischen Unendlichkeitsdebatte, sodass ein ›mathematischer Subtext‹ (S. 163) entsteht, der den weitgehenden Verzicht auf mimetische Nachahmung noch forciert. Das ›doppelte Ende‹ der Broch’schen Novelle sieht Bendels zwei »unterschiedlichen Erzählkonzepten geschuldet« (S. 218): der naturalistischen Programmatik und der klassischen Novellenform, die hier in bewusster Uneindeutigkeit nebeneinander bestehen bleiben (dem WelleTeilchen-Dualismus vergleichbar). Anders als Broch, der Figuren und Handlung ständigen Verweisen auf dahinter liegende naturwissenschaftliche Theorien aussetzt und sie damit jederzeit als bloße Konstruktionen kenntlich macht, entscheidet Musil sich in den Drei Frauen für »narrative Sinnkonstitution« (S. 254), für die durchgehende Geschichte – ohne damit indessen, wie Bendels zeigen möchte, die naiveren Texte zu liefern. Die Bezugnahme auf Grundlagenprobleme der Naturwissenschaften erfolgt bei ihm zum einen innerhalb des fiktionalen Geschehens selbst, zum anderen über Relationen der Novellen untereinander: Bendels sieht in ihnen Varianten des Zugriffs auf Welt dargestellt und bringt die drei Einzeltexte damit in einen kompositorischen Zusammenhang von ›Scheitern‹, ›Utopie‹ und ›Neuansatz‹ (S. 357). So lässt sich Grigia als Umsetzung, ja Radikalisierung des Mach’schen Skeptizismus lesen. Die von ihm behauptete Nicht-Existenz zentraler Erkenntniskategorien wird hier in ihrer Konsequenz einer Auflösung des Subjekts dargestellt, deren erzählerische Umsetzung sich über eine »Verabsolutierung der optischen Perspektive« (S. 274) vollzieht: Isolierte visuelle Elemente

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treten für Homo in den Vordergrund einer bedrohlich und unverständlich bleibenden Umgebung, während der gewohnte – auch begriffliche – Zusammenhang der Dinge verschwimmt, sodass die fortschreitende Auflösung des Subjekts mit einer »Auflösung der Kategorie der Wirklichkeit« (S. 277) korrespondiert. Einen Tribut an die moderne Naturwissenschaft erkennt Bendels insofern, als das von Gesetzmäßigkeiten Abweichende, Unregelmäßige stärker ins Blickfeld gerät. Musil leiste damit zugleich die Verknüpfung mit der Novellentradition und ihrem Anspruch, den ›unerhörten‹ Einzelfall zu schildern. In Die Portugiesin – unter den drei Novellen diejenige mit der größten Nähe zur klassischen Novellenform und zugleich mit der größten »Ferne zu den zeitgenössischen Bedingungen« (S. 355), so Bendels – werden indessen zwei Weltdeutungen, zwei Prinzipien, einander gegenübergestellt: das Tatsachendenken einer klassischen Naturwissenschaft, verkörpert in der männlichen Hauptfigur, und die abgeschlossene, fremd wirkende Ästhetik in Gestalt der Portugiesin. Eine Vermittlung zwischen den Figuren und damit zwischen den von ihnen repräsentierten Prinzipien wird vom Text nur noch als (utopische) Möglichkeit in Aussicht gestellt – es wäre indessen auch nur die Annäherung einer traditionellen Naturwissenschaft mit noch festen Grundbegriffen an den Bezirk des Nicht-Ratioïden, wie Bendels vermerkt, ohne Bezug zur aktuellen Wissenschaftskrise. Auch in Tonka treffen Tatsachendenken und logische Vorgehensweise auf das ›Andere‹, das sich dem rationalen Zugriff entzieht. Anders als in der Portugiesin scheint jedoch ein produktiver Umgang mit der Grundlagenkrise geleistet: Anlässlich der rätselhaft bleibenden Schwangerschaft Tonkas wird der Chemiker gezwungen, zwei einander ausschließende Bedingungen als gleichzeitig gegeben zuzulassen, also einen ähnlich kühnen gedanklichen Sprung zu machen, wie er sich gerade in den Naturwissenschaften – in der Quantentheorie, in der Relativitätstheorie und in der Unendlichkeitsdiskussion der Mathematik – vollzogen hatte. Im Unterschied zu den beiden anderen Novellen stellt Tonka die Erkenntniskrise als Voraussetzung für einen produktiven Neuansatz des Denkens dar. Die »Motivreihe des Aufblinkens« (S. 407) wird dabei zum Ausdrucksmittel einer Erkenntnis, die das Konträre für einen Moment – den zentralen Moment der Novelle – eben doch zusammenbringen kann. Die traditionell stark konventionalisierte Novelle sieht Bendels damit bei beiden Autoren als ein Genre, das seine besondere Kraft gerade dort entfaltet, wo es »zugleich auch schon überfordert ist« (S. 426), und um die Erfahrung von Brüchen und Krisen herum bewusste Konzeptualisierungen aufbauen muss, statt von vorgegebenen Ordnungen ausgehen zu können. Ruth Bendels’ anspruchsvolle Untersuchung wird innerhalb der Forschung zu Broch und Musil sicherlich eine besondere Stellung einnehmen – nicht zuletzt weil sie Schreibweisen dieser Autoren in konkrete Beziehung

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bringt zu einer andernorts oft nur mit Schlagwörtern benannten Grundlagenkrise der Wissenschaften. Gleichzeitig schließt sie eine Forschungslücke, indem sie die beiden häufiger verglichenen Autoren explizit im Hinblick auf naturwissenschaftliche Fragestellungen in Relation zueinander bringt. Ihr durchgängig hohes Niveau stellt sie auch in der direkten Arbeit am Textmaterial – in den Einzelanalysen zur Erzähltechnik in Brochs und Musils Novellen – unter Beweis. Störend wirkt lediglich das erkennbare Bemühen, sich abseits der breiteren Pfade der Musil- wie der Broch-Forschung zu bewegen: Es geht nicht um die Romane und ihre vielfältigen Bezüge zu den Naturwissenschaften ihrer Zeit, sondern um die weniger untersuchten Novellen der beiden Autoren, und im Fall Musils auch nicht um die Vereinigungen, sondern um die deutlich seltener in den Blick genommenen Drei Frauen. Dass die Analyse dieser Texte je nach Untersuchungsschwerpunkt ebenso ergiebig sein kann wie jene der Romane, steht außer Zweifel. Zu fragen wäre jedoch, ob den Novellen nicht zu viel aufgebürdet wird, wenn sie gewissermaßen die Poetik der beiden Autoren zu einer literarischen Umsetzung der Grundlagenkrise liefern sollen. Viele der von Bendels zitierten Selbstaussagen Musils und Brochs beziehen sich ohnehin auf ihr Romanwerk, das letztendlich doch für beide der eigentliche Ort einer Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften blieb. Als – sicherlich unbeabsichtigter – Nebeneffekt der Untersuchung entsteht zudem der Eindruck, die betrachteten Novellen seien ausschließlich zur Spiegelung zeitgenössischer wissenschaftlicher Probleme entstanden (auch wirken die von Bendels entdeckten konkreten Bezugnahmen zu naturwissenschaftlichen Theorien stellenweise etwas in die Texte ›hineingelesen‹), während doch beiden Autoren ein weit grundsätzlicherer Erkenntnisskeptizismus zu eigen war, der zumindest im Fall Musils zur Abkehr von der Wissenschaft beitrug. Die besondere Leistung von Ruth Bendels’ kluger Studie soll durch diese Anmerkungen nicht eingeschränkt werden. Die Forschung zu beiden Autoren wird sie durch das Aufspüren naturwissenschaftlicher Bezüge in den untersuchten Novellen bei gleichzeitig fundierter Kenntnis der zeitgenössischen Theorien nachhaltig prägen und damit ein Desiderat innerhalb der vergleichenden Arbeiten zu Broch und Musil aufheben. Kordula Glander

Nicola Mitterer: Liebe ohne Gegenspieler. Androgyne Motive und moderne Geschlechteridentitäten in Robert Musils Romanfragment »Der Mann ohne Eigenschaften«. Graz: Leykam 2007 (= Grazer Universitätsverlag, Bd. 13). 216 S. € 24,20. Vieles an der Untersuchung von Nicola Mitterer über Musils Mann ohne Eigenschaften erinnert den Leser an das wissenschaftliche Genre, auf der

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sie basiert – die Dissertation. Er findet in dem 216 Seiten starken Universitätsdruck eine von persönlichem Erkenntnisinteresse, Fleiß, studentischer Regeltreue und dem Moment erster, unmittelbarer Begegnung mit dem Text geprägte und sympathische Studie vor, der er sich gleichwohl über die vorangestellte Einleitung wie über das griffige, alle wichtigen Ergebnisse zusammenfassende Schlusswort nähern kann. Der Mittelteil der Arbeit verlangt von ihm einen wohlwollend interessierten, geduldigen Mit- und Nachvollzug ihrer Analyseschritte. Zwei zusätzliche Anfangskapitel referieren über philosophische, psychoanalytische und feministische Literatur zu den Themen »Androgyne Motive« und »Moderne Geschlechteridentitäten«, während ein kurzes Wort »Zur Quellenlage« des Musil’schen Romans die Erwartungen eines Lesers von 2007 nicht mehr ganz zufrieden stellt. Die fallweise ausgewählten Zitate aus dem literarischen Nachlass des Dichters und wiederholte Nur-Hinweise auf die Häufigkeit des Vorkommens von Namen oder Begriffen im Nachlasskorpus spiegeln hier einen Forschungsstand vor dem Jahr 2000, der Veröffentlichung von Walter Fantas Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil,16 die sich ausführlich mit der Psychoanalyse und Genese der Romanfiguren befasst, wider. Während der Leser dieses Zurückfallen hinter den bereits erreichten Forschungsstand kritisch realisiert, erwartet ihn eine insgesamt 145 Seiten starke nacherzählende bis nachempfindende Interpretation des Romangeschehens in seiner Projektion auf männliche und weibliche »Hauptfiguren«, wobei ein sorgsam gehüteter Thesen- und Gedankenkatalog der postmodernen feministischen Literaturwissenschaft als Richtschnur fungiert. Der manchmal erfrischend unmittelbare Blick der jungen Autorin auf den Fortgang der Romanhandlung und das darin verwobene Essayistische verengt sich immer wieder im Fokus der allgegenwärtigen Frage nach einer »Ethik der sexuellen Differenz« (Luce Irigaray). Ulrich, der »Mann ohne Eigenschaften«, ist unter Mitterers ethischer Leselampe kein bereits bis zur Legende analysiertes und abgenutztes Symbol der Moderne, sondern eine im Text und Kontext des Romans neu erfahrbare literarische Figur unter vielen. Mehr noch, ein männlicher Protagonist auf der Suche nach der »Liebe an sich«, die von Musil auch als »seraphische Liebe« oder »Liebe ohne Gegenspieler« beschrieben wird. Ulrich wird zum nicht mehr ganz so eigenschaftslosen, fühlenden Mann, der »in seiner Einsamkeit und Leere« am Höhepunkt seines Lebens den Weg zu seiner Schwester findet (S. 11). Seine Gedanken und Reflexionen werden jedoch auch im Hinblick auf die »Unterdrückungsmechanismen patriarchaler Macht auf die ethischen Prinzipien einer Gesellschaft« analysiert (S. 206). Die Konzentration auf »männliche Projektionen und Ängste [. . .], die sich 16

Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil. Wien, Köln, Weimar 2000 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 49).

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hinter den vermeintlichen Weiblichkeitsdiskursen verbergen« (S. 40), rauben damit auch dem Mann ohne Eigenschaften etwas von seiner Unantastbarkeit und bewerten seine Lebensversuche im Hinblick auf ein »Gelingen« – den »erfolgreichen Abschluss« seines Experiments des ›anderen Zustands‹, der mystischen Vereinigung und nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch ekstatischen »Gleichstellung der Geschlechter«. Die Grenze zwischen geschwisterlicher, »mitspielende[r] Liebe« und Androgynie wird hier mitunter im Interesse des gewählten Themas ausgeblendet. Tatsächlich nimmt die Dissertantin die vom österreichischen Dichter geschaffenen Figuren als Träger gesellschaftlicher Rollenbilder und Vertreter unterschiedlicher Ethiken stellenweise zu sehr beim Wort und entzieht sie somit den Interferenzen einer zwischen Eigenständigkeit und Instrumentalisierung schillernden Fiktionalität. Diese Behandlung trifft insbesondere auf Agathe zu. Bisherigen Interpreten als bloße »Mitspielerin« Ulrichs etwas zu blass und zu inaktiv, wird »die Schwester« hier als »gleichwertige«, das »Anderssein« verkörpernde Figur entdeckt und so stärker als bisher in den Mittelpunkt gerückt. Ihre im fragmentarischen Schlussszenario des Romans je nach genetischer Lektüre eventuell zu wenig gewürdigte »Beziehungsarbeit« und musterhafte weibliche Identitätssuche werden von der Autorin in einer zentralen These mit dem »Hauptthema der Moderne schlechthin«, der Identitätskrise des Subjekts, verknüpft, die nach Mitterer mit der Krise geschlechtlicher Identität in eins gesetzt wird. Der Roman Robert Musils wird als Dokument einer »androgynen Verfasstheit einer ganzen Epoche« und eines »grundlegenden hermaphroditischen Charakters seines Zeitalters« gewürdigt (S. 10). So kommt die Autorin in ihrem Schlussplädoyer unter anderem zum Ergebnis, dass »die Frage nach einer anderen, wahrhaft ethischen Form des Umgangs mit dem Fremden« als Zentrum des Romans zu betrachten sei (S. 206). Regina Schaunig

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger Univ.-Doz. Dr. Alexander W. Belobratow Universität St. Petersburg Philologische Fakultät Universitetskaja nab. 11 RU –199034 St. Petersburg

Dr. Kordula Glander Universität Tübingen Dezernat für Internationale Angelegenheiten Wilhelmstr. 9 D –72074 Tübingen

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Ulrich Boss Universität Bern Institut für Germanistik Länggassstr. 49 CH –3000 Bern 9

Prof. Dr. Alexander Honold Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel

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Prof. Dr. Axel Dunker Universität Bremen Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften Bibliothekstr. 1 D –28359 Bremen [email protected]

PD Mag. Dr. Walter Fanta Robert-Musil-Institut für Literaturforschung Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50 A –9020 Klagenfurt [email protected]

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Dr. Gábor Kerekes Eötvös-Loránd-Universität Institut für Germanistik Rákóczi út 5 H –1088 Budapest [email protected]

Dr. Robert Krause Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur Platz der Universität 3 D –79085 Freiburg [email protected]

Prof. Dr. Nicola Gess Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel

Tomasz Kurianowicz M. A. Wrangelstr. 93 D –10997 Berlin

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Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

Dr. Dorit Müller Technische Universität Darmstadt Graduiertenkolleg Topologie der Technik Karolinenplatz 5 D –64289 Darmstadt

Mag. Dr. Regina Schaunig Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50/2 A –9020 Klagenfurt [email protected]

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Prof. Dr. Birgit Nübel Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Königsworther Platz 1 D –30167 Hannover [email protected]

PD Dr. Barbara Thums Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhelmstr. 50 D –72074 Tübingen [email protected]

[email protected]

Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Akademiestr. 20 A –5020 Salzburg

Dr. Heinz-Peter Preußer Universität Bremen Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften Bibliothekstr. 1 D –28359 Bremen

Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel

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[email protected]

Dr. Oliver Pfohlmann Gönnerstr. 20 D –96050 Bamberg

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Siglen GW 1–9: Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit arabischer Bandzählung]

Bd. 1–5: Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches Essays und Reden Kritik

GW I–II : Robert Musil: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit römischer Bandzählung]

Bd. I : Bd. II :

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik

MoE: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö. [Seitenidentisch mit den Bänden 1–5 der Gesammelten Werke] Tb I–II : Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 [1. Auflage 1976]. Bd. I : Bd. II :

Tagebücher Anmerkungen. Anhang. Register

Br I–II : Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Mit Briefen v. Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl u. a. Hg. v. Adolf Frisé. Unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek b. Hamburg 1981. Bd. I : Bd. II :

Briefe 1901–1942 Kommentar. Register

KA : Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009.

Redaktioneller Hinweis Die Zusendung von Manuskripten wird an folgende Anschriften erbeten:

Musil-Forum c/o Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel [email protected] c/o Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Akademiestr. 20 A –5020 Salzburg [email protected]

Internationale Robert-Musil-Gesellschaft c/o Robert Musil Institut für Literaturforschung der Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50 A –9020 Klagenfurt www.musilgesellschaft.at [email protected]

Redaktion dieses Bandes: Harald Gschwandtner, Universität Salzburg

Register Adler, Alfred 28, 236 Adorno, Theodor W. 84, 234 Adot, Pierre 45 Allesch, Johannes von 254 Amann, Klaus 202, 259 Arnim, Achim von 256 Arntzen, Helmut 206, 211, 235 Aspetsberger, Friedbert 67 Assisi, Franz von 9 Aue, Maximilian 17 Axelos, Kostas 45 Baader, Franz von 241 Bachmann, Ingeborg 142 Bachofen, Johann Jakob 226 Bachtin, Michail M. 129 Bahr, Hermann 220 Balzac, Honoré de 185 Barnouw, Dagmar 89 Bataille, Georges 253 Baudelaire, Charles 132 Bausinger, Wilhelm 227 Beard, Philip H. 16 Becher, Maximilian 214 Bendels, Ruth 273–277 Benn, Gottfried 2, 31, 46, 50 Berghahn, Wilfried 236, 238 Bernauer, Hermann 130 Bernhard, Thomas 256 f. Bhabha, Homi 162 Bierbaum, Otto Julius 256 f. Billroth, Theodor 105 Blaschke, Bernd 109, 122, 124 f. Blei, Franz 26, 196, 198, 220–222 Bleuler, Eugen 10 f., 13 Boccaccio, Giovanni 57 Bodel, Jean 57 Böhme, Hartmut 53, 253 Böschenstein, Bernhard 268 Boltanski, Luc 117 Boltzmann, Ludwig 274 Boroevi´c von Bojna, Svetozar 217

Boss, Ulrich 89 Bourdieu, Pierre 103, 117, 140 f., 262 Bouveresse, Jacques 266 f. Boyarin, Daniel 71 Braun, Volker 142 Brecht, Bertolt 256 f. Brenner, Wolfgang 264 Bringazi, Friedrich 76, 98 f. Broch, Hermann 273–277 Brod, Max 193, 196–198, 201 Bronnen, Arnolt 67 Bronsen, David 192 Bruckmann, Elsa 265 Bruckmann, Hugo 265 Buber, Martin 227, 236 Butler, Judith 59 f. Canetti, Elias 50, 267 Carnap, Rudolf 236 Cassirer, Paul 6, 26 Cavaler, Alois 203 Cesaratto, Todd 262 f. Cézanne, Paul 151 Chamberlain, Houston Stewart 69 f., 73–75 Champ, Maxime Du 24 Chardin, Philippe 129, 266 Chaucer, Geoffrey 57 Cohn, Dorrit C. 269 Cometti, Jean-Pierre 266 Conilh, Jean 45 Conrad, Joseph 54 Corino, Karl 33, 40, 49, 202, 206–208, 219 f., 228, 235, 238, 254 f., 270 Cuisinier, Jean 45 Darwin, Charles 163, 166 Diels, Hermann 244 Dilthey, Wilhelm 194–196 Dinklage, Karl 206 Döblin, Alfred 2, 50, 52, 256–258

286 Donath, Alice 9, 16, 237 f. Donath, Gustav 237 f., 255 Dornhof, Dorothea 23 Dorst, Tankred 256 f. Dostojewski, Fjodor M. 127–135, 137 f., 233 Dufrenne, Michel 45 Dunker, Axel 41 Ebner-Eschenbach, Marie von 198 Eckhart, Meister 227 Edison, Thomas Alva 81 Eichendorff, Joseph v. 233 Einstein, Albert 275 Einstein, Carl 179 Elias, Norbert 262, 267 Emerson, Ralph Waldo 195 Erickson, Susan 33 Eulenberg, Herbert 26 Evers, Kai 263 Fanta, Walter 17, 29, 202, 261, 278 Faye, Jean-Pierre 45 Fechner, Gustav Theodor 236 Feger, Hans 258–260 Feigl, Ernst 209 Feld, Willi 129, 138 Fischer, Eugen 167 Fischer, Samuel 264 Flaubert, Gustave 24–27, 267 Fontaine, Jean de la 57 Fontane, Theodor 55 Foucault, Michel 39, 42 f., 51, 56, 58, 60, 114 Frank, Manfred 253 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 212 Frazer, James George 6 Freud, Sigmund 10, 19, 23, 28, 31 f., 34, 36, 70–72, 90, 236 Frisé, Adolf 33, 195, 254 Fuchs, Albert 110 Gaboriau, Marc 45 Gall, Lothar 264 f. Genette, Gérard 269 George, Stefan 116 Gerngroß, Alfred 117 Gilman, Sander 72

Register

Giovannini, Elena 207 Gnam, Andrea 236 Godeau, Florence 266 Gödicke, Stéphane 268 Goethe, Johann Wolfgang 152, 194, 203 Gogol, Nikolaj 128 f., 135 Gontscharow, Iwan A. 135 f., 138 Gordon, Paul 254 Gorki, Maxim 129, 134 Grillparzer, Franz 207 Groos, Karl 6 Grubel, Fred 181 Gütersloh, Albert Paris 220 Gutjahr, Ortrud 56 Haeckel, Ernst 164, 166, 173, 176 Hafner, Fabjan 152 Hamilkar 71 Handke, Peter 140, 150–153, 156–158 Hannibal 70–73, 83, 264 Harst, Joachim 261 Hart Nibbrig, Christiaan L. 139 Hartzell, Richard E. 17 Hauptmann, Gerhart 67, 73 Heckner, Stephanie 162 Heftrich, Eckhard 228 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 123 f. Hegner, Jakob 220 Heidegger, Martin 190 Henninger, Peter VI Heraklit 244 Herodot 67, 70 Herzog, Wilhelm 25 Hesse, Hermann 130, 181 Heydebrand, Renate von 47, 227, 235 Heyse, Paul 198, 274 Hitler, Adolf 90 Hoffmann, E. T. A. 233, 256 Hofmannsthal, Hugo von 2, 50, 52 Hogen, Hildegard 67 Holdenried, Michaela 162 Holitscher, Arthur 193, 196–198, 201 Homer 80 Honold, Alexander V, 53 Hornbostel, August 6, 21 Horváth, Ödön von 267

Register

Humboldt, Alexander von 6 Huszai, Villö 268 Ibsen, Henrik 133, 233 Iehl, Dominique 129 Illés, Eugen 27 Imhoof, Stefan 267 Irigaray, Luce 278 Jaensch, Erich Rudolf 5 f., 45 Jagow, Traugott von 25 f. Jahnn, Hans Henny 2 Jakob, Michael 15 Jander, Simon 20 Jannidis, Fotis 252 Jelinek, Elfriede 256 f. Jensen, Johannes Vilhelm 7 f. Jonsson, Stefan 52, 54 Joyce, James 57, 228 Jünger, Ernst 259 Jung, Carl Gustav 19, 236 Kafka, Franz 2, 30, 50, 52, 187, 193, 196–201, 256 Kapistran, Johannes 149 Karl I., Kaiser von Österreich 183 Kassner, Rudolf 236 Kassung, Christian 14 Keller, Gottfried 213 Kemal, Mustafa 40 Kerr, Alfred 24–26, 265 Kesser, Hermann 254 Key, Ellen 66 Khajjam, Omar 236 Kinder, Hermann 31 Kisch, Egon Erwin 220 Klages, Ludwig 224–252 Kleindienst, Hans 209 Kleist, Heinrich von 31, 106, 213, 256 Koch, Robert 177 Köhler, Wolfgang 271 f. Kojève, Alexandre 123 f. Kraft, Herbert 236 Kranz, Walther 244 Kraus, Karl 26, 63, 212, 268 Krause, Robert 248 Krauß, Alfred 202, 213–216, 222 Kremer, Detlef 30, 229

287 Kretschmer, Ernst 6, 10, 13–15, 17 Kubin, Alfred 7, 220 Kung-fu-tse 195 Lacan, Jacques 124, 252 Laermann, Klaus 241 Lakatos, László 186 Lao-tse 195 Lasker-Schüler, Else 52 Latour, Bruno 164 Laurin, Arne 7, 210, 219 Lautman, Jean 45 Lazarus, Moritz 165 Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria 254 Lepenies, Wolf 237 Lévi-Strauss, Claude 39, 45, 48 f., 51 Lévy-Bruhl, Lucien 5 f., 19, 39, 44–47, 49–51 Lieb, Claudia 255–258 Liebermann, Max 265 Liechtenstein, Wenzel 55 Lindtner, Elsie 27 Lönker, Fred 13 Lombardo, Patrizia 268 Lotman, Jurij M. 141 Ludwig, Emil 89, 91 Lueger, Karl 71 Luhmann, Niklas 122 f. Lukács, Georg 108, 182 Luschan, Felix von 73–75 Luserke, Matthias V Mach, Ernst 60, 236, 248, 271, 275 Mackowiak, Klaus 241 Maeterlinck, Maurice 66, 195 Magris, Claudio 14, 109, 120, 125 Mahler, Gustav 95 Mahler-Werfel, Alma 95 Maier-Solgk, Frank 236 Makropoulos, Michael 263 Manci, Maximilian Graf 213 Mann, Thomas 2, 52, 78, 108, 130, 188, 203, 259 Marcovaldi, Annina 207, 217 f. Marinetti, Filippo Tommaso 256 f. Marquardt, Franka 67, 78 Martens, Gunther 239, 260 f., 273 Martin, Catherine 129 Maximilian I., Kaiser v. Mexiko 142

288 Meidner, Else 82, 86, 98, 126 Mendel, Gregor 163, 167 Mereschkowski, Dmitri 130 Michaëlis, Karin 27 f. Michel, Robert 220 Misselhorn, Catrin 267 Mitterer, Nicola 277–279 Molnár, Ferenc 220 Mommsen, Theodor 69 Montfort, Eugène 24 Morgenstern, Soma 181 f., 184 Moser, Walter 62 Müller, Dominik 268 Müller, Robert 7 f., 160–163, 167 f., 170 f., 173, 175–179 Müller, Roland 225 Müller-Lyer, Franz 5 f. Mulligan, Kevin 268 Musil, Alois 40 Musil, Martha 207, 217 f., 220, 254 f. Musil, Robert VI, 1–11, 13, 16–29, 31–33, 35–37, 39–41, 43–47, 49–55, 59–64, 66 f., 69, 72 f., 75 f., 79 f., 82–104, 108, 111, 113–116, 119–121, 123–125, 127–135, 137–150, 156–158, 160 f., 181–183, 193–224, 227 f., 234–249, 251–264, 266–279 Neumair, Josef 218 Neumann, Rudolf 209 Neymeyr, Barbara 67, 248 Nielsen, Asta 27 Nietzsche, Friedrich 15, 18, 41, 50, 195, 232, 246, 253, 267, 271 Nordau, Max 174 f. Oesterreich, Konstantin 10, 13, 17 Orlandi, Fernando 207 Ostermann, Eberhard 17 Payne, Philip 17, 193, 268 Pelmter, Andrea 270–273 Perutz, Leo 220 Petry, Walther 254 Pike, Burton 128 Platon 44 Ploetz, Alfred 166 f. Plutarch 244

Register

Poe, Edgar Allan 251 Pohl, Peter Christian 248 Polgar, Alfred 254 Pollak, Michael 110 f., 118 f. Popper, Karl 270 Pott, Hans-Georg 73, 258, 260 Preuss, Konrad Theodor 6 Proust, Marcel 228, 243 Rathenau, Emil 81, 264 Rathenau, Walther 66 f., 72 f., 75 f., 79–82, 89, 91 f., 195, 237, 248, 262, 264–266 Reichle, Wolfgang Theodor 104 Reinhard, Wolfgang 41 Ricœur, Paul 45 Riedel, Wolfgang 19 f. Rilke, Rainer Maria 2, 59, 254 Ritter, Albert 216 Robertsen, Ritchie 46 Roda Roda, Alexander 220 Rops, Félicien 29 Rosegger, Peter 213 Roth, Joseph 102–105, 107, 112, 114, 180–186, 189–192, 268 Roth, Marie-Louise 206 Rüdiger, Ludwig 165 f. Ruschuk-Hanem, Sophia 24 Sade, D. A. F. Marquis de 31 Saint Martin, Monique de 117 Salomon, Ernst von 262 Sarasin, Philipp 43 Sauer, Walter 55 Schöne, Lothar 26 Schallmayer, Wilhelm 166 Scheler, Max 260, 268 Schiller, Friedrich 35 Schneider, Tobias 226, 238, 250 Schnitzler, Arthur 87, 112, 126 Schönauer, Karl 214 Schößler, Franziska 82 Schopenhauer, Arthur 232, 246 f. Schraml, Wolfgang 5 f., 128 f. Schurz, Gerhard 267 Shaked, Gershon 186 Shakespeare, William 142, 210 Soliman, Angelo 55 Sombart, Werner 79, 81

289

Register

Spengler, Oswald 261, 267 Spiel, Hilde 181 Spreitzer, Brigitte 227 Sprengel, Peter 67 Stanley, Henry M. 55 Steinthal, Heymann 165 Stendhal 268 Stinnes, Hugo 266 Stoll, André 24 Strutz, Josef 95, 98 f., 129 Stumpf, Carl 271 Surynt, Izabela 262 Taine, Hippolyte Adolphe 195 Tewilt, Gerd-Theo 14 Thurnwald, Richard 6 Tolstoi, Lew N. 127–135 Tschechow, Anton 134 Tylor, Edward Burnett 160, 163 f. Urbaner, Roman 208 Utz, Peter 127 f., 268 Vatan, Florence 6, 261, 267 Vico, Giambattista 5 Vierkandt, Alfred 6

Virchow, Rudolf 64 f., 67, 72 f., 119 Vischer, Friedrich Theodor 19 Vogt, Jochen 268 Wagner, Wilhelm Richard 15, 121 Waldenfels, Bernhard 2, 43 f. Walser, Robert 193, 196–201 Weber, Max 261 Weininger, Otto 192 Weizmann, Chaim 191 Weninger, Josef 75 Werfel, Franz 95, 100, 147, 220 Westerhoff, Armin 268 Wilhelm II., deutscher Kaiser 175 Willemsen, Roger 5, 15 Winterstetten, Karl von s. Ritter, Albert Wittgenstein, Ludwig 236 Wolf, Norbert Christian V, 20, 202, 258, 262 Zeller, Rosmarie V, 193, 202, 228 Zivier, Georg 75 Žižek, Slavoj 53 Zoltán, Lázlo 219 Zweig, Stefan 109, 125, 191, 265