Museen erzählen: Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts [1. Aufl.] 9783839410462

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts begegnen uns Museen in literarischen Texten, die weit über die Funktion als literarische

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Museen erzählen: Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts [1. Aufl.]
 9783839410462

Table of contents :
INHALT
Einleitung
,KOPFMUSEEN‘ – ERZÄHLTE GESCHICHTE UND GESCHICHTEN ERZÄHLEN
Siegfried Lenz’ Heimatmuseum ?? das Museum existiert im Kopf oder der Versuch einer ,Erinnerungszerstörung‘
Verbale ,Tagesgaben‘
Inszenierung und Sprache der Erinnerung
,Heimat‘-Repräsentationen
,Heimat‘-Annäherungen
Die Musealisierung von ,Heimat‘ im Heimatmuseum
Transformationen des Heimatmuseums
Das Heimatmuseum Adam Rogallas – Hort von Zeugnissen und Resten
Übernahme des Museums – erste Selektionsverweigerung
Heimatmuseum im Nationalsozialismus – erneute Selektionsverweigerung
Das Heimatmuseum ,auf der Flucht‘ – erzwungene Selektion und Dingetransfer
Das Nachfolgemuseum
Funktionen eines Heimat(vertriebenen)museums
Die Zerstörung der Sammlung zum ,Schutz‘ der Sammlung
Heimatlosigkeit
Die Umkehrung der Heimatauffassungen
Die Zerstörung des Museums
Das Errichten eines ,Textmuseums‘ – erste und endgültige Selektionszustimmung
Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit – das Museum als Ort medial inszenierter Erinnerungen
Konstruktion eines erdachten Museums – Konstitution eines Erinnerungsortes
Das Museum als Gedächtnisort und Topos der Erinnerung
Das Museum als Zeit- und Rauminsel
Das imaginäre Museum
Das „Haus der Kindheit“ – durch Medieneinsatz zum Mundus sensibilis
Das Tagebuch – ein personalisiertes Museum
Vom Aufzeichnen der ‚Erinnerungsexponate‘
Die Erinnerungsmetaphorik im Haus der Kindheit
DIE ,LEBENDE‘ SAMMLUNG – DAS MUSEUM ALS ABGELEHNTER ORT
Bruce Chatwins Roman Utz – oder warum ein Museum kein Ort für eine Sammlung ist
Das rätselhafte Verschwinden der Sammlung Utz
Der Privatsammler in einem kommunistischen Staat
Warum eine Sammlung im Museum ,stirbt‘
Privatsammler versus Museumsvitrine
Einblicke in das Leben eines passionierten Privatsammlers
Der Sammler, das ,ewige Leben‘ und der Tod
Figuren aus dem „Stoff der Magie“
Gegen die ,tote‘ Kunst: Die Konstitution der zweiten Sammlung oder der ,Harlekin‘ und seine ,Columbinen‘
Die Golemlegende und ihre Parallele zur Meißner Figurensammlung des Sammlers Utz
Das Maskenspiel des ,Harlekins‘ Utz
Marta – ,Columbine‘ und ,Golem‘ für den Sammler Utz
DIE ERSCHAFFUNG HYPERREALER WELTEN – DAS MUSEUM ZWISCHEN FAKE UND REALITÄT
Lawrence Weschlers Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder – oder „The museum isn’t what it says it is.“
Das reale Museum und seine literarische Verarbeitung
Ausgangsposition für das Recherchevorhaben
Das Fake und die Verstärkung seines Effekts durch die Fiktionalisierung
Das Fake – eine Begriffsbestimmung
Museumsexponate als Fake
Die Inszenierungsstrategien des Fake
Ist das Museum ein „cabinet of wonder“?
Exkurs zu den historischen Kunst- und Wunderkammern
Von der Ordnung und der Ästhetik des Hybriden
Die Rezeption des Fake: zwischen Staunen und Verwunderung
Vom Durchkreuzen der Sehgewohnheiten in Wilsons Museum
Intertextuelle Versatzstücke in Weschlers ,Textmuseum‘
Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht oder die Suche nach der ,Wahrheit‘
Jorge Luis Borges’ Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ oder die Suche nach dem Erstaunen
Brian Moores The Great Victorian Collection – von der Privatsammlung zum ,viktorianischen Disneyland‘
„I dreamed them up and now they are here“ – die Schöpfung der Great Victorian Collection
Die Sammlung – „a second set of originals“
Zwischen genialischer Schöpfung und Marketing-,Wunder‘ – die Rezeption der Great Victorian Collection in der Öffentlichkeit
Die Entwicklung des Great Victorian Village aus der Great Victorian Collection
Die Great Victorian Collection und ihre Parallele zur Great Exhibition 1851 in London
Der Crystal Palace – historisches Wahrzeichen und Symbol einer hyperrealen Welt
Die Interdependenz zwischen Sammler und Sammlung
Der Monitortraum – der ,Sieg‘ der Sammlung über den Sammler
Die Transformation der Dinge
Schlusswort
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Dank

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Margret Westerwinter Museen erzählen

2008-10-10 09-08-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 020f191524719256|(S.

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Margret Westerwinter (Dr. phil.) arbeitet als freie Lektorin und Autorin in Düsseldorf.

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Margret Westerwinter Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © AndreasG - fotolia.com Lektorat & Satz: Margret Westerwinter Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1046-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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für O. W.

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INHALT Einleitung

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,KOPFMUSEEN‘ ෥ ERZÄHLTE GESCHICHTE UND GESCHICHTEN ERZÄHLEN Siegfried Lenz’ Heimatmuseum î das Museum existiert im Kopf oder der Versuch einer ,Erinnerungszerstörung‘

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Verbale ,Tagesgaben‘ Inszenierung und Sprache der Erinnerung

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,Heimat‘-Repräsentationen ,Heimat‘-Annäherungen Die Musealisierung von ,Heimat‘ im Heimatmuseum

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Transformationen des Heimatmuseums Das Heimatmuseum Adam Rogallas í Hort von Zeugnissen und Resten Übernahme des Museums í erste Selektionsverweigerung Heimatmuseum im Nationalsozialismus í erneute Selektionsverweigerung Das Heimatmuseum ,auf der Flucht‘ í erzwungene Selektion und Dingetransfer Das Nachfolgemuseum Funktionen eines Heimat(vertriebenen)museums

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Die Zerstörung der Sammlung zum ,Schutz‘ der Sammlung Heimatlosigkeit Die Umkehrung der Heimatauffassungen Die Zerstörung des Museums Das Errichten eines ,Textmuseums‘ í erste und endgültige Selektionszustimmung

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Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit î das Museum als Ort medial inszenierter Erinnerungen

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Konstruktion eines erdachten Museums í Konstitution eines Erinnerungsortes

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Das Museum als Gedächtnisort und Topos der Erinnerung Das Museum als Zeit- und Rauminsel Das imaginäre Museum Das „Haus der Kindheit“ í durch Medieneinsatz zum Mundus sensibilis Das Tagebuch í ein personalisiertes Museum Vom Aufzeichnen der ‚Erinnerungsexponate‘ Die Erinnerungsmetaphorik im Haus der Kindheit

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DIE ,LEBENDE‘ SAMMLUNG î DAS MUSEUM ALS ABGELEHNTER ORT Bruce Chatwins Roman Utz î oder warum ein Museum kein Ort für eine Sammlung ist

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Das rätselhafte Verschwinden der Sammlung Utz

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Der Privatsammler in einem kommunistischen Staat

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Warum eine Sammlung im Museum ,stirbt‘ Privatsammler versus Museumsvitrine Einblicke in das Leben eines passionierten Privatsammlers

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Der Sammler, das ,ewige Leben‘ und der Tod Figuren aus dem „Stoff der Magie“ Gegen die ,tote‘ Kunst: Die Konstitution der zweiten Sammlung oder der ,Harlekin‘ und seine ,Columbinen‘ Die Golemlegende und ihre Parallele zur Meißner Figurensammlung des Sammlers Utz

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Das Maskenspiel des ,Harlekins‘ Utz Marta í ,Columbine‘ und ,Golem‘ für den Sammler Utz

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DIE ERSCHAFFUNG HYPERREALER WELTEN î DAS MUSEUM ZWISCHEN FAKE UND REALITÄT Lawrence Weschlers Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder î oder „The museum isn’t what it says it is.“

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Das reale Museum und seine literarische Verarbeitung Ausgangsposition für das Recherchevorhaben

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Das Fake und die Verstärkung seines Effekts durch die Fiktionalisierung Das Fake í eine Begriffsbestimmung Museumsexponate als Fake Die Inszenierungsstrategien des Fake

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Ist das Museum ein „cabinet of wonder“? Exkurs zu den historischen Kunst- und Wunderkammern Von der Ordnung und der Ästhetik des Hybriden Die Rezeption des Fake: zwischen Staunen und Verwunderung Vom Durchkreuzen der Sehgewohnheiten in Wilsons Museum

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Intertextuelle Versatzstücke in Weschlers ,Textmuseum‘ Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht oder die Suche nach der ,Wahrheit‘ Jorge Luis Borges’ Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ oder die Suche nach dem Erstaunen

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Brian Moores The Great Victorian Collection î von der Privatsammlung zum ,viktorianischen Disneyland‘

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„I dreamed them up and now they are here“ í die Schöpfung der Great Victorian Collection Die Sammlung í „a second set of originals“ Zwischen genialischer Schöpfung und Marketing-,Wunder‘ í die Rezeption der Great Victorian Collection in der Öffentlichkeit Die Entwicklung des Great Victorian Village aus der Great Victorian Collection

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Die Great Victorian Collection und ihre Parallele zur Great Exhibition 1851 in London Der Crystal Palace í historisches Wahrzeichen und Symbol einer hyperrealen Welt

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Die Interdependenz zwischen Sammler und Sammlung Der Monitortraum í der ,Sieg‘ der Sammlung über den Sammler Die Transformation der Dinge

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Schlusswort

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Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis

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Dank

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EINLEITUNG Das Museum1, schreibt Karl-Josef Pazzini, ist eine Institution, die selbst als eine „Sammlung von Institutionen“2 anzusehen ist. Es sei genau dieser Charakter, der die Impulse liefere, das Museum und seine Sammlungen aus einer Perspektive zu betrachten, in der nicht das einzelne Sammlungsstück, sondern auch die vielfältigen Vorzeichen, die ihm Bedeutung verleihen, mitberücksichtigt werden. Das Museum subsumiere die Summe aller kulturgeschichtlichen Entwicklungsstadien seiner selbst, angefangen mit den antiken Opferstätten über die Reliquiensammlungen bis hin zu den Wunderkammern.3 Das im neuzeitlichen Europa entstandene Museum stellt demzufolge die historische Sonderform einer kulturellen

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Das Wort ,Museum‘, in Anlehnung an das aus der griechischen Sprache stammende Wort museion für Musensitz gebildet, ist eine humanistische Neubildung, die seit dem 16. Jahrhundert erst das Studierzimmer eines Gelehrten bezeichnete und später als Begriff für Antiken- und Kunstsammlungen verwendet wurde. Auch architektonisch wurde dieser Bezug betont: Viele Museen, die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstanden, wurden nach dem Vorbild antiker Tempel erbaut. Prominentes Beispiel hierfür ist die Glyptothek Leo von Klenzes in München und das Neue Museum von Friedrich Schinkel in Berlin. Vgl. hierzu: Karl-Josef Pazzini: „,Das kleine Stück des Realen‘. Das Museum als ,Schema‘ (Kant) und als Medium“. In: Michael Fehr (Hg.): open box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs. Köln: Wienand 1998, S. 312-322: 313. Vgl. ebenfalls: Ders.: „8. Sammeln“. In: Ders.: Die Toten bilden. Museum & Psychoanalyse II. Wien: Turia + Kant 2003, S. 116-135: 121. Dieser Band ist Teil einer umfassenden Studienreihe, welche unter dem Titel Museum zum Quadrat einen breit gefächerten Einblick in unterschiedliche Museumsdiskurse liefert. Vgl. hierzu: Pazzini (1998): Stück des Realen, S. 313. Vgl. ebenfalls: KarlHeinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München: C. H. Beck 2003, S. 232-241. In dieser Studie wird dem kulturspezifischen Umgang mit Dingen nachgegangen, indem semantische Transformationsprozesse rekonstruiert werden, denen Güter unterliegen, wenn sie von einer Kultur in eine andere wandern. 11

MUSEEN ERZÄHLEN

Institution dar, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt.4 Warum aber bildeten sich Museen in den heute bekannten Spezialisierungen und Strukturen aus? Und welche Faktoren nahmen und nehmen Einfluss auf die Selektion, Präsentation und Rezeption von Museumsexponaten? Einer weit verbreiteten These zufolge bewirkten die Französische Revolution5 und der Zusammenbruch der französischen Monarchie die gleichzeitige Ausbildung eines neuen aufstrebenden Bürgertums sowie die Trennung von Staat und Kirche.6 In diese Zeit fiel auch die Gründung moderner Museen7 mit spezifizierten und nach wissenschaftlichen Forschungsfächern ausgerichteten Sammlungen. Zunächst wurden Kunstund Antikenmuseen, Glyptotheken, Pinakotheken und Nationalmuseen errichtet. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts folgten naturhistorische, ethnologische und technische Museen sowie Kunstgewerbe-, Heeres- und Spezialmuseen.8 War es im Mittelalter das Interesse jeder Stadt oder Sied-

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Vgl. für einen umfassenden Überblick über die Kulturgeschichte des Museums Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin: Wagenbach 31997, S. 20-72. Vgl. dazu Edouard Pommier: „Museum und Bildersturm zur Zeit der Französischen Revolution“. In: Sigrid Schade et al. (Hg.): Kunst als Beute: zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten. Wien: Turia + Kant 2000, S. 27-44. Pomian führt dazu aus, dass die Säkularisierung dafür sorgte, dass die Neugründung von Museen aus dem Bedeutungsverlust von Religion und Kirche im 19. Jahrhundert profitierte: „Die Beziehungen zwischen Vergangenheit und Zukunft [...] treten an die Stelle der Beziehungen zum Jenseits, das durch die im Tempel aufbewahrten Gegenstände vor Augen geführt wird. Die Kunst löst die Religion ab.“ In: Krzysztof Pomian: „Das Museum: die Quintessenz Europas“. In: Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit. [Ausstellungskatalog der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn.] Bonn 1994, S. 112119: 116. Vgl. hierzu: Gottfried Fliedl (Hg.): Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution. Wien: Turia + Kant 1996. Zwischen den Spezialmuseen wurden Artefakte und Kulturobjekte, die zuvor ihren gemeinsamen Ort in den Kunstkammern des 17. Jahrhunderts fanden, verteilt. Der Impuls für die spezialisierten Neugründungen kam aus England, wo 1851 die erste Weltausstellung stattfand. Aus Teilen der für diese Ausstellung zusammengetragenen Sammlungen, die zunächst im eigens dafür erbauten Crystal Palace ausgestellt wurden, entstand eine neue Sammlung im Victoria and Albert Museum in South Kensington in London. Ergänzt wurde dieses Museum in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts durch das Natural History Museum. Auch in Berlin auf der Museums12

EINLEITUNG

lung, eine eigene Kirche zu errichten, wurde es nun ihr Anliegen, ein eigenes Museum zu eröffnen.9 Ein Wunsch, der sich, interpretiert man ein Museum als Ausformung einer kulturellen Gedächtnisstruktur, einerseits als eine Form der Selbstvergewisserung deuten lässt, andererseits, aus psychoanalytischer Sicht, jedoch auch als Kompensation auf fehlende rituelle Zusammenhänge.10 Seither hat sich das Museum als ein Ort etabliert, an dem unterschiedliche Kräfte und Einflüsse einander bedingen, bedrängen und fördern. Historische und kulturpolitisch wirksame Ereignisse wie Krieg, Plünderung, Kolonisierung, Privatisierung, Enteignung und Säkularisierung hatten und haben fundamentale Auswirkungen auf die Sammeltätigkeit des Menschen und machen das Museum zur Chiffre für die Wahrnehmung von Zeitverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft.11 Ein Beispiel hierfür ist der Sammeleifer der Entdecker und Kolonisatoren der ,Neuen Welt‘, deren Wunsch, sich die Welt ebenfalls en miniature12 anzueignen, bereits in den eigens dafür eingerichteten europäischen Wunderkammern des 15. bis 17. Jahrhunderts seinen Ausdruck

insel in der Spree wurden neue Museen gebaut wie das Neue Museum, die Nationalgalerie, das Kaiser-Friedrich-Museum und das Pergamonmuseum. In Wien wurde zwischen 1872 und 1881 ein Museumskomplex neben der Wiener Hofburg errichtet, welcher der barocken Idee eines theatrum mundi folgte. Zwei sich gegenüberstehende Museumspaläste zeigten auf der einen Seite die Kunst des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit, auf der anderen die ganze Naturgeschichte und die unterschiedlichen Kulturstadien der Menschheit. Vgl. hierzu: Kohl (2003): Macht der Dinge, S. 251-253. 9 Vgl. Kohl (2003): Macht der Dinge, S. 253. 10 Vgl. dazu: „Die Handlungsunfähigkeit, hier in der Form der Orientierungslosigkeit aufgrund einer fehlenden rituellen Zusammenhangsstiftung, schlägt um in den Glauben an die Möglichkeit eines Neuanfangs, einer neuen Begründung der Menschheit und des bürgerlichen Subjekts. Die feudalen Sammlungen und die Anhäufungen von Trümmern, Fragmenten, Resten, Stücken als Resultat des Umsturzes der alten Ordnung werden umdefiniert zum Zeichen der Impotenz der alten Ordnung und der eigenen Omnipotenz.“ In: Pazzini (1998): Stück des Realen, S. 315. 11 Vgl. hierzu etwa Tony Bennett: „The Formation of the Museum“. In: Ders.: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics. New York: Routledge 1995, S. 17-58. 12 Vgl. hierzu: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen: Leske + Budrich 1994 sowie Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin: Klaus Wagenbach 1994. [Das Original erschien 1991 unter dem Titel Marvelous Possessions bei Oxford UP.] 13

MUSEEN ERZÄHLEN

fand.13 Dieser engagierte Aufbewahrungs- und Ausstellungswille erklomm im 19. Jahrhundert nicht nur einen bis dahin unerreichten Höhepunkt durch die bereits erwähnten Spezialisierungen, sondern auch in dem Phänomen, dass er sich quer durch alle Bereiche des menschlichen Lebens fortsetzte – wie es sich beispielsweise in der Ausstellungskonzeption für die erste Weltausstellung 1851 in London widerspiegelte. Hier wurden im Crystal Palace14 einerseits Geschichte, andererseits Fortschritt und neue Technik wie die Dampfmaschine neben Kunst und Gebrauchsgegenständen wie Nähnadeln, Schuhe, Kleidung etc. ausgestellt. Museen waren und sind, so bestätigt ihre quantitativ hohe Ausbreitung sowie ihre zunehmende Popularität15, gesellschaftlich, wissenschaft-

13 Vgl. hierzu Patrick Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. Köln: Dumont 2002. 14 Im letzten Kapitel diese Studie steht dieses prominente historische Bauwerk u. a. im Fokus der Analyse. 15 1759 wurde das British Museum eröffnet, welches allen bildungsinteressierten Bürgern freien Zugang gewährte. Es wurde im Sinne der Aufklärung als ein Ort der Bildung und des Lernens betrachtet, an dem einer breiten Bevölkerungsschicht eben diese Werte vermittelt werden sollten. Erstes eigenständiges Museum im deutschsprachigen Raum wird das Fridericianum Landgraf Friedrich II. in der Residenzstadt Kassel, welches zwischen 1769 und 1779 errichtet wurde. Vgl. hierzu: James S. Sheehan: „Von der fürstlichen Sammlung zum öffentlichen Museum“. In: Grote (1994): Macrocosmos in Microcosmo, S. 856-874. Und vgl. ebenfalls: Walter Grasskamp: Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München: C. H. Beck 1981. Die meisten Museumsneubauten wurden in Europa zwischen 1830 und 1880 errichtet. Insgesamt stieg die Zahl der Museen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges von einigen Dutzend auf mehrere Tausend. Vgl. Pomian (1994): Das Museum: die Quintessenz, S. 112. Aktuelle Zahlen belegen, dass in Deutschland seit 1996 ein Anstieg von über 10 Millionen Besuchern in über 6 000 Museen und Ausstellungen zu verzeichnen ist. Das Institut für Museumsforschung hat für das Jahr 2005 insgesamt 6 155 Museen in die Erhebung einbezogen, von denen 4 847 (davon 3 699 aus den alten und 1 148 aus den neuen Bundesländern) geantwortet und insgesamt 101 406 806 Besuche gemeldet haben. Vgl. hierzu: Staatliche Museen zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. Institut für Museumsforschung (Hg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2005. Heft 60. Berlin 2006. Interessant ist auch der weltweite Überblick, den Marco Schulzes und Michael Zils’ Herausgeberschrift Museums of the World. Handbook of Documentation and Information. München: Saur 142007 liefert, in der insgesamt über 40 000 Museen in 194 Ländern verzeichnet sind. 14

EINLEITUNG

lich, sozialpolitisch und geschichtlich geforderte Orte, die sich als feste Bestandteile der modernen Kultur etabliert haben16 und in ihrer Funktion als Bildungs- und Kommunikationsinstitutionen17 ihrerseits Einfluss auf die sich stetig wandelnden Paradigmen von Wissenschaft und Gesellschaft nehmen. In ihnen kumuliert Wissen und wird Wissen akkumuliert, Perspektiven werden hier erweitert oder beschnitten. Denn das Museum kann als Institution, die auf Langfristigkeit angelegt ist, kollektive Gedächtnisinhalte verstärken, historische Ereignisse vor dem Vergessen künstlich bewahren bzw. rekonstruieren und selektiv Akzente setzen18 sowie die Möglichkeit zur Erfahrung und Wiederholung von Geschichte19, von Kunst und Kultur bieten und zum Austragungsort intergenera-

16 Vgl. hierzu: Laut Definition des International Council of Museum (ICOM) ist ein Museum „a non-profit making permanent institution in the service of society and of its development, open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits, for purposes of study, education and enjoyment, the tangible and intangible evidence of people and their environment“. In: ICOM Code of Ethics for the Museum. ICOM 2006, S. 12. Der ICOM ist eine internationale Organisation für Museen und Museumsfachleute mit über 21 000 Mitgliedern in 140 Ländern, welche sich in enger Zusammenarbeit mit der UNESCO dem Erhalt, der Pflege und der Vermittlung des kulturellen und natürlichen Welterbes verpflichtet. Vgl. ebenfalls: Krzysztof Pomian: „Museum und kulturelles Erbe“. In: Gottfried Korff und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt/M., New York: Campus 1990, S. 41-64. 17 Neben der Verarbeitung geschichtlich relevanter Themen und der Präsentation von Kunst ist ein Museum natürlich auch ein Ort der Freizeitgestaltung. Vgl. hierzu beispielsweise: Anja Wohlfromm: Museum als Medium. Neue Medien in Museen. Köln: Herbert von Halem 22005, S. 48-49. Auch die Vorstellung dessen, was ein Museum sein und wo es sich befinden kann, hat sich verändert, wie Eilean Hooper-Greenhill bestätigt: „Today, almost anything may turn out to be a museum, and museums can be found in farms, boats, coal mines, warehouses, prisons, castles, or cottages. The experience of going to a theme park or a funfair than that which used to be offered be the austere, glass-case museum.“ In: Eilean Hooper-Greenhill: Museums and the Shaping of Knowledge. London: Routledge 1992. 18 Vgl. hierzu Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 32000. 19 Zum Museum und seiner geschichtlichen Funktion gibt es zahllose Publikationen. Eine maßgebliche findet sich in Walter Benjamins Schriften, der das Museum als ein Produkt des Historismus – ein „Traumhaus“ – bezeichnet. Für ihn, der das Erkennen von Diskontinuitäten und Defiziten als einzig angemessenen Modus der Erinnerung in der Moderne ansieht, liegt in der Vorstellung eines Kontinuums von Geschichte eine totalisierende und 15

MUSEEN ERZÄHLEN

tioneller Kommunikation avancieren, an dem sich kulturelle, wissenschaftliche, politische, soziale oder geschichtliche Brüche und Widersprüche zeigen. Es stellt Raum zur Reflexion bereit20 und tritt dabei nicht zuletzt „als Praktik des Bewahrens und der Bildung eines materiellen Gedächtnisses von Objekten dem Tod entgegen – dem Tod als individueller Grenze mit dem Zerfall des Leibes und dem symbolischen Tod als Angst vor dem Vergessenwerden“.21 unterdrückende Macht, zu dessen Instrument das Museum gemacht werden kann, wenn der Gefahr, die durch das Bestreben alles unter ein repräsentatives Dach zu bringen, um eine kohärente Geschichtsschreibung zu konstruieren, nicht entgegen gewirkt wird, bzw. werden kann. Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band V. Das Passagen-Werk. Zwei Teilbände. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 513. Vgl. dazu ebenfalls: Daniel Weidner: „,Erstarrte Unruhe‘. Das Bild des Vergangenen bei Walter Benjamin“. In: Roswitha Muttenthaler et al. (Hg.): Museum im Kopf. Wien: Turia + Kant 1997, S. 33-53: 33. 20 So spricht beispielsweise Sabine Offe von jüdischen Museen in Österreich und Deutschland als „hybriden“ Institutionen: Sie exponieren Dinge der Verfolgten und Ermordeten einem Publikum, dessen Eltern, respektive Großeltern zur Generation der NS-Täter gehörten. In diesem Kontext stellt sich Offe zufolge auch nicht die Frage nach richtiger oder falscher Erinnerung, sondern nach dem Umgang der Nichtjuden mit dem Schulderbe der Geschichte. In: Sabine Offe: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich. Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft 2000, S. 49-53. 21 Gottfried Fliedl und Karl-Josef Pazzini: „Museum-Opfer-Blick. Zu Etienne Louis Boullées Museumsphantasie von 1783“. In: Ders. (Hg.): Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution. Wien: Turia + Kant 1996, S. 131-158: 147. In einem anderen Aufsatz von Karl-Josef Pazzini heißt es: „Das, was eigentlich schon auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war, wird wertvoll. Die Reste des alten Kontexts werden zum Ausgangspunkt veränderter Erzählungen. Und die Erzählungen werden im Zirkelschluss beglaubigt durch die ungeheure Sammlung.“ In. Karl-Josef Pazzini: „2. Die Toten bilden. Über eine Aufgabe des Museums“. In: Ders.: Die Toten bilden. Museum & Psychoanalyse II. Wien: Turia + Kant 2003, S. 13-41: 27. Zum Punkt der materialisierten Erinnerungskultur in den Museen der europäischen Kultur siehe auch Susan Pearces wegweisende Studien zur Dingkultur und Materialität. Vgl. Susan Pearce: (Hg.): Experiencing Material Culture in the Western World. London (u. a.): Leicester UP 1997; dies.: On Collecting. An Investigation into Collecting in the European Tradition. London (u. a): Routledge 1995; dies. (Hg.): Interpreting Objects and Collections. London (u. a): Routledge 1994 sowie dies. (Hg.): Museums, Objects, and Collections. A Cultural Study. Washington D. C.: Smithsonian IP 1993. 16

EINLEITUNG

Voraussetzung für den Besuch eines Museums ist das Interesse des Besuchers und der Besucherin am ausgestellten Thema und die Bereitschaft, Zeit dafür zu erübrigen. Daraus ergibt sich ein hoher Anspruch an die Konzeption einer Museumsausstellung wie etwa Pazzini ihn provokativ formuliert: Das Museum zieht etwas von der Lebenszeit [des Besuchers, Anm. M. W.] ab. Durch ein Erlebnis muss das Museum diesen Verbrauch valorisieren, ihm einen Glanz verleihen, eine Form angenehmer Wiederholung bieten, einen Genuss kombiniert mit einer Sublimierung.22

Ein nahe liegender Grund für den Besuch eines Museums ist, dass in ihm etwas dargeboten wird, zu dem man sonst nur schwer oder gar keinen Zugang bekommt. Museumsbesucher treffen in Museen auf Dinge in neuen Konstellationen: „Almost nothing displayed in museums was made to be seen in them. Museums provide an experience of most of the world’s art and artifacts that does not bear even the remotest resemblance to what their makers intended“23, heißt es hierzu beispielsweise in einem Aufsatz von Susan Vogel in Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display. Musealisierten24 Objekten wird, so lässt sich hieran anschließend mit Gottfried Fliedl formulieren, im Museum

22 Pazzini (2003): Die Toten bilden. S. 17. 23 Susan Vogel: „Always True to The Object in Our Fashion“. In: Ivan Karp und Steven D. Levine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display. Washington D. C., London: Smithonian Institution Press 1991, S. 191-204: 191. 24 Der Akt des Musealisierens beschreibt einen Vorgang, ein Geschehen bzw. eine bestimmte Umgangsform mit Objekten, an denen etwas vorgenommen wird, wodurch sich ihr Zustand ändert. Dem Begriff des Musealisierens wird die Fähigkeit zugesprochen, den statischen Begriff Museum in etwas Prozesshaftes dynamisieren zu können. Vgl. dazu Eva Sturms umfassende Studie zur Musealisierung: Konservierte Welt. Museum und Musealisierung. Berlin: Reimer 1991. Vgl. ebenfalls: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. München: Selbstverlag Pädagogische Aktion 1988. Mit derselben inhaltlichen Bedeutung spricht Jean Baudrillard in seinen Texten von Museifizierung (vgl. Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978) und Henri Pierre Jeudy von Musealisation (vgl. Henri Pierre Jeudy: „Der Komplex der Museophilie“. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen: Klartext 1990, S. 115-121.) Vgl. dazu ebenfalls: Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 11-12. 17

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„Fremdheit verliehen“25. Deswegen ist jede Ausstellung mit einem didaktischen Anspruch verknüpft, da der im Museum dargestellte spezifische Zugriff auf die Welt durch die Diskursivierung der Dinge auch vermittelt werden soll. Dem Publikum werden im Museum Semantisierungen zu lesen gegeben, welche durch einen subjektiven Akt des Auswählens und Sammelns bestimmt und anschließend in arbiträre Systeme, die mächtig, regelgeleitet und einem Wandel der Zeit unterworfen sind,26 eingeordnet wurden. Einer prominenten These James Cliffords zufolge ist das Entstehen des idealen Selbst seit der Renaissance mit der Vorstellung verknüpft, dass sowohl das Individuum als auch das Kollektiv eine materielle Welt um sich versammelt und zusammenfügt,27 wodurch zugleich ein subjektiver Bereich um es herum konstituiert wird, der das Andere ausklammert. Denn Dinge, welchen zuvor ein vorwiegend symbolischer Charakter zukam, charakterisierten fortan ihre Besitzer28 und waren nicht mehr von

25 Gottfried Fliedl: „Musealisierung und Kompensation“. In: Wolfgang Zacharias (Red.): Texte und Dokumente zum Zeitphänomen Musealisierung: bevor es endgültig zu spät ist. München: Selbstverlag Pädagogische Aktion 1988, S. 21-28: 23. 26 Das heißt, sie sind „tied up with nationalist politics, with restrictive law, and with contested encodings of past and future“. In: James Clifford: „On Collecting Art and Culture“. In: Ders.: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art. Cambridge, Mass.: Harvard UP 1988, S. 215-252: 218. Eine Übersetzung dieses Aufsatzes ins Deutsche mit dem Titel „Sich selbst sammeln“ findet sich in: Gottfried Korff und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt/M., New York: Campus 1990, S. 87-106. 27 Clifford geht von einer These Crawford B. Macphersons aus, in der es heißt, dass das Entstehen des idealen Selbst auf das 17. Jahrhundert datiert werden könne, da sich das Individuum seit diesem Zeitpunkt mit angehäuften Gütern und Eigentum umgäbe. Vgl. Crawford B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke. Oxford: Clarendon 1962. [Die deutsche Übersetzung erschien 1967 unter dem Titel Die politische Theorie des Besitzindividualismus in Frankfurt/M. im Suhrkamp Verlag.] 28 Für die vorliegende Analyse lauten die Fragen konkret: Was sagen die Erinnerungsexponate über die Dinge im Heimatmuseum über Zygmunt Rogalla und Conny Karrasch in Siegfried Lenz’ Heimatmuseum, das erinnernde Ich in Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit, die Porzellanfiguren über den Protagonisten Utz in Bruce Chatwins gleichnamigen Roman, die Exponate über den Museumsbesitzer David Wilson in Lawrence Weschlers Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder und die Great Victorian Col18

EINLEITUNG

ihnen zu trennen. Diese Form der Identitätsbildung in der abendländischen Kultur durch eine Akkumulation von Objekten, Wissen, Erinnerungen und Erfahrungen ist laut Clifford spezifisch „for the deployment of a posessive self, culture, and authenticity“29. Durch ihre Zusammenstellung drückt sich aus, wie sich das sammelnde Subjekt oder das sammelnde Kollektiv die Welt aneignet, und welchen „wider cultural rules – of rational taxonomy, of gender, of aesthetics“30 es dabei folgt.31 Die Besucherin und der Besucher begegnet den versammelten Dingen im Museum, dem „zunächst ängstigenden Fremden“32, mit den dort erlaubten und geforderten Verhaltensweisen. Sie verlassen sich während ihres Museumsbesuchs auf die ritualisierten Vorgaben33, die das Museum bestimmt respektive ihnen bereitstellt – wie zum Beispiel die Verbote oder Gebote34 der Berührung und der Konsumtion.35 Oder die durch

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lection über ihren geistigen Urheber Anthony Maloney in Brian Moores ebenfalls gleichnamigen Roman aus? Clifford (1988): On Collecting Art and Culture, S. 218. Clifford (1988): On Collecting Art and Culture, S. 218. James Clifford formuliert diese Definition des sammelnden Subjekts unter Bezugnahme auf Jean Baudrillards Schrift Das System der Dinge und seiner Aussage über das Wesen der Dinge und kennzeichnet damit das Sammeln als wesensbezogen und imaginär. Letzteres sei es, so Baudrillard, weil es an der Bildung der Subjektivität im Unbewussten seinen Anteil hat. Vgl. dazu: „Wesen und Dinge sind übrigens miteinander verbunden und nehmen in dieser heimlichen Übereinkunft eine Innigkeit, einen affektiven Wert an, den man überkommener Weise als ihre ,Präsenz‘ bezeichnet.“ In: Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt/M. (u. a.): Campus 1991, S. 24. [Das Original erschien 1968 unter dem Titel Le système des objets in den Éditions Gallimard in Paris.] Vgl. dazu: Clifford (1988): On Collecting Art and Culture, S. 220. Pazzini (2003): Die Toten bilden. S. 32. Vgl. ebenfalls: Carol Duncan: Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums. London: Routledge 1995. Es gibt Ausstellungskonzepte, die das besichtigende Subjekt zum Teil der Ausstellungsobjekte und -installationen werden lassen. Etwa Installationen in Museen für moderne Kunst, die beispielsweise den Anstoß des Besuchers benötigen, um ,in Gang gesetzt‘ zu werden. Oder in Erlebnismuseen wie dem Universum Science Center in Bremen, dem Deutschen HygieneMuseum in Dresden, dem Heinz Nixdorf MuseumsForum in Paderborn, dem Natural History Museum in London oder dem Phänomenta in Flensburg sind als fester Bestandteil der Präsentation interaktive Handlungen zwischen Exponat und Besucher wie zum Beispiel Berührungen, Riechen, Eingaben in Computerterminals etc. gefordert. 19

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architektonische Prämissen oftmals festgelegte Reihenfolge36 der Bewegung durch das Museum: von der Kasse zur Garderobe in die Ausstellung, von dort aus in das Museumscafé und schließlich in den Museumsshop.37 Den ausgestellten Objekten kann der Besucher dabei auf unterschiedliche Arten begegnen, welche sich aber nicht immer streng voneinander getrennt ereignen. Entweder antwortet er mit „Resonanz“38, das meint nach Stephen Greenblatts Auffassung die Vernachlässigung einer ästhetischen Betrachtungsweise zugunsten eines Hinterfragens der kulturellen, sozialen und geschichtlichen Bezüge eines Exponats.39 Oder aber er reagiert affektiv mit Ehrfurcht auf die Ästhetik und das Kunstvolle des Artefakts, die Greenblatt „Staunen“ nennt.40

35 Vgl. Pazzini (2003): Die Toten bilden. S. 26 und S. 28. 36 Vgl. hierzu: Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 55. 37 Vgl. hierzu: Gottfried Fliedl (Hg.): Wa(h)re Kunst. Der Museumsshop als Wunderkammer. Theoretische Objekte, Fakes und Souvenirs. Frankfurt/M.: Anabas 1997. 38 Ob sich das Publikum während des Leseprozesses immer auch der genuinen Funktion und Bedeutung der Dinge bewusst ist, und ob der Rezeptionsvorgang immer auch einen Rekonstruktionsprozess mit einschließt, wie es beispielsweise Gottfried Fliedl (vgl. Fliedl (1988): Musealisierung und Kompensation, S. 23) fordert, darf angezweifelt werden. Wäre dies aber der Fall, dann könne ein Museum, so lauten Pazzinis Gedanken, seine Definitionen von kulturellen Wertigkeiten und Hierarchien auf ein breites Spektrum von Dingen projizieren und damit Ordnungen errichten, welche die Ordnung der ausgestellten Kultur repräsentierten und außerdem verdoppelten, da Werte nicht nur angezeigt, sondern auch weitergetragen und Vorstellungen von Kontinuität, Stabilität, Tradition formuliert werden könnten. So werde ein Anschluss an Geschichte hergestellt. Die andere Idee, welcher das Museum ebenfalls Raum böte, sei die Möglichkeit, Dinge ohne historische oder traditionelle Zusammenhänge zu betrachten. Vgl. Pazzini (2003): Die Toten bilden. 39 „Resonanz bezeichnet also die Macht des ausgestellten Objekts, über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen es ursprünglich entstammt und als deren – sei es metaphorischer oder bloß metonymischer – Repräsentant es vom Betrachter angesehen werden kann.“ In: Stephen Greenblatt: „Resonanz und Staunen“. In: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin: Klaus Wagenbach 1991, S. 7-29: 15. 40 „Unter Staunen verstehe ich die Macht des ausgestellten Objekts, den Betrachter aus seiner Bahn zu werfen, ihm ein markantes Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln, eine Ergriffenheit an ihm zu provozieren.“ In: Greenblatt (1991): Resonanz und Staunen, S. 15. 20

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Der Museumskurator greift, wenn er eine Ausstellung konzipiert, entweder auf Exponate zurück, die sich in den museumseigenen Magazinen und Depots befinden, präsentiert Wanderausstellungen oder er erwirbt oder leiht Sammlungsstücke, aus denen er eine neue Ausstellung aufbaut. Ihre primäre Gemeinsamkeit liegt zunächst in ihrer Entkontextualisierung aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen und ist, wie auch Walter Benjamin findet, die Grundvoraussetzung für einen Gegenstand, Aufnahme in eine Sammlung zu finden: „Es ist beim Sammeln das Entscheidende, dass der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird, um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten.“41 Den Dingen in einem Museum kann, wie Krzyzstof Pomian es in Vom Ursprung des Museums nennt, ein Semiophoren42-Status zugesprochen werden: Sie verweisen auf das Abwesende, das zeitlich und/oder räumlich entfernt Liegende.43 Sie erfahren einen Wandel und werden, 41 Benjamin (1982): Gesammelte Schriften V, S. 271. 42 Pomian betont, dass ein Gegenstand, um Aufnahme in eine Sammlung finden zu können, „zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten“ werden muss. Seien sie jedoch Teil einer Sammlung geworden, könnten sie eine Verbindung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt schaffen, respektive den Übergang zwischen diesen beiden homogenisieren. Vgl. dazu: Pomian (1997): Der Ursprung des Museums, S. 38-70. Vgl. dazu ebenfalls: Michael Thompson: Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Hg. v. Michael Fehr. Essen: Klartext 2003. [Das Original erschien 1979 unter dem Titel Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value bei Oxford UP.] Der amerikanische Kultursoziologe, der sich mit der Bedeutung von Dingen befasst, unterscheidet zwischen „dauerhaften“ und „kurzlebigen“ materiellen Objekten. Wobei „dauerhaft“ meint, dass es Dinge mit hohem Prestigewert oder hoher sozialer Bedeutsamkeit sind, die an Wert im Laufe der Zeit unter der Voraussetzung gewinnen, dass sich soziale und gesellschaftliche Bedingungen nicht grundsätzlich ändern. Unter „kurzlebigen“ Dingen versteht er Massenprodukte mit einem anfänglich gewissen Prestigewert, deren Wertverfall durch Gebrauch und Besitzerwechsel bis hin zu ihrer Wertlosigkeit führen kann, sodass sie schließlich zu Abfall werden und sich den sozialen Kontrollmechanismen entziehen. Hat ein Objekt aber lange genug den Status von Abfall innegehabt, kann es wiederentdeckt und zu einem dauerhaften Objekt werden. Diese Werttransformation findet vor allem dann statt, wenn Objekte selten geworden sind wie zum Beispiel durch Zerstörung, Verfall oder Beschaffungsschwierigkeiten – aus Abfällen werden Semiophoren. 43 Dies wird bei Pomian unter dem Begriff des Unsichtbaren gefasst. Ein Begriff, der für andere Kulturen, ferne Länder, aber auch unterirdische Grab21

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über ihre reine Speicher- und Gedächtnisfunktion hinaus, Teil einer dialogischen Situation,44 in welcher der Betrachter mit den Dingen kommuniziert und dadurch, wie Karl-Josef Pazzini es ausdrückt, „durch die Toten gebildet wird“45. Die Dinge in einem Museum sind folglich nicht nur Geschichte, sie erzählen auch Geschichte(n) oder liefern vielmehr dem Subjekt, wie Lorraine Daston in Things that Talk46 deutlich macht, einen Redeanlass:

kammern etc. genau so stehen kann wie für etwas in der Zeit Entferntes, also die Vergangenheit oder die Zukunft. Unsichtbar ist aber auch, was sich außerhalb jeglicher Zeitrechnung befindet wie die Ewigkeit. Vgl. dazu: Pomian (1997): Der Ursprung des Museums, S. 38-45. 44 Die kommunikativen Strategien, die zwischen dem ausgestellten Objekt und dem Rezipienten vermitteln, halten dabei den Anschluss an modernste technische Möglichkeiten wie zum Beispiel digitale Sound- und Hörstationen, interaktive Computerterminals sowie Video- und 3D-Animationen. Vgl. hierzu etwa: Roswitha Gost (Hg.): Neue Medien in Museen und Ausstellungen. Einsatz, Beratung, Produktion. Ein Praxis-Handbuch. Bielefeld: transcript 1998; Uwe M. Schneede (Hg.): Museum 2000 – Erlebnispark oder Bildungsstätte? Köln: DuMont 2000 oder Wohlfromm (2005): Museum als Medium. 45 Im Zustand des Totseins vermag Pazzini die Macht der Dinge in einem Museum zu erkennen, denn in ihnen wirkten die Toten weiter. Die Beziehung zu den Toten in einem Museum vollziehe sich auf drei Ebenen: „Wir bilden die Toten, wir bilden uns die Toten, wir lassen die Toten uns bilden, nach unseren Vorstellungen um die Reste herum.“ In: Pazzini (2003): Die Toten bilden. S. 30-31. „Museen“, schreibt hierzu Annegret Pelz, „stellen Kunstgegenstände aus ihren Depots und Magazinen, Bücher stellen Zitate aus dem Archiv der Worte neu. In beiden Fällen ist das Neu-Stellen eine Form der Überlieferung, die mit einem dezidierten Interesse am ,gründlichen Totsein‘ des erinnerten Gegenstandes einhergeht.“ In: Annegret Pelz: „Von Album bis Zettelkasten. Museums-Effekte im Text“. In: Gisela Ecker et al. (Hg.): Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen. Königstein/Taunus: Helmer 2001, S. 17-30: 20. Ein Gedanke, der sich auch bei Bettine Menke in Bezug auf Zitate findet, und der, wie bereits Pelz konstatiert, die Gemeinsamkeit zwischen Museum und Text unterstreicht: „Und wenn es eine Gegenwart des Erinnerten gibt, so ist sie die nachträgliche des Über- oder Nach-Lebens des Toten im Zitat.“ In: Bettine Menke: „Das Nach-Leben im Zitat“. In: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum, Bild, Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 74-110: 75. 46 Lorraine Daston: Things that Talk. Object Lessons from Art and Science. New York: Zone Books 2004, S. 9 und 10. 22

EINLEITUNG

Imagine a world without things. It would be not so much an empty world as a blurry, frictionless one: no sharp outlines would separate one part of the uniform plenum from another; there would be no resistance against which to stub a toe or test a theory or struggle stalwartly. Nor would there be anything to describe, or to explain, remark on, interpret, or complain about – just a kind of porridgy oneness. Without things, we would stop talking. We would become as mute as things are alleged to be.47

Dinge werden ,gesprächig‘, wenn in ihnen „matter and meaning“48 zusammenfällt. Als Objekte der Faszination und Assoziation, der Differenzierung und Emotion wird ihnen durch ihre Einbindung in ein Narrativ Bedeutung49 verliehen und sie werden diskursiviert. Im Bild des Speichers50, dem technischen Apriori jeglicher Archivierung, treffen sich das Museum und der Text. Michel Foucault weist in seinem Werk Archäologie des Wissens darauf hin, dass Archive – und als solche lassen sich sowohl Museen als auch Texte definieren – Orte sind, an denen Objekte respektive Informationen weder gegenstandsneutral noch vollständig aufbewahrt werden, denn die Aussagen, die sie später zu lesen geben werden, werden im Augenblick der Selektion51 bereits auf

47 Daston (2004): Things that Talk, S. 9. 48 Daston (2004): Things that Talk, S. 10. 49 Vgl. hierzu beispielsweise Andrea Hauser: „Staunen – Lernen – Erleben. Bedeutungsebenen gesammelter Objekte und ihrer musealen Präsentation im Wandel“. In: Gisela Ecker et al. (Hg.): Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen: Königstein/Taunus: Helmer 2001, S. 31-48: 37. 50 „Während die Spurensicherer bei ihrer Gedächtnisarbeit vor allem auf die Schrift und Spur als Gedächtnis-Metapher setzen, halten sich die Materialsammler an das Gedächtnis-Bild des Magazins oder des gebauten Speicherraums. Beide Gedächtnismodelle verwenden räumliche Vorstellungsbilder, und doch kommt die Schrift-Metapher der Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses weit näher als die architektonische SpeicherMetapher.“ In: Michael Roßnagel: „Zum Geleit“. In: Ingrid Schaffner und Matthias Winzen (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst. [Anlässlich der Ausstellung „Deep Storage – Arsenale der Erinnerung“ im Haus der Kunst, München (3.8.12.10.1997) und in der Henry Art Gallery, Seattle.] München, New York: Prestel 1997, S. 6-9: 8. 51 „Sammeln, was zunächst nur nach Anhäufen klingt, ist immer auch eine Auswahl, denn man kann nicht alles anhäufen. Etwas bleibt immer daneben. Es wird etwas in einen Pool aufgenommen und es wird etwas aus der vorstellbaren Menge der Elemente durch diese Vorstellung selbst ausgeschieden, nicht berücksichtigt, abgelehnt und ausgegrenzt.“ In: Karl-Josef Pazzini: „7. Über Reste. Speicher – Kloake und Müll – und Mist“. In: 23

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diesen Moment hin generiert52 und in einer bestimmten Ordnung gespeichert. Der Vorgang der Wissensspeicherung ist dabei immer in seinem Bezug zu den herrschenden Machtstrukturen und Epistemen53, also den kognitiven Taxonomien einer Epoche zu betrachten. Wobei unter Wissen nicht das Ergebnis eines rationalen Denkprozesses des Menschen, sondern das aus der Struktur der Diskurse54 neu Entstehende zu verstehen ist. In Archiven werden, wie Foucault sagt, Diskurse produziert und konserviert. Die archivierten Dinge und Wörter werden zu Teilen eines kollektiven Gedächtnisses55, sie konstituieren und tradieren Wissenssysteme und werden damit Teil strategischer Mechanismen einer „diskursiven“ Macht.56 Aus der Ordnung und der Präsentation einer Sammlung57 sowie

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Ders.: Die Toten bilden. Museum & Psychoanalyse II. Wien: Turia + Kant 2003, S. 106-115: 111. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 12 2005, S. 187. [Das Original erschien 1969 unter dem Titel L’Archéologie du savoir in den Éditions Gallimard in Paris.] Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 15 1999. [Das Original erschien 1966 unter dem Titel Les mots et les choses in den Éditions Gallimard in Paris.] Dieser Gedanke inkludiert eine Kritik an den hierarchischen Denkmustern der Taxonomie und Klassifikation. Zum Stichwort des kollektiven Gedächtnisses vgl. beispielsweise Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: Ders. und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 9-19; ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992; Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 1991. [1967]; Dietrich Harth: „Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften und die klassische Tradition. Erinnern und Vergessen im Licht interdisziplinärer Forschung“. In: International Journal of Classical Tradition 3, 2, 1996, S. 414-442 sowie Renate Lachmann: „Mnemotechnik und Simulakrum“. In: Dies.: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 13-50. Laut Foucault ist das Archiv „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht“. In: Foucault (2005): Archäologie des Wissens, S. 187. Eine archivierte Aussage, die ohne Interventionen wie Verknappung, Selektion, Zensur oder Disziplinierung zustande gekommen sein soll, ist für Foucault nicht vorstellbar. Im Gegensatz zu der bei Freud noch kenntlichen historischen Orientierung hat Foucault seine Verwendung der Archäologie-Metapher kategorisch abgegrenzt. Sie wird bei ihm vom Begriff des Archivs abgeleitet und gegen den des Gedächtnisses ausgespielt. Archäologie meint hier die Beschreibung eines Archivs (als System der Formation und Trans24

EINLEITUNG

ihrer Deskription lassen sich Transformationen kognitiver Ordnungsschemata in enger Verbindung zu Neudefinitionen der sprachlichen und kulturellen Repräsentationsmuster herauslesen. Stellt man Fragen nach der Repräsentationslogik einer Ausstellung und nach der Selektion, Beschaffenheit und Herkunft der Dinge, und analysiert man ihre Semantisierung im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden kulturellen Sinnstiftungen, die sich ihrerseits auf jeweils bestimmte Vorstellungen, Bildlichkeiten und Wissenskanons beziehen, kann im Sinne Greenblatts nicht nur eine Aussage über die Kultur, aus der die Objekte stammen, sondern ebenfalls über die Kultur, die sie ausstellt, getroffen werden.58 Auf diese Weise verschafft man sich Einblicke in damit verbundene Erfahrungen hinsichtlich des Umgangs mit und des Erlebens von Autorität, Ordnung und Öffentlichkeit und eröffnet sich einen individuellen Zugriff auf die Welt. In beiden ,Räumen‘ – dem Museums- und dem Textraum – werden Dinge respektive sprachliche Zeichen präsentiert und zur Rezeption freigegeben. Sie werden zu Teilen eines subjektbezogenen Verstehensprozesses, welcher durch Textstrukturen und Museumskonzepte zwar gelenkt, jedoch nicht vorhergesagt oder festgelegt werden kann. Ausstellungsobjekte und Textpassagen treten in eine Beziehung zum Subjekt und eröffnen einen jeweils spezifischen Zugriff sowohl auf das individuelle als auch das kollektive Gedächtnis und fordern vom Rezipienten die „beständige Mitreflexion“ ihrer „Konstruiertheit“59. Museen und Texte sind Kulturproduktionsstätten, an denen sich gesellschaftliche, psychologische, soziale, politische, philosophische und historische Diskurse über das, was repräsentiert wird und vor allem wie es repräsentiert werden soll, (weiter-)entwickeln. Stephen Greenblatt nennt jede gegebene Repräsentation60 einen Reflex oder ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse. Ein Gedanke, der sich in der hier vorliegen-

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formation von Aussagen einer Epoche), die keine kontinuitätsstiftende Gedächtnisfunktion erfüllt. Im Gegensatz zu Sammelsurien, welche, wie Gisela Ecker es formuliert, „als im Alltag gelebte An-Sammlungen, die das Subjekt im lebendigen Prozess und in seiner unbewussten Struktur entdecken lassen“, angesehen werden können. Ecker macht ferner darauf aufmerksam, dass ein heute nicht mehr häufig verwendeter englischer Begriff für Sammelsurium „omnium gatherum (es sammelt sich selbst)“ lautet. In: Gisela Ecker: „Literarische Kramschubladen. Portraits – Privatmuseen – Zwischenspeicher“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125, 2006, S. 19-31: 21 und 23. Vgl. Foucault (1999): Die Ordnung der Dinge. Pelz (2001): Von Album bis Zettelkasten, S. 20. Vgl. Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 16. 25

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den Studie auf mehreren Ebenen wiederfindet, wenn literarische und nichtliterarische, kulturelle und textuelle Produktionen im Sinne des New Historicism als gleichberechtigte und aufeinander beziehbare Äußerungen eines kulturellen Imaginären aufgefasst werden, und den kulturellen Verhältnissen, sozialen Gefügen, psychologischen Strukturen und politischen Zusammenhängen nachgegangen wird. Ausgehend von den bereits genannten Museumsdiskursen lassen sich auf verschiedenen Ebenen Verbindungen zu den ausgewählten Primärtexten aufzeigen, welche die Analyse in den einzelnen Kapiteln bestimmen, deren grundlegende Gemeinsamkeit darin zu finden ist, dass in jeder der ausgewählten Erzählungen und Romane auf der narrativen Ebene Museen als Gegenstand plotbestimmend sind und im Sinne von Stephen Greenblatts erweitertem Textbegriff über die textimmanente Ebene hinaus konstitutiv wirken. Neben motivgeschichtlich motivierten Fragen, die auch den institutionskommentierenden Positionen in den einzelnen Texten nachgehen, werden zudem museumstheoretische Ansätze für die Interpretation der literarischen Texte genutzt und ihrer Rezeptionswirkung wird nachgegangen. Ein Vorgehen, welches einen neuen Zutritt zu Siegfried Lenz’, Marie Luise Kaschnitz’, Bruce Chatwins, Lawrence Weschlers und Brian Moores Museums- und Textwelten verschafft. Überlegungen, was literarische Texte im Vergleich zu anderen Textsorten über das Museum zu sagen vermögen, liegen allen Textanalysen zugrunde und werden im Einzelfall konkret zu reflektieren sein. Die diesbezügliche Forschung spricht zum Beispiel der Literatur genauso wie dem Museum das Vermögen zu, menschliche Erfahrungen zu vergegenwärtigen und zu vermitteln.61 Die herausragende Rolle der Literatur innerhalb dieses Vergleichs lässt sich dadurch erklären, dass sie „wie kein anderes kulturelles Phänomen bis heute Organ von Differenzierung, Verschiebung und

61 Joachim Ritter: Subjektivität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 131. Vgl. ebenfalls ders.: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. Münster/Westfalen: Aschendorff 1963. Eva Sturm erläutert dies: Solche „Erinnerungsorgane, die durch die Möglichkeit der gedanklichen Aufarbeitung und der teilweisen Befriedigung des Bedürfnisses nach Sichtbarkeit des Vergangenen über den Bruch hinweg historischen Sinn ermöglichen sollen, sind die historischen Wissenschaften, das Museum, die Denkmalpflege und bei Ritter an erster Stelle genannt, die Geisteswissenschaften. Ihnen spricht er die Fähigkeit zu, der Gesellschaft alle menschlichen Erfahrungen der Geschichte zu vergegenwärtigen und zu vermitteln. Sie sollen das Vergangene und das vom Vergehen bedrohte erhalten und erschließen, es der Öffentlichkeit zugänglich machen.“ In: Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 27. 26

EINLEITUNG

Übersetzung“62 ist. Versteht man wie Jochen Hörisch Literaturgeschichte als Problemgeschichte, meint das für die Literatur, dass sie genau wie die Philosophie darauf spezialisiert ist, Probleme der Welt und des Daseins zu beobachten, zu thematisieren und zu versprachlichen.63 Dabei arbeite, so Hörisch, die Literatur nicht mit vereinfachenden Codes wie richtig und falsch, sondern variiere zwischen passend und unpassend respektive stimmig und unstimmig. Aus diesem Grund können literarische Texte, wie zum Beispiel Susanne Scholz es pointiert formuliert, „Ambivalenzen, Ängste, Anliegen des kulturellen Dinggebrauchs ,in einer anderen Realität‘ ausagieren, erproben, ihre Erfolge und Misserfolge vorführen, bestimmte Umgehensweisen mit Dingen als Vorbilder nahe legen, andere verwerfen“64. Doch es geht nicht nur um fiktionale Texte, die Geschichten über Museen erzählen, sondern ebenfalls um die Idee, die Museumsanalogie insofern auf den Textbegriff zu übertragen, als dass die konkrete Präsenz von Prätexten in einem Folgetext abgefragt wird. Geht man mit Julia Kristeva65 davon aus, dass literarische Texte in den allgemeinen Text der Kultur eingebettet sind, und sieht man diese genau wie Gesellschaft und Kultur als autonome und kulturell codierte Zeichenstrukturen, greift prinzipiell jede sprachliche Äußerung, auch wenn vom Autor unbeabsichtigt, auf Vorlagen zurück. Der neu produzierte Text schreibt sich als autonomer Beitrag in die Kultur, in der er zirkuliert, ein.66 Er wird immer

62 Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 21. 63 Jochen Hörisch: „,Aut prodesse et delectare‘ – Literaturgeschichte als Problemgeschichte“. In: Ders.: Kopf oder Zahl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 35-49. 64 Susanne Scholz: Objekte und Erzählungen. Subjektivität und kultureller Dinggebrauch im England des frühen 18. Jahrhunderts. Königstein/Taunus: Helmer 2004, S. 29. 65 Vgl. Julia Kristeva: „Probleme der Textstrukturation“. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. Band II/2. Frankfurt/M.: Athenäum 1971, S. 484-507 und dies.: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. Band III. Frankfurt/M.: Athenäum 1972, S. 345-375. 66 Vgl. dazu Stephen Greenblatt: Was ist Literaturgeschichte? Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; ders: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin: Klaus Wagenbach 1991 sowie Moritz Baßler: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel: A. Francke 22001. In den ausgewählten Texten werden bestimmte kulturelle Verhältnisse, soziale Gefüge, psychologische Strukturen und politische Zusam27

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von einem Netz anderer Texte überlagert und ist zugleich stets Teil anderer Texte. Die Autorin oder der Autor wählt, so Kristeva, also bewusst oder unbewusst aus den Archiven ihres/seines kulturellen Gedächtnisses aus.67 Über den Aspekt der Intertextualität – eine anders perspektivierte Speicherfunktion von Texten – werden besondere Lesarten von Texten möglich, die einerseits einen Museumseffekt durch ihre formalen und inhaltlichen Aspekte aufweisen, zum anderen durch die Tatsache, dass Texte Teil eines kollektiven, kulturellen Gedächtnisses sind. Über die Metapher des Museums gefasst, können Texte als Aufbewahrungs- und Ausstellungsorte vorgängiger Werke gelesen werden, die über Verfahren der Intertextualiät wie Museumsexponate in immer neue Zusammenhänge gesetzt werden. Betrachtet man wie Gérard Genette den Palimpsestcharakter von Texten68, steht vor allem das Verfolgen der Verweise des Hypertexts auf den Hypotext, von dem er durch Transformation oder Nachahmung abgeleitet ist, im Vordergrund. Der Rezipient wird eingeladen, einen intellektuellen Raum zu betreten,69 der sich zwischen Exponat

menhänge erzählt. Für die Analyse wird dabei stets bedacht, dass Literatur sowohl vorgängig als auch nachgängig sein kann. 67 Vgl. dazu etwa Aleida Assmann et al. (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983. Zum Aspekt der Intertextualität als Speicherverfahren zur Anlage eines kulturellen Gedächtnisses und dem Aufbewahren kultureller Erfahrungen siehe ebenfalls Renate Lachmann: „Die aus Literatur gemachte Literatur: Weiter-, Wider-, Um-Schreiben“. In: Dies.: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 65-87. 68 Vgl.: Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. [Das Original erschien 1982 unter dem Titel: Palimpsestes: La litterature au second degré in Paris in den Éditions du Seuil.] Genette, der unter dem Begriff der Transtextualität offenkundige und versteckte Beziehung eines Texts zu anderen Texten diskutiert, versteht unter dem Begriff der Intertextualität die effektive Präsenz eines Texts in einem anderen Text in Form von Übernahmen, Zitaten oder Anspielungen. Diese intertextuellen Bezüge können sowohl als Einzeltextreferenz als auch als Systemreferenz auftauchen, unterschiedlich stark ausgeprägt sein und verschiedene Ebenen des Texts betreffen. Sie können, so Genette, sowohl auf semantischer als auch auf linguistischer Eben stattfinden. 69 Vgl. hierzu etwa Michael Baxandall: „Exhibiting Intention: Some Preconditions of the Visual Display of Culturally Purposeful Objects“. In: Ivan Karp and Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and 28

EINLEITUNG

und Besucher oder zwischen Text (und seinen literarischen und kulturellen Kontexten) und Leser entfaltet.70 Die intertextuellen Versatzstücke ergänzen die Geschichten, welche die Dinge in den Museen erzählen, und wirken dabei perspektiverweiternd. Für das Forschungsprojekt wurden moderne Texte71, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Amerika entstanden sind72, ausgewählt. Sie sind nicht chronologisch in der Reihenfolge ihrer Entstehung geordnet, sondern thematisch nach inhaltlichen Schwerpunkten, die sich aus den Primärtexten auf der Folie des dargestellten Forschungsthemas ableiten, welche sich durch das Verfahren des close reading selbst ergeben. Herausgearbeitet werden einerseits vielfältige Bezüge und Affinitäten zu zeitgenössischen Theorien über das Museum, andererseits aber auch zu historisch relevanten, philosophischen, phänomenologischen und psychoanalytischen Diskursen über die Bedeutung von Museen. Paradigmatisch wird die literarische Reflexion des Museums als gesellschaftlich wichtiger Institution, deren ,Lesbarkeit‘ durch Ideologien verstellt oder durch politische Systeme benutzt wird, in den einzelnen Kapiteln genauso behandelt wie die Entfaltung von Topoi, die mit dem Kernthema Museum zusammenhängen: das Sammeln, der Sammler, die Dinge, die Ordnung einer Sammlung und ihre (Re)Präsentation. Neben diesen Akzentuierungen zeigt der kursorische Gang durch die einzelnen Kapitel Argumentationslinien auf, die sich in der Gesamtschau der Untersuchung zu Diskursparadigmen verdichten. So stehen im Zentrum eines jeden ausgewählten Texts Subjekte, Kuratorenfiguren des Erinnerns, des Sammelns, des Erfindens, welche nach dem Erlebnis eines Verlustes wie der Flucht aus der Heimat im Heimatmuseum von Siegfried Lenz, dem Vergessen von Kindheitserinnerungen in Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit, dem Verlust des Vaters und dem Entzug von Freiheit und Privateigentum in einem kommunistischen Staat wie es der Protagonist und leidenschaftliche Privatsammler in Bruce Chatwins Roman Utz73 erfahren muss, oder dem Fehlen fester morali-

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Politics of Museum Displays. Washington D. C., London: Smithsonian IP 1995, S. 33-41. Vgl. dazu Pelz (2001): Von Album bis Zettelkasten. Es gibt eine Reihe ,sekundärer‘ Primärtexte, die eher entstanden sind. Ihre erzählte Zeit erstreckt sich vom Beginn des 20. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Aufteilung der Untersuchung in drei Teile macht die Schnittstellenfunktion des Kapitels zu Bruce Chatwins Roman Utz deutlich. Hier stehen vor allem die Aspekte eines leidenschaftlichen Sammlerlebens und die Ablehnung des Sammlers gegen das Museum als Ort für eine Sammlung im Vordergrund. 29

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scher und ethischer Werte in einer postmodernen Gesellschaft sowie dem Entzug von Sicherheit über die Unterscheidung zwischen dem, was wahr und falsch ist wie in Lawrence Weschlers Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder und Brian Moores The Great Victorian Collection. Durch die jeweiligen Verlusterfahrungen werden die Dinge in den Museen respektive die Objekte der Sammlungen, von denen und über die die Subjekte erzählen, mit Bedeutung aufgeladen. Sie dienen als Redeanlass, sind Ausgangspunkt für Reflexionen, Orientierungshilfen für die Struktur der Erzählung und stiften Identität. Hierbei begegnen der Leserin und dem Leser ein Spektrum verschiedener Positionierungen und Werthaltungen gegenüber der Institution Museum. Fragestellungen medialer Repräsentationen, Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurse flankieren das Hauptthema ebenso, wie die Diskussionen von Authentizität, Originalität, Fake und Hyperrealität, welche sich ausgehend von dem Gedanken, Museen und Sammlungen als reflektierte Orte kreativer Schöpfungen anzusehen, ergeben.

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,K OPFMUSEEN ‘ î ERZÄHLTE G ESCHICHTE UND G ESCHICHTEN ERZÄHLEN

SIEGFRIED LENZ’ HEIMATMUSEUM î DAS MUSEUM EXISTIERT IM KOPF ODER DER V E R S U C H E I N E R ,E R I N N E R U N G S Z E R S T Ö R U N G ‘ „Zur ,Heimat‘ verklärt, wurden Fluß und Wald und Feld zu einem Netz das Halt versprach. Man mußte wissen, von wo einer herausfiel, wenn er scheiterte und starb.“1

Siegfried Lenz’ Roman Heimatmuseum2 erzählt die Geschichte des Teppichwebers Zygmunt Rogalla. Der Besitzer und Kurator eines Heimatmuseums im ehemaligen ostpreußischen Masuren3 zerstört das von ihm in Egenlund in Schleswig wiederaufgebaute Museum. Seine Tat, die seinen Freunden und seiner Familie absurd erscheint, umspannt das Geschehen des Romans und wird zum Ausgangspunkt des Erzählens. Innerhalb der gesamten Romanhandlung stellt die Zerstörung des realen Museums die erste konsequente Tat des Helden dar, mit der er sich gegen einen selektiven Zugriff und die ideologische Vereinnahmung der Sammlung des Heimatmuseums durch revanchistisch motivierte Ansprüche des Luck-

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Herta Müller: „Heimat oder Der Betrug der Dinge“. In: Gisela Ecker (Hg.): Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich? München: Fink 1997, S. 213219: 213-214. Siegfried Lenz: Heimatmuseum. München: dtv 121999. [1978] Im laufenden Text wird diese Angabe mit der Sigle HM zitiert. Der Titel Heimatmuseum generalisiert die möglichen Erkenntnisse, die der Text über Heimatmuseen im Allgemeinen anbietet, verweist darauf, dass der Roman ein literarisches Heimatmuseum darstellt und liefert einen ersten Hinweis auf die Idee, dass Einsichten über die inhaltliche Aussage des Texts gewonnen werden könnten, wenn man der Lektüre Museumsanalogien zugrunde legt. Vgl. Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. Frankfurt/M.: Fischer 512002. [1955] Dieser Band kann hinsichtlich des Themas als Vorgängertext des Romans Heimatmuseum gesehen werden. In den zwanzig Kurzgeschichten wird das Leben und das Naturell der ehemaligen Bevölkerung Ostpreußens erzählt. Der Erzählstimme fehlt hier die Distanz, die für das Heimatmuseum bestimmend sein wird. Vielmehr herrscht in ihnen ein humoristischer Ton. 33

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nower Heimatverbandes, allen voran sein früherer Freund Conny Karrasch, ausspricht: [W]ährend ich schon die Stellen bestimmte, an denen es zuerst aufflammen sollte, während ich hundert Versuchungen widerstehen mußte, dies oder jenes noch im letzten Augenblick auf die Seite zu schmuggeln, hatte ich nur den Wunsch, die gesammelten Zeugen unserer Vergangenheit in Sicherheit zu bringen, in eine endgültige, unwiderrufliche Sicherheit, aus der sie zwar nie wieder zum Vorschein kommen würden, wo sich aber auch niemand mehr ihrer bemächtigen könnte, um sie für sich selbst sprechen zu lassen. (HM 655)

Einerseits geht es um das konkrete masurische Heimatmuseum, andererseits um das imaginierte, in Sprache übersetzte ,Kopfmuseum‘ des Erzählers. Es ist sein persönliches Heimatmuseum, welches sich an der Materialität der Dinge und der Ordnung des Museums orientiert und etwas Eigenes, Neues dabei entstehen lässt, das geprägt ist von den Erfahrungen und Meinungen des Protagonisten sowie von seiner Erinnerungsfähigkeit. Er orientiert sich an den musealisierten Objekten und erinnert Geschichten, die seinem kulturellen Erfahrungshorizont entspringen und für sein eigenes Leben eine Bedeutung haben.4 Das Heimatmuseum erscheint ein Vierteljahrhundert nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs. Einen Zeitkontext, den der Autor in seine Rahmenhandlung einbaut. Er liefert einen Beitrag innerhalb einer historisch gesehen höchst aktuellen öffentlichen Diskussion, in welcher der Heimatbegriff in den Medien, der Literatur und der Kunst einer kritischen Prüfung unterzogen wurde. „Heimat“, heißt es beispielsweise in einem Interview mit prominenten deutschen Schriftstellern und Politikern, ist ein Schlüsselwort der deutschen Politik seit 1945. Schlesien und Ostpreußen, große Teile Pommerns und Brandenburgs gehören politisch nicht mehr zu Deutschland, sind aber gleichwohl die Heimat von Millionen Bürgern der Bundesrepublik. Die Frage, wie der Begriff Heimat [Hervorhebung im Text, Anm. M. W.] heute zu definieren ist – juristisch, moralisch, politisch –, ist von größter Wichtigkeit nicht nur für diese Mitbürger, sondern für uns alle.5 4

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Wie zum Beispiel „Eugen Lawrenz, der reisende Ofensetzer, der Mann der zweiundneunzig Seengeschichten kannte“. (HM 311) Eine Figur, die Heimatgeschichten erzählt, deren Ausgangspunkt jeweils einer der vielen masurischen Seen ist. In: Alexander Mitscherlich und Gert Kalow (Hg.): Hauptworte – Hauptsachen. Zwei Gespräche: Heimat Nation. München: Piper 1971. Unter der Fragestellung „Was ist Heimat?“ wurde unter der Leitung Alexander Mitscherlichs mit Norbert Blüm, Heinrich Böll, Günter Grass und Eugen Lem34

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Die Aktualität des Themas dauert bis heute an, ja es gewinnt sogar unter der Einflussnahme der zunehmenden Globalisierung an Relevanz wie gegenwärtige Publikationen, Radiofeatures und Dokumentarfilme der jüngsten Zeit belegen.6

Verbale ,Tagesgaben‘ Zygmunt Rogallas7 Plan, eine „vollkommene“ Zerstörung (HM 7) des zweiten Heimatmuseums durch einen selbst gelegten Brand herbeizuführen, ist aufgegangen.8 Die Hauptfigur, die es kurz vor ihrer Brandlegung

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berg eine Diskussion im Hessischen Rundfunk geführt und anschließend publiziert. In diesem Interview sagt Günter Grass: „Mit diesem Wort Heimat ist soviel Mißbrauch getrieben worden. Und zur Zeit, in unserer politischen Situation, ist es geradezu ein Markenartikel der Demagogen. […] Es wäre auf intellektueller Seite ein verhängnisvoller Fehler, wenn wir aus lauter Abscheu vor diesem demagogischen Mißbrauch nun sagten, mit diesem Begriff wollen wir nichts mehr zu tun haben.Wir haben ihn neu zu definieren.“ In: Mitscherlin (1971): Hauptworte ಥ Hauptsachen, S. 24-25. Vgl. hierzu auch Bernhard Schlink, der sich retrospektiv zu dieser Zeit und den Diskussionen um den Begriff ,Heimat‘ äußert. Er sagt, dass damals das intellektuelle Gefühl der Ortlosigkeit geherrscht habe und das Verlangen nach Heimat als Revanchismus bezeichnet worden sei. In den 1970er Jahren habe das deutsche Lebensgefühl allmählich wieder einen Ortsbezug zugelassen, der allerdings regional orientiert war und die nationalen Grenzen bewusst vernachlässigt habe. Vgl. Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 14-16. GEO. Das neue Bild der Erde 10, 2005 titelt mit dem Thema: „Heimat. Warum der Mensch sie wieder braucht“. Oder der Filmemacher Damien Fritsch, der in seinem Dokumentarfilm Fest verwurzelt das Leben fünf über achtzigjähriger Menschen porträtiert, die ihren Heimatort ihr Leben lang nicht verließen. Biografische Bezüge zwischen der Figur Zygmunt Rogalla und dem Autor Siegfried Lenz bleiben in der hier vorliegenden Analyse unberücksichtigt. Die fiktiven Ortsnamen Lucknow [„in der Nähe von Kaunas und Königsberg“ (HM 220)] und Egenlund in Schleswig, werden jedoch als geografische Hinweise berücksichtigt. Die Faktizität in Bezug auf Schilderungen masurischen Brauchtums, historischer Ereignisse und Figuren wird nicht überprüft. Die Zerstörung einer Sammlung verbindet dieses Kapitel gedanklich mit dem Kapitel, in dem es um die Interpretation des Romans Utz von Bruce Chatwin geht. Auch hier trennt sich der Sammler Baron Utz von seiner Sammlung, allerdings kann nicht ohne jeden Zweifel geklärt werden, ob 35

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noch für möglich hält, „mit dem Regionalmuseum in Lucknow Verbindung aufzunehmen, um in glücklichem Austausch gemeinsam geschichtlichen Untergrund zu besichtigen, nicht klagend, sondern klärend“ (HM 642), empfindet nach ihrer Tat keine Trauer über die Zerstörung des Heimatmuseums und der gesammelten Objekte: Trauer meinst du? Ob ich nicht Trauer empfinde über all das, was nun endgültig verloren ging beim Brand? Ich gebe zu, Martin: wenn ich heute daran denke, gebe ich zu, daß es vielleicht ein zu gewaltsames Aufräumen war, eine zu weit gehende Amputation; aber in dem Augenblick, als ich das Museum zerstörte, hatte ich keine Wahl. Welche Auslese hätte ich denn treffen sollen, bevor alles in Flammen aufging. Mit welcher Begründung hätte ich einige Dinge auf die Seite schaffen sollen? Alles oder nichts – etwas anderes gab es nicht für mich, und vielleicht wirst du es einsehen, wenn du genug erfahren hast, wenn wir weit genug gekommen sind. (HM 339)

Die Leser treffen Siegfried Lenz’ Helden durch die Flammen verwundet in seinem Krankenbett in einem Krankenhaus in Schleswig.9 An diesem Ort will er sich besinnen und „reinen Tisch“ (HM 13) mit der Vergangenheit machen. Seine vorübergehende Erblindung unterstreicht den nach innen gewendeten Blick, der sich ganz seiner eigenen Lebensgeschichte und der ,verlorenen Heimat‘ zuwendet. Dieser Krankenhausaufenthalt ist als Übergangssituation zu verstehen. Hier will der Erzähler, durch eine um Distanz und Objektivität bemühte Schilderung der Ereignisse, dem Unverständnis und der Sprachlosigkeit seiner Umwelt begegnen.10

die Sammlung wirklich zerstört oder nur versteckt wurde, und ob die Zerstörung der Sammler selbst oder seine Ehefrau Marta vorgenommen hat. 9 Vgl. hierzu: Louis F. Helbig: „Die letzte Freiheit des Zygmunt Rogalla: Zu Siegfried Lenz’ Roman Heimatmuseum“. In: Crisis and Commitment: Studies in German and Russian Literature in Honour of J. W. Dyck. Waterloo, Ontario: Waterloo UP 1983, S. 87-99. In dieser literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lenz’ Heimatmuseum wird die Meinung vertreten, dass Zygmunt Rogalla verwundet ist, weil er letztendlich doch das Museum retten wollte. Die Verbrennungen des Protagonisten sind m. E. jedoch eher als Folge des Versuchs zu lesen, das Arbeitsbuch Sonja Turks, seiner Meisterin, von der er die Kunst des masurischen Teppichwebens erlernt hat, aus den Flammen des brennenden Wohnhauses zu retten, dessen Zerstörung zu keinem Zeitpunkt vorgesehen war. (Vgl. HM 11-13) 10 Wie zum Beispiel seine Tochter Henrike oder seine Frau Carola, die den Kontakt zu ihm vermeiden. (Vgl. HM 54, 92 und 222) Oder die Krankenschwester, die der Meinung ist, er habe den Museumsbesuchern „die Mög36

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In fünfzehn aufeinanderfolgenden Kapiteln wird jeweils ein Besuch des täglich wiederkehrenden Zuhörers Martin Witt an Zygmunt Rogallas Krankenbett geschildert. Dessen verbale ,Tagesgaben‘ – immer gleich strukturierte Episoden mit Inszenierungscharakter – orientieren sich an den Museumsobjekten und den damit verbundenen Geschichten sowie an verschiedenen Ritualen und Traditionen masurischen Brauchtums.11 Die erzählte Zeit erstreckt sich etwa über einen Zeitraum von 70 Jahren. Von seiner Kindheit während des Ersten Weltkriegs – der Vater stirbt Ende des Krieges, als er ungefähr zehn Jahre alt ist (vgl. HM 16) – bis in die 1970er Jahre, in denen der Protagonist gemeinsam mit seiner zweiten Frau, die er nach seiner Flucht kennengelernt hat, und seiner Tochter Henrike in Schleswig lebt.12 Retrospektiv entfaltet Rogalla vor seinem täglichen Besucher, seinem „Begleiter im Dickicht der Vergangenheit“ (HM 468), Einzelheiten seines früheren Lebens in Lucknow in Masuren, seiner Flucht aus Ostpreußen und seines Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Zeitpunkt der Brandstiftung in den 1970er Jahren in Schleswig. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen dabei immer die Exponate beider Heimatmuseen: des ersten, originären Museums in Masuren und des zweiten, aus den geretteten Resten konstituierten in Egenlund in Schleswig. Es ist eine künstliche Erzählsituation, in welcher der Erzähler seinem Zuhörer Martin Witt, welcher innerhalb der Erzählstruktur des Romans vor allem eine rhetorische Funktion übernimmt, zu einem Besucher seines erzählten Heimatmuseums werden lässt. Martin Witt, der ,Heimat‘ für einen „dickaufgetragen[en], selbstzufrieden[en] Schwank“ (HM 120) hält13, und damit die Ansicht von Zygmunt Rogal-

lichkeit zu besonderer Heimkehr […] in ihrer Phantasie“ (HM 228) genommen. 11 Wie zum Beispiel die Hochzeitsvorbereitungen und die Hochzeitsfeier von Zygmunt Rogalla und Edith Karrasch, die streng den traditionellen masurischen Bräuchen folgt. (Vgl. HM 357-366) 12 Der Roman arbeitet mit externen Analepsen, um geschichtlich relevante Ereignisse in die Erzählung einzuflechten. Die Kohärenz, die der Text durch die Aneinanderreihung der chronologisch geordneten fünfzehn Episoden erzeugt, in denen die Zeitsprünge nivelliert werden, bleibt in allen Forschungsbeiträgen unberücksichtigt. 13 Seine Äußerungen finden sich nur in den Formulierungen des Protagonisten wieder: „Was meinen Sie? Es ging zuviel verloren? Unersetzbares?“ (HM 13) oder „Lauter, Sie müssen ein wenig lauter sprechen. Da haben Sie recht, einmal muß man sich festlegen; […].“ (HM 17) Weitere Beispiele: „Sagten Sie etwas? Das ist richtig, eine Bilderbuch-Krise [...].“ (HM 73); „Voraussage? Welche Voraussage wollen Sie riskieren? Ich bin gespannt. 37

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las Sohn Bernhard teilt, der seinem Vater affirmativ zur Zerstörung des „Andachtsschuppens“ (HM 143) gratuliert und die Tat als einen „zufälligen Akt der Vernunft“ (HM 143) bezeichnet hat, hält für die heimatkritische Leserin bzw. den heimatkritischen Leser ein Identifikationsangebot bereit. Bestimmt werden die Erzählungen des Verwundeten also von den konträren Haltungen der beiden Gesprächspartner gegenüber dem Begriff ,Heimat‘ und dem Umgang mit ihm: Also Weltkunde statt Heimatkunde – Weltkunde, meinen Sie [Martin Witt, Anm. M. W.], und uns allen wäre geholfen. Ich weiß nicht, wieviel Ihnen Erfahrung bedeutet, aber ich hab’ so manchen erlebt, der seine Hoffnungen auf Weltkunde setzte, und der dann wie von selbst zur Heimatkunde zurückfand. Vielleicht müssen wir darauf gefaßt sein, daß Weltkunde immer nur Heimatkunde ist, sein kann. (HM 191)

Im Rahmen dieser Gespräche baut sich eine Spannung auf, die zwischen Verurteilen und Verstehen changiert: Auf der einen Seite steht Martin Witt, der den Begriff ,Heimat‘ für eine „gewisse Art von hochmütiger Beschränktheit“, einen Ursprung für „Fremdenhaß“ und „den bornierten Dünkel der Seßhaftigkeit“ (HM 120) verantwortlich macht. Der ,Heimat‘ als den Ort bezeichnet, an dem „sich der Blick von selbst näßt, wo das Gemüt zu brüten beginnt, wo Sprache durch ungenaues Gefühl ersetzt werden darf“. (HM 120) Dagegen Zygmunt Rogalla, für den ,Heimat‘ „nicht allein der Ort [ist], an dem die Toten liegen“, sondern der ,Heimat‘ als den „Winkel vielfältiger Geborgenheit“ oder den „Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl, ja selbst im Schweigen“ (HM 120) bezeichnet.

Inszenierung und Sprache der Erinnerung Wie in einem Film errichtet Zygmunt Rogalla die Kulisse Masurens in der Vorstellung seines Zuhörers.14 Er ist Regisseur und Drehbuchautor

[...] Tadellos mein Lieber, ich merke: Sie hören sich in uns ein. Denn so war es tatsächlich.“ (HM 221) 14 Zygmunt Rogalla erzählt die vergangenen Geschehnisse als würden sie sich direkt an Ort und Stelle vor ihm und Martin Witt ereignen: „Aber wir waren bereits unterwegs zur Sammelstelle“ (HM 61); „Doch Sie müssen einen Blick auf die Aufführung werfen, [...]“ (HM 68); „Nun müssen Sie sozusagen zu Onkel Adam hinüberblicken, [...]“ (HM 165); „Und jetzt können Sie sich einfach hinter uns stellen und zusehen [...]“ (HM 230); 38

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zugleich – er wählt die Ereignisse und die Perspektiven aus und führt die Blickregie: „Ja […] richtig, ich hatte mir für diesen Besuch etwas zurechtgelegt – ah, ich weiß schon: während ich für mich die Ereignisse sortierte und prüfte, schien es mir unerläßlich, dir von dem Versuch zu erzählen [...].“ (HM 393) Es ist eine subjektive Ordnung, die durch die Selektion der Begebenheiten entsteht, die es seiner Meinung nach wert sind, dass sie seinem Gedächtnisvorrat enthoben werden. Der Erzähler formt die Gestalt der Erinnerung und des Texts, in dem die ,Heimat‘ und die Geschichte(n) besser aufgehoben zu sein scheinen als in den beiden realen Museen, die als Vorgänger des erzählten Heimatmuseums angesehen werden können. Dabei hält sich sein umfassender Bericht streng an die Chronologie der Geschehnisse15 und nimmt sich die Zeit, verschiedene Positionen darzulegen: „Nicht zu ungeduldig, lieber Martin Witt, lassen wir den Ereignissen ihr Nacheinander.“ (HM 106-107) Er lässt die geschilderten Ereignisse zwar unkommentiert, aber sukzessive wird deutlich, dass die Erinnerung einerseits Wegbereiter des Zerstörungsentschlusses und andererseits ihre Folgeerscheinung ist. Für Zygmunt Rogalla existiert die ,Heimat‘ – existieren die Heimatmuseen – nur noch in seiner Erinnerung. Durch das Heimatgefühl beeinflusst, erfährt sie ihren Ausdruck auch in der Sprache. Seine Schilderungen sind durchsetzt von kolloquialen, mundartlichen Ausdrücken,16 von „Und nun lassen wir uns da mal in ortsüblicher Andacht stehen [...]“ (HM 374); „[...] können wir uns wieder unter die briselnden Eichen stellen [...]“ (HM 375); „Gut, und jetzt versetz dich in den beengten Redaktionsraum [...]“ (HM 380); „Doch ich muß dich weiter mitnehmen, nordwärts über das gefrorene Haff [...]“ (HM 569). 15 So orientiert er sich beispielsweise an der „napoleonischen Angriffstrompete“ (HM 61) und einem ausgestopften Wolf mit „gerissener Gipszunge“ (HM 63), um eine Geschichte zu erzählen, die sich während einer Wolfsjagd im masurischen Winter ereignet hat. „Ich möchte nicht zu viel sagen, lieber Martin Witt, aber wer nicht diese Stille erlebt hat, in Masuren, im Winter, der kann gar nicht mitreden, wenn über Stille gesprochen wird; denn es war ja nicht nur so, dass die üblichen Geräusche fehlten, ein auch nur bescheidenes Summen, Gluckern oder Rinnen; vielmehr fühlte man sich in dieser Stille wie am Rand der Welt, vergessen und aufgegeben, und es kam einem so vor, als ginge die Zeit hier über alles hinweg, über alle Anstrengung, über jede Auflehnung. Aber lassen wir das; wir dürfen ja nicht den Schlitten verlassen und nicht unseren Standplatz im Kadik, wir müssen den Waldsaum beobachten, ob da nicht ein grauer, gestreckter Körper vorbeifliegt [...].“ (HM 58-59) 16 Eine Auswahl der Wörter aus dem Masurischen, eine westslawische Sprache, die im damals südlichen Ostpreußen, in Masuren, gesprochen wurde, und welche bereits ab dem 19. Jahrhundert immer mehr zugunsten der 39

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masurischen Wörtern, die Nähe zum Erzählten herstellen, indem sie Einblick in die Sprache und Mentalität der Menschen geben, die in Masuren gelebt haben. Der Erzähler befindet sich in einer Situation, die sich mit den Worten Günter Grass’ ausdrücken lässt: „Die Art und Weise zu sprechen, Dinge zu benennen, ruft bei mir Heimat und Heimaterinnerung wach. Und gleichzeitig natürlich auch mit dem Verlust dieser Sprache und dieses Dialekts den Verlust von Heimat.“17 Es ist keine fremde, eigenständige masurische Sprache, so informiert der Erzähler Martin Witt, sondern das Produkt einer „weichen, umgangsgefärbten deutschen Sprache“,18 die „verschlossene, beziehungsreiche Wörter“ (HM 222) hervorgebracht hat und „Lehnwörter aus dem Polnischen, heidnische und germanische Ausdrücke, die sich halten konnten, sogar verballhornte französische Begriffe – die Spracheinlage hugenottischer Glaubensflüchtlinge“ (HM 222) miteinschließt.19 Diese Wörter vermögen, genau wie die Semiophoren eines Museums, etwas weit in der Zeit zurück und im deutschen Sprache aufgegeben wurde, soll verdeutlichen, dass der Roman auch als Teil eines kollektiven Gedächtnisses im Hinblick auf die Tradierung der masurischen Sprache gelesen werden kann. Auf der Handlungsebene des Romans ist es Zygmunt Rogallas Tochter Henrike, die ein masurisches Wörterbuch mit dem Ziel anlegt, das kulturelle Erbe Masurens zu bewahren. „Lachodder“ (HM 35) bezeichnet eine „große schlanke Person“; „Glumse“ (HM 26) heißt „dicke Milch, Quark“; „glupsch behandelten“ (HM 32) meint „unfreundlich behandelten“; „plierende“ (HM 37) ist ein Ausdruck für „weinende“; „Pomuchelskopp“ (HM 46) bezeichnet einen „Dorschkopf“; „Fisematentchens“ (HM 56) steht für „Herumnörgelei“ oder „Umständlichkeiten“; „zerplieserte“ (HM 66) meint „zerrissene“ oder „durcheinander gebrachte“; „wurrachen“ (HM 74) ist das Wort für „hart, schwer arbeiten“; „Huckfleisch“ (HM 88) bezeichnet das „Sitzfleisch“; „prachern“ (HM 117) steht für „betteln“; „Posauk“ (HM 159) heißt „Tölpel“; „Wrucke“ (HM 163) meint „Steckrübe“; „Schlubberche“ (HM 202) bezeichnet einen „Trinker“; „Klotzkorken“ (HM 330) sind „Holzschuhe“; „fijucheln“ (HM 359) ist ein Wort für „übermütig sein“ und „Laukse“ (HM 362) bezeichnet einen „Deck- bzw. Schiffsarbeiter“. Alle Übersetzungen sind folgender Internetseite entnommen worden: http://www.jessner.homepage.t-online.de/dzgwort.htm. (Stand: September 2008) 17 Mitscherlich (1971): Hauptworte – Hauptsachen, S. 14. 18 Diesen Ausdruck verwendet Günter Grass im Gespräch mit Alexander Mitscherlich und Gert Kalow. Vgl. Mitscherlich (1971): Hauptworte – Hauptsachen, S. 22. 19 Und das Zitat geht weiter: „[…] aber, wie gesagt, ein pures Masurisch gab es nicht . . . Henrike – wenn es zutrifft, daß Henrike versucht ihre Wörtersammlung wiederherzustellen: sie wird es Ihnen bestätigen, daß wir eine selbständige Sprache nicht besaßen.“ (HM 222) 40

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Raum entfernt Liegendes in die Gegenwart zu holen. Ihre Verschriftlichung bildet ein neues Heimatmuseum, welches in seiner Rezeptionswirkung dazu beitragen soll, das Wort Heimat von seinen „Belastungen zu befreien“, um ihm „seine Unbescholtenheit zurückzugeben“. (HM 120) Der Leser lernt den Erzähler Rogalla als eine Person mit einer außergewöhnlichen Erinnerungsfähigkeit kennen, welche vor allem durch das akribische Nachzeichnen von Einzelheiten auffällt. Ihre Genauigkeit und narrative Dichte überschreitet die erwartete Wiedergabe einer reinen Erinnerungsleistung. Oft wird die erzähllogische Form der narrativen Instanz durchbrochen. Dialoge in direkter Rede, die Innensicht auf Gefühle und Gedanken anderer Figuren sowie die Kenntnis über Ereignisse, an denen er nicht teilgenommen hat, untermauern diesen Gedanken. Erzählperspektivische Unsicherheiten, Leerstellen, Unstimmigkeiten, fehlende Zusammenhänge – mögliche Anzeichen von Gedächtnislücken aufseiten des Erzählers – werden nicht geschildert. Verzögerungen während des Erzählens bleiben unerwähnt, Verwechslungen oder das Aufstellen falscher Bezüge, zum Beispiel in der Zuordnung von Meinungsäußerungen oder in der Reihenfolge von Abläufen, gibt es nicht. Zygmunt Rogalla ist ein selbstsicherer Erzähler, ein erfahrener Museumsführer, der sich die Zeit nimmt, Schlüsselszenen sowohl subjektiven als auch kollektiven Erlebens – die für die Entwicklung seiner Persönlichkeit respektive den weiteren Verlauf seines Lebens von Bedeutung waren – zu schildern. Nicht alle Episoden, von denen er berichtet, sind durch seine Erinnerung abgesichert. Vielmehr werden sie durch seine intensive Vorstellungskraft ausgebaut. Sein erzähltes Museum macht die Erlebnisse greifbar, Landschaft und Geschichte werden sichtbar. Als Martin Witt ihm beispielsweise die Frage stellt, ob eine Rückkehr nach Lucknow jemals vorstellbar gewesen wäre respektive immer noch möglich sei, gibt er einerseits rückblickend die Zweifel an einer möglichen Rückkehr durch die Äußerungen des pensionierten Chefs der Lucknower Kriminalpolizei, Joseph Intelmann, wieder. Jener habe die ,Heimat‘ nicht für „etwas Unabänderliches […], etwas Gegebenes und Verbrieftes“ gehalten und den „Belegen und Ausweisen“, sollten sie gerettet werden können, „nur einen sentimentalen, allenfalls kulturhistorischen Wert“ (HM 556) zuerkannt. Dagegen setzt er die Meinung Przytullas, eines engagierten Nationalsozialisten, der die Realität anders gedeutet habe, und „von baldiger Rückkehr und selbstverständlicher Inbesitznahme“ überzeugt gewesen wäre, der von „Heimatrecht“ gesprochen hätte, und davon, dass niemand sich an diesem vergreifen dürfe, weil es „Ausdruck eines elementaren Bedürfnisses“ (HM 556) sei. Przytulla habe Hinweise, so weiß Rogalla zu berichten, „auf geschichtliche Bewegungen“ nicht akzeptiert, weil sie „Heimat zu einem lediglich geographischen Wert“ herunterspielten, und er habe

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in den Dingen, die das Heimatmuseum in Lucknow beherbergt hatte, einen „unscheinbaren aber unwiderlegbaren Beweis eines langlebigen Anspruchs“, eines „bescheidene[n] Faustpfands“ (HM 556-557) gesehen. Durch die Wiedergabe dieser Meinung wird ein erster Hinweis auf die Entwicklung des Unverständnisses Zygmunt Rogallas gegenüber seinem Freund Conny Karrasch gegeben. Denn die Gedanken, die Karrasch später in Egenlund über die Aufgabe des Heimatmuseums und die Ansprüche der Vertriebenen gegenüber dem ehemaligen ostpreußischen Gebiet äußert, gleichen denen des Nationalsozialisten Przytulla. Seine eigene Meinung in Bezug auf Martin Witts Frage offenbart er durch die Wiedergabe eines Gesprächs mit Simon Gayko, der niemals in Zweifel gezogen habe, dass eine Rückkehr nach Lucknow eine richtige Entscheidung wäre, die irgendwann in der Zukunft in die Tat umgesetzt werden müsste. Ein Vorhaben, welches der Erzähler jedoch für ausgeschlossen hält: Nein […] wir werden nicht mehr erwartet dort in Lucknow; die anderen, die uns hätten erwarten können – es gibt sie nicht mehr. Kein Laut, der dich erinnert, kein Gesicht, das aufglänzt bei deinem Anblick, keine Hand, die unentrinnbare Beziehung erneuert, weil die anderen fort sind, verschollen und versunken, darum wird es den Augenblick nicht geben, auf den du [Simon Gayko, Anm. M. W.] hoffst. (HM 650)

Den Versuch, durch die Brandstiftung auch seine eigenen Erinnerungen zu zerstören, muss Zygmunt Rogalla für gescheitert erklären, da ihm bewusst wird, dass nichts zerstört werden kann, was in den „festen Besitzstand der Erinnerung“ (HM 637) aufgenommen wurde. Die Heimatmuseen und ihre Umgestaltungen sowie die Museumsobjekte sind im Gedächtnis des Protagonisten gespeichert. Was zunächst als eine Rechtfertigung (vgl. HM 246) für die Zerstörung des Heimatmuseums in Egenlund gedacht ist, wird zu einem Erinnerungsprozess, der ihm eine imaginative Rückkehr nach Lucknow ermöglicht, und dabei die Welt Masurens im Kopf der Leser und Leserinnen eröffnet. Das Heimatmuseum ist das erinnernde Protokoll eines Genesenden, für den das Erinnern ein schmerzhafter Vorgang ist, der ihn ein zweites Mal „heimatlos“ (HM 537) macht: „[E]s gibt überhaupt für keinen eine Rückkehr zu dem, was einmal war, selbst wenn wir, durch Wunder und ein genaues Gedächtnis geleitet, die zerrissenen Fäden wieder aufnehmen und sie nur kurz zusammenknoten.“ (HM 539) In die Vergangenheit, so ist sich der Erzähler sicher, kann man rückwirkend nicht mehr eingreifen, denn „alles Vergangene dauert, weil es nicht heilbar ist“, und „niemand kann das Insekt im Bernstein zum Leben erwecken“. (HM 609) Aber er stellt einen Kurzschluss zwischen Traum und Erinnerung her und betont damit das Irreale, nicht Greifbare von Erinnerungen: 42

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[D]iese ungewollte Erregung, die von dem Vorrat bewahrter Augenblicke und Bilder ausgeht; […] als ob du aufwachst und einsehen mußt, daß nichts zuende gegangen ist in der Zwischenzeit, ja. Du kannst auch sagen: der Traum hält an.“ (HM 397)

Das Narrativieren der Erinnerungen bietet dem Erzähler die Möglichkeit zur Ausgestaltung. Er kann das Leben in der Vergangenheit ausführlicher und dichter beschreiben, seinen Gefühlen, Ängsten und Phantasien Ausdruck verleihen. Um seinem Gesprächspartner seinen Umgang mit den eigenen Erinnerungen zu erklären, bemüht Zygmunt Rogalla verschiedene Metaphern wie zum Beispiel die der „dünenden unberechenbaren Planktonfelder im Sargasso-Meer“. (HM 407) Erinnerungen, die von den unwägbaren Meereswellen an der Oberfläche getragen werden und im nächsten Moment durch den Sog des bewegten Wassers und der Meeresströmung in die Tiefe des Vergessens gezogen werden können. Er bescheinigt der Erinnerung die Fähigkeit zur Metamorphose und akzeptiert, dass es immer wieder unterschiedliche Entwürfe von Vergangenheit gibt und erklärt dadurch die zunächst widersprüchlich erscheinende Genauigkeit seiner Erinnerungen: Ah, und diese erregende Entdeckung, daß dem Gedächtnis zwar eine Rückkehr in die verlorene Stadt gelang, daß die Stadt selbst sich jedoch bei ihrer Wiederbelebung unweigerlich veränderte: ich wurde zum ersten Mal gewahr, daß in jeder angebotenen Vergangenheit ein Teil Erfindung steckt. (HM 596-597) [Hervorhebung M. W.]

Im Bereich des Fiktionalen lassen sich Erinnerungen verdichten und poetische Bilder für den Prozess des Erinnerns finden: Mir fällt dabei das zugeschneite Fenster ein, das von innen beschlagene, von außen zugestiemte Fenster, das eine Hand mit schnell kreisenden Bewegungen freiwischt, immer hastiger, rabiater, so daß du die allmähliche Entstehung eines Gesichts beobachten kannst hinter dem Fenster vor dem großflockigen Stiem. (HM 407-408)

Im Bild des verschneiten Fensters auf der einen und dem des zugefrorenen auf der anderen Seite, markiert die Glasscheibe die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, während die ungeduldigen Bewegungen der Hand selbstreflexiv den aktiven Zugriff des Erzählers auf die Erinnerungen in der Gegenwart ausdrücken. Ihm ist bewusst, dass man primär über „Stimmungen“ (HM 340) erinnert, welche ihm oft unwillkürliche Erinnerungen bescheren, denen er aber rational entgegenzutreten versucht: „Außerdem drängt sich jetzt eine Erinnerung auf, der ich nicht ge-

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rade mühelos gewachsen bin – du weißt: für gewisse Erinnerungen muß man disponiert sein.“ (HM 372) Der Protagonist hat den Ort verloren, mit dem er qua Geburt20 verbunden war und an dem er einer Gemeinschaft aus Familie und Freunden angehört hat. Um eine Veränderung seines Bildes von der ,verlorenen Heimat‘ zu verhindern, durchtrennt er die Verbindungen zu den Menschen, mit denen er nach seiner Flucht in Schleswig drei Jahrzehnte seines Lebens verbracht und sich ein neues Leben aufgebaut hat. Der nach außen verlagerte Akt dieser inneren Trennung ist die Zerstörung des Heimatmuseums, welches das Leben in Egenlund mitbestimmte und die Erinnerung an den verlassenen Ort im neuen Leben immer aufrechterhielt. Die Entschiedenheit, mit der er seine Handlung vollzogen hat, wird durch seine Reaktion auf Simon Gaykos „Abschiedsgeschenk“, einem Beutel voll „Asche aus der erkalteten Brandstelle“ (HM 92), deutlich. Er bittet Martin Witt, die Gabe seines Freundes – des Zimmermanns und Stellmachers, der das Museum in Egenlund nach seinen Vorgaben gebaut hat – wegzuwerfen, denn „der Knoten ist gelöst, die Zeit der Gemeinsamkeit ist vorüber“. (HM 93) Sich der Trennung zu seinem sozialen und familiären Umfeld bewusst (vgl. HM 207), stellt sich Zygmunt Rogalla seiner neuen Lebenssituation: „Alles was ich weiß: daß mir der dritte Anfang bevorsteht […].“ (HM 310) Er sieht sich mit einem neuen Lebensabschnitt konfrontiert, belastet durch die erlittenen Verletzungen und Verluste und vor allem durch die unabwendbare Erinnerung: „Diese kurze gleichmütige Zerstörung all dessen, was aus unendlicher Mühsal hervorgegangen war. Diese Verurteilung zu immer neuen Anfängen, nur damit der Traum von Dauer sich erhält.“ (HM 564)

,Heimat‘-Repräsentationen Fügt man den äquivoken Begriff ,Heimat‘ mit dem des Museums zusammen, wird das Kompositum zum Schlüsselbegriff und interpretatorischen Leitfaden des Romans. Denn das Wort Heimatmuseum schließt den Gegenstand, der im Museum gesammelt und ausgestellt werden soll, 20 Dieses Gefühl der Verbundenheit mit der Heimat durch die Geburt formuliert Vilém Flusser pointiert: „Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden.“ In: Vilém Flusser: „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit. (Heimat und Geheimnis – Wohnung und Gewohnheit)“. In: Ders.: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Düsseldorf: Bollmann 1992, S. 247-264: 252. 44

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zugleich mit ein: die ,Heimat‘. Die sich daraus ergebende Frage ist, welche Zuschreibungen des sammelnden und ausstellenden Subjekts ein Ding zu einem Repräsentanten von ,Heimat‘ in Zygmunt Rogallas Heimatmuseum werden lassen? Oder anders formuliert: Wie viel ,Heimat‘ braucht ein Ding, um einen Platz in seinem Heimatmuseum beanspruchen zu dürfen?21 Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit unterschiedlichen Positionen der Heimatdiskurse beschäftigen, um einerseits Selektionskriterien im Sinne der oben gestellten Fragen zu erhalten und um andererseits die konträren Auffassungen von ,Heimat‘ nachvollziehen zu können, die in Lenz’ Roman zu lesen gegeben werden. Vor allem die Zerstörung des Museums in Egenlund findet ihren direkten Anlass in der Auseinandersetzung über das Verständnis von ,Heimat‘ zwischen den beiden Helden des Romans: dem früheren Kommunisten und späteren Nationalisten Conny Karrasch und seinem engsten Vertrauten und Freund Zygmunt Rogalla.

,Heimat‘-Annäherungen Der Begriffsgeschichte von ,Heimat‘ kann man sich von vielen Seiten aus nähern: etymologisch22, juristisch, historisch, gesellschaftspolitisch.23 21 Vgl. Monika Nienaber: „Wo die ,Heimat‘ ein Zuhause hat“. In: Gisela Ecker und Susanne Scholz (Hg.): UmOrdnungen der Dinge. Königstein/Taunus: Helmer 1999, S. 62-75: 68. 22 Zur etymologischen Herleitung des Begriffs sei an dieser Stelle kurz angemerkt, dass Heimat ursprünglich ein Wort war, welches Besitzverhältnisse, Abhängigkeiten und Privilegien bezeichnete. Im Herkunftswörterbuch findet sich folgende Erklärung: „Heimat: Das auf das dt. Sprachgebiet beschränkte Wort (mhd. heimuot[e], ahd. heimuoti, heimǀti, mnd. hƝmǀde) ist mit dem Suffix -ǀti, mit dem z. B. auch ,Armut‘ und ,Einöde‘ gebildet sind, von dem unter Heim dargestellten Substantiv abgeleitet.“ Und zu Heim heißt es dort: „Heim: Das gemeingerm. Wort mhd., ahd. heim „Haus, Wohnort, Heimat“, got. haims ,Dorf‘, engl. home ,Haus, Wohnung, Aufenthaltsort, Heimat‘, sched. hem ,Haus, Wohnung, Heimat‘, mit den in anderen idg. Sprachen z. B. griech. kǀ´me ,Dorf‘ und die baltoslaw. Sippe von russ. sem’ja ,Familie‘ verwandt sind, ist eine Substantivbildung zu der idg. Wurzel kei- ,liegen‘ und bedeutet demnach ursprünglich ,Ort, wo man sich niederlässt, Lager‘.“ In: Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Band 7. Mannheim (u. a.): Dudenverlag 32001, S. 330. Vgl. dazu Herrmann Bausinger: „Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte“. In: Jochen Keller (Hg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Weingarten: Drumlin 1986, S. 89-115: 91-94. 45

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Dabei kann man die Position eines Exilalten oder Migranten einnehmen, oder aber auch die Meinungen derer abrufen, die ihren Heimatort nie verlassen haben und von innen heraus einen Blick auf ihre ,Heimat‘ werfen. ,Heimat‘, so lässt sich nach einem umfassenden Blick in die Forschungsliteratur feststellen, ist ein Abstraktum.24 Ein Ausdruck mit einer diffusen, assoziativen ,Aura‘, der sich nicht in andere Sprachen übersetzen lässt.25 Ein Wort von „trügerischer Selbstverständlichkeit“26, welches oft Vgl. dazu ebenfalls: Grimms Wörterbuch. 4. Band. 2. Abteilung. Leipzig 1877, Spalte 864-866 und Herrmann Fischer: Schwäbisches Wörterbuch. 3. Band. Tübingen 1911, Spalte 1364. 23 Zur tiefer gehenden Lektüre über die Begriffs- und Problemgeschichte von ,Heimat‘ siehe folgende Publikationen, in denen die Entwicklungen des Umgangs mit dem Begriff Heimat klar und aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachgezeichnet werden: Bausinger (1986): Heimat in einer offenen Gesellschaft; Rudolph Bauer: „Über das falsche Versprechen von Heimat. Zur Bedeutungsveränderung eines Wortes“. In: Jochen Keller (Hg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Weingarten: Drumlin 1986, S. 116-131; Rüdiger Görner (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert. München: iudicum 1992; Joachim Riedl (Hg.): Heimat. Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Wien: Brandstätter 1995; Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley, Cal. (u. a): University of California Press 1990. 24 Walter Jens bringt es auf den Punkt: „[W]ie immer jemand zu seiner einen oder den vielen, den gewesenen oder den kommenden Heimaten, den irdischen oder den himmlischen, stehen mag: Er müßte bedenken, daß es kaum einen Begriff gibt, der verfügbarer zu sein scheint und in Wahrheit, um in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen begreifbar zu werden, größerer Gedankenanstrengungen bedarf als das Substantiv Heimat“. In: Walter Jens: „Nachdenken über Heimat. Fremde und Zuhause im Spiegel deutscher Poesie“. In: Frankfurter Hefte 7, 1985, S. 586-593: 593. Und Rudolph Bauer sagt: „Keines der Surrogate, die ideologisch mit der ursprünglichen Bedeutung von Heimat aufgeladen waren, erfüllte aber je das im historischen Sinn von Heimat [Hervorhebung im Text, Anm. M. W.] enthaltene Versprechen.“ In: Bauer (1986): Über das falsche Versprechen, S. 130. 25 ,Heimat‘ ist ein Wort der deutschen Sprache, das sperrig wird, sobald man es in eine andere Sprache übersetzen möchte. Es weist Konnotationen auf und löst vor allem affektive Reaktionen aus, die sich nicht mitübersetzen lassen. Den Rückschluss zu ziehen, dass Menschen, die in ihrer Sprache kein Äquivalent für ,Heimat‘ haben, nicht wüssten was ,Heimat‘ ist und die gesamte Bandbreite an Zuschreibungen nicht nachvollziehen könnten, wäre falsch. Außerdem nennt zum Beispiel Vilém Flusser das tschechische Wort „domov“, in dem er eine Entsprechung für das Wort ,Heimat‘ erkennt. Auch in der kritisch zu betrachtenden Schrift von Otto Kimminich findet sich ein Exkurs zu dieser Frage und er weist darauf hin, dass außerdem das 46

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missbraucht worden ist und dies, so ist anzunehmen, auch immer wieder werden wird. Eines, das oft mit anderen Begriffen wie dem des Vaterlands oder der Nation vermengt wird.27 Ein emotionalisierter Begriff, „der in der modernen Industriegesellschaft keine Realentsprechung mehr hat“28, und dessen Hauptbezugsfelder Mensch, Zeit und Raum sind. Ein Begriff, dem vorgeworfen wird, dass er „an allem Konkreten, an jedem Detail von Menschen, Bäumen und Häusern vorbei[geht], ohne sie zu streifen“.29 Der eine Identitätsstiftung anbietet, die Herta Müller als „Täuschung“ erkennt.30 ,Heimat‘ wirkt als Ubiquitätsfaktor, der jegliche Differenzen auszuschalten vermag – seien es nun politische, gesellschaftliche oder Geschlechterdifferenzen.31 Aber ,Heimat‘ verfügt auch über die Möglichkeiten, ein Subjekt an sich zu binden – über „geheimnisvolle Fesseln“32 wie Vilém Flusser sie beispielsweise nennt. Jene Gefühle, „wie Liebe und Freundschaft, aber auch Haß und Feindschaft“, die als „dialogische Fäden der Verantwortung“ den Kontakt des Emigranten zu seiner ,Heimat‘ aufrechterhalten oder anders formuliert an ihm „zerren“ und seine „unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen“.33 Auf der Fo-

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slowenische „domovina“, das kroatische „domovina“ und das serbische „domowina“ am ehesten dem Vorstellungsinhalt von ,Heimat‘ entspräche. Vgl. Otto Kimminich: Das Recht auf die Heimat. Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 31989, S. 22-25. Allerdings führt Kimminich dies nicht wie Vilém Flusser auf den Umstand zurück, dass dies dem „Druck“ zu verdanken sei, „den das Deutsche auf das Tschechische jahrhundertelang ausgeübt“ habe. In: Flusser (1992): Wohnung beziehen, S. 248. Vgl. zu einer tiefer gehenden Diskussion dieses Problems: Peter Blickle: Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland. Rochester, NY (u. a.): Camden House 2004. Gisela Ecker: „,Heimat‘: Das Elend der unterschlagenen Differenz“. In: Dies. (Hg.): Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich? München: Fink 1997, S. 7-31: 7. So fordert beispielsweise Christoph Türcke eine dezidierte Trennung von Nationalstolz und Heimatbewusstsein. Er wünscht sich eine „kritische Heimatkunde“, die „Heimat und Nation zu scheiden weiß und den Augiasstall ihrer Vermengung ausmistet“. In: Christoph Türcke: Heimat. Eine Rehabilitierung. Springe: zu Klampen 2006, S. 78. Jean Améry: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett 1977, S. 74-101: 92. Müller (1997): Betrug der Dinge, S. 213-214. Müller (1997): Betrug der Dinge, S. 214. Vgl. Ecker (1997): Heimat, S. 20. Flusser (1992): Wohnung beziehen, S. 252. Flusser (1992): Wohnung beziehen, S. 252. 47

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lie dieser Aussage kann man das Verhältnis der Protagonisten Zygmunt Rogalla und Conny Karrasch zueinander lesen und dadurch eine der Ursachen, die zur Zerstörung des Heimatmuseums führen, klar benennen. Denn es sind jene „geheimnisvollen Fesseln“, welche die beiden miteinander verbinden, da sie demselben Dorf, derselben Landschaft, derselben Kultur entstammen, und die sie gleichzeitig zu Antagonisten werden lassen, weil ihre Auffassung von ,Heimat‘ í und der dadurch geprägte Umgang mit den Dingen im Heimatmuseum – unvereinbar einander gegenüberstehen. Dass eine emotionale Überfrachtung des Begriffs ,Heimat‘ zurückgenommen sowie eine Reduktion auf seine Herkunft vorgenommen werden sollte, um „auf äußerste Genauigkeit im Umgang mit ihm zu achten und die übertragenen von den konkreten Anwendungen zu scheiden“34, fordert Gisela Ecker und führt dazu weiter aus, dass es doch möglich sein sollte, „die jeweils individuellen Gefühle gegenüber dem Ort der Kindheit […] zu respektieren und gleichzeitig die kulturelle Zirkulation eines Konzepts zu kritisieren“.35 Die konkrete Anwendung dieser Forderungen im Hinblick auf die Analyse des Romans mündet in die Formulierung konkreter Fragen: Wie wird ,Heimat‘ im Heimatmuseum mit Geschichte in Beziehung gesetzt? Lässt sich eine Unterscheidung zwischen Wohnund Heimatort ausmachen? Wie waren die Beziehungen der Figuren Zygmunt Rogalla und Conny Karrasch zu ihrer ,Heimat‘ und den Menschen während sie noch in Masuren lebten? Wie gestaltet sich der Umgang mit der ,verlorenen Heimat‘ im Hinblick darauf, dass er zugleich der Ort der Kindheit ist? Wie haben der Krieg und die Heimatvertreibung diesen beeinflusst bzw. grundlegend verändert? Und wie reflektiert der Umgang mit den Dingen in den Museen die daraus jeweils resultierende

34 Ecker (1997): Heimat, S. 24. Zur tiefer gehenden Erforschung dieser Forderung seien hier einige Schriften genannt, auf die sich auch Ecker bezieht: Oskar Negt: „Wissenschaft in der Kulturkrise und das Problem der Heimat“. In: Will Cremer (Hg.): Heimat. Band 1. Analysen, Themen, Perspektiven. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990, S. 185-195. Negt wünscht sich, den ,Heimat‘-Begriff als einen Zukunftsbegriff zu verstehen, welcher vom Irrationalismus und von jeglicher ,Blut und Boden‘-Ideologie befreit sein sollte. Oder vgl. auch: Rainer Piepmeier: „Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs“. In: Heimat. Band 1. Analysen, Themen, Perspektiven. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990, S. 91-108. Piepmeier fordert, dass man sich vom Missbrauch des Begriffs nicht beirren lassen sollte und stattdessen vielmehr dessen semantisches Potenzial ausschöpfen sollte. 35 Ecker (1997): Heimat, S. 12. 48

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Bedeutungszuschreibung sowie die Betrachtung der verschiedenen Museumskonzepte diese Fragen, und welche Antworten werden gegeben? Immer wieder wird in Zygmunts Gesprächen mit Martin Witt ,Heimat‘ diskutiert. In ihnen wird sie eine „Erfindung der Melancholie“ (HM 143) geheißen, als ein Phänomen bezeichnet, gegen dessen Vergänglichkeit mit „den Zeugnissen unseres Vorhandenseins überschaubare Dauer“ (HM 143) geschaffen werden soll. Niemals aber werden Heimatdiskurse als gesellschaftsrelevantes Thema benannt, indem zum Beispiel Heimatlosigkeit auf ein breites Spektrum von Gründen, die außerhalb des Erfahrungshorizonts der Hauptfigur liegen, zurückgeführt wird. Zygmunt Rogallas Erzählungen sind weit von dem Reflexionsgrad entfernt, den Vilém Flusser benennt: Der Sich-selbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick auf die Szene getrübt hat. Er erkennt nicht etwa nur, daß jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet, und daß in diesem Sinne alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, daß erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden.36

Heimatbeschwörung und kritische Begutachtung von ,Heimat‘ sind zwar in Rogallas Schilderungen vereint, doch die Distanz zur ,Heimat‘, die er bräuchte, um sein Verhältnis zu ihr frei von Emotionen, eigenen und fremden Bewertungen beurteilen zu können, fehlt ihm. Aus diesem Grund ist es Rogalla auch nicht möglich, Conny Karraschs Umgang mit ,Heimat‘ empathisch nachzuvollziehen. Die Paradoxie von ,Heimat‘ zeigt Zygmunt Rogalla nur im konkreten Erzählen auf. Passagen, in denen theoretische, subjektunabhängige Positionen und Haltungen zur ,Heimat‘ auf einer Metaebene diskutiert werden, fehlen dem Text.

Die Musealisierung von ,Heimat‘ im Heimatmuseum Bereits der Umgang mit dem Heimatbegriff schlägt eine Brücke zur Bewahrungs- und Erinnerungskultur, denn indem man von ,Heimat‘ spricht, bezieht man sich auf etwas Konkretes, das man beschreiben will und bewahren möchte. ,Heimat‘ ist etwas, das man vor ,schädlichen Einflüssen‘ von außen, vor Verunglimpfung schützen will. ,Heimat‘ ist ein Begriff, den man mit Traditionen und Brauchtum verbindet. Mit Sitten und Gebräuchen, die Teil eines kollektiven Gedächtnisses und damit einer gemeinsamen Erinnerungskultur sind. Über diesen Aspekt lässt sich eine 36 Flusser (1992): Wohnung beziehen, S. 251. 49

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Brücke zum Anlegen einer Sammlung schlagen. Egal ob es sich um eine materielle, geistige oder fiktive Sammlung handelt – etwas zu sammeln bedeutet, Dinge für zukünftige Generationen zusammenzutragen. Museen – also Orte von Sammlungen – sollen, so sagt Susan Stewart in On Longing, die Illusion im Auge des Betrachters erzeugen, sie seien die adäquate Darstellung einer bestimmten Welt.37 Der Errichtung dieser Welt gehen eine Vielzahl von Schritten voraus. Zunächst muss ein Gegenstand aus seinem ursprünglichen ästhetischen, kulturellen, historischen, intersubjektiven Zusammenhang entfernt und beispielsweise von seiner kultisch-religiösen oder repräsentativ-politischen Funktion befreit werden, um dann Teil eines Klassifikationsschemas zu werden, welches die Präsentation und die Aufbewahrung des Objekts in den Fokus seiner Betrachtung rückt. Dabei werden Aspekte wie die spezifische Geschichte des Dings, beispielsweise in Bezug auf seine Herstellung oder seinen alltagsweltlichen Gebrauch, in den Hintergrund gestellt – meist sogar verdrängt. Je nach Zielsetzung der musealen Einrichtung kann dies vollständig divergieren.38 Der Begriff der Musealisierung ist also vom Standpunkt des Subjekts aus als prozessualer Zugriff auf ein Objekt zu verstehen. Aus der Perspektive des kontextisolierten, seines Gebrauchswerts entledigten Objekts hingegen lediglich als ein möglicher Deklarationsakt im Umgang mit ihm. Die Zuschreibungen, die es erhält, entstehen durch das rezipierende Subjekt. Das Objekt wird also als musealisiert wahrgenommen, wobei sich das „Subjekt […] an die Regeln des musealen Rituals“ 39 halten muss. In einem symbolischen Ordnungssystem wie einem Museum kann durch die Ausstellung von Objekten ein materieller Bezug zur Herkunftskultur aufrechterhalten oder hergestellt werden. Politische und gesellschaftlich motivierte Fortschrittsprozesse, die neue Wertvorstellungen erzeugen und Traditionen und Brauchtum ,den Boden entziehen‘, kommen an diesem Ort, an dem der kollektive Wunsch nach Erinnerung sei37 Susan Stewart: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. Durham, London: Duke UP 1993, S. 160-165. 38 Vgl. Sturm (1991) Konservierte Welt, S. 42. 39 Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 107-109. Sturm verweist auf Horst Rumpf: „Die Gebärde der Besichtigung“. In: Kirstin Fast (Hg.): Handbuch museumspädagogischer Ansätze. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 2945. Rumpf nennt den Blick, der das Objekt zum musealen Objekt macht, die „Gebärde der Besichtigung“. Er behauptet, dass es einen gesellschaftlich genau festgelegten Kanon gibt, der regelt, wie sich der Besucher dem Objekt zu nähern hat, in welcher Reihenfolge die Objekte zu betrachten sind. Dadurch wird die Kommunikation zwischen Rezipient und musealem Objekt geregelt und das besichtigende Subjekt lernt, sich zu beherrschen. 50

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ne materielle Ausformung erhält, zum Stillstand. Die Parameter des musealen Ordnungssystems sind in der Regel so angelegt, dass der Eindruck entsteht, „Geschichte und jegliches musealisiertes Objekt wäre erklärbar, durchanalysierbar, leicht einzuordnen und einem geschlossenen vergangenen System zugehörig“.40 So kann das Publikum dem verdinglichten kulturellen Erbe gegenübertreten und beispielsweise ,Heimat‘ im Heimatmuseum als etwas Konkretes, das den Eindruck eines kohärenten Ganzen vermittelt, erfahren. Der Sammler und Besitzer einer Sammlung, der Kurator in einem Museum, oder, um es in Bezug auf Lenz’ Roman zu konkretisieren, der Protagonist Zygmunt Rogalla, ,unterwirft‘ die gesammelten Dinge seiner Vorstellung von ,Heimat‘ und damit gleichzeitig einer Ordnung, welche Teile des Wertesystems, in dem sich das ordnende Subjekt befindet, mitberücksichtigt.41 Die Dinge werden dadurch einem Transformationsprozess unterworfen, indem sie in Kausalverbindungen und Systeme eingereiht werden, die sie nicht aus sich selbst heraus vorgeben.42 Es kann also im Hinblick darauf danach gefragt werden, welche Folgen der Akt der Musealisierung der Dinge in einem Museum rückwirkend auf deren „Erstverwertungszusammenhang“ bzw. „Ursprungskontext“43, wie etwa Eva Sturm dies nennt, hat.

Transformationen des Heimatmuseums In einem Museum können die Ordnungen der ausgestellten Kultur durch ihre Projektionen auf die einzelnen Dinge tradiert werden. Sie evozieren Vorstellungen von Kontinuität und Stabilität, die einen Anschluss an Geschichte herstellen. Für Zygmunt Rogalla, den heimatverbundenen Teppichweber, liegt hierin die Aufgabe des Heimatmuseums. Geopolitisch betrachtet existiert seine ,Heimat‘ nicht mehr, und in Bezug auf seinen neuen Wohnort hat er keine Heimatfähigkeit entwickelt – Egenlund kann ihm die verlorene ,Heimat‘ nicht ersetzen. Er ist, genau wie sein Freund Conny Karrasch, der sein Schicksal teilt, von dem Wunsch beseelt, die Erinnerung an die Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Als Austragungsort ihres Erinnerungsbegehrens haben sich beide Hauptfiguren das Heimatmuseum in Egenlund gewählt. Denn an diesem Ort wird das ausgestellt, was Martin Roth als eine maßgebliche Aufgabe des Heimatmuseums befindet: zu präsentieren, „was den eigenen Hori40 41 42 43

Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 44. Vgl. Foucault (2005): Archäologie des Wissens. Vgl. Foucault (2005): Archäologie des Wissens. Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 12. 51

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zont umschließt, woraus die eigene Welt besteht“44. Doch während für Rogalla die Verbundenheit mit der Heimat immer schon in den Dingen wohnte und er sie als Zeugen der Vergangenheit betrachtet, ändert Conny Karrasch ihre Aussage: Er entzieht ihnen ihre Historizität und lässt sie für das sprechen, was ihm wichtig ist. In ihnen will er ein „Recht auf Heimat“ (HM 594) formuliert sehen, welches von der Idee getragen wird, dass es einen historisch erkennbaren Anspruch auf die reale Rückkehr in die ehemals deutschen Gebiete gibt. Das heißt, dass der Bedeutungswandel, den die Dinge durch den nivellierenden Einfluss des Heimatbegriffs erfahren, auf ihren Ursprungskontext rückwirken, ihn sogar verändern können. Anhand der verschiedenen Ausprägungsformen und Transformationen, denen das Museum unterworfen ist, lässt sich die Entwicklung dieses Konflikts – der sich wie bereits erwähnt aus der Unvereinbarkeit der geschilderten Ausführungen speist, und der zum Auslöser der Museumszerstörung wird – nachzeichnen.

Das Heimatmuseum Adam Rogallas î Hort von Zeugnissen und Resten Ausgehend von dem ursprünglichen Museum in Masuren, welches Zygmunts Großonkel, der pensionierte Zeichenlehrer45, „freiberufliche Heimatforscher“ (HM 15) und „unerschütterliche Patriot“ (vgl. HM 116, 165-166 und 252) Adam Rogalla in seinem Wohnhaus in Lucknow einrichtet, lässt sich eine Entwicklung in der Ausstellungskonzeption des masurischen Museums nach seiner Übernahme durch Zygmunt Rogalla und in dem neu erbauten in Egenlund in Schleswig nachvollziehen. Adam Rogalla begründet das erste Heimatmuseum46 gegen Ende des

44 Martin Roth: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution. Berlin: Gebrüder Mann 1990, S. 11. (= Berliner Schriften zur Museumskunde, Band 7) 45 Vgl. hierzu Roth (1990): Heimatmuseum, S. 42. Roths Forschungen ergeben, dass hauptsächlich Lehrer und Pastoren Heimatmuseen gründeten. In der Figur des Adam Rogalla findet sich diese geschichtlich belegte Tatsache wieder. 46 Zu den historischen Hintergründen der Heimatmuseumsbewegung, welche ihren Ursprung im Bürgertum hatte und durch Menschen ins Leben gerufen, die sich der Heimatpflege verschrieben hatten, vgl.: Nienaber (1999): Wo die ,Heimat‘ ein Zuhause hat, S. 66-67 oder Hanswilhelm Haefs (Hg.): Die deutschen Heimatmuseen. Frankfurt/M.: Wolfgang Krüger 1984 sowie Bernhard Becker: Heimatmuseum. Anspruch und Wirklichkeit. Homburg: Gehlen 1987. 52

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19. Jahrhunderts. Es entsteht zu einer Zeit, während der die Menschen seit Generationen fest in Traditionen verwurzelt leben. Das historische Bewusstsein, welches sich in Sitten und Gebräuchen zeigt, ist Teil ihres Alltagslebens und ,braucht‘ keinen eigenen Ort wie ein Museum, um ,Heimat‘ zu musealisieren. Der Wunsch nach Erinnerungsorganen ist bisher nicht aufgekommen, da die Geschichte in die Gegenwart eingeknüpft ist und die Zukunft in den Dingen ,lebt‘. Im Gebrauch der Dinge spiegelt sich dieses Bewusstsein. Dies formuliert Utz Jeggle etwa, wenn er sagt, dass sich kein Ding in einem einzigen Gebrauchswert erschöpfte, sondern dass ein jedes eine Lebensbahn gehabt habe, die „von der Zeugung, wenn man die Auswahl eines Weidenbaums [für einen Hackenstiel, Anm. M. W.] einmal so nennen will, bis zur Einäscherung alle Phasen“47 mit eingeschlossen hätte und keinen Abfall bis zur Wende ins industrielle Zeitalter gekannt hätte. Dieser Umgang mit Dingen, schlussfolgert Jeggle, hätte auch das Empfinden von Zeit beeinflusst: „Dinge standen nicht nur Bedürfnissen gegenüber, sondern sie prägten im Umgehen mit ihnen eine spezifische Form von Zeitlichkeit, die einen Rhythmus hatte, der Nutzer und Objekt verband.“48 Obwohl das öffentliche Interesse an der Musealisierung von ,Heimat‘ lediglich marginal respektive gar nicht vorhanden ist, sammelt Adam Rogalla aus einem irrational getroffenen Entschluss heraus Objekte, die aus seiner Perspektive mit der masurischen ,Heimat‘ in Verbindung stehen: Er [Adam Rogalla, Anm. M. W.] hatte in einem Traum den Auftrag erhalten, die bucklige Welt Masurens auszufragen, Zeugnisse und Reste und Beweise unserer Eigenart zusammenzutragen, die jedem vor Augen führten, daß er eingeschmiedet sei in eine Kette, die tief in die Zeit hinabreichte. (HM 165)

Er sammelt alles, dessen er habhaft werden kann: Aus der Erde geborgene49 oder im Wald gefundene Abfälle, geschenkte Dinge, Gegenstände

47 Utz Jeggle: „Heimatmuseum“. In: Gottfried Fliedl et al. (Hg.): Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens. Köln: Turia + Kant 1994, S. 107-122: 108. Jeggle fasst in seinem Aufsatz Ansätze von Pierre Jeudy, Henning Ritter, Walter Benjamin und Jean Baudrillard sowie Ausstellungskonzepte von Gottfried Fliedl und Gottfried Korff zusammen. 48 Jeggle (1994): Heimatmuseum, S. 109. 49 Die Tätigkeit des Grabens zitiert hier eine wichtige Bedeutungsdimension von ,Heimat‘. Der Sammler Adam Rogalla, der um sein Haus herum gräbt und die ,Heimat‘ aus der Erde birgt, kann als eine Allegorie auf die Rhetorik der Schollenanbindung gelesen werden, in der sich die Verwurzelung des Ich an einem Ort, welcher ihm die Möglichkeit zum Aufbau einer stabilen Identität anbietet, widerspiegelt. 53

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und Dokumente, die ein historisches Ereignis belegen. Sie werden „erbettelt, ausgegraben, gekauft oder von […] Reisen heimgebracht“. (HM 113) Es sind „Werkzeuge aus Feuerstein, Waffen aus Bronze und Eisen, Karten und Stiche […], Münzen von unruhigen Fingern dünngerieben, uraltes Küchengerät, Schmuckspangen, Spinnwocken, schön gebleichte Tierskelette, ein Glaskasten mit angesengelten Urkunden“. (HM 112113) Jedes Ding, dem eine Verbindung zur ,Heimat‘ zugeschrieben werden kann, findet Aufnahme in seine Sammlung. Diese Verschiedenartigkeit der Dinge in einem Heimatmuseum sieht beispielsweise Monika Nienaber durch zwei Faktoren begründet: vorrangig geht es darum, dass man der Dinge habhaft werden kann, und dann, dass sie der Vergangenheit entstammen.50 Die Protagonisten ,retten‘ die Gegenstände vor ihrem Verschwinden, oder um mit Jeggle zu sprechen, vor einem Übergang in eine neue Phase, indem sie sie an einen Ort bringen, an dem sie beschützt und verwahrt werden: dem Heimatmuseum.51 Ob Adam Rogalla die gesammelten Originale anschließend in einer Eisenkiste im Keller des Museums aufbewahrt, Kopien von ihnen in den öffentlichen Teil der Sammlung gelangen, oder ob sie selbst ausgestellt werden, hängt von dem Wert ab, den er ihnen zuschreibt: „[D]as Wertvollste is immer nur gut für dich, du darfst es keinem zeigen; für die andern genügt allemal ein Kopie.“ (HM 168) Denn: „Verkriemelt sich das Original […], dann verkriemelt sich auch das Jewesene.“ (HM 168) Für ihn ist nur wichtig, dass sie an einem sicheren Ort verwahrt und vor ihrem Verfall geschützt werden. Denn den Zeugen der Vergangenheit traut Adam Rogalla „jeden Beweis“ (HM 113) zu: „So haben wir gelebt. So haben wir auf Katastrophen und Kalamitäten geantwortet, so haben wir uns Freude geborgt, so widerlegte uns der Tod, und so haben wir die alten Fiktionen zum Blühen gebracht

50 Vgl. hierzu: Nienaber (1999): Wo die ,Heimat‘ ein Zuhause hat, S. 71. 51 Vgl. hierzu: „Immer mehr Wegzuwerfendes wird darum modern gerade nicht weggeworfen, sondern – um es vor dem Verschwinden zu retten – bewahrend gesammelt und zunehmend in Häuser getan, die eigens für seine Aufbewahrung und Ausstellung gebaut werden: die Museen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem aber seit dem 19. Jahrhundert und – mit beschleunigt zunehmenden Gründungsraten – in unserem Jahrhundert entstehen. Das Ausrangierte findet Zuflucht in den Sammlungen des Museums; wo Brauchtum und Trachten verschwinden: im Heimatmuseum“. In: Odo Marquard: „Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur“. In: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen: Leske + Budrich 1994, S. 909-918: 916. 54

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[...].“ (HM 162)52 Das Sammeln übernimmt hier die Funktion der Selbstvergewisserung: Die Heimat wird aus sich selbst heraus gesammelt und sammelt sich selbst. Adam Rogalla richtet das Heimatmuseum in seinem Wohnhaus ein. Hieraus ergibt sich eine Lebenssituation, die zu einem ungewöhnlichen Umgang mit ,Heimat‘ führt; Wohn- und Ausstellungsort sind nicht voneinander getrennt, die gesammelte, um ihn herum versammelte ,Heimat‘ wird von ihm bewohnt: „[J]eder Raum des Hauses diente dem Heimatmuseum, war Heimatmuseum mit den unzähligen Zeugen und Zeugnissen.“ (HM 160) Auch Zygmunt und seine Mutter müssen sich nach dem Tod des Vaters und Ehemanns und ihrem daraus resultierenden Einzug in Adam Rogallas Museum zwischen den „Zeugen“, die „jede[n] Winkel des Hauses bewohn[en]“ (HM 160-161) Platz schaffen – für sich selbst Raum finden. Sie haben keine Distanz zu den Dingen im Museum, stattdessen gebrauchen sie sie in ihrem täglichen Leben: „Haben Sie einmal in einem Museum geschlafen, gewohnt?“, ist eine Frage, die Zygmunt Rogalla seinem Zuhörer Martin Witt stellt, und die er selbst sofort beantwortet: „Sehen Sie! Aber ich gewöhnte mich an Teller- und Löffelborde, […] ich saß ausdauernd auf einem historischen Brettschemel.“ (HM 160161) Man könnte an dieser Stelle die Frage stellen, ob die Familie Rogalla, durch ihre Nähe zu den Dingen und ihrem Leben im Museum, nicht auch selbst zu einem musealisierten Teil von ,Heimat‘ wird. Eine Überlegung, die sich aufdrängt, wenn man liest, wie sie sich in das Sammelsurium einfügen muss: Was mich [Zygmunt Rogalla, Anm. M. W.] in meiner Kammer umgab, mahnte, begeisterte und befremdete, war ein […] Teil der Stücke, die Onkel Adam für wert befand, in seinem Museum für die weit zurückreichende Geschichte Masurens zu zeugen; […]. Sie dürfen annehmen, daß jeder Winkel des Hauses von Zeugen bewohnt war; das klemmte sich in die Ecken, hielt Tischplatten besetzt, zog sich die Wände hoch. (HM 161)

Oder vor welche Schwierigkeiten man sich gestellt sah, wenn zwischen Museumsobjekt und Alltagsgegenstand differenziert werden sollte: „[U]nd wenn Sie nur auf einen Schluck Buttermilch aus waren, mußten Sie damit rechnen, daß es sich bei dem Krug, den Sie in der Vorratskammer vom Regal hoben, um eine sudauische Graburne handelte.“ (HM 161) Der selbstverständliche, unbewusste Lebensvollzug der masurischen Bevölkerung in traditionellen Bahnen erfährt einen Einbruch durch den Ersten Weltkrieg. Der Zusammenbruch der ökonomischen und politi52 Vgl. hierzu auch Helbig (1983): Die letzte Freiheit, S. 90. 55

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schen Sicherheit führt zu einer Radikalisierung des Konservatismus53, wodurch Bildungsinstitutionen wie Heimatmuseen eine unerwartete Konjunktur erleben. Als es 1920 in Masuren zu einer Abstimmung kommt, ob es weiterhin zu Deutschland oder fortan zu Polen gehören soll, werden aus den „reinen Zeugen“ (HM 463) der Vergangenheit Beweisstücke, die die Abstimmung zugunsten Deutschlands beeinflussen sollen: [E]r [Adam Rogalla, Anm. M. W.] langte tief in sein Heimatmuseum, schlachtete Dokumente aus, trumpfte mit einmaligen historischen Belegen auf; ja, und jeden zweiten Tag ließ er in der Lucknower Zeitung einen Zeugen sprechen, zweispaltig unter beweiskräftiger Fotografie. Er wartete mit ältesten Lehnsurkunden auf, zitierte aus den Privilegienbriefen preußischer Könige, spielte deutsches Brauchtum gegen polnisches Brauchtum aus. Wer Onkel Adams Rubrik las, konnte erfahren, daß sogar ein verziertes Nudelholz für Deutschland zu zeugen vermochte. Zuversicht überall, winkende Siegesgewißheit: Denen [der polnischen Minderheit, Anm. M. W.] werden wir es zeigen. (HM 224)

Es ist die erste Situation, die zu einem Konflikt zwischen Zygmunt Rogalla und Conny Karrasch führt. Während der Erzähler den Ambitionen seines Onkels lediglich ironisch gegenübersteht, an der politischen Aussage aber keine Kritik äußert, mahnt der Freund im Hinblick auf die Folgen, die der Zuspruch Masurens zu Deutschland für die polnische Minderheit haben wird, auf illegal angebrachten Plakate, die Entscheidung zu überdenken: „[O]hne Vorurteil und ohne nationale Scheuklappen, eingedenk der Lektionen, die uns die Geschichte erteilt hat und mit gerechtem Gedächtnis gegenüber unserer Herkunft.“ (HM 231)

Übernahme des Museums î erste Selektionsverweigerung Nach dem Tod des kinderlosen Onkels übernimmt Zygmunt Rogalla die Leitung des Heimatmuseums: „Ich begriff, was von mir erwartet wurde, was auf mich überging.“ (HM 256) Die vom Onkel eifersüchtig geschützten Originale werden aus ihrem Kellerversteck ,befreit‘ und in den öffentlich zugänglichen Räumen platziert: Er macht sich mit „allen Dingen vertraut“ und gibt ihnen „eine neue Ordnung“. (HM 292) „Heimlich“ lässt er die „Kopien und Imitationen“ aus dem Museum „in den Keller wandern“ (HM 293) und ersetzt sie durch Originale: „[W]obei mir bewußt war, daß ich gegen Onkel Adams Regel verstieß, kein Original in die Öffentlichkeit und damit in Gefahr zu bringen.“ (HM 293) Aus dem 53 Vgl. hierzu: Roth (1990): Heimatmuseum, S. 39. 56

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bisher vorrangig privat genutzten Museum wird ein öffentliches. Zygmunt Rogalla strukturiert die Sammlung, indem er Themenzimmer einrichtet: in einer Kammer versammelt er zum Beispiel ausschließlich „masurisches Spielzeug“ (HM 335), in einer anderen Abteilung die „Tiere Masurens“. (HM 64) Einzelstücke ohne thematische Anbindung finden ihren Platz im „,gemischten‘ Ausstellungsraum“. (HM 537) Alle gesammelten Dinge sollen im Museum ausgestellt werden – nichts soll selektiert werden. Die Tatsache allerdings, dass eine Vorauswahl bereits stattgefunden hat, da beispielsweise Objekte der Kultur der in Masuren lebenden polnischen Minderheit im Museum nicht präsentiert werden, reflektiert der Erzähler nicht. Das Heimatmuseum beherbergt die Dinge der einen ,Heimat‘, der einen Kultur, die für ihn, den Sammler Zygmunt Rogalla, ,Heimat‘ bedeuten. Er hat sie um sich herum versammelt54 und erzählt Besuchern ihre Geschichte: Meine Führungen! Du hättest sie erleben müssen damals: gespickt mit Geschichten – ja, den Geschichten mehr vertrauend als allen Daten –, heiter bei aller Ergriffenheit, träumerisch bei aller Begeisterung, und immer darum bemüht, die Vorzeit als etwas Historisches erkennen zu lassen. Um die Ferne aufzuheben, sprach ich zum Beispiel von Sudauern wie von Familienangehörigen, und ich zögerte nicht, ausgewählten Besucherinnen für die Dauer der Führung unseren ältesten Schmuck umzuhängen. (HM 293)

Diese Schilderung der Museumsführung greift das Erzählverfahren auf, mit dem Zygmunt Rogalla Martin Witt von seinen Erinnerungen an Masuren erzählt. Die Dinge dienen ihm als Rede- und Erzählanlass – er verleiht ihnen die Stimme von ihrer Vergangenheit zu erzählen.55

Heimatmuseum im Nationalsozialismus î erneute Selektionsverweigerung Dass sich ein Museum, auch wenn es sich an der Peripherie befindet, vor politischen Eingriffen nicht schützen kann, wird 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Auflösung der Weimarer Republik, auch in Zygmunt Rogallas Heimatmuseum deutlich. Die Vereinnahmung und Funktionalisierung der Heimatmuseen zur Zeit der Weimarer Republik wird während der NS-Zeit fortgeführt.56 Die ohnehin nur rudimentär vorhandenen demokratischen Anteile der Heimatmuseumsbe54 Vgl. Clifford (1988): On Collecting Art and Culture. 55 Vgl. Daston (2004): Things that Talk. 56 Vgl. hierzu: Roth (1990): Heimatmuseum, S. 12. 57

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wegung verschwinden unter dem Einfluss der Nationalsozialisten vollständig.57 In diesem geschichtlichen und politischen Zusammenhang können auch die angeordneten Maßnahmen gelesen werden, von denen im Heimatmuseum gesprochen wird. So heißt es in einer Order der Königsberger Dienststelle an das Heimatmuseum in Lucknow, dass das gesamte Museumsinventar einer Prüfung unterzogen werden soll: [A]uf dem Postweg kam eine Verfügung aus Königsberg, ein eingeschriebener Brief […]; darin wurden wir aufgefordert, das Inventar unseres Museums neu zu katalogisieren. […] Was sie vor allem verlangten: die „Aussonderung“ jeglichen Inventars, das slawischen Ursprungs war oder dessen Herkunft nicht exakt bestimmt werden konnte. (HM 418) 58

Aufbewahrt und präsentiert werden soll nur noch, was den Rassentheorien der Nationalsozialisten entspricht.59 Zygmunt Rogalla, dessen erklärtes Ziel es ist, Objektivität zu gewährleisten und einseitige Interpretation zu vermeiden, kann dieser Aufforderung aus tiefster Überzeugung nicht Folge leisten: „Vergangenheit: sie gehört uns allen, man kann sie nicht aufteilen, […] wer versucht, die Dinge und Beweise zu trennen, die uns hinterlassen wurden, wer sich einen reinen Ursprung zulegen will, der weiß, daß er Gewalt braucht.“ (HM 419-420) In ihm regt sich erstmals der Gedanke, „das Museum eher aufzulösen oder zu zerstören als es der 57 Den Heimatmuseen wird zur Zeit des Nationalsozialismus vor allem die Aufgabe zugedacht, die Erziehung zu Volkstum und Volksgemeinschaft zu befördern. Vgl. hierzu: Roth (1990): Heimatmuseum, S. 130-147 und 245. 58 Einen historisch aktuellen und vollkommen unkritischen Einblick in den Heimatbegriff der NS-Zeit liefert folgende Schrift: Kurt Stavenhagen: Heimat als Grundlage menschlicher Existenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1939. Unter der Fragestellung, welche Bedeutung Heimat für die menschliche Existenz hat, entrollt der Autor Heimatideologien aus nationalsozialistischer Perspektive. Ganz deren Rhetorik verschrieben, stellt er das Großstadtleben des Arbeiters in der Kleinfamilie als Leben ohne Tradition und Wertvorstellungen dar und kontrastiert es mit der Idylle des ländlichen Lebens in der Großfamilie, in dem der Mensch sich ganz seiner Heimat verbunden fühlen kann und nur so zu den ,richtigen‘ moralischen, gesellschaftlichen und politischen Haltungen finden kann. 59 Krzysztof Pomian weist in einem kulturgeschichtlichen Überblick ebenfalls auf die Möglichkeiten des Missbrauchs eines Museums hin: „Kurz, die Sammlungen sind für die Angehörigen des intellektuellen und künstlerischen Milieus Arbeitsinstrumente und Insignien sozialer Zugehörigkeit, für die Machthaber dagegen Insignien ihrer Überlegenheit und Instrumente, die der Beherrschung des zuvor genannten Milieus dienen.“ In: Pomian (1997): Ursprung des Museums, S. 62. 58

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Reglementierung völkischer Hausmeister auszusetzen“ (HM 424-425), um es vor einem selektierenden, ideologischen Zugriff zu schützen. Einen Ausweg findet er in der Rückführung des Museums in seinen ehemals privaten Status eines Wohnhauses, um damit die Transformierung des Heimatmuseums in den eines öffentlichen „Grenzlandmuseums“ zu verhindern, in dem die Nähe zur slawischen Kultur durch bewusstes Selegieren und Präferieren der Objekte, denen eine eindeutig deutsche Herkunft bescheinigt werden kann, negiert werden soll.60 Vordergründig scheint es, als könne sich das Heimatmuseum dem Missbrauch politischer und ideologischer Instrumentalisierung dadurch entziehen. Dieses Ereignis, bei dem der Protagonist Rogalla den Rückzug ins Private vor der Selektion präferiert, ist als Vorgängerszene auf die tatsächliche Zerstörung des wiederaufgebauten Museums in Egenlund zu lesen, in welcher sich der Held durch seinen Entschluss bewusst gegen seinen engsten Freund und dessen ideologischer Vereinnahmung der Heimatsammlung wendet. Zygmunt Rogalla verschließt sich der nationalsozialistischen Ideologie weniger aus politischer Überzeugung denn aus seiner affektiven Beziehung zu den Dingen, die er in seinem Museum ausstellt. Er teilt nicht die radikal ablehnende Haltung seines Freundes Conny Karrasch: Es gibt Dinge, sagte er [Conny Karrasch, Anm. M. W.], denen wir keine Unschuld zugutehalten können, und dazu gehört ein Heimatmuseum: ungewollt 60 Vgl. dazu: Roth (1990): Heimatmuseum. In dieser grundlegenden Studie, die von Wissenschaftlern wie Gottfried Korff und Andreas Grote unterstützt wurde, lassen sich weitere aufschlussreiche Punkte zur Rolle des Heimatmuseums zur Zeit des Nationalsozialismus finden. Beispielsweise wird nie eindeutig geklärt, ob die administrative Zuständigkeit für die Museen in den Händen des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ oder in denen des „Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ liegt. Goebbels will die Volkskunde- und Grenzlandmuseen seiner Führung unterstellen, erreicht dies aber aufgrund der antagonistischen Verhältnisse der Ministerien untereinander nicht. Allerdings kann das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ 1936 Museumspflegerstellen einrichten. Diese Museumspfleger werden in die Museen geschickt, um dort Neugestaltungen vorzunehmen, so wie es auch Lenz in Heimatmuseum schildert. (Vgl. S. 130) Es wird auch keine Zwangsmitgliedschaft für Museumsbeamte in einer der sieben Unterkammern der Reichskulturkammer eingeführt. Eine eindeutige Antwort darauf, warum das Museumswesen im Vergleich zum Theater der sofortigen und strikten Gleichschaltung entging, obwohl eine große Anzahl deutscher Museen weite Bevölkerungskreise erreichte, gibt es nicht. (Vgl. S. 83) 59

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weckt es völkische Arroganz. Und erst ein Grenzland-Museum: das ist schon mehr als eine verklärende Narrheit, mehr als ein Dilemma, denn der Chauvinismus richtet es ein und möbliert es, und nationale Überheblichkeit schreibt die Kunde nach Bedarf um. [...] Und ich [Zygmunt Rogalla, Anm. M. W.] staunte über die Rabiatheit, mit der er das Grenzland-Museum ablehnte […]: eine Kapelle der Vorurteile, eine Kriegserklärung durch Fundstücke; eine Einstimmung in Brauchtumswahn, der sich noch nie mit dem zufriedengegeben hat, was er bereits besitzt, und immer auf alte Rechte klagt. (HM 382)

Sein Ziel ist, „das Museum durch die Zeit zu bringen, […] mit den unersetzbaren Zeugnissen, von denen zahlreiche durchaus nicht die offizielle Sprache gebrauchten, vielmehr etwas darstellten, was man die stumme Opposition der Dinge nennen kann“. (HM 401) Rogalla, das wird hier deutlich, gibt den Dingen vor den Menschen den Vorzug. Durch einen erneuten Rückgriff auf Vilém Flussers Gedanken lässt sich ein Zugang zu Zygmunt Rogallas Handlungen finden. Flussers Auffassung nach resultiere der Umgang mit den Dingen aus einem „geheimnisvolle[n] Heimatgefühl“61, welches nicht nur den Menschen an andere Menschen fessele, sondern auch an Dinge: Beide [die Menschen und die Dinge, Anm. M. W.] sind sie in dieses Geheimnis gebadet. […] Derart sakralisierte Dinge bedingen nicht nur (das heißt, sie schmälern die Freiheit), sondern sie werden personalisiert (das heißt, man liebt sie). Diese Verwechslung von Dingen und Personen, dieser ontologische Irrtum, ein Es für ein Du zu nehmen, ist genau das, was die Propheten Heidentum nannten und was die Philosophen als magisches Denken zu überwinden versuchten.62

Für den Erzähler sind die Objekte aus dem Lucknower Heimatmuseum „Dinge, die man nicht aufgeben möchte, die man zum Leben braucht“. (HM 581) Für ihn ist es eine unumstößliche Tatsache, dass „jedes Ding mit Erfahrung verleimt“ ist, und „alle bedeutenden Vorkommnisse aus kleinen, privaten Lebensgeschichten hervorwachsen“. (HM 255) Für Rogalla bieten die Dinge ein Identifikationsangebot und sind mitverantwortlich für die Konstitution seiner Identität.63 In dieser Affektverschiebung

61 Flusser (1992): Wohnung beziehen, S. 251-252. 62 Flusser (1992): Wohnung beziehen, S. 251-252. 63 Der Aspekt der Identitätsfindung durch Dinge findet sich auch in Siegfried Lenz’ Roman Fundbüro, dessen Hauptschauplatz das Fundbüro eines Bahnhofs ist. Hier übernimmt die Figur Albert Bußmann eine wichtige Funktion, wenn sie aus den Fundstücken, aus den im Zug vergessenen Taschen, Beuteln, Koffern und anderen Dingen, die Identität ihrer Besitzer zu 60

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von den Menschen zu den Dingen findet sich ein weiterer handlungsbestimmender Faktor, der für die Zerstörung des Heimatmuseums in Egenlund maßgeblich verantwortlich ist.64

Das Heimatmuseum ,auf der Flucht‘ î erzwungene Selektion und Dingetransfer Durch die Eroberung der deutschen Ostgebiete durch die sowjetischen Streitkräfte im Januar 1945 werden die Bewohner der deutschen Ostprovinz Masuren zur Flucht gezwungen – unter ihnen die Familie Rogalla. Selbst in dieser Notsituation denkt der Erzähler, der sich selbst als „Treuhänder eines gemeinsamen Besitzes“ (HM 574) sieht, vor allem daran, „mit dem, was [ihm] anvertraut war, zu entkommen“. (HM 543) Er will, wie bereits erwähnt, die „Belege und […] Beweise“ nicht retten, um später sein Recht einzuklagen, sondern um sich zukünftig der eigenen Existenz mittels „gesicherte[r] Erkenntniss[e]“ vergewissern zu können, indem er die „krummen Pfade“ (HM 537) seiner eigenen Herkunft anhand der Dinge zurückverfolgen kann. Die Unabwendbarkeit der Situation stellt ihn vor die schwierige Entscheidung, Dinge aus der Heimatsammlung zu selektieren: [I]nmitten der Dinge, vor den Stapeln und immer noch besetzten Regalen, spürte ich eine lähmende Unentschiedenheit, ich zitterte, ich bekam Stiche, ich hatte das Gefühl, nicht einmal den Karton mit den Brautgewändern anheben zu können, und für einen Augenblick erwog ich, alles sich selbst zu überlassen, in seiner Vollständigkeit, in seiner gesammelten Zeugenschaft. Ich glaubte, daß ich nicht trennen und auseinanderreißen dürfte, was sich in seiner stillen Beweiskraft ergänzte, was sich gegenseitig belichtete, Rangfolge, ich konnte keine Rangfolge aufstellen: dies nicht, und dies nicht, aber dies. Es gehörte zusammen, es mußte zusammenbleiben. (HM 540)

Obwohl er sich psychisch nicht dazu in der Lage fühlt, eine Auswahl vorzunehmen, überwindet er sich: „Benommen und planlos“ „rafft“ und „schleppt“ (HM 540-541) er „die Dinge, fast wie in Trance“ (HM 541) zum Planwagen. Dabei weiß er „jederzeit“, „welche Geschichte sich mit ihnen“ (HM 541) verbindet. Willkür und Zeitdruck sind die einzigen Selektionskriterien: „Ich kann […] keinen Grund dafür nennen, warum ich,

eruieren versucht. Vgl. Siegfried Lenz: Fundbüro. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003. 64 Vgl. dazu die Ausführungen von Tilmann Habermas zur identitätsstiftenden Funktion von Dingen. 61

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betäubt und schweißüberströmt, Stücke zur Mitreise bestimmte.“ (HM 541) Persönliche Sachen, Möbel und Wäsche interessieren ihn ebenso wenig wie die Sorgen und Ängste seiner Familienmitglieder: [W]enn ich mich an die Gefühle erinnere, die uns beherrschten, an die Gedanken, die uns nahegelegt wurden, dann muß ich dir sagen, daß zumindest mich nur ein einziger Wunsch erfüllte: zu entkommen; mit dem was mir anvertraut war, zu entkommen. (HM 543)

Der Verlust der ,Heimat‘ wird auch auf sprachlicher Ebene im Roman vollzogen. So verzichtet der Erzähler in seiner Schilderung der Flucht auf mundartliche Gesprächsanteile und Ausdrücke. Die vergleichsweise lange Erzählzeit, die er benötigt, um über die Flucht zu berichten, unterstreicht den Widerwillen gegen die Trennung von der ,Heimat‘ – nur langsam löst er sich von seinem vertrauten Lebensraum: „Glaub mir, insgeheim haben wir es nicht für möglich gehalten, im Stillen hat keiner von uns mit einer Evakuierung oder gar Flucht gerechnet, einfach, weil wir es uns nicht vorstellen konnten, Lucknow aufzugeben.“ (HM 539) Rückblickend ist es ihm allerdings möglich, die Flucht als „selbstverschuldete[s] Unglück“, als „erbarmungslose Antwort der Gewalt, die wir selbst gesät hatten“ (HM 569) zu bezeichnen. Er kann erkennen, dass „das reale Trauma des Exils [der Vertriebenen aus den ehemals ostdeutschen Gebieten, Anm. M. W.] gerade durch Akte des Ausschlusses“, wie Gisela Ecker es formuliert, „im Namen von ,Heimat‘ und der ,Rassenreinheit‘ der in ihr Ansässigen erzeugt worden ist“.65

Das Nachfolgemuseum Viele Jahre nach der Flucht entschließt sich die Hauptfigur zum Neuaufbau des Museums aus den geretteten Resten: „Nein, ich zählte nicht zusammen, was mir geblieben war, ich fingerte auch nicht alle Behältnisse durch, mir genügten zufällige Berührungen, zufälliges Wiederfinden.“ (HM 573) Seine Erfahrungen haben einen Wandel in Zygmunt Rogalla hervorgerufen: Er muss sich nicht jedes einzelnen Stücks vergewissern, für ihn zählt, dass es überhaupt noch Dinge gibt, welche die ,verlorene 65 Ecker (1997): Heimat, S. 27. Der vollständige Satz lautet: „Der Verteidigungsgestus nostalgischer Beschwörungen, die Rede über das bedrohte Paradies, die musealen Bestrebungen der Heimatverbände inszenieren ein imaginiertes Trauma, das darüber hinwegtäuscht, daß das reale Trauma des Exils gerade durch Akte des Ausschlusses im Namen von ,Heimat‘ und der ,Rassenreinheit‘ der in ihr Ansässigen erzeugt worden ist.“ 62

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Heimat‘ repräsentieren. Sein Umgang mit den Dingen zeigt eine Transformation seines Heimatbegriffs hin zu einem emotional besetzten Terminus, in der man mit Rainer Piepmeier gedacht, eine Ersatzhandlung erkennen kann, die vollzogen wird, weil alte Bindungen verloren gegangen sind. Dieser Verlust mache, so Piepmeier, den Heimatbegriff frei für jede individuelle Zuschreibung, die im Heimatgefühl desjenigen verortet ist, der die Zuschreibung vornimmt.66 Als „Kemenatenhaus mit vorgezogener Holzveranda“ (HM 7) zitiert das neue Heimatmuseum die Bauweise masurischer Holzhäuser, und wird damit selbst zum Artefakt: Es sollte von vorneherein nur zu einem einzigen Zweck dienen: alles aufzunehmen, was das Land unserer Herkunft bezeichnete, was seine Eigentümlichkeit bewies, was seine Geschichte veranschaulichte und was schließlich auch offenlegte, warum es verlorenging, und unter welchen Umständen wir es verlassen mußten. (HM 590-591)

Der private Lebensraum ist dadurch vom öffentlich zugänglichen Museumsraum getrennt, die doppelte Zuschreibung über die Funktion und den Wert der Dinge, wie sie in Lucknow gegolten hat, entfällt. Die Dinge werden ganz auf ihren Museumsstatus reduziert und zu Semiophoren im pomianschen Sinne. Gemäß seines masurischen Vorbilds wird das neu aufgebaute Heimatmuseum in Themenzimmer unterteilt, jedes einzelne Stück wird katalogisiert und die Exponate werden sorgfältig beschriftet und für den Museumsbesucher pädagogisch aufbereitet. Die Lucknower Sammlung, die den Grundbestand des Museums darstellt, wird in der Folgezeit durch Gaben ,heimatliebender‘ Vertriebener ergänzt, die das Schicksal Zygmunt Rogallas teilen und mit ihren Erinnerungsstücken dazu beitragen wollen, das Andenken an die ,verlorene Heimat‘ zu bewahren. Für sie scheint das Museum der Ort zu sein, an dem die Dinge „in der Nachbarschaft gleichartiger Dokumente, eine intensivere Zeugenschaft“ (HM 619) entfalten können. Durch das bewusste (Wieder-)Errichten des zweiten Museums und in dem Anspruch, eine möglichst große und umfassende Sammlung anzulegen, drückt sich der Wille, die Vergangenheit zu bewahren, noch stärker aus als es für das erste Museum festgehalten werden kann. Das Museum wird zu einem Ort der Erinnerungsvereinigung, einem kollektiven Gedächtnisort.67 Gerade dadurch, dass es ein Vorgängermuseum in der ,verlorenen Heimat‘ gegeben hat, vermittelt es ein hohes Maß an Authentizität. 66 Vgl. Piepmeier (1990): Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs. 67 Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen von Nora, Halbwachs, Lachmann oder Assmann. 63

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Funktionen eines Heimat(vertriebenen)museums Ein Heimatmuseum, oder wie hier ein Heimatvertriebenenmuseum, hat die Aufgabe, die Geschichte einer Stadt, einer Region, einer bestimmten Gruppe von Menschen zu kondensieren. Es sammelt und verwahrt Dinge, die mit dem Begriff ,Heimat‘ in Verbindung gebracht werden. Es ist ein Ort des Aufbewahrens. Wie andere klassische Museen orientiert sich auch das Heimatmuseum immer am Material. Es ordnet und arbeitet objektbezogen. In ihm sind die Dinge musealisiert und institutionalisiert. Bewegungslosigkeit und Gegenwartsbezogenheit sind markante Faktoren der Präsentation. Hier wird Vergangenheit ausgestellt und die Möglichkeit zur Erinnerung angeboten. An diesem Ort, der vor allem die Nostalgie fördert und nicht den sachlichen oder sozialkritischen Blick schult,68 wird dem Vergangenen nachträglich Bedeutung verliehen. Überträgt man Henri Pierre Jeudys Ansicht, ein Museum sei ein Ort, an dem ein „Szenario der Erinnerung“69 geschaffen werde, und an dem es die Möglichkeit gäbe, kollektive Erinnerung zu erlangen, auf ein Heimatmuseum, heißt das konkret, dass aus den Objekten, die ,Heimat‘ repräsentieren sollen, eine symbolische Ordnung erschaffen wird, aus der jeder Betrachter seine eigenen Erinnerungen und semiotisch konstruierten Konnotationen herauslesen kann.70 Im Heimatmuseum wird ein trügerisches Bild von ,Heimat‘ erzeugt, welches die Realität nicht erschaffen kann. Betrachtet man die neu versammelten und geordneten Dinge – die musealisierte ,Heimat‘ in ihrer präsentierten Gesamtheit –, so stehen diese für ein imaginäres Ganzes und übernehmen eine metonymische Funktion.71 Die Bedeutung der ausgestellten Dinge eröffnet sich durch ihre Verknüpfung zur verlorenen ,Heimat‘, zu einer Gesellschaft und ihrer Kultur, die es nicht mehr gibt. Das Heimatmuseum in Egenlund wird zu einem Sehnsuchtsort, an welchem die differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zweitrangig ist: [D]er Tag der Eröffnung war für einige Landsleute eine Gelegenheit zu träumerischer, zu heimlicher Rückkehr in die verlorene Stadt. Wir hatten das Gefühl unter uns zu sein, unter einer Decke zu stecken, wir hatten das Gefühl über etwas zu verfügen, was nur uns allein gehörte, ein unteilbarer Besitz an Zeichen und Gewohnheiten. (HM 604)

68 Vgl. Jeggle (1994): Heimatmuseum, S. 115. 69 Vgl. Jeudy (1987): Welt als Museum. Diesen sehr treffenden Begriff wählt allerdings Eva Sturm in ihren Ausführungen zu Jeudy. In: Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 96. 70 Jeudy (1987): Welt als Museum. 71 Vgl. Stewart (1993): On Longing. 64

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In diesem Bewusstsein des kollektiv geteilten Schicksals werden die Museumsdinge, denen eine Mehrfachdeterminierung zugesprochen werden kann, eindimensional gedeutet; einzig die ,verlorene Heimat‘ wird aus ihnen herausgelesen. Rogallas Museum markiert also Verluste und bietet zugleich eine Kompensationsoption.72 In seinem ambivalenzfreien Raum scheint der Wunsch nach einer Rückkehr – wenn auch nur einer imaginären – an den verlorenen Ort möglich.

Die Zerstörung der Sammlung zum ,Schutz‘ der Sammlung Heimatlosigkeit Max Frisch fragt in seinem IX. Fragebogen: „Was macht Sie heimatlos?“ und nennt unter anderem die Option „b. Vertreibung aus politischen Gründen?“ und „d. daß Sie in zunehmendem Grad anders denken als die Menschen, die den gleichen Bezirk als Heimat bezeichnen wie Sie und ihn beherrschen?“73 Anhand der Fragestellung und den genannten Optionen für eine Antwort, lässt sich ein Einstieg in den existenziellen Konflikt finden, welcher sich zwischen den Figuren Rogalla und Karrasch entspinnt. Denn die politisch motivierte Vertreibung ist für beide der Grund, warum sie ihre erste, ihre reale ,Heimat‘ verloren haben und zugleich ist es ihre gemeinsame Kindheit in Lucknow und ihre Freundschaft, aus welcher sich viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden ableiten lassen.74 In vielen Punkten herrschen biografische Übereinstimmungen zwischen den Figuren: Sie fühlen sich als Autochthone, deren

72 Vgl. dazu Fliedl (1988): Musealisierung und Kompensation. 73 Max Frisch: Fragebogen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 76-77. [1972] 74 Mit dem Status und der Problematik von Heimatvertriebenen befassen sich nicht nur politische, soziologische und historische Schriften. Auch in philosophischen, literarisch-essayistischen Texten finden sich viele Gedanken zu diesem Thema. Jean Améry äußert sich beispielsweise über Heimatvertriebene: „Sie verloren ihren Besitz, Haus und Hof, Geschäft, Vermögen oder auch nur einen bescheidenen Arbeitsplatz, dazu das Land, Wiesen und Hügel, einen Wald, eine Stadtsilhouette, die Kirche, in der man sie konfirmiert hatte.“ In: Améry (1977): Wieviel Heimat, S. 75-76. Oder: „Der deutsche Ostflüchtling weiß, eine fremde Macht hat ihm sein Land genommen.“ In: Améry (1977): Wieviel Heimat, S. 86. Vgl. ebenfalls: Heinrich Böll: Heimat und keine. Schriften und Reden 1964-1968. München: dtv 1985. 65

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Handlungen innerhalb und außerhalb der ,Heimat‘ von ihrer Beziehung zur und durch ihr Verständnis von ,Heimat‘ geleitet wird.

Die Umkehrung der Heimatauffassungen Genau wie für Zygmunt Rogalla bedeutet Masuren auch für Conny Karrasch ,Heimat‘. Beiden Figuren war die ,Heimat‘ Gewohnheit, während sie in ihr wohnten. Während der junge Conny Karrasch jedoch bewusst alles ablehnte, was den Begriff ,Heimat‘ umspannte, lebte Zygmunt Rogalla wie sein Onkel Adam in Traditionen und Ritualen. Conny Karrasch verachtete „die kalbsäugige Andacht der Mitglieder des Lucknower Heimatvereins, die schon aus ihren Blicken sprach, wenn sie nur eine masurische Birke betrachteten; weil sie aus dem Heimatgedanken eine Religion machten“. (HM 232) Doch nach dem Verlust ihrer ,Heimat‘ und dessen, was sich daran knüpft – Jean Améry nennt es die Lesbarkeit von Zeichen, das Beherrschen der Dialektik von Kennen-Erkennen, Trauen-Vertrauen und das Gefühl, nichts Fremdes zu fürchten75 – verkehren sich ihre die Ansichten über ,Heimat‘ in ihr Gegenteil. Aus dem früheren Rebell Conny Karrasch, den das Gefühl des ,Herauswehs‘ beherrscht hat während er in Lucknow lebte, der sich wünschte, gemeinsam mit seiner Schwester Edith und seinem Freund Zygmunt nach „Haparanda“ (HM 196)76 zu flüchten, ist ein Mensch geworden, der sich „jeder Gegenwart überlegen fühlt“, sie zur „tote[n] Ebene“ erklärt und dem alles willkommen ist, „was ihn darin bestätigt, weiterhin das Vergangene zu bewohnen“. (HM 624) Den Grund dafür erkennt Rogalla in Karraschs Kriegsgefangenschaft; sie trennte den Freund von allem Vertrauten und ließ die bisher als lästig empfundene, selbstverständliche ,Heimat‘ unerreichbar werden. „Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“77, hat Jean Améry formuliert, und verliert man sie, so könnte man daran anschließen, dann kann ein Bedürfnis nach ihr geweckt werden. Als ein ungarischer Mitgefangener nach Conny Karraschs Beschreibungen den Ort „seiner Hingehörigkeit“, „den gewohnten, heimatlichen Winkel, den Ausschnitt, den keiner vergißt“ zeichnet und Conny Karraschs Heimatbild – „den 75 Vgl. Améry (1977): Wieviel Heimat, S. 81-84. 76 Der vollständige Satz lautet: „[V]ielleicht träumte er damals schon von einer rigorosen Lösung: er war fertig mit Lucknow und übertrug alle seine Hoffnungen auf Haparanda, das er wohl auf einer Photographie gesehen hatte, das schwedische Haparanda, da, wo in Sichtweite der nördlichste Leuchtturm des Landes stand.“ (HM 196-197) 77 Améry (1977): Wieviel Heimat, S. 81. 66

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Schloßberg und die sieben Kiefern“ (HM 613) – rasch skizziert, wird dieses Bild von ,Heimat‘, zu einer „seelischen Plombe“78, die das kompensiert, was der Held im Jetzt entbehrt. Während der Zeit seiner Gefangenschaft vollzieht sich für den Protagonisten eine zweifache Verschiebung der Heimatauffassung; er wehrt sich nicht mehr länger gegen die ,Heimat‘ und ihre List, mit der sie ihn ,einwickelt‘. Er geht ihr, wie Paul Celan es einmal ausgedrückt hat, „ins Garn“.79 Er klammert sich an die ,Heimat‘, die ihm aus der Distanz zur Projektionsfläche geworden ist, zu einer „Besänftigungslandschaft“80, zu einem identitätsstiftenden Ort mit ideologischem Überbau. Aus dem Widerstandskämpfer mit sozialliberaler Haltung entwickelt sich ein konservativer Reaktionär, der in den revanchistischen Ideen und Forderungen des Lucknower Heimatvereins81

78 Ecker verweist unter Bezugnahme auf Paul Parin darauf, dass Heimat in der Psychoanalyse das Bild einer „seelischen Plombe“ erhält, die dazu dient, Lücken auszufüllen, unerträgliche Träume aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken. In: Ecker (1997): Heimat, S. 19. 79 Paul Celan: „Niemandsrose“. In: Ders.: Sprachgitter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 32002, S. 16. 80 „Heimat ist hier Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des eigenen Lebens voll ausgeglichen werden, in dem aber auch die Annehmlichkeiten des eigenen Lebens überhöht erscheinen: Heimat als ausgeglichene, schöne Spazierwelt. [...] Heimat als Besänftigungslandschaft, in der scheinbar die Spannungen der Wirklichkeit ausgeglichen sind.“ In: Bausinger (1986): Heimat in einer offenen Gesellschaft, S. 96. 81 In ihrer Charta vom 5. August 1950 formulieren die deutschen Heimatvertriebenen eine Absage an jede Vergeltung und geloben, einen Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands und eines geeinten Europas zu leisten. Sie bringen ferner zum Ausdruck, dass sie sich zum Recht auf Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit bekennen und bekräftigen, dass sie sich praktischen Aufgaben widmen, bis eine freiheitliche und föderale europäische Ordnung verwirklicht worden sei. Der Terminus des „Rechts auf die Heimat“ wird in Otto Kimminichs völkerrechtstheoretischer, dogmatischer Schrift Das Recht auf die Heimat. Zur Heimatproblematik der Heimatvertriebenen dargelegt. Kimminichs Schrift fußt auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einem Verständnis von Recht im objektiven Sinn als die Summe aller Rechtsregeln eines bestimmten Sachgebiets und dem des Rechts im objektiven Sinn, womit der einem bestimmten Rechtsträger zustehende Rechtsanspruch bzw. dessen Berechtigung gemeint ist. Dabei müsse, so Kimminich, immer das Menschenrecht und die Menschenwürde berücksichtigt werden. Die Wendung „Das Recht auf die Heimat“ will er im subjektiven Sinn verstanden wissen. Wobei die Formulierung „die Heimat“ den Anspruch auf einen konkreten geografischen Ort, so Kimminch, kennzeichne. Vgl. Kimminich (1989): Recht auf die Heimat, 67

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einen Ort findet, an dem seine individuellen Sehnsüchte ihren ideologisch formulierten Ausdruck erfahren. Mit Vehemenz widmet er sich dem Vorhaben, die Heimat so zu bewahren wie er sie 1945 verlassen hat und formuliert politisch rechts außen stehende Forderungen: [V]erloren sei die Heimat erst dann, wenn sie verschwiegen werde oder wenn sich niemand mehr ihrer erinnerte. Heimat wollte er [Conny Karrasch, Anm. M. W.] als Ort der unausgesprochenen Verbindungen verstanden wissen: Verbindungen zu Brauchtum, Sprache, Landschaft und zu den erkennbaren Leistungen vergangener Generationen; hier sprach er von Heimatstolz. Wem sie genommen werde, die Heimat, der sei ärger dran als irgendein vom Elend Betroffener, meinte er und fand zu dem Bild vom ,schwankenden Rohr, das jeder Sturm zerknickt‘, und wem an der Erhaltung des Friedens gelegen sei, der müsse ein ,Recht auf Heimat‘ anerkennen. (HM 593-594)

Conny Karrasch erklärt das Heimatmuseum und seine Sammlung zu einem materiellen „Beweis der Treue zur […] vorübergehend verlorenen Erde [...]“, dessen „stille Zeugen“ in stummer Anklage all diejenigen anblicken, „die das verlorene Land nicht nur als Beute, sondern als zurückeroberte Erde“ (HM 601) betrachten. Während für Conny Karrasch das Museum zunehmend an Bedeutung gewinnt, um das „Recht auf Heimat“ einzufordern,82 ist es für Zygmunt

S. 7-19. Er folgt der Charta und argumentiert aus der Perspektive der evangelischen Theologie. So wird die Frage, was unter dem Recht auf die Heimat zu verstehen sei, aus dem juristischen, sachlichen Bereich in einen irrationalen oder, wie Kimminich sagt, transzendentalen überführt. Sein Hauptargument richtet sich hier vor allem nach der Vorstellung, dass der Mensch von Gott in (s)eine Heimat hineingesetzt worden sei und nur er sie dem Menschen auch wieder nehmen könne. Jegliche Bedenken, die auch seitens der evangelischen Theologen geäußert und in der Frage formuliert wurden, welchen Anteil das eigene Handeln im Sinne des Nationalsozialismus der Bewohner der ehemaligen ostdeutschen Gebiete zwischen 1933 und 1945 gehabt und ursächlich zur Vertreibung beigetragen habe, werden von Kimminich mit dem Argument, dass es völkerrechtlich keine Kollektivschuld gebe, verurteilt. Kimminich, S. 49-64. Seine Ausführungen schließt er mit einer Unverständnisbekundung darüber, dass die „bloße Bezeichnung ,Recht auf die Heimat‘ […] wütende Reaktionen hervorruft.“ In: Kimminich (1989): Recht auf die Heimat, S. 200. 82 Oder um mit Schlinks Worten zu sprechen: „Der Punkt, an dem die Verstrickung droht, ist das Recht auf Heimat. Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, und richtig verstanden ist es auch eine. Falsch verstanden ist es dagegen Ideologie und eine Treibkraft für die neuen nationalen und ethnischen Konflikte. Richtig verstanden ist das Recht auf Heimat das 68

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Rogalla keine Option mehr, welche das Versprechen halten kann, die Vergangenheit so darzustellen wie er sie wirklich erlebt hat. Den bereits zur Zeit des Nationalsozialismus angedachten Schritt, die Sammlung eher zu destruieren als einen indoktrinierenden Zugriff auf sie zu erlauben, führt er nun zu Ende und fasst den Entschluss, sie vollkommen zu zerstören. Die Bedrohung ist groß, da sie von einem Menschen ausgeht, der Rogallas Auffassung nach Teil der masurischen ,Heimat‘ ist. Aus seiner Perspektive gefährdet Conny Karrasch das Andenken an die ,verlorene Heimat‘ durch die Idee, Reschat, einen bekennenden Nationalsozialisten zur Zeit des Dritten Reichs, zum „Sprecher des Lucknower Ältestenrats“ (HM 638) und „Vorsitzenden des Lucknower Heimatvereins“ (HM 654) zu machen: Im Geist sah ich sie am runden Tisch sitzen [...] in unfaßbarer Eintracht, zusammengeführt nur und verbunden durch die Gemeinsamkeit ihrer Herkunft – Entkommene, die auf den Grund erfahrener Zeit tauchten, um liebgewordene Ge-

Recht auf einen Ort, an dem man arbeitet, Familie und Freunde hat. Dieses Recht ist alles andere als Ideologie. Es ist, wie Hannah Arendt überzeugend dargelegt hat, das Menschenrecht schlechthin. Es geht allen Rechten auf Freiheit, Gleichheit und Glück voraus. Es ist das Recht auf anerkannte Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft, ohne das die anderen Rechte nichts wert sind und das Leben in der Wohnung und bei der Arbeit, mit der Familie und den Freunden prekär bleibt.“ In: Schlink (2000): Heimat als Utopie, S. 40. Auch bei Heinrich Böll findet sich eine dezidierte Ablehnung einer Forderung wie sie die Figur Karrasch vertritt: „Was mir in der Charta der Heimatvertriebenen auffällt, ist die Definition des Rechtes auf Heimat. Das halte ich für eine lebensgefährliche Sache. Natürlich hat der Mensch ein Recht auf Heimat. Aber wenn es noch metaphysisch verankert wird in Beziehung zu Gott und Christentum […] halte ich das geradezu für lebensgefährlich; nicht nur politisch, sondern auch theologisch für falsch. Denn nach allen alttestamentarischen und neutestamentarischen Definitionen sind wir Fremdlinge auf dieser Erde sowieso. Wir können also nur halbwegs hier zu Hause sein. Ich glaube, daß wir dieses Recht auf Heimat zu definieren versuchen sollten.“ In: Mitscherlich (1971): Hauptworte – Hauptsachen, S. 29. Außerdem warnt Böll auch davor, zu erklären, dass das Recht auf Heimat im geografischen Sinne vererbbar sei, denn dies könne politisch gefährlich werden. Vgl. Mitscherlich (1971): Hauptworte – Hauptsachen, S. 33. Und er fordert: „Es ist allerhöchste Zeit, damit anzufangen und den Heimatbegriff der Heimatvertriebenen im institutionellen Sinne als museal zu erklären. Die Vererbbarkeit der Heimat im geografischen Sinne halte ich für eine Absurdität, die öffentlich von allen politischen Instanzen so bald wie möglich abgestritten werden sollte. In: Mitscherlich (1971): Hauptworte – Hauptsachen, S. 49. 69

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spenster zu wecken, um sich zu unterhalten bei der Beschwörung von Schatten. (HM 626-627)

Conny Karrasch, der „immer beweisen wollte, daß Heimat da ist, wo die gemütlichste Blindheit herrscht, die selbstgerechteste Blindheit“ (HM 120), und der seinen Freund Rogalla davor warnte, die Museumssammlung in die „Obhut völkischer Wächter“ zu geben und sie zu „nationalen Reliquien“ (HM 382) werden zu lassen, wird für den Museumsbesitzer zu einer Person, die zur „Entstellung“ und zum „Verlust“ (HM 603) der ,Heimat‘ beiträgt, indem sie die Aussagekraft der Museumsexponate durch eine rigorose Selektion und eine korrigierte Beschriftung verändert. Die Berichtigungen sollen darauf abzielen, das „Recht auf Heimat“ objektiv zu untermauern und damit gegen die „Ahnungslosigkeit“ (HM 644) angehen, welche die Ausstellung im Heimatmuseum Karraschs Meinung nach bisher postuliert. Er lässt Zygmunt Rogallas Einspruch, dass das Heimatmuseum seine „Privatangelegenheit“ (HM 646) sei, nicht gelten – denn die „Schenkungen und Leihgaben ließen […] sich nicht als Privateigentum behandeln“ (HM 646) – und er erklärt ihm, dass das Museum mittlerweile einem „öffentlichen Anspruch“ (HM 546-547) unterliege. Gemeinsam mit Reschat beschließt er schließlich, „eine Übernahme des Museums durch den Lucknower Heimatverein“. (HM 564)

Die Zerstörung des Museums Mit dem filternden Zugriff Conny Karraschs sieht Zygmunt Rogalla vor allem den Verlust des Emotionalen und Privaten einhergehen, der den Dingen ihre ,Stimme‘ raubt. In seinem Heimatmuseum besteht die Aufgabe des Besuchers nicht darin, die Einordnung der Dinge in ihren neuen, musealen Kontext zu berücksichtigen und entsprechend des neuen Ordnungsgefüges zu lesen, sondern hier sollen die Dinge kraft ihrer Zeugenschaft etwas Gegenläufiges bewirken. Sie sollen, quasi aus sich selbst heraus, genau den Kontext rekonstruieren, den sie verlassen haben. Aber bedenkt Zygmunt Rogalla dabei, so könnte man an dieser Stelle einhaken, dass jeder Betrachter mit seinem eigenen Heimatverständnis und seinen subjektiven, individuellen Erfahrungen und Erinnerungen rezipiert? Und wie weit müsste man in der pädagogischen Aufbereitung der Exponate gehen, wollte der Erzähler auch nur ein geringes Maß an Sicherheit darüber haben, dass die Rezeption der Ausstellung auf die Vorstellung von ,Heimat‘ hinausläuft, welche er selbst verfolgt? Die semantischen Neu- bzw. Umbewertungen der Dinge durch Conny Karrasch nehmen aus Zygmunt Rogallas Perspektive jedenfalls eine

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entscheidende Wirkung auf ihren ursprünglichen Kontext. Das Heimatmuseum stünde nicht mehr für die ,Heimat‘ und die Geschichte, die er bewahrt und erzählt wissen will. Da sich die Exponate nicht wehren können und sie den Zugriffen der vereinnahmenden Ideologen ausgesetzt wären,83 übernimmt Rogalla die Funktion ihres Beschützers und wehrt durch die Brandstiftung jeden weiteren aktiven, missbrauchenden Zugriff auf sie ab.

Das Errichten eines ,Textmuseums‘ î erste und endgültige Selektionszustimmung Ihre Signifikanz gibt der Erzähler den zerstörten Dingen durch seine Erzählung zurück. Nach ihrer materiellen Dekonstruktion errichtet er die Dinge erneut durch Sprache, durch die Materialität die der Text vermittelt, und konstituiert ein imaginiertes Heimatmuseum, in dem er seine ,Heimat‘ beheimatet. Genau wie die materiellen Objekte im Museum müssen auch die erzählten semantisiert und kontextualisiert werden. Wieder ist es der Erzähler, der die Dinge – so wie er sie bereits als Kurator bewegt hat – als erzählendes Subjekt nun in ein Narrativ einbindet und diskursiviert. Genau wie ein reales Heimatmuseum verfügt das erzählte Museum damit über Museumseffekte: Die Episoden werden zu Wortbildern, zu ,Heimat‘-Bildern. Durch das Erzählen seiner eigenen, erinnerten, subjektiven Sammlung versammelt Zygmunt Rogalla eine ihm bekannte Welt um sich. Er verschafft den Dingen einen Textraum, in dem sie so beschrieben werden können, wie er es sich wünscht. Das erzählte Heimatmuseum wird auf diese Weise zu einem Erinnerungstopos, der durch Dritte nicht mehr missbraucht werden kann, in dem der Erzähler aber sein Anliegen, den Heimatbegriff zu rehabilitieren, konsequent verfolgen kann. Hier kann er dagegen angehen, dass

83 „Ein ganzes Bündel von Erfahrungen führt ihn zu dieser exemplarischen Entscheidung, das Museum zu zerstören. In diesem Augenblick, als er argwöhnt oder Grund hat zum Argwöhnen, daß ein Teil des Inventars in einen höchst problematischen Dienst genommen werden könnte, glaubt er, freie Hand genug zu haben, um die Dinge zerstören zu können. In diesem Augenblick, bis er dann zum Schluß feststellt, daß es sich ohne sie nicht leben läßt, denn alle diese Dinge sind unerläßlich für die Lebensgründung.“ In: Siegfried Lenz: „,Mein Buch ist ein geschriebenes Heimatmuseum‘. Von der aufklärerischen Funktion der Dichtung“. In: Kulturpolitische Korrespondenz 357, 8, S. 8. [5.12.1978] 71

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die Stimmen der Vergangenheit leiser und leiser und schließlich unhörbar werden könnten, und daß der Wunsch, zu den Beweisen des Ursprungs heimzukehren, nur denen nicht als chimärisches Unternehmen vor[kommt], die das Verlorene einst in ihrem Besitz gehabt hatten. (HM 628)

Die Zerstörung des Museums stellt eine letzte – endgültige – Umordnung der Sammlung dar; sie wird aus der Realität entfernt, im Gedächtnis des Erzählers wieder aufgestellt und in der Erzählung zu einem neuen, dritten Heimatmuseum geordnet. Das Gedächtnis beherbergt die Erinnerung an die zerstörten Museumsexponate, die ihm in seiner Erzählung zu imagines agentes werden, an denen er sich orientiert und die ihm dabei helfen, die passenden Geschichten zu den Dingen zu finden. Der Kurator Zygmunt Rogalla wird zum Erzähler der erinnerten Heimatepisoden und stellt sie in seinem erzählten Heimatmuseum aus. Ihre schriftlich fixierten Ausformungen lassen den Text – genau wie ein Museum – zu einem topologischen Raum werden, der durch ein Ordnungsprinzip strukturiert wird; hier ist es die chronologische Aneinanderreihung der Episoden. Zygmunt Rogalla berichtet über die Vergangenheit der Dinge und ihre konkrete Verknüpfung mit den Schicksalen verschiedener Menschen – er spricht ihnen eine „reinere Existenz“ (HM 628) in seinem Gedächtnis zu: „unbeschädigt, ungefährdet“. (HM 628) Er gibt den Menschen in seinem erzählten Heimatmuseum ihren Platz und ermöglicht dadurch ihnen und sich selbst eine Rückkehr nach Lucknow. Ein Vorteil des erzählten Museums liegt in seinen Kompensationsmöglichkeiten: Hier kann der Versuch unternommen werden, die realen Verluste von Dingen, die während der Flucht abhanden gekommen sind, auszugleichen. In Zygmunt Rogallas imaginiertem Museum gibt es keine offensichtliche Selektion, wohl aber eine, die sich subtil auf mehreren Ebenen vollzieht. Zum einen ergibt sie sich durch die natürliche Selektion des Gedächtnisses, zum anderen durch die bewusste Auswahl an Geschichten, die der Erzähler den Dingen zuordnet. Aber innerhalb der Erzählung nimmt der Erzähler keine Wertung vor – kein Objekt wird besonders hervorgehoben und die erzählten Geschichten existieren gleichwertig nebeneinander. Zygmunt Rogalla, der den Rest der materiell existenten, real greifbaren ,Vergangenheit‘ Masurens vernichtet hat, muss feststellen, dass „nichts zerstört werden [kann], was in den festen Besitzstand der Erinnerung aufgenommen worden“ (HM 637) ist, und dass seine eigene, individuelle Erinnerung nicht auf die reale Existenz des Museums angewiesen ist: Die gehüteten Befunde sind zerfallen, die Spuren gelöscht. Die Vergangenheit hat zurückbekommen, was ihr gehört und was sie uns nur vorübergehend lieh. 72

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Schon aber regt sich das Gedächtnis, schon sucht und sammelt die Erinnerung in der unsicheren Stille des Niemandslands. (HM 655)

So steht am Ende der Geschichte der Blick zurück an ihren Beginn und damit die Einsicht des Erzählers, dass er sich so lange von seinen Gefühlen gegenüber seiner ,Heimat‘ und seinen Erinnerungen nicht befreien kann wie er ein intaktes Gedächtnis hat. Die Gegenstände, die in ihrer Gesamtheit für etwas Abstraktes – nämlich ,Heimat‘ – standen, werden aus ihrer musealen Verankerung gelöst und wieder als singuläre Objekte betrachtet, welche als Semiophoren auf eine persönliche Geschichte, innerhalb der sie eine Rolle gespielt haben, verweisen. Was die einzelnen Dinge erzählen sind historisch wichtige Ereignisse, Traditionen, alltägliche Begebenheiten und wichtige Lebensstationen. Sie alle verflechten sich für den masurischen Teppichweber84 Zygmunt Rogalla zu dem, was er als ,Heimat‘ empfindet.

84 Sonja Turks Beschwörung gegen die Vergänglichkeit zeigt eine Parallele zwischen der Arbeit eines Teppichwebers, der Präsentation einer Museumsausstellung und dem Akt des Geschichtenerzählens auf: „Ich mach se nich fier jemand, meine Teppiche, ich mach se jegen etwas, und wenn es die interessiert, was das is: de Verjänglichkeit. Ja, ich mach alle Teppiche jegen de Verjänglichkeit.“ (HM 213) 73

MARIE LUISE KASCHNITZ’ DAS HAUS DER KINDHEIT î DAS MUSEUM ALS ORT MEDIAL INSZENIERTER ERINNERUNGEN „O hüte dich der Kindheit nachzusinnen So schaurig ist’s im tiefen stillen Tal Der ersten Freude Glanz wirst du gewinnen Doch auch des ersten Grauen bittre Qual.“1

In Marie Luise Kaschnitz’ Roman Das Haus der Kindheit2 wird erzählt, wie eine Journalistin mittleren Alters in den Bann eines Museums, welches als fiktionale Ausgestaltung eines Gedächtnistopos verstanden werden kannt, gezogen wird. In seinem Inneren nähert sich die Hauptsfigur mit der Distanz einer Museumsbesucherin den vergessenen und verdrängten Erinnerungen an ihre Kindheit, die ihr durch verschiedenste ,Erinnerungsexponate‘ präsentiert werden. Der Unzuverlässigkeit der Bildungsinstitution, die sich in den ständig verändernden Räumen, immer neuen Exponaten und medialen Inszenierungen spiegelt, begegnet sie, indem sie sich außerhalb der Präsentations- und Rezeptionsebene im Museum setzt und sich zum observierenden Subjekt ihres eigenen Erinnerungsprozesses macht. Das Produkt dieser Beobachtungen ist ein Tagebuch, eine schriftliche Selbstvergewisserung, in dem das Museum zur zentralen Erinnerungs- und Gedächtnisfigur avanciert.

Konstruktion eines erdachten Museums î Konstitution eines Erinnerungsortes In Marie Luise Kaschnitz’ Roman Das Haus der Kindheit steht der Erinnerungsprozess der Protagonistin und Ich-Erzählerin im Mittelpunkt. Zu Beginn der Erzählung positioniert sich diese als realitätsbezogenen Men-

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Marie Luise Kaschnitz: „Kindheit“. In: Dies.: Überallnie. Gedichte. München: dtv 31999, S. 11. [1969] Marie Luise Kaschnitz: Das Haus der Kindheit. München: dtv 1995, S. 10. [1956] Im laufenden Text wird diese Angabe mit der Sigle HK zitiert. 75

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schen, der ein erfülltes Leben in der Gegenwart führt: Sie befindet sich in der „glücklichen Lage […] noch geliebt zu werden und, was noch wichtiger ist, noch selbst Liebe zu empfinden“. (HK 12) Ihre ablehnende Haltung gegenüber der Vergangenheit – „[d]aß man lebt, kann einem nur die Gegenwart bestätigen, die Vergangenheit nie“ (HK 86) – unterstreicht sie, wenn sie die Haltung ihrer Freundin Eva, dass man sich „zu irgendeiner Zeit seines Lebens […] mit seiner Kindheit beschäftigen“ (HK 12) müsse, dezidiert ablehnt. Denn sie stecke, so führt sie in diesem Zusammenhang aus, in keinen „besonderen Lebensschwierigkeiten“ und müsse diese auch nicht „mit einer Erforschung der Vergangenheit aus dem Wege“ (HK 12) räumen. Die Journalistin tritt als souveräne Erzählerin und ernst zu nehmende Beobachterin auf und erzeugt im Leser Vertrauen für die Schilderungen ihrer Erlebnisse im „Haus der Kindheit“. Obwohl sie ihrem sozialen Umfeld gegenüber eine Vergangenheitserforschung dezidiert ablehnt, gesteht sie sich selbst gegenüber ein: Die Sache ist die, daß mich schon das Wort Kindheit einigermaßen nervös macht. Es ist erstaunlich, an wie wenige Dinge aus meiner Kindheit ich mich erinnere und wie ungern ich von andern an diese Zeit erinnert werde. Wo im Gedächtnis der meisten Leute eine Reihe von hübschen Bildern auftaucht, ist bei mir einfach ein schwarzes Loch, über das zu beugen mich trübe stimmt. Ich nehme an, daß dieses Vergessen eine bestimmte Ursache hat. Außerdem hinterläßt ohnehin jeder Gedanke an Vergangenes in mir einen üblen Geschmack. (HK 10)

Auf die Erinnerungen an ihre Kindheit scheint die Erzählerin zunächst keinen Zugriff zu haben: Statt „hübsche[r] Bilder“ zeigt sich lediglich ein „schwarzes Loch“, wenn sie sich an ihre Kindheit zu erinnern versucht. Diese Leerstelle – Metapher für das Vergessen – wird im weiteren Verlauf des Geschehens produktiver Ausgangspunkt für das Erinnern und das Erzählen, in dessen Mittelpunkt ein imaginiertes Museum steht, welches den Platz des Vergessens einnimmt und das „schwarze Loch“ mit ,lebendigen‘ Kindheitserinnerungen füllt. „Ohne zu vergessen ist der Vorgang des Erinnerns nicht möglich“3, sagt Aleida Assmann und beschreibt das Erinnern und das Vergessen damit als Komplizen, deren Zusammenspiel einen Erinnerungsprozess überhaupt erst möglich machen.4

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Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 2003, S. 28. Siehe dazu auch Assmann (2003): Erinnerungsräume, S. 27-33. Assmann bezeichnet das Vergessen als „Komplize des Erinnerns“. Sie sieht sowohl das Erinnern als auch das Vergessen in der Psychomotorik des Erinnerns „untrennbar ineinandergreifen“. Vgl. dazu ebenfalls: Harald Weinrich: 76

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Für das Erinnern, den aktiven und selektiven Zugriff auf das Gedächtnis, ist das Einlagern von Geschehen, Erleben und Wahrnehmung im Gedächtnis eines Menschen Voraussetzung. Auch Henri Bergson stellt in seiner Abhandlung Materie und Gedächtnis die Frage nach dem Konnex von Erinnern und Vergessen und hält die Schwierigkeit, sich „Erinnerungen zu denken, die im Dunkeln erhalten bleiben“5 für ein Ergebnis eines „Fundamentalgesetzes des Lebens“.6 Nach seiner Auffassung erhelle das Bewusstsein nämlich immer nur den Teil der Vergangenheit, der auf die Zukunft gerichtet sei, und arbeite daran, sie zu verwirklichen und sie sich anzufügen. Dies führe dazu, so Bergson, dass der Hauptteil des Bewusstseins damit beschäftigt sei, eine noch unbestimmte Zukunft zu bestimmen. Ein weiterer, sehr geringer Teil erhelle zudem diejenigen Ereignisse in der Vergangenheit, die mit der Gegenwart in einer nützlichen Verbindung stünden. Das Übrige bleibe im Dunkeln. Die Abneigung des Menschen, das unveränderte Weiterleben der Vergangenheit zuzugeben, erkläre sich durch sein Interesse, zu beobachten, was gerade in der Gegenwart geschehe, aber nicht, was schon vollständig abgelaufen sei. Dies wiederum hänge mit der Richtung seines Seelenlebens zusammen, das sich als ein Ablauf von Zuständen darstelle.7 Die Erinnerung an die eigene Kindheit, über die der erwachsene Mensch wisse, dass es sie gegeben haben muss, werde dadurch aber noch nicht (be-)greifbar. Warum die Journalistin gerade ein Museum an dem Ort in ihrem Gedächtnis errichtet, an dem sich bisher das „schwarze Loch“ befunden hat, lässt sich mit Karl-Josef Pazzini erklären, der von Museen als Institutionen „gefahrlose[r] Präsenz“8 spricht, in denen oftmals negativ besetzte Inhalte und Erinnerungen an vergangenes Geschehen zwar gesammelt und geordnet werden, dadurch jedoch gleichzeitig ab- bzw. ausgegrenzt werden: „Man weiß, etwas ist anwesend, aber doch entfernt und unter Kontrolle. […] Im Museum kann man die eigene Unordnung abwehren,

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„Die Sprache des Vergessens“. In: Ders.: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 32000, S. 11-20: 18. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S. 145-146. [Das Original erschien 1896 unter dem Titel Matière et mémoire in den Presses Universitaires de France in Paris.] Bergson (1991): Materie und Gedächtnis, S. 145-146. Bergson (1991): Materie und Gedächtnis, S. 145-146. Karl-Josef Pazzini: „Tod im Museum. Über eine gewisse Nähe von Pädagogik, Museum und Tod“. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen: Klartext 1990, S. 83-98: 93. 77

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bzw. Angstreste stabilisieren.“9 Liest man Kaschnitz’ Roman auf der Folie dieser Überlegungen, verspricht der erdachte Museumsraum für die Protagonistin einen ,gefahrlosen‘ Ort, an dem sie sich positive und negative Erinnerungen an ihre Kindheit präsentieren kann. Zugleich liefert dieser Gedanke einen Grund dafür, dass die Wahl der Raumextension gerade auf ein Museum – einen Ort, an dem kulturelle Logiken des Dinggebrauchs und die Subjektwerdung durch Objekte verhandelt werden – gefallen ist, und nicht auf eines der anderen zahlreichen Bildfelder innerhalb der Erinnerungs- und Gedächtnisdebatte.10 Die Errichtung des erdachten Museums bedeutet einen intentionalen Akt, der den inneren Widerwillen überwinden soll. Der architektonisch konkrete Memorialraum wird zum Vehikel, über welches sich die Heldin Zugang zu den vergessenen, im Dunkeln liegenden Kindheitserinnerungen verschafft. Auf der Handlungsebene ermöglicht er die Erzählbarkeit eines komplexen psychischen Vorgangs. Die außerhalb des handelnden Ich gesetzte Museumsfiktion bietet dem Subjekt die Option, auftauchende Erinnerungen dort auszustellen und gleichzeitig zu rezipieren. So erschafft sie die Möglichkeit einer Begegnung zweier divergierender Ich an einem künstlich errichteten Ort: die des erlebenden erwachsenen mit seinem erinnerten kindlichen.11 Es wird jedoch nicht wie in der Kurzgeschichte „Das dicke Kind“12, deren thematische Ausweitung das Haus der Kindheit darstellt, die Begegnung der erwachsenen Heldin mit ihrer kindlichen Vorgängerin durch die Metapher der Konfrontation zweier Menschen verschiedenen Alters evoziert.13 Vielmehr schiebt sich das erdachte Museum zwischen Er-

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Pazzini (1990): Tod im Museum, S. 93. Auch Henri Pierre Jeudy sieht Museen als Orte an, deren Funktion es ist „Ängste zu neutralisieren, die aus zerfallenden Strukturen, aus der Unfruchtbarkeit oder dem Verschwinden von Identitätsspuren herrühren“. In: Henri Pierre Jeudy: Die Welt als Museum. Berlin: Merve 1987, S. 7. Vgl. dazu Pazzini (1990): Tod im Museum. Vgl. dazu: „Wie im Hadeka überhaupt immer beides, das Gefühl der Gefangenschaft im Nochkindsein und die Angst vor dem Erwachsenwerden, nebeneinander besteht.“ (HK 76) Marie Luise Kaschnitz: „Das dicke Kind“. In: Dies.: Das dicke Kind und andere Erzählungen. Krefeld: Scherpe 1951, S. 5-13. In der Kurzgeschichte „Das dicke Kind“ geht es vor allem um die Auseinandersetzung der Erwachsenen mit ihrem kindlichen Ich. Die Schriftstellerin, das erlebende erwachsene Ich, „erkennt in ihm [dem Kind, Anm. M. W.] sich selbst in einer mühsamen und qualvollen Phase ihrer Entwicklung“. In: Elsbeth Pulver: Marie Luise Kaschnitz. München: C. H. Beck 1984, S. 50. In dieser Erzählung wird keine analytische Betrachtung vorge78

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wachsene und Kind und avanciert zum Austragungsort der Erinnerungsarbeit der Protagonistin. Auf der narrativen Ebene wird dieser Schritt der Hauptfigur als eine Situation geschildert, der sie sich nicht widersetzen kann, denn das Museum begegnet ihr ungewollt in ihrem Alltagsleben als eigenständiges und mächtiges Subjekt, welches sie aufspürt und verfolgt: Ich habe eine schreckliche Entdeckung gemacht. Das Haus wandert. Als ich heute gegen Abend, allerdings in einem Zustand großer Ermüdung, zum Fenster hinaussah, lag unten nicht der kleine vertraute Rasenhof […]. Sondern etwas ganz anderes, von dem ich sofort wußte, daß es einen Teil des geheimnisvollen Hauses [dem Haus der Kindheit, Anm. M. W.] bildet oder aus diesem hervorgetreten war. (HK 14)

Das personifizierte Museum ist die psychologisch motivierte Antwort des erinnernden Ich auf das eigene Begehren, ,Licht in das Dunkel‘ seiner Kindheitserinnerungen zu bringen, welches sie so lange drängt, bis sie sich zu dem Entschluss durchringt: „Es wäre wohl besser das Haus einmal freiwillig aufzusuchen, als schließlich ein Opfer seiner sonderbaren Kunststücke zu werden. […] Bitte zeigen Sie mir nur die wichtigsten Räume würde ich sagen, ja viel Zeit habe ich nicht.“ (HK 15) Von dieser Zurückhaltung geprägt, stattet sie dem Museum einen ersten Besuch ab, welcher allerdings eine unerwartete Reaktion in ihr hervorruft: Den dringenden Wunsch, sich erneut an den Ort der Erinnerung zu begeben: „Ich weiß nur eines: ich muß wieder hin.“ (HK 72)14 Lässt sich das erdachte Museum anknüpfend an diese Überlegungen als eine Extension der Hauptfigur verstehen? Ein Antwort darauf liefert beispielsweise Franz Xaver Baiers phänomenologisch angelegte Studie, welche Räumen anthropologische Qualitäten zuschreibt. Folgt man seinen Überlegungen, ließe sich das Museum als eine solche Extension begreifen. Denn Räume, sagt Baier, können „aggressiv oder friedlich [manommen, die auf das Herausarbeiten psychologischer Details zielt, vielmehr brechen traumhafte Sequenzen in den Alltag und die Realität der Erzählenden ein. Das Thema der Selbstbegegnung wird ausdrücklich formuliert, wenn die am Ufer stehende Schriftstellerin auf das Gesicht des Kindes im Wasser hinunterblickt und sagt: „[I]ch [...] beugte mich über das Geländer und blickte in das weiße Antlitz unter mir, und wie ein Spiegelbild sah es mir entgegen aus der schwarzen Flut. [...], aber ich wußte, ich brauchte ihm nicht mehr zu helfen – ich hatte es erkannt.“ In: Kaschnitz (1951): Das dicke Kind, S. 9. Vgl. hierzu auch Lotte Köhler: „Marie Luise Kaschnitz“. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter der Gegenwart. Ihr Leben und Werk. Berlin: Erich Schmidt 1973, S. 153-167: 160. 14 Vgl. Ingeborg Drewitz: Zeitverdichtung. Essays. Kritiken. Portraits. Gesammelt aus zwei Jahrzehnten. Wien (u. a.): Europa 1980. 79

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chen], beeindrucken oder befreien“.15 Bezug nehmend auf Denkmodelle Martin Heideggers, Gilles Deleuzes und Félix Guattaris16 unterstellt er für den Menschen, dass dieser „seiner Verfassung nach selbst räumlich“ sei und sich deswegen „durch eine bestimmte Objektwelt einrichten und ausdehnen“17 könne. Für Baier bedeutet Erinnern keine Gehirnleistung, keine Datenabfrage. Das Gedächtnis sei der Mensch selbst in seiner „räumliche[n] Verfassung, als geschichtliche geschichtete Lebensgeschichte“.18 Im Erinnern sei der Mensch immer in den erinnerten Situationen selbst, weswegen er etwas nicht durch „Gehirnspeicherungen“19 behielte, sondern indem er sich in dem in ihm selbst existierenden Bezug aufhalte. Denn in der Erinnerung bestünden eben auch Geschmack, Stimmung, Licht, Gefühle und die eigene entsprechende Subjektivität. „Sich erinnern“, konstatiert Baier, „heißt dann, – wir sind zugleich hier und dort bei dem, woran wir denken. Und der, an den wir denken, ist uns näher als die unmittelbare Umgebung. Für diese Umgebung sind wir nicht da.“20 In Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit wird der Museumsfiktion noch ein zusätzlicher Raum, das Kaffeehaus, hinzugefügt: Für das erzählende Ich bedeutet es einen zum Museum gehörenden Annex, welcher alle existenziellen Bedürfnisse zu erfüllen vermag und so die optimalen Ausgangsbedingungen für die Erinnerungsarbeit der Heldin schafft. Genau wie das Museum wird das Kaffeehaus als ein von ihrem Alltagsleben separierter Ort geschildert: „Vor ein paar Tagen habe ich […] ein Kaffeehaus entdeckt […]. Es war sehr ruhig dort. […] Die Luft ist schlecht, aber es gibt kein Telephon, und von meinen Bekannten kommt gewiß niemand hin.“ (HK 25) Nachdem die Protagonistin den ersten Schritt gewagt und sich in das Innere des Museums und damit in die Tiefen ihres eigenen Gedächtnisses begeben hat, steigt die Frequenz ihrer Museumsbesuche, die ihren Ausgangpunkt in dem Kaffeehaus nehmen, stetig. Auf diese Weise entzieht sie sich mehr und mehr ihrer gewohnten, realen Umgebung und begibt sich in eine selbst gewählte Isolation:

15 Franz Xaver Baier: Der Raum. Köln: Walther König 22000, S. 9. 16 Vgl. hierzu Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 151979. [1927] und Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. 17 Baier (2000): Der Raum, S. 11. 18 Baier (2000): Der Raum, S. 56. 19 Baier (2000): Der Raum, S. 56. 20 Baier (2000): Der Raum, S. 56. 80

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Carl auf der Straße getroffen. Er wollte mich nach Hause bringen, aber da ich auf dem Weg in das Kaffeehaus war, lehnte ich seine Begleitung ab. Ich möchte nicht, dass er meinen jetzigen Aufenthaltsort kennt und mich womöglich dort eines Tages sucht, ich fürchte, daß sein Besuch mir ungelegen kommt und ich ihn merken lasse, daß er mich stört. […] Wir standen eine Weile zusammen, und obwohl ich mich darüber freute, daß es ihm offensichtlich gut ging, hatte ich zum ersten Mal in seiner Gegenwart das Gefühl, kostbare Zeit zu versäumen. (HK 35)

Der Rückzug der Protagonistin in einen inneren Raum, zu dem nur sie selbst Zutritt hat, schwächt ihren Bezug zur realen, gegenwärtigen Außenwelt21, die durch Carl repräsentiert wird. Die unermüdliche, selbst initiierte Konfrontation mit der eigenen, erinnerten Kindheit bestimmt primär den Tagesablauf. Ihrem eigenen Wunsch „nur […] einen flüchtigen Überblick“ (HK 15) über die Situation im Museum zu gewinnen, leistet sie keine Folge. Sie begibt sich in einen zeitaufwendigen Erinnerungsprozess, in dessen Mittelpunkt die bisher abgelehnte, sich jetzt in einem Gedächtnisraum allmählich ,erhellende‘ Vergangenheit steht.

Das Museum als Gedächtnisort und Topos der Erinnerung Das Museum als Ausformung eines konkreten Gedächtnisortes folgt dem Prinzip der Verräumlichung und damit einer Tradition, die ihre Wurzeln in der rhetorischen Mnemotechnik der Antike findet.22 Es ist eine von vielen Möglichkeiten metaphorischer Ausdeutungen von Gedächtnisvorstellungen und rekurriert auf das Bildfeld der Magazinmetaphern.23 Fran-

21 Vgl. Baier (2000): Der Raum, S. 30. 22 Vgl. dazu u. a. die folgenden Texte: Theodor Nüsslein (Hg.): Rhetorica ad Herrennium. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 165-181. [Mutmaßlicher Verfasser: Marcus Tullius Cicero. Lizenzausgabe des Artemis-Verlags in Zürich]; Marcus Tullius Cicero: De Oratore. Über den Redner. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Hg. v. Harald Merklin. Stuttgart: Reclam 21981, S. 351-357. [55 v. Chr.] sowie Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 586-607. (= Elftes Buch, Zweites Kapitel, Vers 1-51.) [ca. 90 n. Chr.] 23 Vgl. hierzu beispielsweise Harald Weinrich, der die Gedächtnismetaphern in Magazin- und Wachstafelmetaphern unterteilt. Weinrich (2000): Sprache des Vergessens, S. 15-18. 81

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ces Amelia Yates schreibt in ihrem Werk Gedächtnis und Erinnern24 über die antiken Gedächtnisorte, dass die Mnemonik vor allem architektonisch konkret ausgestaltete Räume präferierte, um das Faktengedächtnis des Orators zu verbessern und zu unterstützen.25 Ein Erinnerungsprozess, welcher durch das Einhalten strenger Regeln gekennzeichnet und darauf angelegt war, die eingelagerten Daten und Fakten vollständig aus dem Gedächtnis abzurufen.26 Dem Rhetor wurde empfohlen, imagines agentes in einem präzise ausgestalteten Ortssystem anzuordnen und während des Vortrags abzuschreiten.27 Der Frage, welche Prämissen und Motivationen zur Errichtung eines Gedächtnisortes führen, widmen sich auch Pierre Noras Forschungen zum kollektiven Gedächtnis und seine Forschungen zu der Verschiebung von den milieux de mémoire zu den lieux de mémoire.28 Der Konstitution eines Gedächtnisortes gehe der explizite Wunsch voraus, etwas im Gedächtnis festhalten zu wollen: „[D]ie Zeit anzuhalten, der Arbeit des Vergessens Einhalt zu gebieten, [...] dem Immateriellen Form zu geben [...], um das Höchstmaß an Sinn in einem Mindestmaß von Zeichen einzu24 Frances Amelia Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare Weinheim: VCH, Acta Humaniora 21991. [Das Original erschien 1966 unter dem Titel The Art of Memory in Chicago in der University of Chicago Press.] Yates beschäftigt sich mit der antiken Mnemotechnik unter völlig neuen Gesichtspunkten: Sie stellt die Frage, was mit der Gedächtniskunst im Mittelalter geschehen ist und beleuchtet die magischen und okkulten Gedächtnissysteme der Renaissance. 25 Yates (1991): Gedächtnis und Erinnern, S. 12. 26 Vgl. hierzu: Lachmann (1990): Mnemotechnik und Simulakrum, S. 19. 27 Vgl. hierzu Yates (1991): Gedächtnis und Erinnern, S. 12. Vgl. hierzu auch Cicero (1981): De Oratore. Cicero erzählt in seiner 55 v. Chr. veröffentlichten Rede die Geschichte des Chorlyrikers Simonides von Keos (557-467 v. Chr.) und macht diese Geschichte zur Gründungslegende der Mnemotechnik. Er sieht Simonides von Keos als den Erfinder der ars memoriae an. Weinrich (2000): Sprache des Vergessens, S. 21-25. 28 „Das Interesse an jenen Orten, an die sich das Gedächtnis lagert oder in die es sich zurückzieht, rührt von diesem besonderen Augenblick unserer Geschichte her. Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewußtsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellen läßt. Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.“ In: Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 1998, S. 11 und vgl. auch S. 7-8. [Das Original erschien 1984 unter dem Titel Les lieux de mémoire in den Èditions Gallimard in Paris.] 82

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schließen.“29 Die spezifischen Charakteristika von Gedächtnisorten lägen, so Nora, in ihrer „Fähigkeit zur Metamorphose“, dem „unablässigen Wiederaufflackern ihrer Bedeutungen“ und dem „unvorhersehbaren Emporsprießen ihrer Verzweigungen“.30 Zum Aufbau eines Gedächtnisortes bedürfe es außerdem zweier Dimensionen: der materiellen Dimension des Ortes – eingeschrieben in Raum und Zeit – und der symbolischen des Gedächtnisses als eines Gedenkens an Vergangenes. Lieux de mémoire seien Instanzen, die wahre Erinnerung unter der Bedingung der Diskontinuitätserfahrung des Subjekts bestätigen könnten und über eine Selbstreferentialität verfügten, die historiografisch nicht einzuholen sei.31 Die resurrectio des definitiv Vergangenen durch einen ebenso aktualisierenden wie aktuellen Erinnerungsvorgang bedürfe jedoch immer eines erinnernden Subjekts. Das „Haus der Kindheit“ kann als konkrete, architektonische Gedächtnisvorstellung gedacht werden, mit dem Zusatz, dass seine Parameter variabel sind. Denn im Gegensatz zu den antiken imagines agentes ist das Museum agil, ambig und inkonstant. Die Räume, in die der lieu de mémoire sich ausformt, verändern ihre Größe, Atmosphäre und Ausstattung und passen sich so den subjektiven Erinnerungen an. Außerdem verfügen die mnemonischen loci über die Fähigkeit des Verschwindens.32 29 Nora (1998): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 33. 30 Nora (1998): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 33. 31 „Sie lassen sich verstehen als die Instrumente einer modernen ars memoriae, einer ,kulturellen Mnemotechnik‘, durch die das ,kollektive Gedächtnis‘ in der Zeit seiner Gefahr stabilisiert und sein Überleben artifiziell gesichert werden soll.“ In: Klaus Große-Kracht: „Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs  Pierre Nora“. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands 47, 1, 1996, S. 21-31: 26-27. 32 Dieses Phänomen lässt sich auf der Folie von Sigmund Freuds „Notiz über den Wunderblock“ lesen, in welcher formuliert wird, dass alles Vergessene noch als ,anwesendǥ bzw. vorhanden, wenn auch nicht verfügbar gedacht werden kann. Und in der es heißt, dass jede Wahrnehmung ihre Spur hinterlässt, die sich in der Struktur des Subjekts und seinen impliziten Wissensstrukturen niederschlägt. Dabei ist zu beachten, dass ein Gegenstand wie die memoriae nicht ohne Metaphern zu denken ist. Das Museum, eine Magazinmetapher, ist ein statischer und schützender Speicher für Objekte. Die Exponate und medialen Performances im „Haus der Kindheit“ können dem weiten Bildfeld der Wachstafelmetapher zugeordnet werden, die Metaphern wie den „Wunderblock“ oder das Palimpsest etc. mitnennt. Sie modellieren den Prozess der Erinnerung als Aktualisierung eingespeicherter Daten. (Vgl. dazu beispielsweise Harald Weinrich: „Metaphora Memoriae“. In: Ders.: Sprache in Texten. Stuttgart: Klett 1976, S. 291-294 sowie 83

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Ein Vorgang, der den Erinnerungsprozess der Protagonistin, dem erinnernden Subjekt, nachhaltig bestimmt: „Der Eindruck der Unordnung und des Unernstes […] hat sich noch verstärkt. Als ob es sich um ganz windige, nur für kurze Verwendung gedachte Filmaufbauten handele, ist immer nur ein Raum vorhanden.“ (HK 29) Das fiktive Museum spielt mit den traditionellen Vorgaben der Institution Museum und unterwandert sie beispielsweise durch die Aufhebung einer dauerhaften Raumkonstante oder durch den Einsatz ungewöhnlicher Bildungsmaßnahmen: „Ich betrat heute ohne Angst […] das Haus. Zu meiner Überraschung wurde mir diesmal eine Aufgabe gestellt. Ich mußte […] die Finger ganz fest auf meine geschlossenen Augenlider pressen.“ (HK 34) Die im Haus der Kindheit entworfene Gedächtnismetaphorik rekurriert also zum einen auf die Speicherfunktion des Gedächtnisses, betont aber gleichzeitig den „grundsätzlich rekonstruktiven“33 Charakter von Erinnerungen. In ihnen kommt es ausgehend von der Gegenwart zu einer „Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung“.34 Denkt man sich das Gedächtnis als den Bestand, der sich aus den im Laufe der Zeit erlebten Ereignissen eines Menschen zusammensetzt, und Erinnerung als eine Auswahl, die aktuell aus diesem Vorrat getroffen wird, wird deutlich, dass im Moment des Erinnerns das im Gedächtnis Eingelagerte niemals als Ganzes herbeizitiert werden kann.35 In Marie Luise Kaschnitz’ Essay „Erdachtes Museum“36 í Hypotext für Das Haus der Kindheit í finden sich diese Gedanken bereits. In ihm

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Assmann (1991): Metaphorik der Erinnerung.) Freud nennt in seiner „Notiz“ drei wesentliche Faktoren, nämlich die Aufnahmefähigkeit, das heisst die Speicherung von Wissensdaten, die dauerhafte Bewahrung dieser Einschreibungen, in Form einer Dauerspur und das Verschwinden der Informationen auf der Oberfläche. In diesem Sinne lässt sich das Museum als Oberfläche und die unterschiedlichen medialen Ausformungen als auftauchende Erinnerungen an eben dieser verstehen, die dann aber wieder verschwinden. Vgl. dazu: Sigmund Freud: „Notiz über den ,Wunderblock‘“. In: Ders.: Psychologie des Unbewußten. Band II der Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000, S. 364-369. Assmann (2003): Erinnerungsräume, S. 29. Assmann (2003): Erinnerungsräume, S. 29. Vgl. Alois Hahn: „Inszenierung der Erinnerung“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 9, 2, 2000, S. 21-44: 23. Marie Luise Kaschnitz: „Erdachtes Museum“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Zweiter Band. Die autobiographische Prosa. Hg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1981, S. 159-161. [1955] 84

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spricht die Erzählerin von einer Sammlung „selten gewordene[r] Dinge“, welche sie „einmal gesehen und geliebt und als etwas Merkwürdiges und Kostbares“37 empfunden hat.38 Ihre „Kinderzeit“ dient ihr als Reservoir, als eine imaginäre „Fundgrube“, aus der sie während des „letzten Krieges eingebüßt[e]“39 Dinge auswählt. Doch die Erinnerungsfähigkeit der IchErzählerin ist beschränkt: „Leider ist es mir unmöglich, alle Stücke meiner Sammlung hier aufzuführen.“40 Dieser mangelnde Einfluss auf den Zugriff an Erinnerungen findet eine Parallele im Haus der Kindheit: „Hat das Museum nicht mehr gefunden oder nicht mehr zur Aufbewahrung bzw. der Wiederherstellung für würdig erachtet?“ (HK 103), fragt sich hier die Protagonistin und drückt dadurch vor allem ihre Machtlosigkeit aus. Bescheinigt man dem Gedächtnis wie etwa Alois Hahn die Qualität, dass sich dort Ereignisse gespeichert finden, die das erinnernde Subjekt nicht als „bloße Phantasie oder Erfindung“ empfindet, sondern als „wirkliche Gegebenheiten der Vergangenheit [...], auf die es aktuell zugreift“41, und folgt man Hahns Behauptung, dass seine ,Bestände‘ mal besser oder schlechter wiederzufinden seien, da sie sich vermehrten oder verminderten und das Subjekt über sie keine genaue Übersicht haben könne,42 dann bedeutet dies, dass eine willentliche Selektion von Erinnerungen nur in den seltensten Fällen möglich, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen als sei sie Gegenwart, dagegen unmöglich ist.43 Das Gedächtnis konserviert also über die Zeit und ermöglicht eine Differenz zwischen Geschehen und Erinnern, die vor allem die Produktivität und Selektivität von Erinnerungsvorgängen betont: Erinnerungen sind keine originalgetreuen Reproduktionen einer ursprünglichen Wahrnehmung, sondern sind sowohl informationserzeugend als auch reflexionsermöglichend und eingebettet in den sensomotorischen Prozess eines Lebens.

37 Kaschnitz (1981): Erdachtes Museum, S. 159. 38 Vgl. dazu: Tilmann Habermas: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Habermas geht in seiner Studie „den psychischen Dingrelationen vom Kleinkind bis zum Erwachsenenalter“ nach und kommt „zu dem Schluss, dass Dinge (als Selbstgefühl motivierende und zur Entwicklung einer räumlichen Identifikation bzw. Orientierung beitragende Objekte, als Symbole affektiver Beziehungen, als kulturelle Markierungen) wesentlich zur Identitätsbildung beitragen.“ In: Scholz (2004): Objekte und Erzählungen, S. 25. 39 Kaschnitz (1981): Erdachtes Museum, S. 159. 40 Kaschnitz (1981): Erdachtes Museum, S. 161. 41 Hahn (2000): Inszenierung der Erinnerung, S. 22. 42 Vgl. Hahn (2000): Inszenierung der Erinnerung, S. 22. 43 Vgl. Hahn (2000): Inszenierung der Erinnerung, S. 24. 85

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Das erinnerte Geschehen ist im Vergleich zum ursprünglichen Erleben durch Redundanz und gleichzeitig durch Varietät gekennzeichnet. Auf diesen Aspekt des Changierens nimmt Henri Bergson in Materie und Gedächtnis ebenfalls Bezug. Er trifft die Aussage, dass eine Leistung des Gedächtnisses darin bestehe, es mit „Zonen von Indeterminiertheit“44 zu versehen, die es dem Individuum ermöglichten, zwischen mehreren Situationsbewältigungen auszuwählen.45 Mittels einer Museumsanalogie schafft es das erinnernde Ich, die parallele Existenz von willentlich erzeugten und unwillentlich aufsteigenden Erinnerungen zu formulieren, und das ,Ausgeliefertsein‘ an sie plausibel darzustellen: Ich habe mir vorgenommen, täglich zu einer bestimmten Stunde in das Haus zu gehen. Etwa am Vormittag um elf Uhr, nachdem ich im Kaffeehaus gefrühstückt […] habe. Die Dauer des Besuchs festzulegen erübrigt sich, da man, wie ich bemerkt habe, keineswegs zurückgehalten, sondern jedesmal schon nach wenigen Minuten entlassen wird. (HK 31)

Im „Haus der Kindheit“ wird das Erinnerungserleben als intellektuell evozierter Prozess geschildert, für den die Merkmale der Zugänglichkeit, der Konservierung und der Auswahl von Erinnerungen eine primäre Bedeutung haben.46 Der Aspekt der Verfügbarkeit, der sich über die Schließung und Öffnung des Gedächtnisspeichers definiert í auf der inhaltlichen Ebene als Zutritt zum Museum respektive Verlassen des Museums dargestellt í, ist an die aktive Präsenz des erinnernden Ich gebunden. Denkt man sich das Museum als einen Speicher, in dem alle möglichen Kindheitserinnerungen eingelagert werden, dann wird durch den selektierenden Zugriff des erinnernden Subjekts aus ihm ein „Funktionsgedächtnis“. Dieser Gedanke lässt sich durch einen Rekurs auf Aleida Assmann erklären, die das „Speichergedächtnis als ein Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse“47 ansieht und ihm bescheinigt, dass es alle gesammelten Erlebnisse und Gedanken ohne die Zuweisung von Bedeutung nebeneinander aufbewahrt. Der selektive Zugriff auf das Depot und eine Einbindung von Erinnerungsepisoden in eine narrative Struktur wie sie im Haus der Kindheit in den Tagebuchaufzeichnungen zu finden ist, wird mit Assmann gesprochen zum bedeutungsstiftenden Akt des Subjekts: „Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die

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Bergson (1991): Materie und Gedächtnis, S. 145-146. Vgl. Bergson (1991): Materie und Gedächtnis, S. 145-146. Vgl. Assmann (1999): Erinnerungsräume, S. 344. Assmann (1999): Erinnerungsräume, S. 140. 86

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dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.“48 Auf diese Weise wird ein Teil des Speichergedächtnisses hervorgehoben und ,erleuchtetǥ sowie gleichzeitig ein individuelles Funktionsgedächtnis erzeugt.49 Auf der narrativen Ebene des Romans begleiten und fokussieren drei Ordner, die „in das Ganze eine intellektuelle Note“ (HK 64) bringen, den Erinnerungsprozess der Protagonistin im Museum. Mittels dieser Figuren werden verschiedene Erinnerungsmodi erzählt: „Es gibt drei Ordner, von denen man sich begleiten lassen kann. Den Wunsch nach einer solchen Begleitung äußert man, indem man auf einen Knopf drückt, wobei man jedoch eine bestimmte Person nicht verlangen darf.“ (HK 36) So sind dem blinden Ordner Nr. 1 beispielsweise die visuellen Reize eines Museums nicht zugänglich: „Der Ordner Nr. 1 […] ist blind. Ich muß ihm sagen, was ich sehe, und dann gibt er dazu seine Erklärung ab.“ (HK 36) Die im Museum primär geforderte visuelle Wahrnehmungsebene wird durch das Ersuchen des Ordners, Betrachtungen in Sprache zu übersetzen, erweitert. Ordner Nr. 2 steht für einen weiteren Erinnerungszugang. Er symbolisiert die externen Quellen und medial aufgearbeiteten Informationen über die allgemeinen geschichtlichen, politischen und sozialen Bedingungen der Kinderzeit der Heldin. Seine Aufgabe besteht zudem darin, dem erinnernden Ich schwierige Begriffe und Zusammenhänge zu erläutern: „Der Ordner Nr. 2, der offenbar von Beruf Historiker oder Soziologe […] ist, nahm die Gelegenheit wahr, mir einen langen Vortrag über die Monarchie zu halten.“ (HK 40-41) So sind seine Ausführungen „über den Ausdruck Bankrott und seine Bedeutung, ferner über die kapitalistische Wirtschaftsordnung, das Kreditwesen und dergleichen“ (HK 66) genauso umfangreich wie sein Kommentar zu den „Gründerjahren“ (HK 88), also der Zeit, in welche die Kindheit der Erzählerin fällt. Ordner Nr. 3 steht für die Erinnerungen, die an Emotionen und Begebenheiten gekoppelt sind, denen gegenüber sich die Protagonistin zunächst verschließt bzw. die ihr schwer zugänglich sind: Den zweiten Schrank öffnete mir zu meinem Erstaunen der Ordner Nr. 3. Er nahm eine Puppe heraus, und zwar einen Puppenjungen mit abgeblätterter Gesichtshaut, schäbigen Höschen und zerrissenem Wams, und berichtete mit fast höhnischer Strenge, daß ich diesen beständig herumgeschleppt und sehr geliebt habe. (HK 61)

48 Assmann (1999): Erinnerungsräume, S. 137. 49 „Das Speichergedächtnis ist [...] die ,amorphe Masse‘, jener Hof ungebrauchter, nicht amalgamierter Erinnerungen, der das Funktionsgedächtnis umgibt. [...] Dieses [...] unbewusste Gedächtnis bildet deshalb nicht den Gegensatz zum Funktionsgedächtnis, eher dessen Hintergrund.“ In: Assmann (1999): Erinnerungsräume, S. 136. 87

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Beschreibt die Erzählerin das Verhalten dieses Kustoden zunächst als belehrend und unangenehm, wird ihr Verhältnis zu ihm respektive ihren unerwünschten Erinnerungen zunehmend positiver: „Auch die Erklärungen des Ordners Nr. 3 sind diesmal einleuchtend.“ (HK 73) Im Verlauf der Handlung erweitert er sein Aufgabenfeld: Er übernimmt zusätzlich zur schlaglichtartigen Kommentierung der Erinnerungsfragmente „in Überschriften“ (HK 60) „den theoretischen Unterricht, der jetzt im Hadeka zuweilen auf dem Programm steht“. (HK 93) Die intellektuelle Auseinandersetzung der Protagonistin mit den verschiedenen Phasen ihrer Erinnerungsarbeit wird dadurch Teil der Museumsfiktion: Der Ordner schrieb über die Kästchen römische Zahlen und darunter die Worte Geborgenheit, Auseinandersetzung und Wachsende Einsicht. […] Zu der ersten Phase (Römisch Eins, Geborgenheit) gehören wahrscheinlich die mir vorgeführten angenehmen Bilder, Spieluhr, […] während die häßlichen Angst- und Einsamkeitserlebnisse […] den Inhalt des zweiten Kästchens bilden. Daß ich mich, der jetzt offenbar streng eingehaltenen chronologischen Reihenfolge entsprechend zur Zeit in der dritten Phase aufhalte, leuchtet mir ebenfalls ein. Ich empfinde jedoch gegen die allzu genaue Abgrenzung der verschiedenen Epochen ein starkes Widerstreben. (HK 93-94)

Hier wird vor allem betont, dass eine strenge Abgrenzung zwischen den verschiedenen Herangehensweisen, Erinnerungen zuzulassen, zu erleben und zu verarbeiten, nicht möglich ist und dass Emotionen und intellektuelles Verstehen genauso wenig vorauszusehen sind wie die Chronologie der Erinnerungen einzuhalten ist.

Das Museum als Zeit- und Rauminsel Die Einrichtung eines traditionellen Museums ist von dem Wunsch motiviert, Vergangenes in der zum Zeitpunkt seiner Errichtung noch unbekannten Zukunft betrachten zu können. Doch die Repräsentationslogik einer Museumsausstellung kann weder verhindern, dass ein zukünftiger Rekonstruktionsprozess das Vergangene nicht vollständig zurückholen kann noch dass die Gegenwart durch die „Imagination von Vergangenheit“50 verändert wird: „Es gibt ja kein Museum, keinen Raum, in dem vergangene Zeiten sich selbst der Nachwelt dargestellt hätten. Immer ist das Museum heutige Praxis, heutiges Bedürfnis nach Vergangenheit und 50 Diesen Ausdruck verwendet Reinhard Matz in seiner Publikation: Räume oder Das museale Zeitalter. Ein Essay und zwanzig Fotografien. Köln: DuMont 1990. 88

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Bewahrung.“51 Im „Haus der Kindheit“ erlebt die Heldin dies ebenfalls, wenn sie sich über den rudimentären Charakter ihrer Erinnerungen beklagt: „Daß ich ihn [den Menschen, der in ihrer Erinnerung erscheint, Anm. M. W.] mit keiner Gestalt und keinem Gesicht zusammenbringen kann quält mich sehr.“ (HK 58) Die museale Kontextualisierung von Ausstellungsobjekten setzt ihre ,Entzeitlichung‘ und ,Enträumlichung‘ aus ihrem Ursprungszusammenhang und eine Einordnung in ein neues Raum- und Zeitgefüge voraus. Auch die Erzählerin im Haus der Kindheit bedient sich des Konzepts eines Museums als Raum- und Zeitinsel52 und inszeniert den „tote[n] Stoff“ (HK 13), als welchen sie ihre Vergangenheit bezeichnet, in einem horizontalen Raumkonzept, in dem Zeit durch die Konkretion und Materialität eines fiktiven Ortes aufgefangen wird. Mit Gaston Bachelard gesprochen, der sich in Anlehnung an die antike Mnemotechnik das Gedächtnis des Menschen als ein Haus53 denkt, in dessen „Waben“ und „Winkeln“ Erinnerungen eingelagert sind, hieße das: „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“54 Mit der Metapher der „Fossilien“55 fügt er den „Waben“ ein weiteres Bild hinzu, in dem sich der Gedanke von materialisierter Dauer an einem konkreten, auffindbaren Ort im Raum ausdrückt. In ihnen verdichten sich „Episoden“56 zu Gegenständen. Dadurch werde laut Bachelard ein Prozess in Gang gesetzt, der als das Zusammenspiel „interferierende[r] Dynamismen“57 bezeichnet werden könne: In der Gegenwart werde durch das Betrachten eines „Fossils“ í und dabei muss man bedenken, dass „Fossil“ ein aus der Archäologie entlehntes Wort ist, welches etwas

51 Matz (1990): Räume oder Das museale Zeitalter. Die Publikation verfügt nicht über Seitenzahlen. 52 Der Begriff der „Zeitinsel“ stammt von Peter Weibel aus einem Interview mit Christian Reder. Veröffentlicht in: Christian Reder (Hg.): Wiener Museumsgespräche. Über den Umgang mit Kunst und Museum. Wien: Turia + Kant 1988, S. 127. 53 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt/M.: Fischer 1987. [Das Original erschien 1957 unter dem Titel La poétique de l’espace in den Presses Universitaires de France in Paris.] Um den „Örtlichkeiten unseres inneren Lebens“ näher zu kommen, schlägt Bachelard das Verfahren einer Toposanalyse vor, die er als ein systematisches psychologisches Studium versteht. In: Bachelard (2001): Poetik des Raumes, S. 35 54 Bachelard (2001): Poetik des Raumes, S. 35. 55 Bachelard (2001): Poetik des Raumes, S. 35. 56 Bachelard (2001): Poetik des Raumes, S. 35. 57 Bachelard (2001): Poetik des Raumes, S. 35. 89

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in früheren Zeiten Entstandenes bezeichnet und dadurch den Faktor Zeit besonders betont í Vergangenheit wieder auffindbar. Konkret bedeutet die Betrachtung von „Fossilien“, die in Kaschnitz’ Erzählung durch die ständig wechselnden ,Erinnerungsexponate‘ repräsentiert werden, also das Wiedererinnern an Vergangenes, für das erinnernde Subjekt einen Verlust von Leben in der Gegenwart: „Jedenfalls zahlt man [für das Erinnern, Anm. M. W.], im übertragenen Sinne, mit Leben, mit Gegenwart, also mit dem Kostbarsten, was man hat.“ (HK 17) Der äußere Raum und damit die Entwicklung der geschichtlichen Welt schreitet fort, während die Vergangenheit im Gedächtnis der Hauptfigur wieder auflebt. Ein Wandel, der sich in ihrem Alltagsleben niederschlägt: „Wie lange habe ich Carl, mit dem ich früher fast täglich beisammen war, nicht mehr gesehen.“ (HK 50) Im Prozess des Erinnerns nähern sich Vergangenheit und Gegenwart aneinander an. Zeit und Ort werden zusammengeführt. Oder, um es mit Augustinus’ Worten zu formulieren, hier wird die Erinnerung zum „Augenschein“58. Augustinus, der in seinen viel zitierten Bekenntnissen die Rede von den „drei Zeiten“59 entworfen hat, nämlich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, wendet sich damit radikal einer subjektiven Zeitlichkeit zu, in der sich nur von der Gegenwärtigkeit dreier verschiedener Weisen von innerlicher Zeit sprechen lässt. Vergangenheit und Zukunft seien nicht, so Augustinus, sondern erlangten Gegenwärtigkeit für das Bewusstsein im Akt des Sich-Beziehens auf Vergangenheit in der Erinnerung und auf Zukünftiges durch eine Vorschau. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seien also Modalitäten des Geistes.60 Zeit selbst konstituiere sich in der Differenz und im Wechsel dieser Phasen.61 Denkt man Erinnerung als Realisierung von Vergangenheit, drückt der Begriff Gedächtnis mehr aus als das Speichern, Abrufen und Verwalten von Erlebnissen und Eindrücken. Er bedeutet gelebte Zeit. Während also die Hauptfigur die Räume des Museums in der Gegenwart betritt und be58 Aurelius Augustinus: „Liber undecimus. Elftes Buch“. In: Ders.: Confessiones – Bekenntnisse. München: Kösel 21960 [um 400], S. 601-671: 642643. 59 Augustinus (1960): Liber undecimus, S. 644. 60 Vgl. hierzu Augustinus (1960): Liber undecimus, S. 620 und 626. 61 Diese subjektivitätstheoretische Grundlegung der Zeit als eine „Dehnung des Geistes“ (In: Augustinus (1960): Liber undecimus, S. 645) findet ihre Weiterführung unter anderem in Henri Bergsons radikaler Subjektivierung der Zeit und hat vor allem für die phänomenologische Zeittheorie Edmund Husserls entscheidende Impulse geliefert. (Vgl. Bergson (1991): Materie und Gedächtnis und Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Tübingen: Niemeyer 1980. [1928]) 90

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geht, ,erlebt‘ sie in ihnen, durch die Präsentation von Erinnerungsbruchstücken aus der Zeit ihrer Kindheit, Vergangenheit. Zu Beginn ihrer Besuche geht sie davon aus, dass sie dabei den „Regeln des musealen Rituals“62 folgen muss, eine Erwartungshaltung, die nicht erfüllt wird und die Protagonistin verunsichert: „Der Besucher eines Museums will nicht nur die Dinge ernst nehmen, sondern auch selbst ernst genommen werden. Von einer Einrichtung wie dieser fühlt er sich abgestoßen und verletzt.“ (HK 29) Grenzen, die der Betrachter nicht überschreiten darf, streng formulierte Verhaltenskodizes, die den Umgang des Besuchers í seine „Gebärde der Besichtigung“63 í mit den ausgestellten Objekten regeln und die Wege vorgeben, die er durch das Museum nehmen sollte, gibt es nicht. Stattdessen wird ihr anfänglicher Verdacht, dass der „Inhalt des Hauses nicht feststehe, sondern sich nach dem Empfang der Meldung für jeden Ankömmling verändern lasse“, dass man dort nur „die allerpersönlichsten Dinge zu erwarten“ habe und es ganz unmöglich sei, „dass zwei Personen zu gleicher Zeit Einlaß fänden“ (HK 11-12), im Verlauf ihrer Besuche bestätigt. Im Einklang mit diesem personalisierten Konzept sind auch die medialen Erscheinungsformen der ,Erinnerungsexponate‘ unerwartet: „So erstaunlich die Möglichkeiten der Gefühlswiedererweckung auch sind, so etwas gehört nicht in ein Museum, nicht einmal in ein wissenschaftliches Institut.“ (HK 33) Ihr werden persönliche Dinge wie die „Voltairebüste“ (HK 99) oder der „Puppenanzug“ (HK 61) gezeigt, oder es werden Handlungsaufforderungen ausgesprochen, welche die Protagonistin interaktiv in die Museumsinstallationen eingreifen oder zeitgeschichtliche Ton- und Bilddokumente rezipieren lassen. Indem sie ihre Erinnerungen ,außer sich setzt‘ ist es ihr möglich, sie als von sich selbst getrennt darzustellen. Das, was sich in ihrem Inneren abspielt, wird als sinnlich erfahrbar und materiell existent beschrieben. Dadurch kann sie sich die Rolle der Museumsbesucherin aneignen und sich ,sich selbst zu lesen geben‘.

62 Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 108. 63 Horst Rumpf: „Über Spielarten der Aufmerksamkeit gegenüber unbekannten Gegenständen“. In: Julia Breithaupt und Peter Joerißen (Hg.): Museumspädagogen machen (andere?) Ausstellungen. [Publikation im Anschluss an die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft der deutsch-sprechenden Mitglieder der CECA im ICOM vom 2.-5.10.1986 im Stadtmuseum Erlangen.] Düsseldorf 1987, S. 15. Vgl. dazu Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 108. 91

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Das imaginäre Museum Die Personifikation des Museums zu Beginn des Erinnerungsprozesses, die Museumsexponate, denen weder das Attribut der Konkretion noch das der Permanenz zuzuschreiben ist, sowie die amorphe architektonische Struktur des Kindheitsmuseums sind Aspekte, die die traditionelle Vorstellung von einem Museum angreifen und die eines virtuellen evozieren, welches wie bereits erläutert über einen nicht einzugrenzenden Vorrat an Exponaten verfügt: „[M]an denkt [beim „Haus der Kindheit“, Anm. M. W.] an ein Einfamilienhaus oder an ein Landhaus, etwa im Stil von Goethes Gartenhaus, jedenfalls an etwas Kleines, Intimes, während doch die Weitläufigkeit des Museum geradezu unermeßlich ist.“ (HK 35) In Marie Luise Kaschnitz’ Roman Das Haus der Kindheit wird die Vorstellung eines individuellen, an ein Subjekt gebundenen Museums entworfen. Eine Idee, die sich auf der Folie von André Malraux’ Schrift Das imaginäre Museum64 lesen lässt. Malraux, der sich in seiner Abhandlung auf Kunstmuseen bezieht, erkennt in den Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken das Potenzial zur ,Errichtung‘ eines imaginären Museums65, in dem es theoretisch möglich ist, 64 André Malraux: Das imaginäre Museum. Frankfurt/M., New York: Campus 1987. [Das Original erschien 1947 unter dem Titel Le musée imaginaire bei der Albert Skira AG in Genf.] Zum Einfluss Malraux’ auf Marie Luise Kaschnitz’ Werk vgl. Anne-Kathrin Reulecke: Geschriebene Bilder. Zum Kunst und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink 2002, S. 71-80. 65 Malraux sieht in einem imaginären Museum weder die Orientierung an den Parametern der konventionellen Kunstwissenschaften noch an der historischen Abfolge der Entstehungszeit der Kunstwerke gegeben, vielmehr macht er auf die Option aufmerksam, dass jedes Kunstwerk mit jedem anderen in Beziehung treten könne und dass lediglich eine Orientierung an den inneren Analogien der Werke gefordert bzw. möglich sei. Ein reales Museum lebe, so lautet Malraux’ These, vom Vergleich der Werke untereinander und führe zu neuen, aufschlussreichen Erkenntnissen. Die heterogene Mischung von Objekten, die sich niemals sonst gemeinsam in eben dieser Anordnung in einem Raum befinden könne, mache dies möglich. Dies gelte auch für ein imaginäres Museum, allerdings herrsche hier eine Kunst der Fiktion, die mit der von Romanen vergleichbar sei, da die Wirklichkeit von der Phantasie ihrer Betrachter abhängig sei. In: Malraux (1987): Das imaginäre Museum, S. 7-10 und S. 20. Wichtig ist hier zu wissen, dass Malraux’ Titelgebung nicht das Imaginäre meint wie Jacques Lacan es in seiner Schrift Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion (Weinheim: Quadriga 1991) formuliert. [Das Original erschien 1949 unter 92

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einem breiten Publikum den Zugang zu allen Kunstwerken an allen Orten zu jeder Zeit möglich zu machen.66 In diesem virtuellen Raum können räumlich und zeitlich weit voneinander entfernte Werke, reproduzierte Semiophoren wie Krzysztof Pomian sie später in seiner Schrift Der Ursprung des Museums nennen wird, selektiert, versammelt und in einer neuen Ordnung präsentiert werden. Dieser Umgang mit Objekten wird immer durch Subjekte vollzogen und bedeutet für das einzelne Objekt, dass seine Verbindungen zu Zeit, Raum und Tradition umstrukturiert und verändert zu lesen gegeben werden. Die Betrachtung kontextisolierter Reproduktionen í oder wiedererinnerter Kindheitserlebnisse wie es im Haus der Kindheit geschildert wird í erfordert eine Einbindung in ein Narrativ67, ohne das sie sich dem Rezipienten nicht erschließen können. Birgt doch die von Malraux entworfene Museumsform das Risiko eines „absurde[n] Konzert[s]“, „darin pausenlos und ohne Ende widersprechende Melodien einander folgen und sich vermengen“.68 Auch im „Haus der Kindheit“ kann die Heldin, trotz der oben erwähnten Ordner, keine Repräsentationslogik erkennen: „Die Museumsleitung hat sich selbst, das heißt, ihre Theorie einer wachsenden Klarheit und Übersicht Lügen gestraft.“ (HK 95) Die Protagonistin wird vor die Aufgabe gestellt, Erinnerungen zu erfassen und zu ordnen, welche sukzessive in einem nicht nachvollziehbaren Ordnungsprinzip erscheinen. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom „Heimgesuchtwerden von Bruchstückhaftem“. (HK 46) Es sind ,Erinnerungsfet-

dem Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je in Paris in den Èditions du Seuil 1949.] Vgl. dazu: Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 11 1992. [Das Original erschien 1967 unter dem Titel Vocabulaire de la psychoanalyse in Paris in den Presses Universitaires de France.] Dieser Bezug, der die Bedeutung des Begriffs innerhalb des Vokabulars der Psychoanalyse erklärt, wird hier nicht hergestellt. Die dadurch gegebenen Interpretationsmöglichkeiten übersteigen die Deutungsmöglichkeiten des Texts, da es sich zwar um die Schilderung eines psychoanalytisch initiierten Erinnerungsprozesses handelt, der aber im Verlauf der Handlung auf dieser Ebene nicht weiter ausgedeutet wird. 66 Vgl. Malraux (1987): Das imaginäre Museum, S. 11-12. Die freie Übersetzung des französischen Originaltitels ins Englische lautet: The Museum without Walls. Dieser Titel betont besonders den hier hervorgehobenen Aspekt der Uneingeschränktheit und Grenzenlosigkeit in der Kombination und Interpretation von Kunstwerken, Artefakten und anderen Ausstellungsobjekten, die sich hinter der Idee eines imaginären Museums verbirgt. 67 Vgl. dazu die Ausführungen zu Daston (2004): Things that Talk. 68 Malraux (1987): Das imaginäre Museum, S. 9. 93

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zen‘, welche nicht an „Kopräsenzen der vergangenen Gegenwart“69 gebunden sind. Eine genaue zeitliche Einordnung der entkontextualisierten Erinnerungsbruchstücke besteht ebenso wenig wie ihre dauerhafte Existenz: „Den Zettel habe ich nicht mehr í alle Gegenstände, die man im Hadeka bekommt, verschwinden am Ende auf geheimnisvolle Weise.“ (HK 73)

Das „Haus der Kindheit“ î durch Medieneinsatz zum Mundus sensibilis Voraussetzung für die spontan auftauchenden Museumsexponate unterschiedlichster Größe und differentesten Charakters ist die unterstellte Leere des Museums, die sich als Vorbereitung auf die nächste Erinnerungspräsentation nach jedem Besuch der Protagonistin im „Haus der Kindheit“ wiederherstellt. Für Karl-Josef Pazzini und Gottfried Fliedl „widerspricht die vollkommene Leere am radikalsten allen Vorstellungen vom Museum“ und „betont dadurch den medialen Charakter des Museums“.70 Nichts ruft so sehr die Imagination wach wie ein leerer Museumsraum, dem man unterstellt, dass dort früher etwas gestanden haben muss. Er fordert, wie im Haus der Kindheit geschildert, dazu auf, ihn zum Ort neuer Betrachtungen zu machen. Im „Haus der Kindheit“ werden die Kindheitserinnerungen der Protagonistin zu einem Mundus sensibilis í zu einer sinnlich erfahrbaren Welt. Das Museum als Objektdepot beherbergt eine Sammlung von ,Erinnerungsexponaten‘: sie präsentieren die dem Vergessen ,entrungenen‘ Erinnerungen. In ihrer sinnlichen Intensität und Expression variieren die jeweiligen Erinnerungen und drücken Sehnsucht und Widerwillen, Glück und Scham, Erfolg und Demütigung aus. Der massive Medieneinsatz,71 den Marie Luise Kaschnitz im Haus der Kindheit beschreibt, kritisiert den reglementierten und primär visuellen Zugang zu den Exponaten in einem traditionellen Museum. Durch die Möglichkeiten, welche die von ihr erfundenen Medien und ,Hyperme69 Für Alois Hahn hat „die Erinnerung an Vergangenes stets [...] die Gegenwart [...] ,im Rücken‘. Vor ihr her springt sie in ihrer Vergangenheit hin und her, ohne an die ursprüngliche Reihenfolge gebunden zu sein, ohne die Fülle der Kopräsenzen der vergangenen Gegenwart berücksichtigen zu müssen.“ In: Hahn (2000): Inszenierung der Erinnerung, S. 24. 70 Fliedl (1996): Museum-Opfer-Blick, S. 133. 71 In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Marie Luise Kaschnitz in der Wahl der Medien, die im „Haus der Kindheit“ zum Einsatz kommen, visionär und zukunftsweisend ist. 94

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dien‘ bieten, unterstreicht sie das subjektabhängige Potenzial eines Museums, in dem individuelle, aber vom kulturellen Kontext abhängige Bedeutungen konstruiert und kommuniziert werden können. Im Kindheitsmuseum werden Erinnerungssequenzen als Museumsobjekte entworfen, die mit der Fähigkeit der „Erinnerungsveranlassungsleistung“72 ausgestattet sind. Die verschiedenen Medien machen die Erinnerung innerhalb der virtuellen Räume sinnlich erfahrbar. Wie zum Beispiel die verschiedenen „akustische[n] Montage[n]“ (HK 114). Eine „Art Potpourri“, in dem ihr „Lieblingsstücke und Gedichte zu Gehör“ (HK 96) gebracht werden, die „Stimme“ ihrer Mutter, die die „Marseillaise“ (HK 97) singt, oder die Szene, in der ihr Großvater „mit seinen kurzen Fingern […] auf der roten Sammetbrüstung seiner Loge“ trommelt und dazu „Auf in den Kampf Torero“ (HK 88) singt. Ebenso werden im Museum historische Kurzfilme gezeigt, „die man selbst abrollen läßt und die, [...] jeweils Ereignisse eines Jahres […], allgemeine Erscheinungen der Kindheitsjahre“ (HK 36) zeigen. Es gibt auch ,Zwangsvorführungen‘ von Filmen „bei von außen verschlossenen Türen“ (HK 104), denen sie sich dadurch nicht entziehen kann. Inszenierungsformen, die sie zur Zuschauerin machen, werden aber auch durch den Einsatz einer „Guckkastenbühne“ (HK 38) oder einer „Drehbühne“ (HK 60) erzeugt. Letztere initiiert einen vielschichtigen Vorgang, während dessen „verschiedene Schauplätze blitzschnell wechseln und einander durchdringen“. (HK 60) In „rascher Folge“ (HK 60) werden der Heldin hier Szenen aus ihrer Kindheit präsentiert. Auch die Artikulation von Wörtern und das Erfassen ihrer semantischen Bedeutung wird im Kindheitsmuseum nachvollzogen. Bereits als Kind, so erinnert sie sich, hat sie auf dem Sitz einer Pferdebahn kniend und zum Fenster hinausschauend, vorbeiziehende Ladenschilder mit „große[n], manchmal farbige[n] Buchstaben“ (HK 50) versucht „zu erkennen und mit lauter Stimme“ (HK 50) abgelesen:73

72 Vgl. hierzu: Gottfried Korff: „Die Eigenart der Museums-Dinge. Zur Materialität und Medialität des Museums“. In: Kirsten Fast (Hg.): Handbuch der museumspädagogischen Ansätze. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 1728: 23. 73 Das Thema der Lesearbeit, mit der sich ein Kind die Welt erschließt, erläutert Marie Luise Kaschnitz an anderer Stelle ausführlicher: „[D]ort fing die Pferdebahn an. Dort lernte ich lesen, lange vor dem Eintritt in die Schule, mit nackten Knien auf der Holzbank hockend, das Gesicht an die Scheibe gepreßt. Firmenschilder, Buchstaben um Buchstaben entziffert [...]. Die Dinge, die man in den Schaufenstern gesehen und also schon einmal besessen hatte, die Würste, Kanarienvögel und fettglänzenden Briketts gewannen jetzt, da man sie gelesen hatte und benennen konnte, eine wunderbare Bedeutung. Meine Sammlung von Worten wuchs jeden Tag, war ein 95

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Das Vergnügen, das ich empfand, wenn die Zeichen ein mir bekanntes Wort ergaben, war ungeheuer, so als hätte ich all diese Worte und mit ihnen die bezeichneten Gegenstände selbst erschaffen oder mir in diesem Augenblick unverlierbar zu eigen gemacht. (HK 50)

Es gibt außerdem begehbare Farbfilme, in denen sich die Protagonistin in medias res in virtuelle Landschaften – einen „plastische[n] Farbfilm auf breiter Leinwand“ (HK 41) – hineinbegeben kann: „[D]aß man eine solche Landschaft nun auch noch selber begehen kann, mag auf einer mir bisher entgangenen Fortentwicklung der Projektions- und Schalltechnik beruhen.“ (HK 44) Für diese Erzeugung künstlicher Außenräume wird eine Fülle von Werkstoffen, Gegenständen und Hilfsmitteln benötigt, die den performativen Charakter der Inszenierungen unterstreichen: Hinter der Fassade befinden sich im Freien eine Menge schwer erkennbarer Aufbauten, wie sie vielleicht auf dem Gelände einer Filmgesellschaft zu finden sind, auch kleine Garten- und Waldstücke, bei denen ich nicht erkennen konnte, ob sie echt oder aus Holz, Stoff und Pappe künstlich nachgebildet waren. (HK 21)

Für die Dauer der medial erzeugten Erlebnisse, welche an computergenerierte virtuelle Realitäten erinnern, kommt es zu einer Wahrnehmungsverschränkung: Die Protagonistin erlebt die Situation als kindliches Ich mit dem Wissen ihres erwachsenen Ich: „Durch ein Dickicht zartgefiederter Pflanzen, von denen ich weiß, daß sie den Erwachsenen nur bis zur Hüfte reichen, gehe ich wie durch einen Wald.“ (HK 45) Präsenz, Nähe und Performativität sind die Voraussetzungen für die Möglichkeiten der beschriebenen „Gefühlswiedererweckung“ (HK 33), in denen die echt erscheinende ,Welt‘ nicht nur visuell und auditiv, sondern auch sensomotorisch wahrgenommen werden kann: „Bei meinem zweiten Besuch im Haus saß ich in heißer Julisonne im Gras. [...] Die gelben Köpfe [des Löwenzahns, Anm. M. W.] mit den Nägeln abzuzwicken und die Milch auszudrücken war genußreich.“ (HK 45-46) Das betrachtende Subjekt – die sich erinnernde Journalistin – ist zugleich besichtigtes ,Objekt‘, also das in den Erinnerungssequenzen agierende Ich. Hier hat der Einsatz von Technik nicht nur einen instrumentellen Charakter, sondern die Medien wirken aktiv am Erinnerungsprozess mit. Wie computergestützte ,Hypermedien‘ können die Erinnerungsinszenierungen, die vor allem affektive Reaktionen hervorrufen sollen, auf die Handlungen des erinnernden Ich Schatz, den ich angesammelt hatte und der mir allein gehörte, wobei das Erlesene dem nur Gehörten weit überlegen war.“ In: Marie Luise Kaschnitz: Orte und Menschen. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1991, S. 96. [1986] 96

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Bezug nehmen.74 Das Erinnern wird einerseits als vorsätzlicher, willentlicher Vorgang dargestellt, wogegen die nicht steuerbare Rezeption der ausgestellten Exponate die Unmittelbarkeit und Unbeeinflussbarkeit der Erinnerungsarbeit betont. Die Qualität des Materials zitiert modernste filmtechnische Entwicklungen, die für die Zeit der Entstehung des Texts im Bereich der Utopie anzusiedeln sind, und die in dieser Perfektion selbst bis heute nicht umgesetzt werden konnten75: Ich habe aufgehört, über die technischen Voraussetzungen des Museums nachzudenken. Es interessiert mich nicht, wie die verschiedenen Geräusche und Gerüche hergestellt werden, und selbst über das Erscheinen ganzer Landschaften mit natürlichem Sonnenlicht, Wiesenduft und Mückengesumm wundere ich mich nicht mehr. (HK 44)

Die Techniken, mittels derer der Museumsleitung die Vorführung dieser Erinnerungen möglich sind, sind ihr ein „Rätsel“ (HK 113), aber sie können, obwohl die Protagonistin sie als „gemacht“ (HK 47) empfindet, für das plötzliche Auftreten eines „merkwürdige[n] Heimwehgefühl[s], wie man es eigenen, nur zum Teil noch begreifbaren Liebesregungen gegenüber empfindet“ (HK 96), sorgen. Auswirkungen der sensuellen Reize auf die Hauptfigur finden sich in den Formulierungen der „qualvollen Dringlichkeit“ und des „Durchexerzierens“ (HK 31). Der Zugang zu den eigenen Kindheitserinnerungen ist 74 Dies lässt an Immersionssysteme denken, die dem Akteur, dem User-Subjekt, erlauben, Teil der virtuellen Welt zu werden. Datagloves, Datasuits oder Eyephones ermöglichen ihm den Empfang akustischer, visueller und haptischer Reize und erlauben Interaktionen durch Körperbewegungen. Vgl. dazu beispielsweise Wohlfromm (2005): Museum als Medium, S. 56 und 74-75; Hubert Locher (Hg.): Museen als Medien – Medien in Museen. Perspektiven der Museologie. München: Müller-Straten 2004; Annette Hünnekens: Expanded Museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realität. Bielefeld: transcript 2002 sowie Götz-Lothar Darsow: Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2000. 75 Vgl. hierzu auch: „Alle [...] Szenen liefen nicht in der Art alter Filme, schwarzweiß verregnet und zuckend, sondern in naturgetreuen Farben und mit natürlichen Geräuschen ab.“ (HK 36-37) Hier denkt man zum Beispiel an das hochauflösende Fernsehen HDTV oder an das IMAX®-Kino, eine spezielle Form der Filmprojektion, bei der sich der Zuschauer durch das Bildformat, besondere Linsen und den Querlauf des Films als Handlungsbeteiligter fühlt. Keines dieser Medien vermag den von Kaschnitz entworfenen Anspruch umzusetzen. 97

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schmerzhaft, und die hohe Affinität, die sie im Laufe ihrer Besuche im Museum ihrem ,wiedergewonnenen‘ kindlichen Ich gegenüber entwickelt, wird als körperlicher Schmerz beschrieben: Mein Körper schlägt auf steinharten Boden auf, ich habe den Mund voll Staub und die Augen voll spritzender Funken, der Atem bleibt mir aus. Während ich versuche, mich aufzurichten, dreht sich eine schattenhafte Welt vor meinen Augen, ich bin aus mir selbst entlassen und schlechthin verloren  der erste neue Atemzug kostet mich eine fürchterliche, zerstörende Kraft. (HK 32)

Die „spritzenden Funken“ entwerfen hier das Bild einer subjektiven, spontanen, punktuellen Energie und damit die Vorstellung eines animatorischen Gedächtnisses, dem genau wie der mémoire involontaire das Modell eines zeitorientierten Gedächtnisses zugrunde liegt, welches die Diskontinuität der Zeit akzentuiert und „bei der Priorität des Vergessens und der Unwahrscheinlichkeit der Erinnerung“76 ansetzt und den konzentrierten Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart umsetzt. Die Inszenierung von Erinnerung verzichtet auf legitime Kontinuitätssicherungen, auf lineare und narrative Zeitkonstruktionen, und zwingt Vergangenheit und Gegenwart, Nähe und Ferne in einen Punkt.77 Ein als nahezu reales ,Wiedererleben‘ empfundenes Erinnern ist der Protagonistin erst durch die Möglichkeit gegeben, dass den Erinnerungen, die intentional78 erzeugt werden, unwillkürliche Erinnerungen in Form von Affek76 Aleida Assmann „Zur Metaphorik der Erinnerung“. In: Dies. u. Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 13-35: 30. 77 Vgl. Assmann (1991): Metaphorik der Erinnerung, S. 29-31. Vgl. hierzu auch: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. [...] Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“ In: Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“. In: Gesammelte Schriften. Abhandlungen. Drei Teilbände. Band I, 2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 51996, S. 691-704: 695. [1942] 78 Die vielzitierte Stelle aus Prousts Roman In Swanns Welt soll hier zur Verdeutlichung noch einmal wiedergegeben werden: „So kam es, daß ich lange Zeit hindurch, wenn ich nachts aufwachte und an Combray dachte, nur einen von tiefer Dunkelheit umlagerten Ausschnitt sah, [...] es war, als habe ganz Combray nur aus zwei durch eine schmale Treppe verbundenen Stockwerken bestanden [...]. Natürlich hätte ich, danach befragt, angeben können, daß Combray noch aus anderen Dingen bestanden habe und zu an98

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ten und Emotionen anhaften. Nach Marcel Proust sind die Sinne unverzichtbar für die subjektive Erkenntnis in Gestalt der mémoire involontaire.79 Sie verbindet zeitlich differente Erlebnisse miteinander und macht sie im ,Augenblick‘ konkret und präsent. Für die lineare, mathematisch messbare Zeit bedeutet dies ihre Ablösung durch subjektiv erlebte, nichtlineare Zeit. Gegenwärtiges legiert mit Vergangenem und enthebt die Erinnerung aus der Ordnung der chronologischen Zeiteinteilung.

deren Stunden dagewesen sei. Aber da alles, was ich mir davon hätte ins Gedächtnis rufen können, mir dann nur durch bewußtes, durch intellektuelles Erinnern gekommen wäre und da die auf diese Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht erfaßt, hätte ich niemals Lust gehabt, an das übrige Combray zu denken. Alles das war in Wirklichkeit tot für mich.“ In: Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Frankfurt/M.: Suhrkamp 31999, S. 61-62. [Das Original erschien 1913 unter dem Titel À la recherche du temps perdu: Du côte de chez Swann in den Èditions Gallimard in Paris.] 79 Und in seiner berühmten Madeleine-Episode beschreibt Proust die mémoire involontaire: „In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. [...] Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. [...] [I]ch weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume. Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Wird sie bis an die Oberfläche gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken. [...] Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. [...] Und dann mit einem Mal war die Erinnerung da.“ In: Proust (1999): In Swanns Welt, S. 63-66. Vgl. dazu: Elisabeth Gülich: „Die Metaphorik der Erinnerung in Prousts A la recherche du temps perdu“. In: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 75, 1965, S. 51-74. Vgl. dazu: Harald Weinrich: „Von der Poesie des Vergessens“. In: Ders.: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 3 2000, S. 175-193. 99

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Das Tagebuch î ein personalisiertes Museum Der Prozess des Erinnerns schließt stets mit ein, dass etwas Vergangenes nicht vollständig zurückgeholt werden kann. Die ,Erinnerungsexponate‘ im „Haus der Kindheit“ geben diesen Charakter von Erinnerungen wieder. Wenn das erlebende und erinnernde Ich die Erinnerungsfragmente jedoch niederschreibt – sie in eine narrative Struktur einbindet – erfahren sie eine subjektive Ausdeutung und werden Teil eines umfassenden Assoziationsprozesses. Durch die Verschriftlichung ihrer Erlebnisse im Museum bindet die Erzählerin ihre Erinnerungsfragmente in eine literarische Struktur. Dabei zeigt sich, dass der Text Museums-Effekte aufweist: Das sukzessive nacheinander Abschreiten der Exponate in einem Museum findet seine Parallele zum Text, welcher sukzessive, Zeile für Zeile gelesen werden muss, soll das Textverständnis gesichert werden.80 Ähnelt sich auch das Rezeptionsverhalten in Bezug auf den gerade genannten Punkt, gibt es doch einen entscheidenden Unterschied, welcher aus den Möglichkeiten resultiert, die der literarische Text gegenüber dem Museum bietet: das zeitliche Nebeneinander von Empfindungen, das Verschränken von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sowie die metaphorische Verdichtung von Empfindungen, die an die verschiedenen Erinnerungssequenzen gekoppelt sind und welche ihren Ausdruck in poetischen Bildern finden.

Vom Aufzeichnen der ,Erinnerungsexponate‘ Max Frisch beschreibt den Prozess des Aufzeichnens von Erinnerungen und Erlebnissen in seinem Tagebuch 1946-1949: Wir sind das Damals, auch wenn wir es verwerfen, nicht minder als das Heute – Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur. Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, daß man übermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klüger sei. Man ist, was man ist. Man hält die Feder hin wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben, sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt sich selber lesen.81

Die enge Zusammengehörigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Schwierigkeit, Einfluss auf das zu nehmen, was man schreibt 80 Vgl. dazu Pelz: Von Album bis Zettelkasten, S. 18. 81 Max Frisch: Tagebuch 1946-1949. Frankfurt/M.: Suhrkamp 92001. [1950] 100

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und das Reflexionspotenzial, welches Texte ihrem Verfasser beim ,Wiederlesen‘ anbieten, sind Aspekte, durch die sich dieses Zitat in einen direkten Bezug zum Haus der Kindheit setzen lässt. Zwischen IchErzählung und personaler Erzählweise vermittelnd82, wird das Textgenre Tagebuch83 auch im Haus der Kindheit „nicht aus Verlegenheit um literarischen Stoff, auch nicht aus Erfindungsschwäche“84 wie Kaschnitz es einmal selbst in einem autobiografisch gefärbten Text formuliert hat, sondern bewusst als eine Kunstform eingesetzt, die eine die Realität überschreitende Erfahrung als Wirklichkeit darstellbar macht.85 Als Museumsbesucherin rezipiert die Protagonistin, wie bereits ausgeführt, ihre eigenen Kindheitserinnerungen. In einem explizit dazu angelegten Tagebuch hält sie den Semantisierungsprozess, den die Ding- bzw. Medienrezeption von ihr verlangt, fest: „Ich habe heute aus meinem gewöhnlichen Tagebuch, das natürlich sehr viele andere Dinge enthält, alle Eintragungen herausgeschrieben, die sich auf das Museum beziehen.“ (HK 13) Als schreibendes, Text produzierendes Subjekt bringt sie die Erinnerungserlebnisse in einen musealisierten, durablen Modus und stellt sie sich in einem selbst hergestellten Textraum in einer materialisierten und konsistenteren Form zur Verfügung. In diesem Sinne kann der Schreibprozess 82 Vgl. Anita Baus: Standortbestimmung als Prozeß. Eine Untersuchung zur Prosa von Marie Luise Kaschnitz. Bonn: Bouvier 1974, S. 220. 83 Zur vertiefenden Lektüre siehe Horace Porter Abbott: Diary Fiction. Writing as Action. Ithaca, NY: Cornell UP 1984. 84 Kaschnitz (1991): Orte und Menschen, S. 104. 85 „Ich möchte jetzt noch etwas über meine in vorgetäuschter Tagebuchform geschriebenen Bücher sagen, nämlich über das ,Haus der Kindheit‘, das sehr viel Biographisches enthält [...]. [I]m ,Haus der Kindheit‘ ist das eigentlich Tagebuchhafte, der Tageslauf der Erzählerin in dem geisterhaften Café in der Nähe des imaginären Museums, reine Erfindung oder, wenn sie wollen, reine Konstruktion. Das Alle-Tage-Neu der Tagebucherzählung verschafft dem Text Unmittelbarkeit und Frische, [...]. Das lästige ,an diesem Tag ging sie, am nächsten Tag tat sie‘, das etwa für das ,Haus der Kindheit‘ notwendig gewesen wäre, fällt weg, das immer neu erschaffene Heute macht die irrealen Vorgänge wahrscheinlich und aktuell.“ In: Marie Luise Kaschnitz: „Das Tagebuch. Gedächtnis · Zuchtrute · Kunstform“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Siebenter Band. Die essayistische Prosa. Hg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 290304: 304. [1965]. Vgl. dazu: dies.: „Ich habe ziemlich viel in Tagebuchform geschrieben“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Siebenter Band. Die essayistische Prosa. Hg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 881-882. [um 1969]; dies. (1991): Orte und Menschen, S. 104 sowie Drewitz (1980): Zeitverdichtung, S. 267; Pulver (1984): Marie Luise Kaschnitz, S. 64. 101

MUSEEN ERZÄHLEN

als Musealisierungsakt86 gelesen werden, der den ephemeren Charakter der ,Erinnerungsexponate‘, welche nach ihrer Präsentation in den Museumsräumen sofort wieder verschwinden, auffängt. Die sukzessive Darstellung der erlebten Erinnerungen im verschriftlichten Modus, in welcher sich auch das Nacheinanderanschauen im Museum wiederfindet, wird auch formal zum Ausdruck gebracht: Das Haus der Kindheit umfasst insgesamt einhundertsechsundzwanzig durchnummerierte Abschnitte. Die knapp gehaltenen Textstücke beinhalten eine Sammlung von Erinnerungsbruchstücken. Wie Tagebucheintragungen sind sie chronologisch in der Reihenfolge der Museumsbesuche aneinandergereiht87 und erinnern in ihrer äußeren Form an eine Inventarliste eines Museums. Weder ein Datum noch eine Überschrift gliedern die

86 „Es zeigt sich“, so Eva Sturm, „daß der Begriff ,Musealisierung‘ eine bestimmte Umgangsform mit Objekten kennzeichnet: an einem Objekt wird etwas vorgenommen, sein Zustand dadurch verändert.“ In: Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 12. 87 Dies beschreibt auch Norbert Altenhofer: „Diese mediale Schreibweise ist in ihren [Marie Luise Kaschnitz’, Anm. M. W.] Augen Mimesis einer substanziell immer weniger greifbaren Realität.“ In: „Sibyllinische Rede. Poetologische Mythen im Werk von Marie Luise Kaschnitz“. In: Horst Dieter Schlosser und Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Ernst Jandl, Uwe Johnson, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Lenz, Paul Nizon, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Christa Wolf und andere Beiträge zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Frankfurt/M.: Athenäum 1988, S. 27-45: 37. Kaschnitz äußert sich hierzu: „Was wir jetzt machen, wir Schriftsteller, Komponisten, Maler, hat keine Kontinuität mehr, keine durchgeführten Ideen, folgerichtigen Handlungen, selten etwas Erfundenes, vielmehr nur zufällig Entdecktes aneinandergereiht, zusammengestückelt, Zitate von irgendwoher, auch aus der Vergangenheit: wo das Stückchen dann steht, neben welchem anderen Stückchen, über welchem, unter welchem, ergibt das Weltbild, in dem keineswegs der Zufall herrscht, sondern eine sorgfältige Plazierung der Bruchstücke schließlich doch einen Sinn ergibt. Oder doch so etwas hervorruft wie ein Erkennen, das sind wir, das ist unser Leben, ohne Logik, ohne Entwicklung, ohne Ideale, nur ein Taumeln, ein Tasten mit vagen Erinnerungen an eine keineswegs herbeigesehnte vergangene Zeit. Ein Vorübergehen, nicht Stillstehen, oder Stillstehen, aber nur für Sekunden, gleich wieder aufbrechen, kein Ziel im Auge haben, Getriebene, Geduldige, mit plötzlichen furchtbaren Anfällen von Angriffslust, Mordlust, Mord. Montagen, Collagen, dann wieder Erzählungen [...].“ In: Kaschnitz (1991): Orte und Menschen, S. 28. Vgl. dazu auch: Johanna Christiane Reichardt: Zeitgenossin. Marie Luise Kaschnitz. New York (u. a.): Lang 1984, S. 139. 102

MARIE LUISE KASCHNITZ’ DAS HAUS DER KINDHEIT

Textminiaturen, welche in ihrer Länge selten den Umfang einer Seite überschreiten. Eine distanzierte Erzählweise ohne tiefe Innensicht ist ebenso kennzeichnend für den Text wie sein sprachlicher Stil, den vor allem ein durch kurze, einfache und präzise formulierte Sätze erzeugter Lakonismus bestimmt. Die Erinnerungssequenzen bleiben ungewichtet nebeneinander bestehen. Die Selektionskriterien, welche die Erzählerin motivieren, ein Erinnerungsbruchstück in das Tagebuch mitaufzunehmen, werden nicht benannt, wohingegen der Aufschreibeprozess in den Eintragungen kommentiert wird: „Obwohl es schon spät ist, muß ich noch einmal in mein Heft schreiben, noch einmal sagen […].“ (HK 121) Neben nur marginal verhandelten alltäglichen Begebenheiten steht vor allem die Observation des erzählenden Ich durch sich selbst im Vordergrund: [I]ch allein noch wach, eine Uhr tickt und schlägt, tickt und schlägt, tickt und schlägt, und mit jeder Viertelstunde bin ich weiter fortgerissen in eine mitternächtliche Ferne, von der ich weiß, daß sie für Kinder voll der entsetzlichen Gefahren ist. Auf dem Nachttisch steht eine Glocke, die ich nicht läuten darf und nach der meine Hand immer wieder tastet, bis ich in der Verzweiflung meiner Einsamkeit doch danach greife und sie schüttele, wild, wahnsinnig, [...] bis ich auf der Treppe einen Schritt höre, den Schritt . . . (HK 57)

Eine psychologische oder emotionale Interpretation der Erinnerungserlebnisse in Bezug auf die Hauptfigur liefert diese Eintragung nicht, denn sie endet hier. Und obwohl in folgenden Abschnitten der „Schritt auf der Treppe“ motivisch immer wieder aufgegriffen wird und eine Verbindung zwischen ihnen assoziiert werden kann, bestätigt sich der Verdacht, dass dem Kind Gewalt widerfahren ist, nicht. Traumatische Erlebnisse, die einen Grund für das „schwarze Loch“ im Gedächtnis der Erzählerin liefern könnten, werden nicht geschildert, statt dessen wird der skizzenhafte Charakter der Eintragungen unterstrichen, da aus dem „Schritt“ (HK 57) in einem nachfolgenden Zitat „sein Schritt“ (HK 63) und schließlich der „finstere und fremde“ Schritt des Vaters „im Nebenzimmer, wo er ruhelos auf und ab geht“ (HK 115) wird. Die Weigerung des schreibenden Ich, eine abschließende Interpretation des Erinnerungserlebens zu liefern, ist paradigmatisch für den gesamten Text. Durch direkte Anreden des Lesers unterstreicht Kaschnitz dieses und bindet ihn, indem er Teil der literarisch inszenierten Welt wird, enger an das Geschehen: „Oder bist Du, geschätzter Leser dieser Blätter, nie einen dunklen Gang hinuntergegan-

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MUSEEN ERZÄHLEN

gen und hast durch den Spalt einer Tür geschaut, und drinnen im Zimmer hat jemand gesessen (ein Erwachsener!) und hat geweint?“ (HK 63)88

Die Erinnerungsmetaphorik im Haus der Kindheit Michail Bachtin fasst unter dem Begriff der Dialogizität89 die Vorstellung zusammen, dass die Wörter eines Texts als dialogische Äußerungen zu verstehen sind, deren Interpretation nie ganz abgeschlossen werden kann. Eine dialogische Erzählweise entwickelt sich in Marie Luise Kaschnitz’ Haus der Kindheit im Tagebuch der Heldin durch die Beschreibung der ,Erinnerungsexponate‘ und ihrer (Re-)Konstruktion in der Erzählung. Die Mehrstimmigkeit entwickelt sich aus dem Dialog zwischen der Betrachtung von ,materiellen‘ Objekten und der Erinnerung an sie, also aus dem, was sich das Subjekt als Teil seiner eigenen í auch kulturell geprägten í Identität zu lesen gibt. Die im Museum präsentierten Objekte stehen nicht isoliert vom Subjekt. Im Erzählen über sie wird deutlich, dass der Gebrauch von Dingen ein bedeutungsstiftender Akt ist, weil Dinge in kulturelle Konversationsrituale und kommunikative Praktiken eingebunden und dadurch mit Bedeutungen aufgeladen und so Bestandteile kultureller Performanz sind. Die Polyphonie des Texts setzt sich auf sprachlicher Ebene fort, wenn das erzählende Ich in der Semantisierung der ,Erinnerungsexponate‘ poetische Metaphern erfindet, um seinen Überlegungen zum Erinnern und zum Gedächtnis Ausdruck zu verleihen. Sie erschafft dadurch dichterische Bilder, welche í mit Gaston Bachelard gesprochen í, losgelöst von Beziehungen zur Vergangenheit und Gegenwart, „vor dem Denken“90 liegen.

88 Eine direkte Leseranrede findet sich zum Beispiel auch auf HK 56: „Der Leser dieser Aufzeichnungen wird sofort verstehen, was ich meine, wenn ich ihm in aller Kürze schildere“ und auf HK 85: „Daß ich mit diesen Figürchen sogleich zu spielen begann [...], darf den Leser nicht wundernehmen“ sowie auf HK 87: „Der Leser wird mir nachfühlen“. Vgl. dazu ebenfalls: „[W]erde satt Leser, oder bleibe hungrig, ergänze, was nicht dasteht aus eigenem Vermögen, arbeite mit.“ In: Kaschnitz (1991): Orte und Menschen, S. 104. 89 Michail Bachtin verweist in seiner Dialogizitätstheorie darauf, dass ein wichtiger Ort des Dialogs die Literatur ist, da ein Roman aus einem „System von Sprachen“ bestehe. In: Michail M. Bachtin: „Das Wort im Roman“. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 157. 90 Bachelard (2001): Poetik des Raumes, S. 10 und 19. 104

MARIE LUISE KASCHNITZ’ DAS HAUS DER KINDHEIT

Eine der wichtigsten Metaphern ist die der geologischen Schichtung, durch welche die Protagonistin die allmähliche Intensivierung ihrer Wahrnehmungen beschreibt, einem inneren Raum sprachliche Gestalt gibt und sich den Zutritt zu sich selbst ermöglicht: Manchmal kommt mir das Haus der Kindheit vor wie ein Bergwerk, in dem ich immer tiefer hinabsteige, dem Herzen der Erde zu. Im Schoß der Erde gibt es schaurige Höhlen und ausweglose Stollen, in denen schlagende Wetter drohen, aber es gibt auch Gold- und Silberadern, Edelsteine und Halbedelsteine, wie ich sie mir dort unten vorstelle, nämlich bereits geschliffen und von strahlendem Glanz. Oft ist mir zumute, als ob ich, tiefer und tiefer hinabsinkend, den Erdkern erreiche, eine Kammer strahlenden Lichts. (HK 67)

Begriffe wie „Herz“, „schlagend“, „Schoß“ und „Ader“ erwecken Assoziationen mit einem menschlichen Körper. Vom „Herzen“ zum „Schoß“ steigt das Ich immer tiefer hinab í vorbei an „Höhlen“ und „Stollen“. Die Richtungsanzeige in Bezug auf den menschlichen Körper betont, genau wie das Eindringen in das Bergwerk „dem Herzen der Erde zu“, eine Vertikalität und massive Materialität, die im Gegensatz zum horizontalen Raumkonzept und zur „Kulissenhaftigkeit“ (HK 21) des Kindheitsmuseums steht: Ich habe heute zum ersten Mal einen Blick in das Innere der sonderbaren Museumsanlage geworfen. […] Die ganze Anlage ist eine Kulisse, das Gebäude selbst nur Fassade, sonst nichts. Hinter der Fassade befinden sich im Freien eine Menge schwer erkennbarer Aufbauten, wie sie vielleicht auf dem Gelände einer Filmgesellschaft zu finden sind. (HK 21)

Als Kulissen bezeichnet man nicht nur Dekorationswände im Theater oder im Film, sondern der Begriff Kulisse wird auch synonym für Hintergrund und Schein benutzt. Diese Ambiguität des Begriffs gibt der Vorstellung Raum, dass das „Haus der Kindheit“, dessen Materialität temporär begrenzt ist, lediglich Kulisse, Hintergrund, Scheinwelt für das Ich ist, um sich erinnern zu können. Die Medieninszenierungen und ausgestellten Museumsobjekte í die ,Erinnerungsexponate‘ í, denen, wie oben ausgeführt, vor allem ein flüchtiger, nur kurz existierender materieller Status zugesprochen werden kann, hinterlassen ebenfalls einen kulissenhaften Eindruck. Dem gegenüber steht die explizit formulierte Materialität der Bergwerks- und Körpermetaphorik – ein dichterisches Bild, in dem die Flüchtigkeit aufgefangen und den Erinnerungen Dauer verliehen wird. Denn dort, in der Tiefe eingeschlossen, in den „schaurigen“ und „ausweglosen“ Stollen und Höhlen des Berges, liegen die „geschliffenen“ Schätze „von strahlendem Glanz“ – die Erinnerungen, welche die 105

MUSEEN ERZÄHLEN

Protagonistin bergen und bewahren will. Sie wendet ihren Blick nach innen, „um in Form einer poetischen Archäologie das eigene Selbst zu erkunden“91 wie Uwe Schweikert es formuliert hat. Doch der Abstieg ist beschwerlich und mit Strapazen verbunden. Viele Schichten des Gedächtnisses liegen im Dunkeln, sie zu durchstoßen und freizulegen ist mühsam, „schlagende Wetter drohen“ (HK 67). Kaschnitz’ Schichtenmetaphorik lässt sich auf der Folie von Walter Benjamins Gedanken, wie er sie in seinem Denkbild „Ausgraben und Erinnern“92 entwirft, lesen. Für ihn koexistieren die Schichten in völliger Gleichberechtigung93; ihre Struktur kann jederzeit umgewälzt werden. Wer sich der eigenen Vergangenheit zu nähern versuche, sagt Benjamin, müsse sich verhalten wie ein Mann, der grabe. Vor allem dürfe er sich nicht scheuen, immer wieder auf ein und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen, wie man Erde ausstreue, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühle. Denn Sachverhalte seien nicht mehr als Schichten, die erst der sogenannten Durchforschung das auslieferten, um dessentwillen sich die Grabung lohne. Die Bilder nämlich, welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht stünden wie Torsi in der Galerie des Sammlers.94 91 Uwe Schweikert: „Das eingekreiste Ich. Zur Schrift der Erinnerung bei Marie Luise Kaschnitz“. In: Ders. (Hg.): Marie Luise Kaschnitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 58-77: 72. 92 Vgl. Walter Benjamin: „Ausgraben und Erinnern“. In: Ders.: Denkbilder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 100. [1931-1933] 93 Der Gedanke der Schichtung besagt, dass sich die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle eines Menschen im Laufe seines Lebens als Schichten im Gedächtnis ablagern. Diese Idee, die auf Platos Schichtenmodell der Seele wie er es in seinem Höhlengleichnis schildert, zurückführt, betont allerdings keine Rangfolge der Schichten. (Vgl. hierzu Plato: „Siebentes Buch. Höhlengleichnis“. In: Ders.: Der Staat. Über das Gerechte. Hamburg: Felix Meiner 81961, S. 268-275. Zur vertiefenden Lektüre vgl. auch: Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989.) Der Kern des Gleichnisses ist nicht bloß der Gedanke, dass es verschiedene Schichten richtiger Modalitäten des Seins gibt, sondern vielmehr derjenige, dass hier eine Schicht auf der anderen ruht, und zwar so, dass die ,Begründung‘ von oben nach unten läuft. Dass das Höhere immer das Seinsstärkere ist, welches das von ihm Abhängige zugrunde legt. Das Schattensein ruht auf dem raumzeitlichen Sein der physisch-realen Welt, die wiederum auf dem idealen Sein ruht. (Vgl. hierzu: Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Band I. Altertum und Mittelalter. Freiburg im Breisgau: Herder 12 1980, S. 104.) 94 Benjamin (1994): Ausgraben und Erinnern, S. 100. 106

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Die Ich-Erzählerin im Haus der Kindheit setzt an immer wieder neuen Stellen ihren ,forschenden Spatenstich‘ und legt dadurch immer wieder neue, isolierte Erinnerungen frei. Einmal aus der Dunkelheit des Vergessens, ihrem „schwarzen Loch“, befreit, erscheinen sie ihr als kostbare „Edelsteine“ in „strahlendem Licht“. Das Paradoxon, dass sich im Erdinnern, je tiefer man vertikal nach unten strebt, „Kammern strahlenden Lichts“ befinden, fügt der Raum- eine Lichtmetaphorik hinzu, die an einer späteren Stelle im Text wieder aufgegriffen und weitergeführt wird: Nachmittags geturnt [...]. Ich hatte [...] bestimmte Übungen auszuführen, namentlich eine, bei der ich, nach kräftigem Anlauf, den Oberkörper nach rückwärts fallen lassen und die Beine über den Kopf schwingen mußte, um daraufhin als sogenannte Kerze durch den Gang zu fliegen, wobei mein langes Haar mit einem sonderbaren Geräusch den Boden fegte. In dieser unbequemen, ja widernatürlichen Haltung mußte ich lange verharren, was mir aber keineswegs unangenehm war. [...] Daß in den erleuchteten Kammern alle Dinge auf dem Kopf standen, machte sie zugleich merkwürdig und ohnmächtig, und die Tatsache, daß es an mir lag, sie auf solche Weise zu verwandeln, gab mir ein Gefühl von Freiheit und Glück. (HK 112)

Hier dominiert das erinnernde, erlebende Ich, welches aktiv auf die Situation Einfluss nehmen kann. Indem es sich ,auf den Kopf stellt‘, verändert sich die Perspektive. Die Dinge erscheinen aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet neu und verwandelt. Das Gefühl des Ausgeliefertseins an Erinnerungssequenzen, welches die Museumsbesuche oft begleitet hat, schwindet zugunsten eines „Gefühls von Freiheit“. Gegen Tiefe und Dunkelheit wird aber nicht nur Licht, sondern auch Höhe und Überblick gesetzt: Statt dessen habe ich etwas ganz Neues zu sehen bekommen, eine Landschaft wie im Vogelflug, zwischen zwei Gebirge gebettet, Abhänge gegen den Strom geneigt, mit Wein und Kastanien, einen Dom aus rotem Sandstein und Wiesen, auf denen ein golddurchleuchteter Sommernebel lag. Ich habe das alles erkannt und auch wieder nicht, es war so neu und jung, herausgehoben aus dem Vergessen wie die schaumgeborene Göttin aus dem Meer. (HK 118)

Auch hier herrscht, im Gegensatz zu den ersten, dunklen und unscharfen Erinnerungserlebnissen im Kindheitsmuseum í „der Raum ist dunkel, Mann und Hund verbreiten, indem die sich immer schneller drehen, ein eigenes merkwürdiges Licht“ (HK 28) í, Klarheit und Erkenntnis. Doch statt auf „erleuchtete Kammern“ wie im vorangegangenen Zitat, schaut die Protagonistin hier „im Vogelflug“ auf „Gebirge“, „Abhänge“ und „Kastanien“. „Eine Landschaft“, die sie wiedererkennt und die in einem

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„golddurchleuchteten Sommernebel“ liegt. Der ,Nebel des Vergessens‘ existiert noch, aber er ist bereits lichtdurchflutet, sodass Erinnerungen aus dem Gedächtnis emporsteigen können „wie die schaumgeborene Göttin aus dem Meer“. Die sukzessive Aufhellung der Sequenzen spiegelt die Überwindung ihres Widerwillens gegen das Erinnern und zugleich den Erfolg des Erinnerungserlebens wider. Es wird deutlich, dass das Museum als Erinnerungskulisse, als zwischen Kind und Erwachsener geschobener ,Schutz‘-Raum, nicht mehr benötigt wird: „Morgen (ohne Zweifel werde ich die Fortsetzung der Bachszene erleben) werde ich alles noch deutlicher erkennen.“ (HK 121)95

95 Die Protagonistin nimmt hier Bezug auf ihren letzten Besuch im Museum, während dessen ihr eine Erinnerung gezeigt wird, deren Inhalt und Fortsetzung ihr bekannt ist und von der sie hofft, dass sie am nächsten Tag fortgeführt wird: „Und ich wußte auch, wie alles kommen würde, nur daß es noch nicht kam, und es nicht hineingehörte in den Lehrstoff des heutigen Tages.“ (HK 120) 108

D IE , LEBENDE ‘ S AMMLUNG î DAS M USEUM ALS ABGELEHNTER O RT

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BRUCE CHATWINS ROMAN UTZ î ODER WARUM EIN MUSEUM KEIN ORT FÜR EINE SAMMLUNG IST Bruce Chatwins Roman Utz1 schildert das Leben des Prager Sammlers Kaspar Baron Utz2 zur Zeit des Kalten Krieges bis zu dessen Tod im Frühjahr 1974. Die erdichtete Sammlerbiografie beschreibt die Passionen eines Privatsammlers und die sich daraus ergebenden Konflikte mit der kommunistischen Regierung. Im Folgenden geht es vorrangig um die Psychomachie des Sammlers und die spezielle Dynamik von Begehren und Besitzen, die als Grund dafür interpretiert werden können, warum der Sammler seine umfangreiche Sammlung Meißner Porzellans gegen die Vereinnahmung des Staates verteidigt. Es wird die Frage gestellt, warum Utz das Verschwinden der Stücke gegenüber ihrer möglichen Präsentation im tschechischen Staatsmuseum präferiert. In diesem Zusammenhang ist besonders die Interdependenz zwischen Utz’ Leidenschaft für Porzellanfigurinen und jener für Operettendiven, zu denen er häufig wechselnde intime Beziehungen pflegt, interessant. Für die Ausübung dieser Passion ist er, genau wie für die Aufrechterhaltung, Erweiterung und Pflege der Porzellansammlung auf Marta angewiesen, seinem Dienstmädchen und seiner Ehefrau, die zur Schlüsselfigur der Handlung

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Bruce Chatwin: Utz. London: Vintage 2005. [1988] Im laufenden Text wird diese Angabe mit der Sigle U zitiert. Zu diesem Roman inspiriert wurde der Autor während seiner Tätigkeit als Mitarbeiter bei Sothebys durch eine Begegnung mit dem Prager Wissenschaftler und Sammler Rudolf Just (1885-1972), dessen ca. 300 Teile umfassende Sammlung Meißner Porzellans nach dessen Tod nicht gefunden werden konnte, und erst 1999, zehn Jahre nach dem Tod Chatwins, wieder auftauchte í versteckt in einer Wohnung in einem Prager Wohnblock. In Justs Fall ging man bis zum Auffinden der Sammlung davon aus, sie wäre von seiner Haushälterin, die er aus Dankbarkeit dafür, dass sie seine Sammlung durch den Krieg gerettet hatte, zerstört worden, um sie vor dem Zugriff der Kommunisten zu schützen. Vgl. hierzu: Brita Sachs: „Zwischengoldgläser. Aus dem Erbe von Utz“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 59, 10.03.2007, S. 44; dies.: „Auktion. Oh, Rosalia“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 82, 07.04.2007, S. 50 und „unterm strich“. In: taz vom 24.10.2001, S. 12. 111

MUSEEN ERZÄHLEN

avanciert. Die Anlage und der Ausbau, die Standortsicherheit und Bewahrung, vor allem aber auch das Verschwinden der Sammlung einerseits sowie die Fortsetzung der erotischen Beziehungen zu den Sopranistinnen andererseits wird maßgeblich von ihr beeinflusst. Ohne die Protagonistin Marta könnte das Begehren des Sammlers Utz in keiner Hinsicht befriedigt werden. Ohne sie, so wird deutlich, wäre es dem männlichen Sammlersubjekt nicht möglich, seine Sammlungen anzulegen und seine Leidenschaften auszuleben. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen werden, in welcher Beziehung Marta zum Sammler steht, und inwieweit Intimität und Sexualität als Bindeglied zwischen den beiden Protagonisten angesehen werden kann. Denn Marta ist es, die es Utz durch eine Eheschließung ermöglicht, eine geräumigere Wohnung zu beziehen und die damit den Verbleib der Sammlung beim Sammler sicherstellt. Sie ist es auch, die die zahlreichen Damenbesuche in der Široká-Straße vorbereitet: „[S]he acquired a professional’s skill in preparing the bedroom for ladies too proud, or too ashamed, to bring an overnight bag.“ (U 113) Und sie ist es schließlich, die die das Verschwinden respektive die Zerstörung der Sammlung forciert. So suggeriert es zumindest der Erzähler, wenn er sagt, dass seine revised version of the story is, that, on the night after their wedding [Utz’s and Marta’s, Anm. M. W.] in church, she emerged from the bathroom in her pink art-silk dressing-gown and, unloosing the girdle, let it slide to the floor and embraced him as true wife. And from that hour, they passed their days in passionate adoration of each other, resenting anything that might come between them. And the porcelains were bits of cold crockery that simply had to go. (U 125126)

Die unbewiesene Annahme des Pariser Journalisten (vgl. U 96), dass die Sammlung im Leben des Sammlers einen zu großen Platz eingenommen hat und ihre Zerstörung die logische Konsequenz aus der engen Beziehung zwischen Utz und Marta ist, bietet dem Leser eine mögliche Lösung für die Gründe an, die das Verschwinden der Porzellansammlung herbeigeführt haben, und lassen ihm gleichzeitig Raum für eigene Hypothesen.3 Wie zum Beispiel, dass ein Beweggrund die Idee der Vorweg-

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Der 1991 gedrehte Film Utz (Großbritannien/Italien/Deutschland) unter der Regie von George Sluizer lässt dieses offenen Ende der Romanvorlage nicht bestehen. Er folgt der Annahme des Journalisten und zeigt die Zerstörung der Sammlung. Die Aktualität des Romans beweist eine Sonderausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg vom 26. Januar bis 17. Juni 2007 mit dem Titel „Armin Mueller-Stahl í Szene und Zeichnung. Ca. 65 übermalte Drehbuchseiten zum Film ,Utz‘“. 112

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nahme ihres sicheren Todes im Museum sein könnte, oder dass sie der Sammler, um es mit Krzysztof Pomian auszudrücken, in den Bereich des Unsichtbaren überführt haben könnte, um mit ihr dasselbe Schicksal zu teilen, welches auch ihm als Menschen unausweichlich bevorsteht. Die potenziellen Gründe für ihre Zerstörung sind, wie die Analyse zeigen wird, disparat, haben aber alle denselben Ursprung: die Abhängigkeit des Sammlers von seiner Sammlung. Der Grund, warum der Roman Utz von Bruce Chatwin, welcher das Thema Museum marginal behandelt, Aufnahme in die Auswahl der hier analysierten Texte gefunden hat, ist offenkundig: Betrachtet man die enge Bindung eines Privatsammlers an seine Sammlung und zeigt den Verlust auf, den die Überführung der Sammlung in ein Museum für den Sammler bedeuten würde, lassen sich ex negativo Aussagen über die Institution Museum formulieren, und darüber, warum sie kein Ort für eine Sammlung ist.

Das rätselhafte Verschwinden der Sammlung Utz Die Rahmenhandlung des Romans wird durch zwei konkrete Daten bestimmt: der ersten Begegnung zwischen dem Journalisten und Erzähler4 und dem Sammler Utz im Winter 1967 í „,Prague Spring‘ was almost a year away“ (U 95) í und einem zweiten, spontanen Besuch des Journalisten in Prag etwa 20 Jahre später, während dem er versucht, den Verbleib der Sammlung Utz zu eruieren. Dreizehn Jahre sind zu diesem Zeitpunkt bereits vergangen, seit der Journalist vom Tod des Sammlers erfahren hat, dennoch forscht er nach Menschen, die in einer Beziehung zu diesem gestanden haben. Er beginnt seine Recherchen in Utz’ ehemaligem Wohnhaus in der Široká-Straße. Dort trifft er auf die Nachbarin Ada Krasova, einer Operettensängerin, über die er später erfahren wird, dass sie eine Liebesbeziehung zu Utz unterhalten hatte. Sie gibt ihm den Hinweis, sich an die Kuratorin des Rudolfinums zu wenden, das Museum, in dessen Besitz die Sammlung nach dem Tode Utz’ übergehen sollte. Die Kuratorin informiert den Forschenden, dass die gesamte Sammlung verschwunden ist: „,All those beautiful pieces …! They have gone …! […] 4

Bereits die einander abwechselnden Erzählweisen der Ich-Erzählsituation mit der auktorialen nehmen das romanbestimmende Motiv der Dopplung auf. Der Ich-Erzähler gibt seine subjektive Sicht der Dinge wieder, während sich in den auktorial erzählten Textpassagen recherchierte Bruchstücke aus Utz’ Leben zu einem kohärenten Ganzen verbinden, ohne dass jede Quelle im Einzelnen genannt wird. 113

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Vanished!‘“ (U 104) Und auf die Frage, wann dies geschehen sei, wird ihm die Antwort gegeben: „,We do not know.‘“ (U 104) Sie wisse lediglich, dass der Direktor des Rudolfinums, der zwei Tage nach der Beerdigung wie vereinbart die Sammlung aus der Široká-Straße abholen lassen wollte, nur leere Regalböden vorgefunden habe: „Two days later, when they kept their appointment at No. 5 Široká Street, no one answered the bell. In exasperation, they called for a man to pick the lock. The shelves were bare.“ (U 105) Zeugnis ihrer physischen Vorhandenheit seien lediglich die Leerstellen im ,Staubteppich‘ auf den Regalbrettern und Möbeln gewesen: „,[N]ot a single peace of porcelains could be found: only dust-marks where porcelains had been, and marks on the carpet where the animals from the Japanese Palace had stood.‘“ (U 105) Die einzige menschliche Zeugin, die Aufschluss über den Verbleib der Sammlung hätte geben können, sei das Dienstmädchen Marta gewesen, dem man bis heute keinen Glauben schenke: „,We do not believe her story.‘“ (U 105) Von diesen Informationen geleitet, verfolgt der Erzähler die Spur des verschwundenen Porzellans weiter und vereinbart ein Treffen mit Dr. Orlík, einem Freund Utz’, den er bereits während seines Besuchs 1968 kennengelernt und der ihn 1974 über den Tod seines Freundes Utz unterrichtet hatte. Von ihm erfährt der Journalist, was mit dem Porzellan geschehen sein könnte: „,He has thrown‘, he said. [...] He broke and she broke. Sometimes he broke and she threw.‘“ (U 107) Doch Orlík schränkt seine Aussage wieder ein: „,I am saying and I am not saying.‘“ (U 108) Von nun an folgt der Journalist der ,Spur‘ des verschwundenen Porzellans und ist begierig, eine Antwort auf seine drängende Frage, ob Marta und Utz die Sammlung tatsächlich zerstört haben, zu erlangen: „When reconstructing any story, the wilder the chase the more likely it is to yield results.“ (U 121) Die Tätigkeit des Sammelns5 wird so auf der literarischen Ebene fortgeführt. Aus den Erinnerungsfragmenten der Befragten und den Spekulationen, die der Ich-Erzähler diesen hinzufügt, wird ein Roman gewoben, dessen Inhalt die Lebensgeschichte eines Sammlers wiedergibt. Für ihn liegt der Gedanke nahe, dass das zerschlagene Por-

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Das Sammeln wird an vielen Stellen im Roman thematisiert. So zum Beispiel in Bezug auf Dr. Orlík, der Fliegen sammelt („Dr. Orlík is a collector […] of flies.“ (U 26)), oder Marta und Utz, die einmal jährlich in den Wald fahren (vgl. U 70-71), um Pilze zu sammeln und schließlich die Bezüge, die zwischen Utz und seinen historischen Vorbildern wie August dem Starken und Kaiser Rudolf II („Utz is a Rudolf of our time“ (U 14)), beide passionierte Sammler, hergestellt werden. 114

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zellan von der Široká-Straße auf die Mülldeponie6 gelangt sein muss, und er versucht jeden Hinweis in diese Richtung zu verfolgen: „I now come to the most difficult part of my story. Once I took it into my head that the Utz Collection could [Hervorhebung im Original, Anm. M. W.] have vanished down the maw of a garbage truck, my temptation was to twist every scrap of evidence in that direction.“ (U 124) Die Erinnerungen des Müllmanns Košik, den er zu diesem Anhaltspunkt befragt, und der bestätigt, dass in der Zeit vor Utz’ Tod zwei Personen auf der Müllkippe gewesen wären, die der Beschreibung nach Utz und Marta hätten sein können, werden zu einem entscheidenden Verbindungsglied. Sie fügen die einzelnen Teile der Geschichte zu einem kohärenten Ganzen zusammen, dessen Wahrheitsgehalt der Ich-Erzähler aber immer wieder infrage stellt. Er zweifelt daran, ob er wirklich die Wahrheit über das Verschwinden der Sammlung erfahren hat: „But I am doubtful, in retrospect, whether his answers were genuine, or the answer I wanted to hear. I cannot place much reliance on the image he spun for me.“ (U 124) Warum, so lassen sich die bisherigen Ausführungen zusammenführen, verschwindet die Sammlung mit dem Tod des Sammlers? Und warum verhindert Utz den Zugriff des Staates auf seine Sammlung und ihre Ausstellung im Staatsmuseum? Warum präferiert er möglicherweise stattdessen die Mülldeponie als Ort für ihren Tod? Und kann man schließlich das Verschwinden der Sammlung als politische, weil anarchistische, Handlung gegenüber dem kommunistischen Staat verstehen oder als privat motivierten Akt?

Der Privatsammler in einem kommunistischen Staat Die Einstellung der kommunistischen Regierung in der Tschechoslowakei zur Zeit des Kalten Krieges gegenüber dem Privatsammler ist inkongruent im Vergleich zu seiner Haltung gegenüber anderen Fragen, die das Thema Privatbesitz betreffen: Besides, Marxist-Leninism had never got to grips with the concept of the private collection. Trotsky, around the time of the Third International, had made a few offhand comments on the subject. But no one had ever decided if the ownership of a work of art damned its owner in the eyes of the Proletariat. (U 22)

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Vgl. hierzu: Anne-Katrin Hillebrand: „Der Sammler und der Staat – Chatwins Utz“. In: Dies.: Erinnerung und Raum. Friedhöfe und Museen in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 228-248: 246. 115

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Eine verbindliche Grundhaltung gegenüber der Frage, ob der Sammler ein „class-enemy“ (U 22) ist, hat der kommunistische Staat nicht und er definiert keine klare Grenze zwischen Eigentum und Haushaltsgegenständen: The Revolution, of course, postulated the abolition of private property without ever defining the tenuous borderline between property (which was harmful to society) and household goods (which were not). […] Porcelain could also be classed as crockery. So, providing it wasn’t smuggled from the country, it was, in theory, valueless. To start confiscating ceramic statuettes could turn into an administrative nightmare: ,Image trying to confiscate an infinite quantity of plaster-of-Paris Lenin …‘ (U 22)

Konfiszierte der Staat jeden Gegenstand, den ein Mensch nicht im alltäglichen Gebrauch verwendet, bedeutete dies, dass auch jede Gipsbüste Lenins aus den Haushalten entfernt werden müsste. Um dieses Dilemma zu umgehen, räumt der Staat die Möglichkeit ein, Porzellan oder Gips als „household goods“ und damit als nicht klassenfeindlich einzustufen.7 Eine Regelung, von der auch der Sammler Utz profitiert und die es ihm ermöglicht, seine „spectacular collection of Meissen porcelain which […] by 1967 numbered over a thousand pieces“ (U 15) zu behalten. Porzellan kann, wie erläutert, als Gebrauchsgut definiert werden. Das entzieht ihm seinen Status als Kunstgegenstand und damit seinen materiellen Wert und die daran gekoppelten westlichen und klassenfeindlichen Wertvorstellungen. Utz wird so ein Raum eröffnet, in dem er als Privatsammler in einem kommunistischen Staat leben kann. Diese paradoxe Lebenssituation wird durch ein stillschweigendes Übereinkommen besiegelt: It seems that the communist authorities – ever ready to assume the veneer of legality – had allowed Utz to keep the collection providing every piece was photographed and numbered. It was also agreed – although never put in writing – that, after his death, the State Museums would get the lot. (U 22)

Aus diesem Grund wird 1952 eine Delegation í „a curator from the museum; a photographer and an acne-pitted lout who, as Utz guessed, was a member of the secret police“ (U 46) í zwei Wochen lang dazu abgestellt,

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Vgl. Hillebrand (2001): Der Sammler und der Staat, S. 244: „Die Rolle der Kunst im kommunistischen Staat läßt sich auf den Profit reduzieren, den der Staat aus Enteignungen schlagen kann. Die private Sammlung hat keine Daseinsberechtigung, da sie dem Staat Kapital vorenthält. Überdies steht sie den Bestrebungen entgegen, alles Individualistische auszumerzen.“ 116

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die Sammlung zu inventarisieren, zu fotografieren und zu etikettieren. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Sammlung dem Staat gehört und dem Sammler allein als dauerhafte Leihgabe bis zu dessen Tod zur Verfügung gestellt wird. Wenn Utz dem Journalisten während seines Besuchs in diesem Kontext mitteilt, dass „those persons […] have made a mistake“ (U 45) und dieser Satz im Roman nicht weiter ausgedeutet wird, dann lässt sich dies als eine Ankündigung auf das Verschwinden respektive die Zerstörung der Sammlung lesen. Denn indem der Staat die Sammlung beim Sammler lässt, übergibt er ihm auch die Verfügungsgewalt über sie und damit die Möglichkeit, sie kurz vor seinem Tod zu beseitigen. Utz empfindet die Staatsdelegation als unwillkommenen Besucher, die mit den Rechten eines Diebes von seiner Sammlung Besitz ergreift. Er sträubt sich gegen den Gedanken, dass seine Sammlung nach seinem Tod in ihre „grasping hands“ (U 9) übergeht, fühlt sich „abused and assaulted“. (U 47) Eine zweite Sammlung im Ausland zu beginnen, scheint ihm die angemessene Reaktion auf die Übergriffe des Staates zu sein: He felt like the man who, on returning from a journey, finds his house has been burgled. He summoned up a few vague thoughts of suicide. There wasn’t much í was there? í to live for. But no! He wasn’t the type. He would never work up the courage. But could he bring himself to leave the collection? Make a clean break? Begin a new life abroad? He still had money in Switzerland, thank God! Who could tell? In Paris or in New York, he might even begin to collect again. He decided, if he could get out, to go. (U 47)

Mit der Sicherheit der Porzellansammlung als Pfand erhält Utz die Ausreisegenehmigung: „The porcelain collection would be considered surety for his good behaviour, and his safe return.“ (U 48) Doch das Leben im westlichen Ausland gestaltet sich anders als der Flüchtende es sich vorgestellt hat. Die neue Umgebung empfindet er als unfreundlich, er fühlt sich nutzlos und fehl am Platz. Die Vorzüge, die er sich von seiner Flucht in den Westen versprochen hat, sieht er nicht. Ganz im Gegenteil muss er feststellen, „that luxury is only luxurious under adverse conditions“. (U 65) Doch nicht nur aus diesen Gründen, sondern auch, weil er Marta vermisst, beschließt er seine Rückkehr nach Prag: „He was desperately homesick, yet hadn’t given a thought for the porcelains. He could only think of Marta, alone in the apartment.“ (U 67) Nicht die Objekte, die der Staat als Versicherung für seine Rückkehr angesehen hatte, sondern Marta, „the only person he could trust, and, at the same time, use“ (U 51), vermisst er. In Bezug auf die Dinge ist er sich zu diesem Zeitpunkt sicher: Alles ist besser „than to be loved for one’s things“. (U 60) 117

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Er kehrt in eine Stadt zurück, zu der er ein zwiespältiges Verhältnis hat. Einerseits hasst er sie, aber andererseits empfindet er sie als den richtigen Ort für sein melancholisches Temperament. (Vgl. U 90) Seiner Meinung nach trägt die Stadt eine „tragic mask“ (U 30), weil alle Wünsche und Bedürfnisse, die von Staatsseite aus verboten sind, heimlich befriedigt werden müssen. Es herrscht die Zeit des Kalten Krieges, in der es keine Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung gibt: Bücher werden zensiert, Museen, Kirchen sowie andere kulturelle Denkmäler und Institutionen sind für die Bevölkerung geschlossen,8 unbescholtene Bürger wie Utz werden durch den Staat abgehört (vgl. U 80).9 Auch Utz fügt sich in die Konditionen, die das Leben in einem kommunistischen Staat í in einer Stadt mit einer „blistering façade“ (U 30) í vorgibt: Hinter der ,Maske‘ eines fügsamen, x-beliebigen kommunistischen Staatsbürgers lebt er das Leben eines Privatsammlers: The more he considered the alternatives, the clearer the solution seemed to him. Not that he would be happy in Czechoslovakia. He would be harassed, menaced, insulted. He would have to grovels. He would have to agree with every word they said. He would mouth their meaningless, ungrammatical formulae. He would learn to ,live within the lie‘. (U 67)

Sein weiteres Leben in der Tschechoslowakei wird allerdings durch drei entscheidende, existenzielle Erkenntnisse, die er während seines Auslandsaufenthaltes gewonnen hat, beeinflusst. Zum einen hat er fortan die Gewissheit, dass es eine Erweiterung der Sammlung in einem „safe deposit, in the Union de Banques Suisses in Geneva“ (U 111) gibt, die ihm die Option eines möglichen Neuanfangs bietet: „[T]he calculation being that if, over the years, the cache in Geneva approached the quality, not 8

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Beispiel hierfür: Als der Journalist Jahre nach Utz’ Tod nach dem Verbleib der Sammlung forscht und zu diesem Zweck die Kuratorin des Rudolfinums befragt, wird erwähnt, dass das Museum seit Jahren für die Öffentlichkeit geschlossen ist. „The Museum was shut for ,various reasons‘ í as it had been shut in 1967.“ (U 102) Auf die Frage, warum dies so sei, antwortet die Kuratorin: „,Why do you think?‘ She let put a quick, throaty laugh. ,To keep the People out!‘“ (U 103) Zur Beziehung zwischen dem Sammler Utz und dem kommunistischem Staat vgl. Wolfgang Werth: „Bruce Chatwin: Utz“. In: Ders.: Kontingenz und Alterität. Kategorien historischer Erfahrung in der angloamerikanischen Literatur und bildenden Kunst (Bruce Chatwin und Michael Ondaatje). Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, S. 95-116. Allgemein kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Forschungssituation im Hinblick auf die hier zugrunde liegende Fokussierung überraschend defizitär ist. 118

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necessarily the quantity, of the collection in Prague, he might once again be tempted to emigrate.“ (U 76) Ferner entdeckt Utz seine Leidenschaft für Opernsängerinnen, die ihn in der Zukunft dazu veranlassen wird, eine Vielzahl von Sopranistinnen als Geliebte zu gewinnen, um sie als erotische ,Trophäen‘ in eine Sammlung amouröser Abenteuer zu stellen. Und schließlich erkennt die Hauptfigur in ihrer kurzen Flucht ins Ausland eine Möglichkeit, den Rest des Jahres in der engen Wohnung mit Marta und der Sammlung verbringen zu können. Denn von nun an fährt er immer dann, wenn er seines Lebens in Prag überdrüssig geworden ist, nach Vichy: „By April, too, he felt acute claustrophobia, from having spent the winter months in close proximity to the adoring Marta: to say nothing to the boredom, verging of fury, that came from living those month with lifeless porcelains.“ (U 74) Siebzehn Jahre lang, von 1952 bis 1973, reist Utz einmal jährlich ins Ausland: „Because of his investments in the West í and powers of persuasion that mystified both himself and the bureaucrats of Prague í he succeeded in keeping a foot in both camps.“ (U 74) Doch was sich zunächst als rätselhaft für den Journalisten darstellt, entpuppt sich ihm schließlich als schlichtes Abkommen zwischen Staat und Sammler: I must have been very naive to think the authorities would let him travel back and forth without a favour in return. […] It was clear [… ] I now suspect that the safe-deposit in the Union de Banques Suisse in Geneva was an unofficial shop í with a Mr Utz in charge í through which confiscated works of art were sold. (U 111)

So ist beiden Seiten geholfen: Der Staat findet einen inoffiziellen Weg, um durch Verkäufe beschlagnahmter Kunstgegenstände an harte Währung zu gelangen, und Utz kann seine regelmäßige ,Flucht‘ antreten, die ihm den Rest des Jahres die Gesellschaft von Marta und den Porzellanfigurinen erträglich macht.

Warum eine Sammlung im Museum ,stirbt‘ Privatsammler versus Museumsvitrine Gäbe ein Sammler seine Sammlung in ein Museum, bedeutete dies nicht nur eine Werteverschiebung,10 sondern vor allem auch einen Verlust der 10 Vgl. dazu Benjamin: Gesammelte Schriften V, S. 269-280. Hierin sagt Benjamin unter anderem, dass das Verhältnis des Sammlers zu den Objekten marginal durch den ökonomischen Wert der Ware, den er ihr zuschreibe, 119

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Sammlung für den Sammler. Utz weitet diese Überlegungen dahingehend aus, dass er sich fragt, was es für die Dinge einer Sammlung bedeutet, wenn sie ihren Sammler verlieren und spricht sich entschieden gegen das Museum aus: His second publication was entitled ,The Private Collector‘: ,An object in a museum case‘, he wrote, ,must suffer the de-natured existence of an animal in the zoo. In any museum the object dies – of suffocation and the public gaze – whereas private ownership confers on the owner the right and the need to touch. As a young child will reach out to handle the thing it names, so the passionate collector, his eye in harmony with his hand, restores to the object the life-giving touch of its maker. The collector’s enemy is the museum curator. Ideally, museums should be looted every fifty years, and their collections returned to circulation …‘ (U 17)

Hier wird ein signifikantes Thema des Romans, die Dialektik von Leben und Tod, klar benannt. Der Verfasser kontrastiert in seinem Aufsatz das ,Leben‘ eines Gegenstands in einer Museumsvitrine mit dem in den Händen eines Privatsammlers. Unter den „starren Blicken“ des Publikums in einem Museum, „stirbt“ der Gegenstand. Utz präferiert die Privatsammlung vor dem Museum, weil sie dem Eigentümer einer Sammlung das Recht und die Option gibt, den Dingen ihre „lebensspendende Berührung“ zu stiften, denn sie erhält den „Charakter der Wiederholung des Schöpfungsaktes í sie gibt dem Gegenstand das Leben wieder.“11 Nur durch den Sammler erhält die Sammlung ihren Sinn. Der Sammler ist das Endstück der Sammlung – nur durch ihn wird sie vollständig. Aus diesen Gründen bedeutet ein Museum, in dem die Semiophoren12 in Vitrinen präsentiert werden, für den Sammler einen inadäquaten Ort, und Utz’ Gedanken münden in die Forderung, dass die Sammlungen eines Museums alle fünfzig Jahre aus ihren Vitrinen befreit und wieder in den Kreislauf zirkulierender Sammlerobjekte eingespeist werden sollten. Hier wird eine eigene Sammelobjektzirkulation entworfen, die nicht nur voraussetzt, dass ein Objekt, wie Pomian es beschreibt, „zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten“13 wird, sondern die eines eigenen Markts bedarf, auf dem die begehrten Objekte den suchenden Sammlern zur Verfügung gestellt werden können. Das gefangene, erstarrte Objekt soll damit die Möglichkeit erhalten,

geprägt sei, als vielmehr durch einen abstrakten Liebhaberwert, den er ihr statt ihres praktischen Nutzens zuweise. 11 Vgl. Hillebrand (2001): Der Sammler und der Staat, S. 232. 12 Vgl. hierzu Pomian (1997): Ursprung des Museums. 13 Pomian (1997): Ursprung des Museums, S. 16. 120

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in den Besitz eines Privatsammlers zu gelangen. Walter Benjamin kleidet diesen Gedanken in folgende Worte: Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn. Wenn öffentliche Sammlungen nach der sozialen Seite hin unanstößiger, nach der wissenschaftlichen nützlicher sein mögen als die privaten – die Gegenstände kommen nur in diesen zu ihrem Recht.14

Die Unzulänglichkeiten eines konventionellen, konservativen Museums, in dem vor allem der Gesichts-, seltener der Gehörsinn und nur in Ausnahmefällen der Tastsinn angesprochen werden, beschäftigen in diesem Essay den Sammler Utz. Seine Gedanken sind innerhalb eines Diskurses zu lesen, in dem eine Vielzahl von Philosophen, Kunsthistorikern, Psychoanalytikern, Sozial- und Gesellschaftswissenschaftlern ihre Kritik an Museen geäußert haben. So charakterisiert beispielsweise der Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler Karl-Josef Pazzini das Museum als eine Institution, welche eine rituelle Ordnung auf visueller Ebene entstehen lasse, die alle Sinne dem Auge unterordne.15 Die Missbilligung des Museums sei, so schreibt Pazzini in einem gemeinsamen Aufsatz mit Gottfried Fliedl, eng verknüpft mit einer Ablehnung der „gefahrlosen Präsenz“16, mit der die ausgestellten Objekte aufgrund ihrer Dekontextualisierung ausgestattet seien, und führt den zuerst genannten Gedanken dadurch weiter aus. Ein Museum präsentiere ein Objekt in einem Museum in einer Form, welche es eindeutig als museal erkennbar mache, und distanziere es von seinem Betrachter: „Das Objekt befindet sich von nun an in einem Raum des Unberührbaren, Auratischen, zum Beispiel in einer Vitrine, hinter Panzerglas, durch eine Alarmanlage geschützt, sakral erhöht.“17 Wenn es in Utz heißt, dass ein Museumsobjekt unter der „de-natured existence of an animal in the zoo“ (U 17) leiden müsse, betont dies zum einen, dass der Protagonist die Objekte seiner Sammlung für lebendig hält, und zum anderen, dass er ihnen niemals zumuten möchte, das Leben

14 Walter Benjamin: „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“. In: Ders.: Denkbilder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 88-96: 95. Die besondere Betonung liegt in Benjamins Aufsatz zum einen auf der Frage nach der Bedeutung des Besitzes für den Sammler und zum anderen auf der Verknüpfung zwischen den Sammlungsobjekten und ihrem Einfluss auf die Erinnerung des Sammlers. Letztgenannter Aspekt tritt in Utz eher in den Hintergrund. 15 Pazzini (1990): Tod im Museum, S. 90. 16 Fliedl (1996): Museum-Opfer-Blick, S. 149. 17 Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 106. 121

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eines Tiers im Zoo zu führen, da sie aus seiner Perspektive gesehen unter dieser leiden müssten. Auf der Folie dieser Ablehnung entwirft Utz sein eignes, privates Sammleruniversum, in dem die Figurinen lebendiger Teil seines eigenen Lebens werden: „[F]or him, this world of little figures was the real world. (U 94) Zugleich übt Utz Kritik an der Entkontextualisierung des Objekts aus seinem ursprünglichen Zusammenhang und seine Überführung in einen neuen, künstlichen Ordnungszusammenhang. Ein Phänomen, welches sich etwa mit Paul Valérys Worten kommentieren lässt: Nichts daran ist menschlich, nichts echt. Es ist paradox, diese unabhängigen, aber gegensätzlichen Wunderwerke [in einem Museum; Anm. M. W.] einander näher bringen zu wollen, denn wenn sie sich am meisten ähneln, stehen sie im schroffsten Gegensatz zueinander. Nur eine Zivilisation, die weder üppig noch vernünftig ist, kann dieses Haus der Zusammenhanglosigkeit errichtet haben. Ich weiß nicht, auf welche Unsinnigkeit dieses Nebeneinander toter Visionen hinausläuft, die sich den Blick, welcher ihnen zur Existenz verhilft, neiden und streitig machen. Von allen Seiten fordern sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit.18

Vom Auge des Betrachters werde die Gleichzeitigkeit eines „organisierten Durcheinanders“19, der „Tumult eiserstarrter Wesen, von denen jedes einzelne vergeblich das Nichtvorhandensein aller anderen fordert“20, zugemutet. Ihm werde etwas abverlangt, das vom Ohr eines Konzertbesuchers nicht gefordert werde: „Das Ohr ertrüge nicht, zehn Orchester zur gleichen Zeit zu hören. Der Verstand kann mehreren unterschiedlichen Vorgängen weder folgen noch sie durchführen. Man kann nicht zur gleichen Zeit verschiedene Dinge überlegen.“21 Für Pazzini stellt der Prozess des Musealisierens, wie es oben bereits angeklungen ist, wenn er von Museen als Orten „gefahrloser Präsenz“ spricht, einen Akt von Angstabwehr des Menschen vor dem Zerfall seiner Identität dar. Musealisierung soll gegen den Tod und gegen das Verschwinden angehen: „Für das Objekt beginnt ein neues Leben, ein Leben nach dem Tod in einem Totenreich“22, sagt Pazzini, und knüpft damit an die Diskussion um das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften, Natio-

18 Paul Valéry: „Das Problem der Museen“. In: Ders.: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. Band 6 der Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden. Hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt/M.: Insel 1995, S. 445-449: S. 446. 19 Valéry (1995): Das Problem der Museen, S. 445. 20 Valéry (1995): Das Problem der Museen, S. 445. 21 Valéry (1995): Das Problem der Museen, S. 446. 22 Pazzini (1989): Tod im Museum, S. 132. 122

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nen etc. an. Auch Henri Pierre Jeudy betont in Die Welt als Museum, dass sich in der Errichtung eines Museums vor allem dieser Wunsch des Erhaltens ausdrücke: Ein Museum, mag es auch noch so lebendig, dynamisch, didaktisch, hypermodern und superattraktiv sein, bleibt ein Museum. Der feste Wille, die Räume, in denen Gegenstände aus Kunst, Technik und Wissenschaft ausgestellt werden, zu renovieren, zu transformieren und zu modernisieren, ändert nichts am Vorhaben der kulturellen Erhaltung.23

Und er betont ebenfalls den Aspekt des Abrückens von einer individuellen Bezugsperson für die Sammlung: „Die in den Kellern und Speichern der Museen gelagerten Bestände offenbaren ebenso sehr die Willkür der kulturellen Auswahl wie die Obsession des Erhaltens.“24 So ist zwar die Auswahl subjektiv von einer dafür verantwortlichen Person wie einem Kurator getroffen worden, die Sammlung selbst hat aber keinen konkreten Bezug zu einer Einzelperson. Utz’ Motivation, die Überführung der Sammlung in das Staatsmuseum zu verhindern, ist genau in diesem Punkt begründet. Er ist nicht bereit, sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit auf seine Sammlung und der damit einhergehenden engen Bindung an sie zu verzichten. Angespornt durch seine Furcht, dass es für ihn keinen adäquaten Nachfolger geben wird, der die ,Magie‘ der Porzellanfigurinen erkennen und sie durch Berührung erneuern kann, entzieht er ihr kurz vor seinem eigenen Tod ihre Materialität und damit den menschlichen Blicken. Er raubt ihnen auf diese Weise ihren Subjektstatus, welchen sie in seinem Mikrokosmos25, den seine Sammlung für ihn darstellt, eingenommen haben.26 23 Jeudy (1987): Welt als Museum, S. 20. 24 Jeudy (1987): Welt als Museum, S. 20. 25 Vgl. dazu. Pazzini (2003): Über Reste. Karl-Josef Pazzini formuliert über die Person des Sammlers, dass die Sammlung zur Identitätsbildung des Sammlers beitrage, und dass ein Sammler der Schöpfer eines Mikrokosmos sei, in dem er über seine Gegenstände herrsche. Er erklärt dies ausgehend von der Erkenntnis, dass der Mensch zur Vorratshaltung schon immer gesammelt habe, und dass sich der Lebensrhythmus des Menschen zwar erheblich vom Naturrhythmus entfernt habe, dass der Sammlertrieb aber weiterhin fortbestehe und nun Waren, Objekte, Geld etc. gesammelt, gehortet werden. Diese Dinge gehörten zur Identitätsbildung des Menschen. Genau wie beim Anlegen eines Essensvorrats für den Winter im Sommer spiele dabei immer auch der Verzicht zum Zeitpunkt der Einlagerung eine große Rolle. Vgl. dazu ebenfalls: Grote (1994): Macrocosmos in Microcosmo. 26 Vgl. dazu Yoko Tawada: „Der Sammler und der Tod“. In: Gisela Ecker et al. (Hg.): Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen. Königstein/Taunus: Helmer 123

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Einblicke in das Leben eines passionierten Privatsammlers In der Figur des Sammlers Utz begegnet dem Leser eine vielschichtige Figur, die sich durch ambivalente Verhaltensweisen und Handlungen auszeichnet. Ein Exkurs in die Psyche und das Wesen eines Sammlers, lässt die bereits aufgeführten Beweggründe des leidenschaftlichen Sammlers Utz, seine Sammlung zu vergrößern und sie gegen Einflüsse von außen zu schützen, besser verstehen. Beschäftigt man sich auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen mit (fiktiven) Sammlerbiografien, dann gibt es eine Reihe immer wiederkehrender Parameter.27 Zuerst stellt sich die Frage nach der Erweckung der Sammelleidenschaft respektive nach einem auslösenden Moment, einem Schlüsseloder Initialerlebnis, in dem die Entscheidung zu sammeln gefällt wurde. Auch für den Protagonisten in Bruce Chatwins Roman Utz wird dies dezidiert beschrieben. Kaspar Joachim Utz wächst als Sohn einer wohlhabenden Familie kleiner sächsischer Landbesitzer auf und verbringt die Ferien während seiner Kindheit im Schloss seiner Großmutter zwischen Prag und Tabor. Dort entdeckt er eines Tages eine Harlekinfigur in einer Vitrine: „It was at ýéske Jréžov í that this precocious child, standing on tiptoe before a vitrine of antique porcelain, found himself bewitched by a figurine of Harlequin that had been modelled by the greatest of Meissen modellers, J. J. Kaendler.“ (U 16) Das Verlangen des jungen Utz, den Harlekin, von dem er verhext ist, zu besitzen, wird nicht sofort gestillt. Denn zum ersten Mal verweigert die Großmutter ihrem geliebten Enkel 2001, S. 186-194: 193. Tawada vertritt die Ansicht, dass Utz seine Sammlung zerstört haben könnte, um sie in das Totenreich zu überführen. Die Autorin nimmt dabei Bezug auf Pomians Semiophorentheorie und stellt fest, dass es zur Zeit des Kalten Krieges keine staatlich anerkannten, religiösen Rituale mehr gegeben hat, die den Austausch zwischen Toten und Lebenden ermöglichten. Diesem Gedanken folgend ließe sich Tawadas Annahme so deuten, dass der Sammler durch die Zerstörung der Sammlung vor seinem Tod, diese in das Reich der Toten, in welches er nach seinem Tod selbst eintreten wird, transformiert haben könnte, um bei ihr zu sein. Für diese Hypothese liefert der Roman allerdings keine Anhaltspunkte, außerdem würde diese Vermutung voraussetzen, dass der Sammler Utz an ein Leben nach dem Tod glaubt. Ein Punkt der in Utz ebenfalls nicht diskutiert wird. 27 Für eine vertiefende Lektüre im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Vita und den Passionen und Obsessionen leidenschaftlicher Sammler sei auf folgende Publikationen hingewiesen: Philipp Blom: Sammelwunder, Sammelwahn. Aus der Geschichte einer Leidenschaft. Frankfurt/M.: Eichborn 2004 und Werner Muensterberger: Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft. Psychologische Perspektiven. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. 124

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einen Wunsch und schürt so í ohne Absicht í seine Begierde nach der Figur. Einige Jahre muss Utz warten, bevor er sie endlich erhält: Four years later, to console him for the death of his father, the Harlequin arrived in Dresden in a specially made leather box, in time for a dismal Christmas Celebration. Kaspar pivoted the figurine in the flickering candlelight and ran his pudgy fingers, lovingly, over the glaze and brilliant enamels. He had found his vocation: he would devote his life to collecting í ,rescuing‘ as he came to call it – the porcelains of the Meissen factory. (U 17)

Die Übergabe der Harlekinfigur durch die Großmutter, eigentlich als Trost für den Verlust des Vaters gedacht, wird zum Auslöser einer lebenslangen und lebensbestimmenden Passion, welche von seinem unmittelbaren Umfeld als Manie oder Perversion (vgl. U 18) interpretiert wird.28 Indem die Figur in seinen Besitz übergeht, befreit Kaspar Utz sie aus der Vitrine im Haus der Großmutter und damit aus ihrer „de-natured existence“ (U 17) wie er es später in seinem Aufsatz „The Private Collector“ nennen wird.

28 Auch in diesem Zusammenhang liefert die Lektüre von Werner Muensterbergers Ausführungen Aufschluss über die psychologische Perspektive, aus der heraus man sich mit der Leidenschaft des Sammlens beschäftigen kann. Seinen Ausführungen folgend, ließe sich die Harlekinfigur als Übergangsobjekt, einem der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie von Donald Winnicott entlehnten Begriff, bezeichnen. Übertrüge man diese Annahme auf die Situation, in der Utz sich zum Zeitpunkt der Übergabe der Harlekinfigur befindet, hieße das, dass die Figur zu einem materiellen Trost für das Kind Utz wird. Vgl. hierzu: Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 39-40. Diese Interpretationsmöglichkeit wird durch die Szene des ersten Kontakts zwischen Kind und Objekt angeboten, im Verlauf des Romans aber nicht explizit ausgedeutet. In diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Carrie Asman interessant. Sie führt aus, dass die Objekte weder zum Körper des Sammlers noch zur Außenwelt gehörten, sondern dass sie als ,kompensatorische Übergangsobjekte‘ fest umklammert“ würden, „um die Trennung von der Bezugsperson zu leugnen und das Trauma des Alleinseins zu lindern.“ (S. 211) So fungierten die Übergangsobjekte „als Auffangnetz, das den beängstigenden Sturz ins bodenlose ,Leere‘ unterbrechen soll. Die Angst vor dem Verlust hat mit der Angst vor dem eigenen Verschwinden zu tun. Die Umstellung mit Objekten, sich auf dem Rücken der Dinge so in die Welt ,einzubringen‘, daß man über sie Halt gewinnt.“ In: Carrie Asman: „Orte des Sammelns: Xanadu, Weimar“. In: Aleida Assmann et al. (Hg.): Sammler í Bibliophile í Exzentriker. Tübingen: Narr 1998, S. 211-226: 212. 125

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Utz befasst sich vom Moment der Übergabe der ersten Porzellanfigur an mit allen Aspekten ihres Materials. Er studiert die Geschichte, den Ursprung und die Mythen, die sich um die „magical substance“ (U 92) ranken und wird zu einem Kenner der Materie, einem „Rudolf of our time“ (U 14): „He neglected his schoolroom studies, yet studied the history of porcelain manufacture, from its origin in China to its rediscovery in Saxony in the reign of August the Strong.“ (U 17) Die Harlekinfigur stellt das erste Stück seiner Sammlung dar und legt den Grundstein für das Bestreben des Sammlers, die Sammlung zu erweitern, sie eventuell sogar zu vervollständigen.29 Es ist vor allem der Wunsch nach Besitz, der Utz antreibt. Besitzen, um ,retten‘ zu können: „Utz spent hours in the museums of Dresden, scrutinising the ranks of Commedia dell’Arte figures that had come from the royal collections. Locked behind glass, they seemed to beckon him into their secret, Lilliputian world – and also to cry for release.“ (U 17) Ein Wunsch, dessen Erfüllung Walter Benjamin mit den Worten beschreibt: „Dafür zählt aber zu den schönsten Erinnerungen des Sammlers der Augenblick, wo er einem Buch […] beisprang, […] und es, wie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht der Prinz eine schöne Sklavin, kaufte, um ihm die Freiheit zu geben.“30 Getragen wird der Akt der Befreiung, die Rettung des Objekts durch den Sammler, von seiner Überzeugung, dass „das wichtigste Schicksal jedes Exemplars der Zusammenstoß mit ihm selber, mit seiner Sammlung“31 ist, da „für den wahren Sammler […] die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt“32 bedeutet. Benjamin spricht, wie Muensterberger es ausdrückt, von der „Aufregung des Besitzes“33 und sieht im Besitz das allertiefste Verhältnis des Sammlers zu den Dingen: „[N]icht dass sie [die Dinge, Anm. M. W.] in ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt“34, sagt Benjamin und spricht von einem „Gehäuse“35 der Sammelobjekte, in deren Innerem der Sammler sich verortet. Diese „absichtliche Subjektivität“36 charakterisiert nach Meinung Werner Muensterber-

29 Ein Beispiel für einen literarischen Text, in dem es um diese Sehnsucht eines vermögenden Münzsammlers nach dem einen, einzigartigen, die Sammlung vervollkommnenden Stück geht, ist Christine Orbans Roman: Der Sammler. Berlin: Aufbau 1998. 30 Benjamin (1994): Ich packe meine Bibliothek aus, S. 92. 31 Benjamin (1994): Ich packe meine Bibliothek aus, S. 89. 32 Benjamin (1994): Ich packe meine Bibliothek aus, S. 89. 33 Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 37. 34 Benjamin (1994): Ich packe meine Bibliothek aus, S. 96. 35 Benjamin (1994): Ich packe meine Bibliothek aus, S. 96. 36 Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 39. 126

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gers „die Transfigurationen der Objekte im Kopf des Sammlers“37. Dieser Umgang mit den Dingen könne dem Sammler, so Jean Starobinski, einen Ausweg von dem Ort bescheren, den der Körper bewohne. Denn der Blick stelle im wörtlichen Sinne einen Exzess dar, und die Lust am Schauen verbinde sich mit derjenigen, vorläufige Grenzen abzulehnen, zu überschreiten und das Sein jenseits der Erscheinungen erfassen zu wollen.38 Die schillernde Welt seiner Porzellanfigurinen, die der Sammler imaginiert, wenn er sie betrachtet und in seinen Händen hält, stellt eine Flucht aus dem ,grauen Alltag‘ dar39: „[H]e re-entered his world of little figures. His face lit up. He grinned, displaying a set of unhealthy pink gums, and showed me his monkey musicians. ,Lovely ones, aren’t they?‘ ,Lovely, I assented.‘“ (U 44) Voraussetzung für die Entstehung einer Sammlung durch einen ,liebenden‘ Sammler40 ist das Auswählen, Zusammentragen und Aufbewahren von Objekten, denen vom Sammler ein subjektiver Wert zugeschrieben wird, welcher nicht in seiner Brauchbarkeit, sondern in seiner ,lebenskraftspendenden‘ Funktion begründet liegt. Ein Kernelement der Sammlerpersönlichkeit sei es, so Werner Muensterberger, ein immer neues Objekt anzuvisieren, da der Sammler von einem nicht enden wollenden Sehnen erfüllt sei. Es sei ein fortwährendes Suchen, welches unbewusst und unbändig sein könne, und als Zeichen einer grenzenlosen Leidenschaft zu deuten sei.41 Das Sammeln setze beim Sammler ein erstaunliches Wissen, ein kritisches Auge, totales Engagement und oft auch Besessenheit voraus.42 Oft stellten die Dinge, die über ein Potenzial fes-

37 Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 39. 38 Vgl. Jean Starobinski: Das Leben der Augen. Frankfurt/M. (u. a.): Ullstein 1984, S. 9. 39 Ein prominentes Beispiel für eine eben solche Flucht aus dem ,grauen Alltag‘ wird in Stefan Zweigs Erzählung „Die unsichtbare Sammlung“ geschildert, in der ein erblindeter Sammler von Kunstdrucken einem Kunsthändler die leeren Blätter í seine Familie musste nach und nach die Drucke aus finanzieller Not heraus verkaufen í seiner Alben zeigt und sich an den inneren Bildern, die das bloße Berühren der Mappen in ihm erzeugt, ergötzt. Vgl. dazu: Stefan Zweig: „Die unsichtbare Sammlung“. In: Ders.: Meistererzählungen. Frankfurt/M.: Fischer 2006, S. 408-425. 40 Dieser Begriff ist dem Aufsatz von Yoko Tawada entnommen. Vgl. Tawada (2001): Sammler und Tod, S. 186. 41 Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 21-25. 42 Diese Besessenheit wird im Roman literarisch verarbeitet, wenn geschildert wird mit welcher Verbissenheit und unter welchem Leidensdruck Utz den Spaghettiesser während seines ersten Auslandsaufenthaltes von einem anderen Sammler erwirbt. (Vgl. U 76) 127

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selnder Kraft verfügten, einen Weg in eine verborgene und private Welt dar. Dieser Eindruck spiegelt sich auch in den Ausführungen des Erzählers wider: „[H]e [Utz, Anm. M. W.] came close to believing in his fantasy: that this was [Hervorhebung im Original, Anm. M W.] the ,porcelain palace‘, and he himself was Augustus reincarnate.“ (U 49) Für den Protagonisten Utz sind seine Sammlungsobjekte Teil seines ,realen‘ Lebens. Sie stiften ihm ein Gefühl von Identität und dienen ihm als Quelle zur Selbstdefinition. Sie können in ihm, mit Muensterberger gesprochen, eine Veränderung von Macht und Wert durch ihre lustbringende Funktion hervorrufen und gegen Unsicherheit und Ängste wirken.43 Muensterberger verweist in diesem Zusammenhang wiederholt auf Walter Benjamin, der dazu Folgendes formuliert: „Man hat nur einen Sammler zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in den Händen, so scheint er inspiriert durch sie in ihre Ferne zu schauen.“44 Muensterberger bekräftigt Benjamins Aussage, indem er ausführt, dass der neue Eigentümer durch das Ding vergangene Zeiten durchlebe und seinen Objekten ein Eigenleben und eine eigene Geschichte zuschreibe. Dies stelle zugleich eine symbolische Verbindung mit einer fernen Vergangenheit her und sei somit ein Zeugnis für Kontinuität.45 So ergeht es auch Utz, der sich an den Hof August des Starken versetzt fühlt, wenn er die „ladies of the court“ (U 43) in seinen Händen hält. Er wird, mit Benjamin gesprochen, zum „Physiognomiker der Dingwelt“, zum „Schicksalsdeuter“, der durch die Dinge „in ihre Ferne schaut“46. Die ,Rettung‘ erfolgt also gegenseitig47: Die Sammlung ,rettet‘ das Leben des Sammlers, indem sie seinem Leben Sinn gibt, andererseits ,rettet‘ jener die Figuren vor dem, von ihm selbst attestierten Vergessen, Verschwinden bzw. ihrem ,Tod‘ im Museum. Für ihn, den „porcelain millionaire“ (U 82), der seinen Besitzer- und Sammlerstolz auch dezidiert äußert: „,I‘“, Utz boasted, ,am the only private collector to possess 43 Vgl. Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 24-25. 44 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 89. 45 Vgl. Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 35 und Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus. 46 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 89. 47 Das Motiv der gegenseitigen Rettung wird auf einer weiteren inhaltlichen Ebene im Roman aufgegriffen: Marta ,rettet‘ den Sammler Utz, indem sie ihn, wie bereits ausgeführt, in allen seinen Wünschen und Belangen in Bezug auf seine Sammlung(en) unterstützt. Zugleich errettet Utz aber auch Marta vor dem wütenden Dorfmob und nimmt sie in seinen häuslichen Dienst auf. 128

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the whole set‘“ (U 45). Doch der materielle Wert seiner Sammlung ist im Vergleich zu seiner emotionalen nur von marginaler Bedeutung. Der passionierte, „balzacische“48 Sammler, der aufgrund seiner „Porzellankrankheit“ dazu ,gezwungen‘ ist, in der Tschechoslowakei zu leben, sieht in seinen finanziellen Ressourcen lediglich ein Mittel, um weitere Sammlungsstücke zu erwerben. So reist er zwar regelmäßig in die Schweiz, um neue Objekte zu kaufen, und nutzt dazu auch seine Devisen, die sich auf Schweizer Bankkonten befinden, seine stete Rückkehr in die Tschechoslowakei aber beweist, genau wie die Tatsache, dass er seine Figurinen lieber mit nach Prag nimmt als sie in ihrem „stainlesssteel coffin“49 (U 79) ,sterben‘ zu lassen, dass der wirtschaftliche Wert

48 Vgl. hierzu die Ausführungen von Walter Benjamin, der den Sammlertypus in Honoré Balzacs Roman Vetter Pons beschreibt: „Dies ist vor allem kennzeichnend: so genau wir mit den Beständen der Sammlung, für die Pons lebt, bekannt werden, so wenig erfahren wir von der Geschichte ihres Erwerbs. […] Das Hochgefühl, von dem alle Fibern seines Pons […] zittern, ist der Stolz í Stolz auf die unvergleichlichen Schätze, die sie mit nimmermüder Besorgnis hüten. Balzac legt allen Akzent auf die Darstellung des ,Besitzenden‘, und das Wort ,Millionär‘ läuft ihm als Synonym für das Wort ,Sammler‘ unter.“ In: Walter Benjamin: „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 282005, S. 67-107: 92. Genau wie in Benjamins Beschreibung, erfährt der Leser bzw. die Leserin ebenfalls wenig über die konkrete Erwerbsgeschichte der zahlreichen Sammlungsstücke Utz’. Ferner bezeichnet sich Utz selbst als „procelain millionaire“ (U 82). Die Übertragung, die Benjamin allerdings leistet, wenn er die Charakterisierung der Figur Pons auf den Historiker und Sammler Fuchs transformiert und eine Fortsetzung dieses balzacischen Sammlertypus in der Tatsache sieht, dass ein „Sammler, dessen Stolz, dessen Expansivität ihn dahin führt, daß er, um vor aller Augen mit seinen Sammlungen zu erschienen, diese in Reproduktionswerken auf den Markt bringt und í eine nicht minder balzacische Wendung í auf diese Weise ein reicher Man wird“ (In: Benjamin (2005): Fuchs, S. 93) findet sich in Chatwins Roman Utz nicht. 49 Diese Sammlung findet ihren Ort in einem Tresorraum, einem ‚Edelstahlsarg‘, in einer Schweizer Bank. Ein Tresor ist ein Raum, in dem es zwar, wie in einem Museum oder in der Wohnung des Sammlers auf den Regalen, ebenfalls eine räumliche Anordnung der gesammelten Gegenstände gibt, welcher aber ein Abschreiten der Ausstellung aufgrund seiner Größe unmöglich macht. Das Betrachten und Betasten der Dinge kann nur, wenn auch nicht unter der Beobachtung, so doch aber immer in der Anwesenheit eines Bankangestellten erfolgen. Vgl. dazu: Hillebrand (2001): Der Sammler und der Staat, S. 243. 129

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der Sammlung für ihn nicht von entscheidender Bedeutung ist und auch die zu Beginn seiner Reisen angedachte Möglichkeit der dauerhaften Flucht nicht mehr infrage kommt: „No,“ he told himself. „I cannot leave it here.“ Thus, when others were bent on smuggling out of Czechoslovakia, in diplomatic bags or a foreign friend’s suitcase, any article of value they could lay their hands on í a snuff-box, an ancestral decoration, or a vermeil dessert service, fork by fork í Utz embarked on the opposite course. (U 79)

Wichtig für den Fortbestand und die Erweiterung einer Sammlung ist das Vorhandensein des dafür erforderlichen Kapitals. Die Fähigkeit des Sammlers, Kaufoptionen zu erkennen, ist Voraussetzung für den Erwerb neuer Sammlungsstücke. Politische und gesellschaftliche Ausnahmesituationen weiß Utz, der nach dem Tod der Mutter und der Großmutter über ein beträchtliches Vermögen verfügt, zur Erweiterung seiner Sammlung zu nutzen: Politically, Utz was neutral. There was a timid side to his character that would tolerate any ideology providing it left him in peace. There was a stubborn side that refused to be bullied. He detested violence, yet welcomed the cataclysms that flung fresh works of art onto the market. ,Wars, pogroms and revolutions‘, he used to say, ,offer excellent opportunities for the collector.‘ The Stock Market Crash had been such opportunity. Kristallnacht was another. In the same week he hastened to Berlin to buy porcelains, in U. S. dollars, from Jewish connoisseurs who wished to emigrate. At the end of the War he would offer a similar service to aristocrats fleeing from the Soviet Army. (U 18)

Hier wird offensichtlich, dass Utz jede Situation aus der Perspektive eines leidenschaftlichen Sammlers heraus beurteilt, und dass sein opportunes Verhalten von der Sehnsucht der Objektrettung geleitet wird. Doch, dass es ihm in erster Linie nicht um den Besitz finanziell wertvoller Kunstobjekte geht, wird deutlich, wenn beschrieben wird, dass Utz beispielsweise mit den Nationalsozialisten kollaborierte, dies aber nur, um eine „number of Jewish friends“ (U 20) zu retten: „What, after all, was the value of a Titian or a Tiepolo if one human life could be saved.“ (U 20) Denn genau so, wie er nicht wegen der Dinge, sondern wegen Marta nach Prag zurückkehrt, genau so ist er auch nicht bereit, ein Kunstwerk gegen ein Menschenleben einzutauschen. Allerdings kann diesem Argument entgegengesetzt werden, dass es sich hierbei auch nicht um Porzellan, und damit auch nicht um die begehrten Objekte handelt und dass dies lediglich beweist Utz gehe es nicht nicht primär um die Anhäufung von wirtschaftlich lukrativen Kunstobjekten.

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Nachdem die Dinge in den Besitz des Sammlers übergegangen sind, werden sie einer neuen und subjektiven Ordnung unterworfen und in sie eingefügt. Utz arrangiert die Sammelobjekte in seiner Privatwohnung in der Široká-Straße, die ausschließlich er selbst und Marta sowie ausgewählte Gäste wie der Journalist betreten dürfen. Hier stehen die Artefakte dicht gedrängt50 „six deep on the shelves“ (U 21): It was a narrow room, made narrower by the double bank of plate-glass shelves, all of them crammed with porcelain, that reached from door to ceiling. The shelves were backed with mirror, so that you had the illusion of entering an enfilade of glittering chambers, a ,dream palace‘ multiplied to infinity, through which human forms flitted like insubstantial shadows. (U 39)

Dieses Zitat hebt abermals die Dialektik von Leben und Tod hervor. In der mise en abyme, in welcher der sich im Spiegel hinter den Figuren selbst betrachtende Mensch im Gegensatz zu den Figuren nur als Schatten wahrnehmen kann, wird gleichzeitig die Materialität der Figuren, die in den Regalen stehen, betont. Einerseits lassen sie den Raum schmaler wirken und andererseits steht ihre physische Präsenz in direktem Kontrast zur Immaterialität der menschlichen Gestalten, die bloß als „insubstantial shadows“ huschend in den verspiegelten Rückwänden der Regale zu sehen sind.

Der Sammler, das ,ewige Leben‘ und der Tod Figuren aus dem „Stoff der Magie“ Die theoretische Auseinandersetzung Utz’ mit dem Porzellan und dem Sammeln von Porzellan, die mit dem Aufsatz „The Private Collector“ begonnen hat, konzentriert sich schon bald auf die ,magische‘ Seite des begehrten Stoffs und widmet sich der Alchemie, deren Streben es war, die Substanz der Unsterblichkeit zu finden:

50 Das Problem der Raumnot bzw. des Platzmangels in Bezug auf die Unterbringung einer Sammlung, welches jeden Sammler, der seine Sammlung stetig erweitert, bedroht, wird sehr anschaulich in Martin Walsers Erzählung „Die Rückkehr eines Sammlers“ geschildert. Hier werden die Bewohner einer Wohnung auf geradezu groteske Weise von den Sammelobjekten eines manischen Sammlers aus ihr herausgedrängt. Vgl. dazu: Martin Walser: „Die Rückkehr eines Sammlers“. In: Ders.: Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 31968, S. 57-68. 131

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Alchemy, except among its more banal practitioners, was never a technique for multiplying wealth ad infinitum. It was mystical exercise. The search for gold and the search for porcelain had been facets of an identical quest: to find the substance of immortality. (U 90)

Im Porzellan, so erfährt Utz während seiner Studien, schien „the antidote to decay“ (U 92) gefunden worden zu sein, „a magical and talismanic substance í the substance of longevity, of potency, of invulnerability“. (U 92) Diese Stärke, Unverwundbarkeit und Dauer empfindet auch Utz, wenn er seine seine Porzellanobjekte wie die „Swan Service tureen“ (U 42), vor allem aber die Figurinen, die Charaktere der Commedia dell’Arte, die Personifikationen der fünf Kontinente, die „ladies of the Dresden court“ (U 43) oder etwa die „monkey musicians“ (U 44) betrachtet. Sie sind seine „funny fellows“ (U 43), seine „[l]ovely ones“ (U 44). Ihr Besitz vermittelt ihm ein Gefühl von Sicherheit gegen die Vergänglichkeit. Im Vergleich zur Sammlung verblassen die Ereignisse der Geschichte. Ihr Material, das für die Ewigkeit gemacht ist, lässt „bombardments, blitzkriegs, putsches, purges“ (U 94) zu einem flüchtigen ,Hintergrundgeräusch‘ werden.

Gegen die ,tote‘ Kunst: Die Konstitution der zweiten Sammlung oder der ,Harlekin‘ und seine ,Columbinen‘ Eine der schillerndsten und für die Geschichte des Porzellans bedeutendsten Persönlichkeiten, auf die Kaspar Utz während seiner Studien stößt, ist í wie bereits angeführt í die des Kurfürsten und polnischen Königs Friedrich August I., in dessen Auftrag Johann Friedrich Böttger und Ehrenfried Walter von Tschirnhaus 1708 das erste Porzellan in Europa erfanden, welches später unter dem Namen Meißner Porzellan weltberühmt wurde.51 Ganz in den Bann dieses historischen Vorbilds geschlagen, versucht der junge Utz nicht nur die Porzellanleidenschaft í „,The craving for porcelain is like a craving for oranges‘“ (U 54) ist ein Aphorismus des Regenten, welcher die Leidenschaft für Porzellan formuliert, und die Utz 51 Doch auch hinsichtlich seiner Vorliebe für Prunk und Pomp, seiner umfangreichen Sammlung von Artefakten oder seiner in Auftrag gegebenen prachtvollen Bauten wie dem Zwinger oder der Frauenkirche in Dresden, hat sich der Regent einen Namen gemacht. Vgl. dazu Karl Czok: August der Starke und seine Zeit. Kürfürst von Sachsen. König von Polen. Leipzig: Edition Leipzig 42004. 132

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mit August dem Starken teilt í sondern auch dessen sexuellen Neigungen52 nachzueifern: The sexual career of August the Strong […] served Utz as an exemplary model. But when, in a Viennese establishment, he aspied to imitate the conquests of that grandiose and insatiable monarch í hoping to discover in Mitzi, Suzi and Liesl the charms of an Aurora, Countess of Königsmark, a Mlle Kessel or any other goddess of the Dresden court í the girls were perplexed by the scientific seriousness of the young man’s approach, and collapsed with giggles at the miniscule scale of his equipement. (U 18)

Doch trotz dieses Scheiterns findet Utz eine befriedigende Möglichkeit für sich, sexuelle Beziehungen zu Frauen aufzunehmen. Viele Jahre nach seinem ernüchternden Erlebnis in Wien entdeckt er während eines Opernbesuchs in Vichy seine Leidenschaft für Operettendiven: „Utz’s pupils dilated as he gazed, through opera glasses, at her [der Sängerin, Anm. M. W.] quivering throat.“ (U 59) Eine direkte Folge dieser neu entdeckten Leidenschaft ist, dass Utz zu einem „relentless lady-killer“ (U 112) wird, und eine „succession of Merry Widows and Countess Mitzis“53 (U 112) durch sein Bett zieht. Die „miniscule scale of his equipement“ (U 18), welche Gelächter in den Reihen der Wiener Huren hervorgerufen hatte, vermag der „ugly“ (U 60), „ordinary little man“ (U 112) mit einem Gesicht, „so featureless it gave the impression of not being there“ (U 23), durch eine be52 Auch durch seine unzähligen Affären mit Frauen, aus denen 267 Kinder hervorgegangen sein sollen, ist der Kurfürst bekannt geworden. (Vgl. dazu Czok: August der Starke.) Ein weiterer Hinweis auf die enge Verknüpfung zwischen der Welt des Porzellans und der realen Welt des Sammlers Utz ist die Übereinstimmung zwischen diesen beiden Zahlen. In Utz’ Schweizer Banktresor befinden sich 267 Objekte (vgl. U 104-105), die er kurz vor seinem Tod in die Tschechoslowakei einführt. 53 Im Zusammenhang mit dem Anlegen dieser Sammlung spielt vor allem der Jagdtrieb eine entscheidende Rolle, dessen Ziel jedoch nicht nur die ständige körperliche Vereinigung mit der eroberten Frau ist, sondern vor allem die Erhöhung der Anzahl der ,Sammlungssubjekte‘. Vgl. dazu Muensterberger: Sammeln, S. 30-33: Muensterberger setzt sich mit den Wunscherfüllungsphantasien berühmter ,Frauensammler‘ wie denen Don Juans auseinander. Eine der wohl bekanntesten medialen Verarbeitungen dieses Stoffs findet sich in Mozarts Oper Don Giovanni in der berühmten „Registerarie“ des Dieners Leporello, der in ihr eine ungeheure Liste sexueller Eroberungen seines Herrn vorträgt. Vgl. dazu: Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni. KV 527. Komödie für Musik in zwei Akten. [Libretto von Lorenzo Da Ponte.] Stuttgart: Reclam 1997. 133

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sondere Technik auszugleichen: „The secret of his attraction to the divas was his technique í you could call it a trick of applying the stiff bristles of the moustache to the lady’s throat so that, for her, the crescendo of love-making was as ecstatic as the final notes of an aria.“ (U 112) Seine wechselnden intimen Beziehungen zu den Sängerinnen verschaffen ihm einerseits die vermisste Nähe zu seinem historischen kurfürstlichen Vorbild und andererseits eine immer wiederkehrende Nähe zu „Faustina Bordone“54, einer von Utz viel bewunderten Meißner Porzellanfigurine, welche der Sammler dem Journalisten während seines Besuchs zeigt: „The model in question showed the soprano, Faustina Bordone, singing in ecstasy while a fox sat playing a spinet, Faustina, he said, had been the ,Callas of her day‘ and wife of the court composer, Hasse. She also had a lover called Fuchs“. (U 44) Faustina Bordone, die zur Zeit Kurfürst Friedrich August II. zum Dresdner Hof gehörte und dort als Mezzosopranistin sang, war mit dem deutschen Hofkomponisten Johann Adolf Hasse verheiratet, der ebenfalls dort arbeitete. Während dieser Zeit hatte sie, wie Utz zu berichten weiß, ein Verhältnis mit einem Mann namens Fuchs. In seinem Gespräch mit dem Journalisten lacht Utz über den Namen des Liebhabers, da er für ihn eine Anspielung auf die Harlekinfigur der Commedia dell’Arte-Gruppe darstellt. Dieser Hinweis wird auch in der Meißner Figurine verarbeitet, wenn es heißt, dass dargestellt wird wie der Gesang der Sopranistin durch einen Fuchs respektive einen Harlekin mit Fuchsmaske am Spinett begleitet werde. Durch diese Form der Übertragung kann der Sammler die porzellanene Sopranistin körperlich

54 Genau wie Faustina Bordone in der 1710 von August dem Starken gegründeten Königlichen Porzellanmanufaktur als Figur gebrannt wurde, wurde auch der Harlekin í der „Arlecchino“ í dort in Porzellan verewigt. Der Harlekin, italienisch „arlecchino“ von „hellechino“, was „kleiner Teufel“ bedeutet, ist eine Figur der Commedia dell'Arte und geht vermutlich auf den französischen Begriff „mesnie hellequin“ zurück, aus dem sich das Wort „arlequin“ gebildet haben soll. Seinen Weg nach Deutschland hat der Harlekin im 17. Jahrhundert gefunden. Unter einem Harlekin wird eine komische Figur, ein Possenreißer, ein Spaßmacher, ein Hofnarr oder auch ein Hanswurst verstanden. Zugleich ist er auch eine mythische Figur, ausgestattet mit einer magischen Kraft ungeklärten Ursprungs. Gemeinsam stellen die Figur der Faustina Bordone sowie der Harlekin, die erste Figur der Sammlung Utz, der im weiteren Verlauf von Utz’ Sammlerleben noch sechs (vgl. U 44) weitere aus der Commedia dell’Arte hinzugefügt wurden, den Schlüssel für den Zugang zu Utz’ Welt dar. Vgl hierzu auch: Reinhard Jansen (Hg.): Commedia dell’Arte. Fest der Komödianten. Keramische Kostbarkeiten aus den Museen der Welt. Mit 2 Beibänden. Stuttgart: Arnoldsche Verlagsanstalt 2001. 134

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,besitzen‘ und dadurch weiter in die Porzellanwelt ,eindringen‘. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer ,magischen‘ Macht sprechen, die die Sammlung auf den Sammler ausübt. Eine weitere Deutungsebene eröffnet sich, wenn man Utz’ Verhalten als Ausdruck seiner Abneigung gegen das Tote und die Kühle der Artefakte, und die Vielzahl seiner sexuellen Abenteuer als Hinwendung zum Leben und zu menschlicher Wärme liest. So ist zwar sein Wohlbefinden vom Kontakt mit der Sammlung abhängig, zugleich begnügt er sich aber nicht nur mit den Dingen. In diesem Punkt weicht Utz von den stereotypen Beschreibungen einer Sammlerpersönlichkeit ab, der nachgesagt wird, dass sie allein in der Welt der Dinge lebe und auf menschliche Nähe nicht angewiesen sei55 und entpuppt sich als vielschichtiger Charakter. Die zweite Sammlung kompensiert die Starrheit und Unbelebtheit der „pursuing precious objects“ (U 61) der Porzellansammlung. Im Gegensatz zu den Figuren, wie die zum ewigen Klavierspiel mit ihrem Liebhaber ,verdammte‘ Faustina Bordone, lässt sie den Sammler das Leben in ekstatischen Momenten spüren. Sie teilt im Gegensatz zur Porzellansammlung das Schicksal der Vergänglichkeit des Menschen, dem die ,Sammlungssubjekte‘ ebenso unterworfen sind wie der Sammler Utz selbst. Ihre Gemeinsamkeit liegt in der Schönheit, welche der Ästhet sowohl in den Figurinen als auch in den Sopranistinnen erkennt. In Siegmund Freuds Abhandlung „Das Unbehagen in der Kultur“ findet sich eine Erklärung für die dichotome Ausprägung einer Leidenschaft, die ihren Ursprung in der Sehnsucht nach der Befriedigung eines ästhetischen Empfindens hat: Hier kann man den interessanten Fall anschließen, daß das Lebensglück vorwiegend im Genusse der Schönheit gesucht wird, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen. Der Genuß an der Schönheit liegt nicht klar zutage, ihre kulturelle Notwendigkeit ist nicht einzusehen, und doch könnte man sie in der Natur nicht vermissen. Die Wissenschaft der Ästhetik untersucht die Bedingungen, unter denen das Schöne empfunden wird; über Natur und Herkunft der Schönheit hat sie keine Auskunft geben können; wie gebräuchlich, wird die Ergebnislosigkeit durch einen Aufwand an volltönenden, inhaltsarmen Worten verhüllt. Leider weiß auch die Psychoanalyse über die Schönheit am wenigsten zu sagen. Einzig die Ablei-

55 Vgl. dazu Muensterberger (1995): Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, S. 28 und Ruth Fühner: „Die Leidenschaft des Sammelns“. In: Feministische Studien 2, 1998, S. 86-92: 87. 135

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tung aus dem Gebiet des Sexualempfindens scheint gesichert; es wäre ein vorbildliches Beispiel einer zielgehemmten Regung.56

Für Utz, so kann man an dieser Stelle festhalten, stellen die Porzellanfiguren also eine Verbindung zwischen zwei Welten dar57: der lebendigen Welt des Menschen und der Welt der Toten.58 Den signifikantesten Unterschied zwischen diesen beiden kann man beispielsweise anhand von John Keats „Ode on a Grecian Urne“59 verdeutlichen. In dem 1819 verfassten Gedicht rückt der Anblick oder die Vorstellung einer antiken Vase als Symbol für ewiges Leben, ewige Schönheit und Jugend in den Mittelpunkt einer Reflexion über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und den Verlust der Schönheit durch das Alter.60 Das Leben fordere, so Keats, für sein einzigartiges Vorrecht auf Realität den Verfall und erfülle den Menschen mit Überdruss: „That leaves a heart high-sorrowful and cloy’d,/A burning fore-

56 Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929])“. In: Ders.: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Band IX der Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000, S. 191-270: 214. 57 Vor allem der bereits erwähnte Harlekin markiert für Utz die Schnittstelle zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten. 58 Freud, der in „Das Unbehagen in der Kultur“ an eine Theorie anknüpft, die er in „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) entworfen hat, sieht das Handeln des Menschen einerseits durch Eros, den Grundtrieb zur Vereinigung, der sich aber nicht nur im Sexualtrieb äußere, und andererseits durch Thanatos, den Todestrieb, welcher zur Zersetzung und zur Zerstörung von Vereinigungen treibe, bestimmt. Vgl. hierzu: Sigmund Freud: „Jenseits des Lustprinzips (1920)“. In: Ders.: Psychologie des Unbewußten. Band III der Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000, S. 213-272. 59 John Keats: „Ode on a Grecian Urn“. In: Ders.: Auf eine griechische Urne. Gedichte. Englisch und deutsch. Übertragen von Heinz Piontek. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1999, S. 84 und 86. 60 Obwohl den literarischen Produkten der Romantik ein vorwiegend solipsistischer und expressiver Charakter nachgewiesen werden kann, in denen sich der Fokus auf das sich als autonom verstehende Subjekt konzentriert, arbeitet John Keats in seiner Ode einen anderen Schwerpunkt heraus: Ihm geht es darum, eine andere, fremde Individualität wie die der griechischen Dichtung und des griechischen Mythos aufzuzeigen, um im Sinne des von ihm geprägten Begriffs der „negative capability“ zur Essenz des Objekts vorzudringen. Vgl. dazu: John Keats: The Letters of John Keats 1814-1821. Volume I. Hg. v. Hyder E. Rollins. Cambridge, Mass. (u. a.): Harvard UP 1958, S. 193. 136

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head, and a parching tongue“.61 Wohingegen die Kunst ihr Attribut der ewigen Schönheit mit dem Pfand der Wirklichkeit bezahle: „For ever panting, and for ever young;/All breathing human passion far above“.62 Die Kunst ist gefangen im dargestellten Augenblick und kann die angedeuteten Handlungen, im Gegensatz zum realen Leben, nicht vollenden: Fair youth, beneath the trees, thou canst not leave Thy song, nor ever can those trees be bare; Bold Lover, never, never canst thou kiss, Though winning near the goal yet, do not grieve; She cannot fade, though thou hast not thy bliss, For ever wilt thou love, and she be fair!63

Die antike Vase steht für die Attribute Unsterblichkeit64 und ewige Schönheit í wie die Porzellanfigurinen in Bruce Chatwins Roman: „Porcelain, Utz concluded, was the antidote to decay.“ (U 92) Doch der Sammler profitiert in seinem täglichen Umgang mit dem Porzellan nicht von dieser Eigenschaft, vielmehr scheint es dem Ich-Erzähler, als lasse den Menschen nichts schneller altern als der Umgang mit unvergänglichen Dingen: „Things [...] are tougher than people. Things are the changeless mirror in which we watch ourselves disintegrate. Nothing is more ageing than a collection of works of art.“ (U 93) Das Leben fordert seinen Tribut, und die unerschöpfliche Lebenskraft der Substanz „of longevity, of potency, of invulnerability“ (U 92) überträgt sich nicht auf den Sammler und kann dessen Leben nicht verlängern. Vielmehr überlebt die Kunst den Menschen, und das, so Keats, sei die einzige verlässliche Größe in der Beziehung zwischen Mensch und Kunst: When old age shall this generation waste, Thou shalt remain, in midst of other woe Than ours, a friend to man, to whom thou say’st, ,Beauty is truth, truth beauty, í that is all Ye know on earth, and all ye need to know‘65

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Keats (1999): Ode on a Grecian Urne, S. 84. Keats (1999): Ode on a Grecian Urne, S. 84. Keats (1999): Ode on a Grecian Urne, S. 84. Vgl. dazu: Philip Fisher: „A Museum with One Work Inside: Keat’s ,Ode on a Grecian Urn‘ and the Finality of Art“. In: John Hazel Smith: Brandeis Essays in Literature. Waltham, Mass.: Department of English and American Literature 1983, S. 69-84: 77-80. 65 Keats (1999): Ode on a Grecian Urne, S. 86. 137

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Utz selbst trennt nicht, wie hier am Beispiel von Keats Ode verdeutlicht, zwischen der Welt der Kunst und dem richtigen Leben, in dem der Mensch altert und liebt. Für ihn stehen die Figuren in einer Art Übergangswelt und nehmen einen Zwitterstatus ein. Sie sind halb Objekt, weil Kunstgegenstand, halb Subjekt, weil Teil des Lebens des Sammlers, und aufgeladen mit der „concentrated energy of an African fetish“. (U 86) Der Sammler nimmt, wie Walter Benjamin es in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“66 formuliert hat, die Rolle eines Fetischdieners ein, der durch den Besitz des Kunstwerks an dessen kultischer Kraft Anteil hat.67 Die Abneigung des Sammlers Kaspar Utz gegen Museen ist eng mit den Gründen für die Anlage seiner beiden Sammlungen verknüpft. Sie existieren als Antwort des Sammlers í des Menschen í auf seine Angst vor dem Tod und der Vergänglichkeit des Lebens. Er legt sie an, um, mit Italo Calvino gesprochen, „den Ablauf des eigenen Daseins in eine Reihe von dem Zerfall entzogenen Gegenständen zu verwandeln“.68 Die Porzellanobjekte stehen für die ewige Jugend, die ewige Schönheit, die Dauer und die Unvergänglichkeit. In der Begegnung mit seinen Figurinen kann der Protagonist ein Leben führen, welches ihm im Alltag verwehrt bleibt. Er versetzt sich in eine Phantasiewelt, eine „world of little figures“, die für ihn die „real world“ (U 94) bedeutet, die er betreten (vgl. U 44) und 66 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung“. In: Gesammelte Schriften. Abhandlungen. Drei Teilbände. Band I, 2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 51996, S. 431-469. 67 Der einzigartige Wert des „echten“ Kunstwerks findet seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte. Je mehr sich der Kultwert des Kunstwerks allerdings säkularisiert, und damit einhergehend die im Kultbild waltende Erscheinung von der empirischen Einmaligkeit des Bildners oder seiner bildenden Leistung in der Vorstellung des Aufnehmenden verdrängt wird, desto unbestimmter werden die Vorstellungen vom Substrat seiner Einmaligkeit. Allerdings verbleibt immer ein Rest, welcher dafür sorgt, dass der Begriff der Echtheit niemals aufhört sich über den der authentischen Zuschreibung hinaus fortzusetzen. Vor allem im Sammler vermag Benjamin dieses Phänomen zu erkennen, da er seiner Ansicht nach immer etwas von einem Fetischdiener behält und durch seinen Besitz des Kunstwerks an dessen kultischer Kraft Anteil hat. Unabhängig davon bleibt die Funktion des Begriffs des Authentischen in der Kunstbetrachtung eindeutig: mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts. Vgl. dazu: Benjamin (1996): Kunstwerk, S. 437-445. 68 Italo Calvino: „Gesammelter Sand“. In: Ders.: Gesammelter Sand. München, Wien: Hanser 1991, S. 9-14: 11. 138

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in der er für seine Figuren tanzen kann: „And I realised, as Utz pivoted the figure in the candlelight, that I had misjudged him; that he, too, was dancing.“ (U 94) In dieser imaginierten Welt gelingt ihm durch die Personifikation der Porzellanobjekte die Überwindung des Todes. Hier kann die Schönheit und das ewige Leben der Kunst mit ihm, dem menschlichen und unperfekten Geschöpf, eine Allianz eingehen. Die Figurinen sind die Repräsentanten des Unsichtbaren, wie Pomian es nennt. Mit diesen Semiophoren kann der Sammler Zeitgrenzen überspringen, indem er ihnen den „life-giving touch“ (U 17) schenkt und mit ihnen ein ,Leben führt‘, welches ihm in der Realität nicht möglich ist: „One by one, he lifted the characters of the Commedia from the shelves, and placed them in the pool light were they appeared to skate over the glass of the table, pivoting on their bases of gilded foam, as if they would forever go on laughing, whirling, improvising.“ (U 123)

Die Golemlegende und ihre Parallele zur Meißner Figurensammlung des Sammlers Utz Bereits in seinem Aufsatz „The Private Collector“ eröffnet der Protagonist Utz eine Parallele zwischen dem Sammler respektive Besitzer eines Sammelobjekts und seinem Hersteller. In Bezug auf die für die Geschichte der Porzellanproduktion wichtigen historischen Persönlichkeiten lassen sich beispielsweise bereits erwähnte Namen wie Johannes Böttger, J. J. Kändler oder August der Starke anführen. Vor allem die Frage nach der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Sammler und Sammlung diskutieren der Journalist und der Baron in ihrem Gespräch. Letztgenannter hebt darin die Bedeutung und die lange Historie von Tonfiguren hervor, wenn er auf die Erschaffung Adams im Alten Testament rekurriert. Hier heißt es, dass Vater Adam selbst „golem“69 gewesen sei – „an inert mass of clay so vast as to cover the ends of the Earth: that is, until Yahweh shrank him to human scale and breathed into his mouth the power of speech“. (U 33) Utz eröffnet einen Vergleich zwischen „Adam the first human person“, der ebenfalls die „first ceramic sculpture“ (U 33) war, und seinen Porzellanfiguren. Er schildert dem Journalisten wie Jahwe der ersten formlosen Masse Erde Sprache einhauchte, und zieht durch seine Aussage, dass Adam die erste Tonfigur gewesen sei, gleichzeitig eine Parallele zwischen der Schöpfung des Menschen durch Gott und den Porzellanfigurinen. Für seine Figurinen ist

69 Das hebräische Wort „golem“ bedeutet ungestaltet oder formlos bzw. ungeformte Masse. 139

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er derjenige, der sie durch seine Berührungen belebt, wenn er mit ihnen im Licht der Kerzen tanzt und selbst zu einem Teil ihrer Welt wird: „[A]s Utz pivoted the figure in the candlelight […] he, too, was dancing […] for him, this world of little figures was the real world.“ (U 94) Der Akt des Erschaffens eines Objekts aus Ton oder Lehm stellt wiederum eine direkte Verbindung zur Golemlegende70 her, die sich von dem urjüdischen Glauben ableitet, dass „any righteous man could create the world by repeating, in an order prescribed the Caballa, the letters of the secret name of God“. (U 46) In einer ihrer bekanntesten Ausformungen wird der Golem Jossel durch die Hand des Rabbi Löw71 „from the

70 Ein Golem ist der jüdischen Legende und Mystik zufolge ein künstlicher Mensch ohne Stimme, dem durch eine magische Spruchformel aus dem Buch der Schöpfung (Sefer Jezira) Leben eingehaucht werden kann. Seine Bedeutung erhielt der Begriff „Golem“ im 11. Jahrhundert, als man jüdischen Gelehrten wie etwa dem Philosophen Salomon Ibn Gabirol die Fähigkeit nachsagte, eine Lehmfigur mittels Zauberspruch beleben zu können. Allerdings steht der Golem in Konkurrenz zu Adam. „Adama“ bezeichnet auf hebräisch „Erde“ und bedeutet, dass Adam ein von der Erde genommenes Wesen ist, dem durch Gottes Hauch Leben und Sprache verliehen wurde. Im Gegensatz dazu bezeichnet das Wort „golem“ seit dem 12. Jahrhundert ein stummes, unfruchtbares und asexuelles Geschöpf, welches mittels eines sprachmagischen Rituals und religiös-ritueller Kräfte erschaffen und belebt werden kann. 71 Die bekannteste Golemgeschichte steht im Zusammenhang mit dem Prager Kabbalisten und Vorsteher der jüdischen Gemeinde Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel von Prag (1512-1609) zur Zeit Rudolf II. Die phantastische Legende ist von ihrem Ursprung her eigentlich eine polnische und dreht sich um den Rabbi Elija Ba’al Schem von Chelm, der 1583 verstarb. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also erst mehr als 200 Jahre nach dessen Tod, wird sie auf den Prager Rabbi übertragen, obwohl Löw zu Lebzeiten demonstrativ allen Wunderglauben ablehnte und verurteilte. Da Prag im 18. Jahrhundert zum Zentrum der Kabbala geworden war, wurde nun das ganze Leben des Rabbi mythisiert. Nach der Chelmer Sagenfassung, aus welcher die Prager Überlieferungstradition erwuchs, legte der Rabbi seinem Golem täglich ein beruhigendes Amulett in den Mund. Als er dies einmal vergaß, wurde der Golem wild und begann, die Synagoge zu zerstören. Löw musste daraufhin den Psalm, den er gerade sprach, unterbrechen í und zögerte damit den rituellen Beginn des Sabbat hinaus í, um das Amulett in den Mund des Wesens zu legen und es damit zu besänftigen. Zwei zentrale Motive dieser Legende, die als Quelltext für die Prager Fassung anzusehen ist, sind also das Außer-Kontrolle-Geraten des Golems und die Wiederholbarkeit von Belebung und Entleibung desselben durch seinen Schöpfer. Vgl. dazu auch: Alexander Wöll: „Der Golem. Kommt der erste 140

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glutinous mud of the River Vlatva“ (U 46) geschaffen. In dieser jüdischen Sage ist der Golem zwar ein „artifical […] mechanical man“ í der „prototype of the robot“ (U 32) í ohne freien Willen und erkennbare Sexualität72, der die Gemeinde des Rabbi vor Pogromen schützen soll, aber er ist keineswegs die seelenlose Kreatur, für die ihn alle halten: Er entwickelt ein Gefühl von Zerstörungswut, welches ihn außer Kontrolle geraten und so zur Bedrohung für die jüdische Gemeinde werden lässt. Wie bei allen anderen Golems besteht auch im Fall des Golems Jossel die Gefahr, dass er wachsen kann „inch by inch […] to crush their creators and overwhelm the world.“ (U 34) Um sich davor zu schützen, kann ein Rabbi, so besagt die Legende, seinem Golem die Metallplatte, welche er auf der Stirn oder unter der Zunge trägt, entfernen: A golem was said to wear a slip of metal known as the ,shem‘, either across its forehead or under its tongue. The ,shem‘ was inscribed with the Hebrew word ,emeth‘, or Truth of God. When a rabbi wished to destroy his golem, he had only to pluck out the opening letter, so that ,emeth‘ now read ,meth‘ í which is to say ,death‘ í and the golem dissolved. (U 34-35)

Im Kern rankt sich diese Legende also um den Zauber einer zum menschlichen Leben erweckten, tönernen Figur und um die Macht ihres Schöpfers, über ihr Leben zu bestimmen. In der Golemsage wird die Nähe zwischen Leben und Tod betont. Zwei Wörter, die sich im Hebräischen lediglich durch ihren Anfangsbuchstaben unterscheiden.73 So, wie der Rabbi über das Leben seines Golems bestimmen kann, genau so ist auch der Sammler in der Lage, seine Sammlung zu beherrschen, denn er hat die Macht, den Figuren ihr ,Leben‘ zu schenken bzw. zu entziehen. Zugleich wird in der Golemlegende geschildert, wie groß die Gefahr für das menschliche Leben ist, die von einer übermächtigen Kreatur ausgeht. Überträgt man diesen Gedanken auf das Sammlerleben des Protagonisten Utz, so findet sich hier ebenfalls dieses Motiv der Präpotenz: „The

künstliche Mensch und Roboter aus Prag?“ In: Marek Nekula et al. (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte í Kultur í Politik. München: C. H. Beck 2001, S. 235-245. 72 Vgl. Wöll (2001): Der Golem, S. 241. 73 „Nach Auslöschung des aleph wird in diesem Satz ,wahr‘ zu ,tot‘; aus emeth wird also meth. Die beiden verbleibenden Buchstaben mem und tav verkünden nun: ,Gott ist tot‘. Der geringste Buchstabe, der am Anfang des hebräischen Alphabets steht und somit nur den Zahlenwert 1 hat, differenziert demnach Hoffnung von Verzweiflung und hilfreiches Wissen von Zerstörung.“ In: Wöll (2001): Der Golem, S. 236. 141

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collection held him prisoner“, berichtet der Ich-Erzähler und Utz äußert sich dezidiert: „,[O]f course, it has ruined my life!‘“ (U 75) Utz zieht eine Parallele zwischen der Gotteslästerung, welche die Erschaffung eines Golems bedeutet,74 und dem Sammeln von Kunst. In der Antwort auf die Frage des Journalisten an den Sammler, ob das Porzellan seinen eigenen Tod fordere, wird die Möglichkeit der Zerstörung der Sammlung zur Disposition gestellt: „,Are you suggesting your porcelains are alive?‘ ,I am and I am not‘, he said. ,They are alive and they are dead. But if they were alive, they would also have to die. Is it not?‘ ,If you say so.‘ ,Good. So I say it.‘“ (U 34) Diesem Gedanken folgend, hieße das, dass Utz zum Rabbi Löw seiner Sammlung geworden wäre und ihr durch die Zerstörung das Leben entzogen hätte, weil sein Hass auf die Dinge und der Überdruss, den dieser erzeugt, am Ende überwogen hätte.

Das Maskenspiel des ,Harlekins‘ Utz Das Hin- und Hergerissensein zwischen der realen, kommunistischen und porzellanenen Welt bestimmt das Leben des Sammlers Utz. Sukzessive wird dem Erzähler klar, dass Utz in einem Land, in dem Privatbesitz verboten ist, Unterstützung für den Erhalt der Sammlung benötigte. Eine Situation, die ihn immer wieder dazu nötigte respektive veranlasste í genau wie die Harlekinfigur í Masken zu tragen. Es sind zwei Aspekte, die eine Parallele zwischen Utz und der Figur des Harlekins aus der Gruppe der Commedia dell’Arte-Figuren schaffen. Zum einen die etymologische Herkunft seines Namens: There were reasons for their scorn. In Grimm’s Etymological Wordbook, ,utz‘ carries any number of negative connotations: ,drunk‘, ,dimwit‘, ,card-sharp‘, ,dealer in dud horses‘. ,Heinzen, Kunzen, Utzen oder Butzen‘, in the dialect of Lower Swabia, is the equivalent of ,Any old Tom, Dick or Harry‘. (U 15)

Und andererseits die auffälligen Übereinstimmungen, die sich zwischen dem Leben des Sammlers und der Charakterisierung einer Harlekinfigur ziehen lassen: And Harlequin … The Harlequin … the arch-improviser, the zany, the trickster, master of the volte-face … would forever strut in his variegated plumage, grin 74 „All these tails suggested that a golem-maker had acquired arcane secrets: yet, in doing so, had transgressed Holy Law. A man-made figure was a blasphemy. A golem, by its presence alone, issued warning against idolatry í and actively beseeched its own destruction.“ (U 36-37) 142

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through his orange mask, tiptoe in bedrooms, sell nappies for children of the Grand Eunuch, dance in the teeth of catastrophe … Mr. Chameleon himself! (U 94)75

Mit einem Gesicht, welches der Journalist als „melted wax“ (U 93) beschreibt, gelingt es Utz, sich wie ein Chamäleon den Gegebenheiten anzupassen und seine Wünsche nach außen hin durch Masken zu tarnen. Um die ,Lebendigkeit‘ der Sammlung durch taktilen und visuellen Kontakt erfahren zu können, benötigt er die Unterstützung Martas, die Trägerin und Hüterin76 seiner Masken, welche die Sammlung so vor ihrer „denatured existence” (U 17) im Museum bewahrt: „[A]ny […] intruder would have to treat on her.“ (U 114)

Marta î ,Columbine‘ und ,Golem‘ für den Sammler Utz Utz tarnt seine klassenfeindliche, kapitalistische Sammellust, indem er sich in das staatlich vorgegebene Leben einfügt. Um eine Wohnung beziehen zu dürfen, die zumindest das dicht gedrängte Aufstellen der Sammlung erlaubt, geht er ein Ehebündnis mit Marta ein: Ein rein pragmatischer Entschluss, welcher es ihm erlaubt, die Zwei-Zimmer-Wohnung in der Široká-Straße zu beziehen, in der er fortan gemeinsam mit Marta bis zu seinem Tod wohnen wird: „So it had come to this! He would be out on the street or in some rotting garret with nowhere to store the porcelains. Marriage was the answer.“ (U 23) Nach außen hin nimmt Marta weiterhin die Rolle des Dienstmädchens ein, als welches sie der

75 Vgl. hierzu auch Ulrike Riss, die diesen Aspekt in Bezug auf die Figur des Harlekins erläutert: „Der Arlecchino, populärste Figur der Commedia und Vater vieler späterer lustiger Personen, verkörpert sinnliche Lebensfreude und kindliches Gemüt. Seine Handlungen sind impulsiv und ungeschickt. Dafür wird er oft mit Prügeln bestraft. Trotzdem läßt er sich seine freundlich-naive Weltanschauung nicht nehmen, sondern entwickelt die Fähigkeit, sich geschickt aus brenzligen Situationen zu retten.“ In: Ulrike Riss: Harlekin. Eine Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum. Wien (u. a.): Böhlau 1984, S. 14. 76 „,Are they listening?‘ ,All the time!‘ he sniggered. ,There is a microphone in this wall. One in that wall. Another in the ceiling, and I know not where else. They listen, listen, listen to everything. But this everything is too much for them. So they hear nothing!‘“ (U 80) „,We stood for almost an hour. Utz would point to an object on the shelves. Marta would bang their saucepan.‘“ (U 81) 143

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Journalist auch während seines Besuchs in der Wohnung Utz’ kennengelernt hatte: Utz’s servant sat perched on a stool. She was a solid woman dressed awkwardly in a maid’s uniform, with glowing cheeks and sandy hair flecked with grey. Over a black woollen dress there was a frilly white apron and, across her forehead, a fillet of lace. Her legs were encased in black stockings, which had a pair of white ,potatoes‘ at the knee. (U 38)

Doch nicht nur in diesem Kontext wird Marta zu einem unentbehrlichen Teil des Maskenspiels. Auch für die ,Frauensammlung‘ übernimmt sie die Rolle der Wegbereiterin und Hüterin: „[S]he acquired a professional’s skill in preparing the bedroom for ladies too proud, or too ashamed, to bring an overnight bag“ (U 113) und verwandelt Utz’ Schlafzimmer in „,something like a Polish bordel‘“. (U 112) Ihre Liebe zu Utz wird als aufopferungsvoll und uneigennützig beschrieben: The part Marta played was a sad one. She had adored Utz with a hopeless and blinkered passion from the moment he beckoned her into his automobile. […] If she did not enjoy his body in this world, she would, with faith, his soul in the next. (U 112)

Ihre Opferbereitschaft geht über jedes vernüftige Maß hinaus: „Since the queue of ladies became more, not less, pressing over the years, the number of nights she had to sleep out increased.“ (U 113) Ihre Unterwürfigkeit beschämt den Sammler: „She followed her master’s movements with an adoring gaze: frequently he had to prevent her from kissing his hand.“ (U 51) Als Utz, der Ästhet, schließlich, im Gegensatz zu seinen Figurinen, deren Attribut die Unvergänglichkeit ihrer Schönheit ist, in einem Moment schmerzhafter Selbsterkenntnis realisieren muss, dass er keine äußerlichen Reize mehr hat, um als Liebhaber akzeptiert zu werden í „[h]e glanced into the mirror of a shop-front and, in a moment of extreme disillusion, was forced to revise his image of himself as eternal lover“ (U 159) í, wendet er sich Marta zu und beendet seine sexuellen Begegnungen mit den zahlreichen Operettendiven. In diesem Moment verkehrt sich das Verhältnis zwischen Herr und Dienerin und Marta erhebt sich erstmals í wie ein ,Golem‘77 í über Utz, und fordert ihn unmissverständlich auf, sie kirchlich zu heiraten: 77 Als der Journalist Utz in seiner Wohnung in der Široká-Straße besucht, beobachtet er das Verhältnis zwischen Utz und Marta. Zu diesem Zeitpunkt weiß er nichts über die Beziehung der beiden Protagonisten zueinander und 144

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One day in April, as she and Utz were spring-cleaning some boxes stored on top of the wardrobe, she opened one containing the white lace veil that had been worn of brides of the Utzes since the eighteens century. She laid it out on the pink satin coverlet. She looked at him pointedly. He returned her glance. (U 116)

Die kirchliche Hochzeit í „Utz and Marta were married in the Church of Saint Nikolaus [...] in the ,Prague Spring‘ of 1968“ (U 116) í macht Marta in der Phantasie des Journalisten zu Utz’ „eternal Columbine“. (U 125) Von diesem Zeitpunkt an, so suggeriert es der Erzähler, tauscht Utz seine Passion für die Figurinen und die Sopranistinnen gegen die vertrauensvolle und nun auch körperliche Liebe zu seiner langjährigen Vertrauten und Ehefrau Marta. Als menschliche ,Columbine‘ füllt sie also eine Leerstelle im Leben des Sammlers und erweckt ihn zu ‚neuemǥ Leben. Diese spät entfachte Leidenschaft zwischen Marta und Utz lässt das kostbare Porzellan zu „bits of cold crockery that simply had to go“ (U 126) werden und sie verbringen „their days in passionate adoration of each other, resenting anything that might come between them.“ (U 125-126) Die Liebe, so der Erzähler, habe schließlich über die Sammelleidenschaft gesiegt, da von dem Moment an, in dem der Sammler die wahre und wirkliche Liebe mit Marta erlebte, die Sammlung unwichtig geworden wäre. Für die Interpretation der Figur Marta bedeutet dies, dass sie nicht nur einen wichtigen Platz innerhalb des komplizierten Beziehungsgeflechts zwischen dem Sammler Utz und seinen Sammlungen einnimmt, sondern dass sie auch für beide Sammlungen das Ende bzw. ihren Schlusspunkt bedeutet. Denn in der Vorstellung des Journalisten befreit Marta Utz aus seiner Abhängigkeit und von den Masken, die dieser sich zum Schutz angelegt hat. Die Sammlungen müssen, so kann man ergänzen, nicht mehr länger als Kompensationsinstrumente unterdrückter Leidenschaften und Fluchtmöglichkeit aus einem tristen Alltagsleben dienen. Die eingangs formulierten Zweifel, ob die Annahme des Journalisten wirklich zutrifft, können jedoch nicht vollständig ausgeräumt werden. Fest steht aber, dass der Sammler das Verschwinden der Sammlung gegenüber ihrer Präsentation im Staatsmuseum präferiert. Auf diese Weise wird dem Staat die lukrative und kunsthistorisch wertvolle Sammlung vorenthalten. Sie wird – aus der Perspektive Utz’ betrachtet í vor einem qualvollen ,Tod‘ im Museum er beschreibt Marta mit den Worten: „At the woosh of the siphon, the maid emerged with her canapés on the Swan Service dish. Her movements seemed so lifeless and mechanical you would have thought that Utz created a female golem.“ (U 39) 145

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und vor einer ideologischen Vereinnahmung geschützt. Die Strategie eines totalitären Machtsystems sich klassenfeindliche Sammlungsobjekte anzueignen, scheitert also am Willen des Sammlers.

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D IE E RSCHAFFUNG HYPERREALER W ELTEN î DAS M USEUM ZWISCHEN F AKE UND R EALITÄT

LAWRENCE WESCHLERS MR. WILSON’S CABINET OF WONDER î ODER „T H E M U S E U M I S N ’ T W H A T I T S A Y S I T I S .“ 1 „Bekanntlich existiert keine Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und mutmaßlich ist. Aus einem sehr einfachen Grund: wir wissen nicht, was das Universum ist.“2

Das reale Museum und seine literarische Verarbeitung Das „Museum of Jurassic Technology“ steht im Zentrum von Lawrence Weschlers gleichzeitig auf die Tradition des Essays, der Biografie und der Dokumentation zurückgreifenden Text Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder. Pronged Ants, Horned Humans, Mice on Toast, and Other Marvels of Jurassic Technology3. Es handelt sich hierbei um ein tatsächlich existierendes Museum, welches 1988 von David Hildebrand Wilson an der Hauptgeschäftsstraße von Culver City, einem Stadtteil von West-Los Angeles, gegründet wurde. Dieser im Sinne eines „cabinet of wonder“ konzipierte Ausstellungort findet seinen Platz in einem unauffälligen Ladenlokal mit einer Größe von „1,500 square feet“ (CW 52) í versteckt zwischen einer Reihe von Geschäften: „[T]he museum presents precisely the sort of anonymous-looking facade one might easily pass right by.“ (CW 11) Auf die Frage des Autors, auf welches Themenfeld das „Museum of Jurassic Technology“ spezialisiert sei, antwortet David Wilson í 1

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Ralph Rugoff: „Beyond Belief: The Museum as Metaphor“. In: Lynne Cooke und Peter Wollen (Hg.): Visual Display. Culture Beyond Appearances. Seattle, Wash.: Bay Press 1995, S. 68-81: 64. Jorge Luis Borges: „Die analytische Sprache John Wilkins“. In: Ders.: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur. München: Hanser 1966, S. 209214: 212. Lawrence Weschler: Mr. Wilson's Cabinet of Wonder. Pronged Ants, Horned Humans, Mice on Toast, and Other Marvels of Jurassic Technology. New York: Random House 1995. Im laufenden Text wird diese Angabe mit der Sigle CW zitiert. 149

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„museum’s founder and director“ (CW 12) in einer Person4 í, dass es sich um „a small natural history museum with an emphasis on curiosities and technological innovation“ (CW 26) handele. Und in einer Broschüre über die Konzeption des Museums heißt es: The Museum of Jurassic Technology in Los Angeles, California, is an educational institution dedicated to the advancement of knowledge and the public appreciation of the Lower Jurassic. Like a coat of two colors, the museum serves dual functions. On the one hand the museum provides the academic community with a specialized repository of relics and artifacts from the Lower Jurassic, with an emphasis on those that demonstrate unususal or curious technological qualities. On the other hand the museum serves the general public by providing the visitor with a hands-on experience of ,life in the Jurassic‘. (CW 27)

Immer wieder begibt sich Weschler, mit dem erklärten Ziel ein Buch darüber zu verfassen, in David Wilsons außergewöhnliches Museum í „[a]s I say, I began making a point of visiting the museum on each of my trips out to Los Angeles“. (CW 41) Das Ergebnis seiner zahlreichen Rundgänge und investigativen Nachforschungen ist eine detaillierte, in manchen Teilen von persönlichen Eindrücken geprägte Beschreibung des Museums, seines Besitzers sowie seiner Entstehungsgeschichte. Die sorgfältig recherchierten sachbezogenen und historischen Hintergrundinformationen sowie die Art und Weise, auf welchen Wegen Lawrence Weschler an sie gelangt, finden ebenso Eingang in seine Schilderungen wie seine offenkundige Verwunderung über die Kuriositäten, auf die er im Museum trifft. Eine Gattungszuordnung des Texts gestaltet sich deswegen problematisch, da die als faktual einzuordnenden Schilderungen des Journalisten von genuin literarischen Erzählstrategien5, welche die Mehrstimmigkeit personalisierter, individueller und subjektiver Eindrücke und Kommentare mitaufnehmen, gekreuzt werden. So bietet Mr. Wilson’s Cabinet 4

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Auf CW 111 ist ein Foto von David Wilson abgebildet, von dem man, genau wie es für alle Textzeugen gilt, nicht sagen kann, ob es tatsächlich David Wilson zeigt. Im Bildnachweis heißt es dazu: „Photo of David Wilson (the director outside his museum), photographer unknown, courtesy of the Society for the Diffusion of Useful Information“. [Hervorhebung M. W.] (CW 167) Eine Reihe metakommunikativer Signale legen seine Rezeption als einen fiktionalen Text nahe. Er weist eine höhere Komplexität als eine bloße Zeitungsreportage auf und gehört neben der realen ebenso einer fiktiven Kommunikationssituation an. Durch diese erschwerte Gattungszuordnung erhält der Text eine Sonderstellung innerhalb der für diese Studie getroffenen Gesamtauswahl. 150

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of Wonder verschiedene Lesarten an: als Fiktion, als Bericht oder als die Schilderung einer absurden Expedition eines investigativen Journalisten.6 Der Leser befindet sich dadurch in einer Rezeptionssituation, die es ihm nicht ermöglicht, eine eindeutige Aussage darüber zu treffen, ob der Autor Lawrence Weschler identisch mit dem namenlosen Ich-Erzähler und Protagonisten ist, der sich selbst, genau wie der Autor, als Journalist und Redakteur beschreibt. Erzählperspektivisch fungiert der Erzähler als Übermittler zwischen der Ausstellung im Museum und der Leserin respektive dem Leser und ist dadurch zugleich Filter und Unterbrechung. Er verschriftlicht seine Eindrücke und Erfahrungen und errichtet einen Textraum, den er nicht nur mit realen und authentischen Fakten füllt, sondern auch mit intertextuellen, literarischen Versatzstücken wie Zitaten aus Jorge Luis Borges’ Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“7 oder Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht8. Dabei übernimmt jeder intertextuelle Verweis zwei Funktionen: Einerseits weist er in seiner Aussage über den Text hinaus und andererseits eröffnet er dadurch gleichzeitig neue Perspektiven auf ihn. Sowohl für den Text als auch für das Museum kann formuliert werden, dass sich eine trennscharfe Linie zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht ziehen lässt. Ein real existierendes Museum ist also das Sujet eines Texts, der ebenso als autonomes Konstrukt gelesen werden kann. Je informierter der Leser allerdings ist, also von der Existenz des Museums weiß, es vielleicht sogar schon einmal selbst besucht oder im Internet9 bzw. in kunst- und muse6

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Man kann Weschlers Text auch als Museumskatalog oder Ausstellungsführer lesen. Obwohl die Beschreibungen in ihrer Informationsbreite weit über das hinausgehen, was üblicherweise in Museumskatalogen oder Ausstellungsführern erörtert wird. Jorge Luis Borges: „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“. In: Ders.: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Stuttgart: Reclam 2003, S. 21-40. [Die Originalerzählung erschien 1944 im Erzählband Ficciones unter demselben Titel in der Edition SUR in Buenos Aires.] Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München: Hanser 1983. [Das Original erschien 1979 unter dem Titel: Se una notte d’inverno un viaggiatore in Turin bei Giulio Einaudi.] Eine Außenstelle des „Museums of Jurassic Technology“ befand sich im Karl Ernst Osthaus Museum in Hagen (www.keom.de) bis zu dessen Umbau 2007. Ob es nach der Wiedereröffnung noch da sein wird, steht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Studie noch nicht fest. Einen intermedialen Zugang in das Museum in Los Angeles erhält man über folgende Webadresse: www.mjt.org. Im „Museum of Jurassic Technology Bookstore“ kann man außerdem einen Film mit dem Titel Inhaling the Spore: A Journey through the Museum of Jurassic Technology bestellen. Die Filmbeschreibung lautet: „This recent documentary by filmmaker Leo151

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umstheoretischen Schriften recherchiert hat, desto klarer kann er die Elemente des Fiktionalen und des Faktualen differenzieren und desto größer wird das Lesevergnügen. Die Verunsicherung, welche beim Leser im Hinblick auf die Gattungszuordnung des Texts evoziert wird, verstärkt sich, wenn man die strukturellen Modi des Museums einer genauen Analyse unterzieht. Dass es sich beim „Museum of Jurassic Technology“ um ein unkonventionelles Museum handelt, ist offensichtlich. Zu diesem Eindruck tragen neben der bereits erwähnten ungewöhnlichen Lage auch andere Gegebenheiten bei, wie zum Beipiel die Öffnungszeiten: „Thursday evenings, and Saturdays and Sundays noon to six.“ (CW 12) Auch andere Paradigmen konventioneller Museen vermisst der Besucher von David Wilsons Museum: So gibt es weder einen festen Eintrittspreis noch regelmäßige Museumsführungen, da David Wilson die Interpretation der Ausstellungsstücke dem Besucher selbst überlässt: „He leaves it to you to decide […].“ (CW 12) Er wird Teil des postmodernen Verwirrspiels, welches David Wilson in seinem Museum inszeniert: David continually defers authorship: he is always talking of „our“ goals and what „we“ are planning to do next. In part this is one of the self-effacing gambits; but its also true that the museum has generated a community í or anyway, that it’s no longer much about what’s going on „inside“ David as about what’s going on „between“ him and the world. (CW 53)

Ausgangsposition für das Recherchevorhaben Mit der Haltung eines neugierigen Besuchers begibt sich der Journalist in das „Museum of Jurassic Technology“, in dem alle modernen technischen Hilfsmittel und eine Vielzahl verschiedenster Medien zum Einsatz kommen: Nachbauten im Miniaturformat, Fotowände, Transparente, Dioramen und Dias, Diagramme, Schaubilder sowie die Begleittexte10 und Kommentare, welche mitunter auf Schildern über oder neben den Vitrinen angebracht sind. Außerdem arbeitet das Museum mit Vorträgen und Erklärungen, die von einem Tonband über einen Telefonhörer abrufbar sind. „The voice in the receiver, the same voice as in all other receivers nard Feinstein offers an analysis and interpretation of the Museum, and includes interviews with the Museum’s founder and an extensive tour through the Museum’s exhibits.“ DVD, 2004, 35 minutes. 10 Einen interessanten Beitrag zum Umgang mit Texten im Museum stellt die Publikation von Gottfried Fliedl et al. (Hg.): Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens. Wien: Turia + Kant 1994, dar. 152

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[...] is in fact the same bland, slightly untuous voice you’ve heard in every museum slide show [...]: the reassuringly measured voice of unassailable institutional authority.“ (CW 15-16) In der ironischen Kommentierung des Erzählers schwingt eine subtile Kritik auf den klassischen Museumsbetrieb mit. Die institutionelle Autorität eines Museums, die sich ebenfalls in seinen architektonischen Vorgaben, den Linien, die nicht übertreten werden dürfen, den eingebauten Lichtschranken und Alarmanlagen, den Museumswärtern und Führungen offenbart, ist die Richtschnur für die Besucherin und den Besucher eines Museums. In ihrer Summe unterstreichen die genannten Präsentationsmittel den rationalen und institutionellen Charakter eines Museums. Sie können den Besucher in seinem Zwiegespräch mit den Exponaten und seinen subjektiven Wahrnehmungs- und Rezeptionserfahrungen unterstützen, zugleich aber auch den produktiven, nicht voraussagbaren assoziativen Dialog zwischen Objekt und Subjekt und dadurch die Option zur Fiktivität behindern, die jedes Museum in sich birgt.11 Die Grenzen zwischen Ausstellungsstücken und Gebrauchsgegenständen sind im „Museum of Jurassic Technology“ allerdings verschwommen, die Verfahrens- und Zuschreibungsweisen nicht transparent í ein Präsentationsprinzip, welches auf Rezipientenseite Verwirrung stiftet: David tells the story of one fellow who spent a long time studying the pencil sharpener on his desk. „It was just a regular pencil sharpener,“ David assures me, „it wasn’t meant to be an exhibit. But he couldn’t get enough of it.“ And he tells another story about an old Jamaican gentleman John Thomas who also spent a long time in the back and then came out crying. „He said, ,I realize this is a museum but to me it’s more like a church.‘“ (CW 52)

Forschendes, beharrliches Interesse an den Objekten, Ratlosigkeit, Verwunderung und Staunen sind nur einige Reaktionen, die bei den Besuchern des Museums auftreten. Sie alle werden durch die präsentierten Dinge herausgefordert, deren Rezeption ihnen Flexibilität und Phantasie abfordert. Denn statt einer verlässlichen Information, deren Faktizität abgeprüft werden kann und die Sicherheit schafft, werden durch die Exponate immer neue Unsicherheiten geschürt, welche sich zu der zentralen Frage verdichten, ob es sich bei ihnen nicht entweder um gefälschte Naturphänomene, um mit wunderbaren Geschichten versehene echte Objek11 Vgl. zu diesem Gedanken auch Gottfried Fliedl: „Do not cross … Museum, Fiktion, Wahn. Eine Skizze“. In: Karl-Josef Pazzini et al. (Hg.): Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Näherungen. Bielefeld: transcript 2005, S. 249-258: 255. 153

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te oder um mit fiktionalen Geschichten versehene Fakes handelt. Das „Museum of Jurassic Technology“ führt sie an einen Punkt, den sein Begründer David Wilson als seine Aufgabe formuliert: „[R]unning this museum as a service job, and that service consists in […] providing people a situation in fostering an environment in which people can change.“ (CW 42) Und mit der Unglaubwürdigkeit der Objekte wird auch die Institution infrage gestellt: „Taken together, these observations lead to an irrevocable conclusion: the museum isn’t what it says it is.“12 „,[W]hat kind of place is this exactly?‘“ (CW 25) ist daher auch die zentrale Frage, an der sich die Recherchen des Journalisten orientieren und vor deren Hintergrund er intensive Recherchen in Katalogen, Archiven und Bibliotheken sowie telefonische und persönliche Gespräche mit Museums- und Kunstexperten führt. Wilsons Beteuerung: „We’re definitely interested in presenting phenomena that other natural history museums seem unwilling to present“ (CW 26) entpuppt sich dabei rasch als Teil seines ausgeklügelten Verwirrspiels, welches zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Authentizität und Falsifikat changiert: „He never ever breaks irony í that’s one of the incredible things about him.“ I was talking with Marcia Tucker, the director of New York’s New Museum, about David Wilson. […] „When you’re in there [in the Museum of Jurassic Technology, Anm. M. W.] with him,“ Tucker went on, „everything initially just seems self-evidently what it is. There’s this fine line, though, between knowing you’re experiencing something and sensing that something is wrong. There’s this slight slippage, which is very essence of the place.“ (CW 39)

Die Nachforschungen des Journalisten ergeben, wie es im Folgenden noch eingehend erläutert wird, in vielen Fällen einen konkreten, authentischen Bezug auf historische, kunstgeschichtliche oder literarische Hintergründe. In diesen realen Referenzpunkten liegt ein wesentlicher diskursiver Aspekt der institutionellen Ästhetik, die den Objekten erst ihren Status und ihre Bedeutung geben. Mit Eco gesprochen könnte man sie als „fak-di-verso“13 bezeichnen. Sukzessive entdeckt das erzählende Ich, dass das „Museum of Jurassic Technology“ die kreative Schöpfung sei-

12 Ralph Rugoff (1995): Beyond Belief, S. 64. 13 Umberto Eco entwickelt diesen Begriff anhand eines prominenten Beispiels: „Nur ist dummerweise der Kaufvertrag über Manhattan zwar in pseudoantiken Schnörkelbuchstaben geschrieben, aber englisch, während das Original natürlich holländisch war. Es handelt sich also nicht um ein Faksimile, sondern wenn der Neologismus erlaubt ist í um ein ,fak-diverso‘“. In: Umberto Eco: „Reise ins Reich der Hyperrealität“. In: Ders.: Über Gott und die Welt. München, Wien: Hanser 1985, S. 36-99: 44. 154

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nes gebildeten und belesenen Erzeugers ist, der diese Reihe kurioser Dinge in seinem Museum zusammengetragen und erschaffen hat.14 Die Auswahl und Präsentation der Objekte finden ihren Ursprung in David Wilsons künstlerischer Begabung, seinen Ideen, Präferenzen und intellektuellen Möglichkeiten. Dies wird beispielsweise deutlich, als David Wilsons Tochter DanRae den Redakteur während einer Führung darauf aufmerksam macht, dass das ausgestellte Perlenarmband der Altistin Madalena Delani ursprünglich ihr Babyhalskette war: „,That was my necklace when I was a baby.“ (CW 55)

Das Fake und die Verstärkung seines Effekts durch die Fiktionalisierung Das Fake î eine Begriffsbestimmung Die Begriffe Fake und Fälschung, zwei seit Anfang der 1990er Jahre im Deutschen synonym verwendete Termini, umschreiben nicht nur das Objekt, welches gefälscht wurde und jenes, das als Fälschung bezeichnet wird, sondern auch die Handlungen und Prozesse, die Überlegungen und Anstrengungen, die ein Fake oder eine Fälschung erzeugen. Im Dictionary of English Language and Culture15 wird das Verb „fake“ wie folgt erklärt: „[...] to change (something) so that it falsely appears better, more 14 Vgl. hierzu aus Michael Fehr: „Text und Kontext. Die Entwicklung eines Museums aus der Reflexion seiner Geschichte“. In: Ders. (Hg.): open box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs. Köln: Wienand 1998, S. 12-45 und ders. (Hg.): Imitationen. Das Museum als Ort des Als – Ob. Köln: Wienand 1990. Die gleichnamige Ausstellung griff alle nur denkbaren Variationen von Imitationen auf und setzte sie mit einer bereits vorhandenen Sammlung im Karl Ernst Osthaus Museum (KEOM) in Hagen in einen Konjunktiv. Um das Publikum in ein Spiel zu verwickeln, das sich um die Frage nach Original und Fälschung, nach Wahrheit und Lüge dreht, wurden zum Beispiel Ausstellungsobjekte mit falschen Namen etikettiert oder echte, originale Objekte eine Fälschung oder Replik genannt. Das Resultat dieses Verwirrspiels war, dass die Besucher die Orientierung verloren. Vor allem diejenigen, die das KEOM nicht zum ersten Mal besuchten. Zur Ausstellungskonzeption gehörte also im Gegensatz zur Verfahrensweise im „Museum of Jurassic Technology“ eine bewusst explizite Kennzeichnung der Exponate, die weniger subtil ebenfalls dazu aufforderte, die Dinge zu hinterfragen und den Signifikanten nicht ohne Weiteres Glauben zu schenken. 15 Dictionary of English Language an Culture. Essex: Longman Group UK Limited 1992. 155

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valuable [...]; to copy (something) so as to deceive […]; to pretend“. Für das Nomen „fake“ findet sich die Beschreibung: „[A] person or thing that is not what he/she/it looks like or pretends to be; a usu. worthless copy of something, intended to deceive [...].“ Seine deutsche Übersetzung lautet: „Fälschung […] Imitation […] Schwindler“.16 Und im etymologischen Wörterbuch erfährt man, dass das Verb „fälschen“ schon im Althochdeutschen im Sinne von „für falsch erklären, widerlegen“ verwendet wurde und der Begriff „Imitation“ bereits im 16. Jahrhundert die „[minderwertige] Nachbildung besonders von Schmuck“ bezeichnete.17 In ihrer Gesamtheit machen die Erklärungen deutlich, dass sie alle entweder ein originäres, reales Ding oder einen tatsächlichen, wahren Sachverhalt voraussetzen und dass mit der Erzeugung der Fälschung ein Akt des Betrugs vollzogen wird, der auch juristische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Für den Bereich der Kunst bedeutet demnach die Erstellung einer traditionellen Fälschung das Vorhandensein eines Originals, welches die Fälschung kopiert.18 Demzufolge ist eine Fälschung erst dann eine Fälschung, wenn sie als solche erkannt wird. Oder, anders formuliert, eine Fälschung gilt solange als Original bis ihr das Gegenteil bewiesen werden kann.19 Stefan Römer, der sich in seiner kunst- und kulturwissenschaftlichen Studie zum Fake mit genau diesem Gegensatz beschäftigt hat, hakt an dieser Stelle ein und sagt, dass der Begriff der Fälschung hinsichtlich seiner kulturellen Verwendung einer Revision unterzogen werden müsse. Er vertritt die Ansicht, dass die Fälschung heute nicht mehr zwangsläufig das Gegenbild zum Echten und Wahren seien müsse, sondern eine durchaus positiv besetzte Strategie sein könne, die ihre ei-

16 Pons Großwörterbuch für Experten und Universität. Stuttgart (u. a.): Klett 4 1998. 17 Duden. Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim (u. a.): Dudenverlag 32001. 18 Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung. Köln: Dumont 2001, S. 12. Das Spiel mit Wahrheit und Fälschung ist, wie Stefan Römer in seiner Arbeit ausgeführt hat, ein kunstund kulturgeschichtlich äußerst relevantes Thema, das sich in das Gedächtnis der Mitglieder der westlichen Gesellschaft im Verlauf ihrer Sozialisation eingebrannt hat und das unterbewusst Einfluss auf deren Rezeptionsverhalten hat. Vgl. dazu auch: Kathrin Ackermann: Fälschung und Plagiat als Motiv in der zeitgenössischen Literatur. Heidelberg: Carl Winter 1992. 19 In Brian Moores Roman The Great Victorian Collection wird diese Diskussion zu einem zentralen Moment im Leben des Protagonisten Anthony Maloney, dessen wissenschaftliche Reputation und Anerkennung von dem Werturteil von Kunstexperten für Viktoriana abhängt. 156

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gene Wahrheit habe. Für das, was man seit Ende des 20. Jahrhunderts unter einer Fälschung oder einem Fake verstünde, sei ein künstlerisches Original oder ein anderer konkret zu bezeichnender Ursprung keine unbedingte Voraussetzung mehr.20 Interessanterweise habe sich in Bezug auf diesen Sachverhalt der Begriff Fake durchgesetzt, wohl weil das „augenzwinkernd implizierte konspirative Wissen um einen geschickten witzigen Akt der Täuschung [...] ein ,Fake‘ zu bezeichnen“ 21 scheine, und man „nach der Entschleierung eines Betrugs eher verurteilend von ,Fälschungǥ“22 rede. Die Rezipienten eines Fake entwickeln, so könnte man Römers Gedankengang fortsetzen, Fragen, welche nicht das Produkt einer vergleichenden Analyse von Original und Fälschung sind, wodurch Begriffe wie Mimesis, Schein und Simulation23 in den Hintergrund rücken. Vielmehr setzen sie sich mit dem Fake als einer künstlerischen Strategie24 auseinander.

Museumsexponate als Fake David Wilson arbeitet im „Museum of Jurassic Technology“ im Hinblick auf seine künstlerischen Produkte, als welche die Exponate ebenfalls bezeichnet werden können, mit Verzerrung, Manipulation, Fiktion und Unterschlagung von Wahrheit. Er dekontextualisiert sie, bettet sie in neue Zusammenhänge und manipuliert sie durch seinen ironisch kommentierenden Zugriff, welcher sich beispielsweise an einer ausgestellten Vitrine nachvollziehen lässt. Sie hat die Größe eines Aquariums und trägt die Aufschrift „Außer Betrieb“ (CW 22). In ihr befindet sich ein wissenschaftliches Instrument, das über einer schwarzen Drehscheibe befestigt ist. Auf der Drehscheibe: fünf kleine Glasschalen, die alle jeweils mit einer geringen Menge Pulver befüllt sind. Beschriftet sind die Gefäße mit den Wörtern: „Besessenheit“, „Wahn“, „Paranoia“, „Schizophrenie“ und „Vernunft“ (CW 23). In letztgenanntes Behältnis hat sich der Schaft eines Messinstruments gebohrt und es soweit zerstört, dass Pulver und Scherben verstreut auf dem Boden der Vitrine liegen.25 Dieser Aufbau

20 21 22 23 24 25

Römer (2001): Künstlerische Strategien, S. 13. Römer (2001): Künstlerische Strategien, S. 14. Römer (2001): Künstlerische Strategien, S. 14. Römer (2001): Künstlerische Strategien, S. 16. Römer (2001): Künstlerische Strategien, S. 14. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Beispiel für den ironischen Umgang mit der wissenschaftlichen Autorität im „Museum of Jurassic Technology“ interessant: „[A] little urn surrounded by French moth [...] maybe 157

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einer ,wissenschaftlichen Apparatur‘ kann sowohl als Metapher auf die Gesamtausstellung gelesen werden, in der die Vernunft außer Kraft gesetzt wurde und in der nunmehr der Wahnsinn herrscht, in der Realität als etwas Anderes, Verzerrtes wahrgenommen wird, oder als parodistisch verarbeiteter Kommentar auf den Wissenschaftsbetrieb und seine Bildungsinstitutionen, wie zum Beispiel dem Museum, deren Ernsthaftigkeit und Autorität von der Ironie Wilsons genauso durchdrungen werden wie die ,Schale der Vernunft‘ von jenem Messinstrument. Dem Besucher bietet sich über die Auseinandersetzung mit diesem Exponat eine Möglichkeit, die Schichten des Museums, die laut David Wilson wie ein Filter wirken, zu durchdringen: „You know certain aspects of this museum you can peel away very easily, but the reality behind, once you peel away those relatively easy layers, is more amazing still than anything those initial layers purport to be. The first layers are just a filter …“ (CW 62)26

Der Museumsbesitzer und Schöpfer der Exponate „satirizes perfectly the tiresome, pedantic qualities of ,authentificating‘ scholarship. The copious footnotes and references and didactic panels“ (CW 40), die seiner Ausstellung wissenschaftliche Seriösität verleihen. Formal führt Lawrence Weschler dieses Prinzip fort, da Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder in seinem Aufbau eine wissenschaftliche Studie zitiert: sie beinhaltet Fußnoten, einen wissenschaftlichen Anhang mit Anmerkungen, Danksagungen sowie einen Quellen- und Bildnachweis. Die Parodie kann als eine Schreibweise, eine Form der Intertextualität27 gelesen werden, in der die Aussage eine andersartige, aber nicht unbedingt diametral entgegengesetzte, spöttische sein muss. So spricht etwa Linda Hutcheon in diesem Zusammenhang von einer „repetition with

Flemish“, über deren Bedeutung David Wilson äußert: „It’s just an urn. I don’t think it means anything.“ (CW 35) 26 Den forschenden Journalisten erinnert diese Aussage an ein Zitat von Rainer Maria Rilke, in dem dieser sich zur Ironie äußert. Rilke fordert in seinem „Epistolary Advice to a Young Poet“ einen kritischen und sich selbst hinterfragenden Umgang des Künstlers mit der Ironie, die er nur dann gebrauchen solle, wenn sie seinem Wesen entspringe und damit zu einem ernsten Ausdruck seiner Kunst werde. Lawrence Weschler bezieht sich hier auf Rainer Maria Rilke: Letters to a Young Poet. New York: Norton 1934, S. 24. [Das Original erschien 1929 unter dem Titel Briefe an einen jungen Dichter im Insel Verlag in Leipzig.] (CW 115-116) 27 Vgl. dazu Genette (1993): Palimpseste, S. 21-47. 158

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difference“28, die erreicht wird, indem man einen Text oder einen Textausschnitt dem Prozess einer „trans-contextualization“29 unterzieht und auf diese Weise einen neuen Aussagecharakter für ihn erzeugt. Dasselbe ließe sich über ein Ausstellungsstück sagen, übertrüge man diese Verfahrensweise auf den Museumskontext. Historisch bekannte Objekte aus Wunderkammern und neu gefertigte Exponate, die künstlerische Traditionen aufgreifen und modifizieren, erfahren durch die wilsonsche Transposition einen Akt der Dekontextualisierung und stehen in ihrem neuen Umfeld – der Institution Museum – für neue Assoziationen bereit. Eine verlässliche Größe wie die Sicherheit, zu wissen, was einen Wirklichkeitsbezug hat, gibt es, wie bereits betont, im „Museum of Jurassic Technology“ nicht. Vielmehr spielen die Dinge sowohl auf einer kognitiven, vor allem aber auf einer affektiven Ebene mit ihren Betrachtern. Staunen und Verwunderung, Neugier, aber auch Unbehagen und Unsicherheiten, werden in den Rezipienten hervorgerufen, wenn sie das Ausgestellte rezipieren und í ohne es zu wissen í und den Spuren folgen, die für sie gelegt wurden.

Die Inszenierungsstrategien des Fake Die Strategien des Fake beginnen mit der Selbstautorisierung des „Museum of Jurassic Technology“ und der Erklärung seiner gesellschaftlichen Bedeutung, welche durch keine offizielle Quelle untermauert wird: „Although the path has not always been smooth, over the years the Museum of Jurassic Technology has adapted and evolved until today it stands in a unique position among the major institutions of the country.“ (CW 29) Wilson erschafft einen Ort, nennt ihn Museum, setzt die Dinge in einen unbestimmten Zeitkontext und verleiht damit den ausgestellten, musealisierten Dingen ,Unsterblichkeit‘. Teil der Expositionsstrategie ist es, die Ausstellungsobjekte mit einer Art ,Wissenschaftsgeschichte‘ zu verbinden. So wird die Geschichte von der bodenbewohnenden Stinkameise Megaloponera foetens (CW 3) mit der Niederschrift des dreibändigen Werks „Obliscence: Theories of Forgetting and the Problem of Matter“ (CW 5) des großen zeitgenössischen amerikanischen Neurophysiologen Geoffrey Sonnabend verbunden. Diesem sei es nach dem Genuss eines Konzerts der Altistin Madalena Delani und dem Einatmen einer durch die Stinkameise verbreiteten Pilzspore gelungen, in einer Nacht „the entire model of intersecting plane and cone that was to 28 Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teaching of 20th-Century Art Forms. New York, London: Methuen 1991, S. 32. 29 Hutcheon (1991): Theory of Parody, S. 33. 159

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constitute the basis for his radical new theory of memory [...]“ (CW 5) zu verfassen. Oder es wird von dem Chiroptologen Donald R. Griffith und dessen Forschungen über einen Ethnographen namens Bernard Maston berichtet. Letztgenannter erhielt während seines Aufenthalts bei den „Dozo of the Tripsicum Plateau of the circum-Caribbean region of northern South America“ (CW 7) Kenntnis über den „deprong mori, or piercing devil“ (CW 7), dem Vertreter einer seltenen Tierart, welchen Griffith später in einer massiven Bleiwand einfing und in ihm die Fledermausart Myotis lucifugus erkannte. Obwohl ihr Inhalt ungewöhnlich ist und Erstaunen hervorruft, werden die Museumsstücke so exakt kommentiert, durch Fotos belegt sowie durch Schaubilder und Installationen ergänzt, dass der Besucher des Museums mit seinem empirisch geschulten Auge das Präsentierte zunächst als wahr und unverfälscht einstuft. Erst in einem zweiten Schritt unterlaufen die hinzugefügten Erklärung die augenscheinliche Authentizität des Gesehenen. In seinem Film „Stasis“, den David Wilson während seiner Zeit als Filmemacher an der Kalifornischen Kunstakademie gedreht hatte, wird bereits ein Prinzip deutlich, nach dem David Wilson seine künstlerischen Arbeiten konzipiert: Der Film zeigt, wie das Bild eines Gebirgsbachs und eines Baumes sich von einem realen, scharfen Bild in reines Licht auflöst: „[T]his very crisp, clear, substantive image slowly, indefinably, dematerialized into pure light and grain.“ (CW 59) Der Zuschauer erlebt die Auflösung des Realen. Ihm wird vorgeführt, dass das, was er selbst als wahrhaftig erkennt, aufgelöst wird. Liest man den Titel des Films in seiner Bedeutung als rhetorischen Begriff, dann zeigt David Wilson in seinem frühen Werk eine Einstellung bzw. Haltung, dessen konsequente Fortführung im „Museum of Jurassic Technology“ stattfindet. Er wechselt lediglich das Medium: vom Film zum Museum. Im Text wird die Aussage des Films durch zwei Fotografien (CW 48) zitiert: Sie übernehmen die Funktion einer intermedialen Zeugenschaft. Das Motiv ist einem ersten Eindruck folgend auf beiden Fotografien dasselbe: der Baum und der Gebirgsbach. Doch schaut man genauer hin, erkennt man feine Unterschiede in der Helligkeit und Schärfe der Fotos, in der Beschaffenheit der einzelnen Objekte í wie dem Zaunpfahl, dem Draht des Zauns, dem Gestrüpp am Ufer des Gewässers und in der Größe des Bildausschnitts. (CW 47) Der Umfang der Verfremdung ist nicht auf den ersten Blick evident. Erst nach einer längeren Betrachtungsdauer wird die nuancierte Veränderung sichtbar und der Betrachter ist sich nicht sicher, ob das erste Bild nicht auch einen herausgezoomten Ausschnitt des zweiten zeigen könnte. Die Mittel, die eingesetzt werden, finden ihre Weiterführung im „Museum of Jurassic Technology“, dessen institutioneller Rahmen mehr

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Rezeptionsebenen umfasst und aufgrund seiner breit gefächerten Varianz an Präsentationsmöglichkeiten mehr Fläche für das Spiel mit Ironie und Wahrnehmung bietet und eine konsequente Erweiterung des Gedankens ist, der in „Stasis“ bereits meisterhaft entworfen wurde: [I]t’s possible to sense a certain continuity between those early films and the more recent incarnation of David’s vocation. […] Only, whereas in this films it was almost purely the form itself that mesmerized, subsequently he’s been able to achieve that same level of magnetized, riveting amazement through the manipulation of content. (CW 49)

Ausgewählte Beispiele verdeutlichen dies: Wenn es um den Namen eines Forschers geht, der nicht, wie Wilson behauptet, Griffith sondern Griffin heißt, oder wenn Geschichten ergänzt werden, wie zum Beispiel die um den Radioreporter Jim Svejda, den es zwar tatsächlich gibt, der aber niemals ein Feature über die Sängerin Madalena Delani moderiert hat. (Vgl. CW 35-38) Oder die frei erfundene kamerunischen Stinkameise, der Megaloponera foetens (CW 3), deren wuchernden Auswuchs am Kopf man in der Realität in Form eines Coryceps-Pilzes an einer Ameisenart namens Camponotus floridanus in Florida finden kann. (Vgl. CW 66-69) Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte der Gebrüder Thums, die ihre Schenkung an den Rechtsanwalt Billius nicht rückgängig machen konnten í eine Angelegenheit, deren historischer Wahrheitsgehalt erst dann nachvollziehbar wird, wenn man den Namen Thums gegen Tradescant30 und den des Rechtsanwalts gegen den Namen Elias Ashmole austauscht. (Vgl. CW 30-31) Der Aussagecharakter dieser Ereignisse und Phänomene verändert sich, indem Wilson die Signifikanten modifiziert oder austauscht, denn der Fokus des Betrachters kapriziert sich entweder auf den dadurch veränderten Referenten, wie zum Beispiel im Fall der beiden Fotos, oder auf die Fakten der geschilderten Geschichte, wie in der Erbschaftsangelegenheit der Gebrüder Thums. Die Namen und Bezeichnungen werden erst auf einer tiefer liegenden, kultur- und kunsthistorischen oder museumstheoretischen Ebene lesbar, wenn sie einen erklärenden, kontextualisierbaren Charakter erhalten.31

30 Bei dem Gärtner und Botaniker John Tradescant handelt es sich um eine historische Figur, die von 1577 bis 1638 in England lebte. Er gründete ein Museum der Kuriositäten, dessen Sammlung Elias Ashmole nach seinem Tode erbte, und die dieser gemeinsam mit Tradescants Sohn inventarisierte und durch seine eigene Sammlung ergänzte und dann der Universität Oxford schenkte, die 1683 das neu erbaute Ashmolean Museum eröffnete. 31 Ein weiteres Beispiel aus der Ausstellungspraxis des KEOMs in Hagen unter der Leitung von Michael Fehr hebt hervor, wie wichtig diese Referen161

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David Wilsons künstlerische Arbeit, so lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen, zielt auf die Aufklärung des Besuchers durch dessen Betrachtung seiner Exponate ab. Er will auf die Täuschungen aufmerksam machen, denen der moderne Mensch aufsitzt. Sowohl die Beschaffenheit seiner Objekte als auch die Art und Weise wie sie präsentiert werden, entfalten eine Wirkung, wie sie beispielsweise niederländische Maler im 17. Jahrhundert beabsichtigten, als sie die Trompe l’oeuils bis zur Perfektion weiterentwickelten. In ihnen wurde dem Betrachter die Täuschung und zugleich das Durchschauen des Getäuschtwerdens zu erkennen erlaubt. Aufklärung über unkritische internalisierte Seh- und Rezeptionsgewohnheiten wie man sie für gewöhnlich in einem Museum praktiziert, wird im „Museum of Jurassic Technology“ über Täuschungen inszeniert, die wie die Trompe l’oeuils eine erkenntnisstiftende Enttäuschung inkludieren, wenn ihr Betrachter entdeckt, dass es sich bei ihnen um Fakes handelt.

Ist das Museum ein „cabinet of wonder“? Exkurs zu den historischen Kunst- und Wunderkammern Lawrence Weschler wählt für seine Publikation über David Wilsons Museum den Titel Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder und schlägt dadurch eine Brücke zu den historischen Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten in Europa.32 Ihre Vorläufer finden sie in den Schatzkammern des

zen sind. Die Ausstellung Revisionen folgte ohne zusätzlichen Kommentar der Chronologie des Inventarbuchs des KEOMs seit seiner Neugründung im Oktober 1945. Über einen Zeitraum von ungefähr drei Wochen wurden die seitdem angeschafften Kunstwerke in einem zur Ausstellung gehörenden performativen Akt sukzessive aufgehängt und in einen sehr losen Zusammenhang gestellt. Die dürftige Aussage der Ausstellung beschreibt Fehr mit den Worten: „[A]nhand der rein sammlungsbezogenen Enfilade konnte man recht gut die Aktivitäten meiner Vorgänger zu bestimmten Zeitpunkten relativ zur Entwicklung der jüngeren Kunstgeschichte in Beziehung setzen und es wurden Vorlieben, gute und weniger gute, mutige und weniger mutige Entscheidungen, mit anderen Worten die Risiken des Sammelns wie die Risikobereitschaft der Sammler erkennbar.“ In: Fehr (1998): Text und Kontext, S. 23. 32 Ergründet man die Entstehungsgeschichte historischer Wunderkammern und Kuriositätenkabinette, den cabinet d’art et de curiosité oder auch den camera d’arte e di meraviglie, wie sie an zahlreichen europäischen Fürs162

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Mittelalters.33 In ihnen wurden die Dinge nicht für den tatsächlichen, realen Gebrauch, sondern zum Zweck der Schatzbildung ge- bzw. versammelt.34 Lange Zeit bezeichnete man die Kunst- und Wunderkammern auch als theatrum mundi oder theatrum sapiente bezeichnet, oder aber auch als promptuaria, Archive sowie als Raritäten- und Kuriositätenkabinette.35 Der Begriff der Kunstkammer taucht im deutschen Sprachraum tenhöfen entstanden oder von Gelehrten und Wissenschaftlern in Europa etabliert wurden, so trifft man auf eine Vielzahl alternativer Kunst- und Wunderkammern, die in unterschiedlichen Ländern und von den verschiedensten Personen eingerichtet wurden. Es gibt Sammlungen von weltlichen Herrschern, von Kirchenfürsten, Gelehrten, Universitäten, wissenschaftlichen Instituten, von privaten Sammlern aus aristokratischen und bürgerlichen Kreisen wie Ärzten und Apothekern. Eine einheitliche Formel für alle zu finden, ist unmöglich. Es gilt, sie in ihrer bestehenden Heterogenität zu betrachten. Auch die Kontinuität, die in der Entstehungsgeschichte der Wunderkammer häufig aufgezeigt wird, ist an vielen Stellen nachträglich konstruiert. Man kann wohl eher von einem Nebeneinander der verschiedenen Ausprägungen und Motivationen ausgehen. Vgl. dazu: Mauriès (2002): Kuriositätenkabinette. In seiner Abhandlung finden sich die Beschreibungen einer Vielzahl von Sammlern, deren Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten. Eine Fülle von weiteren Gedanken und Anregungen verdankt dieses Kapitel der Lektüre dieses wunderbaren Buches. 33 Es gibt verschiedene Theorien zur Entstehung der Wunderkammern. Die hier zitierte orientiert sich an den Auffassungen Julius von Schlossers und Patrick Mauriès’. Vor allem die versteckten Räume Karls V. (1338-1380) und seines Bruders Duc de Berry (1340-1416) sind als solche zu verstehen. Hervorzuheben ist das Kabinett des Duc de Berry, in dem sich Kuriositäten wie Straußeneier, Mammutknochen, Schlangenhäute, gegen Gift schützende Amulette, Muscheln und Gegenstände mit okkulten Kräften finden. Vgl. dazu Mauriès (2002): Kuriositätenkabinette, S. 52 sowie Julius Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Braunschweig: Klinkhardt und Biermann 21978. [1908] 34 Sie wurden in Truhen und Schränken verwahrt, und wenn überhaupt, dann nur während feierlicher Zeremonien gezeigt. Die Kriterien, die für Thompson und Pomian gelten, wenn sie über die Eigenschaften von Museumsexponaten bzw. Sammlungsobjekten sprechen, erfüllten sie nur in Teilen, denn es war durchaus gängige Praxis, dass sich die Besitzer aus ihren Schatzkammern bedienten, um Ausgaben zu decken oder um Schulden zu begleichen. Vgl. Pomian (1997): Ursprung des Museums, S. 33-37 und Thompson (2003): Mülltheorie. 35 Vgl. Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 50-51. Ihre Vorläufer findet man in den estudes im Frankreich des 14. Jahrhunderts und in den studioli im Italien des 16. und 17. Jahrhunderts. Vgl. dazu: Krzysztof Pomian: Col163

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erst um 1550 auf und wird etwas später um den der Wunderkammer ergänzt. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet Samuel Quiccheberg, der die erste theoretische Einteilung von Kunst- und Wunderkammersammlungen vornimmt.36 Er verbindet beide Begriffe in seiner Abhandlung: ,,,Kunstkammer‘, das heißt ein Gemach mit kunstvollen Gegenständen (quod est artificiosarum rerum conclave)“ und „,Wunderkammer‘, das heißt ein Archiv der wundersamen Dinge (id est miracolusarum rerum promptuarium)“37, und forciert eine Verschmelzung beider Begriffe, die sich im Verlauf der darauf folgenden Jahrhunderte durchsetzt. Die bedeutendsten Wunderkammern waren Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges im deutschen Sprachraum zu finden.38 In diesem Zusammenhang ist vor allem die Sammlung des Erzherzogs Ferdinands II. von Tirol hervorzuheben, welche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf seinem Schloss Ambras begründet wurde und bis heute als Prototyp aller Wunderkammern gilt.39 Bereits ab ca. 1600 setzte zudem der Trend ein, Privatsammlungen durch Laboratorien und Werkstätten zu Forschungszwecken und zur Herstellung von Arzneien zu erweitern. In ihnen befanden sich beispielsweise verschiedenste ungewöhnliche Kräuter, naturalia wie Meerestiere, Echsenarten, Vögel etc.40 Diese Entwicklung zeigte zum einen Auswir-

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lectors and Curiosities. Paris and Venice, 1500-1800. Cambridge: Polity 1990. Vgl. dazu: Eva Schulz: „Notes on the History of Collecting and of Museums“. In: Susan M. Pearce (Hg.): Interpreting Objects and Collection. London: Routledge 1994, S. 175-187. Vgl. Samuel v. Quiccheberg: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat ,Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi‘. Lateinischdeutsch. Hg. und kommentiert von Harriet Roth. Berlin: Akademie 2001. [1565] Vgl. dazu: Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft des Kunstgeschichte. Berlin: Klaus Wagenbach 22002, S. 33-34. Vgl. Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 132. Hervorstechend ist auch die Sammlung Kaiser Rudolfs II. in Prag oder die Sammlung der Medici in Italien, die von Francesco I. de' Medici (1541 bis 1587) im Palazzo Vecchio in einem durch eine verborgene Tür zu betretenen studiolo, dem umfassendsten und vollkommensten der Renaissance, angelegt wurde. Vgl. Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett. Die früheste Darstellung einer Wunderkammer in der Kunst ist das Titelkupfer des Katalogs Dell’historia naturale, den der Apotheker Ferrante Imperato 1599 als Führer durch seine umfangreiche Sammlung in Neapel herausgab. [Eine Kopie des Katalogs ist über die Libreria Antiquaria Mediolanum in Mailand erhältlich. Im Bestellkatalog heißt es: „Dell’historia natu164

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kungen auf die Architektur der Wunderkammern, da für die Forschungen zusätzlicher Raum benötigt wurde, und machte den Sammlungsbesitzer gleichzeitig zum kreativen Schöpfer eigener Produkte.41 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schwand allmählich das Interesse an den Kunst- und Wunderkammern und sie verloren ihren Status eines kulturellen Zentrums.42 Auch auf wissenschaftlicher Ebene wurde ihnen wenig Beachtung geschenkt. Erst 1908, als Julius Schlosser eine Schrift zu den Kunst- und Wunderkammern herausgab, und damit eine theoretische Brücke zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert schlug, erwachte neues Interesse an ihnen, welches allerdings ebenfalls rasch verebbte. Fast achtzig Jahre dauerte es, bis den historischen Vorläufern unserer heutigen Museums- und Ausstellungskultur erneut Beachtung geschenkt wurde. Anlässlich des Jahrestags des Ashmolean Museums hielt man 1983 in Oxford eine Tagung ab, die sich dem Leben und

rale di Ferrante Imperato napolitano Libri XXVIII. Nella quale ordinatamente si tratta della diversa condition di miniere, e pietre. Con alcune historie di piante et animali; sin hora non date in luce.“] Auch die Sammlung des Apothekers Francesco Calzolari ist in einem Katalog, der 1622 unter dem Titel Museum Calceolarium erschien, zu bewundern. In ihr finden sich zahlreiche natürliche und von Menschenhand geschaffene Objekte. [Eine Ansicht des Sammlungsraums findet sich unter der Webadresse: euromin.w3sites.net/Nouveau_site/histoire/MARenai/img0025.htm oder in Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder (CW 82).] Im Kuriositätenkabinett des Dänen Ole Worm finden sich nach einem Kupferstich aus dem Jahr 1655 dagegen unzählige Dinge wie Schildkrötenpanzer, Pfeil und Bogen, Echsen, Vögel, Kraken, Kräuter, Metalle, Geweihe, abgeschlagene Beine von Paarhufern, Stiefel, Kleidung etc., die nur einen Teil seiner umfangreichen Interessengebiete widerspiegeln. Einen Blick in dessen Wunderkammer kann der Leser dank des Abdrucks einer Radierung werfen, die das Frontispiz zeigt. Sehr aufschlussreich ist dazu auch folgende Internetseite: http:// www.kunstkammer.dk/H_R/worm.shtml (Stand: September 2008). 41 Vgl. Bredekamp (2002): Antikensehnsucht, S. 52-56. 42 Eine themenspezifische und räumliche Trennung der Sammlungen setzte ein: Gemälde und antike Skulpturen dienten fortan der Repräsentation in prunkvollen Schlossgalerien, antike Münzen und Inschriften verschwanden in den Kabinetten der Antiquare und naturalia bildeten den Ausgangspunkt für eigene Sammlungen. Gleichzeitig blieb ein Großteil der bestehenden Kunstkammern erhalten. Neugründungen erfolgten nach der Jahrhundertmitte jedoch nicht mehr. Vgl. dazu: Bredekamp (2002): Antikensehnsucht, S. 41-62 sowie Klaus Minges: „Die Sammlung als Medium des Weltbildes. Bemerkungen zur Rezension von Horst Bredekamps Buch Antikensehnsucht und Maschinenglaube“. In: Kunstchronik 4, 1994, S. 229-235. 165

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Wirken Elias Ashmoles widmete.43 Im Zuge dieses Treffens wurde das Thema fortgeführt, welches Schlosser zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen hatte und erlebte eine Renaissance, die eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Ausstellungen nach sich zog. Wie beispielsweise die Schriften von Aldalgisa Lugli44, die maßgeblich zur Erforschung der kulturhistorischen und museumstheoretischen Dimensionen der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette beigetragen haben und bis heute forschungsweisend sind. Das wiedererwachte Interesse sorgte außerdem für die Restaurierung einiger bedeutender historischer Wunderkammern und Kuriositätenkabinette.45

Von der Ordnung und der Ästhetik des Hybriden Historische Wunderkammern – Orte pluridisziplinärer Sammlungen – stellten artificalia und naturalia, mirablia und scientifica, Antiken und Exotika sowie die artes mechanicae46 aus. In ihnen herrschte eine Ästhetik des Hybriden, die sich in dem Bemühen ausdrückte, das dialektische

43 Vgl. dazu Arthur MacGregor: Tradescant’s Rarities: Essays on the Foundation of the Ashmolean Museum, 1683. With a Catalogue of the Surviving Early Collections. Oxford: Clarendon Press 1983 sowie Oliver Impey und Arthur MacGregor (Hg.): The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe. Oxford: Clarendon Press 1985. 44 Vgl. dazu Adalgisa Lugli: Naturalia et mirablia. Il collezionismo enciclopedico nelle Wunderkammern d’Europa. Mailand: Mazzotta 1983. Vgl. auch dies. et al.: Tre idee di museo. Mailand: Jaca Book 2005; dies.: Arte e scienzia. Wunderkammer. Venedig: Ed. La Biennale die Venezia 1986 sowie dies.: Wunderkammer. La stanza della meraviglia. Turin: Allemandi 1996. 45 So ist zum Beispiel seit September 2004 das Grüne Gewölbe, eine der berühmtesten europäischen Kunst- und Schatzkammern, an seinem ursprünglichen Ort im Dresdner Residenzschloss der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht worden. Ebenfalls durch die Aufhebung der Trennung von West- und Ostdeutschland ermöglicht, wurde seit 1992 die 1698 in einem Waisenhaus in Halle nach dem Vorbild barocker Kuriositätenkabinette angelegte Sammlung des Theologen und Pädagogen August Hermann Francke rekonstruiert und wiedereröffnet. Auf der Webseite www.kunstkammer.at (Stand: September 2008) finden sich viele weitere Beispiele und ausführliche Erläuterungen. 46 Bredekamp (2002): Antikensehnsucht, S. 34. Bredekamp nennt als Beispiele Musikinstrumente, astronomische Geräte, Messapparate, Uhren etc. 166

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Verhältnis von Kunst und Natur darzustellen.47 An diesen Orten passionierten Sammelns repräsentierten die versammelten Objekte die Summe aller möglichen Sinnbilder und damit die Welt en miniature.48 Sie konnten als Herrschaftssymbole im religiösen wie weltlichen Kontext gelesen werden. Dabei repräsentierten sie einerseits den Reichtum49 ihrer Besitzer und befriedigten das Bildungsbedürfnis ihrer Eigentümer, während sie andererseits als facettenreicher Ausdruck des göttlichen Plans interpretiert werden konnten, aus dem die Natur zum Menschen sprach.50 Im Vergleich zu den Dingen in den Schatzkammern der Herrscher und Könige unterzog sich ihr Verweischarakter einem Transformationsprozess. Als Semiophoren zeigten sie auf das Abwesende, auf die unheimlichen, geheimnisvollen, gefährlichen, sich im Dunkeln befindlichen Ursprünge, auf das in der Zeit und im Raum entfernt Liegende.51 Die Wunderkammerobjekte widersetzten sich den üblichen Zuordnungen in die bekannten Künste und Wissenschaften, sie standen an der Schwelle zu einem Anderswo – an den Grenzen erforschter Künste und Wissenschaften – oder hatten diese Schwelle bereits überschritten. Sie galten als ein Platz, der Besonderheiten, Mysterien und Geheimnisse außerhalb der bekannten Welt í als „Wunder“ í versammelte, und dem 47 Mauriès (2002): Kuriositätenkabinette, S. 94. 48 Vgl. dazu Grote (1994): Macrocosmos in Microcosmo; Guiseppe Olmi: „Die Sammlung – Nutzbarmachung und Funktion“. In: Grote (1994): Macrocosmos in Microcosmo, S. 169-190 sowie Hauser (2001): Staunen – Lernen – Erleben, S. 37. 49 An ihrem neuen Ort stellten die Dinge oftmals Unikate dar, wodurch sich ihr materieller Wert erhöhte und sie ihrem Besitzer soziale Bedeutsamkeit bescherten. In: Thompson (2003): Mülltheorie. 50 Vgl. Mauriès (2002): Kuriositätenkabinette, S. 91. Vgl. dazu ebenfalls: Guiseppe Olmi: „Science, Honour, Metaphor. Italian Cabinets of the Sixteenth and Seventeenth Centuries“. In: Oliver Impey und Arthur MacGregor (Hg.): The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe. Oxford: Clarendon Press 1985, S. 5-16; Anthony Alan Shelton: „Cabinets of Transgression: Renaissance Collections and the Incorporation of the New World“. In: John Elsner und Roger Cardinal (Hg.): The Cultures of Collecting. Cambridge, Mass.: Harvard UP 1994, S. 177-203; Arthur MacGregor: „Die besonderen Eigenschaften der ,Kunstkammer‘“. In: Grote (1994): Macrocosmos in Microcosmo, S. 61-106 sowie Cathy Giangrande und Alistaire McAlpine: Collecting Display. London: Couran Octopus Ltd. 1998, S. 28-55. 51 Pomian (1997): Ursprung des Museums, S. 38-45. Und vgl. dazu: Ders.: „The Collection: Between the Visible and the Unvisible“. In: Susan M. Pearce (Hg.): Interpreting Objects and Collections. London, New York: Routledge 1994, S. 160-174. 167

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Sammler helfen sollte, allen Verästelungen der göttlichen Schöpfung nachgehen zu können, um ein einendes, allem übergeordnetes Prinzip zu entdecken.52 Das Streben des Sammlers nach absolutem Wissen drückte sich im oftmals enzyklopädischen Charakter der Sammlungen aus. Die Dialektik von Ratio und Magie, die geschichtliche Verbindung zur Antike, die Faszination für den Ursprung des Lebens und das Interesse an menschenähnlichen und übermenschlichen Kreaturen und ihre Abweichungen von der Norm in Größe und Form, die Dialektik von Leben und Tod sind Aspekte, die sich in den Wunderkammern finden ließen.53 Die augenfälligste Gemeinsamkeit der zuvor genannten Dinge lag in ihrem Seltenheitswert, der eine grundverwandtschaftliche Beziehung der Objekte zueinander herstellte, durch welche die Sammlung von Gegenständen a priori gerechtfertigt wurden.54 Eigentlich disparate Objekte wurden in einem Raum präsentiert, in dem sich raumstrukturierende Einrichtungsgegenstände befanden, die wiederum die Sammlung ordneten: Regale, Schränke mit Schubladen, versteckten und offenen Fächern, Setzkästen, Vitrinen, Tische, Podeste, Kabinettschränke. Die Einordnung auf und in diese Möbelstücke führte zu einer Aufsplitterung des Raumes. Dieser Umstand ging meist mit einer Enge desselben einher, die für die Wahrnehmung eines gedrängten Neben- und Beieinanders im Auge des Betrachters sorgten.55 In dieses Geflecht bereits vorhandener, zusammengetragener, neukontextualisier52 Vgl. hierzu Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 43 und Guiseppe Olmi (1985): Science, Honour, Metaphor. 53 Vgl. hierzu Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 226-227. 54 Vgl. dazu Kohl (2003): Macht der Dinge, der besonders auf die Dinge verweist, deren Herkunftsorte in der ,Neuen Welt‘ zu verorten sind. Dieser Seltenheitswert war mitunter aber auch rein zufallsbedingt – wenn es sich beispielsweise bei dem betreffenden Stück um eines der letzten noch existierenden Exemplare einer ganzen Reihe handelte. Er konnte aber ebenso (wie bei Relikten) durch die Entstehungszeit oder (bei völkerkundlichen Objekten) durch den Herkunftsort gegeben sein. „Schließlich konnte er auch [...] in einer außerordentlichen Kunstfertigkeit begründet sein. Ein solches Kriterium rechtfertigte die Aufnahme des Gegenstandes in die Sammlung, und umgekehrt auch wiederum die Existenz der Kunstkammer, die mit jedem Neuzugang abermals eine Bestätigung erhielt. [...] Dieses Streben nach dem Seltenen hatte zur Folge, dass die Objekte immer noch einzigartiger zu sein hatten. Nur das Einmalige genügte, die Eigenart wurde bis ins Überzogene gesteigert. Man begab sich eifrig auf die Suche nach Abweichungen von der Norm und Missbildungen in den beiden Ordnungen, in die die Schöpfung unterteilt wurde: naturalia und artificalia.“ In: Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 73 und vgl. ebenfalls S. 91. 55 Mauriès (2002): Kuriositätenkabinette, S. 67. 168

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ter Raritäten mussten immer wieder neue Dinge eingepasst werden. So wurde die Wunderkammer ein Ort ständiger Transpositionen, der neue Perspektiven eröffnete, indem neue Hierarchien aufgestellt wurden56, die nicht selten von den Leidenschaften des jeweiligen Sammlers beeinflusst wurden. Analogien und Symmetrien57 wurden geschaffen und hervorgehoben, Affinitäten betont. In diesen Archiven des Wissens58 unterlagen die Dinge besonderen – oft auch willkürlichen – Repräsentationsprinzipien und Ordnungssystematiken. Es galt, eine Vielzahl von Gegenständen zu ordnen. Die Geschichte der Wunderkammern ist von Beginn an also auch eine Geschichte der „Ordnung der Dinge“59, die an ihren Besitzer oder Verwalter die Anforderung stellte, die angesammelten Gegenstände zu bestimmen und sie zu klassifizieren.60 Sie durchlaufen, wie Eva Sturm es nennt, eine „Metamorphose vom Ding zum musealen Objekt“61, werden Teile eines neuen Kontexts und stehen für einen Vergleich mit den Objekten in ihrer Umgebung zur Verfügung.

Die Rezeption des Fake: zwischen Staunen und Verwunderung Eine Zusammenführung des Konzepts historischer Wunderkammern mit dem des „Museums of Jurassic Technology“ wird in Lawrence Weschlers Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder dezidiert formuliert: As the historian Michel de Certeau has written, ,An absence of meaning opens a rift in time.‘ And that experience í of the ground opening before one’s feet í was at the heart of the sensation of wonder ideally afforded by (or at any rate striven toward in) many of the cabinets of the time. That was the spirit, the taste of age. (And the fault line runs clear through, from there to the Museum of Jurassic Technology.) [Hervorhebung im Text](CW 79)

Diese Feststellung rekurriert auf einen intertextuellen Verweis, den der Erzähler zuvor selbst eröffnet hat, und in dem er sich auf Stephen Green-

56 Vgl. hierzu Lugli (1983): Naturalia et mirablia und Foucault (1999): Die Ordnung der Dinge. 57 Vgl. Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 35. Und vgl. dazu auch: Michael Hunter: Elias Ashmole 1617-1692. The Founder of the Ashmolean Museum and his World. Oxford: Ashmolean Museum 1983, S. 13. 58 Vgl. dazu Foucault (2005): Archäologie des Wissens. 59 Foucault (1999): Die Ordnung der Dinge. 60 Fliedl (1988): Musealisierung und Kompensation, S. 23. 61 Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 42-43. 169

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blatts kulturtheoretische Schrift Wunderbare Besitztümer62 bezieht. In ihr trifft Greenblatt die Aussage, dass die „Erfahrung des Staunens“63 immer von Neuem gemahne, dass „wir die Welt nur unvollständig begreifen“.64 Greenblatt beruft sich in seinen Ausführungen auf das Besitzverhalten der europäischen Entdecker und Reisenden des 16. und 17. Jahrhunderts. Für ihr Land und im Namen ihres Königs annektierten und kolonisierten sie die neu entdeckte Welt und sahen die dort vorgefundenen Naturschätze als ihr frei verfügbares Eigentum an.65 Die Begegnung mit fremden, anderen, unbekannten Dingen ließ das Verlangen entstehen, den eigenen Reichtum durch sie zu mehren und zu Forschungszwecken und aus Prestige- und Machtgründen in die Heimat zu bringen und zu zeigen.66 Neue Wunderkammern und Kuriositätenkabinette wurden eingerichtet, bereits bestehende durch neue Dinge aufgefüllt67 í das „Jahrhundert des Staunens“68 wurde begründet. Das in fernen Ländern Ge-

Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer. Vgl. dazu CW 77 und 159. Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 41. Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 41. Bis zur Entdeckung der Neuen Welt ging man davon aus, dass es nichts gebe, über das die großen Autoren und Gelehrten der Antike nicht schon berichtet hätten. Die Ankunft, die Inbesitznahmen wunderbarer Dinge/Kuriositäten stellten aber alles bisher als sicher Geltendes infrage. Das neue Wissen wie etwa das über Galileo Galileis heliozentrisches Weltbild und neue wissenschaftliche Instrumente wie zum Beispiel das Mikroskop erzeugten neue Perspektiven. Die empirische Erforschung der Natur erschuf neue, in weiten Teilen bis heute gültige, taxonomische Ordnungen. 66 Dieser Gedanke rekurriert auf Cliffords These, dass die kulturelle und individuelle Identität des abendländischen Subjekts durch seinen Besitzindividualismus, also die Selektion von Dingen, geprägt sei. 67 Vgl. Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 124-130. 68 Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 27. Greenblatt unterscheidet die „Verwunderung der Renaissance“, in der er ein „Mittel der Aneignung“ sieht, von der „mittelalterlichen Verwunderung“, die er vor allem mit dem Attribut der Besitzlosigkeit verknüpft sieht. Ein Gedanke, der sich auf seine Lektüre von Mandevilles Reisen bezieht. Vgl. dazu den Hinweis, den Greenblatt (In: Greenblatt (1994): Wunderbare Bestztümer, S. 42 und S. 117) selbst liefert: John Mandeville: The Defective Version of Mandeville’s Travels. Hg. von M. C. Seymour. Oxford (u. a.): Oxford UP 2002 sowie Joy Kenseth: The Age of the Marvelous. Hanover, NH: University of Chicago Press 1991, S. 25-59. Das Erlebnis eines Wunders im Mittelalter, in dem man den Ausdruck einer Naturerfahrung sah und das oppositionell zum christlichen Gott und zur Kirche stand, ging vor allem mit dem Gefühl eines Verzichts auf dogmatische Gewissheit einher. Dies führte zu einer Selbstentfremdung im Angesicht des Anderen, sodass die Welt vielfältig 62 63 64 65

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sehene, in der Alten Welt Versammelte und den Daheimgebliebenen präsentierte, sprengte die Vorstellungskraft und die Grenzen der bekannten Welt so nachhaltig, dass auf einmal die Möglichkeit bestand, sich alles vorzustellen. Der forschende Erzähler in Lawrence Weschlers Text schlussfolgert in diesem Kontext, dass diese Konfrontation mit einer bislang unbekannten, neuen Welt die Augen für das Wunderbare öffnete: „[S]anction[s] belief in all manner of wondrous prospects and phantasms for years thereafter.“ (CW 81) Die Begegnung zwischen Alter und Neuer Welt rief, resultierend aus der Betrachtung des Anderen und des Fremden, Verwunderung hervor, die Greenblatt als einen „Grund- oder Primäraffekt“69 bezeichnet: „Der Ausdruck von Verwunderung steht für alles, was nicht verstanden, ja was nur mit Mühe geglaubt werden kann. Er wirft das Problem der Glaubwürdigkeit auf, beharrt jedoch auf der Unbestreitbarkeit und Dringlichkeit der Erfahrung.“70 In seinem im selben Jahr veröffentlichten Essay „Resonance and Wonder“71 nennt Greenblatt bereits im Titel die beiden Wirkungsweisen von Objekten in Museen. Museumsexponate seien soziale Objekte í sie stünden in Verbindung mit Menschen, Gesellschaften und Geschichte í und entstammten einem komplexen und dynamischen kulturellen Hintergrund genau wie das betrachtende Subjekt. Sie riefen, so Greenblatt, eine Resonanz hervor, die sich auf die genannten Punkte beziehe – und im Betrachter „a sense of the cultural and historically contingent construction of art objects, the negotiations, exchanges, swerves, and exclusions by which certain representational practices come to be set apart from other representational practices that they partially resemble“72 hervorrufe. Diese Repräsentationslogik verschiebe den Fokus des Betrachters weg von einer ästhetischen Betrachtungsweise hin zu Fragestellungen, welche die Intentionen des ausstellenden Subjekts oder Kollektivs unter Bezugnahme auf deren jeweiligen kulturellen Kontext hinterfragten.73 Die an-

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und undurchsichtig erschien. Aus diesem Grund konnte das Wunder niemals isoliert stehen, sondern musste immer im Kontext mit Gott und der Kirche betrachtet werden. Vgl. dazu Jacques LeGoff: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 30-142 sowie Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 116-117 und S. 235. Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 27. Greenblatt (1994): Wunderbare Besitztümer, S. 27. Stephen Greenblatt: „Resonance and Wonder“. In: Ivan Karp und Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display. Washington D. C. (u. a.): Smithsonian IP 1991, S. 42-56. Greenblatt (1991): Resonance and Wonder, S. 45. Die Fragen lauten: „How did the object come to be displayed? What is at stake in categorizing them as ,museum quality‘? How were they originally 171

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dere mögliche Rekation auf die Rezeption eines Kunstwerks ist nach Greenblatt das Staunen: „By wonder I mean the power of the displayed object to stop the viewer in his or her tracks, to convey an arresting sense of uniqueness, to evoke an exalted attention. [Hervorhebungen im Text.]“74 Allerdings betont Greenblatt, dass beinahe jede Ausstellung Anteile beider Erfahrungen verbinde, dass aber diejenigen stärker auf ihre Betrachter wirkten, die ein Staunen in ihm auslösen: „I think that the impact of most exhibitions is likely to be enhanced if there is a strong initial appeal to wonder, a wonder than leads to the desire for resonance than from resonance to wonder.“75 Warum dies so ist, verdeutlich ein Zitat aus Albertus Magnus’ Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles: Verwunderung ist definiert als die Verengung und das Aussetzen des Herzens, verursacht durch das Erstaunen über die sinnliche Erscheinung eines so Ungeheuren, Großen und Ungewöhnlichen, daß das Herz sich zusammenzieht. In ihrer Wirkung auf das Herz gleicht die Verwunderung daher der Furcht. Diese Verengung und dieses Zusammenziehen des Herzens, welche die Verwunderung bewirkt, entsteht aus einem unerfüllten, aber spürbaren Wunsch, die Ursache dessen, was so ungeheuer und ungewöhnlich scheint, zu erkennen.76

Verwunderung und Staunen sind auch Reaktionen des Journalisten auf David Wilsons Ausstellung, die sich dann zum Gefühl der Resonanz hin bewegen, welches ihn wiederum antreibt, Hintergründe und Erkenntnisse zu den einzelnen Exponaten zu recherchieren. Als empirisch wahrnehmender Mensch privilegiert er die sinnliche Wahrnehmung und meint im Zeitalter der Globalisierung und der Omnipräsenz von Informationen used? What cultural and material conditions made possible their production? What were the feelings of those who originally held the objects, cherished them, collected them, possessed them? What is the meaning of the viewer’s relationship to those same objects when they are displayed in a specific museum on a specific day?“ In: Greenblatt (1991): Resonance and Wonder, S. 45. 74 Greenblatt (1991): Resonance and Wonder, S. 42 75 Greenblatt (1991): Resonance and Wonder, S. 54 76 Albertus Magnus aus De Bono 3.2 zitiert nach: Lorraine Daston und Katharine Parks: Wonders and the Order of Nature 1150-1750. New York: Zone Books 1998, S. 112. Interessanterweise fügt die Übersetzung von Stephen Grennblatts Essay „Resonance and Wonder“ in der Publikation Schmutzige Riten unter dem Titel „Resonanz und Staunen“ dieses Zitat von Albertus Magnus Greenblatts Ausführungen hinzu, um genau diesen Punkt, warum es einfacher ist vom Gefühl des Staunens zur Resonanz überzugehen als umgekehrt, zu untermauern. Vgl. dazu: In: Greenblatt (1991): Resonanz und Staunen, S. 29. 172

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durch modernste Medien stets zu wissen, wo es eine Antwort auf eine unbeantwortete Frage gibt oder zumindest geben könnte. Doch Wilsons Museumsfakes führen ihm im Verlauf seiner Nachforschungen vor Augen, dass dies lediglich ein trügerisches Gefühl, eine Scheinsicherheit ist.

Vom Durchkreuzen der Sehgewohnheiten in Wilsons Museum Das „Museum of Jurassic Technology“ beherbergt ,wunderbare‘, faszinierende Dinge, die ihre Betrachter herausfordern die Frage zu stellen, ob es nicht doch Wunder in der modernen Welt gibt: „Part of the assigned task,“ David once told me, „is to reintegrate people to wonder.“ But it’s a special kind of wonder, and it’s metastable. The visitor of the Museum of Jurassic Technology continually finds himself shimmering between wondering at (the marvels of nature) and wondering whether (any of this could possibly be true). And it’s that very shimmer, the capacity for such delicious confusion, Wilson sometimes seems to suggest, that may constitute the most blessedly wonderful thing about being human. [Hervorhebungen im Text.] (CW 60)

Staunen ist die Voraussetzung für das Hinterfragen der Exponate, und um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das ästhetische Dogma der Museumsexponate liegt vor allem in David Wilsons Lust an ihrer entzogenen Bedeutung. Die Betrachtung der Wilson-Sammlung ruft dasselbe „Lachen“ hervor, welches Foucault unter Bezugnahme auf Borges zu Beginn seines Hauptwerks Die Ordnung der Dinge beschreibt.77 Foucault, dem es darauf ankommt, zu verdeutlichen, dass Wissen nicht primär das Ergebnis rationaler Denkprozesse ist, sondern aus dem Zusammenspiel von Diskursen entsteht, kritisiert hierarchische Denksysteme wie Taxonomien und Klassifikationen. Ihm geht es um das Aufzeigen von Elementen, die gleichzeitig nebeneinander existieren. Deswegen setzt er das Wissen von der Natur und der Ökonomie sowie von den Gesetzen der Sprache mit dem philosophischen Diskurs ihrer jeweiligen Zeit in Verbindung und erarbeitet die Regeln, die innerhalb einer Epoche den unterschiedlichen wissenschaftlichen Praxen zugrunde liegen. In Borges’ Beschreibung einer „gewissen chinesischen Enzyklopädie“78, in der Tiere in verschiedene Gruppen eingeteilt werden, die für das abendländische Lesepublikum keine nachvollziehbare Ordnung erkennen lassen, besteht für Foucault das eigentlich Monströse des Texts darin, dass der gemeinsame 77 Foucault (1999): Die Ordnung der Dinge. 78 Borges (1966): Die analytische Sprache John Wilkins, S. 212. 173

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Raum des Zusammentreffens darin selbst zerstört wird.79 Denn in ihr wird dem Leser auf der Suche nach einer Ordnung der Boden entzogen. Jeder Deutungsversuch stößt ins Leere und wirkt wie eine Sabotage an den Wahrnehmungskonzepten eines modernen Menschen, der es gewohnt ist, taxonomische Ordnungen vorzufinden, und ruft dadurch jenes bereits erwähnte Lachen hervor: Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unserer Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, die für uns die zahlenmäßige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen lassen und unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen (du Même de l’Autre) schwanken läßt und in Unruhe versetzt. [Hervorhebungen im Text.]80

Die Zweifel des Betrachters an der Wahrheit seiner Exponate beruhen darauf, dass es sich bei ihnen um Fakes handelt. Erst, wenn die Oberflächenstrukturen der Dinge durchdrungen wird, kann mit dem Gefühl der Verwunderung und des Staunens ihr tieferer Sinn freigelegt werden. Die Recherchen des Journalisten können dementsprechend als eine mögliche Lesart des „Museum of Jurassic Technology gelesen“ werden. In seinem ,Textmuseum‘ kombiniert Lawrence Weschler die subjektive Wirkung der Exponate mit anderen fiktionalen Texten. Wie bereits erwähnt, arbeitet der Text í genau wie das Museum í mit intermedialen Belegen und Bezügen, deren wissenschaftliche Aussagekraft und Zeugencharakter infrage gestellt werden müssen. Zur Textstrategie gehört es, einige der diskutierten Exponate in Form von Fotos, technischen Zeichnungen, Strichzeichnungen und Reprints verschiedener Ölgemälde in den Text zu implementieren, um die bereits durch Sprache erzeugte Aussage zu untermauern und um sowohl auf textkonstruierender als auch textkommentierender Ebene zu wirken. Dabei wirken die Abbildungen auf zwei Ebenen. Zum einen verstärken sie scheinbar die Authentizität der im Text gelieferten Informationen, fordern jedoch parallel dazu auf, ihren Beweischarakter zu hinterfragen. Denn sie könnten auch, so entsteht der Verdacht aufseiten des Lesers, vom Autor selbst erzeugt worden sein, um so David Wilsons Absicht weiter auszubauen. Es stellt sich die Frage, ob es nicht auch vom Autor selbst gefälschte Beweise sind, die dasselbe Anliegen weiter verfolgen. Denn auch sein Anliegen ist es, das lässt sich mit Sicherheit sagen, dem modernen Menschen ein Erlebnis des Staunens und der Verwunderung zu verschaffen – eben jenen „Primäraffekt“, von

79 Vgl. Foucault (1999): Die Ordnung der Dinge, S. 18-26. 80 Foucault (1999): Die Ordnung der Dinge, S. 17. 174

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dem Stephen Greenblatt in Wunderbare Besitztümer spricht, und der ihn wieder an Wunder glauben lässt.

Intertextuelle Versatzstücke in Weschlers ,Textmuseum‘ Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht oder die Suche nach der ,Wahrheit‘ Das „Museum of Jurassic Technology“ folgt auf der formalen Ebene einer traditionellen Repräsentationslogik, die in ihrer oberflächlichen Wahrnehmung Sicherheit beim Betrachter vermittelt. Hinterfragt dieser jedoch die inhaltliche Ebene der Ausstellung und entlarvt die Exponate als Fake, entsteht in ihm eine Unsicherheit, welche der Intention des formalen Aufbaus der Exposition diametral entgegensteht. Lawrence Weschler setzt an das Ende seiner Publikation über das „Museum of Jurassic Technology“ einen intertextuellen Verweis, der genau diesen Aspekt verdeutlicht. Er wählt ein Zitat aus Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht: Zu meiner großen Überraschung brachten mich die Entführer nicht in ein geheimes Versteck, sondern zu mir nach Hause und sperrten mich in das katoptrische Zimmer, das ich so sorgfältig nach den Zeichnungen des Athanasius Kircher rekonstruiert hatte. Die Spiegelwände warfen mir mein Ebenbild unendlich vervielfacht zurück. War ich von mir selbst entführt worden? (CW 151)81 81 Calvino (1983): Wenn ein Reisender, S. 177. In diesem Zitat klingt auch ein Bezug zu den Kuriositätenkabinetten und studioli an, da der Protagonist in einem Zimmer, welches nach den Zeichnungen des Universalgelehrten, Sammlers und Wunderkammernbesitzers Athanasius Kircher errichtet wurde, eingesperrt wird. Kircher legte eine große Sammlung an, die erstmals 1678 in einem Katalog (vgl. dazu den unveränderten Nachdruck des Katalogs: Mundus subterraneus in XII libros digestus. Editio Tertia. A cura di Gian Battista Vai. Amsterdam 1678. Reprint Bologna 2004) dokumentiert wurde. Sie setzte sich aus antiken Kunstgegenständen, naturalia und vielen Objekten aus fernen Ländern wie China, Japan, Indien, Afrika und Amerika zusammen. Er verstand es auch, seine Sammlung „durch Erfindungen oder durch Nachbauten zahlreicher Wunderwerke, etwa d[em] Orakel von Delphi, eine[r] Sonnenblumenuhr sowie eine[r] Reihe optischer Instrumente und Spielereien [...]“ zu erweitern. Diese Informationen erlauben sofortige Rückbezüge zu David Wilson und dem „Museum of Jurassic Technology“. Auch er hat sich der Konstruktion katoptrischer Apparate gewidmet (vgl. CW 50), und genau wie Kircher erweitert er seine Samm175

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Im Zentrum dieses Textauszugs steht das Subjekt, seine Seherfahrungen und Selbstwahrnehmung. In einem katoptrischen Raum innerhalb seines eigenen Hauses wird sein Spiegelbild durch die ausgeklügelte Hängung der Spiegel unendlichfach reflektiert. Das Subjekt kann zwischen sich selbst und seinem Spiegelbild bzw. zwischen Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr unterscheiden: „Hatte sich eins meiner in die Welt projizierten Bilder an meine Stelle gesetzt und mich in den Rang eines Spiegelbilds verwiesen?“82, formuliert der Protagonist seine Wahrnehmung. Mit dieser Frage stellt er die elementare Sicherheit des Menschen infrage, die wie Umberto Eco formuliert, darin bestehe, dass der Mensch im Gegensatz zu den Tieren das Vermögen besitze, sich sowohl in der perzeptiven Realität wie in der reflexiven Virtualität zu betrachten.83 Die Überlegung, die das Ich in dieser Szene anstellt, kann als die Umkehrung des „Spiegelstadiums“84, wie Lacan es beschreibt, gelesen werden. Statt durch den Blick in den Spiegel zu begreifen, dass es sich selbst vor Augen hat, werden die Positionen verkehrt, sodass das betrachtende Subjekt zum betrachteten Subjekt wird. Ein Entkommen aus der prekären Lage scheint es nicht zu geben, vielmehr wird der Zweifel an der wahrgenommenen Wirklichkeit durch die mise en abyme noch unterstützt. Die Schwierigkeit, zwischen Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge, Fake und Original zu unterscheiden, ist also auch in Calvinos Roman ein zentrales Thema. Im Zentrum der Geschichte steht die rastlose Jagd des Protagonisten nach dem einen Buchexemplar, in dem die Geschichte „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ zu Ende geführt wird. Doch lung durch die Erfindung neuer, eigener Ausstellungsobjekte. Interessant ist, dass im Internet über www.mjt.org (Stand: September 2008) ein eigener Link auf eine zum „Museum of Jurassic Technology“ gehörende Seite führt, die ganz Athanasius Kircher gewidmet ist. Da das „Museum of Jurassic Technology“ eng mit dem Karl Ernst Osthaus Museum zusammenarbeitet, ist diese Seite auch ins Deutsche übersetzt. Vgl. dazu: Mauriès (2002): Kuriositätenkabinett, S. 162-163; Horst Beinlich (Hg.): Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602í1680. Universalgelehrter, Sammler, Visionär. [Katalog zur Ausstellung im Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg vom 1. Oktober bis 14. Dezember 2002 und im Vonderau-Museum Fulda, vom 24. Januar bis 16. März 2003.] Dettelbach: Röll 2003. 82 Calvino (1983): Wenn ein Reisender, S. 177. 83 Umberto Eco: „Über Spiegel“. In: Ders.: Über Spiegel. München, Wien: Hanser 1988, S. 26-61. [Das Original erschien 1985 unter dem Titel Sugli specchi e altri saggi beim Bompiani Verlag in Mailand.] 84 Jacques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“. In: Ders.: Schriften I. Weinheim, Berlin: Quadriga 1986, S. 61-70. 176

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statt in den Besitz der ,richtigen‘ Fortsetzung des ersten Textstücks zu gelangen, werden ihm immer neue Romanfragmente zugespielt, die eine neue, andere Geschichte erzählen, und sich inhaltlich nicht auf die anfängliche beziehen. Aus diesem Grund gelingt es ihm nicht, seinen zu Beginn der Handlung gekauften Roman zu Ende zu lesen, um damit seinen Wunsch nach einer vollständig in sich abgeschlossenen Geschichte zu befriedigen. Die Recherchen, die er unternimmt, um „[z]um Ursprung der ganzen Verwirrung zurückzugehen“85, rufen eine Verstörung des forschenden Subjekts hervor. Genau so, wie in Lawrence Weschlers Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder das Vertrauen in die Institution Museum untergraben wird, wird es in Calvinos Roman im Hinblick auf die ,Institution‘ Buch – das geschriebene Wort – untergraben, sodass dem Protagonisten in Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht paradoxerweise die Gefahr droht, „jenes privilegierte Verhältnis zum Buch“ zu verlieren, „das nur der Leser [als welcher er sich selbst sieht, Anm. M. W.] besitzt: die Fähigkeit, was da im Buche geschrieben steht, als etwas Fertiges zu betrachten, etwas Definitives, bei dem nichts mehr anzufügen oder zu streichen ist.“86 Das Offenlegen der mit Genette gesprochenen textuellen Transzendenz ermöglicht dem Leser, einen Blick in eine Welt zu werfen, in welcher der Phantasie und den Interpretationsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt sind. Die verschiedenen aussagekräftigen Textspuren repräsentieren, genau wie die gefakten Exponate in Wilsons Museum, einen Zugang zu einer eigenen ,Welt‘, die im Auge des Betrachters respektive Lesers selbst liegt. Weschler fordert den Leser durch die Ausstellung des Calvino-Zitats zu einem Wiederlesen seines eigenen Texts auf. Wobei eine intensive Relektüre dem entgegenwirken kann, wovor der Erzähler in Calvinos Roman warnt: „Die Empfänglichkeit des Lesers für die Gesamtheit der Eindrücke, die der Roman ihm vermitteln möchte, ist in mehrfacher Hinsicht beschränkt, […] weil sein oft hastiges und zerstreutes Lesen eine gewisse Anzahl von effektiv im Text enthaltenen Zeichen, Signalen und Intentionen übersieht.“87 Folgt man Weschlers Einladung, dann erlaubt das erneute, aufmerksame Abschreiten der ausgestellten Textexponate einen Zutritt in das sowohl intellektuelle als auch intertextuelle Museum durch eine ,literarische Hintertür‘. Eine konzentrierte Lektüre ermöglicht der Leserin respektive dem Leser demzufolge auch das wahrzunehmen, was

85 Calvino (1983): Wenn ein Reisender, S. 98. 86 Calvino (1983): Wenn ein Reisender, S. 123. 87 Calvino (1983): Wenn ein Reisender, S. 215. 177

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außerhalb des geschriebenen Satzes bleibt, denn schließlich sind die Dinge, die der Roman nicht sagt, zwangsläufig zahlreicher als die, die er sagt, und nur dank einer besonderen Aura um das, was geschrieben steht, kommt es zur Illusion, daß man auch zu lesen vermeint, was nicht dasteht.88 (RW 215)

In diesem Zitat drückt sich das postmoderne Credo aus, dass es eine einzige richtige Fortsetzung einer Geschichte, eine einzige richtige Interpretation eines Exponats gar nicht gibt bzw. geben kann. Außerhalb der modernen, rationalen, erklärbaren Welt gibt es immer noch eine andere ,wunderbare‘ und undurchdringliche, der Ratio nicht zugänglichen Welt, in der man sich über nichts sicher sein kann, außer dass man sich über nichts sicher sein kann.

Jorge Luis Borges’ Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ oder die Suche nach dem Erstaunen In einem Brief des stellvertretenden Direktors des „Hokes89-Archivs“, welches nach dessen eigener Aussage in der Geschichte „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ 90 von Jorge Luis Borges sein literarisches Vorbild habe, wird dezidiert betont, dass die künstlerische Arbeit David Wilsons vor allem von der Reibung zwischen dem, was imaginär und dem, was real sei lebe: „This is a source of the museums aesthetic tension as well as its subversive implications.“ (CW 75) Folgt man in Bezug auf diesen Punkt dem intertextuellen Verweis auf Borges’ Erzählung, ergeben sich für die Lektüre von Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder einige interessante Querverbindungen. In „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ wird erzählt, wie zwei Freunde – der eine trägt den Namen Borges, der andere heißt Bioy Casares – in dem um vier Seiten ergänzten Band XLVI, Tor bis Ups, einer bestimmten Auflage der Anglo-American Cyclopedia – einem Nachdruck der Encyclopedia Britannica – unter dem Titel „Uqbar“, einen Eintrag über ein Land mit unbekannten geografischen Koordinaten, entdecken. Erstaunt und verwundert versuchen sie, das Gelesene durch weitere Einträge über „Uq88 Calvino (1983): Wenn ein Reisender, S. 215. 89 Auf die Assonanz mit Wort „to hoax“, welches die Bedeutung „jemanden zum Besten haben od. halten“ hat, sei an dieser Stelle hingewiesen. Es ist ein weiteres Argument für die von Marcia Tucker zitierte Behauptung, dass David Wilson niemals die Ebene der Ironie verlässt. 90 Borges (2003): Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Obwohl in Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder der Text von Borges in seiner englischen Übersetzung zitiert wird, wird hier auf die deutsche Übersetzung zurückgegriffen. 178

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bar“ in anderen Ausgaben dieser Enzyklopädie respektive anderen Lexika oder Atlanten zu verifizieren, doch ihre Suche erweist sich als erfolglos. Das Staunen über Uqbar wird í genau wie in Lawrence Weschlers Schilderungen und in David Wilsons Museum í zum tragenden Moment des Geschehens und motiviert zu weiteren Nachforschungen, die schließlich ergeben, dass der Lexikonartikel als Hinweis auf Orbis Tertius, einem Zusammenschluss von Intellektuellen, die sich eine Welt namens Tlön ausgedacht haben, anzusehen ist. Die Ergebnisse der folgenden Recherchen über das Konstrukt Tlön sind so komplex und fußen an so vielen Stellen auf tatsächlichen wissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen, technischen, physikalischen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, dass das Erstaunen des Rezipienten um so größer wird, je tiefer er in das erstaunliche Universum der Fiktion Borges’ vordringt. Die Wirkung, die die Geschichte beim Leser erzielen soll, wird in der Geschichte selbst formuliert: „Die Metaphysiker in Tlön suchen nicht die Wahrheit, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: sie suchen das Erstaunen.“91 Es ist typisch für Borges’ phantastischen Realismus, dass sich auch in dieser Erzählung die Ebenen der Realität und der Fiktion gegenseitig durchdringen und schließlich nicht mehr voneinander zu differenzieren sind. So kann sich der Leser beispielsweise nicht sicher sein, ob es die ,Erfindung Tlön‘ nicht auch tatsächlich außerhalb der Geschichte Borges’ gibt. Denn ein wesentlicher Teil in der Konstruktion von Realität wird in der Geschichte durch die literarischen Beglaubigungsstrategien fiktiver Quellenangaben erzeugt, die der Geschichte einen wissenschaftlichen Anstrich verleihen, sowie durch die Borges-Figur, welche mal als Erzähler und mal als Autor zu interpretieren ist. Aus diesem Grund besteht auch die Interpretationsmöglichkeit, dass Borges sich selbst meint, wenn er von all den Gelehrten spricht, die an der Schöpfung der Welt Tlön mitgewirkt haben. Denn mit seiner Erschaffung eines literarischen Texts stellt sich der Autor Borges ebenfalls in die Reihe von Gelehrten und Wissenschaftlern und schreibt an seiner eigenen Erfindung mit: Man vermutet, daß diese brave new world das Werk einer Geheimgesellschaft von Astronomen, Biologen, Ingenieuren, Metaphysikern, Dichtern, Chemikern, Algebrakundigen, Moralisten, Malern und Geometern gewesen ist – unter der Leitung eines im Dunkeln gebliebenen Genies.92

Die Produktion von Erstaunen durch künstlerische Arbeiten in Form von literarischen Texten oder Museumsexponaten und Ausstellungslogiken ist eine Verbindung, die ausgehend von Borges’ Erzählung zwischen 91 Borges (2003): Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 116. 92 Borges (2003): Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 27. 179

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dem Künstler David Wilson und dem Autor Lawrence Weschler gezogen werden kann. Weitere Assoziationen zum „Museum of Jurassic Technology“ entstehen, wenn die Raum- und Zeitvorstellung und daraus resultierende Hypothesen von Wissenschaft, die als Kommentare auf die heutige Gesellschaft und ihre kulturellen Wahrnehmungs- und Ordnungsmuster zu verstehen sind, in Tlön ausführlich beschrieben werden: Dieser totale Monismus oder Idealismus setzt die Wissenschaft außer Kraft. Eine Tatsache erklären (oder beurteilen) heißt ja, sie mit anderen verbinden; diese Verknüpfung gilt in Tlön als ein späterer Zustand des Subjekts, der den vorhergehenden Zustand weder affizieren noch erklären kann. Jeder geistige Zustand ist nicht reduzierbar; die bloße Tatsache, ihn zu benennen – id est zu klassifizieren – bedingt eine Verfälschung. Hieraus sollte man den Schluß ziehen, daß es in Tlön keine Wissenschaft – ja nicht einmal Überlegungen gebe.93

Dies verweist auf die Feststellung, dass das, was die Metaphysiker Tlöns suchen, nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern das Erstaunen sei. Sowohl in „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ als auch in Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder wird der Umgang mit Wissenschaft und die scheinbare Vollständigkeit menschlichen Wissens angegriffen í in dem einen Fall in Form einer Encyclopedia Britannica, im anderen durch Museumsexponate í, genauso wie die Sicherheit des Menschen zwischen wahr und falsch, zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können. Das Verlangen nach Wissen und Sicherheit, welches ihren Ausdruck in den Recherchearbeiten der Protagonisten findet, der rhetorische Tropus der Parodie als bestimmendes Stilmittel beider Texte sowie die Rolle des Künstlers und des Autors, das Involvieren des Lesers und die darin implizierte Aufforderung zum Lesen in den Leerstellen tragen zur Verfestigung dieses Brückenschlags bei. Lawrence Weschler stellt eine Möglichkeit des Dialogs zwischen einem Museumsbesucher und den Exponaten vor und führt die Idee von David Wilson í durch die Art wie er seinen ,Bericht‘ abfasst í auf literarischer Ebene weiter. Er überschreitet die Grenzen einer konventionellen faktualen Erzählung, indem er sie um intertextuelle Anspielungen ergänzt – und durch die Variation der Erzähltechnik, welche die Zugehörigkeit des Texts zum nichtfiktionalen Genre unterwandert, um einen tiefer gehenden Blick auf die geschilderten Sachverhalte zu geben. Das Museum und der Text werden zugleich ein Raum für Utopien, deren Parameter David Wilson durch seine selbst erzeugten Ausstellungsobjekte mitbestimmt. Und die Erkenntnis, die der Besucher, respektive Leser aus den Erfahrungen mit den Museumsstücken zieht, 93 Borges (2003): Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 29. 180

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vermittelt ihm letztendlich kein mit seiner Ratio nachvollziehbares Wissen, sondern zeigt ihm die Option auf, dass es neben dem als Realität wahrgenommenen noch etwas Phantastisches, Anderes, Fremdes, Unentdecktes gibt, welches dem Forschenden auf der Suche nach dem Erstaunen begegnet.

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BRIAN MOORES THE GREAT VICTORIAN COLLECTION î VON DER PRIVATSAMMLUNG ZUM ,VIKTORIANISCHEN DISNEYLAND‘ „Was it a vision, or a waking dream? Fled is that music: í Do I wake or sleep?“1 „Der Fetisch des Kunstmarktes ist der Meistername.“2

„I dreamed them up and now they are here“ î die Schöpfung der Great Victorian Collection Die Situation, in der sich Brian Moores Protagonist Anthony Maloney in The Great Victorian Collection3 befindet, wird zu Beginn des Romans rasch skizziert: Der 29-jährige Assistenzprofessor für Geschichte an der McGill Universität in Montreal (VC 7) macht auf seiner Heimreise von einer Konferenz an der Berkeley Universität in San Francisco einen Zwischenstopp in Carmel-by-the-Sea4 an der California State Route 1, dem nördlichsten Punkt des Big Sur-Küstenstreifens im Westen Kaliforniens, 1

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John Keats: „Ode to a Nightingale“. In: Ders.: Auf eine griechische Urne. Gedichte. Englisch und deutsch. Übertragen von Heinz Piontek. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1999, S. 88, 90 und 92: 92. In: Benjamin (2005): Eduard Fuchs, S. 105. Brian Moore: The Great Victorian Collection. London: Flamingo 91994. [1975] Im laufenden Text wird diese Angabe mit der Sigle VC zitiert. Auch in Brian Moores 1983 erschienener Novelle Cold Heaven wird der kalifornische Küstenort zum Schauplatz eines Geschehens, an dem sich ein ,Wunder‘ ereignet: Der für tot erklärte Ehemann der Protagonistin Mary Davenport wird von ihr in einem Motel in Carmel-by-the-Sea aufgespürt. Vgl. dazu: Brian Moore: Cold Heaven. A Novel. New York: Plume 1997. [1983] Vgl. dazu auch Eamonn Wall: „Even Better than the Real Thing. Brian Moore’s Great Victorian Collection“. In: Colby Quarterly 4, 34, 1998, S. 303-314: 306. 183

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um dort die touristischen Attraktionen zu besichtigen. Seine erste Nacht verbringt er im Sea Winds Motel, in dem er einen lebhaften Traum hat, der ihn zum Schöpfer und Besitzer einer einzigartigen Sammlung wertvoller Viktoriana macht. Als er am nächsten Morgen aufwacht, stellt er fest, dass sein Traum wahr geworden ist, und sich auf dem Parkplatz hinter dem Motel tatsächlich die geträumte Sammlung kostbarer viktorianischer Preziosen befindet: It was morning. I was in the motel room I had dreamed about, that same room in which I had gone to sleep. […] There, below me, just as in the dream, was the large open-air market and the maze of stalls occupying the entire area of the parking lot which had been empty last evening. I opened the window, climbed down onto the main aisle, and began to walk along that aisle, exactly as I had done in my dream, coming to the selfsame crystal fountain which I recognized as the work of F. & C. Osler, a marvel casting, cutting, and polishing faultless blocks of glass, erected originally in the transept as the centerpiece of the Great Exhibition of 1851. I walked on. Everything in the stalls, booths, and showrooms was vivid and real. But I knew, of course, that I must be dreaming. There was no possible way that this lot, empty last evening, could have been filled with so many large and varied exhibits in a single night. I remember that as I continued to walk I became aware that everything I laid eyes on was, in some sense, familiar. (VC 10-11)

Bereits zu diesem Zeitpunkt des Geschehens wird der Aspekt der Zeugenschaft als handlungskonstituierendes Element deutlich: Während sich Maloney kurz nach der Entdeckung der Sammlung noch fragt, ob er immer noch träumt, oder ob sich die Objekte tatsächlich auf dem Parkplatz hinter dem Motel materialisiert haben, bestätigen Passanten bereits ihre Existenz und damit ihre Realität: „If those are real people and they see what I see, then I am not dreaming. I have made this Collection come to life. No one has ever done anything remotely like it before.“ (VC 14) Diese Szene arbeitet mit einer doppelten Möglichkeitsstruktur5 í ein Verfahren, welches der Roman im Verlauf der Handlung immer wieder einsetzt, um die Unsicherheit des Protagonisten zu betonen. Gleichzeitig entzieht die Schwierigkeit, beurteilen zu können, ob die Passanten nicht ebenfalls Teil eines Traums innerhalb eines solchen sind, der Leserin und dem Leser die Gewissheit darüber, zwischen ,wahr‘ und ,falsch‘ unterscheiden zu können. Die Sammlung ist das Produkt eines künstlerischen Akts í „[H]e was not dreaming: he had really created these things and had made them visible for others to see and admire. It had never been done before. It was

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Im Sinne von David Humes Erkenntnisbegriff. 184

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unique.“ (VC 19) í, welche der Phantasie und Imagination Maloneys buchstäblich entsprungen ist: aus dem Traum auf den Parkplatz. Maloney ist Urheber eines „fantastically hoard of Victorian treasures“ (VC 23), eines „huge catalogue“ (VC 12) an Viktoriana, die er zuvor in seinem Gedächtnis gesammelt hat, und welche sich, ohne dass er es bewusst forciert hat, in toto materialisiert haben. Durch rein geistige Schöpferkraft hat er die Sammlung entstehen lassen, und sie nicht handwerklich produziert wie beispielsweise David Wilson, der Besitzer und Inhaber des „Museum of Jurassic Technology“. Beide Schöpfungsakte teilen jedoch die Aspekte des Künstlerischen, ihre Abhängigkeit vom kreativen Potenzial ihrer Urheber sowie die Verantwortung des Künstlers gegenüber seinem Werk. Die Entstehung der Great Victorian Collection durch die Imaginationskraft Anthony Maloneys betont allerdings die Parallele zu einem geistigen Schaffensprozess wie zum Beispiel dem Schreiben eines Romans noch stärker. Schon in dem Moment, in dem Maloney erste Objekte der Great Victorian Collection í „the greatest in the World“ (VC 18) í betrachtet, hat er ein Gefühl von Vertrautheit: „I became aware that everything I laid eyes on was, in some sense, familiar.“ (VC 10-11) Er verspürt einen Schauder des Wiedererkennens, der ihm den Gedanken nahelegt, dass es sich bei dieser Sammlung um genau jene handelt, von der er „in his graduate student days, after his return from England“ (VC 21) geträumt hatte. Durch die Materialisierung seines Traums verspricht Maloney sich beruflichen Erfolg, finanziellen Wohlstand und privates Glück; er schaltet die Medien ein, engagiert Sicherheitspersonal und sucht nach potenziellen Geldgebern, die ihm den Unterhalt und die fortdauernde Präsentation der Sammlung ermöglichen könnten. Er akzeptiert sich selbst als Besitzer und übernimmt die Verantwortung für die Sammlung und damit alle Aufgaben und Pflichten, die Besitz an einen Besitzenden stellt: „Now, staring at this strange reality of an old dream come true, he realized that it was, indeed, his reponsibility. He could not abandon these objects. He must stay here and watch over them.“ (VC 21) Diese bewusste Entscheidung legt den Grundstein für alle weiteren Entwicklungen, die die Hauptfigur nach und nach immer weniger und schließlich gar nicht mehr beeinflussen kann. Nicht nur in persönlicher, sondern auch in juristischer und finanzieller Hinsicht wird er zur Verantwortung gezogen und muss sich gegenüber staatlicher6, privater sowie wissenschaftlicher Seite gegen den Vorwurf des Betrugs respektive der Fälschung verteidigen. 6

Die Sammlung erregt auch das Interesse des Staates. Zum einen glaubt die örtliche Polizei Maloney nicht, dass er die Sammlung mittels eines Traums erzeugt hat: „[T]he police proposed to look inside his record and the circumstances of his arrival in the United States, and that further proceedings 185

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Der Roman ist im Stil einer Enthüllungsstory geschrieben. Sein dokumentarischer Stil schafft einerseits eine Distanz zum Geschehen, dessen Bezugspunkte realistisch7 sind, und gleichzeitig eine Atmosphäre des Vertrauens. Moore entwirft mit Maloney den mittelmäßigen, durchschnittlichen Prototypen eines jungen Wissenschaftlers, der am Anfang seiner Karriere steht, dessen Privatleben keine außergewöhnlichen Momente aufweist und dessen Leben auch nach dem Erscheinen der Sammlung seinen mediokren Charakter behält. Das dramatische Moment ist beschränkt auf das Ereignis der Sammlungsentstehung, welches den Einbruch eines verstörenden Ereignisses in die banale, alltägliche Welt des Protagonisten darstellt.8 Dass es sich bei Moores Roman um Literatur des Phantastischen oder Übernatürlichen9 handelt, wird an der Sammlung nicht am Protagonisten bemerkbar. Sie ist von überwältigender Größe í nach Schätzung des Motelbesitzers Bourget findet die Menge an Objekten in fünfzig Lkws Platz í und entsteht in einem Zeitraum der außerhalb menschlicher Ermessenskraft liegt. Anthony Maloney, dessen Doktorarbeit den Titel „A Study of the Effects of Gaining a Colonial Empire on the Mores of Victorian England as Exemplified by the Art and Architecture of the Period“ trägt, gilt zwar nicht als international anerkannter Experte für Viktoriana, kann aber ein gewisses Maß an „familiarity with the subject“ (VC 9) nachweisen. Beim

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could be taken in the matter.“ (VC 31) Andererseits macht der verantwortliche Leutnant Polita vom Revier des County Sheriffs darauf aufmerksam, dass in enger Zusammenarbeit mit dem FBI „the bona fides of the collection“ (VC 49) überprüft würden. Auch der Besitzer des Motels, Mr. Bourget, stellt sich anfangs gegen Maloney, und fordert ihn unmissverständlich auf, dass er den Parkplatz unverzüglich zu räumen habe. (Vgl. VC 31-32) Moores Roman ist in Bezug auf diesen Aspekt in der literarischen Tradition von zum Beispiel Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) oder Aldous Huxleys Brave New World (1932) zu sehen. Vgl. dazu: Robert Sullivan: A Matter of Faith. The Fiction of Brian Moore. Westport, Conn., London: Greenwood Press 1996, S. 118. Eamonn Wall sieht einen Einfluss von Jorge Borges’ literarischem Schaffen auf Brian Moore: „Borges’ fictions often resemble books of legal evidence in which the individual’s whole life, or some part of it, is examined dispassionately“, und er macht darauf aufmerksam, dass Moore in drei Romanen í in Catholics, in The Great Victorian Collection und in Cold Heaven í „a new, more speculative, dispassionate, and more imaginative kind of fiction“ entwickelt hat. In: Wall (1998): Even Better than the Real Thing, S. 304-306. Vgl. dazu: Moore (1997): Cold Heaven und ders.: Catholics. London: Flamingo 1996. [1972] 186

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ersten Anblick der Sammlung realisiert er, welche Schätze sich auf dem Parkplatz befinden: Laid out on the stalls and in partially enclosed exhibits resembling furniture showrooms was the most astonishing collection of Victorian artifacts, objets d’art, furniture household appliances, paintings, jewelery, scientific instruments, toys, tapestries, sculpture, handicrafts, wollen and linen samples, industrial machinery, ceramics, silverware, books, furs, men’s and women’s clothing, musical instruments, a huge telescope mounted on a pedestal, a railway locomotive, marine equipment, small arms, looms, bric-a-brac, and curiosa. [Hervorhebungen im Original.] (VC 10)

Es sind Dinge, die er beispielsweise aus dem Victoria and Albert Museum in London kennt, aber auch solche, deren Beschreibungen er zuvor ausschließlich in Büchern, wie zum Beispiel in einem über „rare Victorian toys“ (VC 11), gelesen hat: „Some of these things don’t exist in other places. They are descriptions I read in books.“ (VC 42) Maloney erwähnt in seiner Beschreibung der Sammlung die berühmte Folkstone-Lokomotive, die von T. R. Crampton für die South Eastern Railway Company entworfen wurde, schildert, dass sich der Salon eines berühmten viktorianischen Bordells, an dem der billige Geruch von „long-ago cigars“ und „patchouli“ (VC 118) immer noch haftet, und die Einrichtung einer viktorianischen Musikhalle, dem „Penny Gaff“, unter den Sammlungsstücken befinden sowie das „Correction Chamber, designed by Charles Carrington, master of that Paris publishing house which dominated the field of English erotica at the turn of the century“. (VC 118)10 In der Beschreibung der Sammlung, die eine erstaunliche, nicht nur visuell, sondern auch haptisch und olfaktorisch wahrnehmbare Authentizität aufweist, werden die Merkmale der Technisierung, der industriellen Revolution sichtbar. Die Lokomotive steht beispielsweise für den Transport massenhafter Güter und für die Mobilität des Individuums í eine 10 Vgl. dazu Asa Briggs: Victorian Things. London: Batsford 1988; besonders aber die ersten beiden Kapitel „Things as Emissaries“ und „,The Great Victorian Collection‘“. Briggs bescheinigt Brian Moore, dass er eine „most evocative“ (S. 13) Liste an Viktoriana zusammengetragen hat. An dieser Stelle sei auf zwei weitere Publikationen von Asa Briggs hingewiesen, die einen umfassenden Eindruck in das Leben während des viktorianischen Zeitalters liefern. Vgl. dazu ders.: Victorian Cities. London: Odhams Press 1963 sowie ders.: Victorian People. Some Reassessments of People, Institutions, Ideas and Events 1851-1867. London: Odhams Press 1954. Zu den Erotika vgl. auch: Steven Marcus: The Other Victorians. A Study of Sexuality and Pornography in Mid-Nineteenth-Century England. New York: New American Library 1977. 187

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Haupterrungenschaft der modernen Industriegesellschaft. Die Erwähnung des Bordells, der Musikhalle und des Züchtigungsraumes dokumentieren eine gesellschaftliche Entwicklung, in der künstlich geschaffene Räume für eine privilegierte Schicht Möglichkeiten zur Befriedigung privater Interessen bieten. Die Schöpfung einer viktorianischen Sammlung, deren historische Referenz die erste Weltausstellung von 1851 in London ist, auf einem Parkplatz hinter einem Motel im Kalifornien des 20. Jahrhunderts, also dem Staat, der zum Synonym für die amerikanische Unterhaltungsindustrie geworden ist, führt zu einer Vielzahl von kulturkritischen Fragestellungen, die die Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten und bildungsorientierten Ausstellungs- und Museumskultur hin zu einer Eventkultur miteinschließen. Ausstellungskonzepte und die Repräsentationslogiken werden durch kommerzorientierte Interessen verändert: Bildung tritt hinter Vergnügen, Authentizität hinter Kopie oder Fälschung. Die Dinge, so zeigt der erzählte Schöpfungsakt der Sammlung zudem auf, stehen in einem engen, interdependenten Verhältnis zum Menschen. Ein signifikantes Phänomen, welches etwa Asa Briggs in seinem Buch Victorian Things in zugespitzer Form formuliert: „Sometimes, […], the things possessed them [die wohlhabende viktorianische Bevölkerung, Anm. M. W.] rather than they the things.“11 Briggs spielt hier auf die seit spätestens der Renaissance bestehende Tatsache an, dass sich das Individuum aus dem, was es besitzt, also intentional um sich herum versammelt hat, definiert12 und sagt überzeichnet, dass dieses identitätsbildende Besitzen so übersteigert werden kann, dass es schließlich so scheint, als ob die Objekte ihre Besitzer besäßen. Die Folgen, die diese Umwertung mit sich bringt, sind auf der narrativen Ebene des Romans an der Figur des Sammlungsschöpfers Anthony Maloney nachvollziehbar, der dem Druck der Massenmedien und der Marketingexperten nicht standhalten kann. Die Interdependenz zwischen den Sammlungsobjekten und dem besitzenden und beschützenden Subjekt wird durch die Angst Maloneys, dass seine Schöpfung genau so schnell wieder verschwinden könnte wie sie entstanden ist, unterstrichen: „,I mean, if I fall asleep tonight, maybe the Collection will go out of my mind and vanish.‘“ (VC 38) Aus diesem Grund muss er die Sammlung unmittelbar nach ihrem Erscheinen hinsichtlich seines Einflusses auf sie prüfen: „[C]ould he now will them to disappear? […] Or could he will them to appear somewhere else?“ (V 18) Während er eine hölzerne Kinderfeuerspritze allein durch seine

11 Briggs (1988): Victorian Things, S. 12. 12 Vgl. dazu Clifford (1988): On Collecting Art and Culture. 188

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Willenskraft vom Parkplatz in sein Motelzimmer versetzen will und ihm dies nicht gelingt, spürt er, dass dieser geistige Akt einen Einfluss auf das Objekt genommen hat. Als er auf den Parkplatz eilt, um das Spielzeug zu begutachten, liest er unter der Vorderachse die aufgedruckten Wörter: „Made in Japan“. (VC 19) Der daraufhin unternommene Versuch Maloneys, die Feuerspritze mit dem ,enttarnenden‘ Aufdruck an sich zu nehmen, scheitert ebenfalls í das Objekt verschwindet aus seinem Versteck unter Maloneys Jacke und ist wieder an seinem ursprünglichen Platz innerhalb der Sammlung zu finden. Die Dinge, konstatiert Maloney, können demnach nur an einem Ort, auf eben diesem Parkplatz hinter dem Sea Winds Motel, existieren. Will man sie verschieben, verstecken oder näher begutachten, erscheint der Stempelaufdruck und entlarvt sie als Fakes. Es ist ein erster Hinweis auf eine Art struktureller Integrität der Sammlung, die sich äußeren Einflüssen entzieht.13 Die Angst, dass die Sammlung, würde sie räumlich versetzt werden, als eine massenhafte Reproduktion enttarnt und damit ihrer Faszination í der verblüffenden Aura ihrer Originalität und Authentizität í beraubt werden, bestimmt fortan die Handlungen des Protagonisten, der sein Wissen über dieses Phänomen mit niemandem teilt.

Die Sammlung î „a second set of originals“ In Moores Roman The Great Victorian Collection wird der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Walter Benjamin aufgerufene Topos des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit im Hinblick auf die Ununterscheidbarkeit zwischen Original und Kopie bzw. Fälschung weitergeführt und im Zusammenhang mit Maloneys Objektschöpfungen verhandelt. Maloney spricht von seiner Sammlung als einer Doppelung von Originalen í einem „second set of originals.“ (VC 42) Basierend auf seiner Annahme, dass die überwiegende Zahl der Dinge zweimal existiert14, bedeutet die Sammlung für Maloney ein „extraordi-

13 Vgl. Sullivan (1996): A Matter of Faith, S. 111. Darin, dass sie in ihrer Materialität nicht verändert werden können, zeigt sich ein erster Hinweis auf das Frankensteinmotiv, in dem die Macht der Schöpfung über ihren Schöpfer diskutiert wird. 14 In England, in der Literatur über viktorianische Dinge oder in der Erinnerung von Menschen, die diese Zeit noch miterlebt haben sowie auf dem Parkplatz in Amerika. 189

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nary thing, a telepathic theft“ (VC 25).15 Dezidiert formuliert er seine Haltung gegenüber der Sammlung: „Whether they’re copies or not isn’t the point. The point is, I dreamed them up and now they are here.“ (VC 25) Ein göttliches Wunder schließt er aus: „Maloney did not believe in God. […] Nor did he believe in evil spirits, extrasensory perception, or creatures from another planet. […] Nor could he believe it was a hoax: the collection was too astonishing, too valuable to be anyone’s prank.“ (VC 52)16 Das Phänomen ihrer Doppelheit wird dadurch bestätigt, dass sich viele Objekte der Carmel-Sammlung noch immer parallel an ihren ursprünglichen Plätzen befinden: No, I do not think they are fakes. I believe they are neither original nor fake. Let me give you an example. Tonight, examining these familiar and well-loved British artifacts twelve thousand miles from their true home, I must confess I felt moved to indignation. To see these wonderful treasures laid out in fleamarket fashion in an American car park! One’s blood boils. And then I came on an object particularly dear to me, because I was its original discoverer. I refer to the Nouds Hop Pickers Tea Urn, which I turned up many years ago, on Colonel Addison’s estate near Sittingbourne in Kent. Gentlemen, I dug the original urn out of the earth. I know its lineaments as I know those of my own face. Yet this tea urn here in Carmel not only resembles the orginal Nouds urn, it is indistinguishable from the original. It was as though today I became the first man in the world to look on something which has never been seen before: a unique object which has, mysteriously, become a duality. (VC 56-57) [Hervorhebungen im Original.]

Ein Akt der Reproduktion, ein Herstellungsprozess, wird für das „second set“ nicht geschildert. Die Materialisierung der Sammlung bleibt ein nicht näher definierter Schöpfungsakt, der aus dem Begehren des Protagonisten entsteht: „He was not dreaming: he had really created these things and had made them visible for others to see and admire.“ (VC 19) Die Einzigartigkeit der Sammlung liegt für Maloney in seinem Wissen über die Art der Schöpfung, welche sich rein phänomenologisch betrach15 Vgl. dazu auch Seamus Deane: „The Real Thing: Brian Moore in Disneyland“. In: Irish University Review. A Journal of Irish Studies 1, 18, 1998, S. 74-82. 16 Der Aspekt, der sich aus dem Wunderbegriff und seiner Nähe zur Religion ergibt, wird in diesem Kapitel vernachlässigt. Zur Vertiefung dieses Gedankens empfiehlt sich die o. g. Lektüre von Robert Sullivans Publikation sowie eine intensive Betrachtung des Demonstranten, der als immer wiederkehrende Figur in der Geschichte erscheint und ein Plakat mit der Aufschrift vor sich trägt: „God Alone Can Create. Do Not Believe This Lie“. (VC 71, 108 und 167) 190

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tet in nichts von den schon vorher existierenden Originalen unterscheidet. Für ihn bedeuten die Viktoriana auf dem Parkplatz einen zweiten Originalsatz, der genau wie der ursprüngliche über eine Aura verfügt, die, wie Benjamin sagt, nicht nur an die Objekte gebunden sein muss, sondern deren Erkennen auch von dem Subjekt abhängig ist, dem sie erscheint. Jean Baudrillards viel zitierte, im Anschluss an Benjamins Kulturtheorie formulierte Aussage, dass das, was in der Moderne für real gehalten wird, nicht mehr rational nachvollziehbar sein muss, wird in diesem Kontext wichtig, um den Charakter der Objekte Maloneys näher zu bestimmen. Das baudrillardsche Simulakrum verneint, im Gegensatz zum Kopiebegriff wie man ihn seit Plato kennt, die essenzielle Wahrheit und unumstößliche Authentizität eines Originals, auf das eine Kopie verweisen kann.17 Dichotomien wie real versus imaginär, echt versus falsch im benjaminschen Sinne werden aufgehoben.18 Der Medientheoretiker und Poststrukturalist Baudrillard sieht in der durch Massenmedien bestimmten Simulationsgesellschaft des 20. Jahrhunderts die höchste Ordnung der Simulakra erreicht.19 Informationstechnologien wie zum Beispiel digitale Netze oder medizinische Fortschritte im Bereich der genetischen Forschung etc. ermöglichen ein Zusammenfallen des Scheinbaren mit dem Realen, des Wahren mit dem Falschen, und damit die Entstehung des Hyperrealen20, welches realer als das Reale selbst erscheint. Diese Ordnung führt in eine sich selbst reproduzierende Welt, die nicht mehr auf Reales verweist, sondern immer nur auf sich selbst. Das Zeichen

17 Vgl. Sullivan (1996): A Matter of Faith, S. 114-115. 18 Vgl. Sullivan (1996): A Matter of Faith, S. 114-115. 19 Baudrillard sieht Ende des 20. Jahrhunderts die aktuelle Realität durch eine Agonie des Realen und Rationalen bestimmt, mit dem das Zeitalter der Simulation Einzug hält. Nach Baudrillard gehen der Simulation zwei der historischen Formen von Simulakra voraus: die Imitation und die Produktion. Das Simulakrum der Imitation herrscht während des Zeitabschnitts von der Renaissance bis zur industriellen Revolution vor. In ihm reflektieren die Zeichen nicht mehr eine grundlegende Realität, sondern pervertieren und maskieren eine grundlegende Realität. Während der industriellen Periode im 19. Jahrhundert, der Phase des Simulakrums der Produktion, maskiert das Zeichen die Abwesenheit einer grundlegenden Realität: Realität ist (Re-)Produktion. Vgl. dazu Jean Baudrillard: Simulacres et simulation. Paris: Editions Galilée 1981. [Englische Teilübersetzung: Simulacra & Simulation. Michigan: University of Michigan Press 1994.] 20 Baudrillards exakte Definition für Hyperrealität lautet, dass sie die „Generierung eines Realen ohne Ursprung in der Realität“ sei. In: Baudrillard (1978): Agonie des Realen, S. 7. 191

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,rückt‘ vor die Realität. Signifikant und Signifikat verschmelzen und lassen keine Eventualitäten mehr zu, denn „[ü]berall dort, wo sich die Unterscheidung zweier Pole nicht mehr aufrechterhalten läßt, [...] betritt man das Feld der Simulation [...]“.21 In dieser, so Baudrillard, „Präzession der Simulakra“22 entfalte der Begriff der Simulation erst seine ganze Tragweite: Etwas Unwirkliches, das als wirklich wahrgenommen werde, kann nicht mehr als unwirklich entziffert werden. Die Simulation ist als solche nicht mehr zu identifizieren, da ihr ihr realistischer Referenzpunkt fehle, und sie nur noch mit anderen Simulationen interagiert.23 In dieser hyperrealen und damit künstlichen und, wie Jean Baudrillard ebenfalls behauptet, vollständig den Werten des Kapitalismus unterworfen Welt, unterstünden alle ökonomischen Gesetzte dem arbiträren Code.

Zwischen genialischer Schöpfung und Marketing-,Wunder‘ î die Rezeption der Great Victorian Collection in der Öffentlichkeit Anthony Maloney hält das Misstrauen, welches allem Neuen, seine Sammlung eingeschlossen, entgegengebracht wird í er spricht in diesem Zusammenhang von „instant distrust“ (VC 29) í für ein typisches Merkmal des 20. Jahrhunderts. Um den Zweifeln an seiner Sammlung entgegenzuwirken, sieht er zwei Möglichkeiten: Entweder ihm gelingt es, glaubhafte und seriöse Zeugen zu finden, die der Öffentlichkeit bestätigen, dass es sich bei den Viktoriana nicht um billige Kopien handelt, oder er selbst träumt einen neuen, anderen Traum: „One dream was simply not enough. People would dismiss it as a freak accident, a flash in the pan.“ (VC 43) Diesen Plan verfolgt er konsequent, aber er kann ihn zu seinem und dem Bedauern seines Umfelds bis zu seinem Tod nicht verwirklichen: „A man can only dream what he knews. And my field is

21 In: Baudrillard (1978): Agonie des Realen, S. 51. Im Gegensatz zu Umberto Eco, dessen Hyperrealitätsbegriff besonders für die Interpretation des Great Victorian Village von Bedeutung ist, sei an dieser Spelle bereits darauf hingewiesen, dass bei Baudrillard Tatsache (Original) und Modell (Kopie) ,ineinander stürzen‘, wogegen sie bei Eco als (wenn auch nur schwach) unterscheidbare, gleichwertige Zeichen nebeneinander existieren. Ihm geht es vor allem darum, dass die Nachahmung wirklicher als die Wirklichkeit ist. Vgl. dazu: Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 57-67. 22 Baudrillard (1978): Agonie des Realen, S. 8. 23 Das Reale ist durch Zeichen des Realen substituiert worden. Es ist endgültig hinter den in sich selbst kreisenden und auf sich selbst verweisenden Simulakra verschlossen. Vgl.: Baudrillard (1978): Agonie des Realen, S. 9. 192

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the Victorians.“ (VC 98) Was dem Protagonisten dagegen gelingt, ist die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen. Die Publicity, die Maloney zunächst auf Anraten eines befreundeten Professors aus Berkeley selbst initiiert hat, und die von ihm als Möglichkeit angedacht war, den Unterhalt der Sammlung auf dem Parkplatz zu finanzieren, weitet sich rasch zu einem Medienspektakel von internationalem Interesse aus. Der erste Medienvertreter, der ihm begegnet, ist Frederick X. Vaterman24, dessen Auffassung nach Maloney genau das verkörpert, was er selbst noch erreichen will: ein Mann, der seinen Traum hat Wirklichkeit werden lassen. Die Materialisierung des „huge catalogue“ (VC 12) an Viktoriana, den die Hauptfigur bisher in ihrem Gedächtnis gespeichert hatte, macht ihn für Vaterman zu einer Art ,Galionsfigur‘ des American Dream-Gedankens, demzufolge jedem Menschen das Recht zugestanden wird, sein Leben durch Eigeninitiative, festen Willen und harte Arbeit unter Bewahrung der persönlichen Freiheit vor allem in ökonomischer Hinsicht zu verbessern: „[Y]ou have a dream and I have a dream. How can we make both these dreams come true?“ (VC 28) Als Abkömmling einer traditionsbewussten bayerischen Familie ist er nach Amerika ausgewandert und arbeitet als Reporter beim Monterey Courier und Lokalreporter für die New York Times. Angelockt von der Information, dass Maloney der Schöpfer eines „fantastically valuable board of Victorian treasures“ (VC 23) sei, hegt er den Plan, sich durch die Erstberichterstattung und Exklusivrechte an dieser Geschichte seinen Traum zu erfüllen: „I […] have my own dream of achievement. I want to become a great newspaperman in the American tradition. Like Jack London. Or Reston of the Times.“ (VC 28) Vaterman macht sich Maloneys Unsicherheit und Unerfahrenheit im Umgang mit öffentlichen Medienorganen zunutze und drängt sich ihm als persönlicher Sekretär auf. In der Folgezeit begleitet, strukturiert und plant er Maloneys Tagesablauf und Medienkontakte. Die öffentliche Rezeption der Sammlung durchläuft mehrere Phasen. Die Londoner Sunday Times nennt die Sammlung zunächst einen „great 24 Vaterman ist ein sprechender Name, der auf die väterliche und fürsorgliche Beziehung der Figur zum Protagonisten Anthony Maloney anspielt und gleichzeitig auf die Tradition der Väter, in der er steht (Großvater und Vater hatten jeweils tragende Rollen bei den berühmten Passionsspielen in Oberammergau): „We are a family with achievements.“ (VC 27) Auf die sexuelle Konnotation des Namens, die vor allem in Mary Anns Beziehung zu Vaterman und zu Maloney eine Rolle spielt, macht Seamus Deane aufmerksam: „Moore plays a good deal on Vaterman’s name, […], it’s deflected association with pen as penis [Waterman ist eine französische Marke für hochwertige Schreibgeräte; Anm. M. W.] In: Deane (1998): The Real Thing, S. 75. 193

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American hoax“. (VC 46) Diese Äußerung inkludiert zum einen die Annahme, dass es sich bei den Objekten um Fakes handelt und spielt zugleich auf die Disneyifizierung25 der amerikanischen Kultur an. In ihrem Auftrag werden Sir Alfred Mannings aus London und von der Redaktion der New York Times ein Experte aus Yale, H. F. Clews, gesandt, die ein sicheres Urteil über die Originalität der Sammlung und über den Wahrheitsgehalt der Aussagen Anthony Maloneys treffen sollen. Letztgenannter gibt nach eingehender Untersuchung der Sammlung an, dass er den kanadischen Historiker von Anfang an in seiner Qualifikation angezweifelt habe, und dass er dessen Aussage, die Sammlung sei nichts anderes als „his own original creation, based on his research“ (VC 54), ablehne. Vielmehr halte er die Objekte der Sammlung für „very skillfull fakes“ (VC 54), die in der Absicht hergestellt worden seien, Sammler dazu zu verleiten, sie zu überhöhten Preisen zu erwerben. Der Londoner Gelehrte Mannings äußert sich dagegen etwas zurückhaltender: zunächst stellt er fest, dass er kein Urteil darüber abgeben könne, ob der Ursprung der Sammlung übernatürlicher Art sei, und dass es unmöglich sei, sie von den Originalen zu unterscheiden. Dies führe ihn zu der Schlussfolgerung, dass die Sammlung ein wirklich erstaunliches Meisterwerk der Kopierkunst sei í „a unique object which has, mysteriously become duality“. (VC 57) Einig sind sich beide Sachverständigen allerdings in ihrer Ansicht darüber, dass die Version, die Anthony Maloney über die Entstehung der Sammlung angegeben habe, abzulehnen sei und diskreditieren so Maloneys Reputation. Kurz nach seiner Verunglimpfung als ernst zu nehmendem Wissenschaftler und seiner Verurteilung in den Medien als Fälscher und Lügner, erscheint Bernard Hickman26, Präsident der Management Incorporated, in Maloneys Motel und bietet ihm verschiedene Möglichkeiten an, die Sammlung gewinnbringend zu vermarkten. Es sind professionelle Marketingstrategien, welche das Unternehmen, „a combination of lawyer, 25 Der Begriff der Disneyifizierung wird dann gebraucht, wenn man davon sprechen kann, dass die kulturellen Rituale einer Gesellschaft sich insofern ändern, dass „Erholung und Entspannung an die Stelle der Arbeit treten“ und die „Produktion von Freizeit mit den Mitteln der Industrie“ zu einem primären Aspekt der Kultur werden. In: Michael Sorkin: „Wir sehen uns in Disneyland“. In: archplus 24, 114/115, 1992, S. 100-110: 108. 26 Auch Hickman ist ein sprechender Name, der die Autorität des Vorsitzenden der Management Incorporated unterwandert, da „hick“ im amerikanischen Englisch ein umgangssprachlicher Ausdruck für „Provinzler“ oder „Hinterwäldler“ ist und damit den weltoffenen und internationalen Anspruch, den der Manager an das Projekt des Great Victorian Village stellt, konterkariert. 194

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business manager, and personal friend“ (VC 63), anbietet, wenn Maloney sich entschließen sollte, sie zu seinem Agenten zu wählen. Durch den finanziellen Druck, der sich durch die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Sammlung27, das zunehmende mediale Interesse an der Sammlung sowie die Finanzierung seines Lebensunterhalts aufbaut, sieht sich Maloney dazu gezwungen, sich auf einen Handel mit Management Incorporated einzulassen, obwohl er Bedenken hat, die Great Victorian Collection könne sich „into some sort of Disneyland“ (VC 69) verwandeln. In dem Wissen darum, dass der Aufdruck „Made in Japan“ unter den Objekten auftaucht, sobald sie von ihrem Platz auf dem Parkplatz entfernt werden, und ihm ein zusätzlicher Test28 beweist, dass ihr äußeres Erscheinungsbild, sobald er sich räumlich von der Sammlung entfernt, negativ beeinträchtigt wird, lehnt Maloney sowohl eine Verlagerung der Sammlung an einen anderen Ort sowie eine von ihm selbst gehaltene Vortragsreihe über die Sammlung außerhalb von Carmel ab. Doch Hickman ist fest entschlossen, einen anderen Plan für die professionelle und profitable Vermarktung der Great Victorian Collection zu ersinnen.29 Die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen des Projekts ist aus Hickmans30 Perspektive die Rehabilitation von Maloneys Glaub27 Der zunächst unüberdachte und unüberwachte Parkplatz verwandelt sich nach und nach von einem frei zugänglichen Ausstellungsgelände in ein Museum. Zunächst wird er mit Planen zum Schutz vor Wind und Regen überdacht und Wachpersonal patrouilliert rund um die Uhr zum Schutz der Sammlung um das Gelände; schließlich gibt es einen Eingangsbereich und die Besucher müssen Eintritt zahlen. 28 Um diese Vermutung zu verifizieren, dass sich die Sammlung in seiner Abwesenheit verändert, unternimmt Maloney mit Mary Ann eine Autofahrt, während der er sich zwanzig Meilen von der Sammlung entfernt. Als er von dort aus im Motel anruft, um sich nach dem Zustand der Sammlung zu erkundigen, erfährt er von Vaterman, dass es zehn Minuten nach seiner Abfahrt zu regnen begonnen hätte und seine Sammlung nun eingeregnet sei: „Mr Bourget says he’s never seen rain like it at this time of year. Many items are threaten with water damage.“ (VC 67) 29 „The first thing is for me to have a meeting with my people in New York. Then we’ll go out and talk to some money and as soon as we can line up a suitable funding proposal we’ll get back to you and make you an offer which will take care of the guards and the other expenses, including salaries for your staff. In the meantime, we’ll make sure that you and this story are promoted in the proper manner.“ (VC 69) 30 Maloneys Art der Schöpfung der Sammlung stellt für Hickman eine weitere Option auf ein gewinnversprechendes Geschäft dar. Er ist von der Idee begeistert, Maloney könne einen neuen Traum materialisieren: „[T]he first thing that comes to my mind is how interesting it would be if your next 195

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würdigkeit: „The point is, did you or did you not dream up this Collection? Your credibility is the issue, don’t you realize that?“ (VC 64) Dieses entschiedene Vorgehen macht Maloney zu einem Teil eines perfekt durchdachten Marketingsystems. Management Incorporated stellt sein eigenes Expertenteam zusammen í bestehend aus einer Forschergruppe der Vanderbilt-Universität unter der Leitung von Dr. I. S. Spector31, der damit beauftragt wird umfangreiches Referenz- und Pressematerial über die Entstehung der Sammlung zu verfassen. (Vgl. VC 85) Henry Prouse von der Universität von Saskatchewan und Charles Hendron, Direktor des Dulwich Memorial Trust, werden damit beauftragt, die bereits erstellten Expertengutachten zu widerlegen und Maloneys wissenschaftliche Reputation wiederherzustellen. Nach eingehender Prüfung steht für sie fest, dass die Sammlung „many original items“ (VC 85) enthält, und „the Carmel Collection […] without doubt, the greatest single collection of Victoriana to have been uncovered in this century“ (VC 86) ist. Und sie gehen noch einen Schritt weiter, indem sie die Sammlung das „first wholly secular miracle in the history of mankind“ (VC 86) nennen. Der Roman greift hier erneut das Thema Fake auf, indem er Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Gutachten über die Originalität und das ,Wunder‘ von Maloneys Schöpfung schürt. Je nach Interessenlage der Auftraggeber variieren die Urteile: Die Expertisen der Sachverständigen, die im Auftrag der Zeitungen bzw. wissenschaftlichen Fakultäten erstellt wurden, bezweifeln, die von Management Incorporated beauftragten dagegen bestätigen die Integrität Anthoney Maloneys und seine Version der Ereignisse. Den Zeugen, den Maloney sich von Anfang an gewünscht hat, findet er schließlich in dem 81-jährigen Lord Rennishawe, der zwei Wochen nach dem Erscheinen der Sammlung nach Carmel kommt, um sie zu besichtigen. Aufgrund seines hohen Alters nimmt er zwar nicht mehr aktiv am Wissenschaftsbetrieb teil, doch als bekannter Helenist und Eigentümer eines mit viktorianischen Schätzen angefüllten Schlosses in Wales ist er für ein Expertenurteil qualifiziert. Dass es sich bei der Sammlung um etwas ganz Einzigartiges handelt, sieht der Gelehrte bestätigt, als er dream had people in it. Imagine if you could materialize real people. That would be a major breakthrough.“ (VC 70) Eine Idee, die Maloney ironisch mit den Worten kommentiert: „I should say it would. I would be known as God.“ (VC 70) 31 Bei Spector handelt es sich um einen weiteren sprechenden Namen. Zum einen ist es seine Nähe zum Wort „spec“, welches sowohl der kolloquiale Ausdruck für „speculation“ (Spekulation) als auch für „specification“ (Spezifizierung) ist und zum anderen meint „spectator“ den Zuschauer eines Ereignisses, an dem er selbst nicht teilnimmt. 196

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das geheime Schlafzimmer seines Großvaters unter den ausgestellten Objekten entdeckt. Es ist ein Raum, den nur wenige Menschen kannten und der schon Jahrzehnte zuvor bei einem Brand zerstört wurde. Überwältigt bezeugt er: „Extraordinary! […] You are a necromancer, a wizard! This Collection of yours is undoubtedly one of the most astonishing events of the century.“ (VC 112) Seine Aussage macht die Viktoriana zu authentischen historischen Zeitzeugen32 í noch am selben Tag sorgt er durch ein Fernsehinterview für Maloneys Rehabilitierung und wendet die Ereignisse für ihn kurzzeitig zum Guten. Die positive Publicity, die der Protagonist durch Rennishawes Aussagen erhält, setzt sich fort: Einerseits teilt ihm der Staat Kalifornien mit, dass er die Sammlung als Maloneys Eigentum anerkennt, andererseits erfährt er, dass sich seine Kollegen an der Universität Montreal dafür einsetzen, dass er, gegen den ausdrücklichen Wunsch des Dekans, der ihn zu Beginn der Geschehnisse von seiner Arbeit am historischen Institut entbunden hatte, dort wieder beschäftigt wird: „[W]hat more creative scholarship can anyone imagine than to recreate the artifacts of a period simply through an act of imagination?“ (VC 115) In diesem Moment scheint es, als würde die erschaffene Sammlung Maloney die Erfüllung seiner Träume, seines American Dream, ermöglichen: A full house assembled back there in Montreal, a flush of students, faces blooming upward. A campus hero. A hero who gave up fame in the States for the cause of academic justice. I am a historian who was witness to that first moment in history when a man’s dream literally comes true. I would work up a course, say, on the Victorian era as a factor in modern man’s historical consciousness, an extension of my PhD thesis. I’d be an outstanding lecturer unique in my field. (VC 116)

Neben der öffentlichen Resonanz auf das Erscheinen der Sammlung gibt es in Maloneys direktem Umfeld auch affektive und emotionale Reaktionen33 auf seine Schöpfung. Vor allem Mary Ann í durch Vaterman, Ma-

32 Vgl. dazu Martina Stange: „Die Macht des Hyperrealen: Brian Moores The Great Victorian Collection“. In: Gisela Ecker et al. (Hg.): Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen. Königstein/Taunus: Helmer 2001, S. 59-70: 63. 33 Auch seine Mutter glaubt ihm zunächst nicht was geschehen ist und zweifelt seine Worte an. Sie vertritt anfänglich die Meinung, dass sich ihr Sohn das alles nur ausgedacht habe, um nicht zu seiner Frau Barbara zurückkehren zu müssen und fürchtet vor allem um seine Karriere und seinen guten Ruf als Wissenschaftler: „The point is, if I can’t make myself believe in your story, then who will believe it? Nobody I’ve spoken to at home believes it for one single moment.“ (VC 74) Erst als sie die Sammlung be197

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loneys Spezialisten für Öffentlichkeitsarbeit, zur Sekretärin ernannt í glaubt an das, was er erzählt. (VC 36) Für sie ist es allerdings nicht wichtig, wie die Sammlung entstanden ist, für sie zählt einzig ihre Existenz: „All that talk about fakes and originals í I mean, they’re missing the point. The point is, you dreamed up this stuff and made it all come to life out there. That’s got to be sort of genius í right?“ (VC 58) In ihrer Aussage wird vor allem der Punkt der Originalität geistiger, künstlerischer, kreativer Schöpfungen betont. Diese Auffassung schafft eine Gemeinsamkeit mit Maloneys Ansicht, dass es nichts Originaleres als die Sammlung selbst gibt: „All people talked about whether these miraculous objects were originals or not. As if anything could be more original than one’s dream come true!“ (VC 59) Für ihn ist sie einzigartig: „[A] Collection unsurpassed by any other assemblage of its kind.“ (VC 59) Das Vertrauen, das Mary Ann Maloney schenkt, ihr Glaube daran, dass er über die Entstehung der Sammlung die Wahrheit erzählt hat und ihre enge Bindung an die Sammlung í „[S]ometimes I [Mary Ann, Anm. M. W.] feel like I’m part of the Collection.“ (VC 135) í sorgen dafür, dass Maloney sich zu ihr hingezogen fühlt. Er verliebt sich im Verlauf ihrer Zusammenarbeit in sie und wünscht sich, mit ihr zusammen zu sein.34 Doch Mary Ann ist mehr als das: Als er sie eines Abends in einem der ausgestellten Schlafzimmer zunächst in einem viktorianischen Abendkleid und später nackt im Schlafzimmerspiegel betrachtet, wird sie für ihn zu einem lebendigen Teil der Sammlung: „,Well, you’re certainly what this Collection has needed. A live Victorian girl. You look like a figure in a Pre-Raphaelite painting.‘“ (VC 90) Sie ergänzt die Sammlung um das, was Maloney als dezidierten Mangel an ihr empfindet: „There are no living figures. Only […] a series of empty rooms.“ (VC 118)

sichtigt und von ihrer Schönheit überwältigt ist í „Oh, Tony! It’s the most beautiful thing I’ve ever seen!“ í stellt sie keine weiteren Fragen mehr nach ihrer Entstehung und schenkt ihrem Sohn Glauben: „But now, of course, seeing’s believing, as they say.“ (VC 78) 34 Das Treffen mit seiner Ehefrau, welches ihn am Morgen nach der Entdeckung der Sammlung noch zu der Überlegung bewogen hatte, schnell nach Montreal zurückzukehren, findet aus diesem Grund ebenfalls nicht statt, ebenso wie die erhoffte Versöhnung ausbleibt. Stattdessen trennt sich Maloney in einem knappen Telefongespräch von ihr und willigt in die Scheidung ein: „He put the phone down. To think he had waited a year and worried himself sick about not being back in time. To hell with her!“ (VC 101) 198

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Die Entwicklung des Great Victorian Village aus der Great Victorian Collection Die Great Victorian Collection und ihre Parallele zur Great Exhibition 1851 in London „The Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations“35, so der offizielle Titel der ersten Weltausstellung von 1851 im Hyde Park in London, ist ein historischer Bezugspunkt, den Anthony Maloney, versierter Historiker und Kenner des Viktorianischen Zeitalters, sofort eröffnet, indem er den Kristallbrunnen í „the crystal fountain“ (VC 11) í Herzstück der Londoner Weltausstellung und zentrales Objekt seiner eigenen viktorianischen Sammlung, besonders hervorhebt: „[T]he work of F. & C. Osler, a marvel casting, cutting, and polishing faultless blocks of glass, erected originally in the transept as the centerpiece of the Great Exhibition of 1851.“ (VC 11) Diese Parallelsetzung betont eine historische Perspektive, die auf das Viktorianische Zeitalter verweist, welches für den wirtschaftlichen Aufschwung des britischen Empires im Zuge der industriellen Revolution und seinen imperialistischen Ausbau durch neue Kolonien zur größten Kolonialmacht der Welt steht. Die viktorianische Gesellschaft war einerseits geprägt durch eine wachsende Mittelschicht, die sich vor allem durch ihr Traditionsbewusstsein und ihre strengen religiösen und moralischen Werte auszeichnete, und die gleichzeitig einer bigotten Sexualmoral nachging, wie sie sich auch in den Ausstellungsobjekten widerspiegelt:

35 Auf einer Gesamtfläche von über zehn Hektar nahm allein schon der Crystal Palace über sieben Hektar Platz in Anspruch. Über eine Million Exponate wurden von insgesamt 14 000 Ausstellern präsentiert, von denen fast 7 000 aus England und den britischen Kolonien und die restlichen aus dem Ausland stammten. Insgesamt waren 94 Staaten, Kolonien sowie nichtselbständige Fürsten- und Herzogtümern auf der Ausstellung vertreten. Es war die bis dahin größte Versammlung an Nationen aus aller Welt. Über sechs Millionen Besucher kamen, um die Ausstellung zu besuchen. Sie erzeugte eine öffentliche Resonanz, die sich bei ihrer Planung niemand erträumt hatte. Allein zu ihrer Eröffnung am 1. Mai 1851 kamen 25 000 Besucher. Eröffnet wurde die Ausstellung durch Queen Victoria und den Erzbischof von Canterbury. Prinz Albert hielt als Vorsitzender der Royal Commission die Eröffnungsrede. Vgl. dazu: Hermione Hobhouse: The Crystal Palace and the Great Exhibition: Art, Science and Productive Industry. A History of the Royal Commission for The Exhibition of 1851. London (u. a): Athlone 2004. 199

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There are a number of concealed drawers, cupboards, and compartements which have things hidden in them. The Victorians had many secrets. For one thing, there is the Carrington Collection of Flagellatory Instruments and Literature, which is concealed behind a false wall in the Zollverein Indian Room. There is the Dodson-Hutter Collection of Pedophilic Photographs, concealed behind false panels in a sideboard. […] The Victorians were secret hoarders. […] There is an artificial phallus concealed in a false compartment in the Statue The Turkish Slave by Henry Powers. (VC 38)36

Andererseits gehörten soziale Armut, mangelnde Bildung, Hunger und Krankheit, gegen die nur wenig unternommen wurde, für fast zwei Drittel der Bevölkerung zum Alltag.37 Die Weltausstellung von 1851 bedeutete für die damalige Gesellschaft ein bis dahin unbekanntes Großereignis, welches sich vor allem durch seine Popularität als gesellschaftliches Event, zu dem auch die Arbeiterschicht durch die Einrichtung eines „Shilling-Tags“38 Zutritt hatte, auszeichnete. Die Weltausstellung diente einerseits als Leistungsschau,

36 Die sexuelle Doppelmoral, die während des Viktorianischen Zeitalters herrschte, gab Anlass für eine besondere Form des Fake, die sich in den Dingen, die zu dieser Zeit hergestellt wurden, widerspiegelt. In der Praxis des Versteckens zeigt sich ebenfalls das Spiel mit Wahrheit und Lüge, mit Schein und Sein. Das, was die Dinge wie der Raum, das Sideboard, die Statue zu seien vorgeben, sind sie nur für den unbedarften Betrachter, für denjenigen, der nicht weiß, was sich dahinter verbirgt. Für den Eingeweihten sind es Objekte, die andere Objekte, die ihnen sexuelle Befriedigung verschaffen können, beinhalten. Da dieses Thema aufgrund der Fokussierung des Kapitels hier nur marginal behandelt werden kann, sei an dieser Stelle auf die Ausführungen von Seamus Deane hingewiesen, der sich intensiv mit den sexuellen Implikationen in Brian Moores Roman beschäftigt. Vgl. dazu: Deane (1998): The Real Thing. 37 Für eine intensivere Lektüre über das gesellschaftliche und kulturelle Leben während der Viktorianischen Ära sei an dieser Stelle auf folgende Publikationen hingewiesen: Andrew N. Wilson: The Victorians. London: Hutchinson 2002; Herbert F. Tucker (Hg.): A Companion to Victorian Literature and Culture. Malden, Mass. (u. a.): Blackwell 1999 sowie Lewis C. Seaman: Victorian England. Aspects of English and Imperial History 1837–1901. London: Routledge 1995. [1973] 38 Während der gesamten Ausstellungsdauer, vom 1. Mai bis zum 11. Oktober 1851, konnte man einmal wöchentlich für einen Shilling, im Gegensatz zu den ansonsten hohen Eintrittspreisen, die sich ein einfacher Arbeiter nicht hätte leisten können, die Ausstellung besuchen. Vgl. dazu auch: Martin Wörner: Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte der Weltausstellungen. Berlin: Dietrich Reimer 2000. 200

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auf der neben Kunsthandwerk und industriellen Massenprodukten auch technische Neuerungen und Bodenschätze aus den verschiedenen Kolonien gezeigt wurden sowie andererseits als Vergnügungsort: Es gab Erfrischungsstände und verschiedene Restaurants auf dem Ausstellungsgelände.39 Sie stellte einen Ort der Zusammenkunft dar, dessen Wahrzeichen der Crystal Palace war, in dem sich der Kristallbrunnen befand. Erstmals wurden innerhalb eines Ausstellungskonzepts eine Vielzahl nationaler und internationaler Einzelaussteller zusammengefasst, die an diesem Ort die Möglichkeit erhielten, ihren kulturellen und technischen Fortschritt zu präsentieren í eine Idee, die bis heute ihre Fortsetzung erfährt und allen Weltausstellungen seitdem das Konzept eines Erfahrungsortes zugrunde legt, der das wirtschaftliche und zivilisatorische Zusammenwachsen einer Weltgemeinschaft sichtbar macht, an dem aber gleichzeitig nationale Besonderheiten inszeniert werden können.40 Der Ort, an dem sich die Great Victorian Collection in Moores Roman materialisiert, ist, wie bereits erwähnt, Carmel-by-the-Sea. Ein kleiner Küstenort, der geografisch betrachtet in der Nähe des weltweit ersten

39 Vgl. dazu: Martin Wörner: „Schlaraffenland Weltausstellung“. In: Regina Bittner (Red.): Urbane Paradise. Zur Kulturgeschichte modernen Vergnügens. [Anlässlich der Ausstellung „Paradiese der Moderne“, Stiftung Bauhaus Dessau, 22. Juni bis 14. Oktober 2001.] Frankfurt/M., New York: Campus 2001, S. 126-136. 40 Der kritische Blick, der auf dieses Konzept zu werfen ist, muss aufgrund der Fokussierung innerhalb dieses Kapitels vernachlässigt werden. Fragestellungen, die sich mit den Problemen der Repräsentation fremder Kulturen aus kulturwissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive beschäftigen oder die beispielsweise hinterfragen, welche Paradigmen die Typologisierung, Kategorisierung und Klassifizierung der Exponate auf den Weltausstellungen zugrunde liegen und wer sie jeweils durchführt sowie die ,Weltbilder‘, die dadurch jeweils transportiert werden, geben nur einen Bruchteil der Diskurse wieder, die sich aus der Beschäftigung mit dem Thema Weltausstellung eröffnen. Auf folgende Publikationen sei in diesem Zusammenhang jedoch hingewiesen: Penelope Harvey: Hybrids of Modernity. Anthropology, the Nation State and the Universal Exhibition. London, New York: Routledge 1996; David Ley und Kris Olds: „World's Fairs and the Culture of Consumption in Contemporary City“. In: Kay Anderson und Fay Gale (Hg.): Inventing Places. Studies in Cultural Geography. Melbourne: Longman Cheshire 1992, S.178-193; Burton Benedict: „International Exhibitions and National Identity“. In: Anthropology Today 7, 3, 1991, S. 5-9 sowie Carol A. Breckenridge: „The Aesthetics and Politics of Colonial Collecting: India at World Fairs“. In: Comparative Studies in Society and History 31, 2, 1989, S. 195-216. 201

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Disneyland Resorts in Anaheim41 und nicht weit entfernt von Hollywood liegt í eine der medialen Produktionsstätten des amerikanischen Unterhaltungskinos und damit das Synonym für die US-amerikanische Filmindustrie. Auch historisch gesehen ist Carmel bedeutend, da von hier aus die Verbreitung des christlichen Glaubens in Kalifornien maßgeblich vorangetrieben wurde.42 Die Ortswahl greift also thematisch auf, was der historische Verweis durch die Viktoriana bereits dokumentiert hat: Hier vermischen sich traditionelle, christlich orientierte, ethisch-moralische Wertvorstellungen mit denen einer eher konsum- und unterhaltungsorientierten amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Die Dichotomie des Ortes und das Spannungsfeld, das sich zwischen den Parametern eines wertekonservativen und traditionsbewussten Bildungsbestrebens auf der einen und den konsumentenbewussten und kommerzialisierten Vergnügungsmöglichkeiten auf der anderen Seite entspannt, eröffnet Fragen der kollektiven Bedeutungsgebung und Wertekonsolidierung, die sich in der Art der Sammlung und in dem Umgang mit ihr widerspiegeln.

41 Disneyland, 1955 von Walt Disney als erster ständiger Freizeitpark eröffnet, wurde das Vorbild für weitere Disneyland-Parks í wie dem größten, dem Walt Disney World Ressort in Orlando in Florida und weiteren Anlagen wie zum Beispiel dem Disneyland Resort in Paris, dem Tokyo Disney Resort oder dem Hong Kong Disneyland Resort. Genau wie Hollywood steht auch die Idee des Disneyland-Parks als Symbol für die moderne Vergnügungs- und Unterhaltungskultur. Dass es mittlerweile mehr als 20 000 Orte gibt, an denen Disneyland als ,Heile Welt‘-Konzept auch bewohnt wird, zeigt, wie beliebt diese hyperrealen ,Welten‘ sind. In einem Artikel über die Musterstadt Celebration in Orlando in Florida, in der rund 2 000 Menschen in 732 „Homes“ auf 40 Quadratkilometern leben, heißt es beispielsweise: „Gut fürs Image ist das moderne Full-Service-Programm: eine sichere fortschrittliche Schule, jedes Haus online, den schnuckeligen Italiener in der Ortsmitte, ein großes Kino, eine Beratungsstelle, die stets hilft […] und ein Heer von Dienstleistern, die so wenig kosten, daß sie es sich nicht leisten können, in Celebration zu wohnen. […] Der Idealismus, der die Leute nach Celebration gezogen hat, ist einer der von Politik nicht mehr viel hält und die Gestaltung für die Rahmenbedingungen des Lebens einer Privatfirma überläßt. ,Politik‘, sagt einer, ,ist doch ein einziger großer Schweinestall, in dem am Ende alle betrogen werden. Disney dagegen hat uns noch nie enttäuscht.‘“ In: Thomas Hüetlin: „Fort Alamo des Mittelstandes“. In: Der Spiegel 5, 1999, S. 103-105: 104. Vgl. dazu: Michael Sorkin bezeichnet das Jahr 1955, in dem Disneyland erfunden wurde als „Punkt Alpha der Hyperrealität“. In: Sorkin (1992): Wir seh’n uns, S. 100. 42 Hier gründete der Missionar Fray Junipero Serra 1771 die Missionsstation San Carlos Borromeo de Carmelo. 202

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Indem Moore etwas ausgesprochen Traditionsbewusstes í die Viktorianische Ära steht für das Festhalten an bürgerlichen Traditionen und Konventionen und für eine Epoche, in der das Museum als eine der wichtigsten bürgerlichen Bildungsinstitution entdeckt wurde43 í in die amerikanische Kultur implementiert, macht er auf einen Werteverfall innerhalb derselben aufmerksam.44 Er betont einen Aspekt, den Umberto Eco pointiert formuliert hat: Kalifornien sei ein Land, welches zwischen Andenken an die Pioniere und Disneyland schwanke, also ein „Land mit Zukunft, aber so gut wie keiner historischen Reminiszenz“.45 Als architektonisches Phänomen betrachtet, etablieren die materialisierten Gegenstände auf dem Parkplatz in ihrer Gesamtheit einen eigenen Ort. Wie Weltausstellungen, die in „den Metropolen bewußt eingepflanzte Fremdkörper“46 waren, dringt auch die Great Victorian Collection wie ein ,Störenfried‘ in die gewohnte Ordnung ein: in die des Motelbesitzers, der beabsichtigt hatte, den Parkplatz zu bebauen, in die des Wissenschaftsbetriebs, der bisher von der Einzigartigkeit der viktorianischen Originale ausgegangen war sowie in die des Protagonisten, dessen berufliche und private Lebensplanung durchkreuzt wird. Dieser Gedanke des ,anderen‘ Ortes, der dem utopischen, also dem unwirklichen, phantastischen Raum gegenübersteht, eröffnet einen Bezug zu Michel Foucaults Begriff der Heterotopie. Heterotope47, zu denen Foucault unter anderem Museen, Festwiesen und Feriendörfer zählt, sind wirkliche, in die Gesellschaft hineingesetzte Orte, denen gemeinsam ist, dass sie alle anderen Räume infrage stellen. Entweder, indem sie eine Illusion erschaffen, in der die übrige Realität selbst als Illusion erscheint í oder, indem sie eine vollkommenere Ordnung als die der Realität selbst

43 Vgl. dazu: Barbara J. Black: On Exhibit. Victorians and their Museums. Charlottesville, Va., London: UP of Virginia 2000. Vor allem Kapitel IV: „A Gallery of Readings: Rendezvous in the Museum“. 44 Vgl. Sullivan (1996): A Matter of Faith, S. 112. 45 Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 70. 46 Thilo Hilpert: „Zeitmaschinen der Hyperrealität“. In: archplus 32, 149/150, 2000, S. 76-83: 76. Der Verfasser verfolgt in seinem Artikel einen an der Architektur der Weltausstellung orientierten Schwerpunkt. Ihm geht es primär um die Impulse, die von den Weltausstellungen, angefangen 1851 in London bis heute, ausgingen, und welche Auswirkungen sie auf die städtische Umwelt und städtebauliche Leitbilder genommen haben. 47 Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien/Les hétérotopies. Zwei Radiovorträge. (7. und 21. Dezember 1966.) Zweisprachige Ausgabe übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 und ders.: „Andere Räume (1967)“. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam 1990. 203

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erschaffen. Der Gedanke, dass es sich bei diesen Heterotopen vorwiegend um ,heile Welten‘48 handelt, findet seine Bestätigung auch in der Geschichte der Weltausstellungen. Paradigmatisch kann hier die Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893 í die „World’s Columbian Exposition“ í genannt werden, für die eine „Weiße Stadt“49 aus Stahl und Gips errichtet wurde, mit der das 400-jährige Jubiläum der Entdeckung Amerikas gefeiert und í dem Geist der Zeit entsprechend í nicht kritisch hinterfragt wurde. Außerdem wurde auf dieser Weltausstellung erstmals eine amerikanische Erfindung, der Vergnügungspark Midway Plaisance vorgestellt. Dessen Angebot reichte vom größten Riesenrad der Welt bis zur Stripteaseshow, und stellte damit einen Freizeitpark der Superlative dar, der einen größeren finanziellen Gewinn erzielte als die Weltausstellung selbst und zum Publikumsmagneten wurde.50 Hinter dieser Errichtung einer künstlichen Amüsierwelt, eines heterotopen Ortes, der ausschließlich dem Konsum gewidmet war, stand die Idee der Veranstalter, einen möglichst hohen Profit zu erwirtschaften. Aus diesem Gedanken eröffnet sich eine weitere Parallele zwischen dem historischen Bezug, den die viktorianischen Objekte zu den Weltausstellungen eröffnen, und der Errichtung des Great Victorian Village, einem ,viktorianisch verkleideten‘ Vergnügungspark, den die Management Incorporated als Marketingidee aus der Great Victorian Collection entwickelt.

Der Crystal Palace î historisches Wahrzeichen und Symbol einer hyperrealen Welt Etwa sieben Monate nach der Schöpfung der Sammlung plant und errichtet die Management Incorporated í durch Maloney mit dem Privileg der Erstausstellung beauftragt í ein „shopping center, a mall with adjoining motels, fountains, restaurants and a plaza.“ (VC 173) Das „Great Victorian Village“, so der Name dieses Vergnügungsortes, wird einige Meilen 48 Vgl. dazu ebenfalls Hilpert (2000): Zeitmaschinen der Hyperrealität. 49 In den riesigen, außen reich mit Skulpturen dekorierten Hallen wurden 70 000 Aussteller untergebracht. Berühmt wurde diese Weltausstellung auch aufgrund der Tatsache, dass Thomas Edison hier seinen neuesten Phonographen und das Kinematoscop vorführte. 50 Midway Plaisance wurde zum Vorbild für alle weiteren Rummelplätze von Coney Island bis Disney World. Zwar gab es schon Rummelplätze wie den Tivoli, der 1843 in der Innenstadt von Kopenhagen eröffnet wurde, aber das Ausmaß des Midway Plaisance war bis dahin beispiellos. In den Jahren nach der Ausstellung wurde er sogar zum Synonym für andere Vergnügungsparks. 204

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vom Standort der Great Victorian Collection entfernt51 gebaut: „Close to the freeway system […] on a commercial site.“ (VC 172) Neben den zwei großen Familienrestaurants, dem „General Gordon“ und dem „Gladstone“52, dem Lebensmittelmarkt namens „Covent Garden“53 und zahlreichen Boutiquen wie die „Oskar Wilde Way Out“, sind es vor allem „Mrs Beauchamp’s Parlour, a nightclub decorated in a bowdlerized version of the Collection’s Bordello“ (VC 189), das „Penny Gaff“, eine Imitation einer viktorianischen Musikhalle sowie ein Warenhaus, das den Namen „The Great Victorian Collection“ trägt, und in dem eine Vielzahl billiger Reproduktionen von Viktoriana angeboten werden, die aufgrund der irreführenden Namensgebung von den Besuchern oft fälschlicherwei-

51 Damit erfüllt es eines von Foucaults Hauptkriterien eines heterotopen Ortes: Es befindet sich an den Rändern der Gesellschaft, „an den leeren Stränden, die sie umgeben“. In seinem Radiovortrag auf France Culture am 7. Dezember 1966 spricht Foucault davon, dass es sich bei den Heterotopien des 20. Jahrhunderts meist um „Abweichungsheterotopien“ handelt. Um Orte, an denen von der herrschenden Norm abweichendes Verhalten ritualisiert und lokalisiert wird. In: Foucault (2005): Die Heterotopien, S. 12. 52 Auch hinter dieser Namensgebung lassen sich zwei interessante Aspekte entdecken: Zum einen verweist das Wort „Gladstone“ auf William Ewart Gladstone, der zwischen 1868 und 1894 mit mehreren Unterbrechungen insgesamt viermal das Amt des britischen Premierministers bekleidete, und damit auf die Viktorianische Ära. Andererseits ist es ein Hinweis auf den Namen des Verlages Gladstone Publishing, der zwischen 1986 und 1998, mit einer Unterbrechung von 1990 bis 1993, die Disney-Comics veröffentlicht hat. Der Name leitet sich von der prominenten Disney-Comicfigur Gladstone Gader (deutsch: Gustav Gans) ab und kann als Verweis auf Disneyland und die Disneyifizierung der Kultur verstanden werden. 53 In der Namensgebung Covent Garden, einem Londoner Innenstadtbezirk, wird das Motiv der Kopie und der Ortsverlagerung aufgegriffen: Der seit dem „Großen Brand“ von 1666 zum wichtigsten Markt innerhalb Londons gediehene Ort, an dem Güter aus aller Welt gehandelt wurden, wurde 1830 mit Markthallen ausgestattet, die einen witterungsunabhängigen Betrieb zuließen. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verlor der Markt aufgrund einer zunehmenden Dichte des Verkehrsaufkommens und der dadurch bedingten schlechten Erreichbarkeit des Marktes für die Händler, Zulieferer und Käufer an Bedeutung. Gelöst wurde das Problem in einer Neuerrichtung des Marktes fünf Kilometer vom ursprünglichen Standort entfernt, wohingegen das ,alte‘, denkmalgeschützte Gelände nach aufwendigen Umbaumaßnahmen seit den 1980er Jahren zum Einkaufszentrum und zur Touristenattraktion avancierte. 205

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se für die originalen Objekte der Great Victorian Collection gehalten werden.54 Management Incorporated erschafft mit dem Great Victorian Village die Simulation einer Simulation, welche die Great Victorian Collection bereits darstellt. Der neu gebaute Vergnügungspark, orientiert sich an den Objekten der Sammlung: Orte wie die Musikhalle, das Penny Gaff oder Mrs. Beauchamps Bordell í wenn auch in einer gemilderten, zensierten Version í finden sich in den zahlreichen Ladenlokalen und Vergnügungsstätten des Village wieder. Eine neue hyperreale Welt entsteht, die aber nicht wie jene „Höhle von Lascaux“55 funktioniert, auf die Baudrillard rekurriert, um zu erklären, dass die Verdopplung des Originals dazu führen kann, dass zum einen die Erinnerung an das Original verschwindet und dass die Artifizialität, die sich aus der dialektischen Interaktion zwischen Original und Nachbildung respektive Verdopplung ergibt, es nicht mehr erlaubt, trennscharf zwischen Original und Nachbildung zu unterscheiden.56 Im Fall des Great Victorian Village wäre es 54 Vgl. Susanne Bach: „Kulturtheoretische Reflexionen in Brian Moores The Great Victorian Collection“. In: ZAA 46, 3, 1998, S. 229-242. Susanne Bach erkennt in der Errichtung des Great Victorian Village eine scheinbare Verdoppelung der Great Victorian Collection, welche sich effektiv dem Blick entzieht und gleichzeitig als authentifizierender Kontext bedeutungslos wird. Es gilt aber zu bedenken, dass die Trennung von Sammlung und Village nur geschieht, weil Maloney sich weigert die Objekte an einen anderen Ort zu bringen, da er weiß, dass andernfalls der Aufdruck „Made in Japan“ an ihrer Unterseite erscheinen würde und dies ein unüberwindbares Hindernis für ihn bedeutet, weil er sich das Hyperreale der Sammlung nicht eingestehen will. 55 Die originale Höhle von Lascaux, ein auf das Zeitalter des Paläolithikums datiertes, in den Pyrenäen gelegenes Heiligtum, wurde 1940 entdeckt und 1963 zum Schutz vor weiteren Beschädigungen durch die zahlreichen Besucher für die Öffentlichkeit geschlossen. 1983 wurde cirka 500 Meter entfernt Lascaux II eröffnet. In die originale Höhle kann man seitdem nur noch durch ein Guckloch schauen, während die Reproduktion betreten werden darf. Baudrillard warnt anhand dieses Beispiels davor, dass die Originalhöhle im Verlauf der kommenden Generationen aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden und die nachgebildete Höhle für das Original gehalten werden könnte. Vgl. dazu: Baudrillard (1994): Simulacra. 56 Vgl. dazu auch Eva Sturms Ausführungen zur „Spirale der Künstlichkeit“, die in fünf Stufen unterteilt werden kann, und deren oberste Stufe die Hyperrealität darstellt. Für Sturm nimmt die „Verdopplung des Originals“ die „Stufe 2“ ein. Ihr voraus geht die „Stufe 1“, in der ein realer Ort durch einen wissenschaftlichen Deklarationsakt „stillgelegt“ wird und der damit einen umfassenden Musealisierungsakt darstellt. Gefolgt wird sie von „Stu206

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nämlich durchaus möglich, zwischen Original und Kopie zu unterscheiden. Hier ist es vielmehr das Desinteresse des Publikums, welches dafür sorgt, dass das Original nach und nach in Vergessenheit gerät. In Umberto Ecos Hyperrealitätsbeschreibung wird im Unterschied zur oben ausgeführten baudrillardschen Annahme57 die Existenz zweier noch schwach unterscheidbarer, gleichwertiger Zeichen formuliert, wodurch die Hyperrealität58 im Gegensatz zur Realität eine Differenz aufweist. Demgemäß bleibt sie stets durchschaubar, stets erkennbar und immer als Kopie entlarvbar, wenn auch als Kopie, die sich von ihrer Wahrnehmung her paradoxerweise vor das Original schiebt oder sich mindestens im Wettstreit mit ihm befindet. Eco deutet auf einen wichtigen Punkt hin, an dem das Simulationsproblem an eine Grenze geführt wird: „Hat man erst einmal zugegeben, daß ,alles falsch‘ ist, so muß es, um genießbar zu sein, ganz echt aussehen.“59 Er erläutert diesen Gedanken am Beispiel des Disneylands in Kalifornien: [W]enn uns Disneyland ,Fälschungen‘ präsentiert, künstliche Flußpferde, Dinosaurier, Seeschlangen, dann nicht so sehr, weil die echten Äquivalente unmöglich zu beschaffen wären, als vielmehr weil wir die Perfektion der Fälschung und ihr programmgemäß pünktliches Funktionieren bewundern wollen.60

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fe 3“, der „Exhumation“ und „Stufe 4“, der „Repatriierung“. Erstgenannte bezieht sich auf eine wissenschaftliche Praxis, in der kulturgeschichtlich bedeutende Objekte aus der Vergessenheit befreit und durch konservatorische und restauratorische Arbeiten wieder aufbereitet werden, um eine kollektive Geschichte sichtbar zu machen und dieser eine künstliche Kontinuität zu verleihen. Letztgenannte meint die Rückführung eines musealisierten Objekts in seinen Ursprungskontext. In: Sturm (1991): Konservierte Welt, S. 71-87. Vgl. dazu auch Römer (2001): Künstlerische Strategien, S. 11-12. Das Anliegen der Hyperrealisten ist es, laut Eco, eine so „schreiend echte Realität“ zu produzieren, dass sie ihren „Fiktionscharakter in alle vier Winde hinausschreit“. In: Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 40. Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 82. Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 82. Eco untersucht Fälle der US-amerikanischen Massenkultur, „in denen die amerikanische Einbildungskraft das Wahre und Echte haben will und, um es zu bekommen, das absolut Falsche erzeugen muß; womit die Grenzen zwischen Spiel und Illusion verschwimmen, das Kunstmuseum wird von der Schaubude angesteckt, und man genießt die Lüge in einer Situation der ,Fülle‘, des Horror vacui.“ In: Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 41. 207

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Ein Aspekt, der sich im Great Victorian Village wiederfindet, wenn der Ort ,aufgefüllt‘ wird mit viktorianischen Reminiszenzen, wie zum Beispiel die bereits erwähnte Herrenboutique, die den Namen „Oskar Wilde Way Out“ trägt oder der „Florence Nightingale Tea Room“ (VC 190), die in keinem konkreten Bezug zu den Objekten der originalen, carmelschen Great Victorian Collection stehen, sondern einzig dem Zweck dienen, dem Ort eine Form von Authentizität zu verleihen. Vergnügungparks wie Disneyland oder Disney World, die Eco als „künstliche Amüsierstätten“61 bezeichnet, in denen das Credo seiner pointierten Formulierung herrschte, und in denen es eine „Bedingung des Vergnügens“ sei, dass etwas gefälscht worden sein müsse62, und die als reale Beispiele für das Great Victorian Village angesehen werden können, sind selbst Fiktionen, die aber zum Ausdruck bringen, dass „die gefälschte Natur viel besser unseren Wachtraumwünschen entspricht“63 als die Realität. In diesem Kontext berichtet Umberto Eco von seiner Reise von San Francisco nach Los Angeles, während derer er sich sieben verschiedene Versionen von Leonardo Da Vincis Abendmahl angeschaut hatte, die alle klar als Kopien erkennbar waren: Trotzdem vermittelten die Faksimile ihm das Gefühl, das „kunstvollste Kunstwerk der Welt“ gesehen zu haben und ließen ihn, den Betrachter, vor Ergreifung schauern, sodass der Wunsch, das Original in Mailand zu besichtigen, verblasste: „[D]a jenes ferne Fresko [in Italien im Vergleich zu den Kopien in Amerika, Anm. M. W.] schon ganz verblichen ist, kaum noch zu sehen, gewiß nicht imstande, uns die erhabene Emotion zu vermitteln“64. Die Werteverschiebung ist subtil; oberflächlich betrachtet ist evident, was original und was gefälscht ist. Das Wesen der Hyperrealität jedoch ist es, diese Differenz zu verkleinern, wenn nicht sogar zu beseitigen, denn im Gegensatz zu einem klassischen, wissenschaftlichen Museum, welches seine Objekte auf einem hohen Abstraktionslevel präsentiert und man das Ausgestellte erst ,richtig‘ verstehen kann, wenn es durch eigenes Wissen ergänzt wird, sind nach Ecos Meinung diese Museen darum bemüht, das Dargestellte um eine abgeschlossene Ähnlichkeit und sinnliche Erfassung des Gegenstands zu erweitern. Der historische Bezug zur Viktorianischen Ära fungiert im Great Victorian Village vor allem als Ideenspender für das Thema eines Vergnügungsparks, so wie die Disneyfilme und ihre Phantasiewelten das kreative Ausgangsmaterial für die Vergnügungsevents in Disneyland lie-

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Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 62. Vgl. Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 93. Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 63. Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 53. 208

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fern, in denen die fiktiven Welten zu Museen „lebendiger Tatsachen“65 werden. Das Spiel mit der Heimlichkeit und der Anzüglichkeit, die das Viktorianische Zeitalter mit seiner Prüderie und Bigotterie hervorgebracht hat, befriedigt zwar eine Art ,historischen Voyeurismus‘ des modernen Village-Besuchers, dem es Spaß macht, sich in den Kulissen, die er als solche erkennt, die er aber im Moment der Konsumption als real wahrnimmt und sich in ihnen bewegt ohne ihre Künstlichkeit zu reflektieren, aber er scheut jegliche Auseinandersetzung mit historischen Feinheiten oder kulturtheoretischen Reflexionen. Ihm geht es um das pure Vergnügen, um die Nutzungsmöglichkeit des Great Vicorian Village als ,Konsumtempel‘.66 Genau wie die realen Vergnügungsparks stellt das Village der Management Incorporated eine „höchst gelungene kommerzielle Realität“67 dar, in die sich der Besucher „dank seiner eigenen Echtheit als Konsument“68 ganz eingetaucht sieht. Innerhalb dieser hyperrealen Welt werden die Subjektbewegungen nach strengen Vorgaben geregelt, die sich an der Befriedigung der Konsumentenwünsche orientieren. Wie Eco es paradigmatisch für Disneyland beschreibt, gilt es auch für das Great Victorian Village: Es ist ein Ort der totalen Passivität. Seine Besucher müssen bereit sein, dort wie seine Automaten zu leben; der Zugang zu jeder einzelnen Attraktion ist streng geregelt durch Absperrgitter, Metallrohrgeländer und labyrinthisch verschlungene Gänge, die jeden Ansatz zu eigener Initiative im Keim ersticken.69

65 Michael Sorkin: „Wir seh’n uns in Disneyland“. In: archplus 24, 114/115, 1992, S. 100-110: 100. 66 Sorkin bemerkt dazu kritisch, dass sowohl Weltausstellungen als auch Disneyland eine „Art Intensivierung der Gegenwart, eine Transformation der Welt durch die exponentielle Vermehrung ihrer Waren“ verkörpern. „Weltausstellungen sind verkleinerte Darstellungen des ,Weltmarkts‘, transnationale Einkaufszentren. In Disneyland wird dieser monumentalisierte Konsumfetischismus zu einer Haiku-ähnlichen Quintessenz reduziert.“ In: Sorkin (1992): Wir seh’n uns, S. 102. Und er ergänzt: „Im Disney-Reich schließt sich der Kreis, der mit den Weltausstellungen begann; die Feier der Produktion der Feier. Die Schiene, auf der sich diese Umkehrung vollzieht, ist die fundamentale Entfremdung des zum Konsumenten gewordenen Produzenten, der zu den Bewegungen und Phantasievorstellungen eines anderen tanzt.“ In: Sorkin (1992): Wir seh’n uns, S. 106. 67 Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 81. 68 Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 63. 69 Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 87. 209

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Das Great Victorian Village wird zu einer Semiophore im pomianschen Sinne, in welcher der durchreisende Tourist durch die „fast schon, ,fleischlich‘ gewordene Reproduktion“70 das im Raum und in der Zeit entfernt Liegende in einer musealisierten Form erfahren kann: Durch das Spiel der Imitationen und Kopien gelingt es der Industrie des absolut Falschen, dem Mythos von der Unsterblichkeit einen Anschein von Wahrheit zu geben, sie realisiert die Präsenz des Natürlichen í doch das Natürliche ist ,kultiviert‘ wie in den Marinelands.71

Im Gegensatz zur Great Victorian Collection wird das Village zu einem Publikumsmagneten: „Very few people are interested in art works of any kind. What they want is a show, something spicy and interesting. That’s what we’re giving them down at the Village.“ (VC 192) Beworben wird Carmel, der Ursprungsort der Sammlung, vom Tag der Eröffnung des Great Victorian Village an auf Werbetafeln als „Home of the Great Victorian Collection“ (VC 188). Diese werden an den kalifornischen Autobahnen aufgestellt und fordern den Durchreisenden zum Besuch auf: „There was no need in further information. Hickman had copied this form of advertising from Disneyland. Disneyland is known. It is not necessary to explain what it is in billboard advertising.“ (VC 188) Zum Markenzeichen des Erlebnisparks wird, wie Mickey Mouse für Disneyland, die Fassade des Südporticos des Crystal Palace der Weltausstellung in London: „All print advertising, television commercials, bumper stickers, key rings, or whatever, feature this portico.“ (VC 172) Am Eingang des Great Victorian Village wird er sogar in einem kleineren Maßstab, und gerade noch als Kopie seines historischen Vorgängers erkennbar, nachgebaut. Was dieser amerikanisch-,viktorianische‘ Vergnügungspark mit dem historischen Crystal Palace teilt, ist eine funktionale Neuzuweisung nach einer geografischen Veränderung. Genau wie das Great Victorian Village, welches räumlich entfernt von der Carmel-Sammlung an einem verkehrstechnisch günstig gelegenen Ort mit der Intention erbaut wird, potenziellen Besuchern einen Raum des Vergnügens zu bieten, gilt auch für den Crystal Palace. Dieser wurde nach der Weltausstellung von 1851 im Hydepark abgebaut und drei Jahre später in etwas größerer Form in Sydenham neu eröffnet.72 Und genau wie das Victorian Village wurde 70 Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 94. 71 Eco (1985): Reise ins Reich der Hyperrealität, S. 97. 72 Vgl. dazu James R. Pigott: Palace of the People: The Crystal Palace at Sydenham 1854. London: Hurst 2004. Vgl. dazu den Bildband von Ian Leith, in dem Fotos des Crystal Palace der Weltausstellung neben denen der 210

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auch der nachgebaute Crystal Palace zu einem Ort der Unterhaltung, an dem der Konsument die Erfahrung einer ,anderen‘ Welt machen konnte, in die er durch sein Konsumverhalten Eintritt erhielt. Aus historischer Perspektive betrachtet steht er als Symbol für den Eintritt ins Zeitalter des Konsums, in dem es so scheint, als könnten alle Wünsche des Menschen befriedigt werden, wenn er nur das nötige Geld dafür hat. Bereits in Fjodor M. Dostojewskis Essay Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke73, in dem er eine Auslandsreise74 durch Frankreich, England, Deutschland und Italien im Jahr 1862 beschreibt, wird der neu errichtete Crystal Palace in Sydenham erwähnt. Im Kapitel „Baal“, welches primär Dostojewskis Eindrücken seines achttägigen Aufenthalts in London gewidmet ist, wird das Symbol der Weltausstellung von 1851 zur Metapher, um die Übergröße einer äußeren Welt darzustellen, die im Zeitalter des Kapitalismus kollektives Glück verspricht und gleichzeitig die Beschränkungen der individuellen Freiheit durch die Gesetze der globalen Kapitalwirtschaft inkludiert. Durch die industrielle Revolution, die die Kommerzialisierung der westlichen Welt vorantreibe, so Dostojewski, sei die Bedeutung des persönlichen Glücks hinter dem kollektiven zurückgefallen bzw. werde durch die von außen wirkenden Positionen der Gesellschaft bedroht. Deswegen sei es umso wichtiger, sich selbst nie zu verlieren und auf der eigenen Freiheit zu beharren, auch wenn dies bestraft werde.75 Dieses literarische Dokument macht auf die Auswirkungen einer kulturellen Entwicklung aufmerksam, die traditionelle Werte und Moralvorstellungen zugunsten eines konsumorientierten Lebens vernachlässigt. Peter Sloterdijk nimmt in seiner Globalisierungskritik konkret Bezug auf Dostojewskis Essay. Er sieht im Crystal Palace einen „starke[n] Indikator für den Trend, die Welt insgesamt in ein Erlebnisenvironment zu transformieren“76 und in Dostojewskis Kulturkritik

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Nachbildung in Sydenham vom Fotografen und Zeitzeugen Philip Henry Delamotte abgebildet sind. In: Ian Leith: Delamotte’s Crystal Palace. A Victorian Pleasure Dome Revealed. Swindon: English Heritage 2005. Fjodor M. Dostojewski: Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1962. Dostojewski, der seine Reise mit der Intention unternommen hatte, sich im Sinne des Panslawismus auf ,urrussische‘ Werte zu besinnen, um eine kulturelle, religiöse und politische Einheit aller slawischen Völker Europas zu erschaffen, stellt die Materialität der westeuropäischen Bourgeoisie in den Fokus seiner Kritik. Vgl. Dostojewski (1962): Winterliche Aufzeichnungen. Vgl. dazu auch: Peter Sloterdijk: „Architektur ist ein Teil der Immunitätskultur“. In: archplus 36, 169/170, 2004, S. 100-105. Sloterdijk (2004): Architektur, S. 100. 211

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„die Geburtsstunde der Globalisierungsgegnerschaft“77 in der Reiseliteratur. Ausgehend von dem Gedanken, dass Realität ein Konstrukt und keine feststehende, verlässliche Größe ist, transportiert Brian Moores Roman eine Reihe kulturkritischer Positionen. Hyperreale Welten des 20. und 21. Jahrhunderts í deren literarische Stellvertreter das Great Victorian Village ist í sind zu einem festen Bestandteil der westlichen Kultur geworden, und breiten sich im Zuge der Globalisierung auch in anderen Ländern und Kulturkreisen aus. Sowohl auf der Handlungsebene des Romans als auch im sozialgeschichtlichen und kulturellen Kontext wird der Crystal Palace somit zum Symbol, an dem sich paradigmatisch eine Änderung kultureller Praktiken und Gewohnheiten innerhalb der Gesellschaft nachvollziehen lassen. Er steht einerseits für die Liberalisierung der Bildungspolitik einer elitären Gesellschaft, in der das Museum zu einer allgemein zugänglichen Bildungsinstitution wird und zu einem Ort interkultureller Kontakte. Andererseits repräsentiert er eine Hinwendung der Gesellschaft zur Event- und Unterhaltungskultur und zur Schnelllebigkeit, in der zunehmend auf Traditionsverhaftungen verzichtet und in der bildungsorientierte Wissensvermittlung marginalisiert wird. Ein Verlust von Wertschätzung originaler Kunstwerke und geistiger Schöpfungen kann, wie Moore es anhand des Beispiels von Anthony Maloneys Erschaffung der Great Victorian Collection deutlich macht, damit einhergehen. Der Anspruch auf Einmaligkeit eines Kunstwerks kann im Zeitalter medialer Globalisierung, in dem alles Ereignishafte als Zirkulation von Bildern prinzipiell an jedem Ort und zu jeder Zeit auf ,Abruf‘ gehalten werden kann, hinter dem Wunsch, Teil einer hyperrealen Welt zu werden, verblassen.

Die Interdependenz zwischen Sammler und Sammlung Der Monitortraum î der ,Sieg‘ der Sammlung über den Sammler Die Great Victorian Collection, Anthony Maloneys Schöpfung, verliert zunehmend an Bedeutung und ,verblasst‘ hinter dem Erfolg, den das Great Victorian Village, gemessen an seinen Besucherzahlen, verbuchen kann: „Indeed, as the month passed, it became apparent that, of the thousands of tourists who came to Carmel to view the Collection, a surprising number spent most, if not all of their time in the Village.“ (VC 190) Be-

77 Sloterdijk (2004): Architektur, S. 100. 212

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sonders nachdem die kalifornische Zensur das Züchtigungszimmer, die erotische Bibliothek und die Sammlung pädophiler Fotografien für die Öffentlichkeit geschlossen hat, kommen kaum noch Besucher í und wenn doch, dann nur, um Maloneys Motelzimmer und den Schöpfer selbst zu sehen. Das Interesse an den originalen Objekten verlöscht, dagegen wird Anthony Maloney zu einer Projektionsfläche für die Besucher: Er ist das lebende Beispiel für die Erfüllung des American Dream. Die Materialisierung seines Traums drückt aus, dass jeder es schaffen kann, wenn er nur will. Maloney wehrt sich gegen die Vermarktung seiner eigenen Person, lehnt sie kategorisch ab: „,[T]his isn’t a circus. I’m not a freak, I’m an ordinary person.“ (VC 191) Management Incoporated reagiert darauf mit „Tony’s dream room“, einer weiteren hyperrealen ,Welt‘, deren Ausstattung den erwarteten Annahmen der Besucher entgegenkommt: „All these motel rooms look much the same, so let’s furnish one of them with some books and stuff and exhibit.“ (VC 192) Die gefälschte, übertriebene Authentizität dieses Raums, in dem sich der genialische Schöpfungsprozess ereignet haben soll, erfüllt die Klischees eines Gelehrtenzimmers und soll eine potenzielle Erwartungshaltung des Konsumenten befriedigen. Durch seine Verweigerung entzieht sich Maloney endgültig allen marketingstrategischen und kommerzorientierten Interessen, die das Konsortium vertritt: „[T]he question of Maloney’s making personal appearances was not raised again.“ (VC 192) Letztendlich führt dieser Ausstieg den Schöpfer der Sammlung aber wieder an seinen Ausgangspunkt zurück: Er steht allein mit seiner Sammlung, und nur er leidet unter ihren Auflösungserscheinungen. Für alle anderen ist das schöpferische Produkt unwichtig geworden. Diese Veränderung der Sammlungsobjekte kann parallel zum unaufhaltsamen Selbstentfremdungsprozess des Protagonisten gelesen werden, der schließlich zu dessen Selbstmord führen wird. An ihm wird paradigmatisch das Ringen des Menschen um Identität in einer kommerzialisierten Welt verhandelt.78 Zu Beginn der Handlung wird bereits der Einfluss des öffentlichen Interesses auf die Beschaffenheit der Sammlung betont: „The objects he had photographed seemed to shimmer, fade for a moment, then reappear, not as they had been before but with a slight difference in their texture. 78 In Fjodor M. Dostojewskijs Erzählung „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“, in welcher ein entwurzelter Ich-Erzähler, Kollegienassessor in St. Petersburg, gegenüber seiner rationalisierten Außenwelt í symbolisiert im Crystal Palace der Londoner Weltausstellung í trotz aller Entfremdung eine subjektive, unsinnig-paradoxe Grundhaltung zu bewahren sucht, findet sich diese Thema ebenfalls. Vgl. Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam 2003. 213

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[…] It was as though, by being photographed, they had lost their natural freshness.“ (VC 33) Parallel dazu verschlechtert sich Maloneys Gesundheitszustand und psychische Verfassung. Je länger er die Vermarktung seiner Schöpfung zulässt, desto schlechter wird sein Gesundheitszustand: „Mirrored in the cold hygienic lights, his naked body seemes angular and ungainly, his face a Judas face, already trapped in damaging admission.“ (VC 43) Der Verrat an seiner künstlerischen Schöpfung, den Maloney durch die Judas-Metapher selbst benennt, beschäftigt ihn: „I’m already ,betraying‘ the Collection. […] I’ve sold an option on it to a consortium of businessmen headed by my agent. They’re paying all my operating exposes for six month in exchange for first refusal on exhibition rights.“ (VC 97) Die Sammlung ist das alles beherrschende Element in Maloneys Leben. Auch nachts wird sein Schlaf durch die Sammlung bestimmt, wenn er immer denselben wiederkehrenden Traum hat: In his dream, he patrolled his creation, awed at what we had wrought, watching over it, admiring it, guarding it. If it was not wholly original in concept, it was, nonetheless, his own. He had dreamed it into existence and now he dreamed that he guarded it. He was its owner and its custodian. He dreamed all night. And, in the morning, woke.“ (VC 45)

Das Verantwortungsgefühl, welches er gegenüber seiner Sammlung empfindet, wird immer stärker. Die Möglichkeit einer Rückkehr nach Montreal hält er für ausgeschlossen: „How could anyone abandon such things? It would be worse than neglect: it would be a crime.“ (VC 118) Doch er beginnt gleichzeitig die Sammlung zu hassen í diese unbelebte „series of empty rooms“. (VC 118) Er will sich von ihnen trennen und beschließt deswegen, sie zu hassen: But how could he go on living with set of statues? A man must live with a real woman. How could anyone spend his life wandering, night after night dreaming the same dream? After six months, after a year, he would no longer be able to look at all this. He would grow to hate. (VC 119)

In der darauffolgenden Nacht ändert sich der Sammlungstraum: Der neue Traum beginnt mit einer Erinnerung Maloneys an jenen Abend, an dem er Mary Ann in dem viktorianischen Schlafzimmer überrascht und ihr unentdeckt beim Auskleiden zugeschaut hatte. Er sieht ihre nackte Gestalt im Ankleidespiegel, aus dem sie langsam verschwindet, und den er weiter anzustarren gezwungen ist, bis aus ihm ein Überwachungsmonitor wird:

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In dream, he stared at this screen, hoping to see her [Mary Ann; Anm. M. W.] reappear. Instead he was presented with a long view of one of the aisles of the Collection. For thirty seconds the scene remained stationary. Then, with a flick of the picture, the camera eye moved on to scrutinize another aisle. Maloney lay in his bed, forced to monitor this dream monitor. […] Trapped, unable to deflect his gaze or turn off the monitor, he lay for eight hours, a prisoner of this banal and terrible spectacle. (VC 120-121)

Aus dem Sammlungstraum wird ein albtraumhafter Monitortraum. Er formuliert die Angst des Sammlers vor dem Verlust: Der „thelepathic theft“, der sich davor fürchtet, bestohlen werden zu können. Und gleichzeitig drückt sich in ihm die Transformation der Sammlung in eine Art ,Supermarkt‘ aus í etwa in der Form, wie er innerhalb des Great Victorian Village eröffnet wurde. Seine Überwachung erfolgt wie auf einem Monitor in einem Supermarkt durch ihren ,Produzenten‘. Maloney kann nicht akzeptieren, was er geschaffen hat: Die Sammlung, die er zunächst beschützen, kontrollieren und besitzen wollte, welche in seinem Traum und in der Wirklichkeit parallel im selben Zustand existierte, wird ihm nach und nach durch seine Umgebung, die er selbst beauftragt hat, entzogen. Sie wird zu einem frankensteinschen Geschöpf, welches die Macht über sein Leben ergreift und das die Zerstörung ihres Schöpfers fordert. In diesem Traum werden die weiteren Geschehnisse bereits angekündigt: Die Sammlung siegt über das Begehren Maloneys zu Mary Ann. Sie lässt sich nicht aus dem Leben ihres Schöpfers verdrängen und wird zu einem mächtigen Geschöpf, welches alles andere aus seinem Leben beseitigt und durch Maloneys Willenskraft nicht beeinflusst werden kann: „He had thought he could destroy it at will. All he had to do was run away. But now he knew there would be no easy escape. The destruction of the Collection would take years. It would die a lingering death, in continuing reproach to his neglect and indifference.“ (VC 143) Dieser Traum bedeutet einen entscheidenden Moment in der Entwicklung des Geschehens. Maloney wird bewusst, dass er ein Gefangener der Sammlung ist, und er beschließt, gemeinsam mit Mary Ann und Vaterman nach Los Angeles zu fliehen. Von der Sammlung räumlich getrennt, bleibt ihrem Schöpfer jedoch jeglicher Schlaf verwehrt: „Nembutals, drink, exhaustion: it had to work. But it did not.“ (VC 151) Auch die anschließende Flucht nach Montreal, die er spontan mit Mary Ann in Los Angeles beschließt, ermöglicht ihm nicht die Erfüllung seiner Wünsche. Weder kann er schlafen noch sich von seinem Gefühl der Fremdheit befreien: „In all these years he had moved anonymous in the veins of these streets, a microcosmos of his city. But tonight he had lost that anonymity and, in losing it, had become estranged.“ (VC 155) Alles hat sich geändert: Er wird in Montreal als berühmte Persönlichkeit empfangen, in ei215

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ner besonderen Hotelsuite untergebracht, von altbekannten Freunden umworben. Nichts wird so, wie er es erwartet hat. Auch die Beziehung zu Mary Ann scheitert, weil es Maloney nicht gelingt, während des ersten und einzigen Liebesakts, der zwischen ihnen stattfindet, auf sie einzugehen und sie zu befriedigen. Die Realität und Wahrhaftigkeit der körperlichen Begegnung reißt ihn jäh aus seiner Vorstellung, in der er Mary Ann als viktorianisches Dienstmädchen begehrt: „He summoned up those first erotic memories of her, recasting her in the rooms of the Collection where he had seen her naked, reliving his fantasy of her as a serving girl í innocent, gentle, frail í lying now on her attic bed, obedient to her employer’s lust.“ (VC 162) Der Geschlechtsakt wird zu einem weiteren unbefriedigenden Moment in Maloneys Leben, den Mary Ann abrupt beendet: „[H]e attempted to give her pleasure, but, as if by his untimely climax he had confirmed her worst self-doubts, she pushed him away and set up.“ (VC 163) Die Flucht endet, als Maloney erkennt: „There could no longer be any real life for him í no life at all apart from the Collection. There would be no new dream, here or elsewhere. Even sleep might be impossible, away from Carmel.“ (VC 159) Zurück in Carmel nimmt Maloney die Sammlung erstmals als das wahr, was sie ,wirklich‘ ist: „[A] faëry place, ringed around by spells and enchantments, a web of artifice as different from the reality it sought to commemorate as is poem about spring itself.“ (VC 168) Und er stellt sich im Kontext dieser Erkenntnis die Frage, ob die Sammlung nicht vielmehr angefangen habe, ihn zu zerstören: „But what if the Collection […] had, with true artifice, begun to destroy him?“ (VC 169)79

Die Transformation der Dinge Auf der Ebene der Dinge spiegelt sich der Transformationsprozess ebenfalls wider: Diese verlieren ihren Glanz und ihre Authentizität í sie werden künstlicher und synthetischer, offenbaren ihren Fakecharakter, und verweisen auf ihre massenhaften und als schlechte Kopien zu erkennenden Reproduktionen im Great Victorian Village. 79 Während sich der Sammler Utz in Bruce Chatwins Roman dazu entschließt, die Sammlung verschwinden zu lassen, sie vielleicht sogar zu zerstören, verhält es sich hier anders. In Brian Moores Roman stirbt der Held: Der Schöpfer wird durch die Macht seiner eigenen geistigen Schöpfung zerstört. Auch auf einer weiteren Ebene bedeutet dieser Handlungsverlauf einen unerwarteten Zirkelschluss, denn hier geht nicht nur dem Erzählen eine Verlusterfahrung voraus, hier wird das Subjekt am Ende durch die Objekte seiner eigenen Sammlung zerstört. 216

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Als Maloney Mr. Bourget aus Los Angeles anruft, um sich nach dem Zustand der Great Victorian Collection zu erkundigen, erfährt er: „It’s as if the objects I examined just now were a little í shall I say í a little more worn than before. […] They seem faded.“ (VC 141) Maloney fragt sich, ob er für den Auflösungsprozess verantwortlich ist und es irritiert ihn, dass dieser sich nicht in einem altersbedingten Stumpfwerden der Objekte oder einer Patina zeigt, die in vielen Fällen die Schönheit eines Kunstwerks noch verstärkt, sondern dass der partielle Verfall, der paradigmatisch an der materiellen Beschaffenheit des Kristallbrunnens nachzuvollziehen ist, die Originalität der gesamten Sammlung infrage stellt: No, there was deterioration: but there was something worse. When, at the end of the main aisle, he reached Osler’s great fountain, he stared at the large polished blocks of glass shaped in myriad curlicues and pilasters. […] These blocks of glass, real and beautiful, had now, among them, some which did not look real. Eerily, certain of the blocks seemed to have the plastic lightness of Lucite, a substance unknown in Victorian times. Yet they were glass. It seemed to him that these false-looking blocks now stood out as obvious imitations, blatant shams, marring the perfection of the others. (VC 165-166)

Die Angst, die Maloney seit dem Zeitpunkt beherrscht, an dem er den Aufdruck „Made in Japan“ unter der hölzernen Feuerspritze entdeckt hat, verstärkt sich. Die Frage danach, ob es sein Fehler ist, dass die Sammlung zerfällt, quält den Schöpfer immer mehr. Die immer kürzer werdenden Eintragungen in seinem Tagebuch spiegeln die geschwächte körperliche und geistige Verfassung Maloneys. Er wünscht sich, vergessen zu können í also genau das, was er zu Beginn der Ereignisse am meisten gefürchtet hat: „I have begun to want that state of forgetfullness as I never wanted any other sensation.“ (VC 194) Die Erfahrung, die Maloney macht, lässt sich auf jedes Produkt eines künstlerischen Schaffensprozesses übertragen; es entzieht sich dem Einfluss und der Verantwortung seines Schöpfers ab dem Zeitpunkt, an dem es zur öffentlichen Rezeption und Interpretation freigegeben wird. Dem Künstler wird die Verantwortung für sein Produkt entzogen und es wird in der jeweiligen Rezeption des Rezipienten zu etwas anderem. Zerstört werden kann das Produkt, wenn es einmal Teil der öffentlichen ,Welt‘ geworden ist, nicht mehr. Auf der narrativen Ebene verweist Brian Moore auf den Gedanken der unzerstörbaren Sammlung, indem er schildert wie Anthony Maloney verzweifelt und erfolglos versucht, diese in Brand zu stecken: „,Look at that […] It’s not flammable, none of it is flammable. It should be flammable, but it’s not. It’s not permitted, do you see?“ (VC 199)

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SCHLUSSWORT „Zäher Staub hatte leichte Schleier über all die Dinge gebreitet“,1 heißt es in Honoré de Balzacs Roman Die tödlichen Wunden zu Beginn der Szene, in der ein junger, zum Selbstmord entschlossener Mann seinen ersten Eindruck über eine unüberschaubar große Menge an Antiquitäten, Souvenirs, Preziosen und Plunder in den Magazinräumen eines Antiquitätenhändlers mitteilt. Beim ersten Hinschauen sind alle Dinge í denn dafür zeugt die Staubschicht í mit demselben Schleier des Nicht-beachtetWerdens überzogen. Es bedarf eines Subjekts, welches sich ihnen zuwendet und sie narrativiert, um ihnen so Bedeutung zu verleihen. Bei Balzac geschieht dies durch die Figur des jungen Dichters: Der Wunsch, der ihn in diese Magazine getrieben hatte, war gestillt. Er war aus der Wirklichkeit fortgegangen, die Stufen zu einer idealen Welt emporgestiegen […]. Hier hing eine lateinische Herrscherin ihren verliebten Träumereien nach, aus ihrem Bilde atmete das kaiserliche Rom […]. Er berührte ein Mosaik aus verschiedenfarbigen Lavastücken vom Vesuv und Ätna, und seine Seele flog in das heiße Italien […]. Hier zeigte eine Wachsfigur aus dem Kabinette des Ruysch ein schlafendes Kind í und das bezaubernde kleine Geschöpf mahnte ihn an die Freuden seiner eigenen frühen Jahre.2

Ein kleiner Ausschnitt über die Wirkung der zahlreichen Semiophoren auf das Gemüt des Betrachtenden wird hier wiedergegeben. Es verdeutlicht jedoch, dass die Bemächtigung von ,Welt‘ í so wie James Clifford es beschrieben hat í durch Dinge stattfindet. Diese aber nicht als Beweise für Objektivität zu sehen, die sie durch ihre Materialität und der damit einhergehenden Präsenz vermeintlich versprechen, zeigen Untersuchungen wie die von Mieke Bal3 gezeigt. 1 2 3

Honoré de Balzac: Die tödlichen Wunden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 28. Balzac (1981): Die tödlichen Wunden, S. 28-31. Mieke Bal bezieht sich in ihrer Studie u. a. auf die Untersuchungen von James Clifford, Susan Pearce und Jean Baudrillard und macht deutlich, dass Dinge erst durch ihre Einordnung in einen kulturellen, historischen, sozialen, geschichtlichen oder philosophischen Kontext verständlich werden. Dass sie zwar immer in ihrer Materialität existieren, aber erst durch ei219

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Doch nicht nur Dinge für sich allein betrachtet erzählen von anderen Kulturen und Religionen, lassen Erinnerungen aufkommen oder wecken das Interesse an den Künsten vergangener Epochen. Musealisiert man Dinge, indem man sie sammelt, ordnet und in einem Museum, einer Ausstellung oder einer Privatsammlung präsentiert, ergeben sich neue Narrative, die gelesen werden können. Dies gilt für ,erzählte‘ Museen ebenso wie für reale: Sie können, das hat die Untersuchung gezeigt, ironisieren, kritisieren und Fragestellungen eröffnen, deren Beantwortung bestimmte kulturelle Verhältnisse, soziale Gefüge, psychologische Strukturen und politische Zusammenhänge aufzeigen. Museen in fiktionalen Texten semantisieren die Dinge, die in ihnen ausgestellt werden, und geben ihrerseits Semantisierungen zu lesen. Ihre Lektüre eröffnet Möglichkeiten, Einblicke in die Psyche ihrer Kuratoren zu erhalten, die als Archivare, Chronisten und Erfinder imaginierter oder realer Museums- und Textwelten tätig sind. Das archivierende, dokumentierende, erinnernde, erzählende, schreibende, sammelnde, neu erfindende, künstlerisch wirkende Subjekt wird zum perspektivischen Zentrum von Erzählungen, in denen das Museum bewusst zerstört wird (Lenz), das Museum zum Austragungsort von Erinnerungen gewählt wird (Kaschnitz), dezidiert Museen abgelehnt werden (Utz) oder Museen neu erfunden werden (Weschler und Moore). Literarische Museen können Austragungsorte für die tief greifende Dialektik zwischen dem Erinnern und dem Vergessen werden wie es zum Beispiel Siegfried Lenz im Heimatmuseum und Marie Luise Kaschnitz im Haus der Kindheit schildern. Erstgenannter Roman bringt den Text und das Museum über Museumsexponate, die Erinnerungen reproduzieren, zusammen und schreibt sich als literarischer Beitrag in Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurse ein. In ihrem narrativen Entwurf einer Erinnerungs- und Gedächtnismetaphorik, die mit den institutionsgebundenen Vorstellungen, welche an ein Museum gekoppelt sind, vereint wird, verbinden sich intertextuelle Bezüge zu den kaschnitzschen Werken sowie zu Schriften wie denen von Walter Benjamin, Paul Valéry oder André Malraux zu einer Vorstellung von Erinnerung, die durch die Denkfigur des Bruchs und die Merkmale der Diskontinuität, Unvollständigkeit und Verschwommenheit gekennzeichnet ist. In ihr wird der Anspruch einer restlosen Vergegenwärtigung von Erinnerung, wie sie in der antiken nen subjektgesteuerten Zugriff lesbar werden. Vgl.: Mieke Bal: „Vielsagende Objekte. Das Sammeln aus narrativer Perspektive“. In: Dies.: Kulturanalyse. Hg. v. Thoman Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 117-145. Vgl. dazu auch: Gisela Ecker und Susanne Scholz: „Einleitung: Umordnungen der Dinge“. In: Dies. (Hg.): UmOrdnungen der Dinge. Königstein/Taunus: Helmer 2000, S. 9-17: 9-10. 220

SCHLUSSWORT

Mnemotechnik, die Kaschnitz durch die topologische Ausformung des Erinnerungs- und Gedächtnisortes der Protagonistin zitiert, destabilisiert. Das Sich-selbst-Erzählen in Form von tagebuchartigen Textminiaturen im Anschluss daran ist ein Prozess der Selbstvergewisserung, der auf systemische und begründete Zusammenhänge verzichtet. Das Tagebuch übernimmt für die Protagonistin eine Gedächtnisfunktion und soll so dem erneuten Verlust der Kindheitserinnerungen entgegenwirken. Ist bei Kaschnitz durch die Konstituierung des Museums als Topos der Erinnerung in der Vorstellung der Protagonistin eine Erinnerungsmöglichkeit überhaupt erst gegeben, so lebt bei Lenz das niedergebrannte, reale Heimatmuseum durch die Erinnerungen des Protagonisten wieder auf. Ein Heimatmuseum ist eine ganz besondere Museumsform, in der eine subjektive, patriotische Auseinandersetzung mit der Historizität und der Bedeutung von Dingen, die mit ,Heimat‘ aufgeladen sind, praktiziert wird. ,Heimat‘ als diskursives Phänomen verstanden, schließt Heimatmuseen als Austragungsorte von Konflikten mit ein. Die ,Heimat‘ wird in ihnen gesammelt. Die Dinge in Zygmunt Rogallas Heimatmuseen verfügen dabei über eine ganz besondere ,Aura‘: Aufgrund ihrer durch die Flucht und den Brand bedingten Entfernung aus ihren lebensund alltagsweltlichen Kontexten, verweisen sie als Semiophoren auf etwas, das in der Realität nicht mehr existiert. Rogallas ,Kopfmuseum‘ konstituiert sich durch das Erzählen über die Objekte und die daran geknüpften ,Lebens‘-Geschichten in den realen Museen. Sie lassen Bilder der masurischen ,Heimat‘ des Helden vor dem geistigen Auge der Leserin respektive des Lesers entstehen. Dabei soll das Erzählen den Verlust von ,Heimat‘ kompensieren, und zugleich den zerstörerischen Akt, der dem Erzählen vorausging, rechtfertigen. Die Idee der Sammlungszerstörung schafft eine Parallele zwischen dem Heimatmuseum und Bruce Chatwins Roman Utz. Lenz’ Protagonist Zygmunt Rogalla zerstört das Museum, das er an seinem neuen Wohnund Lebensort aufgebaut hat, bevor es den nationalsozialistisch durchsetzten Ideen seines ehemaligen Freundes Conny Karrasch zum Opfer fällt. Er kann den Gedanken an eine Neukontextualisierung und semantische Umschreibung der musealen Objekte nicht ertragen und will sie den schädigenden Einflüssen entziehen. Aus einer von ihm hoch geschätzten und friedlichen ,Traditionsbewahrungsstätte‘ soll kein ideologisch missbrauchter Ort werden. In Bruce Chatwins Roman geht es hingegen um die Zerstörung respektive das Verschwinden einer Sammlung zu ihrem eigenen Schutz. Der Sammler Utz, der das Museum als Ort für seine Privatsammlung ablehnt, entzieht dem totalitären, kommunistischen Staat damit den Einfluss auf seine kostbaren Figurinen, die für ihn ,lebendig‘ sind. Er will sie vor ihrem Tod im Museum bewahren, den sie aus seiner

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Perspektive hinter den Glasscheiben einer Museumsvitrine erleiden müssten. In Lawrence Weschlers Literarisierung des „Museum of Jurassic Technology“ von David Wilson entpuppt sich der Museumsbesitzer und Kurator als begabter und belesener Künstler, der das Spiel mit den Signifikanten und eine damit einhergehende Veränderung des Referenten meisterhaft beherrscht. Dabei konfigurieren die Dinge in Lawrence Weschlers Cabinet of Wonder eine Aussage, die als Metapher für eine Haltung gegenüber der Welt gelesen werden kann. Das Aufeinander-inBezugsetzen von Zusammenhängen, die keinen Sinn ergeben, die Konstruktion von Kunstwerken, deren vornehmste Intention der ironische Kommentar ist, lassen Museumsexponate entstehen, die subversiv wirken. Sie fordern die Besucherin bzw. den Besucher heraus, Fragen nach ihrer Sinnstiftung und Referenzialität zu stellen. Das Fake als Mittel der Parodie soll sie lehren, dass Skepsis ein wichtiges heuristisches Instrument ist: denn nur wer zweifelt, kann staunend lernen. Jedes einzelne Objekt wirft für sich genommen schon die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit auf und trägt zu der Schlussfolgerung bei, dass die Welt in David Wilsons Wunderkammer nicht mehr wie in ihren historischen Vorgängern in ihrer Gesamtheit ausgesagt wird, sondern dass hier vielmehr die Heterogenität der heutigen Welt betont wird. Hervorgebracht durch ein raffiniertes Ausstellungskonzept, welches sich aus der Reibung zwischen Wirklichkeit und Phantasie speist, lässt David Wilson seine Besucher im greenblattschen Sinne staunen. Doch nicht nur Lawrence Weschlers Text schreibt sich auf vielen Ebenen in die Diskurse über Repräsentation, Besitz, Authentizität und Fälschung ein. Ausgehend von dem Gedanken, dass Realität ein Konstrukt und keine feststehende, verlässliche Größe ist, transportiert auch Brian Moores Roman The Great Victorian Collection kulturkritische Positionen. Genau wie das Museum David Wilsons ist auch die viktorianische Sammlung Anthony Maloneys das Produkt eines künstlerischen Akts. Vor diesem Hintergrund werden Fragen des musealen Ausstellens, des Bewahrens, Dokumentierens, der kollektiven Bedeutungsgebung und Wertkonsolidierung verhandelt, wenn in Moores Roman die geistige Schöpfung einer Sammlung ihre konsequente Fortschreibung in einem Vergnügungspark í der Erschaffung einer hyperrealen Welt í findet. Moore bezieht sich in The Great Victorian Collection auf die Diskurse der Massenkonsumtion und der Kunst als Ware, in denen die Fragen nach Originalität und Reproduktion zum Problem für den geistigen Urheber eines künstlerischen Werks werden, und rückt den Roman dadurch in seiner Gesamtaussage nah an die Globalisierungsphänomene der heutigen Zeit.

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LITERATURVERZEICHNIS Primärliteratur Chatwin, Bruce: Utz. London: Vintage 2005. [1988] Kaschnitz, Marie Luise: Das Haus der Kindheit. München: dtv 1995. [1956] Lenz, Siegfried: Heimatmuseum. München: dtv 121999. [1978] Moore, Brian: The Great Victorian Collection. London: Flamingo 91994. [1975] Weschler, Lawrence: Mr. Wilson’s Cabinet of Wonder. Pronged Ants, Horned Humans, Mice on Toast, and Other Marvels of Jurassic Technology. New York: Random House 1995.

Weitere Primärliteratur Balzac, Honoré de: Die tödlichen Wunden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981. Borges, Jorge Luis: „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“. In: Ders.: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Stuttgart: Reclam 2003, S. 21-40. [Die Originalerzählung erschien 1944 im Erzählband Ficciones unter demselben Titel in der Edition SUR in Buenos Aires.] Calvino, Italo: „Gesammelter Sand“. In: Ders.: Gesammelter Sand. München, Wien: Hanser 1991, S. 9-14. Ders.: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München: Hanser 1983. [Das Original erschien 1979 unter dem Titel Se una notte d’inverno un viaggiatore in Turin bei Giulio Einaudi.] Celan, Paul: „Niemandsrose“. In: Ders.: Sprachgitter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 32002, S. 16. Dostojewski, Fjodor M.: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam 2003. Ders.: Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1962. Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949. Frankfurt/M.: Suhrkamp 92001. [1950]

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Kaschnitz, Marie Luise: Orte und Menschen. Aufzeichnungen. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1991. [1986] Dies.: „Kindheit“. In: Dies.: Überallnie. Gedichte. München: dtv 3 1999, S. 11. [1969] Dies.: „Ich habe ziemlich viel in Tagebuchform geschrieben“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Siebenter Band. Die essayistische Prosa. Hg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 881-882. [um 1969] Dies.: „Das Tagebuch. Gedächtnis · Zuchtrute · Kunstform“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Siebenter Band. Die essayistische Prosa. Hg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1989 [1965], S. 290-304. Dies.: „Erdachtes Museum“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Zweiter Band. Die autobiographische Prosa. Hg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1981, S. 159-161. [1955] Dies.: „Das dicke Kind“. In: Dies.: Das dicke Kind und andere Erzählungen. Krefeld: Scherpe 1951, S. 5-13. Keats, John: „Ode on a Grecian Urn“. In: Ders.: Auf eine griechische Urne. Gedichte. Englisch und deutsch. Übertragen von Heinz Piontek. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1999, S. 84 und 86. Ders.: „Ode to a Nightingale“. In: Ders.: Auf eine griechische Urne. Gedichte. Englisch und deutsch. Übertragen von Heinz Piontek. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1999, S. 88, 90 und 92. Lenz, Siegfried: Fundbüro. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003. Ders.: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. Frankfurt/M.: Fischer 512002. [1955] Moore, Brian: Cold Heaven. A Novel. New York: Plume 1997. [1985] Ders.: Catholics. London: Flamingo 1996. [1972] Mozart, Wolfgang Amadeus: Don Giovanni. KV 527. Komödie für Musik in zwei Akten. [Libretto von Lorenzo Da Ponte.] Stuttgart: Reclam 1997. Orban, Christine: Der Sammler. Berlin: Aufbau 1998. Proust, Marcel: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Frankfurt/M.: Suhrkamp 31999, S. 61-62. [Das Original erschien 1913 unter dem Titel À la recherche du temps perdu: Du côte de chez Swann in den Éditions Gallimard in Paris.] Rilke, Rainer Maria: Letters to a Young Poet. New York: Norton 1934. [Das Original erschien 1929 unter dem Titel Briefe an einen jungen Dichter im Insel Verlag in Leipzig.] Walser, Martin: „Die Rückkehr eines Sammlers“. In: Ders.: Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 31968, S. 57-68.

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LITERATURVERZEICHNIS

Zweig, Stefan: „Die unsichtbare Sammlung“. In: Ders.: Meistererzählungen. Frankfurt/M.: Fischer 2006, S. 408-425.

Sekundärliteratur Abbott, Horace Porter: Diary Fiction. Writing as Action. Ithaca, NY: Cornell UP 1984. Ackermann, Kathrin: Fälschung und Plagiat als Motiv in der zeitgenössischen Literatur. Heidelberg: Carl Winter 1992. Altenhofer, Norbert: „Sibyllinische Rede. Poetologische Mythen im Werk von Marie Luise Kaschnitz“. In: Horst Dieter Schlosser und Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Ernst Jandl, Uwe Johnson, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Lenz, Paul Nizon, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Christa Wolf und andere Beiträge zu den Frankfurter PoetikVorlesungen. Frankfurt/M.: Athenäum 1988, S. 27-45. Améry, Jean: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett 1977, S. 74-101. Applegate, Celia: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley, Cal. (u. a.): University of California Press 1990. Asman, Carrie: „Orte des Sammelns: Xanadu, Weimar“. In: Aleida Assmann et al. (Hg.): Sammler - Bibliophile - Exzentriker. Tübingen: Narr 1998, S. 211-226. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 2003. Dies.: „Zur Metaphorik der Erinnerung“. In: Dies. u. Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 13-35. Dies. et al. (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992. Ders.: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: Ders. und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 9-19. Augustinus, Aurelius: „Liber undecimus. Elftes Buch“. In: Ders.: Confessiones – Bekenntnisse. München: Kösel 21960, S. 601-671. [um 400]

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236

LITERATURVERZEICHNIS

Plato: „Siebentes Buch. Höhlengleichnis“. In: Ders.: Der Staat. Über das Gerechte. Hamburg: Felix Meiner 81961, S. 268-275. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin: Wagenbach 31997. Ders.: Collectors and Curiosities. Paris and Venice, 1500-1800. Cambridge: Polity 1990. Ders.: „The Collection: Between the Visible and the Unvisible“. In: Susan M. Pearce (Hg.): Interpreting Objects and Collections. London, New York: Routledge 1994, S. 160-174. Ders.: „Das Museum: die Quintessenz Europas“. In: Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit. [Ausstellungskatalog der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn.] Bonn 1994, S. 112-119. Ders.: „Museum und kulturelles Erbe“. In: Gottfried Korff und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt/M., New York: Campus 1990, S. 41-64. Pommier, Edouard: „Museum und Bildersturm zur Zeit der Französischen Revolution“. In: Sigrid Schade et al. (Hg.): Kunst als Beute: zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten. Wien: Turia + Kant 2000, S. 27-44. Pulver, Elsbeth: Marie Luise Kaschnitz. München: C. H. Beck 1984. Quiccheberg, Samuel v.: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat ,Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi‘. Lateinischdeutsch. Hg. und kommentiert von Harriet Roth. Berlin: Akademie 2001. [1565] Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 586-607. (= Elftes Buch, Zweites Kapitel, Vers 1-51; ca. 90 n. Chr.) Reder, Christian (Hg.): Wiener Museumsgespräche. Über den Umgang mit Kunst und Museum. Wien: Turia + Kant 1988. Reichardt, Johanna Christiane: Zeitgenossin. Marie Luise Kaschnitz. New York (u. a.): Lang 1984. Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder. Zum Kunst und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink 2002. Riedl, Joachim (Hg.): Heimat. Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Wien: Brandstätter 1995. Riss, Ulrike: Harlekin. Eine Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum. Wien (u. a.): Böhlau 1984. Ritter, Joachim: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. Münster/Westfalen: Aschendorff 1963. Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974.

237

MUSEEN ERZÄHLEN

Römer, Stefan: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung. Köln: Dumont 2001. Roßnagel, Michael: „Zum Geleit“. In: Ingrid Schaffner und Matthias Winzen (Hg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst. [Anlässlich der Ausstellung „Deep Storage – Arsenale der Erinnerung“ im Haus der Kunst, München (3.8.-12.10.1997) und in der Henry Art Gallery, Seattle.] München, New York: Prestel 1997, S. 6-9. Roth, Martin: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution. Berlin: Gebrüder Mann 1990. (= Berliner Schriften zur Museumskunde, Band 7) Rugoff, Ralph: „Beyond Belief: The Museum as Metaphor“. In: Lynne Cooke und Peter Wollen (Hg.): Visual Display. Culture Beyond Appearances. Seattle, Wash.: Bay Press 1995, S. 68-81. Rumpf, Horst: „Die Gebärde der Besichtigung“. In: Kirstin Fast (Hg.): Handbuch museumspädagogischer Ansätze. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 29-45. Ders.: „Über Spielarten der Aufmerksamkeit gegenüber unbekannten Gegenständen“. In: Julia Breithaupt und Peter Joerißen (Hg.): Museumspädagogen machen (andere?) Ausstellungen. [Publikation im Anschluss an die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprechenden Mitglieder der CECA im ICOM vom 2.5.10.1986 im Stadtmuseum Erlangen.] Düsseldorf 1987. Sachs, Brita: „Zwischengoldgläser. Aus dem Erbe von Utz“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 59, 10.03.2007, S. 44. Dies.: „Auktion. Oh, Rosalia“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 82, 07.04.2007, S. 50. Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. Schlosser, Julius: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Braunschweig: Klinkhardt und Biermann 21978. [1908] Schneede, Uwe M. (Hg.): Museum 2000 – Erlebnispark oder Bildungsstätte? Köln: DuMont 2000. Scholz, Susanne: Objekte und Erzählungen. Subjektivität und kultureller Dinggebrauch im England des frühen 18. Jahrhunderts. Königstein/Taunus: Helmer 2004. Schulz, Eva: „Notes on the History of Collecting and of Museums“. In: Susan M. Pearce (Hg.): Interpreting Objects and Collection. London: Routledge 1994, S. 175-187. Schulze, Marco und Michael Zils (Hg.): Museums of the World. Handbook of Documentation and Information. München: Saur 142007.

238

LITERATURVERZEICHNIS

Schweikert, Uwe: „Das eingekreiste Ich. Zur Schrift der Erinnerung bei Marie Luise Kaschnitz“. In: Ders. (Hg.): Marie Luise Kaschnitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 58-77. Seaman, Lewis C.: Victorian England. Aspects of English and Imperial History 1837–1901. London: Routledge 1995. [1973] Sheehan, James S.: „Von der fürstlichen Sammlung zum öffentlichen Museum“. In: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800. Opladen: Leske + Budrich 1994, S. 856-874. Shelton, Anthony Alan: „Cabinets of Transgression: Renaissance Collections and the Incorporation of the New World“. In: John Elsner und Roger Cardinal (Hg.): The Cultures of Collecting. Cambridge, Mass.: Harvard UP 1994, S. 177-203. Sloterdijk, Peter: „Architektur ist ein Teil der Immunitätskultur“. In: archplus 36, 169/170, 2004, S. 100-105. Sorkin, Michael: „Wir seh’n uns in Disneyland“. In: archplus 24, 114/115, 1992, S. 100-110. Staatliche Museen zu Berlin ಥ Preussischer Kulturbesitz. Institut für Museumsforschung (Hg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2005. Heft 60. Berlin 2006. Stange, Martina: „Die Macht des Hyperrealen: Brian Moores The Great Victorian Collection“. In: Gisela Ecker et al. (Hg.): Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen. Königstein/Taunus: Helmer 2001, S. 59-70. Starobinski, Jean: Das Leben der Augen. Frankfurt/M. (u. a.): Ullstein 1984. Stavenhagen, Kurt: Heimat als Grundlage menschlicher Existenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1939. Stewart, Susan: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. Durham, London: Duke UP 1993 Sturm, Eva: Konservierte Welt. Museum und Musealisierung. Berlin: Reimer 1991. Sullivan, Robert: A Matter of Faith. The Fiction of Brian Moore. Westport, Conn., London: Greenwood Press 1996. Tawada, Yoko: „Der Sammler und der Tod“. In: Gisela Ecker et al. (Hg.): Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen. Königstein/Taunus: Helmer 2001, S. 186-194. Thompson, Michael: Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Hg. v. Michael Fehr. Essen: Klartext 2003. [Das Original erschien 1979 unter dem Titel Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value bei Oxford UP.]

239

MUSEEN ERZÄHLEN

Tucker, Herbert F. (Hg.): A Companion to Victorian Literature and Culture. Malden, Mass. (u. a.): Blackwell 1999. Türcke, Christoph: Heimat. Eine Rehabilitierung. Springe: zu Klampen 2006. Valéry, Paul: „Das Problem der Museen“. In: Ders.: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. Band 6 der Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden. Hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt/M.: Insel 1995, S. 445-449: S. 446. Vogel, Susan: „Always True to the Object in our Fashion“. In: Ivan Karp und Steven D. Levine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display. Washington D. C., London: Smithonian IP 1991, S. 191-204. Wall, Eamonn: „Even better than the Real Thing. Brian Moore’s Great Victorian Collection“. In: Colby Quarterly 4, 34, 1998, S. 303-314. Weidner, Daniel: „,Erstarrte Unruhe‘. Das Bild des Vergangenen bei Walter Benjamin“. In: Roswitha Muttenthaler et al. (Hg.): Museum im Kopf. Wien: Turia + Kant 1997, S. 33-53. Weinrich, Harald: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 32000. Ders.: „Die Sprache des Vergessens“. In: Ders.: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 32000, S. 11-20. Ders.: „Von der Poesie des Vergessens“. In: Ders.: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 32000, S. 175-193. Ders.: „Metaphora Memoriae“. In: Ders.: Sprache in Texten. Stuttgart: Klett 1976, S. 291-294. Werth, Wolfgang: „Bruce Chatwin: Utz“. In: Ders.: Kontingenz und Alterität. Kategorien historischer Erfahrung in der angloamerikanischen Literatur und bildenden Kunst (Bruce Chatwin und Michael Ondaatje). Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, S. 95-116. Wilson, Andrew N.: The Victorians. London: Hutchinson 2002. Wöll, Alexander: „Der Golem. Kommt der erste künstliche Mensch und Roboter aus Prag?“ In: Marek Nekula et al. (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte ಥ Kultur ಥ Politik. München: C. H. Beck 2001, S. 235-245. Wörner, Martin: Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte der Weltausstellungen. Berlin: Dietrich Reimer 2000. Ders.: „Schlaraffenland Weltausstellung“. In: Regina Bittner (Red.): Urbane Paradise. Zur Kulturgeschichte modernen Vergnügens. [Anläßlich der Ausstellung „Paradiese der Moderne“, Stiftung Bauhaus Dessau, 22. Juni bis 14. Oktober 2001.] Frankfurt/M., New York: Campus 2001, S. 126-136.

240

LITERATURVERZEICHNIS

Wohlfromm, Anja: Museum als Medium. Neue Medien in Museen. Köln: Herbert von Halem 22005. Yates, Frances Amelia: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 21991. [Das Original erschien 1966 unter dem Titel The Art of Memory in Chicago in der University of Chicago Press.] Zacharias, Wolfgang (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. München: Selbstverlag Pädagogische Aktion 1988.

241

PERSONENVERZEICHNIS (Die kursiven Zahlen beziehen sich auf Fußnoten.)

Abbott, Horace Porter 101

Baus, Anita 101

Ackermann, Kathrin 156

Baxandall, Michael 28

Altenhofer, Norbert 102

Becker, Bernhard 52

Améry, Jean 66, 47, 65

Beinlich, Horst 176

Applegate, Celia 46

Benedict, Burton 201

Asman, Carrie 125 Assmann, Aleida 76, 86, 28, 63, 84, 87, 98, 125

Benjamin, Walter 21, 106, 121, 126, 128, 138, 183, 189, 191, 220, 15, 16, 53, 98, 119, 129

Assmann, Jan 24, 63

Bennett, Tony 13

Augustinus, Aurelius 90

Benthien, Claudia 27

Bach, Susanne 206

Bergson, Henri 77, 86, 90

Bachelard, Gaston 89, 104

Black, Barbara J. 203

Bachtin, Michail M. 104

Blickle, Peter 47

Bal, Mieke 219

Blom, Philipp 124

Balzac, Honoré de 129, 219

Blumenberg, Hans 106

Baßler, Moritz 27

Böll, Heinrich 34, 65, 69

Baudrillard, Jean 191, 192, 206, 207, 219, 17, 19, 53

Borges, Jorge Luis 151, 173, 178-181, 149

Bauer, Rudolph 46

Breckenridge, Carol A. 201

243

MUSEEN ERZÄHLEN

Bredekamp, Horst 164, 165, 166

Fisher, Philip 137 Fliedl, Gottfried 17, 91, 121, 12, 16, 18, 20, 53, 65, 152, 153, 169

Briggs, Asa 188, 187 Calvino, Italo 138, 151, 175178

Flusser, Vilém 47, 49, 60, 44, 46

Celan, Paul 67 Chatwin, Bruce 26, 29, 111146, 221, 18, 35, 216

Foucault, Michel 23, 24, 173, 203, 25, 51, 169, 174, 205

Cicero, Marcus Tullius 81, 82

Freud, Sigmund 135, 24, 83, 84, 136

Clifford, James 18, 19, 219, 57, 170, 188

Frisch, Max 65, 100 Genette, Gérard 28, 177, 158

Cremer, Will 48 Giangrande/McAlpine 167 Darsow, Götz-Lothar 97 Görner, Rüdiger 46 Daston/Parks 172 Gost, Roswitha 22 Deane, Seamus 190, 193, 200

Grasskamp, Walter 14

Deleuze/Guattari 80

Greenblatt, Stephen 20, 25, 26, 170-172, 175, 222, 13

Dostojewski, Fjodor M. 211, 212, 214

Grote, Andreas 13, 59, 123, 167

Drewitz, Ingeborg 79, 101 Habermas, Tilmann 61, 85 Duncan, Carol 19 Haefs, Hanswilhelm 52 Ecker, Gisela 48, 62, 25, 47, 67, 220

Hahn, Alois 85, 84, 94

Eco, Umberto 154, 176, 203, 207-210, 192

Halbwachs, Maurice 24, 63, 83

Fehr, Michael 11, 21, 155, 161, 162

Harth, Dietrich 24, 98

244

PERSONENVERZEICHNIS

Harvey, Penelope 201

Kohl, Karl-Heinz 11, 13, 168

Hauser, Andrea 23, 167 Köhler, Lotte 79 Heidegger, Martin 80 Korff, Gottfried 15, 18, 53, 59, 95

Helbig, Louis F. 36, 55 Hillebrand, Anne-Katrin 115, 116, 120, 129

Kristeva, Julia 27, 28 Lacan, Jacques 176, 92

Hilpert, Thilo 203, 204 Hobhouse, Hermione 199

Lachmann, Renate 22, 24, 28, 63, 82

Hooper-Greenhill, Eilean 15

Laplanche/Pontalis 93

Hörisch, Jochen 27

LeGoff, Jacques 171

Hünnekens, Annette 97

Leith, Ian 211

Hunter, Michael 169

Lenz, Siegfried 26, 29, 3373, 220, 221, 18

Husserl, Edmund 90 Locher, Hubert 97 Hutcheon, Linda 158, 159 Lugli, Adalgisa 166, 169 Impey/MacGregor 166, 167 MacGregor, Arthur 166, 167 Jeggle, Utz 53, 54, 64 Macpherson, Crawford B. 18 Jens, Walter 46 Malraux, André 92, 93, 220 Jeudy, Henri Pierre 64, 123, 17, 53, 78

Mandeville, John 170 Marcus, Steven 187

Kaschnitz, Marie Luise 26, 29, 75-108, 220, 221, 18

Marquard, Odo 54 Keats, John 136-138, 184 Matz, Reinhard 88 Keller, Jochen 45, 46 Mauriès, Patrick 14, 163, 164, 167-169, 176

Kenseth, Joy 170 Kimminich, Otto 46, 47, 67, 68

Menke, Bettine 22

245

MUSEEN ERZÄHLEN

Minges, Klaus 165

Pomian, Krzysztof 21, 63, 93, 113, 120, 139, 210, 12, 14, 15, 22, 58, 124, 163, 167

Mitscherlich/Kalow 34, 40, 69

Pommier, Edouard 12 Moore, Brian 26, 30, 182218, 220, 222, 19, 156

Proust, Marcel 99, 98 Pulver, Elsbeth 78, 101

Mozart, Wolfgang Amadeus 133

Quiccheberg, Samuel v. 164 Muensterberger, Werner 126-128, 124, 125, 133, 135

Quintilianus, Marcus Fabius 81

Müller, Herta 47, 33 Reichardt, J. Christiane 102 Negt, Oskar 48 Reulecke, Anne-Kathrin 92 Nienaber, Monika 54, 42, 52 Riedl, Joachim 46 Nora, Pierre 82, 83, 63 Rilke, Rainer Maria 158 Nüsslein, Theodor 81 Ritter, Joachim 26 Offe, Sabine 16 Römer, Stefan 156, 157, 207 Olds, Kris 201 Olmi, Guiseppe 167, 168

Roth, Martin 51, 15, 18, 52, 56-59

Orban, Christine 126

Rugoff, Ralph 149, 154

Pazzini, Karl-Josef 11, 22, 77, 94, 121, 122, 13, 16, 19, 20, 23, 78, 123, 153

Rumpf, Horst 50, 91

Pearce, Susan 16, 164, 219

Schlink, Bernhard 35, 68, 69

Pelz, Annegret 22, 25, 29, 100

Schlosser, Julius 165, 166, 163

Piepmeier, Rainer 63, 48

Schneede, Uwe M. 22

Pigott, James R. 211

Scholz, Susanne 27, 85, 220

Plato 191, 106

Schulz, Eva 164

Schaffner/Winzen 23

246

PERSONENVERZEICHNIS

Schulze/Zils 14

Tucker, Herbert F. 200

Schweikert, Uwe 106

Türcke, Christoph 47

Seaman, Lewis C. 200

Valéry, Paul 122, 220

Sheehan, James S. 14

Velten, Hans Rudolf 27

Shelton, Anthony Alan 167

Vogel, Susan 17

Sloterdijk, Peter 211, 212

Wall, Eamonn 183, 186

Sorkin, Michael 194, 202, 209

Walser, Martin 131 Weidner, Daniel 16

Stange, Martina 197

Weinrich, Harald 15, 76, 8183, 99

Starobinski, Jean 127 Werth, Wolfgang 118 Stavenhagen, Kurt 58 Weschler, Lawrence 26, 30, 149-181, 220, 222, 18

Stewart, Susan 50, 64 Sturm, Eva 51, 169, 17, 20, 26, 50, 64, 91, 102, 121, 206

Wohlfromm, Anja 15, 22, 97 Wörner, Martin 201

Sullivan, Robert 186, 189191, 203

Yates, Frances Amelia 82

Tawada, Yoko 123, 14, 127

Zacharias, Wolfgang 17, 18

Thompson, Michael 21, 163, 167

Zweig, Stefan 127

247

DANK Für die unterstützende und fördernde Hilfe und die vielen fruchtbaren Gedanken, die meine Arbeit begleitet und mitentwickelt haben, möchte ich zuallererst Gisela Ecker und Susanne Scholz sehr herzlich danken. Mein allergrößter, innigster Dank richtet sich an Claudia Lillge und Birgit Klöpfer, ohne die das Buch in der vorliegenden Fassung niemals zustande gekommen wäre. Danke! Gleichermaßen gilt mein Dank für ihre stete Unterstützung und ihren Zuspruch Sonja Aufenanger, Britta Köhler-Bodemann und Silvia Meltzer. Ursula Westerwinter, Manfred Westerwinter und Oliver Wasserkordt möchte ich ganz, ganz herzlich und zutiefst einfach „für alles“ danken!

249

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Lettre Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Christof Hamann (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848 Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung Dezember 2008, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-966-4

Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert Juli 2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-824-7

Monika Leipelt-Tsai Aggression in lyrischer Dichtung Georg Heym – Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film

Juni 2008, 392 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN: 978-3-8376-1006-2

November 2008, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-583-3

Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft

Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.) Literatur der Jahrtausendwende Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 Oktober 2008, 456 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-924-4

Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur August 2008, 308 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-880-3

Juni 2008, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-821-6

Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller März 2008, 240 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-908-4

Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-913-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Lettre Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater Februar 2008, 386 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3

Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe 2007, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-760-8

Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-508-6

Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.) Weiterlesen Literatur und Wissen 2007, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-606-9

Margret Karsch »das Dennoch jedes Buchstabens« Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz 2007, 388 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-744-8

Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4

Stefan Hofer Die Ökologie der Literatur Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes

Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt

2007, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-753-0

2007, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-520-8

Christina Burbaum Vom Nutzen der Poesie Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie

Julia Freytag Verhüllte Schaulust Die Maske in Schnitzlers »Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut«

2007, 374 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-770-7

2007, 142 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-425-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de