Moral Bricolage - über das Gute sprechen: Das paradoxe Drehmoment in der Frage nach dem guten Leben 9783839447314

"In a very original work, which already bears the unmistakable signature of the methodical approach of bricolage, M

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Moral Bricolage - über das Gute sprechen: Das paradoxe Drehmoment in der Frage nach dem guten Leben
 9783839447314

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
A. SAMMELN
1. Vorspiel (chinesisch)
2. Die Problematik der Frage nach dem guten Leben
3. Drehmoment Paradoxie
4. Paradoxien der Subjektivität
5. Moral History
B. WANDELN
6. Paradox, total!
7. Das Fiktionale treibt sich in der Wahrheit herum
8. Der Bricolage-Begriff (Werksbegriff: Wertbegriff)
9. Für das Negative
10. Zusammenfassung
Literatur

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Barbara Hobl Moral Bricolage – über das Gute sprechen

Edition Moderne Postmoderne

Barbara Hobl (Dr. phil.), freischaffende Philosophin und psychoanalytische Kulturtheoretikerin, ist als Dozentin in Deutschland und Österreich tätig. Sie konzipiert und moderiert Diskursformate und entwickelt unter dem Pseudonym Barbara Balsei als freie Dramaturgin zeitgenössische ästhetische Praxen und performative Theaterarbeiten. Ihr Forschungsinteresse ist die Vitalität und Vulnerabilität des Menschen.

Barbara Hobl

Moral Bricolage – über das Gute sprechen Das paradoxe Drehmoment in der Frage nach dem guten Leben

Zugleich Dissertation, LMU München, 2018.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4731-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4731-4 https://doi.org/10.14361/9783839447314 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7

A SAMMELN 1

Vorspiel (chinesisch) | 11

2

Die Problematik der Frage nach dem guten Leben | 19

2.1 Weltgesellschaft und Realitätsverdoppelung | 20 2.2 Welche Wirklichkeit? | 25 2.3 Wir = WEIRD | 26 Drehmoment Paradoxie | 29 3.1 Das Paradoxe als beweglicher Grund zu Philosophie und Psychoanalyse | 34 3.2 Das paradoxe Motiv der Bricolage | 47

3

Paradoxien der Subjektivität | 57 4.1 Die leere Subjektstelle der Aussage | 59 4.2 Von Repräsentanten und Abkömmlingen | 68 4

Moral History | 103 5.1 Exkurs I: Die Kunst des Lebens... | 105 5.2 Exkurs II: ...beherrscht niemand | 109 5.3 Was jetzt? Moral als Kontingenz verarbeitendes, aber auch Streit erzeugendes Funktionssystem | 118 5.4 Moral ohne Gewissen – oder umgekehrt? | 135

5

B WANDELN 6

Paradox, total! | 171

7

Das Fiktionale treibt sich in der Wahrheit herum | 185

8

Der Bricolage-Begriff (Werksbegriff: Wertbegriff) | 213

8.1 Die epistemologische Seite der Bricolage: ein Traum | 223 8.2 Die ethische Seite der Bricolage: eine Notwendigkeit | 228 Für das Negative | 233 9.1 Wir müssen wahre Sätze... | 239 9.2 ...wandeln und deuten | 243

9

10

Zusammenfassung | 247

Literatur | 261

Vorwort

»In einer sehr originellen Arbeit, die bereits vom methodischen Ansatz der Bricolage ihre unverwechselbare Handschrift trägt, trotzt Frau Hobl im Grunde allein schon mit der Kraft ihres Denkens der von ihr immer wieder beschriebenen Kontingenz alles Seienden. Sie vermag es, ihren Denkstil zum Ausgangspunkt eines moralisch gelungenen Lebensabschnittes zu machen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, damit anderen Menschen über die Zufälligkeiten des Lebens hinweghelfen zu können.« -- Prof. em. Dr. Wolfgang Mertens, München

»Mit ihrer in recht avancierter Weise inter- und transdisziplinär angelegten Studie reihen sich Frau Hobls Überlegungen in das gerade in den letzten Jahren immer prominenter werdende Feld der ›Lebenskunst-Philosophien‹ ein, allerdings, und dies ist ein origineller und dem Mainstreamdiskurs gegenläufiger Ansatzpunkt, aus der Perspektive der Negativität oder, wie man auch sagen könnte, mit der Haltung ›philosophischen Staunens‹. Ein vielschichtiges, an originellen, nachvollziehbar und mit Verve entfalteten Überlegungen und anspruchsvollen Denkfiguren reiches Buch.« -- Prof.ͥⁿ Dr.ͥⁿ Lilli Gast, Berlin

A

SAMMELN

1

Vorspiel (chinesisch) Was bringt es, sich zu verstehen? Was nutzt der Versuch, sich verständlich zu machen?

Mephistopheles1 Faust Mephistopheles Faust Mephistopheles

Faust

Mephistopheles Faust Mephistopheles

1

Wozu der Lärm? was steht dem Herrn zu Diensten? Das also war des Pudels Kern! Ein fahrender Skolast? Der Casus macht mich lachen. Ich salutiere den gelehrten Herrn Ihr habt mich weidlich schwitzen machen. Wie nennst du dich? Die Frage scheint mir klein Für einen, der das Wort so sehr verachtet, Der, weit entfernt von allem Schein, Nur in der Wesen Tiefe trachtet. Bei euch, ihr Herren, kann man das Wesen Gewöhnlich aus dem Namen lesen, Wo es sich allzu deutlich weist, Wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heißt. Nun gut, wer bist du denn? Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Was ist mit diesem Rätselwort gemeint? Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, Mein eigentliches Element.

Goethe 1887/1993: 38.

12 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

Wenige Tage nachdem ich das letzte Kapitel der MORAL BRICOLAGE fertig gestellt hatte, las ich das Buch ›China und die Psychoanalyse‹. Francois Jullien analysiert und entwickelt darin fünf aus dem chinesischen Denken entnommene Konzepte, mit denen er die Psychoanalyse reflektiert, die bestens auch als Reflexionspunkte über das gute Leben herangezogen werden können. Jullien verlässt gedanklich Europa; er arbeitet mit anderen Grundbegriffen als sie für mein Denken charakteristisch sind, das ich durchaus als europäisch bezeichnen würde. Ich stimme mit ihm nicht in jedem Punkt überein, aber das ist nebensächlich. Das Bemerkenswerte ist, dass durch ihn mit fremden Begriffen reflexive Phänomene und Herangehensweisen beschrieben werden, die in einem deutlich erkennbaren Bezug zu der vorliegenden Arbeit stehen. Und er praktiziert eine bestimmte Art von Rede, eine, die ich viel später ›direkte Rede‹ nennen werde, bei der er trotz / wegen (?) / der klaren chinesischen Färbung ähnliche Formulierungen findet und Bewegungen vollzieht wie ich sie ebenso für mein Sprechen als wichtig erachte. Ich habe mich deshalb dazu entschieden, die MORAL BRICOLAGE von fremden Worten einleiten zu lassen. Ich darf an dieser Stelle auf das Kapitel 10 verweisen; in diesem fasse ich die Stationen meiner Forschungsbewegung zusammen. Es macht Sinn, die Zusammenfassung zum Schluss zu lesen. Ich empfehle aber auch, sie schon einmal ganz am Anfang anzusehen, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, wo die Reise hingeht. Vorausgesetzt, man ist darauf vorbereitet und bereit dazu, dass sich ein voller gedanklicher Zugang erst im Durchgang durch die einzelnen Kapitel ergeben kann. Zunächst aber ein chinesisches Vorspiel in fünf Akten. Tatsächlich ist das Andere, Nicht-Gleiche besonders geeignet, den Denkraum aufzumachen für das paradoxe Drehmoment in der Frage nach dem guten Leben.

Vorspiel (chinesisch) | 13

ERSTER AKT DISPONIBILITÄT (AUFNAHMEBEREITSCHAFT) »Disponibilität ist ein im europäischen Denken wenig entwickelter Begriff geblieben. Er betrifft in erster Linie (im Sinne von ›Verfügbarkeit‹; A.d.Ü.) Vermögen, Guthaben oder Funktionen. Hinsichtlich einer Person oder eines Subjekts als einer Aufnahmebereitschaft hat er dagegen wenig Konsistenz gewonnen. Im besten Fall ist er ein Terminus von Gide: ›Ich sagte, dass jede Neuerung uns stets voll und ganz disponibel/aufnahmebereit finden sollte‹.« (Jullien 2013: 23) »Denn die ›Weisheit‹ ist ohne Inhalt, welcher sie im Voraus festlegt und lenkt; oder sie hat keinen anderen, als sich unaufhörlich erneuernd im richtigen Moment disponibel / aufnahmefähig zu erweisen. Von daher versteht man, wie die ›rechte Mitte‹, ein abgedroschenes Thema, das man der Volksweisheit entsprungen glaubt, endlich ihrem Gebrauch als Gemeinplatz entkommen kann. Sie gewinnt ein unerwartetes Relief. Sie ist nicht banal, sondern radikal. Sie besteht nicht mehr darin, sich ängstlich und zögernd auf halbem Weg zwischen Gegenteiligem aufzuhalten und Übertreibungen zu fürchten [...], also zu vermeiden, sich auf die eine oder eine andere Seite einzulassen und Farbe zu bekennen. Ein ›Mittelmaß‹, das nicht ›golden‹ ist, wie die goldene Mitte, sondern glanzlos und grau. Nein, die ›rechte Mitte‹ heißt für je manden, der sie in aller Strenge zu denken vermag (Wang Fuzhi), das eine genauso wie das andere machen zu können, d.h. das eine wie das andere Extrem. In diesem ›gleich‹ des gleichen Zugangs zu dem einen und dem anderen liegt dieses ›Mittelfeld‹.« (Ebd. 37) Es »[...] erweist sich diese Empfänglichkeit für das Gemeinsam-Mögliche/compossible, wie die Disponibilität genannte werden kann, sehr wohl als eine Erfahrung, die nicht außergewöhnlich, sondern unmittelbar verifizierbar sowie unbegrenzt (mit)teilbar ist. Warum nur fiel es dem europäischen Denken so schwer, sie zu denken?« (Ebd. 43) »Europa hat dieses Hilfsmittel der Disponibilität verkannt, weil es den Gedanken der Freiheit entwickelt hat. Denn die Freiheit erfordert einen Bruch mit der Situation, in die das Ich involviert ist, und es ist eben diese Emanzipation, die es zum ›Subjekt‹, das sich anmaßt, initiativ zu sein, macht. Sie fordert ihrerseits ein Losreißen, das durch die Kraft der Negation ermöglicht, den auferlegten Bedingungen zu entkommen. Anders gesagt: Die Freiheit fördert dieses Ideal durch einen Bruch mit der Ordnung der Welt.« (Ebd. 44) »Das ging so weit, dass das klassische Denken, indem es sich auf den Gesetzen der Freiheit (der ›Autonomie‹) beruhend verstand, diese als ›universell‹ geltend behauptete, waren sie auch von anderer Art als die Gesetze der Natur, nicht physisch, sondern metaphysisch und als absolut hingestellt.« (Ebd. 45)

14 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

China hat »[...] nicht ein durch Freiheit sich emanzipierendes und die Entfremdung aufhe bendes Subjekt konzipiert, sondern diese Fähigkeit, die das Subjekt quasi als Hohlform (nicht thetisch/erhaben) erhält – indem sie die Position nach allen Seiten hin offen hält und sich in keiner einschließt, alle Möglichkeiten als gleichwertig betrachtend – und es ›von sich aus‹ (ziran) mit dem in Einklang bringt, was ihm von der Welt entgegenkommt. Von daher rührt die Fähigkeit, zu erfassen ohne vorauszusetzen, anzuhören ohne zu projizieren/übertragen: das Unerwartete zu vernehmen.« (Ebd. 45)

ZWEITER AKT ALLUSIVITÄT (DAS ANSPIELUNGSHAFTE) »Das daoistische Wort verweist, ohne aber Bezug zu nehmen, es sagt nicht (absichtlich, auf einen Gegenstand abzielend), sondern lässt passieren. Man sagt nicht das Dao, aber al les spielt darauf an, lässt es bedeutungsvoll anklingen. [...] Das ist es, was Laozi ›sprechen ohne zu sprechen‹ (yan wu yan) nennt. Denn sprechen (was das Wesentliche betrifft, nämlich den ›Weg‹) kann weder auf bezeichnende, noch bestimmende, nicht einmal auf bedeutende Art getan werden. Während man es nicht ausdrücklich sagen kann, macht man (es) zugleich unendlich vernehmbar, und das ist die Weise, nicht zu verraten. Zu behaupten, sich seiner abgetrennt, ›ausdrücklich‹ zu bemächtigen, hieße (es) zu verfehlen. Es gibt keinen bestimmten Ort, wo (es) ausfindig gemacht wird, aber alles, was man sagt und was immer man darüber aussagt, lässt sich davon durchdringen. Daher sagt dieses Wort, das dieses nicht-gegenständliche Objekt ausdrückt, nur ›kaum‹ (xi yan, Laozi), kann nur hinweisartig zum Weg führen [...]. So kommen sie (diese Worte, Anm.) daher, ohne dass sie etwas erstarren lässt oder zu rückhält. Denn weder lassen sie sich durch ›den erreichten Standpunkt‹ ihres Autors, und wäre dieser auch etwas starrsinnig vertreten, noch von der durch die Sprache hinzugefügte Ordnung und Logik lenken. Zhuangzi sagt, sie seien auch durch ihre ausweichende Art am besten geeignet, jedes Mal bis an die Grenze zu gehen, was in einem ununterbrochenen Prozess ›so von selbst daher kommt‹ (jin qi ziran zhi fen). Mit anderen Worten: Sie allein können sich mit der Immanenz in deren Hervorquellen und zugleich Unerschöpflichkeit verbinden. Diese Worte sind ständig anspielend/allusiv, da sie auf nichts abzielen, nichts festhalten, nichts aufdrängen wollen – dieses ›nichts‹, an dem für Aristoteles das Wort fatalerweise zerbricht – jedoch nicht aufhören, in ihrer Hohlform zu erfassen und einzusammeln.« (Ebd. 56) »Was ich bei Freud besonders bewundere, das ist seine Art, in der er mit sicherem Gestus und ohne große Hemmungen sich jenen Teil des Wissens zielbewusst holt, von dem er zu erkennen glaubt, dass es eine treffende Illustration für das, was er zu erhellen trachtet beibringen kann. Ganz exemplarisch verfährt er so, wenn er auf die chinesische Sprache Be-

Vorspiel (chinesisch) | 15

zug nimmt, um zu zeigen, wie deren strukturelle Unbestimmtheit – wegen der wenigen Phoneme und fehlenden Grammatik – trotzdem nicht zu Vieldeutigkeit führt, wenn man sich auf den identifizierenden Zusammenhang zu stützen weiß.« (Ebd. 66)

DRITTER AKT DAS BEILÄUFIGE, DAS UMWEGIGE, DIE BEEINFLUSSUNG »Eine Methode ist in dieser Angelegenheit nicht denkbar. Wie fühlt man sich aber dann, wenn man keinen Rückhalt in einer ›Methode‹ hat? [...] Werden wir, ohne jene von der berühmten ›Methode‹ im Voraus ausgestrahlten Klarheit, nicht wie blind herumtappen? Mangels einer im Voraus festgelegten Regel lernt man ›sich durchzuwursteln‹ (ein ins Umgangssprachliche abgleitender, dem Methodischen völlig entgegengesetzter Ausdruck), ein nicht-begrifflicher Terminus par excellence und so gar nicht leicht vorzubringen, gesteht er doch einen Verzicht ein und ist überdies ziemlich primitiv.« (Ebd. 77) »Unserem Denken fällt es schwer, ein konzentriertes Vorgehen, das aber nichts im Voraus festlegt, zu denken; oder in einer Situation Fuß zu fassen und in sie einzugreifen, ohne durch unsere Willkür gewaltsam einzudringen. [...] Wenn wir das, was wir durch Überlegungen, die im Voraus kommandieren, projizieren und implizieren, nicht frontal angehen können, so bleibt uns kein anderer Weg, als uns auf andere, sozusagen schräge/beiläufige/indirekte Weise anzunähern. [...]. Mit schräg geraten wir schon wieder in ein nicht-intellektuelles Register, das traditionell dem Handwerkli chen zugeordnet ist und von dem zu befürchten steht, dass es, wenn schon nicht den Zufall, so zumindest ein vorsichtiges Abtasten und eine Annäherung mit sich bringt (so wie man von einem ›Gespür‹ oder von ›Geschicklichkeit‹ spricht, auch sie der Erfahrung und dem Alltag zugeordnete Ausdrücke). Es sei denn, unsere Auffassung von schräg/beiläufig/indirekt (von der Art des Vorgehens, das nicht regelbar ist, da es keinen direkten Zugang gibt) wäre – wie jene vorangegangenen Ausdrücke ›Disponibilität‹ und ›Allusivität‹, – unter der Last unserer ›Wissenschaftstheorie‹ kulturell unterentwickelt geblieben.« (Ebd. 79) »Denn im Gegensatz zu dem, was sich frontal und daher auf eine einzige Art (das eben ist das Methodische) auffassen lässt, impliziert der Dreh/das Schräge/Beiläufige oder geometrisch ausgedrückt, das Schiefe unausgesprochen eine Fülle von Aspekten oder Facetten, unter denen eine Sache in Erwägung gezogen werden kann – was zur Vermutung Anlass gibt, dass man sie nur im Zuge eines Ablaufs entdecken kann und sie sich nicht mit einem Schlag einschätzen lassen und verfügbar werden. Eine alles überragende Schau der Dinge

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ist nicht mehr möglich. Vorrangig für den Dreh/das Schräge/Beiläufige ist nicht der Plan, sondern die Herangehensweise. Sie ist nicht projektiv/im Voraus entwerfend, sondern prozessiv/der Bewegung entsprechend. Vor allem ist ›schräg‹ nicht theoretisch, aber in Wahr heit auch nicht praktisch, da eins nicht ohne das andere geht, aber unablöslich mit der ebenfalls nicht zerlegbaren Frage verbunden ›Wie es anstellen um richtig zu verfahren‹, ohne dass dies vorausgeplant noch auch improvisiert ist, ohne dass man sich in einer vorbereiteten noch auch wehrlosen Lage befindet. Es geht sehr wohl darum, einen Fang zu machen, aber dieser soll gewährt werden. Statt direkt aufs Ziel loszugehen, wie dies die Methode zweckmäßigerweise gebietet, wobei sie die Vielfalt der Fälle unter ihre Allgemeinheit subsummiert, geht das Schräge/Beiläufige von dem aus, was die jeweilige Situation an Besonderem und Einzigartigem darstellt, um jenen Blickwinkel (Angriffswinkel) auswählbar zu machen, durch den unsere Intervention – im richtigen Augenblick – erfolgreich sein kann.« (Ebd. 80) »So misstraut der chinesische Stratege auch jedem im Voraus festgelegten Plan, durch den seine Beweglichkeit und kreative Reaktionsfähigkeit verloren gingen. Stattdessen beginnt er damit, ein Diagramm des Situationspotenzials zu entwerfen, wo er die ›vollen‹ und ›leeren‹ (Stellen) des Gegners aufzeichnet, denn diese sind es, nach denen er seine Entschei dungen zu richten hat. Vielmehr noch muss er verstehen, ihren Veränderungen gegenüber offen zu bleiben, wenn er nicht in einer verdinglichten Entschlossenheit versinken will, die ihn träge macht.« (Ebd. 85) »Und wieder einmal hilft uns China, die theoretischen Faltungen unseres Denkens aufzu fächern [...], diese Faltungen, in denen der Begriff der Beeinflussung in Europa einge klemmt blieb und die verhinderten, das Phänomen in seiner ganzen Dimension zu bedenken, selbst wenn man, wie eben auch Freud, gezwungen war, ihm so ganz beiläufig einen Platz einzuräumen. Denn das chinesische Denken bedenkt nicht sosehr ›Seiendes‹ und seine Identifikation, als vielmehr den Energiefluss, die (entgegengesetzten) Pole und deren Interaktion oder eher ›wechselseitige Anregung‹ (xiang-gan), die ›Veränderung‹ und deren ›Fortgang‹ (bian-tong), das kommunizierende Ereignis und die Verwandlung (jiaotong); denn es ignoriert in seiner Grammatik die morphologische Unterscheidung von Aktiv und Passiv; denn es kennt in seiner Physik statt der Kausalität die Begriffe des ›Echos aus Distanz‹ und der wechselseitigen Resonanz (gan-ying) [...]; denn es hat schließlich sehr wohl das Individuum als Person anerkannt, sich aber nicht allzu sehr damit beschäftigt, eine Autonomie des Subjekts zu konstruieren; – China hat die Einwirkung ins Zentrum seiner Intelligenz gestellt. Die Beeinflussung/Einwirkung ist aus seiner Sicht die allgemeine Modalität der Herkunft jeglicher Realität sowohl im Bereich dessen, was wir ›Natur‹ nennen, als auch in dem der Moralität.« (Ebd. 94)

Vorspiel (chinesisch) | 17

VIERTER AKT DE-FIXIERUNG (WEGE AUS DER FIXIERUNG) Das ist »[...] die umfassendste Frage, die ich mir selber stellen kann, sie reicht – wenn ich mich an die bei uns üblichen Unterscheidungen halte (die sie ignoriert) – vom Biologischen bis zum Psychischen und weitet sich aus bis zum Ethischen. Und ersetzt sie nicht alle anderen Fragen: Führen nicht alle anderen Fragen auf die eine oder andere Weise auf sie zurück? Was habe ich mich denn tatsächlich anderes zu fragen? Sie ist die vital-moralische Frage schlechthin: Was bemerke ich, das in mir nachschleift und mich immobilisiert, ob in einer Gemütsverfassung, eine Aufgabenerfüllung und das ich ›anpeitschen‹ sollte, um es zur Ordnung zu rufen, d. i. sich entwicklungsfähig zu erhalten und offen für Zukünftiges, statt in seiner Vergangenheit eingeklemmt zu bleiben? Welche Seite meines Lebens ich auch immer im Auge habe, im Grunde muss ich eigentlich nur dieser Forde rung nachkommen: das zu lösen, was sich in mir ›fixiert‹ hat und mich hindert weiter voranzuschreiten, weil es mich durch seine Erstarrung zurückhält.« (Ebd. 114) »Das Schlechte (e) oder das, was man das ›Nicht-Gute‹ nennt (bu shan), ist in China nichts anderes als die ›Obstruktion‹ solch eines Weges und seine Absperrung (der Begriff des zhi). Es hat seinen Ursprung in keinem eigenen Prinzip (es gibt keinen die Vorstel lungskraft provozierenden und in Versuchung führenden Satan), entspringt auch nicht einer Herausforderung (Gottes) oder der offenen Freude an einer Übertretung (China hat die große Dramaturgie der Perversion nicht entwickelt). Das Schlechte/Böse rührt einfach da her, dass die maßgebliche Polarität nicht mehr mitspielt, der umfassende dynamische Aus tausch nicht mehr stattfindet und schließlich nichts mehr ›passiert/durchgeht‹ (bu tong).« (Ebd. 122) »Eben weil Regulierung einen Mechanismus oder Organismus betrifft und nicht einem Ideal oder Modell (dem Sein Sollen der Moral), sondern dem Funktionellen untersteht. Regulieren bedeutet, ein Gleichgewicht in einem Verlauf aufrechtzuerhalten, sodass dieser sich erneuert und in Fluss bleibt statt abzuweichen und blockiert zu werden. Es ist daher nur logisch, dass Freud dieses Wort gebraucht, behandelt er doch die ›Seele‹ als einen psychischen Apparat und was diesen bedrohe sei eben eine ›Verklemmung‹, die zur Fixierung führe.« (Ebd. 127)

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FÜNFTER AKT EINE STILLE VERWANDLUNG / TRANSFORMATION »Denn es ist in einer Kur sehr wohl von ›Verschiebung‹ die Rede: es geht darum, die Dinge in einem selbst zu bewegen, um nicht mehr ›zurückgehalten zu werden‹, sondern erneut vorwärts gehen zu können. Diese Verschiebung ist aber vergraben, ›unterirdisch‹, sie berührt die intimsten Schichten des Lebens eines Patienten, denen gegenüber er hilflos ist, da er sich in keiner Distanz zu ihnen befindet.« (Ebd. 137) »Eben weil dem chinesische Denken weniger daran gelegen ist, ein Modell auf die Dinge zu projizieren als vielmehr das Potenzial einer Situation auszuloten; weil es weniger danach bestrebt war, die Welt in eine physische und eine metaphysische zu spalten als viel mehr das Wechselspiel der Einflüsse und Auswirkungen zu verstehen, die alle Faktoren der Welt in unendlicher Weise aufeinander ausüben, steigert es unsere Achtsamkeit hin sichtlich noch so geringer Indizien einer Transformation, die sich uns im Grunde entzieht (obgleich sie zugleich ›natürlich‹ ist: was die Chinesen ›Himmel‹ nannten).« (Ebd. 139) »Das nämlich ist ganz bestimmt die Alternative, die klarzustellen ist, mag man sie auch in weiterer Folge miteinander zu verknüpfen versuchen: entweder man vertraut sich der Handlung an, die sich abhebt und von der man spricht, die aber gerade mit dem, worin sie sich unterscheidet und womit sie prägend wirkt, sich niemals völlig von der imaginierten Annahme eines Subjekts lösen kann oder eben einer Transformation, die, einmal diskret begonnen, den Verlauf der Dinge im Griff hat, da sie sich von diesem, absorbiert von der ganzen Situation wie sie ist, tragen lässt und ohne Aufhebens ihren Weg nimmt, von der zu sprechen einem auch nicht in den Sinn kommt.« (Ebd. 147) »Man war (in Europa, Anm.) [...] von den Extremitäten fasziniert, die sich, da leicht abgrenzbar, als Identitäten voneinander abhoben und zur typo- und topologischen Analyse brauchbar erwiesen; und doch spielte es sich im ›Dazwischen‹ ab (›es‹: das im Übergang befindliche Unbestimmte). Deswegen liegt es heute quasi im Gegenzug an uns, diesem ›Dazwischen‹ eine Konsistenz zu verleihen, und zwar als Quellgrund der Zweideutigkeit und nicht der exklusiven Wahrheit; indem wir die Unterschiede nicht zum Zweck einer Definition, sondern als undifferenzierten Untergrund verstehen und keine drastischen und dramatischen moralischen Entscheidungen, sondern eher eine der jeweiligen Möglichkeit entsprechende Entwicklung, die einer Finalität entbehren kann, wahrnehmen.« (Ebd. 154) »Leben: wonach sonst kann man im Leben streben?« (Ebd. 155)

2

Die Problematik der Frage nach dem guten Leben 1001 Wahrheiten dringen an unsere Ohren, moralische Kontingenz soweit das Auge reicht.

So möchte ich die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit nennen. Nimmt man diesen Wirklichkeitsblick zum Ausgangspunkt für die hier vorgebrachten ethischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen, ergibt sich sofort eine spezifische Problematik: Widerspricht das Fragen nach dem guten Leben nicht offensichtlich der Beobachtung pluraler Wirklichkeiten in einer kontingenten Welt? Ist dieses Ansinnen nicht mindestens anachronistisch, wenn nicht sogar sinnlos? Einen Vorschlag zu machen, warum und vor allem wie die Auseinandersetzung mit so einem Fragen heute Sinn macht, ist das Ziel dieser Arbeit. Dass da bei keine einfachen Antworten zu erwarten sind, liegt einerseits auf der Hand und ist darüber hinaus eine Konsequenz, die durch meinen Zugriff und die daraus entstehende Wendung von Diskursen bestimmt ist. Ich folge Theorien, die sich explizit oder implizit mit paradoxen Phänomenen auseinandersetzen. Bevor ich in diesem Richtung weisenden Kapitel festlege, wie der Begriff der Paradoxie hier verstanden wird, ist es zunächst geboten den zum Ausgangspunkt gewählten Wirklichkeitsblick auszuformulieren: Was ist gemeint, wenn von einer pluralen und kontingenten Gesellschaft die Rede ist? Wer ist dabei das Wir? Und was bedeutet in diesem Text Wirklichkeit? Denn so evident und strotzend von Offensichtlichem, weil öffentlich zur Schau Gestelltem, wie die jeweils gelebte Wirklichkeit angenommen wird, so undurchsichtig ist die geteilte Welt jenseits des Gewussten, so nötig macht sie es, das Offensichtliche mit einem Begriffsnetz kleinschrittig zu durchqueren, um überhaupt davon sprechen zu können. Niemand wird in Abrede stellen, dass es außer den direkten persönlichen Kontakten sozial noch etwas gibt (das wir ge-

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wohnt sind Gesellschaft zu nennen), alle benutzen wir das Wort Wir und fast niemand glaubt, dass die Welt, in der wir leben, nicht wirklich ist. So gesehen ist alles klar. Klar zwar auch nur auf der einfachsten aller möglichen Verstehensebenen, dem gesunden Menschenverstand, und es gibt schon deshalb Anlass weiter nachzudenken, aber dennoch ist dies nicht das Motiv meiner Denkbewegung. Dieses liegt in einem Nicht-Verstehen. In einem nicht fassen können, wie etwas sein kann. Der große Gegenspieler wird genannt: das Böse. Wenn das Böse oder Schlechte in der Welt – was sich darunter am Ende verstehen lässt, wird ein Ergebnis dieses Nachdenkens sein – nicht immer wieder unfassbar auftreten würde, hätte ich vermutlich kein Bedürfnis die oben festgestellte einfache Klarheit mit philosophischen Gedanken zu trüben. Dass mit dem Denken die Klarheit endet, habe ich nicht von Anfang an begriffen. Als sehr junge Frau glaubte ich, Denken sei das Klarste am Menschen. Heute glaube ich, Denken entstammt der Unklarheit am Menschen. Denken lässt einen doppelt sehen. Heute möchte ich im Gegenteil behaupten: nur wer mit diesem doppelten Blick Sprache schöpft, denkt.

2.1 WELTGESELLSCHAFT UND REALITÄTSVERDOPPELUNG »Es ist keine Frage, dass sprachliches Kommunizieren real geschieht, auch wenn es nicht das ›ist‹, was es ›bezeichnet‹. Es ist auch keine Frage, dass normgemäßes Verhalten real erwartet wird, auch wenn es, eben deshalb, von dem erwarteten Verhalten unterschieden werden muss und nicht mit ihm verwechselt werden darf. Erst mit Hilfe solcher Realitäts verdoppelungen gewinnt man die Möglichkeit, eine zugespitzte Vorstellung von realer Realität, von harter, faktischer Wirklichkeit zu pflegen – gerade weil man dies unterscheiden und es von der anderen Seite der Unterscheidung aus beobachten kann.« (Luhmann 2008: 232)

Wenn hier von Gesellschaft oder gesellschaftlich die Rede ist, dann im Sinne von Niklas Luhmann. Auch wenn ich den Konsequenzen, in die er seine Gedanken treibt, nicht bis ans Ende folge, ist sein systemtheoretischer Gesellschaftsansatz für diese Arbeit aus unterschiedlichen Gründen produktiv. Ein erster Grund: Wenn später der Moralbegriff zur Verhandlung steht, wird Luhmanns Verständnis von Moral dafür den Ausgangspunkt geben. Dieses kann aber nur auf Basis seiner Fassung von gesellschaftlichen Systemen sinnvoll erfasst werden. Ein inhaltlicher Grund: Luhmanns Systemtheorie ist nüchtern. Sein deklariertes Ziel ist es, Moral mit moralfreien Begriffen zu erklären sowie insgesamt die Beschreibungsfähigkeit von Gesellschaft zu steigern und dabei ohne

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Wertung auszukommen. Einen um Wertneutralität bemühten Blick für die Beobachtung gesellschaftlicher Vorgänge heranzuziehen, scheint mir günstig in einer Arbeit, die nach dem Guten fragt. Ein zweiter inhaltlicher Grund: Luhmanns Beschreibung gesellschaftlicher Systeme und Prozesse greift nicht auf den Menschen als Letztelement der Gesellschaft zurück, sondern auf die stattfindende Kommunikation. Dadurch bietet seine Theorie eine interessante Anschlussstelle zu einem der zentralen Verhandlungsbegriffe dieser Arbeit, nämlich dem der Sprache. Und schließlich: Luhmann macht sich seine Finger nicht mit poststrukturalistischen Theorien schmutzig, die aber eine weitere Argumentationsquelle in diesem Text sind, so dass dadurch innerhalb dieser Arbeit eine produktive theoretische Spannung entstehen kann. Was meint Niklas Luhmann, wenn er von Gesellschaft spricht? Zunächst einmal legt er sich auf folgenden Ausgangspunkt fest: Die Systemtheorie geht davon aus, dass es Systeme gibt. Sie unterscheidet zwischen: trivialen Systemen (Maschinen), biologischen Systeme (Organismen), psychischen Systeme und sozialen Systemen. »Von sozialen Systemen kann man immer dann sprechen, wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nichtdazugehörigen Umwelt. Sobald überhaupt Kommunikation unter Menschen stattfindet, entstehen soziale Systeme; denn mit jeder Kommunikation beginnt eine Geschichte, die durch aufeinander bezogene Selektion sich ausdifferenziert, indem sie nur einige von vielen Möglichkeiten realisiert. Die Umwelt bietet immer mehr Möglichkeiten als das System sich aneignen und verarbeiten kann. Sie ist insofern not wendig komplexer als das System selbst. Sozialsysteme konstituieren sich durch Prozesse der Selbstselektion – so wie Lebewesen durch Prozesse der Autokatalyse. Sowohl ihre Bildung als auch ihre Erhaltung implizieren daher die Reduktion der Komplexität des überhaupt Möglichen. Geht man von dieser These aus, dann liegt darin zugleich eine Regel für die Bildung be sonderer Systemtypen. Soziale Systeme können sich auf verschiedene Weise bilden je nachdem, unter welchen Voraussetzungen der Prozess der Selbstselektion und der Grenzziehung abläuft. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme unterscheiden.« (Ebd. 210)

Die grundlegende Annahme von Luhmann ist, dass soziale Systeme in Form von Kommunikation bestehen. Weiter geht er davon aus, dass sie sich innerhalb der Bedingung der Kontingenz entwickeln, weil die Umwelt immer mehr Möglichkeiten bietet, als das System realisieren kann. Anders ausgedrückt: für jedes System ist die Umwelt komplexer als es selbst. Und er beobachtet, dass soziale Systeme über Prozesse der Selbstselektion entstehen und sich erhalten. Je nach Art

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der Selbstselektion bestimmt Luhmann drei Typen von Sozialsystemen: auf der konkretesten Ebene spricht er von Interaktionssystemen, die durch eine wechselseitige Wahrnehmung der Kommunikation von gemeinsam Anwesenden gekennzeichnet sind. Auf der abstraktesten Ebene von Gesellschaftssystemen, wobei er für die heutige Gesellschaft nur noch ein Gesellschaftssystem annimmt, das er Weltgesellschaft nennt. Dazwischen setzt Luhmann Systeme vom Typus Organisation, die er Funktionssysteme nennt und die für sein Moralverständnis relevant sind. Funktionssysteme markieren den sich noch in vollem Gange befindlichen gesellschaftlichen Evolutionsprozess: Mit der voranschreitenden Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten, differenzieren sich die drei genannten Systemebenen zunehmend und die Funktionssysteme erhalten immer mehr Gewicht. In einfacheren Gesellschaftssituationen ist die gesellschaftliche Ordnung für jeden relativ leicht nachvollziehbar. Wenn Gesellschafts- und Interaktionssystem in weiten Teilen überlappen, d.h. wenn der Dorflehrer mein Nachbar, die Ärztin meine Schwester und der Bürgermeister mein Onkel ist, dann hat die gesellschaftliche Ordnung eine Form von Evidenz, weil sie konkret auszumachenden Personen zugeschrieben und deren Kommunikation persönlich beobachtet werden kann. Das heißt nicht, dass sie von jedem gutgeheißen und akzeptiert wird, aber sie bietet über die Sichtbarkeit für alle die gleiche Orientierung, die auch zur Abgrenzung von ebendieser Ordnung dienen kann. Wie entsteht die gesellschaftliche Struktur im Gegensatz dazu in einer polykontexturalen Welt wie der unseren? Etwas vereinfacht, antwortet Luhmann darauf: nicht mehr durch Interaktionen zwischen Menschen, sondern sie ergibt sich aus den kommunikationsmäßig hochaktiven und damit relevanten gesellschaftlichen Funktionssystemen – wie das Recht, die Politik, der Sport, aber eben auch die Medien oder die Moral – und deren spezifischer Operationslogik. Wie sieht die Operationslogik aus? Jedes Funktionssystem arbeitet mit einem eigenen, charakteristischen Kommunikationsmedium. Beispiele hierfür: Das Funktionssystem Wirtschaft wird durch das Medium Geld betrieben. Das Funktionssystem Medizin durch das Medium Gesundheit. Für das Funktionssystem Wissenschaft nennt Luhmann Wahrheit als Medium. Jedes Kommunikationsmedium beinhaltet einen binären Code. In den genannten Beispielen: Geld beinhaltet zahlungsfähig und zahlungsunfähig, Gesundheit beinhaltet gesund und krank, der binäre Code der Wahrheit umfasst wahr und falsch. Über die Anwendung ihres spezifischen binären Codes entstehen und erhalten sich Funktionssysteme. In ihrer Gesamtheit stellen sie schließlich die gesellschaftliche Ordnung her. Eine Konsequenz daraus: nicht der Mensch als Individuum mit seiner Einstellung zum Leben und der entsprechenden Werte, die er vertritt, speist die gesellschaftliche Ordnung, sondern sie stellt sich über die Funktionssysteme her,

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die sich wiederum selbstreferentiell, über die andauernde Kommunikation entlang der binären Codes entwickeln. Das kann Luhmann deshalb denken, weil er in seiner Systemtheorie und für seine Fassung von Gesellschaft nicht mehr den einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt macht, sondern davon ausgeht, dass der Prozess der Kommunikation die Basis für die Gesellschaftsbildung ist. »Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen.« Und er beobachtet dazu: »In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft Weltgesellschaft. Es gibt nur noch ein einziges Gesellschaftssystem.« (Ebd. 212) Die Annahme, dass nicht Menschen, sondern Kommunikation die Gesellschaft konstituieren, ist in einfachen Gesellschaftssystemen zur Beschreibung der Wirklichkeit nicht gewinnbringend. In einer funktional differenzierten Gesellschaft hingegen, in der niemand in alle und schon gar nicht gleichzeitig in jedes Funktionssystem inkludiert ist, sondern je nach Situation phasenweise Adressatin für die Kommunikationsprozesse der Funktionssysteme wird, macht das Bild, Individuum und Gesellschaft seien wie Teile mit einem Ganzen verbunden, keinen guten Sinn mehr. Vielmehr sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, das Individuum als sozial geteilt zu begreifen, aufgeteilt in verschiedene Kommunikationszusammenhänge. Das teilbare, plurale Subjekt ist es, das durch seine kommunikative Nutzung und Interpretation der binären Codes zur gesellschaftlichen Ordnung beiträgt und nicht mehr der Mensch als Ganzes. Diese theoretisch komplexe Beschreibung passt bestens zu der Alltagsbeobachtung, dass es so viele Wirklichkeiten wie Menschen gibt, wir gleichzeitig in einer gemeinsamen Welt leben, deren Weltwirklichkeit sich aber doch mit niemandes persönlicher Wirklichkeit deckt. Die Wahrnehmung der heutigen Lebenssituation als plural und kontingent 1, geht mit einer veränderten gesellschaftlichen Ordnung einher. Das fatale an diesem Wandel: Funktionssysteme stellen zwar eine Ordnung her, aber sie bieten keinen, über das Ordnen hinausgehenden, Ansatzpunkt für ethische Entscheidungen. Mit anderen Worten: unsere Gesellschaftssysteme laufen, ohne Moral. Jedes Funktionssystem funktioniert, für sich. Dieses Funktionieren beschreibt Luhmann eben mit den binären Codes. Ein binärer Code ist aber zunächst einmal nichts anderes als eine Unterscheidung. In dem Mechanismus des Unterschei1

Der Begriff der Kontingenz wird je nach Kontext unterschiedlich definiert. In diesem Text ist er im Sinne von Luhmann gemeint, der damit den Eigenwert der Weltgesell schaft fasst. »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.« (Luhmann 1984: 152)

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dens ist per se noch keine Orientierung beinhaltet, wie die Unterscheidung zu treffen sei. Die Fragen, wie wir zuschreiben und bewerten, wo wir Grenzen ziehen, werden zwar mithilfe der binären Codes beantwortet, die Frage, warum wir so und nicht anders zuschreiben, die Frage nach dem Sinn der Bewertung, bleibt dabei aber unberührt. Angenommen, wir sind bereit, zu denken, dass alles so, aber auch anders sein könnte, dann wird die Frage nach den kommunikativen Mechanismen der Bewertung offensichtlich virulent. Diese Frage wird im Moralkapitel aufgegriffen und im Zuge dessen der Moralbegriff aufbereitet, von dem sich leicht ahnen lässt, dass er ein Schlüssel für das Verständnis von Bewertungen ist. Zunächst aber noch einmal zurück zu Luhmanns Gesellschaftsbegriff. »Dekonstruktivisten haben entdeckt, dass jeder Text, also jede fixierte Kommunikation einen Widerspruch enthält zwischen den konstativen, feststellenden Behauptungen einerseits und den performativen, den operativen, verlaufsmäßigen Seiten der Kommunikation selber. Die Dekonstruktivisten haben die Idee, alle Texte lassen sich dekonstruieren. Es geht um eine metaphysische Vollreinigung sozusagen, wo alles, was überhaupt behauptet werden kann, auch vom Gegenteil aus gesehen werden kann. Das führt nicht sehr weit. Als Soziologe habe ich das Interesse zu sehen, weshalb, wenn alle Dinge dekonstruierbar sind, bestimmte Dinge trotzdem haltbar sind oder für eine gewisse Zeit plausibel sind. Weshalb gibt es politische Texte, die eine zeitlang überzeugt haben und dann ihre Glaubwürdigkeit verlieren?« (Luhmann 1993: Vortrag)

Um das Auftauchen und die Haltbarkeit ›politischer Texte‹ zu untersuchen, analysiert Luhmann die sich wandelnde Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Eine für die heutige Gesellschaft charakteristische Veränderung vollzieht sich über die Digitalisierung der uns umgebenden Dingwelt, insbesondere durch die Bewegungen in dem Feld digital gestützter Kommunikationsmedien. Webbasierte Kommunikationsräume sind gekennzeichnet durch eine prinzipielle Unüberblickbarkeit bei gleichzeitiger Hyperpräsenz – ein markantes Beispiel für die Situation der Kontingenz und Pluralität. Unsere Gesellschaft ist mit der Digitalisierung bewegter geworden und auch beweglicher und damit möglicher. Eine digital vernetzte Gesellschaft lässt parallel Orientierungen in unterschiedliche Richtungen zu. Aber: jeder Klick, jeder Blick, jede getätigte und nicht-getätigte Kommunikation speist eine konkrete Ordnung. In einer Gesellschaft, in der kein, die gesamte Gesellschaft betreffendes Hierarchieprinzip mehr herrscht (wie z.B. in einer zentralistisch organisierten Gesellschaft) und in der auch kein außergesellschaftlicher Begründungszusammenhang mehr in der Lage ist, eine Hierarchie zu legitimieren (wie z.B. Gott), erfolgt die gesellschaftliche Positionierung des einzelnen Menschen über die kommunikative Einbindung in die Funktions-

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systeme. Es gilt, die Frage nach einer Ethik verschärfend: Dabei ist, wer mitredet. Das fantastische Potenzial der Weltgesellschaft besteht darin, dass eine sich anhand von Kommunikationsstrukturen konstituierende Gesellschaft prinzipiell für alle die Möglichkeit eröffnen könnte, zu sprechen. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass die globalen gesellschaftlichen Funktionssysteme nicht frei zugänglich sind, dass eben nicht jede mit jedem redet und auch nicht jeder sich äußern kann. Es scheint eher so zu sein, dass die anhaltende Produktion von Ungerechtigkeit ein typisches Merkmal der funktionalen Differenzierung ist; und Vollinklusion nur ihr utopisches Moment. Wirklichkeitsorientiert beschreibt Stichweh: »Aber zugleich wird unstrittig sein, dass dieses Prinzip der Inklusion aller denkmöglichen Adressen in alle Funktionssysteme in der sozialen Wirklichkeit der Systeme nicht reali siert ist. Deshalb kommt die andere Seite der hier zu untersuchenden Unterscheidung ins Spiel: die Seite der Exklusion. [...] Es kommen also Exklusionen massenhaft und millio nenfach vor, und dies ist der Ausgangspunkt der Theorie der Inklusion und Exklusion in der modernen Gesellschaft.« (Stichweh 2005: 182)

Wir leben in einer pluralen, kontingenten und ungerechten Gesellschaft. Dass soziale Ordnungen vom Typ Diktatur ungerecht sind, liegt in der Natur der Sache. Warum aber sind auch Gesellschaftssysteme, die einer wertfreien Funktionslogik folgen, ungerecht? Die systemtheoretische Betrachtung beinhaltet dabei einen ersten Verweis, wonach Ausschau zu halten ist: »Bedeutsame soziale Unterschiede werden nicht mehr zwangsläufig als Unterschiede des Verfügens über materielle Ressourcen gedacht, sondern zunächst als Differenzen des Zugangs zu Kommunikationsmöglichkeiten.« (Ebd. 185) Mit Sprache erzählt sich nicht nur eine Geschichte, in Kommunikation verwirklichen sich auch soziale Strukturen. Welche Geschichte und welche Struktur, wird dann wesentlich davon abhängen, wie man in der Lage ist, zu sprechen und was gesprochen wird.

2.2 WELCHE WIRKLICHKEIT? In dieser Arbeit formuliert sich die Frage nach der Wirklichkeit nicht nur in Auseinandersetzung zu Fiktion und Traumgeschehen, sondern zunächst in Hinblick auf je unterschiedliche persönliche Wirklichkeiten. Unter diesem personellen Blickwinkel scheint von Wirklichkeit im Singular zu sprechen obsolet. Denn je nach Inklusions- und Exklusionsmischung befindet man sich in einer unterschiedlichen Wirklichkeit, worauf auch der etwas absurde Begriff der Lebens-

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wirklichkeit einen Hinweis gibt. Sowohl bezüglich jedes anderen Menschen als auch das eigene Leben betreffend, in Abhängigkeit von Zeit und Ort und den dabei aktuell vorhandenen Möglichkeiten zu kommunizieren entstehen unterschiedliche Lebenswirklichkeiten – ein Begriff den es deshalb, wie die trousers, Sinn macht, ausschließlich im Plural zu denken. Anders verhält es sich mit dem Begriff der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wenn man mit Luhmann Gesellschaft als Weltgesellschaft denkt. Über diese Wirklichkeit lassen sich aufgrund ihrer Globalität, d.h. der sie umfassenden heterogenen Lebenswirklichkeiten, nur entsprechend globale bzw. abstrakte Aussagen treffen. Eine davon markiert den Ausgangspunkt dieser Arbeit und lautet: Unsere heutige Gesellschaft, definiert als alle füreinander erreichbaren kommunikativen Handlungen, präsentiert eine plurale und kontingente Wirklichkeit. So lässt sich von einem Dualismus der gesellschaftlichen Wirklichkeit/en sprechen: von einer weltgesellschaftlichen Wirklichkeit der Pluralität und Kontingenz im Singular – nicht ohne der drängenden Ironie darin – und von Lebenswirklichkeiten im Plural, wenn die gesellschaftlichen Felder im Fokus stehen, die für einzelne Menschen jeweils aktiv sind.

2.3 WIR = WEIRD Vor diesem Hintergrund ist jedes Wir, das in diesem Text auftaucht als ein Doppeltes zu lesen und damit etwas ›weird‹. Wir als Weltgesellschaft = alle Menschen und wir, die wir diesen Text kommunikativ aufnehmen und gelten lassen können. Anders ausgedrückt, ist absolut jeder gemeint, aber nicht jeder kann und will gleich gemeint sein. Die Frage, wer diesen Text lesen wird, ist zwar nicht ausreichend, um die Wir-Thematik zu klären, liefert aber die Antwort, was dabei die Problematik ist. Es werden WEIRDe Menschen2 sein, denn das sind die meisten Menschen, die überhaupt Zugang zu Texten wie diesem haben. Ein kleiner Freundeskreis also, zu dem ich nur sprechen kann: a mainly Whitish, Educated, Industrialized, Rich, Democratic folk! Wobei ich dieses Akronym letztlich 2

»WEIRD subjects are particularly unusual compared with the rest of the species – fre quent outliers. [...] The findings suggest that members of WEIRD societies, including young children, are among the least representative populations one could find for generalizing about humans. Many of these findings involve domains that are associated with fundamental aspects of psychology, motivation, and behavior – hence, there are no obvious a priori grounds for claiming that a particular behavioral phenomenon is universal based on sampling from a single subpopulation.« (Henrich, J./Heine, S./Norenzayan, A. 2010: 1)

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gewählt habe, weil es lautmalerisch so nah am WIR ist und nicht weil ich die darin Verwendung findenden Adjektive für die einzig relevanten halte. Ich benutze die Feststellung des WEIRD-Bias, um mein Bedauern auszudrücken, dass die Gedankenwelten der Menschen, die diesen Text lesen auf prekäre Weise homogen sein werden; was gleichzeitig Ausdruck dafür ist, dass der Versuch (der tatsächlich schon an der Reichweite dieses Textes scheitert) ein weltgesellschaftliches Wir aus- und anzusprechen die Anstrengung der Abstraktion notwendig macht. Eine Aufgabe, die Niklas Luhmann beeindruckend bewältigt hat und auch Sigmund Freud. Eine Anstrengung und Aufgabe, aber auch ein Anspruch, der in der Forderung konkret wird, die Quellen der Gedankengänge, soweit dies möglich ist, offenzulegen und die verwendeten Begriffe von ihren alltagssprachlichen Bedeutungen freizulegen, d.h. mit spezifischen Bedeutungen zu versehen, beides um den Ausschnitt der Anwendung deutlich zu machen und darüber Abstraktion und Verständigung zu ermöglichen.

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Drehmoment Paradoxie

Paradoxie ist der einzige Zentralbegriff, den ich im Zuge der Entwicklung dieses Textes keiner weiteren Wandlung unterziehe. Paradoxale Denkbewegungen sind in dieser Arbeit grundlegend. Eine recht wackelige Grundlage, wenn man das Ziel hat, Stehen zu bleiben, anzukommen oder etwas abschließend festzustellen. Das wird schwerlich gelingen. Das Paradoxe ist eine bewegliche Basis. Folglich bringt dieser Grund ständig Bewegung ins Spiel. Eine produktive Ausgangslage aber, wenn ein Forschungsziel zugunsten der Forschungsbewegung als Motiv und Werksbegriff zurück treten muss. Wenn das Ziel als telos verstanden ein Streben-nach ist und nicht ein einmalig zu erreichendes Ziel, im Sinne einer einund-für-alle-Mal gelösten Aufgabe. Wenn die Vorstellung des Zielens stattdessen dazu dient, weiterzugehen, sich weiter zu bemühen, aber nicht, um am Ende irgendwo festzustehen, sondern es als Mittel fungiert, das Wege aufspannt. Wege im Plural, weil das so benutzte Zielmittel sich inhaltlich mehrfach und unter Umständen auch formal verändert. Die dabei aufkommenden Ideen folgen nicht einer linearen begrifflichen Logik, auch wenn der dabei entstehende Text, wie immer, in aufeinander folgenden Sätzen besteht und bekannte Begriffe bearbeitet werden. Es geht zunächst einmal darum Aufzubrechen, sich überhaupt auf den Weg zu machen – den man noch nicht kennt. Ein Aufbrechen dann auch der grammatischen Satzstruktur. Umherlaufen, Dis-Kurs, ein gedankliches Schweifen, bei dem thematische Knotenpunkte entstehen, die mit Begriffen korrelieren, an denen man sich länger aufhält, bei denen man eine Rast sucht. Die Wahl eines paradoxalen Ausgangspunktes entspringt sowohl einer intellektuellen als auch einer politischen Haltung. Paradoxien haben den Effekt im Abseits zu verschwinden. Hinter klar benennbaren wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und hinter Eindeutigkeiten, die benutzt werden, um gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu etablieren. Ein Fokussieren von Paradoxien bedeutet demgegenüber Position zu beziehen, oder besser: eine Haltung zu finden. Warum eignet sich die Paradoxie dazu so gut? »Der gesunde Menschen-

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verstand besteht in der Behauptung, dass es in allem eine genau bestimmbare Richtung, einen genau bestimmbaren Sinn gibt; das Paradox jedoch besteht in der Bejahung zweier Richtungen, zweier Sinnsphären zugleich.« (Deleuze 1969/1993: 15) Auf diese Weise möchte ich den Begriff freilegen und seine Anwendungsweise bestimmen: Paradox ist etwas, das sich dem gesunden Menschenverstand widersetzt indem es ihm etwas Wesentliches hinzufügt. Man kann beobachten, dass, wenn der gesunde Menschenverstand ins Spiel gebracht wird, Weiterdenken in aller Regel endet. Das soll hier nun einmal anders sein. Denn was eigentlich ist der gesunde Menschenverstand? Nachdem er etwas beenden kann, handelt es sich wohl um ein Grenzgeschehen. Ich möchte vorschlagen, dass der gesunde Menschenverstand die Grenzen der Wirklichkeit markiert. Man kann sagen, der gesunde Menschenverstand weiß; er weiß, was man wissen kann. Er nimmt im Laufe des Lebens zu, weil er in konkreten Erfahrungen entsteht. Der gesunde Menschenverstand hilft uns das Leben zu meistern indem er uns Informationen, die er aus vergangenen Wahrnehmungen gespeichert hat, für die gegenwärtige Handlung zur Verfügung stellt und mit der aktuellen Wahrnehmung abgleicht. Seine Stärke entfaltet sich bei alltagsweltlichen Fragestellungen. Wenn jemand vor meinen Augen einen Unfall erleidet, setze ich meinen gesunden Menschenverstand ein, um zu entscheiden, ob und wie ich helfen kann. Paradoxales Denken wird in dieser Situation nicht meine erste Wahl sein, da mich zunächst nicht interessiert, welche Wahrheitsfragen dieser Unfall aufwirft, sondern nur, was wirklich passiert ist und wie ich wirklich helfen kann. Der gesunde Menschenverstand hilft uns zu überleben und das ist eine ganze Menge. Wofür er hingegen nur sehr bedingt brauchbar ist, sind Fragen nach dem Leben jenseits des Überlebens wie eben die nach dem guten Leben. Der gesunde Menschenverstand ist nicht darauf ausgerichtet, die Situation der doppelten Kontingenz zu verarbeiten. Dafür ist er sehr praktisch, indem er versteht, was ist, Punkt. In diesem Sinne denkt der gesunde Menschenverstand nicht weiter. Ein Problem mit dem gesunden Menschenverstand ergibt sich, wenn er eingesetzt wird für Fragen, die auf eine Tiefendimension abstellen, die zu bewältigen er nicht angelegt ist, er sozusagen missbraucht wird indem er dazu benutzt wird Verallgemeinerungen zu legitimieren. Wenn der gesunde Menschenverstand zur Bewältigung komplexer Fragen eingesetzt wird, die sich mit den Grenzen der Wirklichkeit oder mit Problemstellungen jenseits davon beschäftigen, führt dies zu vereinfachenden Absolutismen im Stil von: Das ist so. Abstrakte und konkrete Problemstellungen gibt es in allen Bereichen des Lebens, häufig zu beobachten sind Vereinfachungen bei Beantwortungsversuchen abstrakter psychologischer, soziologischer und philosophischer Problemstellun-

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gen, weniger bezüglich physikalischer, mathematischer oder biochemischer Fragen. In Bezug auf letztere scheint der Mensch die Grenze des gesunden Menschenverstandes automatisch zu respektieren, nicht aber wenn es um die Seele, die Gesellschaft oder das Leben an sich geht. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, warum dies so sein könnte, das ändert aber nichts daran, dass sich hieraus ein eigenes Problem für die Disziplinen Psychologie, Soziologie und Philosophie bzw. für die wissenschaftliche psychologische, soziologische und philosophische Kommunikation stellt. Mit der Einführung einer grundlegenden Position für Paradoxien in geisteswissenschaftliche Diskurse lässt sich diesem Problem begegnen. Etwas Wesentliches wird dem gesunden Menschenverstand mit der Paradoxie hinzugefügt. Das Paradoxe weist den gesunden Menschenverstand in seine Schranken, so dass dieser innerhalb seiner Grenzen dann auch tatsächlich salutogen eingesetzt werden kann. Paradoxien tun dies allerdings nicht, wie der Gemeinsinn unterstellt, indem sie ein Gegenteil behaupten, sondern indem sie in Zweifel ziehen – und für diesen Zweifel Material liefern –, dass der gesunde Menschenverstand die Wahrheit sagen kann. Das Feld der Wahrheit zu erhellen ist das Vorrecht der Paradoxie, gerade so wie der gesunde Menschenverstand zum Verständnis der Wirklichkeit angelegt ist. So jedenfalls würde ich Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff in dieser Arbeit anlegen wollen. Das Paradoxon präsentiert dem gesunden Menschenverstand den Topos des Anderen, den der gesunde Menschenverstand nicht wahrnehmen und damit auch nicht integrieren kann. Das Andere als Topos ist keine andere Wirklichkeit, sondern es setzt als unmöglich zu Wissendes den Wahrheitsbegriff in Gang. Das Andere ist beim Wort zu nehmen und muss in seiner Andersartigkeit begriffen werden. Es ist nicht möglich, dies Andere auf dieselbe Art wie die Wirklichkeit zu sehen, zu hören, zu schmecken. Es genügt nicht, den Blick zu wenden oder die Perspektive zu ändern, um das Andere auftauchen zu lassen. Das Andere befindet sich im Unbestimmten, braucht also, um im Bild zu bleiben, einen schweifenden Blick. Die Andersartigkeit lässt sich beispielsweise in den Fokus nehmen, wenn man, wie Luhmann das macht (wobei er selbst einen völlig anderen Wahrheitsbegriff theoretisiert!), mit Realitätsverdoppelungen operiert. Er erweitert die Beschreibung der Wirklichkeit als eine kontingente auf eine doppelt kontingente, d.h. er beschreibt die soziale Welt als eine Situation, in der Ego und Alter sich als wechselseitig kontingent handelnd interpretieren müssen. »Die allgemeine Lebenslage des Menschen ist gekennzeichnet durch eine übermäßig komplexe und kontingente Welt. Die Welt ist komplex insofern, als sie mehr Möglichkeiten

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des Erlebens und Handelns birgt, als je aktualisiert werden können. Sie ist kontingent in sofern, als diese Möglichkeiten sich in ihr abzeichnen als etwas, das auch anders sein oder anders werden könnte. Das wichtigste menschliche Ordnungsmittel in dieser Welt ist Sinnbildung und Kommunikation, mit der die Menschen sich darüber verständigen, dass sie dasselbe meinen und weiterhin meinen werden. Kommunikation erhält durch strukturierte Sprache den Grad an Effektivität, der den Menschen zum Aushalten einer solchen Welt und zu weitausgereifter Selektivität in ihr befähigt.« (Luhmann 2008: 12)

Während der Begriff Kontingenz wie eine Reduktionsformel für Komplexität funktioniert, verweist der Begriff der doppelten Kontingenz trotz seiner Logik sofort wieder auf eine Unüberblickbarkeit. Genau mit dieser Unüberblickbarkeit kann Luhmann dann eine Tiefendifferenzierung seiner systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse vornehmen. Pluralität und Kontingenz beschreiben ein Wirklichkeitsbild. Das Nebeneinander von Unterscheidbarem der Pluralität und das Es-ist-auch-anders-möglich der Kontingenz beziehen sich auf die konkret wahrnehmbare Wirklichkeit. Auch wenn das Andere im Gegensatz dazu notwendig immer opak bleibt, kann es mit paradoxalen Denkvorgängen dazu benutzt werden von etwas zu sprechen, über das sich schwer sprechen lässt: dem Menschsein. »Wenn das Menschsein über ihm eigene Bedeutungen verfügt, werden sie sich dann be vorzugt in jenem Moment des Traumes enthüllen, in dem das Netz der Bedeutungen sich zusammenzuziehen scheint, ihre Evidenz sich trübt und die Formen der Anwesenheit am stärksten verwischt werden?« (Foucault 1954/2001: 109)

In diese Richtung weist der hier vorgelegte Versuch. Er geht davon aus, dass Menschsein aufgrund seiner reflexiven psychischen Struktur sowie aufgrund der Tatsache, dass wir immer schon drinnen stecken nur indirekt, d.h. mithilfe des Anderen erkannt und sinnvoll theoretisiert werden kann. Den Königsweg sehe ich dabei über einen Vorgang sich aufspannen, an dessen Beginn Erkenntnis mithilfe von Paradoxien steht, dessen Mitte vor allem durchschritten werden muss (und dafür gibt es unendlich viele Wege), und an dessen Ende eine Art reflektiertes Glauben stehen kann, mit anderen Worten: ein Bekenntnis. Paradoxales Erfassen heißt dabei begreifen, indem sich dem schon bekannten Meinen etwas Anderes hinzufügt. In dieser Zusammenfügung von Gewusstem und dem Erscheinen des Nicht-Wissbaren entsteht Erkenntnis. Darum geht es mir, mit dem Drehmoment Paradoxie. Es geht darum, das Paradoxe als Ausgangspunkt für Erkenntnis zu nutzen, mehr noch: das Feld der Erkenntnis wie mit dem paradoxen Pflug aufzubereiten, um das Schwanken zwischen Klarheit und Unschärfe in der Wahrheit wahrnehmbar zu machen und der Differenzierung zwischen weiterge-

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reichtem Wissen und dem zum Denken auffordernden Ungewussten auf die Spur kommen zu können. In diesem Sinne wird der Begriff Paradoxie hier verwendet: Als Drehmoment, das die doxa, das auf Wissen bezogene Meinen, den gesunden Menschenverstand, in Bewegung bringt mit dem, was man nicht wissen kann. Als Figur, die der Evidenz das Denken hinzufügt. Als Muster, das alles natürlich Erscheinende mit dem Unbekannten mischt. Als Ausgangslage, die das Vertraute mit dem Unheimlichen verbindet. Der Begriff Paradoxie meint hier also nicht das Gegenteil von dem, was uns gemeinsam evident erscheint, sondern er benennt das, was die Wirklichkeit mit etwas verbindet, das außerhalb von ihr liegt, mit einem Außerhalb, das zur Wahrheit auffordert, zum Wahrnehmen und Wahrsprechen, mit anderen Worten: zum Denken. Paradox ist etwas doppelt Verwiesenes: gleichzeitig auf die Anschauung, deren Effekt eine Lebenswirklichkeit ist, die natürlich wirkt, deren Ordnung evident erscheint; auf die Anschauung über eine Welt, der wir unterstellen, dass wir sie teilen. Und auf etwas jenseits davon. Das Paradoxe ist eine Bewegung zwischen diesen beiden Feldern. Die Paradoxie ist nicht das Andere, sondern eine Drehbewegung: das Eine/das Andere. Der gesunde Menschenverstand zeichnet sich dadurch aus, dass er geteilt wird, er steht für die Geltung des Gewussten, des Allgemeinguts. Diese Gültigkeit ist eine Unterstellung, die gerade als solche funktioniert. Der gesunde Menschenverstand könnte auf die Frage ›Was ist ein gutes Leben?‹ ganz einfach antworten: eines, in dem man glücklich und zufrieden ist. Und er wird bekannte Elemente aufzählen wie Gesundheit, befriedigende soziale Strukturen, keine Einschränkung der persönlichen Freiheit etc., die ein solches Leben ermöglichen. Darin liegt seine Stärke, er zeichnet ein klares Bild. Dieses Bild nützt allerdings nur als Anschauungsmaterial, wenn man sich für Erkenntnis und Ethik interessiert. Denn es kann das Komplexe, Nicht-Evidente schlicht nicht beschreiben, das liegt außerhalb seines Sichtfeldes. Der gesunde Menschenverstand ist zwar in dieser Hinsicht begrenzt, aber er ist doch ein Verstand. Er kann zumindest reflektieren, dass es das Paradoxe gibt. Er weiß es – und verdrängt es! Er weiß und verdrängt, dass er eine Seite der Pa radoxie ist. Er weiß und verdrängt normalerweise, dass es zu einfach ist, zu denken, dass die Klarheit, die er über das Leben vermittelt, das ganze Leben sei. Das Andere, die andere Seite des Paradoxen, das Unbekannte, das, was in Frage steht, das Ungewusste, Unevidente und wie es in Zusammenhang gebracht werden kann mit dem Wissen, in den Worten Foucaults: mit dem Sichtbaren und Sagbaren, das ist das Feld meiner Forschung.

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Es ist die Wahrheit, die sich aufgrund ihrer nicht reduzierbaren Komplexität als Absolutes präsentiert. Die Unauflösbarkeit der Komplexität und das Unmögliche, die sich mit dem Topos des Anderen einführen, können und müssen in diesem Fall als produktives Momentum begriffen werden. Luhmann drückt diese Produktivität in Bezug auf die Soziologie so aus: Wenn man bereit ist, das Ideal der naturgegeben Gleichheit zu opfern, kann »[...] die Andersheit des anderen zu dem Befund [werden], der Sozialität – nicht nur notwendig oder förderlich, sondern überhaupt erst möglich macht« (Luhmann 2008: 9).

3.1 DAS PARADOXE ALS BEWEGLICHER GRUND ZU PHILOSOPHIE UND PSYCHOANALYSE »Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in ein und demselben Jetzt hier und nicht hier zugleich ist und nicht ist. Man muss den alten Dialektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der Be wegung aufzeigen, aber daraus folgt nicht, dass darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, dass die Bewegung der daseiende Widerspruch ist.« (Hegel 1831/1984: 59)

Sich erkenntnistheoretischen und ethischen Problemstellungen über das Paradoxe anzunähern ist nicht neu. Das ergibt schon eine oberflächliche Sichtung der Philosophiegeschichte. Die nachfolgenden Anrisse sind nicht dazu gedacht, darüber einen Überblick zu geben und sie stellen auch keine inhaltlich lineare Zusammenstellung über philosophische Auseinandersetzungen mit dem Paradoxen dar. Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, dass Philosophieren von Anfang an über den Dualismus absolutes versus konkretes Leben in der Paradoxie verbunden war. Beispielsweise bei den von Hegel angesprochenen alten Dialektikern 1. Ihre zentrale Thematik ist die arché, die Frage nach dem Urgrund oder Anfang, aus dem alles entstanden ist. Sie philosophieren über Unterscheidbarkeiten zwischen dem, was ungeschaffen, anfangs-/endlos und unbewegt ist sowie dem Geschaffenen, zeitlich Begrenzten und sich in Bewegung Befindendem. Parmenides trifft im 6. Jh. vor Christus eine Differenzierung, die den Begriff der Wirklichkeit völlig anders einsetzt, inhaltlich aber sehr nah an der oben dargestellten Fassung von Wirklichkeit und Wahrheit in der Paradoxie ist. Er unterscheidet die Alltagswahrnehmung der Welt, die doxa, von der wirklichen Welt, der aletheia. Während er die doxa als Anschauung und Meinung über die Welt begreift, sieht er

1

Vgl. dazu auch Oittinen 2010.

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die Wahrheit als der wirklichen Welt entsprechend, die er, obwohl die meisten Menschen sie nicht wahrnehmen, dennoch als Nicht-Verborgene interpretiert. Dieser Dualismus – Wahrheit als Absolutes, als ungeschaffenes, unveränderliches und unzerstörbares Ganzes und dem gegenüber der gesunde Menschenverstand als relativ darauf bezogen – durchzieht die abendländische Philosophiegeschichte in sich wandelnden Formen bis heute. Auf der einen Seite: das gelebte Leben, die Wahrnehmungen und Verwirklichungen. Auf der anderen Seite: das Leben an sich, die Wahrheit und das Reale. Mit diesem Dualismus wird seither zugleich die ethische Frage nach dem guten, richtigen Leben verhandelt – im Sinne von: das gelebte Leben ist voll Verfehlungen und Verkennen, aber es gibt als Orientierungsgröße das gute Leben an sich, das zu leben das Ziel jedes Menschen sein sollte. Und es wird mit ihm auch die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit formuliert, die der Mensch hat, die Wahrheit und das Gute überhaupt zu erfassen. Vermutlich ein Schüler von Parmenides, Zenon von Elea, wendet explizit eine Art des Beweisführens oder Argumentierens zu dem genannten grundlegenden Dualismus mithilfe von Paradoxa an. Sein Ziel dabei ist, die Anschauungen und Wahrnehmungen des gesunden Menschenverstandes als Illusionen zu entlarven. Auch Sokrates’ Argumentieren mithilfe von Aporien ist ein Beispiel, dass unauflösbare theoretische Problemstellungen Philosophieren überhaupt erst in Gang setzt. Er führt mit der von ihm sogenannten Mäeutik, einer Dialogstruktur, die weiteres Fragen auslöst, seine Gesprächspartner in Aporien, weil er davon ausgeht, dass die Suche nach Wahrheit erst bei der Aporie beginnt. Nicht einfach Fragen, die nicht beantwortet werden können, sondern das Sich-Hinarbeiten zu Aporien ermöglicht seiner Meinung nach die paradoxe Erkenntnis des eigenen Nichtwissens. In etwa zur gleichen Zeit wie Zenon von Elea und Sokrates leben Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Orestie und Antigone, Ödipus und Medea sowie Iphigenie und Elektra entstehen. Gleiche Zeit, andere Orte: Es wirken Konfuzius und Siddharta Gautama. Einige hundert Jahre früher hinterlässt uns Homer Illias und Odyssee. In dieser Zeitspanne, etwa 2000 v.Chr. werden auch die Upanishaden verortet, der am besten und vollständig überlieferte Teil der Schriften des Veda. Für die Vorsokratiker, die griechischen Klassiker, in der Orestie, bei Konfuzius, im Buddhismus und dem Veda – ein gemeinsames zentrales Motiv sind notwendige Verfehlungen der Erkenntnis sowie ein gleichzeitiges Ringen um das Gute. Philosophische und dramatische Texte sind begrifflich und inhaltlich immer schon von Paradoxien durchwirkt während sie sich in Variationen um das

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drehen, was der vielleicht bekannteste apollinische Orakelspruch so ausdrückt: Erkenne Dich selbst! Unabhängig davon, ob man ihn interpretiert als Aufforderung, die Begrenzung der menschlichen Erkenntnismöglichkeit zu erkennen oder glaubt, es sei auf eine göttliche Verbindung zwischen allem Existierenden abgestellt, oder ob man ihn mit einem neuzeitlichen Verständnis als Entwicklung des eigenen Selbst übersetzt, es handelt sich in jedem Fall um eine paradoxe Aufforderung, die zu machen (tun) und nicht zu machen (schaffen) ist, die, konkret und absolut, glei chermaßen auf die persönliche Lebenswirklichkeit wie auf die Wahrheit bezogen ist. Es ist eine Aufforderung, sich Fragen zu stellen, bei denen es nicht primär um eine Beantwortung geht, sondern um eine Auseinandersetzungsbewegung und die damit verbundene geistige und seelische Kultivierung. Die ewige Spalte, Lücke, Kluft die sich mit jeder Theoriebildung auftut und die in je unterschiedlichen Fassungen mit der Dualität von Wirklichkeit und Wahrheit/Realem korreliert, setzt sowohl die Fallhöhe des Denkens wie die des guten Lebens. Die Stoiker2 stellen folgende Überlegung zu diesem Dualismus an. Sie unterscheiden zwischen Zuständen und Ereignissen. Die Zustände, das sind die Körper, die in der Gegenwart und im Raum existieren. Für diese gilt: ständiges Jetzt, Chronos. Sie sind wechselseitig füreinander Ursachen, sie sind die Ur-Sachen. Die Ereignisse entwickeln sich demgegenüber in einer kontinuierlichen Bewegung, einem grenzenlosen Werden, Äon, als reine Wirkungen, sind selbst nicht dinglich, spielen sich aber an den Körpern ab. Ein Ereignis wird verstanden als zweiseitige Bewegung, als gleichzeitig das, was sich ereignet hat und was sich ereignen wird, es wird der gesamte Fluss des Wirkens in beide Richtungen, das unendliche gleichzeitige Mehr und Weniger in den Fokus genommen, dem gegenüber man sich eben stoisch verhalten kann. Lewis Caroll 3, der neben den Stoikern eine wichtige Inspirationsquelle für Gilles Deleuze darstellt, lässt diese Art reiner Ereignisse an vielen Stellen in seinen Büchern stattfinden, so zum Beispiel, wenn Alice nie wächst ohne zu schrumpfen. Die Stoiker denken mit dem von ihnen eingeführten Körper-Ereignis-Dualismus eine sehr spezielle Art der Kausalbeziehung 4: Es gibt zwar Ursache und 2

Vgl. dazu Deleuze 1969/1993: 19.

3

Caroll 1974 und 1974.

4

»Die Fragilität des Sinns ist leicht zu erklären. Das Attribut ist von anderer Natur als die körperlichen Qualitäten. Das Ereignis von ganz anderer Natur als die Aktionen und Passionen des Körpers. Doch es resultiert aus ihnen: Der Sinn ist die Wirkung

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Wirkung, aber sie bilden keine ineinander übergehende Kette, sondern kommen als zwei diverse, einander nicht durchdringende Seinsweisen vor. Sie sehen stattdessen eine innere Verbundenheit aller Ursachen miteinander, die sie Schicksal nennen und eine innere Verbindung der Wirkungen ineinander. Die Körper mit ihren Zuständen und Qualitäten, mit allen Merkmalen der Substanz werden als unwirksames Außensein beschrieben. Die Wirkungen, unkörperlich, nicht Sein, sondern eine Art-zu-sein beschreiben sie als Infinitive. Körper und Ereignisse berühren sich indem sich Wirkungen an der Oberfläche der Ursachen ereignen, so entstehen Effekte. Und genau als das, nämlich als einen Effekt, präsentiert uns Deleuze den Sinn. Er greift den stoischen Dualismus auf, indem er deren Vorstellung, dass sich die Wirkungen als Oberflächenphänomen an den Körpern abspielen 5 für seine Analyse des Sinns nutzt und postuliert: der Sinn ist das Oberflächenphänomen schlechthin, er ist die Artikulation der Differenz zwischen den Dingen und den Sätzen. Der Effekt der Sinnstiftung besteht in der Zusammenfügung von Dingen und Sätzen. Den stoischen Körper-Ereignis-Dualismus erweitert und verändert Deleuze dabei in die Serien: Dinge-Körper-essen und Sätze-Sprache-reden. Entscheidend für diese Erweiterung ist seine Überlegung, dass zwischen den Wirkungen der Ereignisse und der Sprache eine wesentliche Beziehung besteht: die Dinge an sich sind zwar nicht in Sprache ausdrückbar, wohl aber die an ihnen stattfindenden Wirkungen. Ein Ereignis qualifiziert sich als solches, weil und indem es in Sprache gefasst werden kann. Die Körper-Dinge zeichnen sich durch ihre Grenzen aus. Aber auch die »[...] Sprache vermag gleichzeitig Grenzen zu ziehen und die gezogenen Grenzen zu überschreiten: So verfügt sie über Termini, die ihre Ausdehnung ständig verändern und eine Umkehrung oder Verbindung [...] ermöglichen« (Deleuze 1969/1993: 24).

körperlicher Ursachen und ihrer Mischungen. So dass er ständig in der Gefahr steht, von seiner Ursache erwischt zu werden. Er rettet sich und behauptet seine Irreduktibi lität nur in dem Maße, wie das Kausalverhältnis die Heterogenität der Ursachen und Wirkungen in sich aufnimmt: Bindung der Ursachen unter sich und Verbindung der Wirkungen untereinander. Das bedeutet, dass der unkörperliche Sinn als Ergebnis der Aktionen und Passionen des Körpers seine Differenz zur körperlichen Ursache nur insoweit bewahren kann, als er sich an der Oberfläche einer Quasi-Ursache anschließt, die ihrerseits unkörperlich ist. Genau dies haben die Stoiker gut erkannt: Das Ereignis unterliegt einer doppelten Kausalität, indem es einerseits auf die Körpermischungen als seine Ursache verweist, andererseits auf andere Ereignisse als seine Quasi-Ursa che.« (Deleuze 1969/1993: 125) 5

Vgl. Deleuze 1969/1993: 21 f.

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In weiterer Folge lässt sich sehen, wie Deleuze das paradoxe Moment verortet. Er begreift das Paradox als einen Kettenschluss, der die Dualität, oder wie er es selbst ausdrückt: zwei heterogenen Serien, zusammenfügt. Im Feld der Sprache repräsentieren Signifikant und Signifikat diese beiden Serien. Jeder einzelne Signifikant hat seinen Platz in Bezug auf alle anderen Signifikate und ebenso jedes einzelne Signifikat in Bezug auf alle anderen Signifikate. Dieser absolute Platz innerhalb der eigenen Serie wird zu einem beweglichen Teil einer Relation sobald man sich für die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat interessiert. Das paradoxe Element ist die Verbindung dieser zwei nicht ineinander überführbarer Seiten zu einem Ganzen. Wenn er den Sinn als die Grenze zwischen den Dingen und den Sätzen denkt 6, dann stellt er auf diesen in Form einer Paradoxie verbindenden Effekt ab. Wenn etwas an der Ursache wirkt, findet ein Ereignis statt. Was ein Ereignis so spannend macht, ist, dass es sich zugleich auf Körper be- und als Sprache vollzieht. Zum einen sind nur die Veränderung, die Attribute und Qualitäten der Körper-/Dingzustände aussagbar und nie der Körper/das Ding an sich, zum anderen gehört es wesenhaft zu der Existenzform von Ereignissen, dass sie sprachlich ausgedrückt werden. Das heißt im Umkehrschluss auch: damit Sprechen Sinn macht, muss der Akt des Formulierens auf etwas bezogen sein, was sich über die Dinge/Körper äußern lässt. Signifikant und Signifikat treffen im sinnhaften Formulieren aufeinander. Allerdings ohne dass sie dabei jemals zusammenfallen würden, sondern eben in jenem dualistischen, als paradox zu begreifenden Verhältnis. Etwas ereignet sich, heißt Ursache und Wirkung schließen sich zusammen. In diesem Zusammenschluss denkt Deleuze auch die Verknüpfung von räumlichen und zeitlichen Strukturen7. Ereignisse verzeitlichen die räumlich existieren6

»Das Ereignis ist dem Werden und das Werden seinerseits der Sprache koextensiv; das Paradox ist also im wesentlichen ein ›Kettenschluss‹, das heißt eine Serie von Fragesätzen, die dem Werden entsprechend mittels sukzessiver Hinzufügungen und Abzügen verfahren. Alles ereignet sich an der Grenze zwischen den Dingen und den Sätzen.« (Deleuze 1969/1993: 24)

7

»Zwei Zeiten, von denen die eine sich nur aus verschachtelten Gegenwarten zusammensetzt und die andere sich nur in in die Länge gezogene Vergangenheit und Zukunft zerlegen lässt. Deren eine stets bestimmt, aktiv oder passiv, und deren andere ewigwährender Infinitiv, auf immer neutral ist. Deren eine zyklisch ist, der Bewegung der Körper Maß gibt und von der Materie abhängt, von der sie begrenzt und erfüllt wird; deren andere reine gerade Linie auf der Oberfläche ist, unkörperlich, grenzenlos, leere Form der Zeit und unabhängig von jeder Materie. [...] Das ist der physische und zyklische Chronos der wandelbaren Gegenwart. [...] Das ist der unkörperliche Äon,

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den Körper und Dingzustände, die selbst an und für sich nur gegenwärtig sind. Sie versehen Körper im Sprechen mit Vergangenheit und Zukunft; man kann sagen, Ereignisse bewirken, dass Dinge passieren. Das, was passiert, ist die Sinnhälfte der Dinge und auszudrücken, was passiert, ist der Sinn der Sätze. Deshalb sagt Deleuze, der Sinn ist weder nur im Satz und ebenso wenig nur am Ding zu finden, er ist die paradoxe Verbindung dieser beiden ungleichen Felder miteinander. In dem paradoxen Element liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Sinn und der Bedeutung eines Satzes8. Der Sinn findet sich außerhalb des Satzes, an seiner Grenze im Zusammenschluss mit den Dingen. Die Bedeutung hingegen liegt im Satz, sie lässt sich allein aus der Beziehung der Worte zu den allgemeinen Begriffen erschließen. Der Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung ist damit gravierend: Bedeutung wird sprachimmanent festgelegt, sie ist es, die von daher auch allein mit dem gesunden Menschenverstand festgestellt werden kann, während Sinn, weil durch das paradoxe Drehmoment sich ständig selbst entwickelnd, nie endgültig zu fassen ist. Sinn ist un-be-dingt. Oder wer das so verstehen möchte: transzendent. »Der Sinn ist gleichsam die Sphäre, in die ich bereits eingeführt bin, um die möglichen Bezeichnungen vorzunehmen und selbst noch die entsprechenden Bedingungen zu denken. Der Sinn ist immer vorausgesetzt, sobald ich zu reden beginne; ohne diese Voraussetzung könnte ich gar nicht beginnen.« (Deleuze 1969/1993: 48)

Sich dem Sinn zuwenden heißt, sich in eine endlose Kette des schon-Vorausgesetzten und noch-nicht-Bestimmten zugleich zu begeben. Die beiden aufeinander bezogenen Seiten des Sinns stehen dabei in einem produktiven, weil nicht ineinander auflösbarem Verhältnis zueinander. Diese Unauflösbarkeit fordert zur

der sich entfaltet hat und unabhängig geworden ist, indem er sich von seiner Materie freimacht und in beide Richtungen der Vergangenheit und der Zukunft zugleich flieht. [...] Und dieser Äon als gerade Linie und leere Form ist die Zeit der Ereignisse-Wirkungen. So sehr die Gegenwart die zeitliche Verwirklichung des Ereignisses misst, das heißt seine Verkörperung in der Tiefe der agierenden Körper, seine Verkörperung in einem Dingzustand, so wenig ist das Ereignis für sich und in seiner Unempfindbar keit, seiner Undurchdringlichkeit eines der Gegenwart, sondern weicht zurück und schreitet voran, in zwei Richtungen zugleich, und immerwährendes Objekt einer doppelten Frage: Was wird sich gleich ereignen? Was hat sich soeben ereignet?« (Deleuze 1969/1993: 88) 8

Vgl. Deleuze 1969/1993: 29 f.

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Sinnsuche heraus. Das paradoxe Element ist der Motor für die Sinn-Bewegung. Das Ungleiche bedeutet Genese. So produktiv Sinn – und das paradoxe Element in seinem Zentrum – einerseits ist, so problematisch ist er auch. Er ist wie ein Monster, das sich der Registrierung entzieht, dem man sich nur als solches stellen kann: aus zwei ungleichen Seiten zusammengesetzt und damit gegenüber jeder Bejahung oder Verneinung neutral. Entstehend aus der fortwährenden Bewegung zwischen dem PseudoPaar Körper/Sprache bleibt Sinn ein Stellungseffekt. So und/oder anders ist er kontingent. Er existiert als Problem und nicht als Lösung, dies umso mehr als er in seiner Brüchigkeit nicht nur leicht in Unsinn kippen kann, sondern wegen seiner Neutralität gegenüber Bejahung und Verneinung (die ihrerseits das Prinzip der Wirklichkeit verkörpern: so oder nicht so) auch höchst anfällig ist, zu einer feststellbaren Bedeutung vereinfacht zu werden. Letztlich ist er das Problem schlechthin. Und genau deshalb schlägt Deleuze auch vor, ihn ›?-Sein‹ 9 zu schreiben. Ist Philosophie die Hatz nach dem Sinn, so betreibt die Psychoanalyse dabei die hohe Kunst der Sinnstiftung durch Interpretation des Seelenlebens. Wenn man Wahrheit begreift als die Bewegung, die das Unevidente auslöst und nicht als das Bejahen oder Verneinen des Wirklichen, dann lassen sich aus diesem Blickwinkel geisteswissenschaftliche Denktraditionen und ihre Wandlungen als epochal spezifische Fassungen des Ungewussten betrachten. Gilles Deleuze unternimmt es, das Ungewusste als Logik des Sinns zu beschreiben und dabei die Paradoxie sowohl als Synthesemittel für die Ereignisse als auch als Analyseinstrument für die Sprache explizit zu machen. Für das Wissenschaftssystem ist das Vorhandensein von 1001 Wahrheiten ein großes Thema. Die Tatsache, dass es keinen universell gültigen Kanon für das Auslegen von Sinn, dass es keine allgemeine Hermeneutik gibt, sondern auch hier mehrere und widersprüchliche Regeln der Interpretation aufgestellt und angewandt werden, hat Paul Ricoeur zu seinem Buch ›Die Interpretationen. Ein Versuch über Freud‹ angeregt. Er wollte wissen, was die Hermeneutik der Psychoanalyse kennzeichnet. »Mein Problem ist das der Konsistenz der Freudschen Rede. Es ist zunächst ein erkenntnistheoretisches Problem: Was heißt ›deuten‹ in der Psychoanalyse, und wie verschränkt sich die Interpretation der menschlichen Zeichen mit der ökonomischen Erklärung, die behauptet, an die Wurzel des Wunsches zu rühren? Sodann ist es ein Problem der Reflexionsphilosophie: Welches neue Selbstverständnis entsteht aus dieser Interpretation, und 9

Vgl. Deleuze 1969/1993: 158.

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welches Selbst gelangt hier zu seinem Verständnis? Schließlich ist es ein dialektisches Problem: Schließt die Freudsche Kulturdeutung jede andere aus?« (Ricoeur 1969/1974: 10)

Als ein erstes Kennzeichnen der psychoanalytischen Hermeneutik macht Ricoeur dabei die Betrachtung des Bewusstseins als falsches Bewusstsein aus. Durch diesen Zweifel an der Wahrheit des Bewussten oder des Wirklichen sieht er Freud in einer Tradition mit Marx und Nietzsche stehen, die er gemeinsam die drei großen Meister der Schule des Zweifels nennt. Ihnen geht es nicht darum, mithilfe ihrer Interpretationen einen an sich vorhandenen, aber verlorenen oder nicht frei zugänglichen Sinn wiederherzustellen, sondern: »Alle drei [...] legen den Horizont frei für eine authentische Sprache, für ein neues Reich der Wahrheit [...] durch die Erfindung einer Kunst des Interpretierens. [...] [Sie] triumphieren über den Zweifel am Bewusstsein durch eine Exegese des Sinns.« (Ebd. 47) Die Exegese des Sinns verläuft in der Psychoanalyse als Übersetzen von Unbewusstem in Bewusstes. Ohne dass Freud selbst dem Paradoxiebegriff in seinen Schriften einen besonderen Stellenwert gegeben hätte, handelt es sich bei der psychoanalytischen Interpretation im vollen Sinne des hier entwickelten Paradoxieverständnisses um einen paradoxalen Vorgang. Die Übersetzung findet bei Freud als Verbindungsbewegung von einer Qualität in eine andere statt. So wie der Fährmann in den Hades übersetzt und von dort wieder zurück zu den Sterblichen steuert, so verbindet die psychoanalytische Deutung ebenfalls zwei Reiche miteinander, die strukturell aufeinander bezogen sind, in ihrem Zusammentreffen aber nicht ineinander aufgelöst werden. Immer bleibt ein Gap, der die beiden Qualitäten zueinander verschiebt und aufeinander bezieht. Spaltung, Verschiebung, Verdichtung, Verkehrung, Wendung – und vor allem Verdrängung sind Begriffe, mit denen Sigmund Freud den Aspekt der Bewegung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten ausdrückt. Vorgänge, die ich als paradoxe Drehmomente darstellen möchte. Seine Psychoanalyse ist wesentlich eine dynamische. Genauso viel Aufmerksamkeit wie der psychischen Dynamik schenkt Freud nur der Topik, in deren theoretischen Anfängen und seither gedanklichen Basis die Verknüpfung von dem einen, dem Wirklichen und Wahrnehmbaren – sei es das Symptom oder der tatsächlich geträumte Trauminhalt – mit dem Anderen, dem Realen, aber dennoch mit den Sinnesorganen nicht direkt Zugänglichen steht. Freuds Art, die Verbindung zwischen unbewussten und bewussten seelischen Vorgängen zu theoretisieren ist vergleichbar der Weise, wie die Stoiker Ursachen und Wirkungen zueinander setzen. Die Verbindung dessen, was man bezüglich der Lebenswirklichkeit eines Menschen beobachten kann mit dem Topos des Anderen, des Ungewussten, der Aspekt der Sinnstiftung durch die Bewegung zwischen zwei heterogenen Qualitäten und die Vorstellung, dass diese nie

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zu einem Stillstand kommende psychische Dynamik sowohl produktiv als auch problematisch ist, stellen Kernaspekte der Freudʼschen Lehre dar. Die Sprache und das Sprechen spielen in der Psychoanalyse eine herausragende Rolle. Ricoeur bestimmt den Ort der Psychoanalyse als den Ort der ›Symbole oder des Doppelsinns‹ und begreift die psychoanalytische Deutung als Verstehen des Doppelsinns, als Vorgang der Sinnstiftung in Bezug auf zweideutige Ausdrücke. Genauso wie Deleuzes Sinnbegriff ist Ricoeurs Interpretationsbegriff inspirierend für mein Verständnis von Paradoxie und stellt einen Grund dar für meinen Fokus auf die paradoxe Drehbewegung. Während Deleuzes Auseinandersetzung mit dem Sinn politisch motiviert erscheint, scheint Ricoeurs Interesse am Deuten vor allem ein intellektuelles, ein geistig-spirtuelles zu sein, so wenn er schreibt: »Es gibt keine Symbolik vor dem sprechenden Menschen, auch wenn die Kraft zum Symbol tiefer wurzelt, in der Expressivität des Kosmos, im Sagenwollen des Wunsches, in der imaginativen Mannigfaltigkeit der Subjekte. Doch stets kommt der Kosmos, der Wunsch, die Bilderproduktion in der Sprache zum Wort. [...] Das Symbolische, das ist die universelle Vermittlung des Geistes zwischen uns und dem Realen; das Symbolische will vor allem die Nicht-Unmittelbarkeit zum Ausdruck bringen [...]. Überdies scheint das Wort Symbol gut geeignet, die kulturellen Instrumente unserer Wirklichkeitserkenntnis zu bezeichnen: Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft.« (Ebd. 22)

Die gedankliche Verknüpfung von abstrakten Phänomenen mit konkreten Vorgängen ist eine besondere Qualität von Ricoeur. Gut trainiert durchwandert er immer wieder das volle Spektrum; er begnügt sich nicht damit ins Zentrum zu zielen, sondern interessiert sich für die ganze Distanz zwischen Marko- und Mikroerscheinung, um so das Wesentliche einer Sache freizulegen. Regelmäßig definiert er, damit wir ihm folgen können und erweitert seine Definitionen mit jedem weiteren Gang. Um das Besondere der psychoanalytischen Hermeneutik herauszuarbeiten wählt Ricoeur den Weg vom Symbol zur Interpretationsarbeit, für die er als Gemeinsamkeit die intentionale Struktur hervorhebt. Vergleichbar zu Deleuze begreift Ricoeur Sinn als Doppelsinn, der deshalb jede Wirklichkeitserkenntnis – ob sie sich nun als spirituelle, intellektuelle oder dichterisch-künstlerische Manifestation anbahnt – zu einem Interpretationskonflikt macht. Was in Deleuzes Diskurs das Paradoxon, ist bei Ricoeur das Symbol: »Um diesen zerstreuten Manifestationen des Symbols Konsistenz und Einheit zu verleihen, definiere ich es durch eine gemeinsame semantische Struktur, die des Doppelsinns. Symbol ist dort vorhanden, wo die Sprache Zeichen verschiedenen Grades produziert, in

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denen der Sinn sich nicht damit begnügt, etwas zu bezeichnen, sondern einen anderen Sinn bezeichnet, der nur in und mittels seiner Ausrichtung zu erreichen ist.« (Ebd. 28)

Als Symbol definiert Ricoeur einen doppel- oder mehrdeutigen Ausdruck, zu dem es wesentlich dazu gehört, dass sein Sinn sich erst in der Interpretationsarbeit herstellt. Bereits bei dem Abstand10 zwischen dem Ding und seiner Bezeichnung beginnt Deutung. Der springende Punkt an der Interpretationsarbeit ist nun laut Ricoeur, dass sie sich nicht einfach nur zwischen der Dualität Ding/Bezeichnung abspielt, dass man nicht einfach interpretieren kann, was man wahrnimmt, sondern dass sich jede Interpretation in einer intentionalen Struktur zweiten Grades abspielt. Der Ausdruck intentionale Struktur zweiten Grades bezeichnet den Umstand, dass immer schon ein erster Sinn gegeben ist, dass man sich eben immer, wenn man spricht, ›in der Sprache als Ganzes niederlässt‹, wie Foucault das ausgedrückt hat. So dass man es bei jeder Interpretation mit der Sache an sich und mit einem schon darüber existierenden Sinn zu tun hat. »Das Symbol gibt, es ist die Gabe der Sprache; doch diese Gabe macht es mir zur Pflicht, zu denken, die philosophische Rede gerade mit dem zu eröffnen, was stets ihr vorausgeht und sie begründet. Ich habe den paradoxen Charakter dieses Schwurs nicht verborgen: im Gegenteil, ich habe ihn hervorgehoben, indem ich sowohl behauptete, dass die Philosophie nichts beginne, da die Fülle der Sprache ihr vorausgeht, als auch, dass sie von sich aus beginne, da sie es ist, welche die Frage nach dem Sinn und der Grundlegung des Sinns einführt.« (Ebd. 51)

Die Psychoanalyse beginnt mit der Deutung. Ihre Theoretisierung beginnt im VII. Kapitel, der 1900 erschienenen Traumdeutung mit Freuds spezifischer Differenzierung der beiden psychischen Systeme Bewusstsein und Unbewusstsein. Hier legt er seine erste Fassung des Unbewussten im Sinne der Psychoanalyse vor und findet Argumente für dessen grundlegende Bedeutung für das Seelenleben. Mit der Differenzierung in Primär- und Sekundärvorgang, d.h. der Annahme, dass unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten für die beiden Systeme gelten, stellt Freud den Traum als einen psychischen Vorgang dar, der eine Semantik des Triebes, des Begehrens und – für die Übersetzung ins Bewusste besonders relevant – des Wunsches beinhaltet. Wenn Freud schreibt, dass er die beiden Systeme und ihre Arbeitsweisen allein deshalb einer Abstraktion und Theoretisierung unterzogen hat, um darstellen zu können, welche Vorgänge bei der Traumbildung am Werk sind, wird deutlich wie untrennbar Praxis und Theorie, 10 Im Feld der Sprache handelt es sich eben um jenen zwischen Signifikant und Signifikat.

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die Wirklichkeit und die Sinnbildung, in Freuds Werk miteinander verwoben sind. »Der große G. Th. Fechner spricht in seiner ›Psychophysik‹ im Zusammenhange einiger Erörterungen, die er dem Traume widmet, die Vermutung aus, dass der Schauplatz der Träume ein anderer sei als der des wachen Vorstellungslebens. Keine andere Annahme gestatte es, die besonderen Eigentümlichkeiten des Traumlebens zu begreifen. Die Idee, die uns so zur Verfügung gestellt wird, ist die einer psychischen Lokalität. Wir wollen ganz beiseite lassen, dass der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als ana tomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Weg gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf psychologischem Boden [...].« (Freud 1900/1977: 463)

Ein Freudʼscher Geniestreich ist sicherlich, den Traum in einem Atemzug mit dem Symptom zu nennen, d.h. die selben psychischen Vorgänge gleichsam für die Traum- wie für die Symptombildung anzunehmen. In dieser Analogie steckt einiges von dem Potenzial der Psychoanalyse. Das Symptom kommt über den Menschen wie der Traum, beidem ist der Mensch erst einmal ausgeliefert – weil die Bereitschaft dazu im seelischen Apparat angelegt ist. Und sie ist angelegt, weil der seelische Apparat im Wesentlichen durch eine psychische Dynamik zu beschreiben ist, durch ein Kräftespiel zwischen unterschiedlichen psychischen Instanzen, durch ein Zusammenspiel von Quantitäten und Qualitäten in der Seele des Menschen. Dem Menschen schreibt Freud das Vorrecht zu, durch die Regulierung des seelischen Kräftespiels eine neue Qualitätenreihe, wie er es nennt, schöpfen zu können. Mit der Analyse der Wunschdynamik, die sich sowohl im Traum als auch im Symptom offenbart, gelingt es Freud eine psychische Realität von der materiellen Realität zu scheiden, mit anderen Worten: der Psyche theoriebasiert eine eigene Existenzform zuzuschreiben. »Und der praktische Wert dieser Beschäftigung, höre ich fragen, für die Seelenkenntnis, die Aufdeckung der verborgenen Charaktereigenschaften der Einzelnen? Haben denn die unbewussten Regungen, die der Traum offenbart, nicht den Wert von realen Mächten im Seelenleben? Ist die ethische Bedeutung der unterdrückten Wünsche gering anzuschlagen, die wie sie Räume schaffen, eines Tages anderes schaffen können?« (Ebd. 503)

Der Baustoff für die Landschaften der nächtlichen Träume ist, wieder mit Ricoeur, der doppelsinnige Ausdruck. Um eine Metapsychologie formulieren zu können, die in der Lage ist, auch Phänomene wie den Traum und das Symptom zu erklären, muss Freud die Vorrangstellung des Bewusstseins im Seelenleben aufgeben und sich für eine Kenntnis des Unbewussten interessieren. Wie aber

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kommt man zu einer Kenntnis des Unbewussten? Nur und immer wieder nur durch eine Übersetzungsarbeit von Unbewusstem in Bewusstes. »Hier gelangen wir zur schwierigsten Problematik [...]: Trieb und Vorstellung. Es gibt einen Punkt an dem das Problem der Kraft und das des Sinns zusammenfallen; dieser Punkt ist jener, wo der Trieb sich selbst bezeichnet, sich kundtut, sich in einer psychischen Repräsentanz zeigt, das heißt in etwas Psychischem, das ›für‹ den Trieb ›gilt‹: alles, was ins Bewusste tritt, ist nur eine Umsetzung dieser psychischen Repräsentanz, dieses ursprünglichen ›Geltens für‹. Um diesen Punkt zu bezeichnen, hat Freud den ausgezeichneten Begriff der Repräsentanzen geprägt. Es gibt etwas Psychisches, das den Trieb als Energie repräsentiert [...].« (Ricour 1969/1974: 144)

Die psychoanalytische Hermeneutik ist demnach charakterisiert durch die Verschränkung von Sinn und Kraft. Die Kraft, der Trieb, der die psychische Dynamik in Gang setzt und aufrechterhält, kann als solcher – analog zum Ding, zur Ur-Sache – nicht ausgesagt werden. Dennoch sagt er sich aus. Dies ist das paradoxe Drehmoment im Zentrum der Psychoanalyse. Sie versteht den Menschen als ein wunschvolles Wesen, das begehrt und spricht, aber nicht spricht, was es begehrt. Auf diese kippelige Stelle zielt Ricoeur mit seinem Symbolbegriff, indem er gleichzeitig eine der Sprache eigene Existenzweise in Rechnung stellt: »[Ich schlage] vor, den Anwendungsbereich des Symbolbegriffs unter Bezugnahme auf den Akt der Deutung abzugrenzen. Ich möchte sagen, dass es dort Symbole gibt, wo der linguistische Ausdruck aufgrund seines Doppelsinns oder seines vielfachen Sinns zu einer Interpretationsarbeit Anlass gibt. Diese Arbeit wird angeregt durch eine intentionale Struktur, die nicht im Verhältnis von Sinn und Sache besteht, sondern in einer Architektur des Sinns, in einem Verhältnis von Sinn und Sinn, von zweitem und erstem Sinn, ob es sich nun um ein Analogieverhältnis handelt oder nicht, ob der erste Sinn den zweiten verschleiert oder enthüllt. Diese Textur ist es, die die Interpretation ermöglicht, wenn gleich einzig die tatsächliche Bewegung der Interpretation sie offenbart.« (Ebd. 30)

Für Ricoeur ist klar, dass jeder Mythos einen latenten Logos enthält, der ent schlüsselt werden kann und will. »Deshalb gibt es kein Symbol ohne einen Anfang von Interpretation; dort, wo ein Mensch träumt, prophezeit oder dichtet, erhebt sich ein anderer, um zu interpretieren; die Interpre tation gehört organisch zum symbolischen Denken und seinem Doppelsinn. Dieser vom Symbol ausgehende Ruf nach Interpretation gibt uns die Gewissheit, dass die Reflexion über das Symbol zu einer Philosophie der Sprache und selbst der Vernunft gehört [...]. [...]

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Das Symbol ist keine Nicht-Sprache; der Schnitt zwischen eindeutiger und mehrdeutiger Sprache verläuft quer durch das Reich der Sprache; und es ist die vielleicht niemals zu Ende kommende Interpretationsarbeit, die diesen Reichtum, diese Überdeterminierung des Sinns offenbart und die Zugehörigkeit des Symbols zur integralen Rede deutlich macht.« (Ebd. 31 und 32)

Von dieser Analyse ausgehend, stellt Ricoeur die Frage, ob Philosophie das Zweideutige kultivieren darf und liefert eine besonders markante und gleichzeitig weitreichende Erklärung, warum es nicht Wissen, sondern Uneindeutiges ist, was die Reflexion hervorbringt. Er sagt, im Prinzip der Reflexion steckt an sich bereits die Unheilbarkeit der Mehrdeutigkeit der Sprache, mit ihm ist der Konflikt der Interpretationen schon gegeben; durch die Reflexion entsteht auch die Zufälligkeit der Kulturen, sprich Kontingenz! Was aber macht er als das Prinzip der Reflexion aus? Für die europäische philosophische Tradition: Das Setzen des Selbst als erste Wahrheit: »Da diese Wahrheit nicht gleich einer Tatsache verifiziert noch gleich einem Schluss deduziert werden kann, muss sie in der Reflexion gesetzt werden; ihr Sich-selbst-Setzen ist Reflexion; Fichte nannte diese erste Wahrheit: das thetische Urteil. Das ist unser philosophischer Ausgangspunkt.« (Ebd. 56)

Anders als die Gabe der Intuition ist Reflexion eine Aufgabe. Mit der Qualität der Rückbeugung wird ein gänzlich anderer Weg beschritten als eine bloße Rückkehr (zu einem vermeintlichen Ursprung). Die Grundsituation der Reflexion besteht darin, dass man als Mensch ab einem gewissen Punkt verwirrt zwischen den Dingen ist und sich in einer psychischen Getrenntheit von den anderen erlebt. ›Ich bin‹, das ist wahr, aber was kann ich daraus folgern, womit kann ich rechnen? Man erlebt die Paradoxie, dass man Wahrheit ist, sie aber nicht besitzt und nicht aussagen kann. Für ein sprechendes Wesen setzt Wahrheit als Trajektorie damit die Aufgabe der Reflexion in Gang; und zwar meine konkreten Erfahrungen, meine Wirklichkeit rück zu binden mit dem Prinzip des Setzens der Wahrheit selbst. Weil dieser nicht aufzuhebende Wahrheitsabstand im Zentrum der menschlichen Existenz besteht, ist uns ›Ich bin‹ als paradoxer Moment gegeben. So ist es dieses Grundprinzip der Reflexion, das rückwirkend die Logik des Sinns, die intentionale Struktur des Symbols und die Notwendigkeit der Interpretation zu begründen vermag. »Einzig die Problematik der Reflexion kann den zweideutigen Ausdrücken zu Hilfe kom men und wirklich eine Logik des Doppelsinns begründen. Was die zweideutigen Ausdrücke allein zu rechtfertigen vermag, ist ihre a priori-Rolle in der Bewegung der Aneig-

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nung des Selbst durch das Selbst, welche die reflexive Tätigkeit ausmacht. Diese a prioriFunktion untersteht nicht mehr einer formalen, sondern einer transzendentalen Logik [...].« (Ebd. 66)

In weiterer Folge zeigt Ricoeur, warum die der Freudʼschen Rede eigene Ambiguität, sein Schwanken zwischen trieb- und deutungsbezogenen Aussagen, warum diese Mischung in seiner Theoriebildung wohlbegründet ist. Die Originalität Freuds sieht er nämlich genau darin, dass er aus der Idee, die Quellen von Kraft und Sinn gemeinsam im Unbewussten anzusiedeln, die Möglichkeit der Übersetzungsarbeit in Bewusstes ableitet. Repräsentanz (=Triebrepräsentanz) ist hier der Schlüsselbegriff. Mit der Idee der Triebrepräsentanz wird diese Verbindung von dem Triebgeschehen mit der Sinnstiftung greifbar und wird der ›psychische Apparat‹ als ein Kontinuum zwischen Unbewusstem und Bewusstem von Freud beschrieben. Indem er dem Unbewussten zugleich aber auch besondere und ganz eigene Qualitäten zuschreibt 11, kann er dorthin den Ort der Verbindung projizieren. Die Funktion der Trieb-Repräsentanz ist das extremste Postulat Freuds und wird uns noch beschäftigen. Und weil diese Forderung an den Triebbegriff gebunden ist, stellt Ricoeur dazu fest, dass es sehr gut passt, wenn Freud sagt: ›Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie.‹ Freud nimmt damit eine psychoanalytische Reformulierung des Bewusstseins in Angriff. Das Unbewusste begegnet uns mit ihm nicht als Problem, sondern vielmehr als Lösung.

3.2 DAS PARADOXE MOTIV DER BRICOLAGE Wäre das Unmittelbare selbstredend, könnte man sich die Rückbeuge sparen. Lotpunkt der Reflexion ist der Umstand, dass nicht einmal das Selbst selbstredend ist. SELBSTREDEND ist ein schöner Begriff, aber eigentlich Unsinn; ein gutes Beispiel dafür, wie leicht Sinn in Unsinn kippen kann – wenn der Bezug zum Anderen fehlt und keine Verwiesenheit mehr zum Sinn auffordert. Fremdredend, das wäre ein sinnvolles Wort, um die conditio humana zu beschreiben. Warum ist mir die Welt nicht vertraut? Warum versteht sich nicht alles von 11 Die besonderen Qualitäten des Unbewussten werden in weiterer Folge noch zur Dis kussion stehen. An dieser Stelle greife ich mit Freuds Kompaktdefinition vor: »Fassen wir zusammen: Widerspruchslosigkeit, Primärvorgang (Beweglichkeit der Besetzungen), Zeitlosigkeit und Ersetzung der äußeren Realität durch die psychische sind die Charaktere, die wir an zum System Ubw gehörigen Vorgängen erwarten dürfen.« (Freud 1915/1975: 145)

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selbst? Warum ist die Erde auch meine Diaspora und nicht einfach nur meine Heimat? Das lässt sich wahrlich einen Umstand nennen. Mit der Geburt komme ich in die prekäre Lage nicht Ich, nicht Selbst, zu sein und doch auch nichts anderes. Mein Leben ist ein umständlicher Weg, gut zu sterben. Das klingt nicht verlockend? Zugegeben, so ausgedrückt, muss man zwischen den Zeilen lesen, um das Prickelnde daran sofort zu erfassen. Dabei ist es bekanntermaßen immer der eigene Weg, der umständlich ist, die Entscheidung, den eigenen Weg auszurichten, die Schritte nicht dorthin zu setzen wo schon gestapft ist – oder jedenfalls nicht zwingend, sondern sie so zu setzen, dass man damit gut sterben könnte. Über ein tiefverschneites Feld kann man nicht als Erste gehen, ohne dass dies nicht anstrengend wäre, manche Dinge schließen sich schlicht aus. Viel weniger schwitzen und meine Beine heben muss ich auf dem geräumten oder schon niedergetretenen Weg außen herum, ich kann dann aber weder die Geräusche hören, die der tiefe Schnee macht noch beide Hände auf die aberwitzig kontingente Schneedecke links und rechts von mir legen. Das Nicht-Nachfolgen, die In-konsequenz ist ein Merkmal der Bricoleurin, sie verplempert Zeit mit ›les bricoles‹, mit Bagatellen, die für sie eben kein unnötiges Zeug sind. Sie hält sich an zufälligen Fundstücken auf, tüftelt, fummelt sie hin und her und zieht mit ihnen weiter. Der Bricoleur, er nimmt sie an, die ›bricole‹, die Gelegenheitsarbeit, die Gelegenheit, aktiv zu werden, etwas zu erarbeiten, er hat seinen ›bricole‹, Trag- und Zugriemen, immer geschnürt, denn die ›bricolage‹, das Werken, ist seine Art zu arbeiten. Auch wenn manche zu dem, was der Bricoleur macht, abfällig Bastelei sagen können und zu dem was entsteht, Bastelarbeit, so ist umgekehrt für die Bricoleurin klar, warum sie lieber sammelt und tüftelt, als einer vorgegebenen Methode zu folgen, wie der Fachmann das macht. Die Mittel, die bei einer Bricolage angewandt werden, erscheinen diesem abwegig und das ist aus der fachmännischen Perspektive auch verständlich, sind die Mittel bei einer Bricolage eben nicht durch das Projekt, nicht durch ein vorgegebenes Ziel bestimmt, wie es in Fachmannkreisen üblich ist. Die Bricoleurin legt sich nicht die Mittel zurecht, die sie als geeignet betrachtet, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – das von Anfang an feststeht. Sondern sie schaut: Welche Mittel sind da? Und was ist mit ihnen anzufangen? Und die Mittel sind da! Weil sie in einer unbestimmten Ahnung im Sinne von ›Das könnte ich vielleicht noch brauchen!?‹ oder einfach auch in einem Anflug von Faszination vom Bricoleur nicht links liegen gelassen worden sind. Zum Zeitpunkt des Aufsammelns kann man noch nicht wissen, wofür es irgendwann sinnvoll sein gewesen sein wird. Eine eigene Expertise der Aufmerksamkeit entsteht. Bricoleure sammeln mit der Ahnung und Erfahrung, dass irgendein Etwas noch etwas ganz anderes preisgeben könnte, ohne zu wissen, was das ist. Auf diese Art findet sich im Zentrum der Bricolage der Topos des Anderen wieder, das Moment des Ungewussten und solange Unwissbarem

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bis es plötzlich eingesetzt werden kann und in der Verbindung mit etwas Sinn ergibt. Auf den Begriff bricolage bin ich bei Claude Lévi-Strauss gestoßen. Er schreibt in ›Das wilde Denken‹ von einem Ball, der unerwartet zurückprallt, von einem Pferd, das scheut, führt damit das Verb bricoler ein, welches, ursprünglich auf das Billardspiel und die Jagd angewandt, eine nicht vorgezeichnete Bewegung betont. Den vollen, dann von mir abgewandelten Sinn des Begriffs Bricolage erarbeite ich im zweiten Teil dieses Textes. Dann wird er sowohl den Erkenntnisprozess als auch das inhaltliche Ergebnis bezeichnen, d.h. für eine wissenschaftlich legitime Methodik stehen und Werksbegriff sein, indem sein ethisches Potenzial aufgefächert wird. An dieser Stelle geht es um die ihm inhärente Paradoxie. Und die besteht zunächst darin, sowohl das eine als auch das andere zu sein und beides zu verbinden: Werkzeug und Material, und zwar nicht in einer vorab bestimmten Relation. Bei einer Bricolage wird Denken nicht entweder als in seiner Art, Erkenntnis zu ermöglichen oder in seinem Inhalt für relevant gehalten, sondern ein Gedanke wird einmal mehr in seinem Potenzial, Zusammenhänge herzustellen und ein andermal mehr in seinem tatsächlich gedachten Zusammenhang relevant sein. Bricolierendes Denken ermöglicht ein Wechselspiel von Form und Inhalt, weil man nach dem Wie und dem Was zugleich fragen kann. In diesem Zusammenspiel fördert es Anderes zu Tage, das bis zu seinem Erscheinen fremd ist. »In Wahrheit handelt es sich nicht darum, zu wissen, ob durch Berührung mit einem Spechtschnabel Zahnschmerzen geheilt werden, sondern vielmehr darum, ob es möglich ist, in irgendeiner Hinsicht Spechtschnabel und Zahnschmerzen ›zusammenzubringen‹ (die therapeutische Regel, die auf dieser Übereinstimmung beruht, ist nur eine der Anwendungsmöglichkeiten) und durch solche Gruppenbildungen von Dingen und Lebewesen den Anfang einer Ordnung im Universum zu etablieren. Wie immer eine Klassifizierung aussehen mag, sie ist besser als keine Klassifizierung.« (Lévi-Strauss 1962/1973: 20)

Lévi-Strauss beschäftigte sich als Ethnologe mit ihm fremden Kulturen und auch wenn der Titel seines Buches auf die eurozentrische Bezeichnung für in Europa befremdlich erscheinende Praxen von Menschen, die deshalb ›Wilde‹ genannt wurden, anspielt, so macht er doch selbst klar, dass er den Begriff des ›Wilden Denkens‹ zwar daraus entliehen hat, ihn aber nicht auf die Praxis bestimmter Kulturen beschränkt wissen will: »Das, was ich als Wildes Denken zu definieren versucht habe, lässt sich nicht als spezifisch wem auch immer zuschreiben, sei es nun irgendein Teil oder ein Typus der Zivilisa tion. Es hat überhaupt keinen prädikativen Charakter. Ich würde vielmehr sagen, dass ich

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mit dem Wilden Denken das System der Postulate und Axiome bezeichne, die zur Begründung eines Codes nötig sind, der es gestatten würde, unter dem geringsten möglichen Verlust das andere in das unsere und umgekehrt zu übersetzen, also die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen wir einander am besten verstehen können; dabei bleibt natürlich stets ein Rest.« (Ebd. 2)

Der Unterschied zwischen einem Bastler und einem Fachmann, einer Bricoleurin und einer klassischen Wissenschaftlerin ist einerseits sicher gravierend, andererseits aber nicht absolut. Vor allem dann nicht, wenn man bereit ist, Sinn als Doppelsinn zu betrachten, denn dann sind beide Vorgänge und Ergebnisse erst einmal gleichberechtigte Interpretation. In manchen Forschungstraditionen stehen sie sich ohnehin nicht als einander ausschließend gegenüber, sondern verbinden sich zu einer besonderen Qualität. Eines dieser Felder ist die Psychoanalyse, beispielsweise wenn in ihrer Anwendung die freie Assoziation und die strikte Einhaltung eines methodischen Regelwerks gleichzeitig praktiziert wird. Ähnliches stellt Lévi-Strauss für den Strukturalismus fest: »Dass der Strukturalismus so etwas wie eine Faszination ausübt, liegt daran, dass in unserer Gesellschaft Wissenschaft vollkommen von der Kunst getrennt wird, das heißt also von allem, was in uns noch mit Sensibilität zusammenhängt. Der Strukturalismus trennt die beiden Pole nicht voneinander; im Studium sehr konkreter Phänomene, die die Sensibilität berühren, praktiziert er das, was ich als die ›Theorie des wilden Denkens bezeichnet habe‹.« (Ebd. Klappentext)

Egal, ob man auf bricolierende oder einem klassischen Wissenschaftsverständnis verpflichtete Weise zu Erkennen sich aufmacht, handelt es sich bei ›Wissenschaft‹ immer um einen Vorgang, der eine Beobachtung oder Praxis mit einer Beschreibung oder Theorie zu verbinden sucht. Das Gesellschaftssystem Wissenschaft interessiert sich weder nur für das Praktizieren oder nur für den Glauben, sondern dafür, was man aufgrund der Praxis berechtigterweise annehmen kann. Der differentielle Abstand zwischen Praxis und Theorie ist dabei entscheidend. Wenn der Abstand, der Gap, der Riss, die Kluft, die Lücke, die Getrenntheit oder Dualität, wie immer man das auch ausdrückt, zwischen den Dingen und ihrer Wirklichkeit (Praxis) und der den Worten und ihrem Potenzial zur Realität (Theorie) eingehalten wird, hält man damit das Denken sowohl vom Zufall als auch von der Determination frei. Das Denken wird frei. Sich im perfekten Abstand zu den Dingen und den Worten zu befinden, das ist natürlich genauso ein Phantasma wie die Balance konstant halten zu können. Aber das macht das Abstand-Finden und Balancieren deshalb nicht nutzlos, im Gegenteil. Einen Zugang zu finden zur Welt und zum Sprechen, sichere Fluchtpunkte aufzubauen, um sta-

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bile Trajektorien entstehen lassen zu können, das würde ich gerne als die ersten beiden zentralen Aspekte festhalten, die es ermöglichen mit der paradoxen Bewegung, die dem menschlichen Leben innewohnt, umgehen zu lernen. Wenn die Bewegung der daseiende Widerspruch ist, sollte man die Kraft des Paradoxons nutzen können! Aber nicht, indem man eine Wirklichkeit gegen eine andere profiliert, sondern indem man sich stellt – beiden Momenten der Bewegung: der Unerschütterlichkeit und der Genese, der Neutralität und der Produktivität. Sich Stellen bedeutet nicht Stehen bleiben, nicht auf Teufel komm raus die Stellung halten, sondern Haltung finden. Und um eine Haltung finden zu können, erscheint es sinnvoll umherzuziehen, sich umzusehen, auch den Abweg nicht zu scheuen und vor allem nicht die Veränderung der eigenen Haltung. Die Veränderung als einen Prozess verstehen, der uns nicht nur lebendig macht, sondern auch beheimatet. Auch wenn die Wahrheit irgendwo da draußen liegen sollte und wir sie nicht entdecken können, ist sie, indem wir Wahrheit sind, in uns als telos angelegt, d.h. wir sollten uns eine Haltung der Wahrheit aneignen können, reflexiv. Wer sich auch körperlich in Rückbeugen 12 übt, weiß, sie können schummrig machen und verwirren und sie führen, wenn man sie wieder auflöst, zu einem Prickeln im Körper. Und sind solche Zustände nicht adäquat, um das menschliche Dasein zu nehmen, in Anbetracht des gewaltigen Rauschens das uns umgibt? Eine Art Hintergrundrauschen der Sprache, die den Abstand auf ihre eigene Weise hält – mit Deleuze ausgedrückt: Die »[...] Sprache vermag gleichzeitig Grenzen zu ziehen und die gezogenen Grenzen zu überschreiten: So verfügt sie über Termini, die ihre Ausdehnung ständig verändern und eine Umkehrung oder Verbindung [...] ermöglichen« (Deleuze 1969/1993: 24). »Man wird auch nicht sagen können, dass die Paradoxa ein falsches Bild des Denkens ver mitteln, das unwahrscheinlich und grundlos kompliziert ist. Man müsste schon sehr ›ein fältig‹ sein, wenn man glaubte, dass das Denken ein einfacher, sich selbst durchsichtiger Akt sei, der eben nicht alle Mächte des Unbewussten und des Unsinns im Unbewussten ins Spiel brächte.« (Ebd. 101)

Mit Ricoeur können wir Paradoxa als Konflikt der Interpretation akzeptieren. Wofür auch Bruno Latour in seiner Anthropologie der Moderne eintritt, wenn er feststellt, dass es nunmehr und nur mehr die eigenen Erfahrungen sind, die im Mittelpunkt der Geschichte der Moderne stehen. Er nennt den »[...] Widerspruch zwischen den Erfahrungen der Welt und den Berichten, in denen darüber [...] 12 Ist es nicht wunderbar passend, wenn der Volksmund die körperliche Rückbeuge par excellence als ›Brücke‹ bezeichnet?

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Rechenschaft gegeben wird« ein Kernproblem in Bezug auf die Beschreibung der Modernen, also auf uns und schreibt weiter: »Um diesen Widerspruch aufzulösen, schlage ich vor, unsere Aufmerksamkeit auf die Interpretationskonflikte um die verschiedenen Wahrheitswerte zu konzentrieren, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind« (Latour 2014: 22). Sichere Fluchtpunkte und stabile Trajektorien können in einer kontingenten Welt nicht in Eindeutigkeiten bestehen. Das unvorhersehbare Moment, das Nicht-Wissen als wesentliches Merkmal bei der Herstellung von stabilen Sinnzusammenhängen erfordert den Balanceakt des Realisierens. Realisieren, im Sinne von Checken und Machen, hat ein aktives und ein passives Element. Es geht nicht darum, etwas schon Vorhandenes zu realisieren, sondern wie es in den Upanishaden an einer Stelle sinngemäß ausgedrückt wird: So wie der Mensch handelt, so wird er werden! Fluchtpunkte geben Sicherheit und gleichzeitig Gründe zu fliehen; Trajektorien schaffen Stabilität und geben Anlass, weiter zu ziehen. Meine persönlichen Zug- und Tragriemen lassen sich von daher auch so benennen: Angst und Lust. In ›Wege zum Glück‹ schreibt Arthur Schopenhauer, dass sich die Welt nicht von selbst erklärt. Es ist keine konkrete, aber auch keine absurde, sondern vielleicht eine abstrakt zu nennende Angst, die mich treibt: die Angst, keine Haltung zu finden in Anbetracht des Unverständlichen oder die Balance zu verlieren in Anbetracht meines Abstands zur Welt und zu den Worten, der sich von daher auch als Abgrund auftun kann. »Nicht in der Weltgeschichte, wie die Professoren-Philosophie es wähnt, ist Plan und Ganzheit, sondern im Leben des einzelnen. Die Völker existieren ja bloß in abstracto: die einzelnen sind das Reale. Daher ist die Weltgeschichte ohne direkte metaphysische Bedeutung.« (Schopenhauer 1851/1998: 238) Wenn man dem zustimmt, dass jeder für den Sinn selbst zuständig ist, dass Sinn ein performatives Dispositiv ist, folgt daraus: Practice! Und das kann eben auch schief gehen. Das macht aber auch Lust. In jedem Fall fordert es zum Üben auf: ständige Überprüfung und Erweiterung der eigenen Praxis. Immer wieder die gleiche Frage: Wonach halte ich Ausschau? Was leihe ich mein Ohr? Wie bewege ich mich? Besonders interessant ist natürlich die Frage nach der falsche Praxis. Woran könnte man eine solche erkennen? Und woran eine paradoxe Praxis? Was könnte das paradoxe Element sein, das sich im Feld des Handelns entzieht (analog zu dem Sinn im Feld der Sprache)? Das alles sind Fragen, die uns weiter beschäftigen werden. Die Bricoleurin hat auf jeden Fall immer einen freien Platz in ihrer Tasche, um dem Beantworten eine Chance zu geben. Das Andere kann nicht bestehen ohne Leerstelle, selbst wenn es auftauchen würde.

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Abschließend möchte ich noch einen letzten, für mich zentralen Aspekt an der Paradoxie herausheben: die Nicht-Integrierbarkeit. Wenn man die Wirklichkeit in ihrer ereignishaften Struktur, sprich ihrem kontinuierlichen Werden als Durchlauf oder Passage bezeichnen kann, dann wäre die Paradoxie so etwas wie die Blockade im Flow. In ihrer Doppelexistenz (das Eine und das Andere) ist das Paradoxe nicht sofort zu vereinnahmen; es ragt zunächst einmal als etwas potenziell Erstaunliches, als irgendein Dings-da quer aus dem Fluss, produziert Strudel, ist nicht einfach glatt und in den Prozess integriert. Ein Strudel oder eine Welle ist aber auch Wasser! Dies zeigt die Dialektik von Identität und Widerspruch, die Möglichkeit, paradoxal beides zugleich, mehr noch, gemeinsam, gelten zu lassen. Die Paradoxie zeigt eines ihrer stärksten Gesichter, wenn sie dem Geist – indem sie das Andere an das Eine bindet – zu einer Bodenhaftung verhilft. So dass die Schwebe als Balancieren auf festem Grund produktiv wird. Wer sich dem Bricolieren verpflichtet fühlt, für den gilt ohnehin das Motto: es gibt nur einen Weg nach draußen: durch. Dieses durch bedeutet sich Durcharbeiten, Durchwühlen, Durchwurschteln, im Zweifelsfall Durchkämpfen, es bedeutet Durchleben, Durchsuchen, Durchhalten und Durchmachen. Dieses Durch ist eines, das den reinen Flow als Fetisch entlarvt. Bruno Latour schreibt dazu in ›Existenzweisen‹: »Jede Kontinuität wird durch eine Diskontinuität, einen HIATUS gewonnen; jeder Sprung über eine Diskontinuität stellt ein Risiko dar, das eingegangen wird, um zu gelingen oder zu scheitern; stets existieren demnach BEDINGUNGEN DES GELINGES ODER MISSLINGENS, die jedem Modus eigen sind; das Resultat dieser Passage, dieses mehr oder weniger gelungenen Sprungs, ist ein Fluss, ein Netz, eine Bewegung, eine Spur, kurz, eine Trajektorie, die erlauben wird, eine eigene Existenzform und folglich besondere ENTITÄT oder WESEN zu definieren.« (Latour 2014: 159)

Ich muss selber gehen, aber niemand muss ganz alleine gehen: es gibt Vorgänger, Ahnen, Meisterinnen, an denen man sich orientieren kann, die einen unterrichten können, so dass man seinen Weg gehen kann. Vgl. ›acarya‹ (Sanskrit), der Lehrer, von ›car‹ = gehen und ›a‹ = heran; die Lehrerin als jemand, die einen heran gehen lässt. Darauf gründet die alte Guru-Sisya-Sambandha, die Verbindung zwischen Meister und Schüler. Sie bedeutete für den Meister vor allem, sich die Frage zu stellen: An welcher Stelle könnte dieser Schüler straucheln? Auch diese Frage kann als gnothi seauton, erkenne Dich selbst, gelesen werden, im Sinne von: Wisse, wo Du verletzungsgefährdet bist. Wer sind die Meister von heute? Das Absolute ist verstummt. Gott sagt auch nix. Wenn jede Entscheidung zählt, die Selbst-Reflexion ausdrücklich gefragt ist, worauf kann ich mich dabei beziehen? Wo sind die Meister? Haben wir

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einen gemeinsamen Bezug? Wo anfangen? Das alles ist wie immer. Immer eine Bewegung zwischen Erkenntnisprozess und ethos. Hier ist der Aufbruchsgrund für diesen Text: Wir begreifen jede Erkenntnis und auch das Gute als ein kontingentes Phänomen. Dadurch der Möglichkeit enthoben, Wahrheit und Moral inhaltlich festzulegen, zieht sich entsprechend die Frage nach dem guten Leben, in dieser Globalität gestellt, aus der gemeinsamen Verhandlung zurück. Gesellschaftlich werden nur mehr Teilaspekte verhandelt, jedes Organisationssystem kümmert sich um seine Themen. Und gleichzeitig drängt sie sich in jedem einzelnen Leben massiv auf, in der Variante: Wie kann ich mein Leben gut gestalten? Wie kann ich gut leben? Nichts spräche dagegen von dieser persönlichen Perspektive aus zu starten, im Gegenteil, die eigene Befragung scheint an sich ein guter Ansatzpunkt für die Reflexion, wenn jeder seine Schritte ohnehin selber setzen muss. »Denn die persönliche Ungewissheit ist kein dem Geschehen äußerlicher Zweifel, sondern eine objektive Struktur des Ereignisses selbst, insofern es stets in zwei Richtungen zugleich verläuft und das Subjekt dieser doppelten Richtung entsprechend zerteilt. Das Paradox besteht zunächst darin, den gesunden Menschenverstand als einzige Richtung, als Einbahnstraße, oder einzigen Sinn, dann aber auch den Gemeinsinn als Zuweisung festgelegter Identitäten zu zerstören.« (Deleuze 1969/1993:18)

Allein, wir scheinen dabei auf der Stelle zu treten, ganz WEIRD wiederholen wir den Wertekanon des Westens: Wie war der nochmal? Ich stelle mir vor, dass es einen großen Unterschied zwischen unseren Vorfahren und uns Menschen der Neuzeit in Bezug auf Konkurrenz gibt. Wir, die aus dem Anthropozän, die ausschließlich miteinander kon-kurrieren, bei uns hat überall der Mensch seine Finger im Spiel. Der moderne Mensch orientiert sich vor allem an anderen Menschen und nicht mehr an etwas Anderem im Sinne von etwas gänzlich Anderem wie etwas Absolutes oder Gott. Damit kann man auch nicht konkurrieren! Eine Folge davon: Die Philosophie geht in die Breite bis sie in der sogenannten Lebensphilosophie, von der gesagt wird, das jeder eine hat, vollends ihre Kraft verliert. Das ist eine Problematik bei der Frage nach dem guten Leben. Warum greife ich sie trotzdem auf? Nicht die großen Lebensfragen sind obsolet, sondern eindeutige Antworten darauf. In einer pluralen und kontingenten gesellschaftlichen Wirklichkeit lässt sich der Herausforderung, groß zu fragen, allzu leicht mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit, eine Antwort zu finden, ausweichen. In unserer Gesellschaft werden Wahrheit und Moral so zu individuellen Gütern degradiert, die dann allerdings auch nur mehr im eigenen Spiegel-

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bild sichtbar sind. Genau dem gilt es entgegen zu wirken, es gilt eine Alternative zu finden, sowohl zu der Verdrängung dieser Frage ins Private als auch zu einer inhaltlich eindeutigen, allgemeingültigen Antwort. Mein Aufbruchsort ist der Bruch zwischen unserem moralischen Handeln und dem fehlenden Konsens darüber. Was bedeutet es, wenn Erkenntnistheorie und Ethik nicht mehr von etwas Absolutem oder Gott, sondern durch das Feld der Pluralität und Kontingenz gezogen werden? Gleich bleibt die Aufruhr unserer Existenz, die uns begleitet, wie sehr wir sie auch zu glätten versuchen. Wie immer geht es um das dem Leben inhärente Konfliktpotenzial. Um das, was nicht in eine Passung gebracht werden kann. Um das, was man Riss, Kluft, Spaltung, kippliger Grund oder schlicht Bewegung des Lebens nennen kann. Um das, was dafür verantwortlich ist, dass wir von der Paradoxie nicht loskommen. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, ethische und epistemologische Paradoxien zu verstehen, um handlungsfähig zu werden – vielleicht für ein gutes Leben, vielleicht nur für ein besseres? In der Formulierung und Diskussion von Paradoxien sehe ich in jedem Fall für die heutige Zeit eine Möglichkeit, als WEIRD-Denkerin nicht einzuknicken.

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Paradoxien der Subjektivität talking without speaking, listening without hearing1

Was ist das für ein Traum vom gegenseitigen Verstehen ohne Worte? Was drückt sich aus von seiner Art zu sein, wenn das Sprachtier Mensch sich in eine Verbundenheit jenseits der Worte wünscht? Was könnte das sein? Der absurde Versuch der Subjektivierung ohne sich einen Begriff zu bilden? Man-selbstSein, unverstellt und dem Nächsten ebenso begegnen können? Der gesunde Menschenverstand, der von einer Ursprünglichkeit träumt? Welch’ Mesalliance! Mit diesen unglückseligen Schergen wird man der Wahrheit auf esoterischen und ideologischen Trampelpfaden entgegen gelotst. Sie eröffnen einfach-gute Rastplätze mit fest verankerten Tischen und Sitzgelegenheiten, von denen man noch nicht einmal seinen Müll wieder mitzunehmen braucht (das werden unbekannte Andere für einen machen) – und was für ein Ausblick, DIE Perspektive für ein Foto! Moment bitte, Klick; okay, weiter, ist ja noch ein Stück bis zum Ziel. Dort angekommen ist, wie versprochen, alles klar: der gesunde Mensch versteht die ursprüngliche Wahrheit. Ganz ergriffen empfiehlt er sie weiter. Wie unerquicklich mag im Vergleich dazu der Versuch erscheinen, der hier unternommen wird: eine Subjektivierung avisieren mit einem Sprechen, das sich weder auf die Klarheit des gesunden Menschenverstandes noch auf die Eindeutigkeit einer Ursprünglichkeit stützen kann. Wer ist bereit, dem zu folgen? Und was hat dieses Sprechen überhaupt auszusagen? »Sprechen macht mir Angst, denn da ich nie genug sage, sage ich immer auch zu viel.« (Derrida 1967/1976: 19)

1

Vgl. Simon & Garfunkel, The Sound of Silence.

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Ein Sprechen im Namen des Paradoxen ist zuallererst das: der Versuch mit Worten der Aufruhr in der menschlichen Existenz zu begegnen. Die Frage ist: Was können wir dabei von der Sprache erwarten und was können wir ihr abverlangen? »Das entscheidende Element, das der menschlichen Sprache die ihr eigenen Wirkkräfte verleiht, liegt nicht in dem Instrument an sich, sondern in dem Platz, den sie dem Sprechenden einräumt, darin, dass sie in ihrem Inneren eine Hohlform vorsieht, die der Sprecher jedes Mal als gegeben annehmen muss, um sprechen zu können, das heißt in der ethi schen Beziehung, die sich zwischen dem Sprechendem und der Sprache herstellt. Der Mensch ist das Lebewesen, das, um sprechen zu können, ›ich‹ sagen muss, das mithin ›das Wort ergreifen‹, es annehmen und sich zu eigen machen muss.« (Agamben 2010: 89)

Es geht in diesem Kapitel um die Verstrickung des Subjekts in sein Wort. Und in weiterer Folge darum, dieses Verhältnis auf den Einfluss zu prüfen, den es auf unsere Vorstellungen über Moral und Erkenntnis hat. In welcher Weise kann eine Analyse der Sprache das paradoxe Verhältnis zwischen Werten und Wahrheit erhellen? Und umgekehrt: Auf welche Weise bringt die Sprache eben Paradoxes hervor? Die Auswahl der hierfür vor allem zu Wort kommenden Meisterdenker – Foucault, Freud und in dessen Gefolge Ricoeur – folgt aus dem spezifischen Interesse an den Wechselwirkungen zwischen den Prozessen des Sprechens und der Subjektivierung, d.h. dem Fokus auf Sprache, nicht als linguistisches, sondern als ethisches und erkenntnistheoretisches Problemfeld. »Die Sprache scheint stets durch das Andere, das Woanders, das Distanzierte, das Ferne bevölkert; sie wird durch die Abwesenheit ausgehöhlt. Ist sie nicht der Ort des Erscheinens von etwas anderem als sich selbst und scheint in dieser Funktion ihre eigene Existenz sich nicht aufzulösen? Wenn man nun aber die Aussagenebene beschreiben will, muss man [...] die Sprache nicht in der Richtung befragen, auf die sie verweist, sondern in der Dimension, in der die Sprache gegeben wird; die Kraft vernachlässigen, die sie hat, um zu bezeichnen, zu benennen, zu zeigen, erscheinen zu lassen, der Ort des Sinns oder der Wahrheit zu sein, und sich umgekehrt bei dem Augenblick – der sogleich verfestigt, sogleich in dem Spiel zwischen Signifikat und Signifikant erfasst wird – festhalten, der ihre besondere und begrenzte Existenz bestimmt. Es handelt sich bei der Prüfung der Sprache nicht darum, den Gesichtspunkt des Signifikats in der Schwebe zu halten (daran ist man inzwischen gewöhnt), sondern auch den des Signifikanten, um die Tatsache erscheinen zu lassen, dass hier wie dort im Verhältnis mit möglichen Objekt- und Subjektbereichen, im Verhältnis mit anderen Formulierungen und eventuellen Wiederverwendungen Sprache vorliegt.« (Foucault 1973/1981: 162)

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4.1 DIE LEERE SUBJEKTSTELLE DER AUSSAGE Michel Foucault wurde immer wieder vorgeworfen, eigentlich nichts Neues vorgebracht zu haben und das auch noch unwissenschaftlich. Nicht viel besser ergeht es Theoretikerinnen, die sich auf Foucault beziehen: der Vorwurf der Un-, oder Halbwissenschaftlichkeit bleibt und hinzu kommt jener, dass Foucault doch mittlerweile ein alter Hut sei. Damals nichts Neues, heute ein alter Hut und insgesamt den an eine Wissenschaft zu stellenden Ansprüchen nicht genügend. Jemand, der einen transversiven Humor im Blut hat, würde darauf vielleicht erwidern: Genau so ist es – um dann hinzuzufügen: Gerade deshalb haben Foucaults Analysen möglicherweise die Potenz, Problemlagen im menschlichen Zusammenleben zu beschreiben. Zum einen: Gibt es Wissenschaft jenseits von Machtbeziehungen? Foucault selbst hat dazu eine klare Vorstellung: Jedes Wissen ist von Machtbeziehungen durchdrungen. Machtbeziehungen sind für die Bildung von Wissen mitverantwortlich. Daraus ergibt sich ein Gebot der Vorsicht bei der Berufung und Anwendung von Grundsätzen, die als wissenschaftlich gelten. Und es drängt sich ein Fragen auf, das Foucaults Arbeit – in thematischen Variationen – kennzeichnet: Wie kommt es zu der Unterscheidung in wissenschaftlich und unwissenschaftlich? Was ist ausschlaggebend dafür, dass ein Text als zur Wissenschaft gehörig akzeptiert wird? Und wer hat das Recht zu akzeptieren? Was passiert mit dem Nichtakzeptierten? Und was heißt es für das Feld des Akzeptierten, dass es einen Bereich des Nichtakzeptierten gibt? Zum anderen: Kann Wissenschaft etwas Neues hervorbringen? Ist dies das Ziel von Wissenschaft? Wenn nicht, was ist dann die Aufgabe? Wenn doch, wie lässt sich Neues wahrnehmen? Und wieder: Wer ist in der Lage zu entscheiden, ob etwas neu ist oder nicht? Von wo aus macht eine solche Unterscheidung Sinn, wozu dient sie? In einem Großteil seiner Veröffentlichungen unternimmt Foucault die Anstrengung, innerhalb der Gegenstände, die er thematisiert, Machtbeziehungen zu verfolgen. Das hat ihm den Ruf eingebracht, ein Machtheoretiker zu sein. Mit seinen Veröffentlichungen und in Interviews gegen Ende seines Lebens rückt Foucault sein Interesse an Machtbeziehungen an den für ihn rechten Platz, nämlich in die zweite Reihe. Über das Ziel, das er bei seiner Arbeit verfolgt hat, sagt er: »Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlagen für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem

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Zweck habe ich Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt ma chen.« (Foucault 2005: 240)

Foucault ist zwar Psychologe, aber auch der Psyche des Menschen gilt nicht sein Fokus. Und ebenso wenig steht das politische Handeln des Menschen im Zentrum seines theoretischen Interesses – obwohl er selbst ein politisch hochaktiver Zeitgenosse war. Seine Faszination gilt der Ethik, oder wie er es spezifiziert, dem ethos als Seinsweise und Praxis des Subjekts im Gegensatz zur Ethik als Wissenschaft über die Moral.2 Foucault beschäftigt die subjektive Erhebung, wie sie sich pointiert in dem Satz ›Ich gehorche nicht länger!‹ ausdrückt, der Zusammenhang von Subjektivität und Wahrheit und die Frage, wie dieser sich im ethos eines Menschen äußern kann. Sein privilegiertes Forschungsfeld sind dabei die Wissenschaften über den Menschen und zwar deshalb, weil in diesen Diskursen das Subjekt systematisch zum Objekt gemacht wird. »Ich habe herauszufinden versucht, wie das menschliche Subjekt in die Spiele der Wahrheit eingetreten ist, die entweder die Form einer Wissenschaft haben oder sich auf ein wissenschaftliches Modell beziehen, oder die Spiele der Wahrheit wie diejenigen, die man in den Institutionen oder Praktiken der Kontrolle finden kann.« (Ebd. 274)

Unter diesem Blickwinkel macht es durchaus Sinn, Foucault nicht als Wissenschaftler zu bezeichnen. Und er schreibt auch offensichtlich nicht über etwas Neues. Er zaubert mit dem ältesten und abgewetztesten Philosophenhut, wenn er sich für die Stellung des Subjekts zur Wahrheit interessiert. Er durchleuchtet und ordnet Diskurse neu an, so dass ein Feld der Ethik auftaucht. Eine Ethik, die sich nicht auf ein bewusstes Subjekt oder eine Essenz von gültigen Aussagen beruft. Die stattdessen in Bewegung bleibt, gemeinsam mit den sich bewegenden Diskursen. In dieser Fassung von Ethik kann sich das Subjekt keine Moral zuschreiben. Stattdessen wird es angehalten sein, sein ethos hervorzubringen, sein Sichzur-Wahrheit-verhalten zu entwickeln. Inwiefern das Subjekt sich dabei zentral in eine Paradoxie der Sprache verwickelt, zeigt Foucault mit seiner Analyse der Aussage. Warum wendet sich Foucault der Aussage zu? Was lässt ihn die Aussage zum Angriffspunkt seiner Diskursanalyse machen? Die Wahl seines Zugriffs auf die Sprache ist bedingt durch sein Forschungsinteresse an dem Zusammenhang von Subjektivierungs- und Wahrheitsprozessen. Oder anders ausgedrückt: Dass Foucault die Aussage ins Zentrum seiner Sprachanalyse rückt, hängt mit seinem Zweifel an der Ideengeschichte zusammen. Die klassische philosophische Tradi2

Vgl. Foucault, Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, 2005: 280.

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tion der Ideengeschichte begreift das Denken als einen Ort der Kontinuität und das menschliche Bewusstsein als den Souverän dieses Ortes. Historische Prozesse stellen sich ihre Vertreter im Prinzip als kontinuierlich vor und betrachten insofern Diskontinuitäten immer nur vor dem Hintergrund eines an sich vorhandenen Flusses der Geschichte; entsprechend begreifen sie das Bewusstsein als eine Funktion, deren Aufgabe es ist, die historische Wahrheit zu erfassen. Foucault hat ein Problem mit diesen, aufeinander bezogenen Erscheinungsformen der klassischen Ideengeschichte: kontinuierlicher Zeitbegriff – historische Wahrheit erfassendes Denken – souveränes Subjekt. Dieser Art von Geschichtsschreibung setzt Foucault mit seiner Diskursanalyse etwas entgegen.3 Im Gegensatz zu einer von Brüchen faszinierten traditionellen Geschichtsschreibung, für die Diskontinuitäten so spannend sind, weil sie auf der Vorstellung einer von einem Ursprung ausgehenden totalen Geschichte fußt, begreift Foucault Geschichte als eine kontingente Fülle von Ereignissen. Er interessiert sich gerade für die Pluralität der Geschichten, die sich in historischen Tableaus formieren. Dementsprechend nennt er seine historische Analyse von Diskursen eben auch nicht Ideengeschichte, sondern in Anlehnung an Nietzsche Genealogie bzw. Archäologie. Er sucht in den Diskursen einer Zeit nicht deren Bezug zu einem fundamentalen Ursprung, sondern er fragt nach dem drängenden Mechanismus, der Gewalt und dem Gestaltungspotenzial von Diskursen; und analysiert die historischen Gestalten, die diskursiven Formationen, in denen ein Diskurs zu Tage tritt. Das Material, das Foucault zum Ausgangspunkt seiner Analyse macht, begreift er als eine Fülle von Ereignissen im Raum des Diskurses. 4 Grundlegend für sein Denken ist seine Definition von diskursiven Ereignissen. Darunter versteht er linguistische Sequenzen, die tatsächlich formuliert worden sind. Wenn Foucault sich einem Thema wie dem Wahnsinn, der Rechtssprechung oder der Sexualität nähert, tut er dies, indem er die effektiv getätigten Aussagen dieser Gebiete analysiert. Er nimmt sich dabei vor, die Gesamtheit der Aussagen eines Gebietes zum Thema zu machen. Der Ausdruck Gesamtheit bedeutet, dass Foucault sich nicht auf eine bestimmte, innerhalb einer Disziplin bereits etablierte Denktradition beschränkt, sondern stattdessen auch jene Aussagen berücksichtigt, die einen bestehenden Diskurs begrenzen. Systematisch untersucht er jene diskursiven Ereignisse, die definieren, was als wissenschaftlich relevant oder politisch korrekt in Bezug auf ein bestimmtes Wissensgebiet gelten soll. Ebenso fragt er danach, wer von welcher Position aus, welche Aussagen tätigt und tätigen kann.

3

Vgl. Foucault, 1973/1981: 194 ff.

4

Vgl. Foucault, 1973/1981: 41 ff.

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Im Rahmen der klassischen Ideengeschichte wird der Prozess des Denkens in ein aufdeckendes Verhältnis zum Diskurs gesetzt, indem gefragt wird: Was wurde wirklich ausgesagt mit diesem oder jenem Satz? Im Gegensatz dazu stellt sich Foucault die Aussage nicht als hinter den Sätzen liegend oder in den Sätzen verborgen vor. Für ihn ist die Aussage überhaupt keine Problemstellung als solche und zwar, weil er nicht an eine Wahrheit des Ursprungs glaubt, auf die sich Aussagen mehr oder weniger beziehen könnten. Die Aussage ist für Foucault insofern unproblematisch als sie faktisch ist und es nichts daran zu rütteln gibt: wenn sie getätigt wurde, existiert sie. Das Problem ist für Foucault vielmehr die Wahrheit selbst, beziehungsweise die Art wie Subjekte darauf bezogen sind. Und diesem Problem nähert er sich, indem er versucht, die Gesamtheit von Beziehungen zwischen Aussagen in den Blick zu nehmen, die dafür verantwortlich sind, dass sich diskursive Formationen so und nicht anders gestalten. In diesem Sinne bekennt Foucault sich in dieser Schaffensperiode als radikaler Positivist: Er begreift Aussagen nicht als Schlüssel zu einer metaphysischen Wahrheit, sondern als effektiv in Erscheinung getretene, untersuchbare Ereignisse, die in ihrer Effektivität einen Bezug zur Wahrheit haben. Es geht ihm darum zu verstehen, wie es dazu kommt, dass sich ein spezifisches Wissen konstituieren kann und insbesondere wie sich unser Wissen über den Menschen konstituiert. In der Art, wie Foucault die Aussagen in den Fokus nimmt, beinhaltet dies eine Abkehr sowohl von den Worten als auch von den Dingen, greift er doch Diskurse nicht länger unter dem Aspekt der Verschränkung von Wörtern und Dingen auf.5 Foucault interessiert sich nunmehr für die diskursive Praxis, er nennt das: das Niveau des Diskurses selbst. Sein Vorhaben besteht darin, Diskurse ohne Beziehung zum Grund der Dinge und ohne einen linguistischen Fokus auf Worte zu analysieren. Weder Signifikat noch Signifikant spielen für seine Diskursanalyse die entscheidende Rolle. Stattdessen stützt sich Foucault, der Archivar, eben auf die effektiv getätigten Aussagen. Dabei nimmt er die Regeln in den Fokus, die diskursive Formationen, sprich Gruppen von Aussagen, in Erscheinung treten lassen. Ich »[...] möchte zeigen, dass der Diskurs keine dünne Kontakt- oder Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache, die Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung ist; ich möchte an präzisen Beispielen zeigen, dass man bei der Analyse der Diskurse selbst die offensichtlich sehr starke Umklammerung der Wörter und der Dinge sich lockern und seine Gesamtheit von der diskursiven Praxis eigenen Regeln sich ablösen sieht. [...] Eine Aufgabe, die darin besteht [...] die Diskurse [...] als Praktiken zu behandeln, die systema tisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.« (Foucault 1973/1981: 74) 5

Vgl. dazu auch: Deleuze, 1986/1992: 74 ff.

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Die grundlegende methodologische Frage für Foucaults Archäologie lautet entsprechend: Wie kann man sich den Beziehungen unter den Aussagen nähern? Wie lassen sie sich erfassen? Er hat vier Annäherungsversuche unternommen, die er alle als gescheitert betrachtet und entsprechend wieder verworfen hat. Er versuchte es erstens über einen gemeinsamen Bezug von Aussagen zu einem Objekt, zweitens über die Form, also einen bestimmten Typ der Verkettung von Aussagen, drittens über Begriffe und viertens über Themen von Aussagen. Aber bei jeder dieser Annäherungen stellte Foucault fest, dass sich das zum Ausgangspunkt gewählte Element (Objekt, Verkettungstyp, Begriff, Thema) selbst nicht feststellen lässt, dass es sich dabei nicht um etwas Konstantes handelt, sondern dass eben diese Elemente selbst Teile der Bewegung im Diskurs sind, den er hoffte, mit einer dieser vier vermeintlichen Konstanten analysieren zu können. Nach diesen Fehlschlägen kam ihm die Idee, sich über die tatsächlich vorgefundene Verbreitung von Aussagen anzunähern und die vier genannten Kategorien in ihrem jeweiligen Zusammenspiel zu betrachten: »In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, [...] wird man übereinstimmend sagen, dass man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat, wodurch man Wörter vermeidet, die ihren Bedingungen und Konsequenzen nach zu schwer, übrigens zur Bezeichnung einer solchen Dispersion auch inadäquat sind: wie ›Wissenschaft‹, ›Ideologie‹, ›Theorie‹ oder ›Objektivitätsbereich‹. Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalität, Begriffe, thematische Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen (aber auch Bedingungen der Koexistenz, der Aufrechterhaltung, der Modifizierung und des Verschwindens) in einer gegebenen diskursiven Verteilung.« (Ebd. 58)

Eine einzige basale Annahme (vergleichbar der Basisannahme von Niklas Luhmann, die bei diesem heißt: es gibt Systeme) ist dafür unerlässlich und sie lautet bei Foucault: es gibt diskursive Formationen. Er definiert eine diskursive Formation als ein beschreibbares System der Streuung einer bestimmten Anzahl von Aussagen. Die Regeln der Streuung von Aussagen stehen ab da im Zentrum seines Interesses. Er gibt ihnen die Bezeichnung Formationsregeln und sagt über sie: »In der Analyse, die hier vorgeschlagen wird, haben die Formationsregeln ihren Platz nicht in der ›Mentalität‹ oder dem Bewusstsein der Individuen, sondern im Diskurs selbst; sie auferlegen sich folglich gemäß einer Art uniformer Anonymität allen Individuen, die in diesem diskursiven Feld sprechen.« (Ebd. 92)

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Darüber eröffnet sich seine entscheidende Erkenntnis, die mich mit Foucault interessiert: nicht das Subjekt sagt etwas aus während es spricht, sondern Aussagen formen das Subjekt im Sprechen. In welchem gesellschaftlichen Kontext (oder mit Luhmann: in welchem Organisationssystem) welche Aussagen, in welcher Häufigkeit und in welchen relativ stabilen Zusammenhängen mit anderen Aussagen getätigt werden, diese Untersuchung ist für Foucault von da an der Schlüssel zu seinem Verständnis der Sprache als Praxis –, die hervorbringt wovon sie spricht. Foucault arbeitet mit seiner Archäologie einer metaphysischen Verdoppelung von Wirklichkeit und Wahrheit entgegen indem er annimmt: Aussagen folgen Formationsregeln, die dem Diskurs nicht äußerlich sind. Sie bilden diskursive Formationen, die nichts anderes als der Diskurs sind. An allen Ecken und Enden in seinen Texten warnt er und mahnt er, der Verlockung nicht nachzugeben, sich eine Ursache vorzustellen, die den Prozess des Formierens inhaltlich bestimmt, eine metaphysische Quelle an den Horizont der diskursiven Formationen zu setzen. ›Nein, da ist nichts.‹, fordert er uns auf zu denken. Der Diskurs ist, was er ist. Eine Verstreuung von diskursiven Elementen. Eine komplexe Verstreuung, die System hat, die diskursiven Regeln folgt, die Foucault allein als Ansatz seiner Diskursanalyse gelten lässt: »Hinter dem abgeschlossenen System entdeckt die Analyse der Formationen nicht das schäumende Leben selbst, nicht das noch nicht eingefangene Leben; sondern es ist eine immense Mächtigkeit von Systematizitäten, eine gedrängte Menge multipler Beziehungen. Und obendrein sind diese Beziehungen nicht umsonst das Gewebe des Textes selbst.« (Ebd. 111)

Das Elementarteilchen des Foucaultʼschen Diskurses ist die Aussage. Diese bildet allerdings keine Einheit wie der Satz, die Proposition oder der Sprechakt. Denn Foucault begreift sie als eine Funktion und nicht als eine Struktur. Darin unterscheidet sich die Aussage existentiell vom Satz. In sich selbst keine Einheit, bildet sie Einheiten, ist sie notwendig, um sagen zu können, ob ein Satz, eine Proposition, ein Sprechakt vorliegen oder nicht. Die Stellung des Subjekts zu Aussage und Satz ist insofern von gänzlich anderer Art. Zum Satz steht das Subjekt in Beziehung über das grammatikalische Element der ersten Person und über jenes wirkliche Individuum, das den Satz, egal ob in der ersten Person oder nicht, artikuliert, d.h. das Subjekt ist Ursprung und Ursache des Satzes. Das Subjekt der Aussage ist demgegenüber ein transpersonales. Ich sehe die Aussage wie eine Trajektorie, als etwas, das sich aufspannt und das dabei zugleich aufspannt: Subjekt, Haltung, Wirklichkeit.

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Foucault bezeichnet diese determinierende Funktion der Aussage und das durch sie determinierte Subjekt der Aussage als leere Funktion 6, leer insofern, als sie – zwar nicht beliebig, aber für die Aussage indifferent! – von diversen Individuen gefüllt werden kann bzw. in potenziell unendlichen Wiederholungen gefüllt wird; es ihr Merkmal ist, gefüllt zu werden. Es ist insofern gerade die Leere der Subjektstelle jeder Aussage, die diese als Aussage (im Unterschied zum Satz) charakterisiert und zurückwirkend auch das Subjekt beschreibt. Ich möchte sagen: Diese Leere trifft das Subjekt radikal! Sie ist nicht so zu verstehen, dass das Individuum dadurch die Freiheit hätte, sie zu füllen, wie es ihm beliebt. Sie ist kein Freifahrtschein durch Diskurse. Im Gegenteil, sie ist als Leere zwingend und kann von daher eher schon als gewaltsam begriffen werden und zwar indem sie die Stellen, an denen das Subjekt im Diskurs auftauchen kann, vorschreibt. Was immer ein Subjekt äußert, ist mitbestimmt durch diese Aussagefunktion. In diesem Sinne sind Äußerungen und die mit ihnen vonstatten gehende Subjektivierung ein kollektiver Besitz. Foucault schlüsselt für uns auf, wie das, was geäußert werden kann, historischen Bedingungen unterliegt. 7 Die zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort möglichen Aussagen sind begrenzt; kontingent, aber endlich. Jede Aussage ist eingebettet in ein assoziiertes Feld von Aussagen, sie entwickelt sich aus vorhergehenden Aussagen und öffnet im Anschluss oder als Erwiderung den Bereich der folgenden. Die Aussagefunktion kann, anders als der Satz und die Proposition, nicht ohne Existenz dieses assoziierten Gebietes einsetzen. Satz und Proposition können innerhalb der Sprache ermittelt und definiert werden, eine Aussage hingegen hat stets Ränder zu anderen Aussagen. Dieses assoziierte Aussagenfeld ist ein komplexer Raster, in dem auch ein Spielraum für das Individuum entsteht, welcher allerdings (und ich gehe sicher davon aus, dass Jeder, der ihn schon zu betreten versucht hat, davon etwas berichten kann) nur in Form einer Gratwanderung zu erlangen ist und nicht einem Spielplatz gleichkommt, wie das Wort Spielraum signalisieren könnte. Der Spielraum ist knapp und prekär. Wer etwas anderes aussagt als der Gemeinsinn, der durch den gesunden Menschenverstand getragen wird, erntet zunächst einmal Misstrauen. Da jeder Diskurs grundsätzlich einen transsubjektiven Charakter hat, ist jede Aussage, die nicht automatisch geteilt werden kann, immer auch ein Affront. Mich interessiert: Wie kommt eine Person dazu, etwas anderes zu sagen? Etwas zu sagen, was andere nicht sagen/nicht sagen können? Beziehungsweise: Kann man überhaupt etwas aussagen, was noch nicht als Aussage existiert? Wie 6

Vgl. Foucault 1973/1981: 136.

7

Siehe Foucaults Analysen ›Wahnsinn und Gesellschaft‹, ›Überwachen und Strafen‹, ›Die Anormalen‹.

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könnte so eine Ungeheuerlichkeit funktionieren? Das sind Fragen, die im zweiten Teil wieder auftauchen werden. Und ja, es gibt natürlich gesellschaftliche Sonderbereiche und einzelne Personen, denen ein besonderer Status zugeschrieben wird, bei denen ungewöhnliche Aussagen sozusagen erwartet werden: Genie und Wahnsinn oder die Poesie und die Psychiatrie verfügen beispielsweise über singuläre Aussagen – dies allerdings als geteilte Annahme, womit diese Ausnahmen die Regel nur bestätigen. Ansonsten gilt: Ein Individuum kann zwar entscheiden, welche Aussagen es realisiert, was es aber nicht kann, ist etwas von sich aus aussagen, jedenfalls nicht frei und unabhängig von einem mitaktivierten Aussagefeld und nicht ohne soziale Konsequenzen. Wenn Foucault feststellt, dass es die Aussagen sind, die das Subjekt formen, meint er diese Unterwerfung des Individuums durch die formierende Dynamik des Sprechens. Ein paradoxer Ort in der Sprache, diese leere Subjektstelle! Ganz und gar wirklichkeitsbezogen ist sie zugleich doch auch ein Momentum der Wahrheit. Was geäußert wird, äußert jemand, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Jede Äußerung hat eine materielle Existenz, eine konkrete Stimme oder eine bestimmte andere Oberfläche, auf der Zeichen hinterlassen werden. Dennoch begreift Foucault sie nicht wie ein einzelnes historisches Ereignis, insofern als jede Aussage ein beliebig wiederholbares Ereignis ist, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, eine andere Wirklichkeit formierend: »Diese wiederholbare Materialität, die die Aussagefunktion charakterisiert, lässt die Aussage als ein spezifisches und paradoxes Objekt [...] erscheinen [...].« »Die Aussage ist gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen.« (Ebd. 153 und 158) Sie ist jeweils Wirklichkeit und etwas darüber hinaus. Entscheidend für Foucaults Verständnis ist, dass er dieses Mehr der Aussage nicht wie deren ideale Form begreift, nicht als absolute Aussage, die jenseits der gelebten Wirklichkeit darauf wartet, geäußert zu werden. Eine Aussage ist mit Foucault ja gerade nicht Manifestation eines latenten Inhaltes. Es verhält sich für ihn beinahe umgekehrt: die Aussagemodalität bestimmt das Nicht-Gesagte, das Unterdrückte, die verborgenen Elemente mit. Und genau mit dieser Potenz zur Differenzierung zwischen Wirklichem und Möglichem steht sie in einer Verbindung zum Topos des Anderen, eben hierin besteht ihr Bezug zur Wahrheitsbewegung. Eine Aussage ist Wirklichkeit und indem nicht vorherzusagen ist, wer welche Aussage in welchem Zusammenhang tätigen wird, ist sie außerdem ein besonders plastisches Beispiel für die Kontingenz und historische Bedingtheit der Wirklichkeit – die immer auch anderes sein könnte. Eine Aussage ist und ist zugleich, gerade in ihrer wirklichkeitsbildenden Funktion, mit dem Jenseits der Wirklichkeit verbunden. Sie ist in einem faszinierenden Sinn beides: Wirkung

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und Ursache. Deshalb schreibt Foucault den Aussagen eine eigene Dimension oder Existenzweise zu: »Weder verborgen noch sichtbar befindet sich das Aussageniveau an der Grenze der Spra che: es ist in sich keine Menge von Merkmalen, die sich, selbst auf nicht-systematische Weise, der unmittelbaren Erfahrung gäben, aber es ist ebenso wenig hinter dieser der rätselhafte und stumme Rest, den sie nicht übersetzt.« (Ebd. 163)

Dieses Aussagenniveau besitzt in seiner Art, weder verborgen noch sichtbar zu existieren und in seiner Weise, Wirklichkeit aktiv hervorzubringen und damit gleichzeitig auf etwas nicht Wissbares zu verweisen, alle Merkmale einer Paradoxie. Es ist eine besondere Stärke von Foucaults Diskursanalyse, dass sie gänzlich in der Dimension des Diskurses bleibt. Und wie immer geht eine besondere Stärke mit einer Begrenzung einher, die in diesem Fall darin besteht, dass er in der ›Archäologie des Wissens‹ noch nicht bis zu einer Verknüpfung des Diskursiven mit dem Nicht-Diskursiven vordringt, eine Bewegung, die er erst in den folgenden Schaffensperioden vollziehen wird, wenn ihn dann verstärkt Fragen zu Performativität und Wahrheit umtreiben werden. An diesem Punkt lässt sich mit Foucault als paradoxes Drehmoment in der Frage nach dem guten Leben die Doppelexistenz von wirklich stattfindender Aussage und an anderer Stelle ablaufender Wahrheitsprozedur enthüllen – und nicht etwa die Unvereinbarkeit zwischen der Verwirklichung des Menschen und einem transzendentalen Sinn. Ein Paradoxon, das mit Foucault in der Archäologie außerdem sichtbar wird, besteht in der Gleichzeitigkeit zweier nicht in eine Passung zu bringender Sprachqualitäten: Einerseits die Logik und Linearität der Sprache, wie sie sich über die Satzstruktur zeigt, wie sie der gesunde Menschenverstand anwendet und sie sich in geteilten Aussagen herstellt und andererseits die nicht hintergehbaren Widersprüche innerhalb der Aussagen, die deutlich machen, dass sie noch auf etwas anderes verwiesen sein müssen, das sie nicht ausdrücken. Die Foucaultʼsche Archäologie als ein System der Streuung hat im Gegensatz zur klassischen Ideengeschichte keinerlei Interesse, diese Widersprüche zu reduzieren. Es geht ihr nicht darum, ein vereinheitlichendes Modell zu finden. Sie wendet sich gerade gegen den in den Wissenschaften allgegenwärtigen Anspruch der Kohärenz, verstanden als Zustand gelöster Widersprüche. Sie begreift den Widerspruch als ›Doublette‹ oder Mitspieler der Identität und beide zusammen als einen hergestellten Effekt, dessen Ursache in einer unterstellten Ursprünglichkeit zu finden ist.8 An den Regeln der Streuung von Aussagen interes8

Vgl. das Kapitel 3 ›Der Widerspruch‹ in Foucault, 1973/1981.

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siert, sind Widersprüche deshalb auch keine eigene Problemstellung der Diskursanalyse. Sie kann unterdessen diskursive Räume der Entzweiung in den Blick nehmen. Statt einen einzigartigen Mechanismus des Widerspruchs anzunehmen, als Gegenspieler zur Identität oder als Widersacher gegen einen absoluten Sinn, begegnet Foucault dem Widerspruch auf folgende Weise: Er definiert den Ort, an dem der Widerspruch auftaucht, beschreibt die Gabelung der Alternative und analysiert die Divergenz, in der widersprüchliche Diskurse nebeneinander treten. Diese für seine Archäologie charakteristischen Zugriffe beinhalten ein Verständnis über den Diskurs nicht als Ausdruck eines ursprünglichen Sinns, sondern (hier sind wir wieder): als eine diskursive Formation der Macht. Wer wir? Was heißt die leere Subjektstelle der Aussage für uns? Foucaults Antwort lautet: Wir sind Individuen, die durch diskursive Machtverhältnisse und Wahrheitsprozeduren, die auftauchen, um das Wahre im Wissen festzulegen, zu Subjekten werden. Und er fügt hinzu: »Ich verstehe das Unbehagen all dieser Leute sehr gut. Sie haben wahrscheinlich Mühe gehabt zu erkennen, dass ihre Geschichte, ihre Ökonomie, ihr soziales Verhalten, die Sprache, die sie sprechen, die Mythologie ihrer Vorfahren und die Fabeln, die man ihnen in ihrer Kindheit erzählte, Regeln gehorchen, die nicht alle ihrem Bewusstsein gegeben sind. Sie wünschen kaum, dass man sie außerdem und obendrein jenes Diskurses entledigt, in dem sie unmittelbar, ohne Anstand das sagen können wollen, was sie denken, glauben oder sich vorstellen. Sie werden es eher vorziehen zu leugnen, dass der Diskurs eine komplexe und differenzierte Praxis ist, die analysierbaren Regeln und Transformatio nen gehorcht, als dieser zarten, so trostreichen Gewissheit beraubt zu sein, dass man, wenn man nicht die Welt, wenn nicht das Leben, so wenigstens doch ihren ›Sinn‹ allein durch die Frische eines Wortes verändern könnte, das nicht von ihnen selbst herrührte und unbegrenzt an der Nähe der Quelle bliebe. So viele Dinge sind ihnen in ihrer Sprache bereits entgangen: sie wollen nicht mehr, dass ihnen außerdem das entgeht, was sie sagen [...].« (Ebd. 300)

4.2 VON REPRÄSENTANTEN UND ABKÖMMLINGEN Wenn im Zentrum des Subjekts eine Leere prangt, wenn ich akzeptiere, dass ich bin, diese Wahrheit sich aber nicht aussagen lässt, mit welchen Gedanken und Gefühlen haben wir es dann in unserem täglichen Leben die ganze Zeit zu tun? Was geht in uns vor? Oder sollte ich sagen: Was geht vor sich in uns? Was ist es, das uns so mächtig beschäftigt, Tag und Nacht, dem wir uns nicht entziehen können? Denn offensichtlich hält uns etwas auf Trab, lässt uns etwas sprechen. Al-

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lerdings stellt sich die Frage: Wenn die Struktur des Diskurses transsubjektiv und die des Subjektiven reflexiv ist, gibt es dann überhaupt eine direkte Rede? Ich würde gerne sagen: Wenn wir sprechen, versuchen wir etwas. Mit Freud analysieren wir dieses Bestreben im Folgenden als Vermittlungsversuch. Mit ihm lernen wir eine gute Vermittlung zu schätzen als das Direkteste, was wir erreichen können. Er sagt, jeder Text, der uns begegnet, ist eine Übersetzung: von Unbewusstem in Bewusstes. Nachdem er auch sagt, dass das Bewusstsein mehr unser Problem ist als unser Lotse, kann man Freuds Arbeit als eine Unterneh mung begreifen, das Verhältnis von Lotse zu Kapitän zu erhellen, während er zugleich danach fragt, was das für ein Gefährt ist, auf dem die beiden unterwegs sind, wer die Passagiere sind und wie dieses Gefährt mit dem Element, das es trägt, zusammenhängt. Mit Foucaults Worten: Freud hat ein neues diskursives Feld entstehen lassen. Nachdem er die angeblich bekannten Elemente zu Unbekannten gemacht hat, weil es ja gerade deren Evidenz war, die er bezweifelte, musste er sich in seiner Arbeit vorwärtsbewegen, indem er zunächst (einmal mehr, einmal weniger gewagt) einen Hypothesenpflock an einer bestimmten Stelle des Feldes hinein rammte und diesen solange als Orientierung benutzte, bis das Feld ohne ihn funktionierte und er den Pflock wieder entfernen und ihn verwandelt, rückwirkend und diesmal gezielt platzieren konnte. Ein solches Unterfangen ist wagemutig, denn mit Foucault ist klar, dass zunächst niemand bereit ist, einer Aussage die eigene Subjektivität zu leihen, wenn sie nicht schon diskursiv etabliert ist. Um sich auf dieses neue Feld der Psychoanalyse einzulassen, insbesondere auch um die erkenntnistheoretische Virtuosität von Freud fassen zu können, braucht es nur zwei Elemente: Man muss sich, gerade so wie Freud damals das Bewusstsein zu etwas Unbekanntem machte, um darüber nachdenken zu können, von allen vermeintlich bekannten psychoanalytischen Aussagen freimachen, sie gegebenenfalls als nicht korrekt weitergegeben 9 annehmen, um ohne falsches Wissen mitdenken zu können. Dann kann man auch ohne Weiteres, und das ist die zweite Voraussetzung, Freuds Postulate, seine Hypothesenpflöcke, als solche betrachten und zunächst einmal gespannt hinnehmen. Er selbst macht an diesem Punkt keine Umschweife: Nicht nur benennt er eine Hypothese jedes Mal als Setzung, wenn er sie nicht aus einer Beobachtungssituation gewonnen hat, sondern er benennt auch den Grad der Unsicherheit dabei, indem er entweder Gründe angibt, warum er an einer gewissen Stelle seines Gedankengangs nicht auf eine unbegründbare Setzung verzichten kann bzw. welchen Gewinn er sich davon verspricht und wie er denkt, sie u.U. zu einem späteren Zeitpunkt einlösen 9

Von mittlerweile mehreren Generationen von nachfolgenden Psychoanalytikerinnen auf andere Weise als durch den Alltagsdiskurs.

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zu können. Auf dieses Vorgehen bei seiner Theoriegewinnung werde ich in dem Kapitel zur epistemologischen Seite der Bricolage noch einmal zu sprechen kommen. Zurück zu der Frage, wie man die Texte, die wir produzieren, von innen heraus begreifen könnte. Denn auch wenn Sprache außerhalb eines Individuums als Diskurs existiert und in dieser Existenzform das Individuum subjektiviert, so ist unzweifelhaft, dass der Mensch selber spricht und zwar jeder anders, dass er es mühsam lernt und dass ihn dazu auch etwas von innen her antreibt. Jetzt interessiert die umgekehrte Perspektive: Von wo in uns beziehen wir unsere Worte? Je weiter seine Studien voranschreiten, desto klarer wird für Freud, von woher wir sie jedenfalls nicht beziehen, nämlich vom Bewusstsein. Er wird am Ende der Formulierung seiner zweiten Topik so weit gehen zu sagen, dass er den Begriff Bewusstsein nur mehr deshalb behält, weil damit seine ganze gedankliche Reise begann. Das Bewusstsein wird im Verlauf seiner Revisionen den Status als System verlieren und stattdessen als Funktion zu seiner vollen Kraft finden. Anders verhält es sich mit dem Adjektiv bewusst, dies wird eine umso größere Rolle spielen; denn Freud lässt keine Zweifel daran, dass das Unbewusste nicht direkt erforscht werden kann, sondern immer nur indem man von bewusst gewordenen Äußerungen ausgeht10 – und für diese eine Übersetzung findet. Die psychoanalytische Hermeneutik steht und fällt also mit der Frage: Wie lässt sich annehmen, dass man Unbewusstes in Bewusstes übersetzen kann? Und, wenn ich vorausgreifen darf: Nicht nur die Erkenntnistheorie der Psychoanalyse, sondern ihre gesamte Metapsychologie11, sprich auch die theoretischen Säulen, auf die eine psychoanalytische Aussage aufbaut, erhält hier ihre Fundierung. Man muss also zunächst ganz schlicht und ergreifend fragen: Was heißt bewusst werden im Sinne der Psychoanalyse? Natürlich ahnt man es: keine einfache Antwort in Sicht! Freud beginnt die Entwicklung seiner Lehre, die gut 15 Jahre später in der Formulierung der Metapsychologie einen ihrer Höhepunkte erfährt, mit der Untersuchung der psychischen Dynamik. Von zwei Seiten steuert er so auf die erste Topik zu, auf seine Art zwischen Bewusstem und Unbewusstem zu unterscheiden und das sogenannte Vorbewusste hinzuzufügen. Zum einen über seine kli10 Vgl. Freud, 1939/2009: Kapitel 4 mit dem Titel ›Psychische Qualitäten‹. 11 »Wir werden es nicht unbillig finden, die Betrachtungsweise, welche die Vollendung der psychoanalytischen Forschung ist, durch einen besonderen Namen auszuzeichnen. Ich schlage vor, dass es eine metapsychologische Vorstellung genannt werden soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben.« (Freud 1915/1975 c: 140)

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nisch-medizinische Arbeit, bei der er psychische Kräfte beobachtet und zu heilen versucht, die sich in Symptomen und Träumen äußern und die er als so mächtig einschätzt, dass er sie mit Begriffen wie Widerstand, Abwehr, Zensur versieht und er sich dabei fragt: Warum sind die zu den Symptomen gehörigen Geschichten nicht bewusst? Warum kann der Patient sie nicht einfach wahrnehmen und wiedergeben? Welche Kräfte verhindern die Bewusstwerdung? Zum anderen von seinem naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsverständnis aus, mit dem er die Dynamik in Termini wie Spannung, Konstanz und Prinzip beschreibt. Von diesen beiden dynamischen Gesichtspunkten ausgehend, entwickelt Freud eine erste Setzung, mit der er seine Triebtheorie begründen und aus der er später eben den sogenannten dynamischen Aspekt der Metapsychologie extrahieren wird. Sie besagt: »[Der] ›Trieb‹ [ist] ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.« (Freud, 1915/1975 a: 85) Daran mag zunächst nichts anstößig erscheinen. Freud sagt damit nichts anderes, als dass wir seelisch damit umgehen müssen, dass wir Körper sind. Wer würde dem widersprechen? Und doch befinden wir uns mitten in einem grandiosen Postulat, denn wenn wir genauer hinsehen, hat Freud mit diesem simplen Satz den Trieb in die Seele verlegt bzw. ihn bestimmt als einen »[...] Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize [...]« (Ebd.). Mit dieser, bei genauer Betrachtung, dann eben doch gewagten These lässt sich sogar schon eine Antwort auf die Frage geben, warum man Unbewusstes in Bewusstes übersetzen kann: Weil der Trieb seelische Arbeit ist, deren Qualität zwar unbewusst ist, aber nur insofern als sie bewusst werden kann und dies, da der Trieb selbst (auch) zur Seele gehört. Ricoeur formuliert das so: »Wir wissen nichts über die Triebe in ihrer Dynamik. Wir behaupten den Trieb nicht an sich; wir behaupten ihn in seiner psychischen Repräsentanz; damit behaupten wir ihn zugleich als psychische und nicht biologische Realität. Zwar konnten wir ihn ›ein Stück Ak tivität‹ nennen: damit bezeichneten wir ihn als Energie, Drang, Spannung etc. … Doch die psychologische Qualifizierung dieser Energie gehört mit zu ihrer Definition [...].« (Ri coeur 1969/1974: 146)

Die Übersetzung von Unbewusstem in Bewusstes ist damit kein paradoxales Vorgehen, was es gegebenenfalls wäre, wenn Freud ein Übersetzen von Körperlichem in Psychisches annehmen würde; dann könnte man davon sprechen, dass es sich um zwei nicht in eine Passung zu bringende Aspekte eines Ganzes handelt. Aber, die mannigfaltigen Übersetzungsvorgänge spielen sich mit Freud ausschließlich in einer einzigen Dimension ab, nämlich der Seele. Das Radikale an

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Freuds Setzung betrifft also nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, die Übersetzungsmöglichkeit von Unbewusstem in Bewusstes. Es ist nicht der Zusammenhang von Bewusstsein und dem Unbewussten der paradox ist. Wo Freud allerdings ein paradoxes Element platziert hat, ist im Herzen der Dynamik, indem er (vielleicht heute vergleichbar der Welle/Teilchen-Hypothese) dem Trieb zwei wesensdifferente Erscheinungsformen zuschreibt, die sich in ihm vereinen: eine materielle Körperenergie (vgl. Teilchen) und eine körperliche Psychoenergie (vgl. Welle). Indem er den Trieb als biologisch-materielles Phänomen, das mit medizinisch-technischen Geräten messbar ist, von dem Trieb unterscheidet, den er als psychisch repräsentiert annimmt, ist festzustellen, dass die Psychoanalyse auf einem Paradox fußt. Nicht zufällig herrscht innerhalb der psychoanalytischen Gemeinde seit Jahrzehnten eine Triebkontroverse, kurzgesagt zwischen denjenigen, die die Triebtheorie und ihre Paradoxie hinter sich lassen wollen und denjenigen, die der Meinung sind, dass man ohne Triebtheorie überhaupt nicht sinnvoll von Psychoanalyse sprechen kann. Aber das ist nicht unser Problem hier, für diesen Text gilt jedenfalls: ein Paradox schreckt uns nicht. Folgen wir wieder Freud, so stellen wir weiter fest, dass er sich für die psy chische Dynamik in ihrer ganzen Komplexität interessiert und dass er deshalb selbstverständlich auch über ihre Ränder schreibt. Der Gedanke der psychisch repräsentierten Trieberscheinung ist einer dieser Grenzgedanken, wir stehen hier vor einem Hypothesenpflock, den Freud in sein Feld rammt, um weiterdenken zu können. Er benutzt ihn, um von da aus mit all der gebotenen Präzision die beobachtbaren Erscheinungsformen der psychischen Triebrepräsentanzen analysieren zu können. Wenn Freud von Trieb spricht, meint er später automatisch Triebrepräsentanz, denn nur dieser Triebaspekt gibt Anlass für Überlegungen, auf welche Weise die Psyche eine Kraft ist. Freuds paradoxe Setzung besteht also darin, dass er den Trieb als zwei aufeinander bezogene, dabei aber jeweils eigene Realitäten erzeugende Funktionen denkt: als körperliche Funktion und als Funktion der Repräsentanz des Körpers in der Seele. »Unter einem ›Trieb‹ können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle, zum Unterschiede vom ›Reiz‹, der durch vereinzelte und von außen kommende Erregungen hergestellt wird. Trieb ist so einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen. Die einfachste und nächstliegende Annahme über die Natur der Triebe wäre, dass sie an sich keine Qualität besitzen, sondern nur als Maße von Arbeitsanforderung für das Seelenleben in Betracht kommen. Was die Triebe voneinander unterscheidet und mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, ist deren Beziehung zu ihren somatischen Quellen und ihren Zielen. Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ, und das

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nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes.« (Freud 1905/2017: 30)

Ricoeur bringt das so auf den Punkt: »Es muss also nicht nur heißen, der Trieb drücke sich durch Vorstellungen aus – dies ist einer der von der repräsentierenden Funktion des Triebes abgeleiteten Aspekte. Es muss radikaler heißen, dass der Trieb selbst auf psychischer Ebene den Körper in der Seele repräsentiere, ausdrücke. Das ist das vielleicht grundlegendste Postulat der Psychoanalyse, dasjenige, das sie als Psychoanalyse qualifiziert. Man muss es in all seinen Konsequenzen entwickeln.« (Ricoeur 1969/1974: 147)

Die Erscheinung des Körpers in der (bzw. als) Seele bildet den auf immer der Bewusstwerdung verschlossenen Ausgangspunkt für Freuds Forschung. Es ist eben dieses Paradox, das ihm den Grund gibt, die dadurch in Gang gesetzte Psychodynamik (in Form der Triebrepräsentanzen) erforschen zu können. Nehmen wir ein weiteres prominentes Postulat Freuds in den Gedankengang auf, nämlich die sogenannte Ur-Verdrängung, so haben wir die erste Hürde der Psychoanalyse genommen, können die Dynamik der Bewusstwerdung im Sinne der Psychoanalyse in ihren Grundzügen verstehen und von da aus ein erstes Licht darauf werfen, wie die Subjekt-Werdung aus psychoanalytischer Sicht mit dieser Dynamik zusammenhängt. Die Urverdrängung12 ist ein Postulat, das eng mit Freuds Setzung der Triebrepräsentanz zusammenhängt, auch sie verweist auf etwas Unwissbares (= Anderes), etwas, das nie zum Objekt der Wahrnehmung werden kann und dabei doch die psychische Lebensbewegung charakterisiert. Die Urverdrängung ist, aus einer anderen Perspektive betrachtet, nichts anderes als die theoretische Zusammenführung von Körper und Seele wie sie auch der Triebbegriff beinhaltet. Mit ihr spezifiziert Freud die Dynamik der uranfänglichen In-Gang-Setzung von Triebrepräsentanz und Körperlichkeit des Triebes, bezogen auf ein Leben, das dabei ist, Mensch zu werden. Sie ist ein Postulat, mit dem er den Beginn der psychischen Aktivität bezeichnet und sie als solche qualifiziert. Die Urverdrängung kann im strengen Sinne nicht unbewusst genannt werden, da sie als fiktives Startmomentum der psychischen Aktivität noch vor dem Einsetzen der Wahrnehmung und des persönlichen Unbewussten anzusiedeln ist. Erst diesseits der Urverdrängung beginnt der Entstehungsprozess des Systems Ubw 13. Alle Reprä12 Vgl. Freud 1915/1975 b: 109. 13 »Das System, welches sich uns durch das Kennzeichen kundgibt, dass die einzelnen Vorgänge, die es zusammensetzen, unbewusst sind, belegen wir mit dem Namen ›das

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sentationen des Triebes folgen auf die Urverdrängung und ab da lässt sich der psychische Prozess als solcher individuell verfolgen. Die Urverdrängung selbst muss, weil sie von Freud noch jenseits des Erforschbaren gesetzt wird, Postulat bleiben. Wenn man nun bereit ist, die bekannten Konnotationen und Bilder zu dem Begriff Verdrängung fallen zu lassen, kann man zwei Aspekte des Freudʼschen Verständnisses über die menschliche Psyche noch einmal neu wahrnehmen und darüber den Begriff der Ur-Verdrängung frisch aufladen: den Aspekt der ursprünglichen Kraft, der Drängung und den, dass nicht das gesamte psychische Geschehens bewusst ist, das vorgeschaltete ›Ver-‹. 14 Freuds Postulat der Triebrepräsentanz (und mit ihm im Gefolge das der Urverdrängung) bedeutet, dass man psychoanalytisch niemals zu etwas Unmittelbarem gelangen kann und dass eben auch das Unbewusste nicht zu verwechseln ist mit dem Eigentlichen. Dies läge theoretisch jenseits der Urverdrängung. Die psychische Dynamik, die auf die Urverdrängung folgt und die Freud wesentlich als Verdrängungsdynamik beschreibt, begründet erst den individuellen psychischen Prozess, der sowohl bewusste als auch unbewusste Elemente umfasst. Ob eine Triebrepräsentation bewusst oder unbewusst in Erscheinung tritt, ist eine Frage des jeweiligen Triebschicksals. Die tägliche Verdrängungsarbeit korreliert mit der psychoanalytischen Übersetzungsarbeit (von unbewussten in bewusste Triebrepräsentationen), die im Gegensatz zur unhintergehbaren Urverdrängung insofern eine überwindbare Hürde darstellt, als es sich dabei doch nur um eine Passage innerhalb des psychischen Geschehens handelt. 15 Die ÜbersetUnbewusste‹, in Ermangelung eines besseren und weniger zweideutigen Ausdruckes. Ich schlage als Bezeichnung dieses Systems die Buchstaben ›Ubw‹, eine Abkürzung des Wortes ›Unbewusst‹ vor.« (Freud 1912/1975: 36) 14 Und jede, die Freuds Heimat Wien kennt, weiß, dass die Vorsilbe Ur- im Sprachgebrauch dieser Stadt tief verankert ist. 15 Die folgende Freudʼsche Ausführung zur Hysterie dient als ein Beispiel für diese Korrelation: »Die Psychoanalyse beseitigt die Symptome Hysterischer unter der Voraussetzung, dass dieselben der Ersatz – die Transkription gleichsam – für eine Reihe von affektbesetzten seelischen Vorgängen, Wünschen und Strebungen sind, denen durch einen besonderen psychischen Prozess (die Verdrängung) der Zugang zur Erledigung durch bewusstseinsfähige psychische Tätigkeit versagt worden ist. Diese also im Zustande des Unbewussten zurückgehaltenen Gedankenbildungen streben nach einem ihrem Affektwert gemäßen Ausdruck, einer Abfuhr, und finden eine solche bei der Hysterie durch den Vorgang der Konversion in somatischen Phänomenen – eben den hysterischen Symptomen. Bei der kunstgerechten, mit Hilfe einer besonderen Technik durchgeführten Rückverwandlung der Symptome in nun bewusst gewordene, affektbesetzte Vorstellungen ist man also imstande, über die Natur und die Abkunft dieser

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zungsarbeit besteht darin, dass die unbewussten Triebrepräsentanzen, genauer, die mit ihnen einhergehenden Vorstellungen zum Objekt der Wahrnehmung, also bewusst werden. Das Unbewusste drückt sich genauso unmittelbar bzw. vermittelt aus wie das Bewusste, nämlich immer schon durch Repräsentanten. »Die Urverdrängung bedeutet, dass wir uns immer schon im Mittelbaren befinden, im Schon-Ausgedrückten, Schon-Gesagten. Um so mehr verurteilt uns die eigentliche Verdrängung dazu, uns unter bloßen Ableitungen zu bewegen. ›Die zweite Stufe der Verdrän gung, die eigentliche Verdrängung, betrifft psychische Abkömmlinge der verdrängten Repräsentanz, oder solche Gedankenzüge, die, anderswoher stammend, in assoziative Beziehung zu ihr geraten sind‹. Das Unbewusste erscheint so als ein von den unbestimmten Verästelungen dieser ›Abkömmlinge‹ gebildetes, weitverzweigtes Netz; dadurch wird es zum System und eignet sich zu einer innersystematischen Erforschung, wie die Analytiker es nennen.« (Ricour 1969/1974: 151)

Wenn man Freuds empirisch nicht nachweisbare Setzung, dass Körper und Seele amalgamiert sind, dass also jede Triebregung immer körperlich, aber nur in ihrer psychischen Repräsentanz für das Bewusstsein zugänglich ist, als akzeptabel hinnimmt, kann man die Triebschicksale in einer so beispiellosen Tiefenschärfe, wie Freud das gemacht hat, zu beschreiben beginnen, d.h. hypothetische Konstrukte zu beobachteten psychischen Prozessen entwerfen, die ihrerseits wiederum eine differenziertere Beobachtung und Beschreibung möglich machen. Freuds psychoanalytische Hermeneutik ist diesseits des Triebpostulats erkenntnistheoretisch einwandfrei. Indem er über das Konstrukt der Triebrepräsentanz das Unbewusste von vorneherein mit dem Wahrnehmungsprozess der Bewusstwerdung verknüpft, steht einer Übersetzungsarbeit theoretisch nichts im Wege. Umgekehrt heißt das aber auch, dass ohne dieses Postulat die Frage nach dem Unbewussten erkenntnistheoretisch sofort virulent ist, sich augenblicklich die Frage stellt, warum und wie man Unbewusstes annehmen, auf welcher theoretischen Basis man es erforschen können sollte. Mit anderen Worten: Ohne Freuds paradoxem Triebpostulat verlöre die Psychoanalyse ihre erkenntnistheoretische Verankerung. Freud selbst ist dies vollkommen bewusst, eben deshalb spricht er von der Triebtheorie als der Mythologie der Psychoanalyse – auf die er aber nicht verzichten kann.16 Genau hier verläuft die Scheidelinie, trennt sich die früher unbewussten psychischen Bildungen das Genaueste zu erfahren.« (Freud 1905/2017: 24). 16 Eine solche Vorgehensweise hat Niklas Luhmann im Rahmen seiner Formulierungen über sogenannte Supertheorien erkenntnistheoretisch legitimiert. Er plädiert dafür, bei Supertheorien deren selbstreferentiellen Kern als notwendig gegeben hinzunehmen,

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Spreu vom Weizen. Eine von Freuds herausragenden Stärken liegt für mich darin, dass er die Grenzen seiner Theorie klar vor Augen hat und sie nicht zu verheimlichen oder zu vermeiden, sondern auszuloten sucht 17. Die Triebtheorie ist natürlich empirisch unhaltbar (wie jedes Postulat), aber sie ist umgekehrt eben auch das Element, welches einzig der Psychoanalyse ihren erkenntnistheoretischen Halt gibt. Die psychoanalytische Hermeneutik hat ›nur eine Rose als Stütze‹18, sie gründet auf einer Paradoxie und braucht die Akzeptanz eines Postulats, um sich von dort aus abhebend zu der komplexesten mir bekannten Theorie über weil mit dieser Selbstreferentialität Widersprüche innerhalb der Theorie vermieden werden können. (Vgl. Luhmann, 2008 a: 49) »Supertheorien übernehmen die theoreti sche Verantwortung für die Einführung von Limitationalität.« (Ebd. 64) Deshalb müssen sie nicht auf eine wahre a priori Aussage gründen, sondern es ist stattdessen not wendig und ausreichend, dass die Begriffe der Supertheorie inhaltlich in Einklang stehen/gebracht werden mit der Art und Weise, wie sie Legitimationalität gewährleistet. Mit anderen Worten: Supertheorien vollbringen eine ganz besondere Leistung, nämlich die, selbst die Auffangstellen für epistemologische Probleme, die sich in ihrem Zusammenhang ergeben, mitzuliefern. Ihre Potenz besteht in weiterer Folge darin, über jeden Gegenstand ihres Gebietes Aussagen treffen zu können. Sie hat also einen berechtigten Universalitätsanspruch. Luhmann nennt sie deshalb auch: Breitbandtheorien. Die Anforderungen an Supertheorien sind entsprechend hoch: »Ihre koordinierende Begrifflichkeit muss hochabstrakt angesetzt werden, Abstimmungen auf rein begrifflicher Ebene erfordern einen hohen Aufwand und sprengen die Möglichkeiten sequentieller Vertextung.« (Ebd. 67) Die Art, wie Freud seine Begrifflichkeiten mehrfach vertextet, jeweils unter der dynamischen, topischen und energetischen Perspektive und diese zueinander in Beziehung setzt sowie seine Vorgehensweise der kontinuierlichen Revision seiner begrifflichen Setzung, entspricht meiner Ansicht nach dieser Anforderung. Auch für Ricoeur liegt die theoretische Stärke der Psychoanalyse in der selbstreferentiellen Limitierung des Gültigkeitsbereiches ihrer Aussagen. Allein, man darf von ihr nicht verlangen, »[...] was zu geben sie sich untersagt, nämlich eine Problematik des Ursprünglichen. Alles, was in der Analyse ›primär‹ ist – Primärvorgang, primäre Verdrängung, primärer Narzissmus und später primärer Masochismus –, ist es nicht in einem transzendentalen Sinn: es geht nicht um das, was rechtfertigt oder begründet, sondern um das, was der Entstellung, der Verkleidung vorausgeht« (Ricoeur 1969/1974: 164). »Die Grenze ist, wie Kant es uns lehrte, keine äußere Schranke, sondern eine Funktion der inneren Gültigkeit einer Theorie. Die Psychoanalyse ist gerade durch das begrenzt, was sie rechtfertigt, nämlich ihre Entscheidung, in den Kulturphänomenen nur das zu erkennen, was in eine Ökonomik des Wunsches und der Widerstände fällt. Diese Ent-

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die menschliche Psyche zu entwickeln, die erst durch ihren hohen Abstraktionsgrad in der Lage ist, individuelle psychische Phänomene differenziert zu beschreiben und dabei in einem theoretischen Zusammenhang zu belassen. Freud gelingt diese einmalige Theoriebildung zur menschlichen Seele, weil er alles, was er beschreibt, in der doppelten Relevanz von Abstraktion und Konkretion betrachtet. In dem kurz vor seinem Tod verfassten ›Abriss der Psychoanalyse‹ bringt er die Notwendigkeit des Triebpostulats auf diesen Punkt: »Den Ausgang für diese Untersuchung gibt die unvergleichliche, jeder Erklärung und Beschreibung trotzende Tatsache des Bewusstseins. Spricht man von Bewusstsein, so weiß man trotzdem unmittelbar aus eigenster Erfahrung, was damit gemeint ist. [...] Diese bewussten Vorgänge bilden aber nach allgemeiner Übereinstimmung keine lückenlosen, in sich abgeschlossenen Reihen, so dass nichts anderes übrigbliebe, als physische oder somatische Begleitvorgänge des Psychischen anzunehmen, denen man eine größere Vollständigkeit als den psychischen Reihen zugestehen muss, da einige von ihnen bewusste Paralschlossenheit und Strenge sind der Grund, weshalb ich Freud vor Jung den Vorzug gebe.« (Ebd. 185) 17 In einer Fußnote, in den 1920 in vierter Auflage erschienenen ›Drei Abhandlungen‹, schreibt Freud zum Beispiel: »Die Trieblehre ist das bedeutsamste, aber auch das unfertigste Stück der psychoanalytischen Theorie.« (Freud 1905/2017: 30) 18 Nur eine Rose als Stütze (Hilde Domin) Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft unter den Akrobaten und Vögeln: mein Bett auf dem Trapez des Gefühls wie ein Nest im Wind auf der äußersten Spitze des Zweigs. Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle der sanftgescheitelten Schafe die im Mondlicht wie schimmernde Wolken über die feste Erde ziehen. Ich schließe die Augen und hülle mich ein in das Vlies der verlässlichen Tiere. Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren und das Klicken des Riegels hören, der die Stalltür am Abend schließt. Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt. Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein. Meine Hand greift nach einem Halt und findet nur eine Rose als Stütze.

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lelvorgänge haben, andere aber nicht. Es liegt dann natürlich nahe, in der Psychologie den Akzent auf diese somatischen Vorgänge zu legen, in ihnen das eigentlich Psychische anzuerkennen und für die bewussten Vorgänge eine andere Würdigung zu suchen.« (Freud 1938/2009: 52)

Und er fährt fort, indem er als fundamentale Annahme der Psychoanalyse festhält: »(Die Psychoanalyse) erklärt die vorgeblichen somatischen Begleitvorgänge für das eigentlich Psychische, sieht dabei zunächst von der Qualität des Bewusstseins ab.« (Ebd. 53) Was also ist dieser ›Blumenstengel‹, auf den sich alle weiteren Freudʼschen Aussagen stützen? Man muss als nicht weiter beschreibbare Grundannahme akzeptieren, dass Körper und Seele nicht dasselbe, aber auch nicht voneinander zu trennen, dass alle seelischen Prozesse immer schon körperlich sind, wofür Freud den Begriff der Triebrepräsentanz gewählt hat und dass es einen nicht näher anzugebenden psychischen Startpunkt des einzelnen Menschen gibt, den Freud mit dem Begriff der Urverdrängung versehen hat. Fragen wir Freud, wie sich das Unbewusste vom Bewussten unterscheidet, lesen wir bei ihm schlicht und alles Weitere eröffnend: »Alle Wissenschaften ruhen auf Beobachtungen und Erfahrungen, die unser psychischer Apparat vermittelt. Da aber unsere Wissenschaft diesen Apparat selbst zum Objekt hat, findet hier die Analogie ein Ende. Wir machen unsere Beobachtungen mittels desselben Wahrnehmungsapparats, gerade mit Hilfe der Lücken im Psychischen, indem wir das Ausgelassene durch nahliegende Schlussfolgerungen ergänzen und es in unbewusstes Material übersetzen. [...] Während dieser Arbeit drängen sich uns die Unterscheidungen auf, die wir als psychische Qualitäten bezeichnen. Was wir bewusst heißen, brauchen wir nicht zu charakterisieren, es ist das nämliche wie das Bewusstsein der Philosophen und der Volksmei nung. Alles andere Psychische ist für uns das Unbewusste.« (Ebd. 54)

Von da aus ist die Möglichkeit der Sinnschöpfung in Form einer Übersetzungsarbeit von Unbewusstem in Bewusstes unaufhaltbar: Wenn die somatopsychischen Vorgänge den seelischen Prozess als Unbewusstes bestimmen, wenn Kraft und Sinn (Begriffe, mit denen Ricour die somatopsychische Einheit der Seele ausdrückt) im Unbewussten zusammen entstehen, darf ich schlussfolgern, dass jede unbewusste psychische Bewegung Sinn macht und kann mich aufmachen, die Kräfte zu analysieren, die eine Bewusstwerdung ermöglichen bzw. davon abhalten – und man kann sich im Zuge dessen eine Vorstellung davon machen, in welchen Strukturen/Organisationsformen/Abläufen sich das Unbewusste gestalten könnte. Der Unterschied zwischen einem Postulat und einer Hypothese wird

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in einem Feld wie der Psychoanalyse entscheidend. Während das Postulat jeder Form von Beobachtungsmaterial entbehrt, gründet die Hypothese auf konkreten Materialien: Ob dies Material ein Teilchen oder ein Traum ist, es macht zunächst keinen Unterschied. Die Psychoanalyse allerdings muss denselben Gegenstand, den sie erforscht, auch dazu benutzen, ihn zu erforschen, er ist zugleich das Gegebene und das Unbekannte, je nach Perspektive das eine oder das andere. Keine Disziplin, die sich mit dem psychischen Apparat beschäftigt, kann sich diesem Umstand entziehen. Freud allerdings kommt das Verdienst zu, dieses paradoxe Momentum, das die Grenze des Gültigkeitsbereichs seiner Aussagen aufspannt, in seine Theoriebildung mit aufgenommen zu haben. Wer dieses Moment an der Psychoanalyse konstruktiv kritisiert, muss eine alternative Konstruktion liefern, die die Problematik der reflexiven Gegebenheit des Bewusstseins aufgreift. Wer es wegzulassen bestrebt ist, verfehlt diese grundsätzlich paradoxe Situation der Humanwissenschaften. Um ein Bild davon zu bekommen, wie genau Freud sich die Sinnschöpfung vorstellt, müssen wir uns näher mit seinem Verdrängungsbegriff auseinandersetzen. Denn erst die Verdrängung »[...] führt in die psychische Triebrepräsentanz die ganze Komplexität ein, die Freud mit den Worten ›Entfremdung‹ und ›Entstellung‹ bezeichnet« (Ricoeur 1969/1974: 147). Im Zuge dieses entfremdenden Verdrängungsprozesses werden Menschen eigen. Sosehr die Urverdrängung ein Postulat ist, so beobachtbar und nachvollziehbar sind die darauf folgenden Triebschicksale (wir befinden uns jetzt strikt innerhalb des psychischen Feldes). Das prominenteste und die normale psychische Dynamik beschreibende Schicksal des Triebes, benennt Freud eben mit dem Begriff der Verdrängung. Machen wir uns noch einmal klar, dass wir es mit einer hochkomplexen Freud’schen Hypothese zu tun haben, die von der Alltagssprache bis zur Unkenntlichkeit reduziert wurde. Seine volle Bedeutung wird der Begriff der Verdrängung tatsächlich erst jenseits des ersten Triebbegriffs entfalten, mit dem wir gerade beschäftigt sind. Freuds erster Triebbegriff bezieht sich auf die innerpsychische Bewältigung der Spannung, die das Leben mit sich bringt und er benutzt hierfür zur Beschreibung die physikalische Konstanzvorstellung sowie Beobachtungen über das frühkindliche Lust- und Unlustempfinden. Diese beiden Aspekte hat Freud in der Formulierung des Lustprinzips19 zusammengefasst, welches nichts anderes besagt, als dass der Mensch bestrebt ist, Unlust zu vermeiden, weil er andernfalls einer schwer auszuhaltenden, unangenehmen Spannung ausgesetzt ist. Wenn Freud sich jenseits dieses Lustprinzips20, viel später in seinem Werk, mit dem 19 Vgl. Freud 1911. 20 Vgl. Freud, 1920.

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Zusammenhang von Individuum und Kultur beschäftigen wird und dabei die innerpsychische Notwendigkeit zur Verdrängung, salopp gesagt, um des inneren Frieden Willens, um ein phylogenetisches, transgenerationales und kulturelles Element erweitert, wird er auch den Triebbegriff einer markanten Revision unterziehen. Dann werden wir die Freud’sche Antwort auf die Frage erfahren, warum der Mensch einmal Erlebtes ewig wiederholen will bzw., in einer destruktiven Steigerungsform als Wiederholungszwang, einer Wiederkehr bestimmter seelischer Verhältnisse unfreiwillig ausgesetzt ist. Dann wird der Triebbegriff einer geisteswissenschaftlichen Dimension zugeführt, die rückwirkend das jetzt erst einmal zu schluckende Postulat der Urverdrängung noch einmal neu zu rechtfertigen vermag. Aber bis dahin liegt noch ein schönes Stück Reise vor uns, die wir antreten, indem wir uns das Grundprinzip der Verdrängung zu Gemüte führen. Mit dem Verdrängungsbegriff stellt Freud Überlegungen zu dem innerpsychischen Vorgang an, der eine Triebrepräsentanz entweder als Unbewusstes strukturiert, oder zum Objekt der Wahrnehmung, d.h. bewusst werden lässt. Wir nehmen an: »Es gibt etwas Psychisches, das den Trieb repräsentiert, [...] den Trieb als solchen ankündigt [...].« (Ricoeur 1969/1974: 144) Dies Psychische haben wir als Repräsentanten kennen gelernt, die unter der Herrschaft des Konstanzbzw. Lustprinzips stehen. Einmal geboren und dadurch nicht mehr in der Situation der automatischen Vollversorgung bei gleichzeitiger weitgehender Handlungsunfähigkeit, versucht sich das neue Leben mit dieser Regentschaft auf der Welt zurecht zu finden, was nichts anderes bedeutet, als sich selbst zu regulieren. Zu diesem Zeitpunkt hat sich im Zuge der Urverdrängung zwar schon eine allererste Fixierung der psychischen Dynamik vollzogen, das Triebgeschehen ist aber noch weitgehend frei; es wird noch eine ganze Weile dauern, bis sich ein benennbares Ich und noch viel länger, bis sich eine objektbezogene Sexualität herausgebildet haben werden; es gibt noch keinen funktionierenden Reizschutz, die Erregungen und Befriedigungserlebnisse sind polymorph 21, Ekel tritt noch nicht 21 »Man könne dann erfahren, dass die Sexualerregung des Kindes aus vielerlei Quellen fließe. Vor allem entstehe Befriedigung durch die geeignete sensible Erregung sogenannter erogener Zonen, als welche wahrscheinlich jede Hautstelle und jedes Sinnesorgan, wahrscheinlich jedes Organ, fungieren könne, während gewisse ausgezeichnete erogene Zonen existieren, deren Erregung durch gewisse organische Vorrichtungen von Anfang an gesichert sei. Ferner entstehe sexuelle Erregung gleichsam als Nebenprodukt bei einer großen Reihe von Vorgängen im Organismus, sobald dieselben nur eine gewisse Intensität erreichen, ganz besonders bei allen stärkeren Gemütsbewegungen, seien sie auch peinlicher Natur. Die Erregungen aus all diesen Quellen setzten

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kulturbezogen auf, Scham ist noch nicht vorhanden, mit einem Wort, so etwas wie ›seelische Dämme‹22, – sie sind alle erst im Entstehen begriffen. Die Triebrepräsentanz stellt sich Freud nun von Anfang an zweigeteilt vor: (erstens) bestehend aus einem quantitativen Faktor, der den Trieb als Energie repräsentiert und den er als den Affektbetrag ausmacht.23 Da der Ausdruck ›Quantität‹ vor allem dem dynamischen Wesen des Triebes geschuldet ist, seinem Auftreten als Drängen, ist diese Größe, wie Ricoeur erhellend bemerkt 24, nicht metrisch zu verstehen, sie ist auf kein Einheitensystem bezogen, sondern sie ist eben durch nichts anderes erkennbar als durch die Affizierung bzw. durch deren Intensität. Die Repräsentanten des Triebes treten zunächst also affektiv auf und überwältigen das kleine Wesen mit ihren Affekten bisweilen schmerzlich, was dem Organismus genau den Anlass gibt, von diesen Repräsentanten nach Möglichkeit die Aufmerksamkeit abzuziehen, d.h. sie einer Verdrängung zu unterziehen. Affekte unterliegen in ihrem puren energetischen Aspekt eigenen Gesetzmäßigkeiten und haben ihre eigene Geschichte der Psyche zu erzählen, die Freud als Affektschicksale bezeichnet. Die Darstellung dieser Affektschicksale (mit Begriffen wie Besetzung, Entziehung, Erhaltung, Gegenbesetzung) bildet den dritten, sogenannten ökonomischen Aspekt25 der Metapsychologie. Auf die Posich noch nicht zusammen, sondern verfolgten jede vereinzelt ihr Ziel, welches bloß der Gewinn einer gewissen Lust ist. Der Geschlechtstrieb sei also im Kindesalter nicht zentriert und zunächst objektlos, autoerotisch.« (Freud 1905/2017: 76) 22 Vgl. Freud 1905/2017: 42. 23 »Das Schicksal des quantitativen Faktors der Triebrepräsentanz kann ein dreifaches sein [...]: Der Trieb wird entweder ganz unterdrückt so dass man nichts von ihm auffindet, oder er kommt als irgendwie qualitativ gefärbter Affekt zum Vorschein, oder er wird in Angst verwandelt. Die beiden letzteren Möglichkeiten stellen uns die Aufgabe, die Umsetzung der psychischen Energien der Triebe in Affekte und ganz besonders in Angst als neues Triebschicksal ins Auge zu fassen. Wir erinnern uns, dass Motiv und Absicht der Verdrängung nichts anderes als die Vermeidung von Unlust war. Daraus folgt, dass das Schicksal des Affektbetrags der Repräsentanz bei weitem wichtiger ist als das der Vorstellung und das dies über die Beurteilung des Verdrängungsvorganges entscheidet. Gelingt es einer Verdrängung nicht, die Entstehung von Unlustempfindungen oder Angst zu verhüten, so dürfen wir sagen, sie sei missglückt [...].« (Freud 1915/1975 b: 113) 24 Vgl. Ricoeur, Unterkapitel ›Das Konstanzprinzip und der quantitative Apparat‹, 1969/1974: 86. 25 »Sie (die Gegenbesetzung) ist es, welche den Daueraufwand (an Energie) einer Urverdrängung repräsentiert, aber auch deren Dauerhaftigkeit verbürgt. Die Gegenbesetzung ist der alleinige Mechanismus der Urverdrängung; bei der eigentlichen Verdrän-

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tenz von Affekten, psychische Strukturen aufzubauen, indem sie Überwältigendes verwandeln und somit dafür sorgen, dass Stress erzeugende Spannung abgebaut oder vermieden wird, komme ich in absehbarer Zeit noch einmal genauer zu sprechen. An dieser Stelle wenden wir uns zunächst noch der zweiten Dimension des Repräsentanten zu –, denn auch wenn der Affekt ein so wirkmächtiges, eigenes ökonomisches Schicksal hat und darüber wie nichts anderes das Wesen der Verdrängung charakterisiert, so ist er doch nie anders als durch (zweitens) eine Vorstellung dingfest zu machen, als deren Affekt er auftritt: »Schließlich ist ein Affekt, der uns deskriptiv als ein losgelöster Affekt erscheint, ein Affekt auf der Suche nach einem neuen Vorstellungsträger, der ihm den Weg ins Bewusstsein bahnt.« (Ricoeur 1969/1974: 156) Eine Vorstellung, die bewusst wird, ist die zarte Pflanze, die ausnahmsweise nicht verdrängt wurde, im Zuge eines sich ständig neu verzweigenden unbewussten Wurzelgeschehens. Willkommen im Reich der Abkömmlinge26! Freud geht bekanntermaßen davon aus, dass die psychischen Prozesse vor allem unbewusst sind. Der dynamische Prozess der Verdrängung stellt bei weitem nicht das einzige und auch nicht das erste, aber das wesentliche energetische Geschehen dieser unbewussten Dynamik dar: Der Drang wird unbewusst gehalten, die mit dem Drang verknüpfte Vorstellung unbewusst verarbeitet, was gleichbedeutend ist damit, dass sie abgehalten wird, bewusst zu werden. Freud betrachtet den Aufbau innerer Widerstände als eine Bedingung der Normalität. »Es ist kein Zweifel, dass der Widerstand des bewussten und vorbewussten Ichs im Dienste des Lustprinzips steht, er will ja die Unlust ersparen, die durch das Freiwerden des Verdrängten erregt würde, und unsere Bemühung (die der PA) geht dahin, solcher Unlust unter Berufung auf das Realitätsprinzip Zulassung zu erwirken.« (Freud 1920/1975: 230) gung (dem Nachdrängen) kommt die Entziehung der ubw Besetzung hinzu. Es ist sehr wohl möglich, dass gerade die der Vorstellung entzogene Besetzung zur Gegenbesetzung verwendet wird. Wir merken, wie wir allmählich dazu gekommen sind, in der Darstellung psychischer Phänomene einen dritten Gesichtspunkt zur Geltung zu bringen, außer dem dynamischen und dem topischen den ökonomischen, der die Schicksale der Erregungsgrößen zu verfolgen und eine wenigstens relative Schätzung derselben zu gewinnen strebt.« (Freud 1915/1975 c: 140) 26 Freud spricht davon, dass die Tendenz besteht den psychologischen Inhalt der Ver drängung zu überschätzen und dabei zu vergessen, »[...] dass die Verdrängung die Triebrepräsentanz nicht daran hindert, im Unbewussten fortzubestehen, sich weiter zu organisieren, Abkömmlinge zu bilden und Verbindungen anzuknüpfen. Die Verdrängung stört wirklich nur die Beziehung zu einem psychischen System, dem des Bewussten« (Freud 1915/1975 b: 109).

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Freud geht davon aus, dass jede verdrängte, d.h. unbewusst gebliebene Vorstellung dennoch eine psychisch reale Bildung darstellt und beschreibt das Unbewusste deshalb als ein Netz von Abkömmlingen, von Vorstellungen, noch genauer, von Sachvorstellungen27, die unbewusst, weil der Verdrängung unterworfen sind. Es sind diese Abkömmlinge, die das Unbewusste als System qualifizieren. Als ein System, ja, aber deshalb nicht starr: »Das Ubw ist vielmehr lebend, entwicklungsfähig und unterhält eine Anzahl von anderen Beziehungen zum Vbw, darunter auch die Kooperation. Man muss zusammenfassend sa gen, das Ubw setzt sich in die sogenannten Abkömmlinge fort, es ist den Einwirkungen des Lebens zugänglich, beeinflusst beständig das Vbw und ist seinerseits sogar Beeinflus sungen von Seiten des Vbw unterworfen.« (Ebd. 149)

Es ist nicht nebensächlich, dass Freud sich seine erste topische Hypothese, mit der er Instanzen der Seele als das Unbewusste, das Vorbewusste und das Bewusste beschreibt, über die Dynamik der Triebrepräsentanzen erobert; der dynamische und der topische Gesichtspunkt bleiben untrennbar aufeinander bezogen und Revisionen des einen ziehen neue Gedanken über den anderen mit sich. Wenn Freud das Unbewusste zu einem System erhebt und wenn er das topische 27 »Was wir die bewusste Objektvorstellung heißen durften, zerlegt sich uns jetzt in die Wortvorstellung und in die Sachvorstellung, die in der Besetzung, wenn nicht der direkten Sacherinnerungsbilder, doch entfernterer und von ihnen abgeleiteter Erinnerungsspuren besteht. Mit einem Male glauben wir nun zu wissen, wodurch sich eine bewusste Vorstellung von einer unbewussten unterscheidet. Die beiden sind nicht, wie wir gemeint haben, verschiedene Niederschriften desselben Inhaltes an verschiedenen psychischen Orten, auch nicht verschiedene funktionelle Besetzungszustände an demselben Orte, sondern die bewusste Vorstellung umfasst die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewusste ist die Sachvorstellung allein. Das System Ubw enthält die Sachbesetzungen der Objekte, die ersten und eigentlichen Ob jektbesetzungen; das System Vbw entsteht, indem diese Sachvorstellung durch die Verknüpfung mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt wird. Solche Überbesetzungen, können wir vermuten, sind es, welche eine höhere psychische Organisation herbeiführen und die Ablösung des Primärvorganges durch den im Vbw herrschenden Sekundärvorgang ermöglichen. Wir können jetzt auch präzise ausdrücken, was die Verdrängung bei den Übertragungsneurosen der zugewiesenen Vorstellung verweigert: Die Übersetzung in Worte, welche mit dem Objekt verknüpft bleiben sollen. Die nicht in Worte gefasste Vorstellung oder der nicht in Worte gefasste psychische Akt bleibt dann im Ubw als verdrängt zurück.« (Freud 1915/1975 c: 159)

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Bild des psychischen Apparates benutzt, so tut er dies, um seine psychodynamischen Gedanken formulieren zu können. Wiederholt weist er auf den Charakter der Hilfskonstruktion aller seiner räumlichen Bilder zur Seele hin und schreibt dazu: »[...] Hilfsvorstellungen fallen zu lassen, müssen wir immer bereit sein, wenn wir uns in der Lage glauben, sie durch etwas anderes zu ersetzen, was der unbekannten Wirklichkeit besser angenähert ist.« (Freud, 1900/1977: 495) Er gebraucht sie, um über die psychophysische menschliche Energie (Seele) schreiben und insbesondere um die psychischen Geschehnisse von den körperlichen differenziert analysieren zu können. Denn auch wenn Freud davon ausgeht, dass die Seele nicht anders als körperlich existiert, so macht er doch nicht den Kurzschluss, dass deshalb der Körper die Seele sei, oder es eine Art Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen den beiden gäbe. Wenn er Lokalitäten des seelischen Geschehens ausmacht, dann explizit nicht im selben Sinne wie organische Elemente lokalisiert werden können. »Für diese Gleichnisse (wie dem des psychischen Apparates) setzen wir ein, was dem realen Sachverhalt besser zu entsprechen scheint, dass eine Energiebesetzung auf eine bestimmte Anordnung verlegt oder von ihr zurückgezogen wird, so dass das psychische Gebilde unter die Herrschaft einer Instanz gerät oder ihr entzogen ist. Wir ersetzen hier wie derum eine topische Vorstellungsweise durch eine dynamische; nicht das psychische Ge bilde erscheint uns als das Bewegliche, sondern dessen Innervation.« (Ebd. 495)

Nachdem wir uns einen ersten Zugang zu Freuds Gedanken verschafft haben, stellen wir noch einmal die Frage: Wie steht es nun mit der direkten Rede? Wir müssen sie aufgeben, wenn wir darunter etwas Unmittelbares verstehen wollen. Wir haben eine Vorstellung gewonnen, wer aus psychoanalytischer Perspektive zum Wort drängt: es sind Repräsentanten und Abkömmlinge. Was sie uns vermitteln, in Form von Affekten, aber auch als Vorstellungen, die uns spontan bewusst werden und/oder die wir in forschender Eigenanalyse in bewusste Wortvorstellungen übersetzen können, könnte man bestenfalls, wenn man so will, als eine Art Ur-Sprache der Seele bezeichnen. D.h., wir haben zwar Prot agonisten gefunden, die uns auf die Suche nach Worten in uns gehen lassen, aber sie sind keine echten Wortführer und auch wissen wir überhaupt noch nicht, zu welchem Inhalt sie drängen. Wenn jetzt der Wunsch als Kandidat, den Inhalt unserer Worte zu tragen, im psychischen Geschehen in Erscheinung tritt, so wird es diesem Text gerade so wie dem Menschen mit ihm gehen: wir werden ihn nicht mehr los. Kann der Wunsch dem Drängen in uns ein telos hinzufügen? Es zu einer Ausrichtung machen? Könnte der Wunsch bei aller akzeptierter Mittelbarkeit dennoch eine Art direkter innerer Rede sein? Sehen wir uns an, worin der Unter-

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schied zwischen einer Triebrepräsentanz und einem Wunsch besteht, um diese Frage zu beantworten. Gemeinsam ist ihnen eine unzerstörbare Dimension: Wenn der Trieb befriedigt werden will, so will der Wunsch erfüllt werden. Es gibt dabei allerdings einen entscheidenden Unterschied: wir finden ihn in der unterschiedlichen arché von Trieb und Wunsch. Denn während der Anfang des Triebs mit der individuellen Entstehung eines menschlichen Wesens, also mit einem biopsychischen Geschehen zusammenfällt, besteht der Urstoff des Wunsches aus reinem, seelischem Material. Von woher kommt der erste Wunsch? Und wie hängen arché und telos des Wunsches zusammen? Mit dem Phänomen des Wunsches und im Begreifen des Wunschgeschehens sehen wir das Subjekt wieder am Horizont auftauchen und werden mit ihm in eine neue Runde zur Beantwortung der großen Frage, wo in uns wir mit Wahrheit rechnen dürfen, entlassen. Nichts qualifiziert den Wunsch mehr als sein Streben nach Erfüllung. Um diese fatale, weil letztlich unerfüllbare Dimension begreifen zu können, muss man sich das Zusammenspiel des Wünschens mit den Bedürfnissen 28, denen der Mensch in seiner psychophysischen Existenz unterworfen ist, klar machen. Es ist nicht dasselbe etwas zu brauchen und etwas zu wollen, aber es ist auch nicht von ungefähr bisweilen unmöglich, beides zu unterscheiden. Stellen wir uns eine Bedürfnisregung und ihre Befriedigung (oder Nicht-Befriedigung) vor, Hunger zum Beispiel, eine Regung also, die so unbedingt werden kann, weil sie anzeigt, dass der Mensch etwas braucht, um zu leben. Mit Freud gehen wir davon aus, dass sich Bedürfnisregungen/(Nicht)-befriedigungen mit den dabei auftretenden Affekten und Vorstellungen zu einer psychischen Gesamtsituation verbinden, in welcher auch erste Erinnerungsbilder entstehen. Wenn man mit ihm weiter annimmt, dass eine bestimmte Intensität oder ein gewisses Maß an Wiederholung des Ablaufs von Bedürfnisregung und Befriedigungserlebnis mit dem affektiven Geschehen und den Vorstellungen, die dabei auftauchen, ein Wunschbild aufbaut, dann lässt sich daraus folgern, dass dieses Wunschbild dem Wunsch dazu dient, nach der Wiederherstellung dieser Befriedigungssituation zu streben. Nachdem aber (soweit man das wissen kann) in der physischen Realität nichts jemals als solches wiederkehrt, sondern alles Materielle einer Zeitlichkeit unterworfen ist, kann keine Situation jemals gänzlich wiederhergestellt werden. Der

28 »Da er [der Trieb] nicht von außen, sondern vom Körperinnern her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen. Wir heißen den Triebreiz besser ›Bedürfnis‹: was dieses Bedürfnis aufhebt, ist die ›Befriedigung‹. Sie kann nur durch eine zielgerichtete (adäquate) Veränderung der inneren Reizquelle gewonnen werden.« (Freud 1915/1975 a: 82)

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Wunsch wird so nicht durch sein Ziel (die Erfüllung), sondern gerade durch sein fatales Streben und das unerfüllbare Wunschbild charakteristisch. Dieses basale psychische Geschehen, die Verknüpfungen von Bedürfnissen, ihren (Nicht-)Befriedigungen, Affekten, Vorstellungen und Wünschen wird von Freud als Primärvorgang benannt. Ich möchte Sigmund Freud an dieser Stelle über eine längere Strecke selbst zu Wort kommen lassen, mit einer Textpassage aus dem VII. Kapitel der Traumdeutung. Sie stellt mit die erste Veröffentlichung von Gedanken zur psychoanalytischen Metapsychologie dar und man kann dabei gut erkennen, wie untrennbar für Freud die Verflechtung von dynamischen und topischen Gesichtspunkten ist, wie er beides gleichzeitig entwickelt, wie er mehr oder weniger alle seine Grundbegriffe gleichzeitig entwickeln muss und auf welche, für ihn typische Weise, er seine Gedanken dabei vorwärts bewegt: »Um aber sagen zu können, was die ›Verdrängung‹ ist, mit deren Namen wir schon so oft gespielt haben, müssen wir ein Stück an unserem psychologischen Gerüste weiterbauen. Wir hatten die Fiktion eines primitiven psychischen Apparats vertieft, dessen Arbeit durch das Bestreben geregelt wird, Anhäufungen von Erregung zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten. Er war darum nach dem Schema eines Reflexapparats gebaut; die Motilität, zunächst der Weg zur inneren Veränderung des Körpers, war die ihm zu Gebote stehende Abfuhrbahn. Wir erörtern dann die psychischen Folgen eines Befriedi gungserlebnisses und hätten dabei schon die zweite Annahme einfügen können, dass An häufung der Erregung [...] als Unlust empfunden wird und den Apparat in Tätigkeit versetzt, um das Befriedigungserlebnis, bei dem die Verringerung der Erregung als Lust ver spürt wird, wieder herbeizuführen. Eine solche, von der Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch; wir haben gesagt, nichts anderes als ein Wunsch sei imstande, den Apparat in Bewegung zu bringen, und der Ablauf der Erregung in ihm werde automatisch durch die Wahrnehmungen von Lust und Unlust geregelt. Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befriedigungserinnerung gewesen sein. Diese Halluzination erwies sich aber, wenn sie nicht bis zur Erschöpfung festgehalten werden sollte, als untüchtig, das Aufhören des Bedürfnisses, also die mit der Befriedigung verbundene Lust, herbeizuführen. Es wurde also eine zweite Tätigkeit – in unserer Ausdrucksweise die Tätigkeit des zweiten Systems – notwendig, welche nicht gestattete, dass die Erinnerungsbesetzung zur Wahrnehmung vordringe und von dort aus die psychischen Kräfte binde, sondern die vom Bedürfnisreiz ausgehende Erregung auf einen Umweg leite, der endlich über die willkürliche Motilität die Außenwelt so verändert, dass die reale Wahrnehmung des Befriedigungsobjekts eintreten kann. So weit haben wir das Schema des psychischen Apparats bereits ver folgt; die beiden Systeme sind der Keim zu dem, was wir als Ubw und Vbw in den voll ausgebildeten Apparat einsetzen.

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Um die Außenwelt zweckmäßig durch die Motilität verändern zu können, bedarf es der Anhäufung einer großen Summe von Erfahrungen in den Erinnerungssystemen und einer mannigfachen Fixierung der Beziehungen, die durch verschiedene Zielvorstellungen in diesem Erinnerungsmaterial hervorgerufen werden. Wir gehen nun in unseren Annahmen weiter. Die vielfach tastende, Besetzungen aussendende und wieder einziehende Tätigkeit des zweiten Systems bedarf einerseits der freien Verfügung über alles Erinnerungsmaterial; andererseits wäre es überflüssiger Aufwand, wenn sie große Besetzungsquantitäten auf die einzelnen Denkwege schickte, die dann unzweckmäßig abströmen und die für die Veränderung der Außenwelt notwendige Quantität verringern würden. Der Zweckmäßigkeit zuliebe postuliere ich also, dass es dem zweiten System gelingt, die Energiebesetzungen zum größeren Anteil in Ruhe zu erhalten und nur einen kleinen Teil zur Verschiebung zu verwenden. Die Mechanik dieser Vorgänge ist mir ganz unbekannt; [...]. Ich halte nur an der Vorstellung fest, dass die Tätigkeit des ersten Psy-Systems auf freies Abströmen der Erregungsquantitäten gerichtet ist, und dass das zweite System durch die von ihm ausgehenden Besetzungen eine Hemmung dieses Abströmens, eine Verwandlung in ruhende Besetzung, wohl unter Niveauerhöhung, herbeiführt. Ich nehme also an, dass der Ablauf der Erregung unter der Herrschaft des zweiten Systems an ganz andere mechanische Verhältnisse geknüpft wird, als unter der Herrschaft des ersten. Hat das zweite System seine probende Denkarbeit beendigt, so hebt es auch die Hemmung und Stauung der Erregungen auf und lässt dieselben zur Motilität abfließen.« (Freud 1900/1977: 486)

Den psychischen Primärvorgang beschreibt uns Freud hier als freies Abströmen, was gleichbedeutend ist mit ungehemmter Unlustentwicklung, einem extremen Aufwand diese in den Griff zu bekommen und der Besetzung eines Wunschbildes mit psychischer Energie bis zur Halluzination 29. Mit anderen Worten: Weil der Mensch, der neu auf die Welt kommt, noch keine funktionstüchtigen Abwehrmechanismen zur Verfügung hat, mit denen er seine Erregungen regulieren lernt, ist er nicht nur allem, was von außen auf ihn zukommt, in aller Konsequenz ausgeliefert, sondern auch allem, was in ihm passiert. Die Primärprozesse sind ihre eigene Realität. Die Sekundärvorgänge, die Freud nicht nur so nennt, weil sie zeitlich später einsetzen, sondern auch weil sie dazu dienen, auf die Primärprozesse einzuwirken und zwar indem der Mensch, unter Einbezug von Informationen über die Außenwelt, Handlungen vollzieht, sind auf die Wirklichkeit gerichtet. Erst wenn die Außenwelt mit den Fähigkeiten des zweiten Systems zu einem Partner der Innenwelt werden kann, sich mit dieser gezielt in Beziehung setzen lässt, erweitert sich das primäre Prinzip, Unlust zu vermeiden, um ein Prinzip, das über die Frage funktioniert: Was ist wirklich? Wer Antworten auf diese Frage findet, kann beginnen, wirklich Vorhandenes für die eigene 29 Vgl. Ricoeur 1969/1974: 93.

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Spannungsreduktion zu benutzen. Er hat nun die Wirklichkeit zur Hand, um sich zu regulieren. Warum hört der Mensch mit dem Erwerb dieser sekundären Fähigkeiten nicht auf zu wünschen? Das ist eine entscheidende Frage. Man kann diese Frage auch so stellen: Wird das Lustprinzip vom Realitätsprinzip abgelöst? Und wenn nein, warum nicht? Freud verhält sich dazu von Anfang an eindeutig. Er wird seine bereits im VII. Kapitel der Traumdeutung niedergeschriebene Vorstellung von der Unzerstörbarkeit des primären Systems sein gesamtes Werk hindurch beibehalten und in diversen Zusammenhängen vertiefen. Das Konstanzprinzip ist, wie Ricoeur das ausdrückt, unsere gewöhnliche Wahrheit: »Der Primärvorgang ist wirklich primär: er ist ›von Anfang an gegeben‹; der Sekundärvorgang tritt mit Verspätung ein und ist niemals endgültig ausgebildet. Genau dies ist die Pointe des VII. Kapitels; die Unzerstörbarkeit des primären Systems ist sein wahres Problem. Weil das Lust-/Unlustprinzip niemals vollständig und endgültig ersetzt wird, bleibt das Konstanzprinzip unsere gewöhnliche Wahrheit.« (Ricoeur 1969/1974: 123)

Freud setzt seine Beobachtung, dass regressive Tendenzen eine so große Rolle im psychischen Geschehen der Menschen spielen, in einen Zusammenhang damit, dass der Entzug vom Lustprinzip niemals voll gelingen wird. »Infolge dieses verspäteten Eintreffens der sekundären Vorgänge bleibt der Kern unseres Wesens, aus unbewussten Wunschregungen bestehend, unfassbar und unhemmbar für das Vorbewusste, dessen Rolle ein für alle Mal darauf beschränkt wird, den aus dem unbewussten stammenden Wunschregungen die zweckmäßigsten Wege anzuweisen. Diese unbewussten Wünsche stellen für alle späteren Bestrebungen einen seelischen Zwang dar, dem sie sich zu fügen haben, den etwa abzuleiten und auf höher stehende Ziele zu lenken sie sich bemühen dürfen. Ein großes Gebiet des Erinnerungsmaterials bleibt auch infolge dieser Verspätung der vorbewussten Besetzung unzugänglich.« (Freud 1900/1977: 490)

Wenn man sich vorstellt, dass sich aus dieser primärprozesshaften Gemengelage ein sekundärer Prozess entwickelt, der beinhaltet, dass der Mensch beginnt ›Ich‹ zu sagen, wird das darin enthaltene Moment der Entäußerung und damit die Bewegung der Rückwendung noch einmal plastisch. Der Mensch ist ein Wesen der Reflexion insofern ihm sein eigenes unzerstörbares primäres System niemals auf dieselbe Weise zugänglich wird wie alles, was in ihm passiert, nachdem er über die Ichfunktion gelernt hat, Innen und Außen zueinander in Beziehung zu setzen, sprich sich getrennt wahrzunehmen. Die Differenzierungsstärke des Denkens

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stellt eine Kraft dar, mit der sich der Mensch (nie vollständig, aber in einer Bewegung der Unabhängigkeit) vom Unlustprinzip lösen kann. Denken ist der ebenso phantastische sekundärprozesshafte Ersatz der primärprozesshaften halluzinatorischen Wunscherfüllung, die jeder anderen Phantasiebildung vorausgeht. Denken schlägt neue Richtungen ein, neue Zusammensetzungen von Affekten und Vorstellungen vor, und steht in diesem Sinne der Bewegung der Regression gegenüber. Letztere differenziert Ricoeur in drei Weisen: »[...] Das Rückschreiten des Denkens zur bildlichen Darstellung und zugleich das Rückschreiten des Menschen zur Kindheit; dieser formalen und zeitlichen Regression fügt Freud eine andersgeartete hinzu, die topische, das heißt, das Rückströmen eines Gedankens zum Wahrnehmungspol, und zwar in halluzinatorischer Weise.« (Ricoeur 1969/1974: 117) »Doch dieser kürzeste Weg ist nicht jener, den die Realität uns gelehrt hat; Enttäuschungen haben uns beigebracht, die Regression beim Erinnerungsbild anhalten zu lassen und den Umweg über das Denken zu finden. Dies zweite System ist in genetischer Hinsicht der Ersatz des halluzinatorischen Wunsches.« (Ebd. 120)

Die allererste seelische Notwendigkeit besteht darin, die überwältigende Freiheit der psychischen Energieströme zu binden30. Sogleich setzt das Lustprinzip die Art der Bindung auf einen einigermaßen entspannten Zustand fest. Jene Unlust, die eine zu hohe psychische Spannung mit sich bringt, ist dabei so zwingend, dass Halluzinieren zur Option wird. Dies ist der schnellste Weg, den der Wunsch für seine Erfüllung einschlagen kann. Doch die Wirklichkeit fordert die Preisgabe des Halluzinierens. Und sie hat zusätzlich noch den Preis, dass die Unlust wiederum unbewältigt ist. Was passiert jetzt? Wie kann der Mensch seine unangenehm gespannte Unlust, die der drängende Wunsch ihm anzeigt, jenseits des Halluzinierens loswerden? Freuds Vorschlag, wie dies vonstatten gehen kann, ist ein Geniestreich. Er findet in seiner Antwort eine Verknüpfung zwischen den drei metapsychologischen Aspekten, der Dynamik, der Topik und der Ökonomik eines seelischen Geschehens. Freud nimmt an, dass das Streben des Wunsches 30 »Dieses Verhältnis (qualitative Unterschiede in der Art wie sich der Energiefluss beim Primärvorgang im Vergleich zum Sekundärvorgang gestaltet) hat J. Breuer veranlasst, zwei verschiedene Zustände der Besetzungsenergie im Seelenleben anzunehmen, einen tonisch gebundenen und einen frei beweglichen, der Abfuhr zustrebenden. Ich glaube, dass diese Unterscheidung bis jetzt unsere tiefste Einsicht in das Wesen der nervösen Energie darstellt, und sehe nicht, wie man um sie herumkommen soll.« (Freud 1915/1975 c: 147)

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nach direkter halluzinatorischer Erfüllung umgeleitet werden kann, wenn die Wirklichkeit zur Aufgabe der Halluzination zwingt und gleichzeitig keine wirkliche Befriedigung in Aussicht steht. Diese Möglichkeit sieht er in der Affektverwandlung. Der Affekt kann den Wunsch verwandeln. Bei der Lust-/Unlustregulierung durch Affektverwandlung zeigt die Psyche ihre ganze Plastizität. Der Wunsch, als psychische Doppelung zur physischen Bedürfnisregung, versucht die frei bewegliche Triebenergie zu binden. In dieser Engführung mit dem Trieb, wird dem Wunschgeschehen von Freud dieselbe unaufhaltbare Qualität zugeschrieben wie dem Triebgeschehen selbst: Beide sind unsterblich, oder anderes ausgedrückt, zur ewigen Wiederholung angelegt. Die arché des Wunsches bleibt, in dem Maß, wie sie zwischen Urverdrängung und dem andauernden Prozess der eigentlichen Verdrängung ankert, unbewusst. Die Affektverwandlung liefert den Wunsch zusätzlich der Verdrängung aus. Von der Realitätsprüfung als inakzeptabel eingeschätzte und daher aufzugebende Wunschregungen werden uns nicht spontan bewusst, der Wunsch selbst bleibt in seiner primärprozesshaften Qualität aber bestehen. Es ist der deshalb notwendige Verdrängungsprozess, der sichtbar wird und zwar eben an den Affekten. An Affekten, die wir dann nicht mehr spontan als unsere Wünsche erkennen und denen wir u.U. keine Vorstellungen mehr zuordnen können. Die Affekte verraten sozusagen die Verdrängung. Ricoeur drückt das, Freud zitierend, so aus: »[...] Wenn die Verdrängung mit dem Affekt im Kampfe liegt, enthüllt sie seine wahre Bedeutung in Bezug auf das Lust-/Unlustprinzip. ›Wir erinnern uns, dass Motiv und Absicht der Verdrängung nichts anderes als die Vermeidung von Unlust war. Daraus folgt, dass das Schicksal des Affektbetrags der (Trieb)Repräsentanz bei weitem wichtiger ist als das der Vorstellung, und dass dies über die Beurteilung (den Erfolg oder das Misslingen) des Verdrängungsvorganges entscheiden‹ wird.« (Ricoeur 1969/1974: 154)

Der Mensch kann nicht aufhören zu wünschen, weil das Realitätsprinzip ihn zwar in die Wirklichkeit bindet, die Wirklichkeit aber nicht zu seiner Befriedigung existiert. Da Befriedigungen, verstanden als Momente der Spannungsreduktion, für ihn aber unumgänglich sind, bleibt der Wunsch eine der mächtigsten psychischen Regungen. Er kann ebenso wenig wie die Wirklichkeit aufgegeben werden und indem er Wortführer primärprozesshafter Vorstellungen und Affekte ist, stellt er einen potenten Antagonisten zur Wirklichkeit dar. Während sich die äußere Wirklichkeit mit Foucault in den aktuell geführten sowie den in einer Epoche führbaren Diskursen ausdrückt, setzt der Wunsch mit Freud die innere Rede in Gang.

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»Halten wir uns noch vor, dass es von großer praktischer Bedeutung ist, Wahrnehmungen von noch so intensiv erinnerten Vorstellungen zu unterscheiden. Unser ganzes Verhältnis zur Außenwelt, zur Realität, hängt von dieser Fähigkeit ab. Wir haben die Fiktion aufgestellt, dass wir diese Fähigkeit nicht immer besaßen und dass wir zu Anfang unseres Seelenlebens wirklich das befriedigende Objekt halluzinierten, wenn wir das Bedürfnis nach ihm verspürten. Aber die Befriedigung blieb in solchem Falle aus, und der Misserfolg muss uns sehr bald bewogen haben, eine Einrichtung zu schaffen, mit deren Hilfe eine solche Wunschwahrnehmung von einer realen Erfüllung unterschieden und im weiteren vermieden werden konnte. Wir haben mit anderen Worten sehr frühzeitig die halluzinatorische Wunschbefriedigung aufgegeben und eine Art der Realitätsprüfung eingerichtet. Die Frage erhebt sich nun, worin bestand diese Realitätsprüfung [...]. [...] Die Antwort lässt sich geben, wenn wir nun darangehen, das dritte unserer psychischen Systeme, das System Bw, welches wir bisher vom Vbw nicht scharf gesondert haben, nä her zu bestimmen. [...] Wir haben (in Triebe und Triebschicksale) für den noch hilflosen Organismus die Fähigkeit in Anspruch genommen, mittels seiner Wahrnehmungen eine erste Orientierung in der Welt zu schaffen, indem er ›außen‹ und ›innen‹ nach der Beziehung zu seiner Muskelaktion unterscheidet. [...] Es ist dem Individuum wertvoll, dass er ein solches Kennzeichen der Realität besitzt, welches gleichzeitig eine Abhilfe gegen sie bedeutet, und es wollte gern mit ähnlicher Macht gegen seine oft unerbittlichen Triebansprüche ausgestattet sein. Darum wendet er solche Mühe daran, was ihm von innen her beschwerlich wird, nach außen zu versetzen, zu projizieren. Diese Leistung der Orientierung in der Welt durch Unterscheidung von innen und außen müssen wir nun nach einer eingehenden Zergliederung des seelischen Apparates dem System Bw (W) allein zuschreiben. Bw muss über eine motorische Innervation verfügen, durch welche festgestellt wird, ob die Wahrnehmung zum Verschwinden zu bringen ist oder sich resistent verhält. Nichts anderes als diese Einrichtung braucht die Realitätsprüfung zu sein. [...] Die Realitätsprüfung werden wir als eine der großen Institutionen des Ichs neben die uns bekannt gewordenen Zensuren zwischen den psychische Systemen hinstellen [...].« (Freud 1917/1975 a: 188 und 189)

Ein einigermaßen funktionstüchtiges sekundärprozesshaftes Geschehen entwickeln zu können, stellt den entscheidenden Faktor für den Verlauf des Wunsches dar. Dabei wäre der Prozess der Wahr-Nehmung der Wirklichkeit mindestens so gut beschrieben durch den Begriff Nutz-Nehmung, denn Freud verwechselt keinesfalls die Wahrheit mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit; sein Realitätsprinzip ist ein praktisches, man könnte sagen, pragmatisches. Dessen Funktion ist mit der Unterscheidung von Innen und Außen beschrieben. Die Wirklichkeit wahrnehmen zu können ist für Freud gleichbedeutend mit: ein Schild gegen sie

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zur Verfügung haben31, einen Reizschutz gegen äußere Reize. Der psychische Primärvorgang hingegen findet in einem fließenden Übergang zwischen Wunsch und Realität statt, er schließt eine Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Vorstellen noch nicht ein. Diese Fähigkeit setzt erst ein, wenn Energie gehemmt und gebunden werden kann (aus dieser Fähigkeit entsteht mit der Zeit eine psychische Struktur, die Freud in seinem zweiten topischen Modell das Ich nennen wird), so dass der Mensch die Zeit gewinnt, die notwendig ist, um von der Wahrnehmung eintreffende Realitätszeichen gezielt verarbeiten zu können. Der Mensch wird in diesem Sinne mehr zu einer Expertin der Wirklichkeit als der eigenen Psyche. Weil das sekundäre System das primäre nicht ablöst, sondern ergänzt, bleibt der Wunsch zwischen diesen beiden Systemen eingespannt. »[Die] Verdrängung ist das tägliche Brot einer zur Verspätung verdammten und immer dem Infantilen, dem Unzerstörbaren verfallenen Psyche; der aus dieser unbezwinglichen Tiefe aufsteigende Wunsch kann auf dem Wege der Unlust nur durch Affektverwandlung aufgehalten werden, – die das Wesen der Verdrängung ausmacht. Zwar ist es das sekundäre System, das diese Wirkungen erzeugt, doch nicht durch Zugang zu dem, was wir vorhin das ›Denken‹ nannten; das sekundäre System ist dazu verurteilt, innerhalb der Lust/Unlust zu wirken, durch Verwandlung der Affekte.« (Ricoeur 1969/1974: 124)

Ricoeur zieht aus der Freudʼschen Verknüpfung des primären mit dem sekundären System über die Verdrängungsarbeit den Schluss 32, dass auch der Affekt einen irreduziblen Charakter hat und das bedeutet auch: keine noch so elaborierte Art der Sinnschöpfung kann in Bezug auf die Sprache der Kraft (der triebhaften, wünschenden, affektiven) erschöpfend sein.33 31 »Dies ist eines der Hauptthemen in DAS ICH UND DAS ES. Während es einen ›Wahrnehmungsschild‹ gibt, ist das Ich den Reizungen seiner Triebe schutzlos ausgeliefert. Es ist ein tiefer Gedanke, dass die Wahrnehmung in Hinblick auf die Reizungen der Außenwelt ein selektives System ist, während der Wunsch uns wehrlos antrifft. Dieser Gedanke lässt sich mit der Nietzscheschen Auffassung der ›Gefahr‹ vergleichen.« (Ricoeur 1969/1974, Fußnote: 88) 32 Vgl. Ricoeur, 1969/1974: 158 f. 33 Dabei gilt auch umgekehrt: »Die Psychoanalyse stellt uns niemals vor nackte Kräfte, sondern immer vor Kräfte auf der Suche nach einem Sinn; diese Bindung der Kraft an den Sinn macht den Trieb selbst zu einer psychischen Realität oder genauer zum Grenzbegriff zwischen Organischem und Psychischem. Man kann also das Band zwischen Hermeneutik und Ökonomik soweit dehnen wie irgend möglich – und die Theorie des Affekts bezeichnet den äußersten Punkt dieser Ausdehnung in der Freudschen Metapsychologie –, nie wird dieses Band zerrissen werden können, ohne dass die

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Die Topik differenziert die Systeme und die Ökonomik veredelt diese Trennung, indem sie jedem System eigene Gesetzmäßigkeiten zuschreibt. Noch einmal können wir uns hier die zentrale Rolle der Repräsentanten und Abkömmlinge für die innere Notwendigkeit zu sprechen, vor Augen halten: die Möglichkeit, zwischen den Systemen zu übersetzen, der genuine Zusammenhang von Kraft und Sinn, wie er für die Psyche typisch ist, gründet auf deren signifikanter Struktur. Es ist ›der Verkehr der beiden Systeme‹ 34, auf den es ankommt – der sie überhaupt erst zu Systemen macht. »[...] Kein Wunsch, nicht einmal der nach Schlaf, (kann) wirksam (werden), wenn er sich nicht den ›unzerstörbaren‹ und sozusagen ›unsterblichen‹ Wünschen unseres Unbewussten zugesellt, von deren infantilem Charakter die Neurose Zeugnis ablegt. Somit besteht die erste Funktion der Topik darin, auf bildhafte Weise die Verteilung der Tiefengrade des Wunsches bis hin zum Unzerstörbaren zu bestimmen. Wir können viel leicht schon sagen, dass die Topik die metaphorische Gestalt des Unzerstörbaren als solchem ist: ›Im Unbewussten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen.‹ Man denkt bereits an die Formulierungen der metapsychologischen Schriften: das Unbewusste ist außer der Zeit. Die Topik ist der Ort, welcher das ›Außer der Zeit‹ veran schaulicht.« (Ebd. 116)

Der Wunsch macht uns zu Wortführerinnen. Alles, was man vom energetischen Schicksal der Triebe weiß, weiß man, indem es als Schicksal seiner psychischen Repräsentanzen zur Sprache kommt; indem wir bewusste Vorstellungen äußern können, oder indem der Wunsch uns Worte bilden lässt, mit denen wir Affekte Ökonomik selbst aufhörte, zu einer Psychoanalyse zu gehören.« (Ricoeur 1969/1974: 161) 34 »Es wäre doch unrecht, sich vorzustellen, dass das Ubw in Ruhe verbleibt, während die ganze psychische Arbeit vom Vbw geleistet wird, dass das Ubw etwas Abgetanes, ein rudimentäres Organ, ein Residuum der Entwicklung sei. Oder anzunehmen, dass sich der Verkehr der beiden Systeme auf den Akt der Verdrängung beschränkt, indem das Vbw alles, was ihm störend erscheint, in den Abgrund des Ubw wirft. Das Ubw ist vielmehr lebend, entwicklungsfähig und unterhält eine Anzahl von anderen Beziehungen zum Vbw, darunter auch die der Kooperation. Man muss zusammenfassend sagen, das Ubw setzt sich in die sogenannten Abkömmlinge fort, es ist den Einwir kungen des Lebens zugänglich, beeinflusst beständig das Vbw und ist seinerseits sogar Beeinflussungen von Seiten des Vbw unterworfen. Das Studium der Abkömmlinge des Ubw wird unseren Erwartungen einer schematisch reinlichen Scheidung zwischen den beiden psychischen Systemen eine gründliche Enttäuschung bereiten.« (Freud 1915/1975 c: 149)

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auszudrücken versuchen, die wir nicht verstehen. Er lässt uns auch da reden, wo man nichts Konkretes sagen kann, über etwas, das sich doch mannigfaltig aussagt: vom Trieb, seinen Repräsentanten und Abkömmlingen. Ein sinnhaftes telos im Sinne einer inhaltlichen Ausrichtung fügt der Wunsch unserem Sprechen dabei zunächst jedoch genauso wenig hinzu wie die Repräsentanten und Abkömmlinge, er ist und bleibt auf die Lust oder die Vermeidung von Unlust als sein Ziel ausgerichtet. Wenn weder was ›Man sagt‹ im Sinne der Foucaultʼschen diskursiven Praxis noch was ›Ich will‹ im Sinne der Freudʼschen Wunschaktivität als Ansatzpunkt für eine Ausrichtung auf ein gutes Leben herangezogen werden kann, was bleibt? Auf was darf man jetzt noch hoffen? Vielleicht doch auf einen universellen Wertekanon? Kann das Gute eventuell selbst sprechen? Gibt es etwas jenseits von Innen und Außen, dem man sein Ohr leihen könnte? Ein Numen? Ich wäre sogleich bereit, das Numinose 35 mit in die Gedanken hier aufzunehmen, wenn sich seine Erscheinungen, denen des Unbewussten vergleichbar, zumindest prozedural und strukturell beobachten und beschreiben ließen, was gleichbedeutend ist damit, dass Reflexionen überhaupt einen Zugang schaffen können und man nicht einfach glauben muss. Eine Arbeit, die das Gute ins Visier nimmt, sollte sich einer solchen Möglichkeit nicht unbegründet verschließen. Aber der rechte Zeitpunkt, diese Option zu ziehen, ist noch nicht gekommen. Besser wir warten damit noch, bis wir mit Freud das Triebgeschehen nicht nur im Lichte des Lebens betrachten können, sondern auch im Angesicht des Todes. Einen ersten Schritt können wir dafür aber jetzt gleich gehen, mit Blickrichtung auf den Freudʼschen Königsweg. Im Traum würde uns nicht einfallen, dass die Wirklichkeit die Grenze vorgibt: »Der Traum schafft Zugang zu einem grundlegenden Phänomen [...]: [dem] der Regression [...]. Was uns – bei dieser Regression – von Begriffen des Sinns auf Begriffe der Kraft verweist, ist der ›Kurzschluss‹ zwischen Archaischem und Traumhaftem; denn diese Phantastik ist eine Phantastik des Wunsches. Wenn der Traum aufgrund seines Erzählcharakters zur Rede hingezogen wird, so wirft ihn sein Verhältnis zum Wunsch wieder auf die Seite der Energie, des conatus, des Begehrens, des Willen zur Macht, der Libido, oder wie immer man es nennen mag. Damit steht der Traum, als Ausdruck des Wunsches, zwischen Sinn und Kraft.« (Ricoeur 1969/1974: 103)

35 Vgl. Youtube-Audiofile: ›C.G. Jung im Gespräch‹ mit Georg Gerstner, Originalaufnahme von 1960.

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Der Traum ist das Triebschicksal der Nacht. Auch für ihn ist die Wunschdynamik ursächlich. Die in ihm auftauchenden Vorstellungen und Affekte verdeutlichen noch einmal die Verzichtbarkeit der Wirklichkeit für den Wunsch in seinem primärprozesshaften Auftreten und zeigen ein ganz besonderes Sprechen in uns. Was uns daran interessiert, ist nicht die Traumdeutung, sondern ausschließlich der Aspekt, welchen Zugang zu der Frage, wer oder was in uns spricht, der Traum eröffnet. Wir stehen vor der letzten Biegung, bevor wir im nächsten Kapitel Freud zunächst wieder verlassen und eine andere Richtung einschlagen werden. Wir müssen noch einen letzten psychoanalytischen Begriff mit aufnehmen; es gilt wahrlich ›last but not least‹: der Narzissmus. Über ihn kommen wir zum Subjekt; mit ihm eröffnet sich das ganze Ausmaß der Wüste, in die wir gewandert sind, die gewaltige ethische Orientierungslosigkeit der individuellen psychischen Existenz. Erst nach jahrelanger Beschäftigung mit den verdrängten Kräften des Unbewussten, integriert Freud, ausgehend von seiner Schrift ›Zur Einführung des Narzissmus‹ die verdrängenden Kräfte in sein gedankliches Gebäude und formuliert darüber in weiterer Folge seine Vorstellung über die psychische Struktur noch einmal radikal um. »Die Abhandlung gehört zu den wichtigsten Schriften und kann in der Entwicklung seiner Theorie als ein Wendepunkt gelten. [...] (Freud befasst sich darin) mit den tieferen Problemen der Beziehungen zwischen dem Ich und den Außenobjekten und unterscheidet erstmals zwischen ›Ichlibido‹ und ›Objektlibido‹. Ferner – und vielleicht ist das der bedeut samste Aspekt – führt er die Konzepte des ›Ichideals‹ und der damit verbundenen Instanz der Selbstbeobachtung ein, also die Grundlage dessen, was er später in Das Ich und das Es [...] als ›Über-Ich‹ beschreiben sollte.« (Freud, 1914/1975, Editorische Vorbemerkung: 39)

Über die Beschäftigung mit dem Narzissmus verliert das Bewusstsein für Freud endgültig seinen Systemstatus aus der ersten Topik und wird stattdessen zu einem Zustand. Gleichzeitig wird das Ich zu einem neuen Systembegriff. Während das Es der zweiten Topik weitgehend mit dem System Ubw aus der ersten Topik gleichgesetzt werden kann, eröffnen die Begriffe Ich und Ichideal (Über-Ich) einen völlig neuen Zugang zur Sichtweise auf das psychische Geschehen und zwar indem Freud mit ihnen die Bedeutung des Außen für die innere Struktur nun systematisch integriert. Eine Neuigkeit wird von da an die Runde machen: auch Teile des Ichs sind unbewusst. Damit werden wir uns in dem Kapitel 5.4. ›Moral ohne Gewissen – oder umgekehrt?‹ auseinandersetzen. An dieser Stelle

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ist für uns erst einmal nur der Aspekt der Trennung zwischen Ichlibido und Objektlibido wichtig: »Endlich folgern wir für die Unterscheidung der psychischen Energien, dass sie zunächst im Zustande des Narzissmus beisammen und für unsere Analyse ununterscheidbar sind und dass es erst mit der Objektbesetzung möglich wird, eine Sexualenergie, die Libido, von einer Energie der Ichtriebe zu unterscheiden. [...] Es ist eine notwendige Annahme, dass eine dem Ich vergleichbare Einheit nicht von Anfang an im Individuum vorhanden ist; das Ich muss entwickelt werden. Die autoerotischen Triebe sind aber uranfänglich; es muss also irgendetwas zum Autoerotismus hinzukommen, eine neue psychische Aktion, um den Narzissmus zu gestalten.« (Freud 1914/1975: 44)

Ohne Umschweife gesteht Freud ein, dass er sich bei dieser Überlegung diesmal nicht auf Beobachtungen stützen kann. Um ihren Fortgang zu rechtfertigen, bezieht er sich deshalb wieder auf einen, bis dahin von ihm noch nicht weiter beachteten, biologischen Aspekt der psychischen Existenz: »Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als ein Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist. Es hält selbst die Sexualität für eine seiner Absichten, während eine andere Betrachtung zeigt, dass es nur ein Anhängsel an sein Keimplasma ist, dem es seine Kräfte gegen eine Lustprämie zur Verfügung stellt, der sterbliche Träger einer – vielleicht unsterblichen – Sub stanz [...]. Die Sonderung der Sexualtriebe von den Ichtrieben würde nun diese doppelte Funktion des Individuums spiegeln.« (Ebd. 45)

Die ›neue psychische Aktion‹, die den primären Narzissmus verändert, bei dem die ganze Libidoenergie noch ungerichtet bzw. in unbestimmter Weise auf sich selbst gerichtet ist, besteht darin, dass zu der libidinösen Selbstbesetzung Objektbesetzungen hinzukommen. Zum Hunger gesellt sich die Liebe 36. Der primäre 36 »Von allen langsam entwickelten Stücken der analytischen Theorie hat sich die Trieblehre am mühseligsten vorwärts getastet. Und sie war doch dem Ganzen so unentbehrlich, dass irgend etwas an ihre Stelle gerückt werden musste. In der vollen Ratlosig keit der Anfänge gab mir der Satz des Dichterphilosophen Schiller den ersten Anhalt, dass ›Hunger und Liebe‹ das Getriebe der Welt zusammenhalten. Der Hunger konnte als Vertreter jener Triebe gelten, die das Einzelwesen erhalten wollen, die Liebe strebt nach Objekten; ihre Hauptfunktion, von der Natur in jeder Weise begünstigt, ist die Erhaltung der Art. So traten zuerst Ichtriebe und Objekttriebe einander gegenüber. Für die Energie der letzteren, und ausschließlich für sie, führte ich den Namen Libido ein;

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Narzissmus als Bezeichnung für den libidinösen Ausgangszustand eines jeden Menschen ist unbedingt zu unterscheiden von dem von Freud sogenannten sekundären Narzissmus, der eine pathologische Libidoentwicklung darstellt, nämlich das Fehlen von Objektbesetzungen und stattdessen die anhaltende Konzentration der Libidoenergie auf das sich entwickelnde Ich. Der sekundäre Narzissmus ist eine düstere Seite des an und für sich faszinierenden Merkmals der Libidovariabilität, die Besetzungen sowohl sehr spontan verändern als auch recht hartnäckig beibehalten kann. Als Beispiele für die ansatzlose Veränderungsbereitschaft der Libido führt Freud den Zustand eines Menschen an, der unter akuten starken Schmerzen leidet und dessen Fokus sich augenblicklich auf seine Schmerzsituation verengt. Und: »Ähnlich wie die Krankheit bedeutet auch der Schlafzustand ein narzisstisches Zurückziehen der Libidopositionen auf die eigene Person, des genaueren, auf den einen Wunsch zu schlafen.« (Ebd. 50) Die Regression, die im Traum sichtbar wird, bringt jede Nacht die primärnarzisstische Situation ›zu Tage‹, in der sich alles noch auf die eigene Existenz bezieht, sich das Subjektive noch nicht von den Objekten scheidet, man alles, was auftaucht, auf eigenartige Art selbst ist. Alles spricht zu einem und alles, was spricht, ist man selbst. Wenn sich diese Situation nicht im Traum, sondern im Wachzustand abspielt, ist die Entwicklung der Subjekt-/Objekt-Differenzierung schwer gestört worden und wenn der weitere Entwicklungsverlauf zur Ausbildung des pathologischen sekundären Narzissmus führt, sieht Freud darin eine Grenze der Beeinflussbarkeit durch die psychoanalytische Redekur gegeben 37. Aussagen sich selbst oder Anderen zuordnen, selbst sprechen und Anderen zuhören zu können, erscheint in diesem Zusammenhang als basale Voraussetzung für psychische Gesundheit oder die Erlangung derselben. Das primärprozesshafte Triebgeschehen und der darin vorherrschende primäre Narzissmus sind u.a. für Träume ein Leben lang inspirierend; der wache Mensch aber muss differenzieren können, muss den primären Narzissmus im Zuge der Sekundärvorgänge zu einer Liebesfähigkeit modulieren lernen. Die Aussendungen von Libidoenergie an andere Menschen, die primären Objektbesetzungen, sind der erste Schritt in diese Richtung. Da die Primärprozesse mit der Ichbildung aber keineswegs aufhören, bleiben Wunsch und Trieb das ganze Leben lang Motoren für neue Subjekt- und Objektbesetzungen. »Er (der Trieb) wird zur Energiereserve, die alle Energieverteilungen unter das Ich und die Objekte überdauert. Die Objektwahl wird selbst, als ein Ausweg aus dem (primären) Narsomit lief der Gegensatz zwischen den Ichtrieben und den aufs Objekt gerichteten ›li bidinösen‹ Trieben der Liebe im weitesten Sinne.« (Freud 1931/2010: 67) 37 Vgl. Freud, 1914/1975.

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zissmus, ein zum Narzissmus in Beziehung stehender Begriff; unter diesem Gesichtspunkt gibt es nur Auswege aus dem Narzissmus und die Rückkehr zu ihm.« (Ricoeur 1969/1974: 137)

Vor diesem Hintergrund erscheint die Formulierung ›Triebschicksal‹ noch einmal in einem ganz neuen Licht. Dazu verdammt, Unlust zu empfinden und wieder loszuwerden, zieht der Wunsch den Menschen schicksalhaft zu einem Objekt noch bevor er weiß, wer er selber ist. Natürlich sind dabei die ersten Objektwahlen nicht zufällig, sondern sie fallen mit den primären Bezugspersonen zusammen. Dennoch gilt, aufgrund des Zielprimats, dass das Objekt prinzipiell das Variabelste am gesamten Triebgeschehen ist. Diese Objektvariabilität zeigt sich auch in der Differenzierung von Ich- und Sexualtrieb. So kann, ontogenetisch notwendig, sowohl die eigene psychische Existenz über die Entwicklung des Ichs (welches in diesem Fall das Objekt des Triebes ist) als auch, phylogenetisch sinnvoll, die Existenz der Spezies gesichert werden (wenn der Andere zum Objekt der Begierde wird). In jedem Fall wird das Objekt im Dienste des Triebziels gewählt und bezüglich des Sexualtriebes diesem entsprechend ausgetauscht: ungünstigerweise mit dem eigenen Ich im Falle des sekundären Narzissmus bzw. mit neuen Objekten zusätzlich zu den primären Bezugspersonen im Falle der ungestörten Libidoentwicklung. Ricoeur kommt deshalb zu der Aussage, dass die Subjekt-Objekt-Relation selbst eine ökonomische ist. Er folgert: »[...] Dass das Ego der Psychoanalyse nicht das ist, was sich in einer Bewusstseinsbeschreibung als das erste Subjekt zeigt; der dem Begriff des Objekttriebs korrespondierende Begriff des Ichtriebes macht den Trieb selbst zu einer Struktur, die der phänomenalen Subjekt-Objekt-Relation vorausgeht. [...] Der Trieb hat sich nicht nur vom Objektbezug, sondern auch vom Subjektbezug befreit, da das ›Ich‹ selber auf die andere Seite getreten ist: im Begriff des Ichtriebs ist das Ich nicht mehr Subjekt, sondern Objekt, im Sinne einer variablen Funktion des Ziels. [...] Ich glaube, dass man die doppelte Destruktion, die des Zielobjekts als angeblichen Führer und die des Subjekts als eines angeblichen Bezugspols aller Absichten des Bewusstseins, vor Augen haben muss, um die Topik richtig zu verstehen. Man könnte sagen, die Topik sei jener nicht-anatomische, psychische Ort, den man in die psychoanalytische Theorie als die Möglichkeitsbedingung aller ›Triebschicksale‹ einführen muss; auf dem Markt der Besetzungen findet der Austausch von Ichtrieb und Objekttrieb statt.« (Ebd. 142 und 143)

Ich habe angekündigt, dass es in diesem Kapitel um die Verstrickung des Subjekts in sein Wort geht. Um das Verhältnis von Subjekt und Wort zu Moral und Wahrheit. Was haben wir darüber nun erfahren?

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In Anlehnung an Ricoeur können wir sagen: nicht nur das Konstanzprinzip, sondern auch der Narzissmus bleibt unsere gewöhnliche Wahrheit. Wenn wir später außerdem sagen werden, dass der primäre Narzissmus, als Zustand in uns, auf seine eigene Weise mit dem Prozess der Realität verbunden ist, können wir uns endlich auch ein besseres Bild derselben machen. Einstweilen bleiben wir bei der Wirklichkeit und stellen fest, dass der Wunsch auch ihr Wort führt, in dem er sich in ihrem Namen verändert. Indem der lebensgebende Trieb den Wunsch setzt und dessen unzerstörbare Triebdynamik die Wahl der Objekte aufgrund ihrer Eignung zur Triebbefriedigung bestimmt, ist das darüber, als zweite Wirkung auftauchende Subjekt bei seiner Entstehung vor allem ein Wünschendes; ein Subjekt, das noch nichts anderes kann als auszudrücken: Ich will! Ein Sich-Verstehen ohne Sprache, eine Verbundenheit ohne Worte, kann von daher erst einmal und im besten Falle ein gegenseitiges Akzeptieren meinen, dass man jeweils Objekt für den Anderen ist. Der Mensch führt zwar schon früh Worte in seinem Mund und diese führen zu dem, was er will, aber nachdem wir die reflexive Grundsituation als conditio humana akzeptiert haben, kann das direkteste an menschlicher Rede eigentlich nicht diesseits der Reflexion liegen. Die Vorstellung, dass die Libidoorganisation ein Ich erst entstehen lässt, ja dass sich, ausgehend von Objektbesetzungen, die gesamte psychische Situation, die bis dahin durch den primären Narzissmus gekennzeichnet ist, in Auseinandersetzung mit dem Außen neu strukturiert, lässt mich folgende Frage stellen: Der Wunsch ist zwar ein geeigneter und auch ausgesprochen potenter Kandidat, um Worte zu führen, aber gibt es nicht eine noch direktere (Vermittlungs-)Rede für den Menschen als die des Wunsches? Eine Sprache, die für den ganzen Menschen steht und nicht nur seine Wunschdynamik ausdrückt? Eine Rede, welche die doppelte biologische Lebenssituation als Individuum und als Teil einer Art, erfassen kann und die sich womöglich gleichzeitig nicht nur für die Vereinnahmung des Anderen interessiert, sondern auch für sein Anderssein? Wie sähe eine solche Sprache aus? Wie lernt man sie gegebenenfalls? Wie spricht man sie? Dem Nächsten als Anderem und nicht nur als Objekt können wir begegnen, wenn wir die Vorstellung einer in uns angelegten subjektiven Ursprünglichkeit fallen lassen. Aber auch wenn wir erst in einem reflexiven Bezug zu unserer eigenen Subjektivierung eine direkte Rede, im Sinne eines (selbst)gewählten Sprechens, erwarten dürfen, bedeutet dies nicht, dass die Sprache des Wunsches dabei keine Relevanz mehr hätte. Es gilt im Gegenteil: Nachdem die Wünsche sich in Form von Triebrepräsentanzen im Kern des Unbewussten ablagern, dort Abkömmlinge bilden, können wir zu unserer eigenen Sprache nur in Auseinandersetzung mit unserer triebhaften Objektwahl finden, die uns immer wieder in Aufruhr versetzen wird. Wer etwas anderes ausdrücken möchte, als ›Ich will!‹ oder

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›Man sagt..‹, wer von sich selbst sprechen oder etwas Reales sagen möchte, wird nicht umhin können, die paradoxe menschliche Sprechsituation, die von außen durch den Diskurs und von innen durch den Wunsch bestimmt ist, zu durchdringen und im Zuge dessen eine paradoxe Subjektivierung zu avisieren. Vielleicht ist das dabei Gesagte zunächst nicht immer sofort ganz verständlich, sogar für einen selbst. Ja, man wird sich vermutlich die Frage gefallen lassen müssen: ›Wovon reden Sie?‹ Die dabei entstehende Spannung muss uns aber erfreulicherweise nicht mehr in Not bringen. Wir können sie als produktives Moment nutzen und eine Leere entstehen lassen. Denn wir wissen jetzt, dass wir dies der Sprache abverlangen können: Wenn sie uns als transsubjektives Element mit leeren Subjektstellen konfrontiert, dann haben wir zumindest die Option, diese Stellen nicht zu füllen. Und wenn sie uns in ihrer eruptiven Erscheinungsform, indem die Worte aus uns herausbrechen, mit unseren Wünschen konfrontiert, dann haben wir die besten Gelegenheiten, die paradoxe subjektive Situation in eine gute Fassung zu bringen. Wenn wir uns nun nicht damit zufrieden geben, dass ›gut‹ schlicht das ist, was uns nützt38, so müssen wir allerdings feststellen, dass wir uns noch in keiner 38 TASSO PRINZESSIN

So fühlt man Absicht und man ist verstimmt. Auf diesem Wege werden wir wohl nie Gesellschaft finden, Tasso! Dieser Pfad Verleitet uns durch einsames Gebüsch, Durch stille Täler fortzuwandern; mehr Und mehr verwöhnt sich das Gemüt, und strebt Die goldne Zeit, die ihm von außen mangelt, In seinem Innern wieder herzustellen, So wenig der Versuch gelingen will. TASSO O welches Wort spricht meine Fürstin aus! Die goldne Zeit wohin ist sie geflohen? Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt! [...] Wo jeder Vogel in der freien Luft Wo jedes Tier durch Berg und Täler schweifend Zum Menschen sprach: erlaubt ist was gefällt. PRINZESSIN Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei: Allein die Guten bringen sie zurück; Und soll ich dir gestehen wie ich denke, Die goldne Zeit, womit der Dichter uns Zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war So scheint es mir, so wenig als sie ist, Und war sie je, so war sie nur gewiss, Wie sie uns immer wieder werden kann. Noch treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genuss der schönen Welt; Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, Ein einzig Wort: erlaubt ist was sich ziemt. (Goethe 1790/2003: 31 f.)

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Weise auf das Gute zubewegt haben, dass das Verhältnis von Subjekt und Wort zur Moral noch gar nicht vorgekommen ist. Weder die Sprache noch das Subjekt ist zunächst von Moralischem berührt. Das ist – wohl oder übel – ein eigenes Kapitel. Der Wahrheit hingegen kommt man als Subjekt mit Worten durchaus auf die Schliche: Eingespannt zwischen Bewusstsein und Intransparenz – erst Ich sein zu können, nachdem Es ist und einsehen zu müssen, dass Ich Es nicht fassen kann – verlangt Wahrheit danach, in immer neue Fassung gebracht zu werden. Was wir bisweilen gut beobachten können, ist, dass die Wahrheit allzu oft als Mockumentary gedreht wird (um Kosten zu sparen an den immer gleichen Schauplätzen, mit den immer gleichen Darstellern und vor allem auch den immer gleichen Sätzen!). Und wir können verstehen, warum dies so leicht passiert: weil sich der Wunsch in (der) Wahrheit nicht erfüllen kann. So geht er einen Pakt mit der Wirklichkeit ein; anders ausgedrückt, der Wunsch verwirklicht sich an von ihm selbst hervorgebrachten Objekten. Aber erst in der Andersartigkeit des Objekts, in der Widerständigkeit des Anderen, wenn der eigene Wunsch nicht mehr die ganze Wirklichkeit ist, kann die Wahrheit erscheinen: als arché und telos. Wenn der Wunsch uns sprechen lässt, wenn er, in Ricoeurs Sprachgebrauch, den Menschen von der Kraft zur Sprache übergehen lässt, so gibt uns seine unnennbare Entstehung gleichzeitig das Unsagbare mit auf den Weg. Die Übersetzungsarbeit, jegliche Art von Deutung, Interpretation und Vermittlung ist möglich, weil es Realität diesseits der Sprache gibt 39. Jenseits der Sprache aber auch! Der Mensch hat nicht nur sein Sagen-Wollen, sondern auch seine Stille im Gepäck. Er kann zwischen Setzung und Loslassen am Wunsch arbeiten. Weil es mehr gibt als die Wirklichkeit des objekthaften Anderen, gehe ich davon aus, dass es dem Menschen möglich ist, von der Allmacht des Wunsches in der primärnarzisstischen Libidoorganisation über die sogenannte reife-genitale zu einer freien Libidoorganisation zu finden. Zu einer Wahrheit, die der Mensch ist, von der aus er, über einen gewaltigen Umweg, eben diese sich wieder als telos geben muss, um ein ethos erlangen zu können.

39 »Die Krise der Sprache, aufgrund derer wir heute zwischen Entmystifizierung und Wiederherstellung des Sinns hin und her schwanken, offenbar zu machen, das ist der tiefere Grund, der unsere Problemstellung motiviert; ich meine, dass eine Einführung in die Psychoanalyse der Kultur diesen weiten Umweg nehmen muss.« (Ricoeur 1069/1974: 40)

5

Moral History

Woher weiß man, was gut ist? Auf diese Frage gibt es nur zwei Antwortmöglichkeiten. Entweder: Man kann es kennen; weil das Gute in irgendeiner Form wahr ist und der Mensch mit seinen Sinnen und/oder seiner Vernunft in der Lage ist, dieses Gute zu erkennen. Oder: Es gibt nichts Gutes zu erkennen; denn in Wahrheit gibt es das Gute nicht, aber man kann es lernen. Es ist klar, dass es immer eine individuelle (Lern-)Geschichte zum Guten gibt. Abgesehen von der Überlebenssicherung, dem Schutz und der biologischen Aufzucht des kleinen menschlichen Wesens, dienen die persönlichen und fungieren vor allem auch die sozialen Autoritäten genau dazu: Sie geben Orientierung vor, wenn die Frage auftaucht: Was soll ich tun? In diesem Sinne ist der Weg zum Guten selbstverständlich kontingent. Es wird auf die Antworten und Ansagen, auf das beobachtbare, verbalisierbare Verhalten der Bezugspersonen ankommen, später auch anderer Personen. Und dann auf die eigenen Taten und wie diese sich erzählen lassen. Was sich gut anfühlt, erfahren wir über unsere Wunschgeschichte. Was gut ist, lernt der Mensch über Tradierung. Stimmt das nur? Ist das in jeder Hinsicht so? Kann man das Gute wirklich erlernen wie Geometrie oder Gemüseanbau? Oder lernt man nicht vielmehr, was als gut gilt? Gilt mit Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es? Oder lässt sich mit Aristoteles feststellen, dass der Mensch auf viele Weisen schlecht sein kann, aber nur auf eine Art gut? Seit Menschengedenken von so vielen Seiten avisiert, bleibt das Gute ein Faszinosum; obwohl es bisweilen völlig klar erscheint, entzieht es sich zumeist. Man muss es, genau wie die Wahrheit, fest im Blick behalten, d.h. links und rechts daran vorbeischauen und die Rückansicht nicht vergessen. Das Gute ist immer schon da (gewesen) und wird durchgereicht, wie ein Staffelstab, von einer Generation zur nächsten. Was heißt das für sein Wesen? Bleibt das Gute dabei dasselbe oder nicht? Und was folgt daraus für Moral?

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Wir nähern uns zum ersten Mal dem Guten und können dabei feststellen, dass eines jedenfalls immer gleich bleibt: das moralische Problem. So nennt Tugendhat1 die Ausgangslage, dass moralische Forderungen stets mit heftigen Affekten einhergehen während sie einen absoluten Geltungsanspruch transportieren, den niemand so begründen kann, dass tatsächlich alle zustimmen würden. Daraus folgt aber noch nicht zwingend, dass es das Gute absolut nicht gibt, auch wenn Moralkritiker diesen Schluss gekonnt ziehen. Wie zum Beispiel Friedrich Nietzsche, der sagt, die Bemühungen aller ihm vorangehenden Philosophinnen, Moral wie auch immer zu begründen, argumentieren an dem eigentlichen Problem der Moral völlig vorbei, welches nämlich exakt darin besteht, dass Moral selbst etwas Problematisches ist. Er schlussfolgert aus dem Umstand, dass eine universelle Begründung des Guten noch niemandem gelungen ist, es aber seit jeher echauffiertes moralisches Argumentieren unten den Menschen gibt, dass Moral dem Menschen zu etwas dient, was ihm unersetzlich ist: seine Macht zu sichern. Und dass die menschliche Reaktion auf den Anderen, diesen zu verehren oder zu verachten, um daraus ein Gesetz abzuleiten und zu postulieren, was es allgemein zu achten oder zu ächten gilt, dem Menschen zu einem Instinkt geworden ist. Diesem Instinkt des Einschätzens gibt Nietzsche den Namen ›Gewissen‹. Er geht davon aus, dass wir es bei dem Menschen mit dem abschätzenden Tier an sich zu tun haben, dass es dem Menschen zu seiner zweiten Natur geworden ist, zu schätzen, er darüber schöpft und erschafft und zwar nichts Geringeres als Werte. Der Mensch erobert sich im Austausch mit anderen Menschen, im Handeln und Aushandeln, etwas unerhört Wertvolles: seinen Platz in der Wirklichkeit. Er leitet ihn ab aus seinem Wertmaß und benutzt das Gute, um (Herrschafts-)Ansprüche zu legitimieren.2 Während Moralkritikerinnen so oder anders auf die historisch bedingte Relativität des Guten abzielen und Moral eher als politisches Phänomen begreifen, dem Guten entsprechend pessimistisch gegenüber stehen, besteht die andere Möglichkeit, mit dem moralischen Problem umzugehen, darin, das Per-se des Guten in seiner Form oder Struktur zu suchen. Moralphilosophen, die diesen Weg wählen, glauben an das Gute bzw. an die Möglichkeit, eine universell gültige Formulierung finden zu können, die jedem und jederzeit eine Einsichtigkeit, in die daraus abzuleitenden moralischen Konsequenzen, erlaubt. Das Gute ist hier absolut gut, wie Wahrheit absolut rein und absolut unerreichbar. Allerdings eben als Struktur denkbar und in seiner formalen Erscheinungsweise begründbar. Je weiter man sich von Aristoteles, der diese Tradition in der westlichen Philoso-

1

Vgl. Tugendhat, in: Celikates, R./Gosepath, S. (Hg.), 2009.

2

Vgl. Nietzsche, in: Celikates, R./Gosepath, S. (Hg.), 2009.

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phiegeschichte mitbegründet hat, in die heutige Zeit vorarbeitet, desto weniger wird die Form des Guten dabei an konkrete Werte und Normen gebunden. Ein großer Unterschied zwischen Moralkritikerinnen und Philosophinnen des Guten besteht in ihrer Haltung zu Werten und Normen. Während erstere diese vor allem als gefährlich, weil ebenso im Namen des Bösen einsetzbar, grundsätzlich kritisieren, wollen letztere auf ihre Potenz im Namen des Guten nicht verzichten. Das alltägliche Problem mit der Moral besteht wesentlich in problematischen Normen. Und das Problem mit den Normen besteht darin, dass sie keinen Wahrheitsanspruch haben. Darüber herrscht heute Einigkeit. Nur die einen entnehmen daraus, dass auch das Gute nicht begründbar ist, während die anderen schlussfolgern, dass es eine andere Form der Legitimierung braucht und geben muss. Während Moralkritiker also im Prinzip mit einer Dekonstruktion des Gu ten und in dessen Windschatten geführten Werten und Normen auskommen, steht die andere Fraktion vor der intellektuellen Herausforderung, eine beschreibbare Struktur des Guten zu liefern, die sich notwendigerweise von der Struktur des Bösen unterscheiden muss. Denn während erstere gut und böse als Dichotomie, als zwei strukturgleiche Seiten begreifen und herausarbeiten, wie allein die Unterscheidung zur Etablierung moralischer Verhältnisse genutzt wird, gestehen letztere dem Guten auf irgend eine Weise eine Vorrangstellung zu. Sie nehmen eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen dem Guten und dem Bösen an und binden das Gute auf je spezifische Weise (traditionell vor allem mit biologischen, psychologischen und sozialen Argumenten) an die menschliche Natur. In zwei nun folgenden Exkursen sehen wir uns diese beiden großen Linien – pro Gutes und Moralkritik – beispielhaft an. Mit Aristoteles’ Eudaimonia-Begriff, seiner Fassung von der Kunst des Lebens und mit Nietzsches Vorstellung von der unausweichlichen moralischen Verstrickung des Menschen. Wir landen daraufhin bei Niklas Luhmanns nüchterner Moral-Version und wenden uns am Ende des Kapitels noch einmal Sigmund Freud zu.

5.1 EXKURS I: DIE KUNST DES LEBENS... Aristoteles’ Antwort auf die Frage ›Was ist es, das der Mensch letztlich will?‹, hat bekanntlich den klingenden Namen: Eudaimonia! Interessant daran ist nicht nur, wie Aristoteles in diesem Begriff eine Verknüpfung von alltäglichen Lebensbeobachtungen und Hinweisen für die konkrete Lebenspraxis mit Aprioris herstellt, wie er Politik, Geist und die conditio humana darin zusammenführt, sondern auch, dass es keinen vergleichbaren Terminus in der neuzeitlichen Spra-

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che für dieses altgriechische Wort gibt. ›Glückseligkeit‹, ›Glück‹, ›das gute Leben‹ kommen als Übersetzungen in Frage und man sieht sogleich, woran diese scheitern: Jeder dieser drei Ausdrücke bezieht sich auf eine ganz andere Dimension, die in dem Begriff der Eudaimonia notwendig zusammen und aufeinander bezogen gedacht werden. Ein menschlicher Zustand, ein transpersonales Element, ein sozialer Handlungsaspekt, es geht bei der Eudaimonia um das Große und Ganze, es geht um einen intrinsischen Zusammenhang dieser Elemente. Das ist es, was mich an Moralphilosophen des Guten fasziniert: Sie erschaffen hochkomplexe Denkmodelle; und richten dabei auf alle ihre verwendeten Details so viel Augenmerk, weil die Überlebensfähigkeit des theoretischen Gebäudes, das sie konstruieren, von der Abstraktionspotenz jedes einzelnen Teils abhängt. Wenn sie nicht auf die rechte Weise ineinander greifen, ist die ganze Anstrengung umsonst, ist kein tradierungswürdiges Wissen entstanden. Das ist enorm; wenn man jedoch bedenkt, dass es diese Denker, zumal in ihrer Anfangszeit, mit nichts Geringerem aufnehmen müssen als mit Gott, wird dieser Anspruch notwendig. Es muss um Alles gehen, dies gibt der Gegenstand vor. Darüber nachzudenken, was unter anderem auch gut oder für manche gut ist, ist moralphilosophisch sinnlos: »Anders als die techné (praktisches Wissen, Herstellungswissen) hat es die Ethik nicht mit einem bestimmten Bereich zu tun, sondern mit dem Guten für den Menschen überhaupt, auf das alle anderen Ziele bezogen sind.« (Wolf in Aristoteles NE: 11) Da es um etwas ›überhaupt‹ gehen soll, ist eine sehr solide Basis, ein Ausgangspunkt, der als solcher nicht so leicht in Frage gestellt wird, von Nöten. Dazu eignet sich am besten etwas, das sich jederzeit beobachten lässt, das von daher einen universellen Geltungsanspruch tragen kann und das gleichzeitig ein Spezifikum des Menschen darstellt oder die conditio humana zumindest mit qualifiziert. Vernunft (Beispiel: Kant), bestimmte menschliche Affekte wie Schuld, Scham, Empörung und Groll (Beispiel: Tugendhat), ein Sinn fürs Moralische (Beispiel: Hume) und auch die Lebensform als soziales Wesen (Beispiel: Schopenhauer)3 sind solche universell-spezifisch-menschlichen Aspekte, die allein oder in Kombination als empirische Ausgangspunkte herangezogen werden sowie (kaum haben wir sie verlassen, taucht sie schon wieder auf) die Dimension der Lust/Unlust. Auch Aristoteles sichert seine Überlegungen zur Eudaimonia mit letzterer ab. Eudaimonia ist dabei natürlich nicht einfach Lust. Seine Beobachtung, dass jeder Mensch nach Lust strebt 4, bringt ihn zwar dazu, anzunehmen, dass diese

3

Siehe zu den genannten Beispielen: Celikates, R. & Gosepath, S. (Hg.), 2009.

4

»Ob wir aber wegen der Lust das Leben wählen oder wegen des Lebens die Lust, sei für jetzt dahingestellt. Denn diese beiden Dinge sind offenbar eng miteinander ver -

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ein Gut sein müsse und er widmet ihr immerhin zwei 5 der zehn sogenannten Bücher der Nikomachischen Ethik; eudaimonische Lustempfindung ist für ihn aber nicht die direkte sinnliche Lust, sondern eine reflexive Form davon. Er stellt folgende Überlegung an: Es gibt ein Lustempfinden, welches an die menschliche Natur6 geknüpft ist; es tritt ursprünglich und spontan auf; dieses biologisch angelegte Lustempfinden teilen sich Mensch und Tier allerdings; doch der Mensch allein ist in der Lage, seine Lust so zu transformieren, dass er damit in eine ethi sche Dimension eintritt. Auf diesen Punkt bringt Aristoteles darum auch die Kunst des Lebens: sich das Richtige wünschen, das Gute wollen. Um das bemessen, Übermaß und Mangel vermeiden und die lustvolle Mitte wählen zu können, muss man über zwei genuin menschliche Tugenden verfügen: Verstandes- und Charaktertugend. Gutheit kann ein Mensch nur erlangen, indem er diese dafür einsetzt, seine Wünsche auf das Gute auszurichten. Allerdings: auch wenn beide Tugenden im Menschen angelegt sind, er verfügt nicht selbstverständlich über sie. Der Mensch muss sie ausbilden und daran scheitern Menschen auf vielfältige Weise. Um Charaktertugend entwickeln zu können, ist man angewiesen auf eine gute Erziehung und weil die menschliche Natur biologisch durch Lust- und Unlustempfinden bestimmt ist, erzieht man den Menschen, laut Aristoteles, am besten über gezielte Einwirkung darauf: »[...] Daher erzieht man die jungen Menschen, indem man sie durch Lust und Unlust (lypé) lenkt. Auch für die Gutheit (areté) des Charakters (ethos) gilt es als besonders wich tig, dass man sich daran freut, woran man sich freuen soll, und das hasst, was man hassen soll. Denn diese Dinge durchziehen das ganze Leben und üben einen gewichtigen Einfluss auf die Gutheit und das glückliche (eudaimon) Leben aus; man wählt nämlich das Ange nehme und meidet das Unangenehme. Solche Dinge sollte man also am wenigsten übergehen, zumal sie Anlass zu großen Meinungsverschiedenheiten geben.« (Aristoteles, NE: 311)

Aber woran soll man sich freuen? Was soll man hassen? Vor allem aber, wie kann das universell verstanden werden? Und tatsächlich macht Aristoteles zunächst deutlich, dass die Antworten auf die Frage, was ist gut, plural und kontin bunden und lassen keine Trennung zu: Ohne Tätigkeit (energeia) gibt es keine Lust, und jede Tätigkeit erhält durch ihre Lust Vollkommenheit.« (Aristoteles, NE: 321) 5

Vgl. Aristoteles, NE, Siebtes Buch: Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Erste Abhandlung über die Lust und Zehntes Buch: Zweite Abhandlung über die Lust. Die zwei Formen des Glücks.

6

Vgl. Aristoteles, NE: 311.

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gent ausfallen7. Doch dann kommt sein Clou: ein Dreischritt rund um die Eudaimonia – als Lust, als das Gute, als das Ziel 8. Er arbeitet einen inneren teleologischen Bezug dieser drei Qualifizierungen heraus und sichert ihn mit einem pragmatischen Argument ab. Dieses ist Aristoteles’ unhintergehbares Postulat. Es besagt, dass der Mensch eine dispositionell bedingte Ausrichtung hat und zwar bedingt durch seine Gabe des Verstandes. »Nachdem Aristoteles zunächst in Orientierung an Beobachtungen und verbreiteten Meinungen das Glück als Antwort auf die Frage nach dem letzten Ziel, dem letztlich Gewoll ten, eingeführt hat, nimmt er noch in Buch I einen Neuansatz vor, der wissenschaftlicher Art ist, indem er eine Definition des Guten für den Menschen entwickelt. Dabei handelt es sich um das berühmte ergon-Argument [...] . Wo Dinge einer Art eine spezifische Funktion (ergon) haben, reden wir davon, dass sie diese Funktion besser oder schlechter erfüllen, und wo ein Ding die Funktion gut erfüllt, nennen wir es ein gutes Ding dieser Art, das die areté dieser Art besitzt. (Messer haben die Funktion zu schneiden, und ein Messer, das gut schneidet, ist ein gutes Messer, ist gut als Messer.)« (Wolf in Aristoteles, NE: 13)

Das lässt man sich für ein Ding sofort eingehen. Wenig ist materiell befriedigender als ein gut schneidendes, scharfes Messer. Aber was ist die eine Funktion des Menschen? Aristoteles’ Antwort: der Geist. Die Verstandesfähigkeit, die Gabe, reflexiv auf die Wirklichkeit reagieren zu können, diese spezifisch menschliche Disposition legt eine Funktion in die Leben der Menschen und die besteht darin, ihre intuitive Vernunft zu benutzen. Und nur derjenige Mensch, der die Reflexionsgabe, die areté des Menschen, für seine Lebensführung nutzt, kann gut sein; er verfügt über die Verstandestugend. Erst die Lust, die entsteht, wenn man auf 7

»Nun wird ›gut‹ gebraucht in den Kategorien des Was-es-ist (Substanz; ti estin), des Wie-es-beschaffen-ist (Qualität; poion), des In-Bezug-worauf-es-ist (Relation; pros ti). Das, was für sich besteht (kath’ hauto), die Substanz (ousia), ist aber naturgemäß früher als das, was in Bezug auf etwas ist [...]. Daher wird es keine gemeinsame Form (idea) über diesen Gütern geben. Ferner: Da ›gut‹ (agathon) in ebenso vielen Bedeutungen verwendet wird wie ›seiend‹ (on) [...], kann das Gute offensichtlich nicht ein bestimmtes Eins sein, das allen Fällen von Gutsein gemeinsam ist; denn dann würde ›gut‹ nicht in allen Kategorien ausge sagt, sondern nur in einer.« (Aristoteles, NE: 50)

8

»Was ist nun das Gut in jedem dieser Fälle? [...] Bei jeder Handlung und jedem Vor haben ist es das Ziel; denn dieses ist es, um dessentwillen die Menschen jeweils die übrigen Dinge tun.« »Das Glück erweist sich also als etwas, das abschließend und autarkt ist; es ist das Ziel all dessen, was wir tun.« (Aristoteles, NE: 53 und 55)

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diese menschliche Weise handelt, die also rückbezogen ist auf die Vernunft 9 und von einem guten Charakter getragen, d.h. die mit geistigen und charakterlich tugendhaften Lebensbewegungen einhergeht, ist Indiz für ein gutes Leben. Diese Lust führt zu Glückseligkeit, sie bringt Glück mit sich, sie zeigt an, dass jemand gut lebt, dass die Eudaimonia mit ihm ist, die wörtlich übersetzt ja so viel heißt, wie: ein guter Geist, ein wohliges halbgöttliches Wesen. Von daher kann das Gute in unterschiedlichen Zusammenhängen Verschiedenes sein, es ereignet sich dabei in jedem Fall aber auf eine Weise: als Ziel. Wir können nun mit Aristoteles messerscharf schließen: Wer das Gute will, beherrscht die Kunst des Lebens. Allerdings: »Hinzufügen müssen wir: ›in einem ganzen Leben‹. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht einen Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig (makarios) und glücklich (eudaimon).« (Aristoteles, NE: 57)

5.2 EXKURS I: ...BEHERRSCHT NIEMAND Allein mit Friedrich Nietzsche wird selbst das Streben nach dem Guten fragwürdig. Seine Kritik an jeder Art von geistigem System, welches nicht offen damit umgeht, dass ein Wille zur Macht, ein Weltgestaltungswille bei seiner Erschaffung mit am Werk ist und welches, von einem bewussten oder unbewussten metaphysischen Bedürfnis seines Autors angetrieben, den Topos des Guten oder der Wahrheit dazu benutzt, diesen herrschsüchtigen Trieb zu verschleiern, sucht ihresgleichen. Nietzsches Gedanken sind radikal, seine Sprache ist gewaltig bis gewalttätig. Er ist der Antichrist der Philosophie. Sein Werk ist Zerstörung, oder vornehmer ausgedrückt: Dekonstruktion. Er bezweifelt alles: das gute Leben, gemäß der eigenen Natur leben, in Wahrheit leben – Was soll das sein? Wer die eigenen Motive dazu nicht offenlegt, oder die Genealogie ihrer Postulate gar nicht kennt, sondern sich, womöglich stoisch 10, mit ruhigem Blute, auf etwas Absolutes beruft, ist ihm nicht nur höchstverdächtig, sondern macht sich seiner Mei9

»Was einem Lebewesen von Natur eigentümlich ist, das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies also das Leben in der Betätigung der intuitiven Vernunft, wenn der Mensch gerade diese am meisten ist. Dieses Leben ist daher auch das glücklichste.« (Aristoteles, NE: 331)

10 »Mit all eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypno tisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen vermögt [...]. [...] Aber dies ist eine alte Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders;

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nung nach zutiefst schuldig, ja, begeht das größte geistige Verbrechen überhaupt: die Knechtung der Freiheit des Geistes. Denn wofür Nietzsche mit all seiner Kraft antritt, ist, jeden etablierten Wertekanon und insbesondere den Willen zur Wahrheit als Willen zur Macht zu enttarnen; was er uns auffordert zu sehen, ist, dass der Mensch in die Irre geleitet wird mit der Forderung nach Wahrhaftigkeit. Er versucht uns klar zu machen, was unbedingt jenseits von gut und böse angesiedelt und betrachtet werden muss: die Wahrheit selbst. Mit dieser Ansicht katapultiert Nietzsche den menschlichen Geist, alle großen geistigen Werke, aber auch alle kleinen Gedanken, aus einer vorgegebenen Trajektorie – zumindest wenn sie als natürliche oder logische Ausrichtung verstanden wird. Notwendig und legitim ist für ihn einzig die Herleitung der geschichtlichen Entwicklung einer theoretischen Auseinandersetzung. Nietzsche zerstört jede sentimentale Hoffnung auf Hoffnung auf das Gute. Vielleicht könnte man so sagen: Er will nicht, dass wir uns ausrichten, er will, dass wir uns aufrichten. Und dazu gehören für ihn vor allem Widerständigkeit und Schaffenskraft, aber auch Leidens- und Schmerzfähigkeit. Denn die ermöglichen gemeinsam das einzig erstrebenswerte: den freien Geist11. Den freien Geist darf man dabei durchaus in allen seinen Bedeutungen verstehen. Er ist gewissermaßen das wichtigste nicht-existierende in Nietzsches Nihilismus: vornehm12, fähig alle möglichen Erlebnisse zu verdauen13,

Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistige Wille zur Macht, zur ›Schaffung der Welt‹, zur causa prima.« (Nietzsche 1886/2010: 22) 11 »So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die ›freien Geister‹ erfunden [...]. [...] Ein ›freier Geist‹ –dies kühle Wort thut in jedem Zustande wohl, es wärmt beinahe. [...] In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an – und wie viele Dinge! – welche ihn nicht mehr bekümmern... [...] Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. [...] Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? [...] Er blickt dankbar zurück, – dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht [...] immer ›zu Hause‹, immer ›bei sich‹ geblieben ist! er war ausser sich: es ist kein Zweifel! Jetzt erst sieht er sich selbst –, und welche Überraschungen findet er dabei!« (Nietzsche,1978-1986/2005: 15 und 18 f.) 12 »Die vornehmere Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, – es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als ›die ganze ren Bestien‹ –).« (Nietzsche 1886/2005: 208) 13 »Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten

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asketisch14 und Antagonist zum asketischen Ideal zugleich 15, er weiß, was er kann und er weiß, was er darf16, er ist stark, böse, tief und schön17. So weit, so nachvollziehbar. Ich möchte an dieser Stelle eine mehrseitige Nietzsche-Textcollage aus seinen drei Schriften ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Zur Genealogie der Moral‹ und ›Menschliches Allzumenschliches‹ anbieten. Einem wie Nietzsche muss man das Mikrophon einfach selbst in die Hand drücken, den Tonabnehmer direkt in seine Worte heben. Sein Trieb zum Sprechen und seine ganz persönliche Wendung bei eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er einen harten Bissen zu verschlucken hat.« (Nietzsche 1887/2010: 377) 14 »Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist!« (Nietzsche 1887/2010: 407) 15 »Das asketische Ideal im Dienste einer Gefühls-Ausschweifung: [...] Die menschliche Seele einmal aus allen ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste, Gluthen und Entzückungen derartig unterzutauchen, dass sie von allem Kleinen und Kleinlichen der Unlust, der Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitzschlag loskommt: welche Wege führen zu diesem Ziele? Und welche von ihnen am sichersten? ... Im Grunde haben alle grossen Affekte ein Vermögen dazu, vorausgesetzt, dass sie sich plötzlich entladen, Zorn, Furcht, Wollust, Rache, Hoffnung, Triumph, Verzweiflung, Grausamkeit; und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die ganze Meute im Menschen in seinen Dienst genommen [...].« »Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit und den Geschmack verdorben [...].« »Alles, was sich heute als guter Mensch’ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgendeiner Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese ›guten Menschen‹, – sie sind allesamt jetzt in Grund und Boden vermoralisiert und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit ›über den Menschen‹ aus! ... Oder, greiflicher gefragt: wer von ihnen ertrüge eine wahre Biografie!« (Nietzsche 1887/2010: 388, 395 und 386) 16 Vgl. Nietzsche, 1878-1886/2005: 21. 17 »So sagte er (Dionysos, der Versucher-Gott, der Philosoph) einmal: ›unter Umständen liebe ich den Menschen – und er spielte dabei auf Ariadne an, die zugegen war –: der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht sei nes Gleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist.‹ – ›Stärker, böser, tiefer?‹ fragte ich erschreckt. ›Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer; auch schöner‹ [...].« (Nietzsche 1886/2010: 239)

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der Einnahme der leeren Subjektstelle im philosophischen Diskurs sind wesentliche Teile seiner geistigen Bewegung. »Seien wir nicht undankbar gegen sie (insbesondere gegen Plato und Philosophen in seiner Tradition bzw. gegen sämtliche Philosophen, die eine dogmatische Haltung einnehmen; ..), so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Pla tos Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich [...].« (Nietzsche 1886/2010: 12) »Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammelten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen (sind) und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, – als Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf.« (Nietzsche 1878-1886/2005: 37) »[Der] Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s ›Volk‹ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden – denn Christenthum ist Platonismus für’s ›Volk‹ – hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaf fen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen.« (Nietzsche 1886/2010: 12) »Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchen Wagnisse verführen wird, jene be rühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, – und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn wir endlich einmal misstrau isch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? [...] Was in uns will eigent lich ›zur Wahrheit‹? – In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit? – Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin [...]. Und sollte man’s glauben, dass es uns schließlich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt, – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in’s Auge gefasst, gewagt?« (Ebd. 15) »Die Falschheit des Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebe nerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschen Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fik-

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tionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, – dass ein Verzichten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Le ben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.« (Ebd. 18) »Ich glaube demgemäss nicht, dass ein ›Trieb zur Erkenntniss‹ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntnis (und der Verkennt nis!) nur wie ein Werkzeug bedient hat. [...] Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu philosophieren.« (Ebd. 20) »›Gemäß der Natur‹ wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welch Betrügerei der Worte. [...] Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-Sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ ›gemäss der Natur leben‹ bedeute im Grunde soviel als ›gemäss dem Leben leben‹ – wie könntet ihr’s denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst?« (Ebd. 21) »Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhält niss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. [...] Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. [...] Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irr thum alles Organischen [...]. [...] Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist aufgrun des ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein ›Ding‹). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das viel fach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. [...] Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dort hergekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. [...] Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, son dern die Welt als Vorstellung (und Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der lo-

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gischen Weltverneinung: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt. [...] Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, dass das Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. [...] Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man be wusst in der Unwahrheit leben könne? oder, wenn man diess müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntnis kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen?« (Nietzsche 1878-1886/2005: 39 ff., 50 f. und 53 f.) »Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann [...].« (Nietzsche 1886/2010: 52) »Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ›wahr‹ und ›falsch‹ giebt? [...] Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht –, nicht eine Fiktion sein?« (Ebd. 53) »Gesetzt, dass nichts Anderes als real ›gegeben‹ ist als unsere Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ›Realität‹ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unserer Triebe – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zueinander –: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegebene nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder ›mate rielle‹) Welt zu verstehen? [...] als vom gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, – als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestal tet [...], als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulierung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind, – als eine Vorform des Lebens? – Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen: es ist, vom Gewissen der Methode aus, geboten. [...] Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das – und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Causalität selbst –, so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. ›Wille‹ kann natürlich nur auf ›Wille‹ wirken – und nicht auf ›Stoffe‹ [...]: man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ›Wirkungen‹ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist. – Gesetzt end -

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lich, dass es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist – gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zu rückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist ein Problem – fände, so hätte man damit das Recht verschafft, alle wirkenden Kräfte eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht.« (Ebd. 54) »An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den Ur sprung des ›schlechten Gewissens‹ zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen: sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wasserthieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es diesen der Wildnis, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepassten Halbthieren, – mit Einem Male waren alle ihre Instinkte entwerthet und ›aus gehängt‹. Sie sollten nunmehr auf den Füssen gehn und ›sich selber tragen‹, wo sie bisher vom Wasser getragen wurden: eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulierenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combinieren von Ursachen und Wirkungen reduziert, diese Unglücklichen, auf ihr ›Bewusstsein‹, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ! Ich glaube, dass niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an dem Menschen heran, was man später seine ›Seele‹ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Masse aus einanderund aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendet: das ist der Ur sprung des ›schlechten Gewissens.‹ [...] Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Lei-

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den des Menschen am Menschen, an sich [...]. [...] Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte.« (Nietzsche 1987/2010: 319)

Hier ist ein Wille am Werk. Und es liegt Nietzsche fern, das zu verbergen. Er will seine Bedenken in Bezug auf das, was der Mensch als Wertvolles hervorgebracht hat, zum Ausdruck bringen; insbesondere seine Verachtung für jene Art von Wahrheitsmissbrauch und Moralgebrauch, die den Menschen klein hält, ihm nicht zutraut, mit dem Leben fertig zu werden. Diese Bedenklichkeit nennt er selbst seine Art von Apriori 18. Und aus ihr folgt seine Problemstellung, die darin besteht, zu fragen, wozu der Mensch lernt, in gut und böse zu unterscheiden. Doch während andere versuchen, dem eigenen Werk so wenig Angriffsfläche wie möglich zu verschaffen, indem sie für ihre Postulate argumentieren, ihre Hypothesen herleiten und begründen und die Wirklichkeit als Garant, ja als Beweis für ihre Gedanken heranzuziehen suchen, nennt Nietzsche seinen instinktiven Widerstand, widerständige Affekte, die er schon als Kind gespürt hat, als Grundstein für sein Schreiben. Sein ›Nein, ich kann nicht gehorchen!‹ ist ihm innerer Anlass und Anlass genug. Er will streiten19, er will schöpfen. Und macht es zur Methode. Die Paradoxie der conditio humana lässt sich mit Nietzsche auf diese pointierte Weise darstellen: Da ist der Wunsch, einfach (Tier) sein zu können, die Wirklichkeit des Trieblebens nicht verderben zu müssen, als Mitglied einer Meute nicht besonders zu sein, nicht gesondert, nicht allein; gemeinsam genau deshalb gut im Sinne der Lust und des Nutzens leben zu können, weil das Tier Mensch keine Rücksicht auf gut und böse nehmen kann und von daher auch 18 »Bei einer mir eigenen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die Moral, auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist –, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so un aufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht hätte, sie ›mein A priori‹ zu nennen, – musste meine Neu gierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, welchen Ur sprung eigentlich unser Gut und Böse habe.« (Nietzsche 1887/2010: 249) 19 »Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das Missverstanden-werden. Am letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; am Ersteren aber sein herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht: ›ach, warum wollt ihr es auch so schwer haben wie ich?‹.« (Nietzsche 1886/2010: 234) Siehe auch den Untertitel ›Zur Genealogie der Moral‹: Eine Streitschrift.

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nicht muss – und gleichzeitig selbst das tiefe, unerhörte Rätsel zu sein, der einsame Wolf, der einsam ist, weil er eine menschliche Seele hat; dem als einzige Zu flucht die Freiheit seines Geistes bleibt; dessen Phantasie ihn in die gut-böse-Dimension versetzt, er sich dabei aber im besten Falle kreativ zu der, für ihn nicht aussagbaren, Wahrheit verhalten kann. Nietzsche will keinen Frieden, schon gar nicht um des Friedens Willen, er will wollen, befehlen20, nur der eigenen Gesetzgebung verpflichtet sein, erhaben und böse. Entscheidend dabei ist seine Art des Bösen: es ist trotz konzentriertem Willen zur Macht nicht die eines Diktators, sondern im Gegenteil, sie wirkt für die Freiheit des Einzelwesens, für eine Herrschaft im eigenen Haus: das Böse ist insofern böse, als er allen Institutionen misstraut und ihnen gegenüber den Kampf als notwendiges Übel einzusetzen bereit ist. In einer Komplizenschaft unter Seinesgleichen. Ja, wenn möglich; wie Nietzsche selbst sie bekannterweise mit Richard und Cosima Wagner, Paul Rée und Lou-Andreas-Salomé gesucht hat. Genauso unbedingt erstrebenswert auch mir die Freiheit des Geistes erscheint, so stellt sich meinem post-aristotelischen, post-nietzscheanischen, pluralen und kontingenten Gemüt, wie es typisch für meine Zeit ist, bloß die Frage: Wo ist am Ende des Tages der Unterschied, ob man für die Freiheit des Geistes oder die Eudaimonia schreibt? Was ist daran epochal anders 21? Ja, natürlich, der Stil, die Ästhetiken sind vollkommen verschieden, aber hätten sich mit Aristoteles und Nietzsche nicht zwei freie Geister, zwei Eudaimonen getroffen? Geht es vielleicht um einen erkenntnistheoretischen Unterschied, um die Frage, wie man erkennt, ob konstruierend oder dekonstruierend? Liegt die Differenz vor allem darin, ob man Elemente zu einem System addiert, oder vom Irrtum subtrahiert bis ein annehmbarer Sinn übrigbleibt? »›Die Erkenntnis um ihrer selbst willen‹ – 20 »Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ›so soll es sein!‹ [...] Ihr ›Erkennen‹ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht. – Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?... Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. [...] Ihre Aufgabe (der Philosophen), ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Aufgabe (haben sie) darin gefunden, das böse Gewissen ih rer Zeit zu sein.« (Nietzsche 1886/2010: 145) 21 Siehe Untertitel von ›Jenseits von Gut und Böse‹: Vorspiel einer Philosophie der Zu kunft.

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das ist der letzte Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie.« (Nietzsche 1986/2010: 85) Mit feinem Geschick wird uns einer herausführen, der, wie mir scheinen will, in jeder Hinsicht ein Gegen-Philosoph zu Nietzsche ist. Dabei wird Niklas Luhmann spannenderweise von genau der gleichen Frage wie Nietzsche geleitet: Welche Funktion hat Moral in unserer Gesellschaft?

5.3 WAS JETZT? MORAL ALS KONTINGENZ VERARBEITENDES, ABER AUCH STREIT ERZEUGENDES FUNKTIONSSYSTEM Der Moralbegriff von Luhmann bietet tatsächlich einen völlig neuen Ausgangspunkt und spannt darüber eine ganz eigene Betrachtungsmöglichkeit auf. Er problematisiert zwar ebenfalls die Funktion von Moral in unserer Gesellschaft und in gewisser Hinsicht lassen sich sogar Luhmanns und Nietzsches Antworten vergleichen, nämlich wenn beide zu dem Schluss kommen, dass sich Moral jenseits des Topos des Guten und Bösen entwickelt, mit dem Ziel, ordnend in dem ge sellschaftlichen Gefüge zu wirken. Niklas Luhmanns Analyse des Moralphänomens ist dabei genuin soziologisch im Sinne seiner Systemtheorie. Bei seinem Schaffensprozess findet er sich in einer vergleichbaren Lage wie Sigmund Freud wieder, denn auch Luhmanns akribische Analyse der menschlichen Lebenssituation führt dazu, dass er ein neues diskursives Feld eröffnet, dass er mit seiner Problemstellung die Disziplin Soziologie systemtheoretisch neu auflegt. Auch sein Fragen kennt zunächst keine Grenzen, um dann mit der Einführung einer basalen Annahme von sozialen Systemen als Kommunikationssystemen (siehe Kapitel 2) sein nicht hintergehbares Postulat aufzustellen, darüber Selbstbegrenzungen bezüglich des Gültigkeitsbereichs seiner Aussagen vorzunehmen und damit gleichzeitig einen Universalitätsanspruch zu stellen. Wenn Freud fragt: Was ist das psychische Leben?, fragt Luhmann: Was ist das soziale Leben? »Das Problem kommt auf in dem Maße, als es schwierig wird, sich vorzustellen, wie so ziale Ordnung überhaupt möglich ist. Parsons beruft sich gern auf die Art, wie Hobbes mit Hilfe von Annahmen über den Naturzustand das Problem der sozialen Ordnung stellte; aber das war auf Politik, nicht auf Sozialität gemünzt. Eher findet man ein Suchen nach Grundlagen der Sozialität in der Moraltheorie – so wenn Adam Smith die Fundierung der Moralität auf Selbstliebe kritisiert mit dem Argument: Sympathie und Altruismus bedeu ten nicht, sich selbst an die Stelle des anderen zu setzen, sondern sich in den anderen als

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anderen einzufühlen. Damit sind alle Freundschaftstheorien (und abhängig davon: alle Gesellschaftstheorien) unterlaufen, die irgendeine Art von natürlicher Gleichheit der Menschen voraussetzen. Stattdessen wird die Andersheit des anderen zu dem Befund, der Sozialität – nicht nur notwendig oder förderlich, sondern überhaupt erst möglich macht.« (Luhmann 2008 a: 9)

Während uns die primäre psychische Ordnung zunächst nichts über gut und böse zu sagen hat, sieht Luhmann die soziale Ordnung als eine, die wesenhaft in einem Bezug zu Moral entsteht. Macht es Sinn, zu denken: Trieb verhält sich zu Triebrepräsentanz auf der psychischen Ebene wie Sozialität zu Moral auf der sozialen? Schauen wir. Zunächst, Rekapitulation: Die Grundannahme der Systemtheorie ist, dass »[...] Systeme sich durch Prozesse der Autokatalyse oder Selbstselektion im Hinblick auf eine Differenz zur Umwelt konstituieren. Dadurch ist die Richtung der Spezifikation vorgezeichnet. Sie erfordert den Einbau besonderer Annahmen über Prozesse der Grenzziehung und des Strukturaufbaues. Daran schließt sich die Typenbildung an. Durch Konstitution von nur drei Typen sozialer Syste me: Interaktion, Organisation und Gesellschaft, und durch Annahme von nur zwei Relati vierungen, nämlich Evolution der Typendifferenz und jeweils systemspezifische Umweltperspektiven, entsteht ein bereits hochkomplexes Gesamtbild der sozialen Wirklichkeit, das vorstellungsmäßig nicht mehr kontrolliert werden kann.« (Ebd. 226)

Inwiefern ist diese Luhmannʼsche Ur-Definition des Sozialen auf Moral bezogen? Das will ich mir ansehen. Wir beginnen mit der hartnäckigen, selbstbezogenen Art der Autokatalyse sozialer Systeme. Um diesen Prozess gesellschaftlicher Organisation gut verstehen zu können, ruft man sich am besten zunächst noch einmal ins Gedächtnis, dass Luhmanns Verständnis des sozialen Geschehens nicht auf den Menschen als Teil der Gesellschaft aufbaut, sondern auf Kommunikation. Spezifische Problemlagen oder Themen führen in der Weltgesellschaft zu Spezifikationen der Kommunikation. Über nichts anderes als über spezifizierte, themenspezifische Kommunikation kommt es zu der funktionellen Differenzierung zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen (Funktions-)Systemen. Alle kommunizierten Problemlagen zusammen stecken den Gesamtrahmen der Gesellschaft ab, deren offizielle Kommunikation innerhalb konkreter Organisationen und Interaktionen stattfindet. Luhmanns Vorstellung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit als einer, in der Kommunikation (und nicht der Mensch) kommuniziert, ist angeregt durch das Autopoiesis-Modell der chilenischen Neurobiologen und Philosophen Humberto Maturana und Francisco Varela, die damit in einen Begriff fassten, dass

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sich Leben (biologisches, psychisches und soziales) von selbst ereignet. 22 Im Lichte dieser selbst-Wirklichkeit-selbst-schaffenden Ereignissen, d.h. im Lichte des Lebens, ist die Zuschreibung einer Handlung zu einer Person in der selben Weise als Effekt zu begreifen wie die Entstehung eines Subjekts im Laufe einer biografisch spezifischen diskursiven Praxis. Nachdem bereits Psycho- und Diskursanalyse das Subjekt entautonomisiert haben, findet nun mit der Systemtheorie die dritte Unterwerfung satt: nicht Herr seiner Wünsche, nicht Urheberin von Aussagen, kommt nun noch hinzu, dass auch die soziale Kommunikation, d.h. Errichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, nicht vom Subjekt gesteuert wird. Es wird klar, warum von Subjekten keine starken Setzungen zu erwarten sind. Selbstselektion, Autokatalyse, Autopoiesis sind – vergleichbar dem Triebbegriff und dem der diskursiven Praxis – stattdessen die Schlüsselbegriffe bzw. -prozesse, in denen die Systemtheorie die Potenz des Lebens verortet. Die Differenz eines Systems zur Umwelt stellt dabei die systemtheoretische Ur-Relation dar; diese, aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive dezentrale, Unterscheidungsmöglichkeit löst die Vorstellung einer übergeordneten Steuerung eines gesellschaftlichen Ganzen ab. Die Selbstreferentialität autokatalytischer Prozesse, durch welche die Systeme ihre spezifische Differenz zur Umwelt etablieren, wird dabei so umfassend von Luhmann gedacht, dass ›Umwelt‹ selbst immer nur aus der Systeminnenperspektive zu verstehen ist, d.h. nie in einem absoluten Sinne als eine tatsächlich, begrenzt vorhandene, an sich gleiche Umwelt, sondern perspektivisch, als das jeweilige Außen eines Systems. Ein reibungsloses Ablaufen selbstselektiver sozialer Prozesse korreliert mit rigiden Grenzen gesellschaftlicher Funktionssysteme, die sich ziehen, indem ausschließlich von vorneherein anschlussfähige Kommunikationsprozesse für das System relevant sind. Alle anderen kommunikativen Operationen können nicht verarbeitet, d.h. müssen vom System zwangsweise ignoriert werden. Dieses Nichtwissen aus operationalen Gründen reduziert die Komplexität gesellschaftlicher Kommunikation enorm und ist von daher ausreichend, um zu erklären, warum gesellschaftliche Vorgänge auch ohne hierarchische Regulierung im Wesentlichen geordnet und nicht chaotisch ablaufen. Jetzt rufen wir uns noch in Erinnerung, dass die Anschlussfähigkeit an die jeweilige Thematik eines Funktionssystems mit Hilfe binärer Codes gewährleistet wird. Nur jene kommunikativen Operationen, die innerhalb der, für ein System relevanten, Zweiwertigkeit verarbeitet werden 22 Lebende unterscheiden sich von nicht-lebenden Systemen dadurch, »[...] dass das Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind un trennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation« (Maturana/Varela 1987: 56).

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können, sind Teil ihrer Selbststeuerung und -erhaltung. Diese Sichtweise auf die soziale Wirklichkeit bringt die Überlegung mit sich, dass sich gesellschaftliche Funktionssysteme nicht auf direktem Weg gegenseitig beeinflussen können. Wenn ein System kommunikativ damit zu tun hat, ob etwas legal oder illegal ist, mag es aus der menschlichen Perspektive von höchster Relevanz sein, ob Aussagen dazu wahr oder unwahr sind, aus einer systemtheoretischen Gesellschaftsperspektive kann ein Funktionssystem mit mehreren unterschiedlichen binären Codes nicht synthetisch umgehen. Genau an dieser rigid-diffusen Stelle, nämlich an der kommunikativen Begrenzt- und Unverbundenheit der gesellschaftlichen Funktionssysteme, kommt das System Moral ins Spiel, mit seinem schillernden fluiden Kommunikationscode: gut und böse. Moralisches Geschehen beschreibt Niklas Luhmann als Kommunikationsprozess eines ungewöhnlichen und einzigartigen, weil quasi unsichtbaren, d.h. ohne konkrete Organisationen operierenden, gesellschaftlichen Systems, dessen Autokatalyse über die Verteilung von Achtung und Missachtung funktioniert. Wenn für Funktionssysteme gerade ihre Grenzen ein wesentlicher Faktor für ihre Kommunikationsmöglichkeit sind, d.h. die Spezifität der Problemlage, für die der jeweilige Code gilt, so ist genau diese Grenzziehung bei Moral nicht gegeben. Völlig grenzüberschreitend kann in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen jederzeit, zusätzlich zum jeweiligen Systemcode, auch darüber kommuniziert werden, was gut und böse ist. Die Totalisierung als Operationslogik bleibt dabei aber auch für den Moralcode charakteristisch: »Von den universalistischen binären Codes der Funktionssysteme unterscheidet sich der Moralcode dadurch, dass er nicht auf ein spezifisches System verweise, das allein unter diesem Code operiert und die eigenen Operationen daran erkennt. Die für die moderne Gesellschaft typische Kombination von Universalismus und Spezifikation versagt. [...] Die Moral dagegen vertritt einen Universalismus ohne Spezifikation. [...] So ist also zu fragen, wie die Moral als Universalismus ohne Spezifikation zurechtkommt.« (Ebd. 192) »Auch die Moral hat [...] eine spezifische Funktion im sozialen System der Gesellschaft, aber sie lässt sich gleichwohl nicht als Teilsystem der Gesellschaft ausdifferenzieren. Ihre Funktion liegt dafür zu tief, sie ist zu sehr mit Prozessen der Bildung sozialer Systeme verquickt, als dass sie in dem Sozialsystem zur besonderen Pflege übertragen werden könnte. [...] Die Moral lässt sich [...] nicht aus der Gesellschaft herausziehen, auch nicht in der Form einer Schwerpunkt-Organisation nach dem Muster von Staat oder Kirche oder Produktionsbetrieb, auf die die gesamte Gesellschaft sich direkt oder indirekt bezieht, wenn immer ein Bedarf für moralische Kommunikation auftritt.« (Ebd. 154)

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Mich fasziniert an moralischer Kommunikation ihr Nicht-Aufgehen. Ihr paradoxes Element lässt sich systemtheoretisch gut beschreiben: Moralen operieren mit einem universalistischen Anspruch. Dies ist nicht ungewöhnlich; im Gegenteil, damit operieren alle gesellschaftlichen Funktionssysteme, indem sie jede Art von nicht-anschlussfähiger Kommunikation schlicht als nicht relevant behandeln und somit auf ganz selbstreferentiell-natürliche Weise für ›alle‹ Fälle eine kommunikative Antwort parat haben. Doch anders als die ›gated communications‹ 23 der anderen Funktionssysteme, die sich den Feind vom Leib halten, indem sie so tun als gäbe es ihn nicht – nicht in ihren Reihen und insofern gar nicht, als das Außerhalb, die Umwelt, ja wiederum eine ist, die es als solche nicht gibt –, tritt die kommunikative Moralpraxis von vorneherein so auf, dass klar wird: sie rechnet mit Gegnern! Moral hat kämpferische Züge. Sie entflammt sich am Konflikt und begründet ihren Standpunkt mit Hilfe der Ablehnung des anderen Standpunktes. Zusammen bringt das eine paradoxe Spannung. Universalitätsanspruch und Ignoranz (= kommunikative Spezifikation), das funktioniert gesellschaftlich prima. Partikularismus und Exklusionsforderung ebenso. Aber Universalitätsanspruch ohne ausgewiesene Zuständigkeit, was salopp gesprochen so viel bedeutet wie, ›immer für alles alleine zuständig‹; das klingt erstmal unsinnig und legt den Verdacht nahe, dass es damit bald einmal schief gehen wird. Wenn man jetzt noch Luhmanns Antwort auf die Frage, wie Moral ohne Spezifikation zurechtkommt, hinzunimmt, wird es nicht besser. Er analysiert als grenzziehenden Konterpart zum Universalismus im Moralsystem statt kommunikativer Spezifikation: partikuläre, persönliche Interessen. Das würde obige Formulierung noch ergänzen zu: Ego ist immer für alles alleine zuständig. Und so macht die Mischung aus üblichem Universalitätsanspruch und außergewöhnlicher, weil kontingenter Exklusionsforderung, die je nach Ego alles und jeden treffen kann, Moral de facto beobachtbar anfällig für Enthusiasmus und Fanatismus. Denken wir an dieser Stelle noch einmal an das von Sigmund Freud beschriebene Zusammenspiel von primär- und sekundärprozesshaften Vorgängen bei der Lust-/Unlustbewältigung; speziell an die Variabilität der Objektwahl und an die davon ausgehende rückwirkende Subjektivierung, d.h. Ich-Bildung im Zuge der Wunscherfüllung oder -nichterfüllung. Wird nicht eine vergleichbare Angelegenheit auf gesellschaftlicher Ebene mit Moral verhandelt? In der psychisch wie sozial ebenbürtig entscheidenden Frage: Komme ich als Objekt der Begierde und Adressat für den Anderen in Frage oder nicht? Achtung oder Missachtung? Moral und Lust teilen sich nicht nur eine enthusiastische Qualität, sie treffen sich auch in der Sortierung bzw. Aussortierung von Objekten, die persönlich-partiku23 Ein Ausdruck, den ich in Analogie zu den ›gated communities‹ gebrauche.

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lär und identitär-idiosynkratisch einer gewissen zwingenden Festlegung unterliegt. Das Proklamieren und Einfordern einer bestimmten Moral kann aus dieser Perspektive, genau wie die Objektwahl, als subjektivierender Vorgang begriffen werden. Hören wir uns Luhmanns Formulierungen an, warum der Mensch dies aus systemtheoretischer Sicht nötig hat: »Für jede Art realer Systeme in der Welt, und seien es physische oder biologische Einhei ten, Steine, Pflanzen oder Tiere, ist die Welt übermäßig komplex: Sie enthält mehr Möglichkeiten als die, auf die das System sich erhaltend reagieren kann. Ein System stellt sich auf eine selektiv konstituierte ›Umwelt‹ ein und zerbricht an etwaigen Diskrepanzen zwischen Umwelt und Welt. Dem Menschen allein wird jedoch die Komplexität der Welt selbst und damit auch die Selektivität seiner Umwelt bewusst und dadurch Bezugsproblem seiner Selbsterhaltung. Er kann Welt, kann bloße Möglichkeiten, kann sein Nichtwissen thematisch erfassen und sich selbst erkennen als jemanden, der entscheiden muss. Beides, Weltentwurf und eigene Identität, wird ihm zum Bestandteil seiner eigenen Systemstruktur und zur Verhaltensgrundlage dadurch, dass er andere Menschen erlebt, die jeweils aktuell erleben, was für ihn nur Möglichkeit ist, ihm also Welt vermitteln, und die zugleich ihn als Objekt identifizieren, so dass er ihre Sichtweise übernehmen und sich selbst identifizieren kann.« (Luhmann 2000: 5)

Wenn die heutige Weltgesellschaft grundsätzlich Anlass zu Verwirrung gibt, weil das soziale System Interaktion nicht in einer Engführung mit den sozialen Systemen Organisation und Gesellschaft läuft, muss man erwarten, dass dies Konsequenzen für die Anwendung des Moral-Codes Achtung/Missachtung hat. Wenn das Ich in einem komplexen Netz von Interaktionen steht, das den jeweiligen Anderen eher nur in einem geringen Teil zugänglich ist, dann brauchen Ego und Alter eine Selbsterzählung (Identität), die sie mitnehmen und zum Achtungsgewinn einsetzen können. Beständig müssen die Interaktionspartner dabei auf je verschiedene Abwesende, die einmal für sie selbst, einmal für den Anderen nicht zugänglich sind, Rücksicht nehmen. Solange relativ stabil und sicher festzustellen ist, wie das Gegenüber sozial einzuschätzen ist, wenn Achtung und Missachtung mit von der Gesellschaft geteilten Normen korrelieren, »[...] braucht Ego, der Alter beurteilt, nicht als jemand gedacht werden, der sein eigenes Urteils- und Kommunikationsverhalten moralisch zu verantworten hat. Ihm wird keine ei gene selbstreferentielle Struktur, keine Binnenkontingenz, keine ›Subjektivität‹ zugebilligt. Sobald es jedoch, aus welchen historischen Gründen auch immer, zum Einbau einer eigenständigen Kontingenz des Urteiles kommt, wird der Konstellationsspielraum beträchtlich erweitert, und es wird, so vermuten wir, eine Entwicklung ausgelöst, die nicht mehr zu

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stoppen ist. Das moralische Urteilen kann dann selbst moralisch beurteilt werden, es wird zu einer Aktivität innerhalb des moralischen Geschehens.« (Ebd. 148)

Diese komplexe Struktur der Moral wird durch die vereinfachte moralische Alltagskommunikation verschleiert. Tatsächlich wissen wir, dass ein anderer Mensch etwas anderes wollen kann als wir selbst. Nicht nur das, wir wissen auch, dass nicht nur sein Wille, sondern auch sein Verhalten kontingent sind. Darüber hinaus kann jeder Mensch außerdem noch anders handeln als er will. Wollen und Handeln finden je unter der Bedingung der Kontingenz statt; aber das Verhältnis zwischen Wille und Verhalten ist dabei nicht gänzlich beliebig. Die Schlussfolgerung, die Luhmann aus dieser Beobachtung für das Wesen der Moral zieht, ist entscheidend: er analysiert die Binnenrelation zwischen Wille und Handeln als das zentrale Moment der Kontingenzverarbeitung in Bezug auf die prinzipielle Unkontrollierbarkeit des Anderen. Eine zwischenmenschliche Funktion, die wir Moral nennen. Diese Binnenrelation wird dann besonders wichtig, wenn kein Wertekonsens gegeben ist, denn sie liefert eine Angriffsfläche für die Einschätzung des Gegenübers. Wenn ich weiß, was gilt, was gut und böse ist, kann ich den anderen einfach normativ bewerten. Das tun zu können, sichert nicht nur potenziell mein Überleben, sondern bietet auch eine soziale Orientierung. Beides ist lebensnotwendig. Wenn ich nicht einfach wissen kann, was gut und böse ist, wenn Normen nicht mehr gesamtgesellschaftlich gelten, steht man vor einem doppelten Problem: persönliche Gefahr und soziale Desorientierung droht gleichermaßen. Keine angenehme Lebenssituation. Vielmehr eine, die chronisch Spannung erzeugt. Unlust entsteht. Eine Möglichkeit zur Spannungsabfuhr wird unumgänglich. Was jetzt passiert, ist wesenhaft Mensch: Verdrängung und Reduktion der Komplexität auf ein Maß, welches das begrenzte Wahrnehmungsbewusstsein bewältigen kann. Auf der personalen Ebene kann es zu der vereinfachenden Annahme kommen, dass wer nicht für das Gleiche ist, für etwas anderes sein muss und das ist für Ego potenziell gefährlich; wer so gegen Ego ist, wird deshalb bei Bedarf jederzeit entweder als nicht normal oder als schuldig beurteilt; denn in diesen beiden Fällen muss er normativ behandelt werden (psychiatrisch oder gesetzlich); somit ist wieder eine Ordnung hergestellt. Auch auf sozialer Ebene stehen Vereinfachungen bereit, die Orientierung anbieten. Luhmann beobachtet eine gesellschaftliche Entwicklung kommunikativen Leerlaufs in Bezug auf Moral, die damit begann, dass das Aufgreifen moralischer Themen allein dafür ausreichte, um als gut eingeschätzt zu werden. Gezielt wurde so eine Zeit lang versucht, Achtungsreaktionen hervorzurufen; bis das Pendel umschlug und moralisches Kommunizieren heute tendenziell der Missachtung ausgesetzt ist. Auf die-

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sem Weg ist gesellschaftlich ein Punkt moralischen Kommunizierens erreicht worden, den man getrost als jenseits von gut und böse bezeichnen kann. Wenn je gut und böse sein kann, was als gut oder böse benannt wird sowie das Benennen selbst auch moralisch unterschiedlich eingeschätzt wird, befindet man sich mitten drin, in einer pluralen und kontingenten gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der dann nicht einmal mehr klar ist, ob es das Gute überhaupt gibt. Aus dieser Lage zieht Luhmann den gleichen Schluss wie Nietzsche, wenn er sagt, dass die akademische Ethik gescheitert ist, insofern sie auf eine Selbstmotivation des Guten bezogen war und sozusagen davon ausgegangen ist, das Ziel, gut zu handeln, gehöre zur Autopoiesis des Menschen; anstatt zu begreifen, dass es um die Differenzierung von gut und böse geht: »Eine Ethik, die modernen gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht werden will, müsste über Anwendung und Nichtanwendung von Moral befinden können. Sie müsste Moral als eine Form beobachten, die zwei Seiten hat, nämlich eine gute und eine schlechte, und die mit beiden Seiten wirkt. So gesehen konstruiert alles moralische Urteilen gute und schlechte Qualifizierungen. Etwas wird für gut gehalten und anderes eben damit für schlecht. Die Begründungsethiken hatten versucht, genau darauf zu reagieren und wenigstens in hohen Abstraktionslagen noch Gründe ausfindig zu machen, in denen die Urteile konvergieren und Konsens erreichbar ist oder, nochmals abstrahiert, wenigstens als ver nünftig gefordert werden könnte. Dies Theorieprogramm ist gescheitert. Die erstrebte Universalität liegt nur in der Form der Moral, in der Zweiseitigkeit ihres Codes, in der Unterscheidung einer guten und einer schlechten Seite. Nicht in irgendwelchen Prinzipien.« (Ebd. 168)

Moral als Phänomen philosophisch zu durchdringen, bedeutet, ein Angebot machen zu können, wie zu erklären ist, dass mit der Gattung Mensch offenbar zwangsläufig ein menschliches Sollen einhergeht. Da sind wir wieder bei der Eingangsfrage dieses Kapitels angelangt: Wie kommt der Mensch zu der Einsicht, was er soll? Kann er es wissen oder muss er es lernen? Luhmann stellt diese Frage in der soziologischen Variante: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? Und antwortet, ganz Systemtheoretiker: es gibt keine außergesellschaftlich begründbare Normen, keine Art höhere Normen, aus denen ein Sollen inhaltlich abgeleitet werden könnte; aber es gibt ein beobachtbares Festhalten an Normen, so dass der Schluss nahe liegt, Normen verfügen über eine Unverzichtbarkeit! Ihr Imperativ ist dabei aber nicht auf die Existenz und mögliche Evidenz des Guten zurückzuführen, sondern erklärt sich ausreichend durch die funktionale Unersetzlichkeit des Sollens. Ganz in Übereinstimmung mit Freud, stellt Luhmann fest, dass die Ausgangslage des Menschen durch »ein sehr eng begrenztes Potenzial für aktuell-

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bewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung« gekennzeichnet ist(ebd. 28). Beide regt dieser Umstand zu der Frage an, wie sich der Mensch mit dieser Begrenztheit in einer komplexen Welt zurecht finden kann. Sie finden sehr unterschiedliche Antwortmöglichkeiten. Wenn es für Freud von da aus in Richtung Explikation des Unbewussten geht, bewegt sich Luhmann in Richtung des Erwartens24. Er geht davon aus, dass der Mensch sich bereits sicher fühlt, wenn er über eine Erwartungssicherheit verfügt; dass diese für seine psychische Stabilität wichtiger ist als dass es wirklich so kommt, wie erwartet. Weil der Mensch weiß, dass seine Erwartungen den Faktoren Komplexität und Kontingenz ausgesetzt sind und er keine Chance hat, die Erfüllung seiner Erwartungen tatsächlich sicherzustellen, muss die Möglichkeit, dass es anders kommt, in die Erwartung integriert werden. Um die ständig mögliche Enttäuschung aushalten zu können, stehen dem Mensch zwei Faktoren zur Verfügung; der eine ist die Historie und seine Fähigkeit zur Informationsverarbeitung in Kombination mit seinem Gedächtnis; der andere ist eben das Sollen. Beeindruckend führt Luhmann seinen Gedanken aus, dass Sein und Sollen eine ontologisch verabsolutierbare Dichotomie sind, weil diese den beiden menschlichen Möglichkeiten Lernen und NichtLernen entsprechen, zu der es keine dritte Möglichkeit gibt. Wenn die Wirklichkeit nicht zu einer Erwartung passt, kann das Individuum daraus lernen, d.h. sein Wirklichkeitsbild korrigieren oder es dennoch beibehalten. Obwohl der Verstand zweifellos eine zentrale psychische Fähigkeit des Menschen ist, lässt sich die zweite Variante auch nicht selten beobachten. Luhmann liefert hier die schöne Definition von Normen als kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen. »Die Inkredienzien des Sollens – das selektive Verhalten gegenüber Komplexität, das Erwarten von Erwartungen, die Differenzierung kognitiver und normativer Erwartungen mitsamt den zu ihrer Stabilisierung erforderlichen Strukturen und Prozessen und die Bereitstellung und Miterwartung zureichender Enttäuschungserklärungen und Reaktionsweisen –: das alles ist schon recht kompliziert. Es kommt nun die Beachtung des Systemzusammenhanges hinzu, in dem Verhaltenserwartungen stabilisiert werden, obwohl die Erwartungen des A nicht die Erwartungen des B sind.« (Ebd. 43) 24 »Es liefe auf reinen Zufall hinaus, wollte man die Herstellung sozialer Übereinstim mung der momentanen Aktualität des Bewusstseins überlassen: der Begegnung Gleichgesinnter, dem augenblicklichen Einfall, der überzeugenden Improvisation. Höhere und verlässlichere Wahrscheinlichkeiten des Übereinkommens sind nur zu erreichen, wenn man den Erwartungshorizont des je aktuellen Erlebens einbezieht und das Verhalten über Erwartungen koordiniert. Durch Stabilisierung von Verhaltenserwartungen lässt sich die Zahl der aufeinander abstimmbaren und damit die Zahl der überhaupt möglichen Handlungen immens steigern.« (Luhmann, 2008 a: 28)

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Kann sich Moral gesellschaftlich nicht materialisieren, weil sie zwar eine spezifische Funktion im gesellschaftlichen Gefüge hat, ihr binärer Code dabei aber genauso auf die Synthesefunktion der Sozialität abstellt wie auf die psychische Orientierung des Menschen? Ich möchte Moral deshalb als paradoxes Element zwischen Individuum und Gesellschaft denken. In einer funktional differenzierten Gesellschaft ist es für die Einzelperson sozial betrachtet eigentlich nicht mehr sinnvoll, eine moralische Haltung zu haben. Sie offen oder gar offensiv zu vertreten wird sogar fragwürdig, weil dies immer auch Verlust von Achtung bedeuten wird. Psychisch führt sie heutzutage vermehrt zu Streit und Exklusion. Wenn Moral keine Potenz mehr hat, ist es doch, gerade so wie Nietzsche es uns vordachte, höchste Zeit, das Gute und das Böse aufzugeben? Warum ist das nicht passiert? Nur weil der Mensch träge ist und dumm? Seine selbstgewählte Fessel an das Übel nicht erkennt? Oder weil er so durchtrieben ist, dass er Moral seither lieber zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen, für seinen Willen zur Macht einsetzt? Das mag alles vorkommen, ist aufgrund der leidenschaftlichen und animalischen Qualität der Moral als Erklärung allein für mich aber nicht hinreichend. Ich schlage deshalb vor, die unwahrscheinliche und so viele Probleme aufwerfende Persistenz von Moral als Hinweis dafür zu nehmen, dass sie dem Menschen existenziell dient, nämlich dazu, seine paradoxe Existenzweise als Mensch reflektieren zu können. Moral ist die Dimension und Dynamik, in der sich der Mensch als Mensch begreifen kann. Indem er die Unentrinnbarkeit aus der Moraldimension verstehen und sie damit auf Distanz zu halten lernt – genau jene Distanz, die nötig ist, um reflektieren zu können. Indem er übt, moralisch abstinent zu werden. Frei davon bei gleichzeitigem Wissen, um die Unmöglichkeit, diese Freiheit dauerhaft herstellen zu können, da jederzeit und überall die Gefahr des Rückfalls lauert. In allen Funktionssystemen. In allen ObjektBegegnungen. In der Aufrichtigkeit damit, Mensch werden. Mit der einfachen Frage beginnend: Was finde ich gut? Wie sieht es aus, fühlt es sich an, schmeckt, klingt es? Und mit der darauf folgenden Frage: Wie kann ich das ausdrücken? Luhmanns soziologisch motivierte Moralphilosophie ist für mich so stark, weil sie stringent die Notwendigkeit des Guten als Apriori dekonstruiert, um Moral zu begreifen und trotzdem eine neue Ethik avisiert. Er sieht klar das Problem der verlustig gehenden Moralsicherheit. Da ist endlich einer, der die an allen gesellschaftlichen Ecken und Enden aufbrechenden Streits über die Wahrheit, über das was sein soll, was natur- oder gottgewollt ist, was als gut gilt, wertneutral aufgreift, der nicht mitmacht bei der moralischen Selbstbefeuerung, mit der die Moral à la longue verheizt wird. Er geht davon aus, dass die immer komplexer werdende Gesellschaft einfach eine Überforderung darstellt, die zu

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einer Überhitzung von Köpfen und Gemüter führen kann 25. Und er findet heraus, warum in einer funktionell differenzierten Gesellschaft das Streben nach Achtung suspekt wird, nämlich aufgrund der in den Fokus geratenen Binnenrelation zwischen Wille und Handlung26, was wiederum dem Aufkommen von Doppelbödigkeiten Tür und Tor öffnet. Warum wir uns das antun? Weil eine Welt, in der offiziell Jede tun und lassen kann, was sie will, undenkbar ist. Und Moral uns immerhin Erwartungssicherheit bieten kann. Obwohl unübersehbar ist, dass das Moralsystem mittlerweile in argen Schwierigkeiten steckt. »Die moralische Reinheit der gesellschaftlichen Inklusion wird auf Biegen und Brechen gedehnt, und die Philosophie sieht sich zu höchster Virtuosität herausgefordert, bis man 25 »Geht man von einer ›koinzidellen‹ Erklärung aus, kommt man zu einer Evolutionstheorie, die Diskontinuität betont und Zufälle in Anspruch nimmt, um Morphogenese, also Übergänge in eine strukturreichere Systemform zu erklären. Eine andere Mög lichkeit wäre, davon auszugehen, dass die Gesellschaft Europas seit dem Hochmittelalter kontinuierlich komplexer geworden ist, dass sie zunächst im Kontext einer semantischen Kombination von Religion und Moral darauf zu reagieren sucht, dass sie dann aber eine Schwelle der Komplexität überschreitet, jenseits deren evolutionäre Prozesse der Meinungskonsolidierung in Form von Moral nicht mehr funktionieren und in die Gegenrichtung umschlagen – das heißt statt Konsens (Konsensunterstellung) Dissens (Dissensunterstellung) erzeugen und statt moralische Integration moralischen Streit.« (Luhmann 2008 a: 298) 26 »Bringt man Vorstellungen wie Absicht, Vorsatz, Gewissen, Selbstverantwortung auf einen abstrakten Ausdruck, so geht es jeweils um die Herstellung einer Beziehung zu sich selbst. Der Träger des Handelns, an dem das Handeln sozusagen erscheint, wird dupliziert und zu sich selbst in Beziehung gesetzt. Er erscheint dann doppelt auf dem Bildschirm moralischer Relevanz und kann in dieser Beziehung zu sich selbst beur teilt werden. Die Folge dieser Doppelung ist, dass Person und Handlung unterschiedliche Bezugspunkte für Merkmalsbeschreibungen und Bewertungen werden können. Die moralische Konditionierung betrifft nur noch die Herstellung der Beziehung zwischen beiden und nimmt deshalb die Form einer Regel an. Diese selbstreferentielle Binnenrelationierung ist [...] eine Form der Kontingenzverarbeitung. Es wird nicht nur wahrgenommen, dass Alter in bestimmter Weise handelt und auch anders handeln könnte. Vielmehr wird sowohl sein Wille als auch sein Verhalten kontingent gesetzt und die Nichtbeliebigkeit in die Relation von Wille und Verhalten verlagert. Er kann anders wollen und er kann anders handeln, aber es sind keine beliebigen Kombinationen von Wille und Verhalten möglich: wenn er etwas will, ist damit ein Spielraum für Handlungsmöglichkeiten abgesteckt, und wenn er gehandelt hat, gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, nicht gewollt zu haben.« (Luhmann 2008 a: 145)

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schließlich die selbsttragende Kraft der modernen Strukturen erkennen kann und zugleich einsehen kann, dass die Probleme und die Folgen dieser Gesellschaftsformation nicht mehr in moralische Kategorien eingefangen und nicht mehr in der Form der Verteilung von Achtung und Missachtung gelöst werden können. Die ganze Hilflosigkeit der Moral zeigt sich dann in der letzten Fassung ihrer gesellschaftlichen Ambition: dass nur noch der Achtung verdient, der gegen die Gesellschaft ist.« (Luhmann 2008 a: 287)

Das schreit nach Sackgasse. Könnte man nicht irgendwie doch zu den Aprioris zurück? Luhmann enttäuscht uns nicht mit seiner Antwort: Nein; aber wir können versuchen zu verstehen, warum der Mensch so an ihnen hängt. Ich verstehe es so: Der Mensch ist ein Tier mit einem eigenwilligen Schicksal. Er versteht sich selbst nicht, er versteht die Welt nicht; er kann sich aber auch nicht mehr animalisch verhalten, weil er immerhin versteht, dass er die Reflexion braucht, um zu sich und in der Welt an zu kommen. Oft funktioniert das nicht. Werte sind dann eine Lösung. Sie sind eine Möglichkeit, sich die Mühsal der reflexiven Arbeit zu ersparen. Die Anstrengung zu vermeiden, sich nachvollziehbar zu machen, die eigene Perspektive, den eigenen Geschmack. Das Ich ist mit seiner Unbegründbarkeit heillos überfordert und noch ist kein Mittelchen ge funden, es auszuhalten, dass alles ohne höheren Grund geschieht. Weil sowohl psychisch als auch sozial alles auch anders sein könnte, erzählen wir uns, wie es ist. Die Frage ist, warum das nicht zu reichen scheint, sondern die Erzählung, warum es gar nicht anders sein könnte, so oft gleich mitgeliefert wird? Warum aus der Kontingenz ein Notwendiges ziehen und nicht nur ein Bestimmtes? Meine Antwort fällt hier pragmatisch aus: Weil es, wider den ersten Augenschein, viel mehr Anstrengung und Arbeit bedeutet, etwas individuell zu bestimmen als etwas als notwendig oder zwingend festzulegen. Um das Bestimmen oder Festlegen kommen wir nicht herum. Deutend ist für den Menschen die einzige Möglichkeit zu leben. Der Interpretationszwang ist uns durch die psychische Existenzweise auferlegt. Denken wir an den Homunkulus: Er stirbt augenblicklich als er versucht ohne Form zu leben27. Weil die ganze Tragweite des Lebens, d.h. die Inhalts- und Formfreiheit, die Vielfalt und Variabilität als solche für den menschlichen Geist nicht zu bewältigen sind, müssen wir ihr mit Reduktionen beikommen. Und genau das sind Aprioris. Ohne Hypothesenpflock können wir kein Feld bestellen. »Komplexität ist aber nicht nur das heimliche Motiv, die verbindende Aspiration hinter allen Ordnungsbegriffen der Methode, sie ist zugleich das letzterreichbare sachliche Bezugsproblem der funktionalen Forschung. Denn die Welt als Ganzes, der Universalhori27 Vgl. Goethe, 1888/1993 b.

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zont allen menschlichen Erlebens, ist nur unter dem Gesichtspunkt ihrer äußersten Komplexität ein mögliches Problem. Sie ist kein System, weil sie keine Grenzen hat. Sie ist ohne Umwelt, daher nicht bedrohbar. Selbst radikale Umwandlungen ihrer Energieform sind nur als Geschehen in der Welt vorstellbar. Einzig in ihrer Relation zum Identi schen-in-der-Welt gibt die Welt als solche ein Problem auf, und zwar durch ihre raumzeitliche sich entfaltende Komplexität, durch die unübersehbare Fülle ihrer Wirklichkeiten und ihrer Möglichkeiten, die eine sichere Einstellung des Einzelnen auf die Welt aus schließt. Unfassbare Komplexität ist die Innenansicht der Welt, der Problemaspekt, den sie Systemen darbietet, die sich in der Welt erhalten wollen.« (Luhmann 2000: 3)

Wir treffen also wertbezogene Entscheidungen und reduzieren damit die Unfassbarkeit auf ein erfassbares Maß. Natürlich wäre es am einfachsten, eine Instanz zu haben, die beim Entscheiden hilft; wir verstehen den Wunsch nach wenigstens einem klitzekleinen echten Apriori! Aber gerade weil es das nicht gibt, sind wir ja überhaupt in der Lage, entscheiden zu müssen. Luhmann zitiert hier Heinz von Försters humorvollen Ausspruch: ›Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.‹ und bringt es selbst auf folgenden Punkt: »Die Unverzichtbarkeit der Norm – das ist die Autopoiesis des Systems.« (Luhmann 2008 a: 245) Wenn nicht klar ist, wie man handeln soll, werden Werte so wichtig; aber genau dann versagen sie auch. Das, was funktioniert, funktioniert von selbst und etabliert den normativen Code. Wenn Normen aufeinandertreffen und sich als unvereinbar erweisen, wird wieder klar, dass ihr Gültigkeitsanspruch nur deshalb universell erschien, weil er innerhalb klarer Grenzen formuliert war. »Da haben wir wieder das allfällige Paradox. Man kann es auch in eine moraltheoretische Fassung bringen. Werte sind notwendig, um Entscheidungen einen Rückhalt in Unbezweifeltem zu geben. Entscheidungen bringen diese Notwendigkeit aber in die Form der Kontingenz.« (Ebd. 244) Moral ist deshalb gefährlich, weil sie gleichzeitig auf Prinzipientreue und Beliebigkeit baut28.

28 »Mehr als offiziell zugestanden wird, hat sich das Problem der Unverzichtbarkeit an gebbarer Normen oder Normbestände damit aufgelöst. Die Ersatzlösung, die schon praktiziert wird, sieht als Einheitsformel nur noch eine entfaltungsfähige Paradoxie vor. Man kann die Geschichte des Problems rückblickend so konstruieren, als ob dies immer schon so gewesen wäre. Aber das ist eine für unsere Zeit geschriebene Geschichte. In der heutigen Gesellschaft dürfte es auf die Einsicht ankommen, dass das Problem nicht in der Differenz von Prinzipientreue und Beliebigkeit liegt. Prinzipien müssen so generalisiert sein, dass sie nichts mehr besagen. Andererseits kommt aber Willkür in der sozialen Wirklichkeit rein faktisch gesehen nicht vor.« (Luhmann 2008 a: 245)

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Paradigm, lost!29 Der Moralcode gut/böse entwickelt normative Fixierungen, die zur Begründung von Entscheidungen herangezogen werden; währenddessen kann die Verteilung von Achtung/Missachtung nicht a priori begründet werden. Diese paradoxe moralische Fundierung macht es für Luhmann folgerichtig, dass sich eine Ethik als Reflexionstheorie der Moral aufstellen muss und nicht als eine Reflexion des Guten. An Aristoteles’ Moraltheorie kritisiert er deshalb deren implizite Normierungsbewegung30, in der die gute Norm durch eine perfekte Natur abgesichert wird. Auch wenn die Gültigkeit des Guten heute nicht mehr ohne Widerspruch ontologisch oder kosmologisch begründet werden kann, ist zweifelsohne festzustellen, dass dennoch daran festgehalten wird, Wertekonflikte mit Hilfe des Moralcodes zu lösen. Dies führt zu moralisch aufgeheizten Konflikten, aber nicht zur Lösung der zu Grunde liegenden Dilemmata. Verstöße gegen die Moral bewirken, dass die Person hinterfragt wird, nicht die Moral. Das Moralschema wird dabei für die paradoxe Forderung herangezogen: Im Namen des Guten darf es das Böse nicht geben! Der Moralcode lässt sich aber nicht auf Asymmetrisierungen ein, er hält beide Bedingungen hoch. »Für eine Ethik, die eine Reflexionstheorie der Moral zu bieten beansprucht, ist das Paradox keine angemessene Endform, denn das Paradox lässt den Beobachter entscheidungsunfähig zurück. Das jedenfalls ist herrschende Meinung. Aber da ohnehin niemand je in 29 ›Paradigm lost‹ übertitelt Luhmann eine Rede, die er 1989 gehalten hat, in welcher er moralphilosophische Legitimierungen des Guten mithilfe des Natur- und des Vernunftbegriffs dekonstruiert. Vgl. dazu: Die Philosophie der moralischen Natur des Menschen »[...] gründet ihre Einsicht in die [...] Empfindsamkeit des Menschen, für die eine natürliche Rationalität in Anspruch genommen wird. Das heißt im Klartext: sie wird einfach behauptet und füllt dann ihrerseits den Begriff der Natur mit moralisch einklagbaren Gehalten auf. So kommt das 18. Jahrhundert zu einem normativen Naturbegriff [...]« (Luhmann 2008 a: 310). 30 »Aristoteles fasst unser Problem noch in einer Typologie von Formen der Liebe (Freundschaft) zusammen, die sich auf das Gute, das Angenehme oder das Nützliche beziehen können. [...] Es geht um Ziele und Dispositionen des Menschen. Dabei ist die Moral übergewichtet insofern, als sie zugleich den generischen Term stellt: Letztlich liebe jeder das für ihn Gute [...]. Das Thema wird – vorbildlich für eine lange Tra dition – im Rahmen der Ethik behandelt, und das Gute ist zugleich der Sinn des Gan zen und ein (dadurch besonders wichtiger) Teil der Typologie. Es hat auch alle Stabilitätsvorteile für sich, während Lust und Nutzen vergehen. Mit ihrer Präferenz für Moral bürgt die Theorie zugleich für ihre eigene moralische Qualität, sie wird zur ›prakti schen Philosophie‹.« (Luhmann 2008 a: 133)

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der Situation ist, sich für oder gegen ›die Moral‹ entscheiden zu müssen, könnte es sein, dass wir die Aufgabe einer Reflexion anders formulieren müssen. Und wenn es denn nicht um die Sicherheit des moralischen Urteils ginge, sondern um die Steigerung der Unsicherheit in der Bereitschaft, sich selbst oder andere zu achten oder zu missachten – was könnte dann bessere Dienste tun als eine Reflexion auf die Paradoxie der Moral?« (Ebd. 324)

Hieße das nicht, Ethik als Reflexionsraum dafür einzusetzen, die Unsicherheit zu steigern? Um ein Gefühl entwickeln zu können für die Kontingenz des eigenen moralischen Urteils? Luhmann liefert das Anforderungsprofil für eine solche Ethik mit dazu: »Man müsste beobachten können, mit Hilfe welcher Unterscheidungen Beobachter beobachten und was sie damit sehen und was sie nicht sehen können. Gelänge eine solche Ethik, dann würde sie zugleich Verständnis dafür aufbringen können, dass eine sehr spezifische Unterscheidung, nämlich die von gut und schlecht, universell, also auf alles Verhalten angewandt werden kann.« (Ebd. 267)

Eine Gesellschaft, in der die Bedingungen für Achtung/Missachtung plural und kontingent sind, kommt mit einer Reflexion allein des Guten nicht mehr zurecht. Sie hat laut Luhmann eine Ethik nötig, die moralische Kommunikation in ihrer polemogenen, d.h. Streit erzeugenden, aber auch in ihrer bindenden Qualität reflektieren kann. Wenn die Beschwichtigung in Zeiten des hochgehaltenen Guten die Falle schlechthin für den gesunde Menschenverstand war, so muss er sich heute, in einer Zeit, die um einen Umgang mit Pluralität und Kontingenz ringt, vorsehen, nicht in die Klauen der Polemik zu geraten. Systemtheoretisch betrachtet findet Gesellschaft solange statt solange Kommunikation stattfindet. In diesem Sinne gibt es zwar Individuen, denen der Zugang zu Reichtum und Ressourcen der Welt versperrt wird, aber keine Exklusion von Personen 31 aus der Gesellschaft. Moralische Kommunikation funktioniert wie jede Kommunikation gesellschaftlich inklusiv. Auch wer Adressat von Missachtung ist, gehört dazu. »Die Moral kann also nicht über Inklusion/Exklusion entscheiden, sie kann nur Inklusion schematisieren, und das ist die Funktion ihres Codes, wie immer die Semantik im Laufe der Zeiten ihn formuliert. Hiermit ist schon sichtbar geworden, welche Last die Moral übernimmt. Sie muss die Unmöglichkeit der Exklusion durch Verachtung kompensieren. Gerade diese Unmöglichkeit, jemanden aus der Mitwirkung an der Gesellschaft auszu-

31 Luhmann versteht unter Personen Adressaten von Kommunikation. Personen sind also nicht zu verwechseln mit Individuen.

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schließen (es sei denn, man tötet ihn), gibt der Moral ihre Emphase, ihren Eifer, ihre Auf dringlichkeit. Man kann nicht ausschließen, man kann nur bewerten.« (Ebd. 278)

Moral ist kein Funktionssystem wie jedes andere. Weil moralische Kommunikation immer angewandt werden kann, ihr die Spezifikation auf bestimmte Problemlagen fehlt, wird von ihr auch das wahrgenommen, was sie nicht bewältigen kann. »Das ausgeschlossene Dritte ist ihr ausgeschlossenes Drittes, der Moralunfähige ist ihr Unfähiger. Daher läuft auch das Erkennen und Regulieren des Umgangs mit solchen Fällen in die Moral zurück. Wer nicht die Möglichkeit hat, sich so zu verhalten, wie die Mo ral es verlangt, wird moralisch einwandfreien Maßnahmen ausgesetzt – von der Überwachung und Markierung über Kasernierung und Therapie bis zur Umerziehung. Die Moral führt das durch sie Ausgeschlossene auf der Ebene ihrer Programme wieder zurück in ihr Reich. Sie erstrebt und erreicht damit Vollständigkeit. [...] Die Frage ist nur, was geschieht, wenn die auf diese Weise eingeschlossenen Ausgeschlossenen [...] mehr und mehr Lärm machen und mehr und mehr Substanz der Moral selbst verzehren. Solange das Problem der Medizin zugeschoben wird und auf Abnormalitäten begrenzt bleibt, mag die Moral sich sicher fühlen. Das wird jedoch anders, sobald die Moral ihre eigene Pluralität wahrnimmt und der Fanatismus der einen Moral zur Unfähigkeit wird, im Sinne einer anderen zu unterscheiden. [...] Dann entstehen viele Möglichkeiten des Räsonnements – Gründe und Werte im Überfluss. Und die Moral kehrt, so darf man vermuten, in ihrem polemogenen Naturzustand zurück.« (Ebd. 325)

Wie Luhmann eingangs festgestellt hat, liegt der moralische Ausgangspunkt in der Andersheit von Ego und Alter und stellt sich damit gleichursprünglich wie das Problem der Sozialität. Über ihrem gewaltigen Streitpotenzial könnte man dabei leicht die Verbindungsqualität von Moral übersehen. Streiten ist durchaus eine moralische Möglichkeit, mit der existenziellen Kluft zwischen mir und dem Anderen, mit der unendlichen Herausforderung des anderen Antlitzes, umzugehen. Keine noch so harte Kritik an dem Anderen, sondern einzig seine Tötung ist der moralische Kollaps. Der hyperkomplexen Lebenssituation so ein Ende bereiten, bedeutet nicht mehr nur Nichtakzeptanz des Anderen, sondern auch Nichtertragen der conditio humana. Emmanuel Lévinas führt diesen Gedanken so weit, dass er zu dem Schluss kommt, die ethische Fragestellung setzt für das Subjekt vor der ontologischen ein32. Psychisch wird dem Menschen zugemutet zu erfas32 »Das Sprechen begründet eine eigene Beziehung. Es geht darum, die Funktion der Sprache nicht als dem Bewusstsein, das man von der Anwesenheit eines Nächsten oder von seiner Nachbarschaft oder von der Gemeinschaft mit ihm hat, untergeordnet,

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sen, dass er die Komplexität nicht erfassen kann. Ich meine, es kann als Kunst des Lebens bezeichnet werden, wenn es gelingt, dies als lustvoll zu erleben. Nur ein kleiner Schritt zur Seite lässt uns das Feld der Interpretationskunst wieder betreten. Wir wechseln vom sozialen zurück zum psychischen System. Luhmann und Freud eint die Analyse der Unmöglichkeit, die Realität zu erfassen. Wenn sich die geistige Praxis aus dem wissenschaftlichen Funktionssystem befreit, so dass nicht mehr Logik und Kohärenz als wichtigste Parameter zur Beurteilung der Güte eines Gedankens benutzt werden, wenn dessen Wahrheit nicht mehr am gekonnten, aber deshalb nicht weniger künstlichen Herstellen eines Nicht-Widerspruchs scheitert, kann man an dieser Stelle viele Fragen stellen. Zum Beispiel diese: Was lässt sich denken, wenn man den Aspekt der fehlenden Spezifikation moralischer Kommunikation mit der psychischen Spezifik des Wunsch-Ausdrucks sowie mit der Sprache als subjektivierendes Phänomen verbindet? Die Luhmannʼsche Autokatalyse sozialer Systeme, die Freud’sche triebtheoretische Autopoiesis des psychischen Systems und die Foucault’sche Selbstselektion von Aussagen: Wie kann unter diesen Einflüssen ein ethos entwickelt werden? Zwischen hohlen Normen, die ein fluide ablaufendes Moralsystem ad absurdum führen und dem trampelnden, stampfenden Wunschauftreten, mit dem das Gute an die Wand geschrien wird, kann es freilich nur erschöpft in die Rinnsteine unserer Gesellschaft sinken und von dort in die Kanalisation unserer Kultur rutschen. Lässt sich die Stimme als Material zurückerobern von einer Sprache, die, eingeklemmt zwischen sozialer Kommunikation, Wunschgedanken und diskursiven Praktiken, die Realität aus den Augen verloren hat? Wozu dient dem sondern als Bedingung dieses ›Bewusstwerdens‹ anzusehen. [...] Der Mensch ist das einzige Sein, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm gegenüber diese Begegnung auszudrücken. [...] (Der Ausdruck) besteht – noch vor jeder Teilhabe an einem durch das Verstehen gemeinsamen Inhalt – im Einsetzen der Sozialität durch eine Beziehung, die folglich nicht auf das Verstehen reduzierbar ist. Die Beziehung zum Nächsten ist daher nicht Ontologie. [...] Es geht nicht so sehr darum, ein Wesen (essence) einem anderen gegenüberzustellen und zu behaupten, was denn nun das Wesen (nature) des Menschen sei. Vor allem geht es darum, ihm denjenigen Platz zu suchen, von wo aus der Mensch aufhört, uns im Horizont des Seins zu begegnen, d.h. sich unserer Macht auszuliefern. Das Seiende als solches (und nicht als Inkarnation des universalen Seins) kann nur in einer Beziehung stehen, in der es angerufen wird. Das Seiende ist der Mensch, und der Mensch ist zugänglich als Nächster. Als Antlitz.« (Lévinas 195: 17-20)

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Menschen eine Sprache, die es nicht mehr mit der Realität als telos aufnehmen kann? Der Mensch war doch die Spezies, in der sich das Wort im Fleisch und das Fleisch im Wort treffen? Ist dann nicht alles eingebüßt, was so verheißungsvoll beginnt?

5.4 MORAL OHNE GEWISSEN – ODER UMGEKEHRT? Ich möchte Luhmanns Moralkritik im Gepäck behalten. Sie überzeugt mich. Sein Verständnis von Moral als gesellschaftlichem Funktionssystem, welches, Bindung und Streit erzeugend, in der herrenlosen Autopoiesis der gesellschaftlichen Evolution exponiert umherwandert, kann ich selbst beobachten – als Allgegenwart moralischen Kommunizierens, ohne dass dabei unbedingt etwas Gutes herauskommt. Moral kennt keine Grenzen. Sie ist penetrant. Gleichzeitig wird mit Luhmann verständlich, warum sich dieses scheinbar grenzenlose, sonderbare System in ernsthaften Schwierigkeiten befindet. Ohne Zuordnungsmöglichkeit zu einer spezifischen gesellschaftlichen Problemlage gerät der Moralcode Achtung/Missachtung in Anbetracht der schwindenden Option, sich auf geltende Werte zu beziehen, in eine ganz neue Notlage. Partikuläre persönliche Interessen unterwandern das System von der einen und die eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten von der anderen Seite und lassen seine Kraft schwinden. Moral funktioniert systemtheoretisch ohne innere Ausrichtung, ohne Gewissen. Diese Beschreibung korrespondiert mit der psychoanalytischen Feststellung, dass die primäre psychische Organisation ihrerseits ohne Moral funktioniert. Es stellt sich also die Frage, woher das Gewissen kommt? Wie hängen Moral und Gewissen zusammen? Oder hat die sogenannte innere Stimme gar nichts mit der Unterscheidung gut/böse zu tun? Was ist Gewissen überhaupt? Gesunder Menschenverstand sagt: Damit wird gemeinhin ein recht emotionaler Vorgang bezeichnet, bei dem die Einschätzung im Zentrum steht, ob man selbst gut gehandelt, gedacht, gewünscht, gewollt hat – oder ob man sich schuldig gemacht hat. Mit einem Schlag taucht aus dem Nichts die Schuld auf. Schuld!? Die schiebt Luhmann als Effekt einfach aus der Funktionszone seines systemtheoretischen Sozialgefüges. »Wir gehen also nicht davon aus, dass Begriffe wie Wille oder Gewissen oder die Fähig keit, Absichten oder Intentionen zu bilden, Eigenschaften von Menschen bezeichnen*. Vielmehr kommen die unterstellten Korrelate dieser Begriffe überhaupt erst durch ein Relationierungsinteresse zustande; sie sind das semantische Produkt, das entsteht, wenn in achtungsorientierter Kommunikation ein höheres Auflöse- und Rekombinationsinteresse

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ins Spiel kommt. Eine Differenz von Absicht einerseits und Verhalten andererseits wird erst konstituiert, wenn Zurechnungsprobleme auftreten und nach Lösungen verlangen.« *Fußnote dazu: »Es kommt uns andererseits auch nicht darauf an, zu bestreiten, dass dies so sei und dass man ein Stück weit kommt mit einer solchen Annahme.« (Luhmann 2008: 145)

Und Freud? Der positioniert das erste Schuldgefühl an den Beginn der Kulturentwicklung und lässt Schuld als kollektives, mythisch tradiertes Phänomen in einer unbekannten Zone des Ursprungs der Menschheit entstehen. Was fällt auf? Für das Individuum steht am Anfang die Unschuld. Ich muss an Eva denken und das Paradies und den Baum der Erkenntnis. Aber ich weiß nicht, wo der steht. Also wende ich mich zurück33, zum Wunsch und konfrontiere ihn diesmal mit dem Willen. Es gilt, noch einmal die losen Enden der Repräsentanten und Abkömmlinge aufzugreifen, um das Bild über die Verdrängung und den Sekundärprozess mit dem Begriff des Über-Ichs zu komplettieren. Wir sehen uns eine psychoanalytische Variante der Ewigkeit an, begreifen sie als ewige Wiederkehr, erleben das Anstrengende am Lustprinzip, spüren das Zwanghafte bei der Wiederholung, um von diesem Geflatter aus die stille Seite des Todestriebs kennen zu lernen, das Nirwanaprinzip. Die Paradoxie des Lebens sehen wir in verteilten Rollen von Thanatos und Eros auf diesen Punkt gebracht: T: ›Warum leben, wenn Du auch sterben kannst?‹ E: ›Warum sterben, wenn ich auch lieben kann?‹ Irgendwo dazwischen eingekeilt werden wir auf Schuld und Gewissen treffen. Kaum machen wir uns auf den ohnehin steinigen Weg in Richtung des psychoanalytischen ›Du sollst nicht töten!‹, an dem vor uns der spätere König Ödipus schon so grandios gescheitert ist, stellt sich uns etwas entgegen, das in weiterer Folge noch hinter vielen Biegungen erneut auf uns warten wird: Widerstand gegen die Wahrheit. Die Wahrheit hat es, oder sollen wir lieber sagen, ihn, in sich. Im Widerstand liegt der energetische Grund, warum der Mensch Wahrheit als telos setzen muss und sie als Wahrhaftigkeit zur Daueraufgabe hat. Obwohl Wahrheit so wenig mit Wirklichkeit zu tun hat, taucht sie dennoch ständig am Horizont auf. Wie genau macht sie das? Wir wissen, sie tritt epistemologisch in Erscheinung im thetischen Urteil, als Sich-selbst-Setzen, in Reflexion, symbolisch, deutend; dem fügen wir nun die ethische Dimension der Wahrhaftigkeit hinzu. Wenn sich Wahrheit in diesem doppelten Sinne als Problem und Aufgabe darstellt, worin besteht die Lösung? Sehen wir uns an, in welche Dialektiken sie 33 In Wirklichkeit gibt es kein Zurück; ich habe mir mit dem Gedanken an Adam und Eva die Frage eingehandelt: Gibt es unschuldige Erkenntnis? Diese Frage scheint mir etwas zu tun zu haben mit dem Problem der direkten Rede.

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sich einspannt, so stoßen wir auf Lüge, Irrtum und Illusion 34. Eine banale ethische und eine einfache epistemologische Spannung zur Wahrheit treffen aufeinander und zusammen mit einer hochinteressanten dritten. Die Illusion ist auf den ersten Blick fast so aufregend wie die Wahrheit; ob sie eine Zukunft 35 hat, darüber kann man geteilter Meinung sein. Wir werden darauf zurückkommen. Um zu einem Verständnis von der Ethik der Psychoanalyse zu gelangen, beginnen wir am besten noch einmal ganz von vorne: beim Konstanzprinzip und warum es nicht ganz funktioniert. Schuld ist der Andere. (Haben wir das nicht immer schon, tief in unserem Innersten, gewusst?) Es ist seine Attraktivität, mit der er unsere friedliche Trägheit des primären Narzissmus stört. Der Wunsch nach dem Anderen macht es unmöglich, bei dem freien, polymorphen, primärprozesshaften Abströmen der Erregungsquantitäten zu bleiben. Und weil wir am Beginn unseres Lebens de facto hilflos auf den Anderen angewiesen sind, ist diesem Brauchen in seinem Kern außerdem eine Existenzialität eingeschrieben, die jede Befriedigung von Beginn an ambivalent macht. Nur in der Halluzination ist das Menschenkind autonom; die halluzinierte Außenwelt kann es sich dabei gerade so vorstellen, wie es sie braucht. Wenn später die Fähigkeit zur Phantasie ästhetische Lust36 freisetzt, kann dies sowohl zu lustvoller Spannung als auch zu tiefer Entladung führen. Im Gegensatz zur Halluzination, die narzisstisch auf die Innenwelt konzentriert bleibt, geht es beim Schöpfungsakt der Phantasie um eine Zusammenführung von Innen- und Außenwelt. Selbst bei dieser elaborierten Variante des Trieblebens gilt aber: Was für die Außenwelt nicht funktioniert, erfährt eine Anpassung. Bei aller versuchten Wahrhaftigkeit heißt das, Affektverwandlung und Formulierung des Wunsches auf eine Weise, dass der Andere damit adressiert wird – und sei es widerständig, mit Aufruhr, in Dissonanz. Den ersten Anpassungsvorgang des Trieblebens hat Freud als Bewusstseinszensur bezeichnet. Durch ihn wird die Ichbildung in Gang gebracht, in der kompromissbildenden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Um das Ich einigermaßen sta34 »Der transzendentale Schein ist nicht ein bloßer Irrtum, ein purer Zufall in der Geschichte des Denkens, er ist eine notwendige Illusion. Hier liegt meiner Meinung nach der radikale Ursprung eines jeden ›falschen Bewusstseins‹, die Quelle aller Problematik der Illusion, jenseits der sozialen Lüge, der Lebenslüge, der Wiederkehr des Verdrängten; Marx, Freud und Nietzsche operieren bereits auf der Ebene sekundärer, von der Illusion abgeleiteter Formen; daher sind ihre Problematiken partiell und rivalisie rend.« (Ricoeur 1969/1974: 541) 35 Vgl. den Freudʼschen Titel einer seiner Schriften: ›Die Zukunft einer Illusion‹. 36 Vgl. die tiefe Befriedigung, die exzellente Lösungen in Form von Kunstwerken in uns bewirken können. Vgl. das Kunstwerk als ruhende Besetzung und die mit ihm mögliche sekundärprozesshafte Befriedigung des Urwunsches.

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bil und in Form zu halten, d.h. die Kompatibilität mit der Außenwelt zu sichern, setzt der psychische Vorgang ein, den Freud mit dem Begriff der Realitätsprüfung37 versehen hat. Gemeint ist eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf sensorische Reize, ein Abgleich derselben mit Erinnerungsspuren, um zu einem Urteil zu kommen, ob es sich um eine Halluzination oder eine Wahrnehmung der Wirklichkeit handelt. Soweit waren wir schon. Der gesamte psychische Prozess wird ab da, mit der weiteren Entwicklung der Sekundärvorgänge, in jeder Hinsicht noch einmal neu gespannt. Denn die psychische Gerichtetheit des Sekundärprozesses erfordert Energie, d.h. das Spannungsniveau darf dafür gerade nicht null sein. Eine bestimmte Quantität an Triebenergie muss der Mensch irgendwie zu seiner willentlichen Verfügung haben. Wie kann sich die Psyche so organisieren, dass sie einerseits nicht unter einer unangenehmen Spannung leidet, andererseits aber immer, wenn sie es braucht, Energie zur Verfügung hat, um aktiv zu werden? Abermals gelingt Freud eine sehr schöne Hypothese. Sie wird gespeist von der Unterscheidung zwischen inneren (dem unbewussten Triebgeschehen) und äußeren (der Wirklichkeit) Reizen und der Beobachtung, dass dem Menschen keine vergleichbaren Fähigkeiten zur Verfügung stehen, die inneren Reize in den Griff zu bekommen, wie ihm dies bezüglich der Reize von Außen möglich ist. Das ganze Gespann der Sinne38 und der Motorik bietet vielfältige Optionen auf Außenreize zu reagieren. Sie ermöglichen uns zu selektieren und zu handeln. Soweit es geht, leitet der Mensch seine inneren Reize nach außen ab; aber seiner gesamten Triebspannung kann und soll sich der Mensch so nicht entledigen. Das einzige, was er mit inneren Reizen außerdem noch tun kann, ist seine psychische Struktur zu verändern; ein Zentrum zu schaffen, in dem er seine Energie unterbringen und binden kann. Diese Behausung für seine inneren Triebvagabunden bietet die Struktur des Ichs 39. Klar, dass hier ein anderes Ener37 Da Freud die Wirklichkeit begrifflich nicht von der Realität unterscheidet, diese Differenzierung für die Definition des Paradoxen aber zentral ist, ergänze ich innerlich jedes Mal, wenn ich ›Realitätsprinzip‹ oder ›Realitätsprüfung‹ lese: ›Wirklichkeitsprinzip‹ oder ›Wirklichkeitsprüfung‹. 38 »Dies ist eines der Hauptthemen in DAS ICH UND DAS ES. Während es einen ›Wahrnehmungsschild‹ gibt, ist das Ich den Reizungen seiner Triebe schutzlos ausgeliefert. Es ist ein tiefer Gedanke, dass die Wahrnehmung in Hinblick auf die Reizungen der Außenwelt ein selektives System ist, während der Wunsch uns wehrlos antrifft. Dieser Gedanke lässt sich mit der Nietzscheschen Auffassung der ›Gefahr‹ vergleichen.« (Ricoeur 1969/1974, Fußnote: 88) 39 »Zum ersten Mal stellt Freud eine Verbindung her zwischen der Unterscheidung des Realen vom Imaginären und der Hemmungsfunktion, die er der sogenannten ›Ich-Organisation‹ zuschreibt. Ein für allemal steht fest: konstante Besetzung des Ich, Hem -

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gieniveau herrscht wie im Es. Eben eines, das wir dann wiederum nutzen können, um unsere psychischen Prozesse aktiv zu steuern. Die psychische Struktur stellt sich jetzt mit Freud so dar: »Den Kern unseres Wesens bildet also das dunkle Es, das nicht direkt mit der Außenwelt verkehrt und auch unserer Kenntnis nur durch die Vermittlung einer anderen Instanz zu gänglich wird. In diesem Es wirken die organischen Triebe, selbst aus Mischungen von zwei Urkräften (Eros und Destruktion) in wechselnden Ausmassen zusammengesetzt und durch ihre Beziehung zu Organen oder Organsystemen voneinander differenziert. Das einzige Streben dieser Triebe ist nach Befriedigung, die von bestimmten Veränderungen an den Organen mithilfe von Objekten der Außenwelt erwartet wird. Aber sofortige und rücksichtslose Triebbefriedigung, wie sie das Es fordert, würde oft genug zu gefährlichen Konflikten mit der Außenwelt und zum Untergang führen. Das Es kennt keine Fürsorge für die Sicherung des Fortbestands, keine Angst, oder vielleicht sagen wir richtiger, es kann zwar die Empfindungselemente der Angst entwickeln, aber nicht sie verwerten. [...] Das Es gehorcht dem unerbittlichen Lustprinzip. Aber nicht nur das Es allein. Es scheint, dass auch die Tätigkeiten der anderen psychischen Instanzen das Lustprinzip nur zu modi fizieren, aber nicht aufzuheben vermag, und es bleibt eine theoretisch höchst bedeutsame, gegenwärtig noch nicht beantwortete Frage, wann und wie die Überwindung des Lustprinzips überhaupt gelingt. Die Erwägung, dass das Lustprinzip eine Herabsetzung, im Grunde vielleicht ein Erlöschen der Bedürfnisspannungen (Nirwana) verlangt, führt zu noch nicht gewürdigten Beziehungen des Lustprinzips zu den beiden Urkräften, Eros und Todestrieb. Die andere psychische Instanz, die wir am besten zu kennen glauben und in der wir am ehesten uns selbst erkennen, das sogenannte Ich, hat sich aus der Rindenschicht des Es entwickelt, die durch ihre Einrichtung der Reizaufnahme und Reizabhaltung in direktem Kontakt mit der Außenwelt (der Realität) steht. [...] Wie das Es ausschließlich auf Lustge winn ausgeht, so ist das Ich von der Rücksicht auf Sicherheit beherrscht. Das Ich hat sich die Aufgabe der Selbsterhaltung gestellt, die das Es zu vernachlässigen scheint. [...] Gefahren drohen dem Ich [...] in erster Linie von der äußeren Realität her, aber nicht allein von dort. Das eigene Es ist eine Quelle ähnlicher Gefahren. [...] Das Ich kämpft also auf zwei Fronten, es hat sich seiner Existenz zu wehren gegen eine mit Vernichtung drohende Außenwelt wie gegen eine allzu anspruchsvolle Innenwelt.« (Freud 1938/2009: 94)

Das Ich, als psychisches Grenzphänomen zwischen Innen- und Außenwelt, wächst mit jeder Anforderung von außen wie von innen und zusammen mit dem Ich verändert sich die Libidoorganisation. Wenn es dem Es möglicherweise 40 primär egal ist, womit es seine Lust befriedigt, bringt das Ich gezielt den anderen mungsfunktion, Realitätsprüfung gehören immer zusammen. ›Wenn also ein Ich existiert, muss es psychische Primärvorgänge hemmen.‹« (Ricoeur 1969/1974: 92)

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Menschen als Triebobjekt ins Spiel. Damit dies funktioniert, ist der Mensch auf Verständigung mit dem Anderen angewiesen. Der intersubjektive Aushandlungsprozess von Möglichkeit und Wirklichkeit sowie die dafür erforderliche konzentrierte Anwendung, d.h. vorherige Hemmung von Triebenergie stellen den Dreh- und Angelpunkt der psychischen Sekundärfunktion dar. »Von diesem Standpunkt aus gesehen ist der Primärvorgang ein freies Abströmen der Erregungsquantitäten, der Sekundärvorgang eine Hemmung dieses Abströmens und eine Verwandlung in ruhende Besetzung [...].« (Ricoeur 1969/1974: 121) Dass er eine Beschreibung, wie die Speicherung von Triebquantitäten im Ich genau vor sich geht, schuldig bleibt, daran erinnert Freud selbst. Der Grund ist einfach: Er kann diese Vorgänge nicht beobachten. Aber da die Annahme einer Hemmung von Triebenergien für eine konstante Besetzung des Ichs ihm ermöglicht, andere psychische Phänomene zu verstehen und zu erklären, akzeptiert er diese Lücke als eine theoretische Notwendigkeit.41 Mit der zensierenden, prüfenden Differenzierungsleistung des Ichs, das sich eben damit von dem Geschehen des Es abhebt, beginnt die kulturtheoretisch relevante Psychoanalyse. Denn auch wenn Freud in der Hilflosigkeit des Neugeborenen einen biologischen Urquell moralischer Motive angelegt sieht, so ist moralisches Handeln im engeren Sinne ein Differenzierungsvorgang und eben dazu braucht es Kraft und Zeit, mit anderen Worten: Hemmungen. Wenn zum LustUnlust-Prinzip das Realitätsprinzip hinzu tritt, könnte (im Prinzip) alles relativ ruhig weiterlaufen, wenn, ja wenn da nicht diese Abkömmlinge wären. Man kann sie getrost als die Rebellen der Psyche bezeichnen; denn ihr Wesen eignet sich nicht dazu, in einem Ich-Zentrum still zu halten; sie lassen sich nicht auf einen Kompromiss mit der Wirklichkeit ein; sie können sich darauf nicht einlassen, denn sie sind einer anderen Agenda verpflichtet; einer, die jenseits des Lustprinzips geschrieben wurde; so dass diese Agenten weder mit dem Lust/Unlust40 »Es ist schwer, etwas über das Verhalten der Libido im Es und im Über-Ich auszusa gen. Alles, was wir darüber wissen, bezieht sich auf das Ich, in dem anfänglich der ganze verfügbare Betrag von Libido aufgespeichert ist. Wir nennen diesen Zustand den absoluten primären Narzissmus. Er hält so lange an, bis das Ich beginnt, die Vor stellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzisstische Libido in Objektlibido umzusetzen. Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden [...].« (Freud 1938/2009: 46) 41 Vgl. dazu Ricoeurs Abgrenzung der Psychoanalyse sowohl von der Logik der Beobachtungswissenschaft als auch von der Phänomenologie Husserlscher Prägung. »Freuds ganze Entdeckung liegt hierin: ›Das Seelenleben wird durch den Sinn defi niert, und dieser Sinn ist dynamisch und historisch‹.« (Ricoeur 1969/1974: 388)

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noch mit dem Realitätsprinzip richtig erfasst, geschweige denn zur Fassung gebracht werden können. Weil aber auch sie Sicherheit anbieten, allerdings eine von ganz anderer Art als die Triebe im Dienste des Ichs, stehen sie bis zu einem gewissen Grad zum Ich in Opposition. Das Konstanzprinzip funktioniert über diesen gewissen Punkt hinaus nicht, weil jenseits des Lustprinzips und dessen wirklichkeitsorientierter Verlängerung durch das Realitätsprinzip, noch etwas existenzielles Anderes den Menschen treibt. Das Triebgeschehen ist nicht nur eine paradoxe Struktur (bestehend aus biologischem Trieb und psychischer Triebrepräsentanz), sondern auch ein Prozess, der zwei Dynamiken zusammenschließt, die ebenfalls nicht ineinander aufgelöst werden können. Die Rede ist von dem gewaltigen triebhaften Hin und Her in uns zwischen Eros und Thanatos, das in den Blick rückt, wenn man zu der individuellen psychischen Entwicklung den phylogenetischen Entwicklungsaspekt der Psyche hinzunimmt. Damit tritt zur wesenhaften Konstanz die existenzielle Aufruhr. Gemeinsam verantworten sie die massive Triebdynamik, in die der Mensch hineingeboren wird. Weil ihre Rechnung bisher immer offen geblieben ist, bezeichnet Freud sie als Streit der Giganten 42. Neben dem Konstanzprinzip, könnte 42 »Da seine Annahme (der Todestriebs) wesentlich auf theoretischen Gründen ruht, muss man zugeben, dass sie auch gegen theoretische Einwendungen nicht voll gesichert ist. Aber so erscheint es uns eben jetzt beim gegenwärtigen Stand unserer Einsichten; zukünftige Forschung und Überlegung wird gewiss die entscheidende Klarheit bringen. Für alles Weitere stelle ich mich also auf den Standpunkt, dass die Ag gressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist, und komme darauf zurück, dass die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet. Irgendein mal im Laufe dieser Untersuchung hat sich uns die Einsicht aufgedrängt, die Kultur sei ein besonderer Prozess, der über die Menschheit abläuft, und wir stehen noch immer unter dem Banne dieser Idee. Wir fügen hinzu, sie sei ein Prozess im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle. Warum das geschehen müsse, wissen wir nicht; das sei eben das Werk des Eros. Diese Menschenmengen sollen libidinös aneinander gebunden werden; die Notwendigkeit allein, die Vorteile der Arbeitsgemeinschaft werden sie nicht zusammenhalten. Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen. Dieser Aggressionstrieb ist der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt. Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muss uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Men schenart vollzieht. Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und

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man sagen, tritt zugleich das Aufruhrprinzip in Kraft, das Freud so nicht mehr formuliert, das er aber in seinen Schriften angelegt hat, wenn er den Menschen als ein im wesentlichen von Innen bedrohtes Wesen 43 gekennzeichnet hat. Die Wirklichkeit ichgerecht zu zensieren und wahrzunehmen ist wahrlich keine leichte Aufgabe, eine wahre Kunst aber ist der Umgang mit jenen Dämonen, die (und haben wir nicht auch das immer schon gewusst!) in unserem Innersten sitzen. Welche Sicherheit könnten diese dämonischen Abkömmlinge zu bieten haben? Mit dieser Frage schlagen wir das, für mich faszinierendste Kapitel von Freuds Werk auf. Paul Ricoeur hat entscheidend dazu beigetragen, dass meine Faszination an Freuds wildem Denken nicht am Ödipuskomplex verebbt ist. Nichts anderes überzeugt mich so wenig an Freuds Theoriebildung wie der Ödipuskomplex. Wer da aber nicht mitgeht, hat ein Psychoanalyse-Problem. 44 Freuds Sinnstiftungen und Genealogien ziehen mich an während sie mich überzeugen, hier aber lässt mich etwas zurückschrecken. Freuds Schriften zu Kastrationsangst45 und Penisneid bleiben trotz (wegen?) ihrer hohen Beobachtungsdichte für mich auf eine Weise antiintuitiv, ja ich möchte sagen steril, wie ich es ansonsten bei der Freudlektüre nicht erlebe. Als ich realisierte, dass ich die Deklinationen seiner Ödipus-Beobachtungen beginne, auswendig zu lernen, weil ich sie mir trotz mehrfachem Studium nicht richtig merken kann, habe ich entschieden, Freud hier nicht zu folgen. Also habe ich ein echtes PsychoanalyseProblem. Denn wenn die Triebtheorie die erste Hürde darstellt, die man laut Freud unbedingt nehmen muss, um die Seele psychoanalytisch verstehen zu können, so ist der Ödipuskomplex die zweite – und an ihr bin ich gescheitert. darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart. Und diesen Streit der Giganten wollen unsere Kinderfrauen beschwichtigen mit dem ›Eiapopeia vom Himmel‹!« (Freud 1931/2010: 73) 43 »Wir dürfen also schließen, dass sie, die Triebe, und nicht die äußeren Reize, die ei gentlichen Motoren der Fortschritte sind, welche das so unendlich leistungsfähige Nervensystem auf seine gegenwärtige Entwicklungshöhe gebracht haben.« (Freud 1915/1975 a: 84) 44 »Man weiß, mit welchem Nachdruck Freud den inzestuösen Kern der Neurose behauptet: damit, so sagt er, steht oder fällt die Psychoanalyse.« (Ricoeur 1969/1974: 282) 45 Meine Skepsis bezüglich des Ödipuskomplexes wird nicht von Freuds mehr oder weniger dezentem Sexismus bei diesem Thema gespeist. Es liegt mir fern, mir das Ver gnügen eines spannenden Gedankens von kleinlichen Tendenzen welcher Art auch immer verderben zu lassen. Ich würde mich im Zweifelsfall politisch distanzieren. Es hat mich auch keine (feministische) Revision theoretisch überzeugt.

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Bis ich Paul Ricour gelesen habe und nach ihm noch einmal Freud. Es bleibt zwar dabei, dass ich mich von Freuds Vorstellungen zur individuellen ödipalen Entwicklung46 distanziere, aber Ricoeur hat mir einen Zugang darüber hinaus ermöglicht, so dass ich mittlerweile verstehen kann, warum Freud der Ödipuskomplex so wichtig war und was seinen Status als ein Herzstück der Psychoanalyse legitimiert. Es ist die transgenerationale Dimension, die Onto- und Phylogenese in eine Verbindung bringt, welche ihm seine fortdauernde intellektuelle Gültigkeit verschafft. Freud nutzt den Ödipusmythos, um die psychisch existenzielle Situation Mutter-Vater-Kind zu reflektieren und seine Theorie, die bis dahin um die individuelle psychische Entwicklung kreiste, zu einem universelleren Diskurs zu steigern. Das individuelle ödipale Drama, d.h. die jeweiligen triebhaften Bindungen an die primären Bezugspersonen und ihr Ausgang prägen die persönliche Libidoorganisation; für das Verständnis der psychischen Organisation als solcher hat dieses, im Einzelfall vielleicht auch spannende Drama, aber nicht mehr als Beispielcharakter. Die Prozesse, die ödipale Geschichte schreiben und die Strukturen, die transgenerational überdauern, gehen über das persönliche libidinöse Schicksal weit hinaus. Der Einbezug von mythologischem Material in die Theoriebildung zur menschlichen Psyche ist auf zweierlei Weise interessant. Zum einen, indem man analysieren kann, inwiefern sich der Inhalt eines Mythos in der Struktur der Psyche wiederfinden lässt und zum anderen, indem man aus der Tatsache an sich, dass der Mensch Mythen bildet, Rückschlüsse auf seine psychische Verfasstheit zieht. Freud hat über die Deutung von Träumen einen individuellen und mit der Interpretation von Mythen einen kollektiven Zugang und Weg gefunden, wie er die seelische Dynamik extrem weit aufschlüsseln kann. 47 Die Psychoanalyse ist

46 Die individuelle, klinische Deklination der ödipalen Situation muss sich, meiner Meinung nach, ohnehin an den Kindern ihrer Zeit orientieren; ich finde, sie täte gut daran, sich als der variabelste Teil des gesamten Komplexes auszugeben. 47 »Was aber macht das individuelle Geheimnis zu einem universellen und überdies ethi schem Schicksal, wenn nicht der Gang durch die Institution? Der Ödipuskomplex ist der geträumte Inzest; der Inzest aber ist ›antisozial – Kultur besteht in einem fort schreitenden Verzicht‹. Damit fällt die Verdrängung, die zur Geschichte des Wunsches in jeden Menschen gehört, mit einer der gewaltigsten Kulturinstitutionen zusammen, dem Inzestverbot. So ist durch Ödipus der große Konflikt der Kultur und der Triebe gesetzt [...]. [...] (Diese ödipale) Phantasie ist eine universelle, weil sie ›einen uralten Traumstoff‹ darstellt. Daher wird der Komplex für immer den Namen Mythos tragen, auch wenn die Psychoanalyse den Mythos durch die Traumphantasie zu erklären scheint; einzig der

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der Ethnologie ebenso verpflichtet wie der Neurologie, um nur zwei Disziplinen zu nennen, die Freud selbst wiederholt als Inspirationsquellen angegeben hat. Es steckt in seinem Namen, er ist ein komplexes Gebilde. Ich musste den Freud’schen Ödipuskomplex aus dessen politisch und standespolitisch stacheliger Umgebung zunächst einmal herausnehmen, um ihn mit einem freien Geist betrachten zu können und möchte die dadurch gewonnene Freiheit nutzen, um ihn eingangs mit einer Stadt zu vergleichen: Er hat eine inhomogene Struktur, zu der ganz wesentlich gehört, dass vergangene Zeiten sichtbar bleiben und die Gegenwart bedeutet. Er verändert sein Gesicht, er wächst und ist gleichzeitig der Erosion ausgesetzt. Frau/Man kann in ihm leben ohne seine Tragweite wahrzunehmen; man/frau kann ein Leben lang nur bestimmte Viertel davon kennen, so dass frau/man verleitet wird, zu glauben, diese Quartiere seien alles. Es ist als Bewohnerin/Bewohner nicht möglich, sich gänzlich rauszuziehen, auch wenn man/frau sich darin nicht wohl fühlen sollte. Frau/Man bleibt selbst darauf verwiesen, wenn frau/man daraus vertrieben werden sollte, so dass man/frau wie ein Fremder/eine Fremde auf ihn blickt, aus dem Exil. Frau/Man kann seine Abläufe mit der Zeit sehr gut kennen, man/frau kann sich blind darin zurechtfinden, seinen Platz darin finden, sich beheimaten. Man/Frau kann ihn nicht besitzen, frau/man kann nur an der sichtbaren Oberfläche, vermeintlich kontrollieren, was stattfindet. Niemand hat ein Hoheitsrecht, er kommt allen zu. Die Besitzverhältnisse ändern sich. Im Ödipuskomplex wird unser Wollen mit einer Struktur konfrontiert, die noch vor dem Wollen da war: das Sollen. Mit ihm bekommt ›Du sollst‹ eine innerpsychische Verankerung, wird zu einem neuen ›Ich will‹. Er ist so zentral, weil mit ihm die Regentschaft des Wunsches zu einer triebhaften Doppelspitze umformiert wird, indem er die persönliche Lust mit der unpersönlichen Qualität des Schicksals verbindet; oder anders weitergeführt, indem mit ihm nicht mehr nur das Leben eine Relevanz für die Seele bekommt, sondern auch der Tod. Die Fragen, die sich Freud stellte, nahmen also diese Richtung: Inwiefern können Mythen und ihre Symbole Aufschluss über die Struktur der Psyche geben? Freuds kulturtheoretische Schriften sind zum einen von der Annahme geprägt, dass Dramen, die wirklich stattgefunden haben und die der Mensch nicht einfach so verstoffwechseln konnte, dazu führen, dass man sie sich erzählt, mit anderen Worten, dass historische Ereignisse den Stoff von Mythen bilden. Er macht aber noch eine zweite Annahme und die ist genuin psychoanalytisch 48; in Mythos drückt dem Traume selbst den Stempel des ›Typischen‹ auf.« (Ricoeur 1969/1974: 200 und 202) 48 Hier ist die Stelle der Versöhnung mit dem Ödipuskomplex für mich. Diese Freudʼsche Sichtweise auf die wesenhafte Verwobenheit von individueller Psyche und kollektivem Schicksal als Mensch, finde ich einfach großartig.

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meinen Worten: Er denkt, dass es sich in die Struktur seiner Seele einschreibt, dass der Mensch in der Lage ist, Dinge zu tun, die so dramatisch sind, dass er sie selbst nicht verkraften kann. Man könnte auch sagen: Er geht davon aus, die Psyche reagiert strukturell auf die Zumutungen, die ihr aufgrund der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch aufgenötigt werden. Die Zerstörungskraft des Menschen nötigt ihm eine innere Struktur auf, die, sobald sie ihre Arbeit aufnimmt, dafür sorgt, dass es vorbei ist mit dem inneren Frieden. Konkret zieht Freud diesen Schluss: Solange die menschliche Seele sich nur in Es und Ich differenzierte, ließe sich das Leben, mit ein bisschen Geschrei, wenn die Spannung zu groß wird und ein bisschen Genuss, wenn die Spannung nachlässt, relativ ruhig in den eigenen Tod führen. Sobald sie sich aber zu der reflexiven Struktur entwickelt, die für den Menschen kennzeichnend ist, die Freud mit seinem zweiten topischen Modell als Es/Ich/Über-Ich-Struktur beschrieben hat, wird die innere Ruhe zu der schwierigsten aller seelischen Aufgaben. Dass Menschen weltweit dafür Kulturtechniken entwickelt haben, deren Anwendung in der Regel eine tägliche Praxis und ein ganzes Leben umfassen, um sie zu erlangen, ist ein Ausdruck von dem Ausmaß dieser Herausforderung. Da stellt sich doch die Frage, warum der Mensch in Anbetracht des Aufwands, den er dafür betreiben muss, überhaupt auf inneren Frieden aus ist? Er kann nicht anders. Denn Sex, Drugs and Rock’n’Roll sind tatsächlich nicht das einzige, wozu es den Menschen treibt. Wenn der Volksmund diese dunkle, verführerische, begehrlich-umtriebige Dynamik des Wunsches etwas verkürzt als seinen inneren Schweinehund bezeichnet, so hat er für die Dynamik des Sollens die Bezeichnung ›innere Stimme‹ reserviert. Ihr Klang ist ebenso tief, manchmal ertönt sie vielleicht eher mit einer Traurigkeit und ist dabei doch potenziell erhebend. Auf sie zu hören ist ebenfalls befriedigend. Und das gibt wirklich Anlass zu Hoffnung. Der Sound des Sollens transportiert eben nicht nur Verbote bezüglich alldem, was Spaß macht und Lust verschafft; sondern bringt vor allem auch eine zweite, eine eigene Stärke zu Gehör, die sich zu der Kraft, wild zu leben, gesellt und die sich völlig gegensätzlich äußert: in der Kraft zu verzichten. Worauf? Nein, letztlich eben nicht auf den Wunsch. Was ist essentieller als alles andere für die Beherrschung? Der Umgang mit Gewalt. Die zweite innere Stimme spricht zu uns über Gewalten. Zum Wunsch formuliert sie die Autorität. Der römische Vorläufer-Begriff von Autorität gibt Hinweise auf ihr Spektrum: auctorare bedeutet sich verpflichten; ein auctor ist jemand, der bürgt und vertritt; auctoritas meint Ansehen, Würde, Ermächtigung. Der Stoff des Ödipuskomplexes bildet sich aus den Dynamiken Sexualität und Gewalt. Geht es dem einen Trieb in uns um Befriedigung, so geht es dem anderen um Bemächtigung. Und das bedeutet vor allem eines: Er fordert uns zu einem Umgang mit unserer Gewalttätigkeit auf. Bereit für das Über-Ich?

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Freud beschäftigt sich in seinen kulturtheoretischen Schriften intensiv mit Geschichte und Geschichtsschreibung. Immer in Hinblick auf die Frage, inwiefern mit ihrer Hilfe Licht auf psychische Dynamiken geworfen werden kann. Er geht davon aus, dass die in Mythen beschriebenen Ereignisse in einem Zusammenhang stehen mit transgenerationalen psychischen Konstellationen; dass sie sich in diesem Sinne historisch ereignet haben und weiterhin ereignen. Er nimmt sich die Freiheit der Interpretation 49 und er nutzt sie für eine völlig andere Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Wahrheit und Realität als der gesunde Menschenverstand sie vornimmt: Ödipus for real!? Dieses Wenn (wenn Ödipus real wäre) fordert uns Freud auf zu denken. Er nimmt an, dass sich im Mythos ein Logos ausdrückt und dass der Logos sich seinerseits über seinen Bezug zur Wirklichkeit auszeichnet. »Durch diesen neuen, scheinbar wissenschaftlichen Mythos bricht Freud mit jeder Geschichtsanschauung [...]; die ethische Geschichte der Menschheit ist nicht Rationalisierung des Nützlichen, sondern die Rationalisierung eines ambivalenten, eines befreienden Ver brechens, das zugleich die ursprüngliche Wunde bleibt; eben dies bedeutet die Totem mahlzeit, zwiespältige Zelebrierung der Trauer und des Festes. Gleichzeitig taucht das Problem der Institution mit aller Kraft wieder auf; in mythischen Termini: wie konnte aus einem ›Vatermord‹ das Verbot des ›Brudermordes‹ entstehen?« (Ricoeur 1969/1974: 219)

Der psychische Prozess, der die Moral eines Menschen bildet, ist eine so sensible und brüchige Angelegenheit, weil er sich sekundär, als Reaktion auf ein brutales Verbrechen, etabliert und weil er aufrecht erhalten wird als anhaltendes Ringen mit der grundsätzlichen inneren Bereitschaft, gewalttätig zu sein. In mythologischem Gewand erscheint das Freud’sche Gewissen zunächst als dritte große Ich-Instanz neben der Bewusstseinszensur und der Realitätsprüfung. Seine archaische Herkunft lässt die moralische Funktion allerdings als einen selbstreferentiellen Mechanismus in Erscheinung treten. Das ist bemerkenswert: Während es die Zensur mit dem Trieb aufnimmt und die Prüfung mit der Wirk-

49 Auf diese für Freud charakteristische Freiheit des Geistes werde ich im zweiten Teil zurückkommen. An dieser Stelle soll ein Verweis auf den Beginn seiner Schrift ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹ genügen, in dem er darlegt, warum und wie ihm die Zusammenschau von historischen Fakten, Mythen und neurotischen Symptomen psychoanalytisch sinnvoll erscheint. Es geht ihm nicht darum, keinen Zweifel mehr zu haben. Es geht ihm darum, weiter denken zu können; weit über den gesunden Menschenverstand hinaus und diese Bewegung beginnt für ihn mit einem ›Wenn‹, welches er nicht aus den Augen verliert.

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lichkeit, muss das Gewissen mit sich selbst zurecht kommen und wird zum Über-Ich. Die Genese der Moralfunktion tritt an die Stelle der Begründung. »Es wäre also müßig, in der genetischen Erklärung eine Rechtfertigung des Obligatorischen als solchen, des Gültigen als solchen zu suchen: dieses ist gewissermaßen in der Kulturwelt gegeben. Die Erklärung umgrenzt lediglich das erste Phänomen der Autorität, ohne es wirklich zu erschöpfen. In diesem Sinne ist die Genesis der Moral, der Freudschen Psychoanalyse gemäß, nur eine Paragenese. Eben deshalb verweist sie ihrerseits, aufgrund ihres unendlichen Charakters, auf eine ökonomische Erklärung des Über-Ichs als einer Institution, die zum selben System gehört wie das Es.« (Ebd. 196) »Handelt es sich um eine psychologische Erklärung? Ja, wenn man berücksichtigt, dass der Ödipuskomplex die entscheidende Krise darstellt, aus der, kraft des berühmten Mechanismus der Identifizierung, die persönliche Struktur des Ichs hervorgeht. Doch diese Ontogenese des Über-Ichs [...] fordert auf der ihr eigenen historischen Ebene eine soziologische Erklärung: der Ödipuskomplex bringt die Institution der Familie und ganz allgemein das soziale Phänomen der Autorität ins Spiel; damit wird Freud von der Ontogenese auf die Phylogenese verwiesen, und er hofft, in der Institution des Inzestverbots und ganz allgemein der Institution als solcher das soziologische Pendant für den Ödipuskomplex zu finden.« (Ebd. 197)

Die Autorität bearbeitet den Wunsch gewissenhaft, der seinerseits verführerisch die Autorität bearbeitet. Jede kollektive Institution verlangt eine Anpassung vom Individuum, eine Adjustierung seines polymorph-perversen Genießens. Konflikte sind vorprogrammiert, was Freud als ›Unbehagen in der Kultur‹ zum Ausdruck bringt. Der Mensch profitiert nicht nur von der Kultur, er leidet auch an ihr. Der Ödipuskomplex bezeichnet eine Krise in die jeder Mensch auf die eine oder andere Weise gerät. Wenn das Inzesttabu auf die primäre Objektwahl trifft, erfährt nicht nur der Wunsch seine existenziellste Verwandlung, sondern auch die angelegte Bereitschaft, sich mit Gewalt Gehör zu verschaffen, muss adaptiert werden. Der Preis dafür ist hoch: Schmerz, Leid, Härte des Lebens. Sie gilt es hinzunehmen und zu verstoffwechseln. »Warum ist diese Krise wichtiger als die anderen, sogar so wichtig, dass Freud fast ausschließlich ihr den Eintritt in die Neurose wie den in die Kultur zuschreibt?« (Ebd. 206) »Was [...] der Inzestschranke eine in dieser harten Schulung des Wunsches und präziser in der Erziehung zur Objektwahl einmaligen Stellung verleiht, ist gerade ihre kulturelle Dimension.« (Ebd. 207) Mit der Überwindung der individuellen Krise, in die das zugleich anziehende wie gefürchtete Tabu den Menschen bringt, entwickelt sich die Psyche zu der Struktur, wie sie ab da den seelischen Prozess bestimmen wird. Mit der Entste-

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hung des Über-Ich wird, mythologisch formuliert, der Pakt mit dem Vater geschlossen; oder anders formuliert: Es wird spürbar, dass es neben dem Wunsch eine Autorität gibt. Auch der Gewinn ist hoch: Wenn sich diese Doppelspitze etabliert, ist das Individuum zugleich der schlimmsten individuellen Neurosenfalle (dem sekundären Narzissmus) ent-, wie in die kollektive Welt der Kultur und seiner archaischen Geschichte eingegangen. Interessiert man sich für die ethische Dimension der Psychoanalyse, fällt als erstes auf, dass sie nicht eindeutig, im Sinne von durch Freud gezielt herausgearbeitet, vorhanden ist. Er benutzt zwar den Begriff Gewissen und er schöpft die Begriffe Über-Ich und den noch aufzunehmenden Begriff des Ichideals 50, aber auch wenn Freud zunehmend eine klare Definition dieser Begrifflichkeiten entwickelt, so lässt sich durch sie allein keine Ethik der Psychoanalyse beschreiben. In Bezug auf die psychoanalytische Behandlungssituation formuliert und fordert Freud ein strenges Berufsethos; mit seinen bahnbrechenden Schriften zur psychosexuellen Entwicklung bietet er als Person seiner Gesellschaft eine politische Angriffsfläche, indem er das moralische Korsett seiner Zeit mit einem Ruck aufreißt. Freud selbst ist klar der Aufklärung verpflichtet. Er hat durchaus eine Vorstellung von einem guten Leben, aber die legt er ganz basal an, als Fähigkeit zu genießen, zu lieben und zu arbeiten. 51 Und auch wenn eine Zusammenschau die50 »Wie soll nun in der ökonomischen Bilanz, d.h. Als Lust-Unlustkosten, das Zusammentreffen des Wunsches mit seinem Anderen erscheinen? Die Metapsychologie formuliert dieses Problem folgender maßen: Wenn alle Triebenergie aus dem Es stammt, wie kann sich dieser Instinktkern ›differenzieren‹, d.h. seine Besetzungen gemäß dem Verbot anders verteilen? Diese Niederschrift der Autorität in die Geschichte des Wunsches, diese erworbene ›Differenz‹ des Wunsches ruft nach einer besonderen Se mantik: der Semantik der Ideale.« (Ricoeur 1969/1974: 489) »Es ist gewiss nicht gleichgültig, wenn man von der Psychoanalyse erfährt, dass die Idealbildung sich an das falsche Cogito knüpft; das, was wir unsere Ideale nennen, sind oftmals nichts anderes als Projektionen jener Eigenliebe, der wir an anderer Stelle den Widerstand gegen die Wahrheit zugeordnet haben; die Idealisierung im Freudʼschen Sinne nähert sich hierin Nietzsches Genealogie der Moral.« (Ebd. 502) 51 »So wie Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird man sich auch nie etwas anderes zum Ziel der Behandlung setzen als die praktische Genesung des Kranken, die Herstellung seiner Leistungs- und Genussfähigkeit. Bei unvollständiger Kur oder unvollkommenem Erfolge derselben erreicht man vor allem eine bedeutende Hebung des psychischen Allgemeinzustandes, während die Symptome, aber mit geminderter Bedeutung für den Kranken, fortbestehen können, ohne ihn zu einem Kranken zu stempeln.« (Freud 1904-1905/1999: 8)

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ser verstreuten Elemente eine Art Bild von der Ethik der Psychoanalyse ergibt, so bleibt festzustellen, dass sich Freud bei seiner Theoriebildung einfach nicht mit der Frage nach dem Guten beschäftigt hat. Dies hat sicher mehrere Gründe; wir wollen hier nur den theorieinternen Grund verfolgen, denn es hat auch zu tun mit der Entstehung der moralischen Funktion selbst, wie sie durch die Psychoanalyse beschrieben wird. »Zunächst bezeichnen sie (die verschiedenen Begriffe) überhaupt keine ursprüngliche Funktion: für die Psychoanalyse gibt es keine dem ethischen Phänomen eigene Intelligibilität; die Entstehung des Über-Ichs verstehen heißt, es selbst verstehen [...].« (Ebd. 193) »Indem die Analyse die moralische Wirklichkeit als eine konstituierte und sedimentierte Wirklichkeit a posteriori behandelt, durchbricht sie die Bequemlichkeit, die jeder Berufung auf das Apriori anhaftet.« (Ebd. 194) Auch Freud verzichtet also auf jede Form von moralischem Apriori. Wenn Freud Triebabkömmlingen später zuschreibt, dass sie phylogenetische Erwerbungen in sich tragen, so ist dies eine Hypothese, die er aufstellt, nachdem er die inhomogene Gesamtstruktur und vor allem die historische, transgenerationale Entstehungsgeschichte des Über-Ichs für sich erkannt hat. Die Psychoanalyse beschreibt durchaus etwas, das absolut auf die Moralentwicklung des Individuums einwirkt, aber dieses Element kann nur genealogisch, d.h. in seiner Wirkungsgeschichte verstanden werden. Es handelt sich um eben jene Es-Abkömmlinge, von denen zuvor schon die Rede war, die eine Spannung zur Ich-Funktion ergeben, weil auch sie beanspruchen, dem persönlichen Leben Sicherheit zu verschaffen. Diese Abkömmlinge sind auch der Grund für die ungeheure Energie, die dem Über-Ich zukommt und die man als moralischen Druck beobachten kann. Wenn die einen Prozesse Sicherheit herstellen, indem sie die polymorphe Libidostruktur so bahnen, dass sich die eigenen Wünsche bei ihrem Drang zur Erfüllung eine Zensur gefallen lassen und die Wirklichkeit mit in Rechnung stellen (Ich-Prozesse), dann sichern die Über-Ich-Prozesse das Individuum, indem sie das Inzesttabu spürbar machen. Freud geht also davon aus, dass der Mensch in seiner psychischen Entwicklung auf eine Art Gebot-Wissen zurückgreifen kann, welches er, anders als das bewusstseinsfähige Wissen, das im Zusammenhang mit den Ich-Prozessen entsteht, nicht selbst erworben hat; welches er, heute würde man sagen, in seinen Anlagen als phylogenetisches Erbe mitgeliefert bekommt. Dieses, in jenen Abkömmlingen unbewusst vorhandene, archaische Wissen sichert das wichtigste zwischenmenschliche Tabu energetisch ab. Das Tabu ist nichts anderes als die innere Stimme des Sollens, die anzeigt, dass es besser ist, eine Grenze zu beachten und auf eine gewaltsame Durchsetzung zu verzichten. (Inzest-)Tabu steht für Autorität.

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Warum belässt es Freud nicht dabei, warum verzichtet er nicht auf seinen schwer verdaulichen Gedanken des historischen Vatermords, der in menschlicher Urzeit durch eine Schar seiner Söhne stattgefunden haben soll? Den sie nicht nur getötet, sondern auch gemeinsam verspeist haben sollen? Warum ist es Freud so wichtig, dass der Öpipusmythos von einem tatsächlich stattgefundenen Verbrechen gespeist wird? Wäre es nicht ebenso nachvollziehbar, dass die Vaterfigur zu einem ersten Totem der Menschheit wird, weil ein Ur-Anführer den Clan mit weisen Entscheidungen und/oder einem siegreichen Kampf vor einer Gefahr gerettet hat? Dass die spätere Tötung (sei es durch Feinde oder Unfall) dieses, zu einer guten Verarbeitung der Realitätszeichen und Einteilung seiner Kräfte fähigen Alphatiers, dessen Stärke und Bereitschaft, Gewalt einzusetzen, um Mitglieder des Clans zu schützen, dazu geführt hat, dass die Urhorde verloren zurückgeblieben ist und beschlossen hat, von da an seinem Wesen, seinen Vorgaben und Werten zu folgen; dass seine Tötung deshalb tabu ist? Weil es selbstschädigend wäre? Grausam und dumm, einen guten Menschen aus kleinlichen, gierigen oder verbohrten Motiven zu töten? Es fällt mir leider nicht schwer, nachzuvollziehen, dass Freud eine bösartige Grausamkeit für mindestens genauso wahrscheinlich hielt als die Variante: Und sie folgten ihm und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Aber da gibt es noch einen ganz anderen, einen psychologisch starken Grund, einen Mythos heranzuziehen und eine Geschichte zu erfinden über die Menschheit – wohlgemerkt nicht irgendeine, sondern die Geschichte über die Entstehung des Menschen als Kulturwesen, über die Anfänge der seelischen Struktur, mit der wir es heute noch zu tun haben. Eine Geschichte die genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist wie die von Adam und Eva. Es ist abertausendfach aufgeschrieben worden und steht somit außer Frage, dass der Mensch am Wahrnehmungs-Verständnis des Bösen zu jeder Zeit scheitert. Freud hat sich nun aber nicht nur mit überlieferter Geschichte und Mythen, die vom seelischen Ringen des Menschen berichten, beschäftigt, sondern er hat dieses Ringen auch in seiner Praxis zu behandeln versucht. Dabei ist er an einem Phänomen rund um den Topos des Bösen hängen geblieben: Der Mensch macht sich nicht nur wirklich unbegreiflich schuldig bzw. ihm kann nicht nur tatsächlich unwiedergutmachbar Böses angetan werden, sondern er kann auch ernsthaft psychisch am Bösen erkranken ohne, dass er sich tatsächlich schuldig gemacht hätte und ohne, dass ihm selbst etwas widerfahren wäre. Und er beobachtet, dass es gar nicht selten ist, dass der Mensch auf diese unökonomische Weise mit seiner Fähigkeit zu leiden umgeht. Es sind Pathologien rund um das Schuldgefühl für die Freud nach einer Erklärung sucht. Er schreibt: »Wir sehen bei ihm (dem Melancholiker), wie sich ein Teil des Ichs dem anderen gegenüberstellt, es kritisch wertet, es gleichsam zum Objekt nimmt. [...] Was wir hier kennen

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lernen, ist die gewöhnlich Gewissen genannte Instanz; wir werden sie mit der Bewusst seinszensur und der Realitätsprüfung zu den großen Ichinstitutionen rechnen und irgend wo auch die Beweise dafür finden, dass sie für sich allein erkranken kann.« (Freud 1917/1975 b: 201)

Dem Schuldgefühl ist Freud also schon in ›Trauer und Melancholie‹ auf der Spur. Hier differenziert er die gesunde Trauerarbeit von der pathologischen Melancholie. Bei der Trauerarbeit, die auf einen wirklich stattfindenden Verlust folgt, muss der Mensch all seine Kraft zusammen nehmen, um seine Libidobesetzung umzuorganisieren. Eine Kraft, die ihm durch die Bindung der Energie in den Ich-Prozessen hoffentlich zur Verfügung steht, die in der akuten Trauerzeit deshalb aber nur mehr sehr bedingt für den Einsatz der ansonsten konstant ablaufenden Ich-Funktionen zur Verfügung steht. Es wird als veränderter Normalzustand verstanden, dass ein Mensch in Trauer sich nicht mehr so wie sonst kontrollieren kann und die Wirklichkeit mit anderen Augen sieht. Beides gilt auch für das melancholische Verarbeitungsmuster, welches nicht aufgrund der aussetzenden Ich-Funktionen als pathologisch eingestuft wird, sondern aufgrund der hinzukommenden, krank machenden Selbsteinschätzung. »Der Melancholiker aber fügt diesen Zügen noch etwas entscheidendes hinzu: die Herabsetzung des Selbstgefühls, und diese Herabsetzung paart sich mit einer mitleidlosen Selbstkritik, die uns ein weiteres Mal an die problematische Schwelle des Über-Ichs führt: die beobachtende und kritisierende Instanz ist in der Tat die Grundlage des Gewissens .« (Ricoeur 1969/1974: 140)

Freud erkennt, dass die Ökonomie des Schmerzes Bedürfnislage und Repertoire eines Menschen verändert. Er beobachtet, mit meinen Worten ausgedrückt, folgendes: Wer den hohen Preis, den Schmerz bedeutet, mit gedeckten Mitteln bezahlt, d.h. wessen psychisches System so strukturiert ist, dass er trauern kann, der darf auf Besserung hoffen, für ihn gilt: Zeit heilt Wunden. Wer jedoch keine Kraft für Trauer zur Verfügung hat, mit anderen Worten, wessen Ich-Struktur zu energielos ist, der handelt sich statt einer Bewältigung eine Strukturveränderung ein. Die ist weniger kraftaufwendig, mit ihr kann dafür aber auch nicht mehr das volle seelische Potenzial, wie es einer kräftigen Struktur zur Verfügung steht, ausgeschöpft werden. Wenn das Ich keine Fähigkeit zu handeln hat, kann es sich, als letzten Ausweg, der Libido als Objekt anbieten. Diesmal nur billiger Ersatz, der in Kauf genommen wird, weil er so bitter nötig ist, führt dieser Schritt zum sekundären Narzissmus dazu, dass das Ich fälschlicherweise den vollen Support der Sexualtriebe erhält, sich der Mensch quasi in sich selbst verliebt und das eigene Ich für so großartig hält wie er es sonst nur mit Objekten tut, die ihm

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Befriedigung verschaffen. Alternativ dazu kann sich das Ich auch die volle Aufmerksamkeit der zum Über-Ich verwandelten phylogenetischen Abkömmlinge einhandeln. Beiden Schicksalen gemeinsam ist das Fehlen jeden Zweifels. So wie die Narzisstin vollkommen überzeugt ist, das Maß aller Dinge zu sein, so ist der Melancholiker nicht davon abzubringen, ein wertloses Nichts zu sein. Die Wirklichkeit wird für beide zu einer strukturellen Bedrohung und das Ansinnen nach Wahrhaftigkeit geht ihnen gemeinsam mit der Ausrichtung auf Wahrheit verloren. Das Phänomen der Schuld und dessen Potenzial zum Auftauchen wie ein Phönix aus der Asche, sind für Freud das psychologische Motiv für seine gedankliche Reise in das mythologische Kulturgut. Den narzisstischen Widerstand gegen Bewusstwerdung hat Freud in seiner Praxis als erstes Haupthindernis erlebt, welches einer Heilung im Weg stehen kann. Dem fügt er später das Schuldgefühl hinzu. Auch wenn die praktische Psychoanalyse (im Prinzip) prädestiniert ist, bei Pathologien, welche die Über-Ich-Struktur betreffen, heilend zu wirken: »Man kann sagen, dass der Psychoanalytiker für den Patienten das Realitätsprinzip in Fleisch und Tat darstellt. Er stellt es aber nur insofern dar, als er keine Urteile und Vor schriften erlässt: dieser Verzicht auf jegliche Moralpredigt, dieses analytische Unbeteiligtsein könnte zunächst auf einen Mangel an Ethik deuten; es erhält jedoch einen tieferen Sinn, wenn man es in das Feld des Gegensatzes zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip stellt; das Über-Ich attackiert den Menschen als ein Lustwesen, aber es mutet ihm zuviel zu und kann seine Exzesse nur hinter der narzisstischen Befriedigung verbergen, die es dem Ich zu bieten hat, der Befriedigung, sich für besser halten zu dürfen als die anderen; der Blick des Analytikers dagegen ist der für die Realität geschulte und der Innenwelt zu gewandte Blick. Die Epoché des wertbezogenen Sprechens wird damit zum grundlegenden Schritt der Selbsterkenntnis; dank ihrer wird das Realitätsprinzip zur Regel der Bewusstwerdung. Ist also jede Ethik aufgegeben? Der Analytiker weiß, besser als irgend jemand sonst, dass sich der Mensch immer in der ethischen Situation befindet; er setzt es bei jedem Schritt voraus; was er über Ödipus sagt, bescheinigt dem Menschen mit Nachdruck das moralische Schicksal; doch angesichts der Schludrigkeit des Gewissens und dessen Komplizen schaft mit dem Todestrieb schlägt das Realitätsprinzip vor, an die Stelle der Verurteilung den neutralen Blick zu setzen. Damit öffnet sich eine Lichtung der Wahrhaftigkeit, wo die Lüge der Ideale und Idole ans Tageslicht kommt und ihre finstere Rolle in der Strategie des Wunsches entlarvt wird. Diese Wahrhaftigkeit ist zweifellos nicht die ganze Ethik. Zumindest aber ist sie die Schwelle.« (Ebd. 288)

Bleibt ein Begriff übrig, mit dem wir uns noch beschäftigen müssen, um zu einer Einschätzung zu kommen, ob das psychoanalytische Gewissen tatsächlich ohne

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Moral, im Sinne der Unterscheidung von gut und böse, funktioniert oder nicht. Allerdings wahrlich nicht irgend einer, sondern ein gewaltiger: der Todestrieb. Die Frage ist, ob die seelische Struktur der Moralität in der Funktion als Autori tät ausgeschöpft ist? Dient sie ausschließlich dazu, das Tabu von Inzest und Gewalttätigkeit zu sichern? Bedeutet Gewissen nur Schuldgefühl und Umgang damit? Ist der Mensch so auf Trost angewiesen, weil ihn seine historische Schuld in ein Joch spannt? Ist die sogenannte reife, genitale Libidoorganisation Ausdruck der nachträglichen Reue und des sekundären Gehorsams? Liegt in dieser Last der Grund, warum Mensch zu Religion neigt? 52 Warum er Brüderlichkeit predigt, die Einhaltung des Brüderpaktes akribisch verfolgt und sich bereit macht, im Namen Gottes, seinem Totem, einen, der kein Bruder ist, zu töten? 53 Die letzte Frage dieses ersten Teils, möchte ich deshalb auch in dieser Variante stellen: Ist ein Mensch, der über ein ethos verfügt, nur dem Gewissen verpflichtet?

52 Es ist schon interessant: Religionen bieten dem Menschen eine Lösung an, bezüglich zwei seiner ursprünglichsten Themen, die Freud auch in der Psychoanalyse herausgearbeitet hat. Die Wunscherfüllung und die Autorität. Göttinnen als allmächtige Objekte können nicht nur endlos geliebt werden, sie können auch selbst lieben, trösten und von Schuld befreien. Und sie bieten darüber hinaus eine Erzählung über den Tod. Mehr geht nicht. Um sich diese Illusion, wie Freud die Religion bezeichnet, zu sichern, ist der Mensch zu so manchen Zugeständnissen bereit; zumindest behauptet er das. Überprüft kann das sowenig werden wie Gott selbst. Muss es aber auch nicht, denn die Unbeweisbarkeit, d.h. eine relative Unabhängigkeit von der Wirklichkeit ist ein gemeinsames Merkmal von Illusion und Wahrheit. Götter überzeugen mich genau wie Wahrheit deshalb nur als gelebte Praxis. Man sollte sich wahrlich kein Abbild machen. Wie sähe die Welt wohl aus, wenn sich alle Menschen hüten würden, vor Berufungen (nicht vor Anrufungen) und Gesprächen über (nicht mit) Gott jenseits der eigenen Praxis? 53 »Indem der Todestrieb dergestalt auf der Ebene des Über-Ichs auftaucht, enthüllt er mit einem Schlage das Ausmaß (der) Reinkultur des Todestriebs [...]: zwischen einem mörderischen Es und einem tyrannischen und ebenso tödlichen Gewissen eingekeilt, scheint es, als habe das Ich keinen anderen Ausweg als sich selbst zu quälen oder die anderen zu quälen, indem es seine Aggression gegen diese richtet. Daher das Paradox: ›Je mehr ein Mensch seine Aggression meistert, desto mehr steigert sich die Aggressionsneigung seines Ideals gegen sein Ich‹ – so als könnte die Aggression nur gegen den anderen abgewendet oder gegen sich selbst gekehrt werden. Die religiöse Fortset zung dieser ethischen Grausamkeit in der Projektion eines unerbittlichen, strafenden höheren Wesens leuchtet unmittelbar ein.« (Ricoeur 1969/1974: 307)

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Seine Idee zum Todestrieb konnte Sigmund Freud nicht mehr systematisch ausarbeiten. Seine Gedanken dazu bleiben fragmentarisch und in dem für seine Arbeitsweise typischen Kreisen, bevor er eine Linie zieht. Er kommt hier nicht mehr über eine Skizze hinaus; es ist sein eigener Tod, der ihn davon abhält. Seine Fragmente sind aber zu wichtig, abermals eine Revision des gesamten Gebäudes einläutend und vor allem auch zu interessant, als dass man diese Denkfigur an den Rand drängen sollte: Thanatos. Wieder bietet Paul Ricoeur einen Zugang an. Er sagte, das Gewissen stehe in einer Komplizenschaft zum Todestrieb. Inwiefern? Das gilt es zu verstehen. Freuds bisherige Überlegungen zum menschlichen Triebgeschehen waren geprägt von einer wohlwollenden Neutralität. Sexualtriebe und Ichtriebe wetteifern zwar miteinander, ihre Dynamik kann zwar durchaus hochproblematische, pathologische Strukturen hervorbringen, aber am Ende des Tages stehen die bisher von Freud analysierten triebhaften Prozesse unter der Überschrift: WILL LEBEN! Es deutet nichts darauf hin, dass es noch eine andere psychische Ausrichtung gibt als die, gesund zu bleiben und gut zu leben. An einem gewissen Punkt seines eigenen Lebens und Werkes aber, kam ihm diese Haltung wohl nicht mehr ausreichend vor, um alle seelischen Vorgänge damit erklären zu können. Namentlich die menschliche Brutalität und Grausamkeit. Es ist brutal und grausam, wenn Söhne ihren Vater erschlagen und verspeisen; aber wer wüsste das nicht: Das Ich ist schwach, das Leben ist hart 54. Zumindest die Rebellion gegen Herrschaft erscheint nachvollziehbar, ist per se nichts Schlechtes; auch dass die Söhne ihre eigene Tat anschließend doch als so schlimmes Verbrechen empfinden, dass ihre Schuldgefühle den potenziellen Triumph verleiden und sie daraus die Konsequenz ziehen, Ähnliches soll nie mehr geschehen, zeugt von einer positiven Haltung. Zumindest haben sich unsere UrAhnen nicht vor ihrer Tat versteckt. Im Gegenteil, sie haben ein Mahnmal errichtet, den toten Vater zum Totem des Clans erhoben, um nachfolgende Generationen vor diesem Trauma zu bewahren. Sie haben uns zwar die archaische Schuld beschert, aber auch einen Weg, damit umzugehen; sie haben erstmals 54 »Ich-Sein heißt, seine Rolle behaupten, Herr seiner Handlungen sein, dominieren. Der Neurotiker ist im wesentlichen derjenige, der ›nicht Herr im eigenen Hause‹ ist. [...] Das Bemerkenswerteste und auf den ersten Blick Verwirrendste jedoch ist etwas an deres: nicht nur der Neurotiker ist nicht Herr in seinem Haus, sondern vor allem der moralische, der ethische Mensch. Das Verdienst einer jeden psychoanalytischen Forschung hinsichtlich des moralischen Phänomens besteht darin, dass die Beziehung des Menschen zur Pflicht zunächst in einer Situation der Schwäche, der Nicht-Herrschaft beschrieben wird. Hier ist die Nachbarschaft von Freud und Nietzsche natürlich offenkundig.« (Ricoeur 1969/1974: 192)

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psychische Strukturen entwickelt, die über das Ich hinaus gehen. Das Über-Ich, das Freud als die innere Stimme charakterisiert, die bereit ist, »[...] die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen [...]« 55, die das menschliche Schicksal als ein ethisches Schicksal erkennt. Das Verbrechen der Brüder unserer Ur-Horde, welches im Ödipusmythos 56 aufgegriffen wird, setzt die ethische Geschichte des Menschen als und in seiner ganzen Ambivalenz in Gang. Vergessen wir nicht, es handelt sich um den Tod einer ersten großen Liebe, deren omnipotente Besetzung jedes Kind aufgefordert ist, aufzugeben. Der Mythos erlaubt einen kollektiven Blick auf ein Drama, das alle individuell durchmachen. Der Trauerprozess, den der geforderte Libido-Abzug von den Eltern auslöst, ist schmerzhaft. Gleichzeitig entwickelt sich aber auch ein tröstender Prozess. Verlust des Objekts bedeutet zugleich Gewinn einer neuen seelischen Struktur. Es entsteht das Ich-Ideal. Das ist Ambivalenz pur! 57 Eine Struktur, die trösten kann, über einen Verlust, der seinerseits der Anlass dafür ist, dass sich die Struktur überhaupt erst entwickelt. Identifizierung und diese Ideal-Bildung beschreibt Freud als den ersten Prozess und die erste Struktur, die im Verlauf der ontogenetischen Differenzierung des Es das Über-Ich entstehen lassen.58 55 Freud 1900/1977: 447. 56 In beiden Geschichten gehört zum Inzesttabu auch noch die Verhandlung des Geset zes der Exogamie. Vgl. »[...] Die entscheidenden Fragen sind die nach Herkunft der Totemabstammung, nach der Motivierung der Exogamie (respektive des durch sie vertretenen Inzesttabu) und nach der Beziehung zwischen den beiden, der Totemorganisation und dem Inzestverbot.« (Freud 1912-1913/2007: 160) 57 »Wir haben so oft Gelegenheit gehabt, die Gefühlsambivalenz im eigentlichen Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und Hass gegen dasselbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen aufzuzeigen. Wir wissen nichts über die Herkunft dieser Ambivalenz. Man kann die Annahme machen, dass sie ein fundamentales Phänomen unseres Gefühlslebens sei. Aber auch die andere Möglichkeit scheint mir wohl beachtenswert, dass sie, dem Gefühlsleben ursprünglich fremd, von der Menschheit an dem Vaterkomplex erworben wurde, wo die psychoanalytische Erforschung des Einzelmenschen heute noch ihre stärkste Ausprägung nachweist.« (Freud 1912-1913/2007: 212) 58 »Die Arbeit über den Narzissmus ist in dieser Hinsicht den Schriften aus der Zeit von 1929 bis 1940 erstaunlich weit voraus und kündigt die Umgestaltungen der Topik gemäß einer neuen Reihe an: Ich - Es - Über-Ich. [...] (Dort) führt er nämlich den wichti gen Gedanken ein, dass die Idealbildung durch Verschiebung des Narzissmus vor sich gehe.« (Ricoeur 1969/1974: 138)

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Wenn man annimmt, dass Prozess und Struktur ein gemeinsames Phänomen sind, zwei Aspekte, je unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, und wenn man noch einmal in Erwägung zieht, dass Freud psychische Lokalitäten benennt, um seelische Dynamiken zu beschreiben, kann man sich das Ausmaß der Ambivalenz zwischen Liebe und Grausamkeit gut vorstellen. Diese Kräfte sind so gewaltig, dass die Seele diffizile Strukturen für sie entwickeln muss. Man kann die Ambivalenz zwischen Liebe und Grausamkeit konkret und strukturell beschreiben, indem man sagt, das Ich-Ideal wird abwechselnd zur Quelle von Freude und Leid, je nachdem wie die Beurteilung des tatsächlichen Ich durch das Über-Ich ausfällt.59 Und man kann diese Ambivalenz abstrakt beschreiben, als inkonsistenten psychischen Aktivierungsprozess, als inkonstante Bewegung zwischen den Optionen zu prozessieren, als hin- und her Springen zwischen Verarbeitungsmöglichkeiten der Welterscheinungen inklusive sich selbst. Kurz, das Prinzip WILL LEBEN ist selbst keineswegs ein einfaches, gradliniges. Zu leben ist von Haus aus dämonisch; ich nehme an, dass Freud der Dynamik des Lebens deshalb den Namen eines Dämonen gab, Eros. Die volle Verwirrungs- (und Akzeptanz-)möglichkeit bezüglich des menschlichen Daseins eröffnet sich aber erst durch die Annahme eines zusätzlichen Prinzips, das lautet: WILL STERBEN. Neustart. Zurück auf Null. Konstanzprinzip, neu laden. Wirklich? Ja. Das ist Freud. Noch einmal fangen wir ganz von vorne an. Das Tolle ist, mit jedem erneuten Gang können wir mehr sehen. Wir betrachten den selben Begriff, aber er bleibt nicht der gleiche. Wir haben Konstanz als vorrangiges seelisches Prinzip zuerst angesehen unter diesem Gesichtspunkt: Eine hohe negative Amplitude ist unlustvoll; dann unter dem Aspekt: lustvolle und notwendige Spannung. Nun richten wir noch einmal einen völlig neuen Blick auf die Art, wie sich Konstanz herstellt: »Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen, nur zwei Grundtriebe anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb. (Der Gegensatz von Selbsterhaltungsund Arterhaltungstrieb sowie der andere von Ichlibido und Objektlibido fällt noch inner halb des Eros.) Das Ziel der ersteres ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu 59 Dass Freud den Narzissmus mit der Idealbildung kurzschließt markiert Ricoeur als wichtigen Gedanken, auch weil dadurch »[...] das Ideal, an dem das Subjekt sein aktuelles Ich misst, von der Libidotheorie bewältigt werden kann, und zwar mittels des Narzissmus. [...] Dank dieser Komplizenschaft zwischen dem, was uns der Gipfel des Egoismus zu sein scheint, und der Verehrung eines Ideals, vor dem das Ich zurückweicht, tritt das Ideal selbst in die Bilanz der Triebverschiebung ein« (Ricoeur 1969/1974: 138).

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erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, dass als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen. Wir heissen ihn darum auch Todestrieb. Wenn wir annehmen, dass das Lebende später als das Leblose gekommen und aus ihm entstanden ist, so fügt sich der Todestrieb der erwähnten Formel, dass ein Trieb die Rückkehr zu einem früheren Zustand anstrebt.« (Freud 1938/2009: 45)

Wir werfen alle bisherigen Prinzipen über Bord, bzw. wir lassen sie schon gelten, aber eben nur im Wirkungsbereich von Eros. Lust- und Realitätsprinzip, die unter seinem Einfluss stehen, helfen die einzelnen Elemente des Lebenstriebs zu verstehen, mit ihnen entwickelt Freud topische Modelle, mit ihnen lassen sich Tiefenstrukturen, d.h. Ausschnitte der psychischen Dynamik beschreiben. Am Ende seines Lebens wagt Freud es – in Analogie zu physikalischen Vorstellungen ausgedrückt – von der Beschreibung der einzelnen Periode zur Beobachtung der gesamten Schwingung überzugehen. Wieder zieht ihn zunächst ein Prinzip dorthin: die Wiederholung. »Dass wir als die herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung erkannten (das Nirwanaprinzip nach einem Ausdruck von Barbara Low), wie es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben. Als empfindliche Störung unseres Gedankens verspüren wir es aber noch immer, dass wir gerade für den Sexualtrieb jenen Charakter eines Wiederholungszwanges nicht nachweisen können, der uns zuerst zur Aufspürung der Todestriebe führte.« (Freud 1920/1975: 264)

Mit dem Topos der Wiederholung macht Freud den ersten Schritt, die RaumZeit-Dimension des Eros zu verlassen. Nicht mehr die Gestalten der Gegenwart, mit all ihren libidinösen Bezügen zu Vergangenheit und Zukunft sind dabei zentral, sondern die ewige Wiederkehr, die Unendlichkeit als gleichbleibende Wiederholung: fort/da60. Mit Luhmann könnte man sagen, im Zentrum des WiederHolens wirkt ein binärer Code. 60 Vgl. die Beobachtung und Freudʼsche Beschreibung des Kinderspiels mit der Spule; die, ohne dass dieser Vorgang an Faszination für das Kind verlieren würde, endlos weggerollt wird und aus dem Sichtfeld verschwindet (Oh!), nur um sogleich wieder geholt zu werden (Ah!), nur um sogleich wieder weggerollt zu werden, nur um so gleich wieder... .

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Vielleicht gibt dieser binäre Code den Impuls für die Autopoiesis des psychischen Lebens; vielleicht ist eine erste Unterbrechung der Konstanz der Anlass, auf den die Amplitude mit Spannung gewartet hat, um sich zeigen zu können; vielleicht könnte man dabei bleiben, dieses paradoxe Verhältnis eines Vorhers zur Unendlichkeit, göttlich zu nennen? Psychoanalytisch lässt sich das jedenfalls so ausdrücken: Das Prinzip der Wiederholung ist kein herkömmlicher Ausdruck des Lebens, das seinerseits dafür antritt, sich immer weiter zu entwickeln und zu differenzieren. Vielmehr macht es Sinn, das Spiel zwischen Abwesenheit und Anwesenheit als Ausdruck des Todes zu begreifen; insbesondere das generative Moment der Abwesenheit als Voraussetzung für jegliche Positivität. Die Tragweite der Dynamik zwischen Positivität und Negativität kann in einer Zusammenschau des Prinzips der Wiederholung mit dem Begriff der Destruktion nicht gänzlich gefasst werden; es entsteht aber ein nachhaltiger erster Eindruck vom Todestrieb. Zerstörung und Beendigung sind wichtige Elemente der Negativität. Die Beobachtung destruktiver Aggressivität, die sich als Pathologie sadistisch und masochistisch geben kann, die sich als tyrannisches Über-Ich verfestigen kann und so entweder das eigene Ich oder andere Menschen quält, lässt sich einerseits noch als Ausdruck des Lebens sehen, führt aber auf der anderen Seite mit dem Motiv der Auslöschung 61 den Tod ein. Die Spielarten des Eros sind (lustvolle, wirklichkeitsbezogene, grausame, gehorsame, mit einem Wort: ambivalente) Variationen der Positivität, die in ihrer Gesamtheit in einem Bezug zur Negativität stehen. Dieser Bezug kann wahrgenommen werden. Freud selbst beschreibt solche Phänomene von An- und Abwesenheit; allerdings (ich denke, da ihm die Zeit zu einer weiteren Ausarbeitung schlicht fehlte) nicht mehr durch eine konsequente Anwendung seiner radikalen Idee zum Todestrieb revidiert, sondern noch fast ausschließlich mit den Begrifflichkeiten und Prinzipien des Eros: das endlose Wiederholen auf individueller Ebene mit dem Fort/Da-Spiel der Kinder. Der archaische Vatermord, die anschließende Verbrüderung und Totemisierung des Clanlebens als phylogenetischer Anlass für Wiederholung. Auf beiden Ebenen geht es um existenzielle Verlassenheit und den Umgang damit. Diese Abwesenheiten an-/erkennend ist der Mensch aufgefordert, sein Schicksal, im Leben, selbst in die Hand zu nehmen. Da es die höchste Anforderung bedeutet, die existenzielle Spannung zwischen Negativität und Positivität, zwischen Leben und Tod, zu ertragen, hat die Menschheit diffizile psychische Systeme und eine ganze Reihe von sozialen Funktionssystemen dafür entwickelt. In der Psychoanalyse ist der Mensch dabei erst einmal weder ein produktives noch ein destruktives Wesen, sondern mit ihr kann man die Aufmerk61 Vgl. ›Auslöschung. Ein Zerfall‹ von Thomas Bernhard, der darüber sagt, dass dieser Herkunfts-Bericht von ihm nur dazu da ist, das darin Beschriebene auszulöschen.

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samkeit auf die Frage richten, wie psychische Strukturen entstehen, die Gutes und Böses hervorbringen.62 Freud siedelt Richter und Henker gemeinsam, in der Struktur des Über-Ich, an. Reicht es aber aus (gerichtete und/oder wiederhergestellte) Unschuld gleichzusetzen mit einem guten Leben? Dafür spricht die Beobachtung, dass der Mensch als Kulturwesen zumeist unbefriedigt bleibt, dass es ihm nicht gelingt, dauerhaft glücklich zu sein.63 Das könnte man so interpretieren: Weil der Mensch nicht unschuldig bleibt, kann er auch nicht einfach ein gutes Leben führen. Unschuld wäre toll, ist aber nicht realistisch. Dafür spricht auch die Existenz der alten Hexen, des Mephistopheles und all der anderen schuldhaften Teufelsgestalten, die seit jeher das Böse vertreten; die sich regelmäßig in einen Reigen einfinden und gemeinsam ausrufen:

62 »Der Vorteil eines Gedankens, der zunächst den originären Charakter des ethischen Ichs verwirft, besteht darin, dass er die Aufmerksamkeit auf den Vorgang der Verinnerlichung lenkt, durch den das, was uns äußerlich war, innerlich wird. [...] Gewiss, indem Freud den originären Charakter des ethischen Problems verwirft, kann er der Moralität nur als Erniedrigung des Wunsches begegnen, als Verbot und nicht als Bestreben; doch die Begrenzung des Standpunktes ist der Preis seiner Kohärenz: wenn das ethische Problem sich zuerst in einer Wunde des Wunsches preisgibt, unterliegt es einer allgemeinen Erotik, und das Ich, seinen verschiedenen Herren unterworfen, fällt wiederum in eine von der Ökonomik abhängige Interpretation.« (Ricoeur 1969/1974: 195) 63 »Die eigentlich ökonomische Bedeutung jener Kulturfunktion wird sichtbar, wenn man sie zu einem anderen, Freud vertrauten Motiv in Beziehung setzt, dem der Härte des Lebens. [...] Doch die Härte des Lebens ist wiederum nur ein anderer Name für die Schwäche des Ichs in seiner ersten Situation der Abhängigkeit angesichts seiner drei Herren: Es, Über-Ich, Realität; die Härte des Lebens ist dieses anfängliche Primat der Angst. Dieser dreifachen Angst – Realangst, neurotische Angst, Gewissensangst – fügt DAS UNBEHAGEN IN DER KULTUR noch einen weiteren Zug hinzu: der Mensch ist ein grundlegend ›unzufriedenes‹ Wesen, weil er nicht das Glück narzisstisch realisieren und zugleich die historische Aufgabe der Kultur erfüllen kann, die seine Aggressivität in Schach hält; daher ist der Mensch, als in seinem Schuldgefühl bedroht, so auf Trost erpicht. Diesem Verlangen kommt die Kultur entgegen. Das neue Gesicht, das sie dem Individuum zeigt, ist nicht mehr das des Verbots, sondern das des Schutzes; und dieses wohlwollende Gesicht ist das der Religion. Damit unterscheidet sich die Religion in ökonomischer wie in deskriptiver Hinsicht von der Moral.« (Ricoeur 1969/1974: 259)

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Sie können es nicht lassen, auf Unschuld zu hoffen! Sie wollen uns nicht fassen, das macht uns sehr betroffen! Haha, hurra, der Mensch will unschuldig leben!? Hurra, haha, das wird es niemals geben! Freud hat dieses Hexengelächter auf jenen oft zitierten Punkt gebracht: »Das gern verleugnete Stück Wahrheit hinter alldem, ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebesbedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn es angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigungen rechnen darf... Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern, zu töten. Homo homini lupus; wer hat, nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?« (Freud 1931/2010: 61)

Heißt das nun, der Mensch taugt einfach nicht zu einem guten Leben? Ricoeur hat eine gemein gute Antwort darauf parat. Naja, er taugte schon, es ist halt einfach so, dass nur die Wenigsten die unpersönliche Qualität des Schicksals zu erfassen vermögen.64 Es gäbe wohl eine elaborierte Haltung, mit den Schmerzen, dem Leid und der Härte des Lebens umzugehen: Man könnte eigenes Leid niemand anderem in die Schuhe schieben, nicht einmal dem Schicksal, es stattdessen als Schicksal auf- und anzunehmen. Doch wer kann von sich behaupten, dass sie dazu in der Lage ist? Also stimmt es? Das gute Leben ist eine Illusion!? Nehmen wir das letzte Mittel noch einmal zur Hand, den Begriff des Todestriebs; vielleicht können wir mit ihm wenigstens einen Blick auf die Schicksalhaftigkeit von Aufruhr und Ruhe, von Schuld und Sühne, von Eros und Thanatos erhaschen. »Sollen wir dem Wink des Dichterphilosophen (Freud bezieht sich hier auf die Idee Platos vom Kugelmenschen und seiner Teilung in zwei Hälften, die ein Streben zueinander erzeugt hat) folgend, die Annahme wagen, dass die lebende Substanz bei ihrer Belebung in 64 »(Das) Über-Ich ist der ›Vertreter des Es‹. Diese libidinöse Bindung kann sich unend lich weit ausdehnen, je nachdem das elterliche ›Imago‹ durch immer entferntere und immer unpersönlichere Gestalten ersetzt wird, bis hin zur dunklen Macht des Schicksals, welches nur wenige Menschen ganz unpersönlich zu erfassen vermögen.« (Ricoeur 1969/1974: 308)

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kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben? Dass diese Triebe, in denen sich die chemische Affinität der unbelebten Materie fortsetzt, durch das Reich der Protisten hindurch allmählich die Schwierigkeiten überwinden, welche eine mit lebensgefährlichen Reizen geladene Umgebung diesem Streben entgegensetzt, die sie zur Bildung einer schützenden Rindenschicht nötigt? Dass diese zersprengten Teilchen lebender Substanz so die Vielzelligkeit erreichen und endlich den Keimzellen den Trieb zur Wiedervereinigung in höchster Konzentration übertragen? Ich glaube, es ist hier die Stelle, abzubrechen.« (Freud 1920/1975: 267)

Freud bricht ab und fügt hinzu, dass er sich nicht klar darüber ist, welche Bedeutung er solchen Überlegungen geben soll. Dann schreibt er allerdings weiter: »Ich verkenne nicht, dass der dritte Schritt in der Triebtheorie, den ich hier unternehme, nicht dieselbe Sicherheit beanspruchen kann wie die beiden früheren, die Erweiterung des Begriffs der Sexualität und die Aufstellung des Narzissmus. Diese Neuerungen waren di rekte Übersetzungen der Beobachtungen in Theorie [...]. Die Behauptung des regressiven Charakters der Triebe ruht allerdings auch auf beobachtbarem Material, nämlich auf den Tatsachen des Wiederholungszwanges. Allein vielleicht habe ich deren Bedeutung überschätzt. Die Durchführung dieser Idee ist jedenfalls nicht anders möglich, als dass man mehrmals nacheinander Tatsächliches mit bloß Erdachtem kombiniert und sich dabei weit von der Beobachtung entfernt.« (Ebd. 267)

In einer Fußnote versucht Freud, so gut es ihm möglich ist, Klarheit zu schaffen: »Was ›Sexualtriebe‹ sind, wussten wir aus ihrer Beziehung zu den Geschlechtern und zur Fortpflanzungsfunktion. Wir behielten dann diesen Namen bei, als wir durch die Ergebnisse der Psychoanalyse genötigt waren, deren Beziehung zur Fortpflanzung zu lockern. Mit der Aufstellung der narzisstischen Libido und der Ausdehnung des Libidobegriffes auf die einzelne Zelle wandelte sich uns der Sexualtrieb zum Eros, der die Teile der lebenden Substanz zueinanderzudrängen und zusammenzuhalten sucht, und die gemeinhin sogenannten Sexualtriebe erscheinen als der dem Objekt zugewandte Anteil des Eros. Die Spekulation lässt dann diesen Eros vom Anfang des Lebens an wirken und als ›Lebenstrieb‹ in Gegensatz zum ›Todestrieb‹ treten, der durch die Belebung des Anorganischen entstan den ist. Sie versucht das Rätsel des Lebens durch die Annahme dieser beiden von Uran fang an miteinander ringenden Triebe zu lösen. Unübersichtlicher ist vielleicht die Wandlung, die der Begriff der ›Ichtriebe‹ erfahren hat. Ursprünglich nannten wir so alle jene von uns nicht näher gekannten Triebrichtungen, die sich von den auf das Objekt gerichteten Sexualtrieben abscheiden lassen, und brachten die Ichtriebe in Gegensatz zu den Se xualtrieben, deren Ausdruck die Libido ist. Späterhin näherten wir uns der Analyse des Ichs und erkannten, dass auch ein Teil der ›Ichtriebe‹ libidinöser Natur ist, das eigene Ich

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zum Objekt genommen hat. Diese narzisstischen Selbsterhaltungstriebe mussten also jetzt den libidinösen Sexualtrieben zugerechnet werden. Der Gegensatz zwischen Ich- und Sexualtrieben wandelte sich in den zwischen Ich- und Objekttrieben, beide libidinöser Natur. An seine Stelle aber trat ein neuer Gegensatz zwischen libidinösen (Ich- und Objekt-) Trieben und anderen, die im Ich zu statuieren und vielleicht in den Destruktionstrieben aufzuzeigen sind. Die Spekulation wandelte diesen Gegensatz in den von Lebenstrieb (Eros) und von Todestrieb um.« (Ebd. 269)

In der Zusammenschau von Eros’ Libido und ihrem Thanatos-Pendant könnte, ja müsste man jetzt beginnen, die gesamte Dynamik der Triebbesetzungen einer weiteren Revision zu unterziehen. Ein Unternehmen, das Freud nicht mehr zu Ende bringen konnte. Dass dies nötig sei, war für ihn klar. Nicht einfach, aber unumgänglich: »Die Annahme des Todes- oder Destruktionstriebes hat selbst in analytischen Kreisen Widerstand gefunden; ich weiß, dass vielfach die Neigung besteht, alles, was an der Liebe gefährlich und feindselig gefunden wird, lieber einer ursprünglichen Bipolarität ihres eigenen Wesens zuzuschreiben. Ich hatte die hier entwickelten Auffassungen anfangs nur versuchsweise vertreten, aber im Laufe der Zeit haben sie eine solche Macht über mich ge wonnen, dass ich nicht mehr anders denken kann. Ich meine, sie sind theoretisch ungleich brauchbarer als alle möglichen anderen, sie stellen jene Vereinfachung ohne Vernachlässigung oder Vergewaltigung der Tatsachen her, nach der wir in der wissenschaftlichen Arbeit streben. Ich erkenne, dass wir im Sadismus und Masochismus die stark mit Erotik legierten Äußerungen des nach außen und nach innen gerichteten Destruktionstriebes immer vor uns gesehen haben, aber ich verstehe nicht mehr, dass wir die Ubiquität der nicht ero tischen Aggression und Destruktion übersehen und versäumen konnten, ihr die gebührende Stellung in der Deutung des Lebens einzuräumen.« (Freud 1931/2010: 69)

Wir könnten nur vermuten, wie Freud seine Gedanken hier weitergetrieben hätte. Ein solches Unterfangen erscheint mir aber schon im Ansatz sinnlos und damit vollkommen unbefriedigend. Ricoeur hat in seinem Werk ›Die Interpretation‹ mit der Frage nach der Hermeneutik der Psychoanalyse ihre epistemologische Legitimität in dem Bezug zwischen Hermeneutik und Energetik herausgearbeitet. Wen die Welt umtreibt, den interessiert eine Theorie, auch wenn sie noch so komplex und spannend ist (und man deshalb zwischendrin ein originäres Interesse an einer bestimmten Denkerin entwickeln kann), im Grunde vor allem in Bezug auf ihren Wert, mit ihrer Hilfe das, woran man selbst an der Welt leidet, was man nicht begreifen kann, einer weiteren Analyserunde unterziehen zu können. Die Weise, wie Freud in seinem Werk Inhalt und Methode, voneinander untrennbar, einführt und entwickelt, sie gemeinsam analysiert und anwendet, verhilft der

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Psychoanalyse zu ihrem Status als Episteme und Techne.65 Freud war ein Bricoleur ersten Ranges. Statt Vermutungen darüber anzustellen, wie Freud sein Werk weiter entwickelt hätte, legt sein Schaffen deshalb einen anderen Weg nahe: seine energetischen, topischen und ökonomischen Gedanken sammeln und ohne das Gebäude abzureißen und neue Grundsteine zu legen; daran weiterbasteln; in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die man vorfindet. Wenn nötig jeden Stein noch einmal in die Hand nehmen, wenn sinnvoll, neue Begriffe einführen. Das jedenfalls hat Freud getan. Er hat einfach nicht aufgehört, Ideen aufzusammeln, sie in seine Arbeit aufzunehmen und sein Werk immer weiter zu wandeln. Es ist auch deshalb so faszinierend geworden, weil er neue Fundstücke nicht einfach hinten angehängt hat, sondern sich alles, was zum Zeitpunkt einer Neuigkeit schon vorhanden war, noch einmal aus der dadurch veränderten Perspektive angesehen hat und dann erst entschieden hat, welchen Platz es bekommt. Wenn es ein zentraler war, hat er sich nicht gescheut, umzuarbeiten. Alles. Der Wiederholungszwang war so ein Fundstück. Er schreibt darüber: »Den nächsten Schritt machte ich in Jenseits des Lustprinzips, als mir der Wiederholungszwang und der konservative Charakter des Trieblebens zuerst auffiel. Ausgehend von Spekulationen über den Anfang des Lebens und von biologischen Parallelen zog ich den Schluss, es müsse außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammen-zufassen, einen anderen, ihm gegensätzlichen geben, der diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen strebe. Also außer dem Eros einen Todestrieb; aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken dieser beiden ließen sich die Phänomene des Lebens erklären. Nun war es nicht leicht, die Tätigkeit dieses angenommenen Todestriebs aufzuzeigen. Die Äußerungen des Eros waren auffällig und geräuschvoll genug; man konnte annehmen, dass der Todestrieb stumm im Inneren des Lebewesens an dessen Auflösung arbeite, aber das war natürlich kein Nachweis. Weiter führte die Idee, dass sich ein Anteil des Triebes gegen die Außen welt wende und dann als Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein komme. Der Trieb würde so selbst in den Dienst des Eros gezwängt, indem das Lebewesen ande res, Belebtes wie Unbelebtes, anstatt seines eigenen Selbst vernichtete. Umgekehrt würde die Einschränkung dieser Aggression nach außen die ohnehin immer vor sich gehende 65 Diese beiden Begriffe benutze ich hier im Rückbezug auf Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik Episteme (Wissenschaft) und Techne (Herstellungswissen) als zwei von fünf Vernunfttugenden benannt hat, mit deren Hilfe »[...] die Seele durch Beja hung und Verneinung die Wahrheit trifft [...].«; die anderen drei sind Phronesis (Klugheit), Sophia (Weisheit) und Nous (intuitives Denken). Dazu schreibt er: »Vermutung (Hypolepsis) und Meinung (Doxa) schliessen wir nicht ein, weil bei ihnen Täuschung möglich ist« (Aristoteles, NE: 197).

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Selbstzerstörung steigern müssen. Gleichzeitig konnte man aus diesem Beispiel erraten, dass die beiden Triebarten selten – vielleicht niemals – voneinander isoliert auftreten, son dern sich in verschiedenen, sehr wechselnden Mengungsverhältnissen miteinander legieren und dadurch unserem Urteil unkenntlich machen.« (Ebd. 68)

Destruktionskraft und der endlose Rhythmus der Wiederholung sowie die Betrachtung des Strebens nach Konstanz als Drang in die (an)organische Ruhe der Unbelebtheit zurück zu kehren, eröffnen die psychoanalytische Beschreibungsmöglichkeiten des Todestriebs. Sein Bestreben verweist mit der Bezeichnung Nirwanaprinzip auf die todesimmanente Stille und damit auf eine neutralisierende Qualität. An dieser Stelle kann man sich fragen, welche stillen, neutralisierenden Phänomene noch aufzunehmen wären, welche das sein und wie man sie erfassen könnte, um Thanatos eine vergleichbare Tiefenschärfe zu verleihen, wie es Freud zu Lebzeiten mit Eros getan hat. Einen ersten weiteren Schritt hat Freud noch angedeutet in einem kurzen, extrem dichten Text, in dem er über die Funktion des Urteilens nachdenkt. Das Phänomen der Verneinung fesselt seine Aufmerksamkeit, umso mehr, als er dem Unbewussten die Fähigkeit zwischen Bejahung und Verneinung zu wählen, ja eigentlich einmal abgesprochen hat. »Das Studium des Urteils eröffnet uns vielleicht zum ersten mal die Einsicht in die Entste hung einer intellektuellen Funktion aus dem Spiel der primären Triebregungen. Das Urteilen ist die zweckmäßige Fortentwicklung der ursprünglich nach dem Lustprinzip erfolgten Einbeziehung ins Ich oder Ausstossung aus dem Ich. Seine Polarität scheint der Gegen sätzlichkeit der beiden von uns angenommenen Triebgruppen zu entsprechen. [...] Die allgemeine Verneinungslust, der Negativismus mancher Psychotiker ist wahrscheinlich als Anzeichen der Triebentmischung durch Abzug der libidinösen Komponenten zu verstehen. Die Leistung der Urteilsfunktion wird aber erst dadurch ermöglicht, dass die Schöpfung des Verneinungssymbols dem Denken einen ersten Grad von Unabhängigkeit von den Erfolgen der Verdrängung und somit auch vom Zwang des Lustprinzips gestattet hat.« (Freud 1925/1975 b: 376)

Mit der Ausweitung seines Triebkonzeptes zu einem dualistischen, mehr noch, zu einem paradoxen, hat Freud der Nachwelt nicht nur ein Werk, sondern auch eine Werkstatt hinterlassen; ein Atelier voller Materialen und Gerätschaften, ein Labor mitsamt der Ingredienzien, die für weitere psychoanalytische Forschungen Anlass geben. Ricoeur ist einer, der sich hineinbegeben hat, in die psychoanalytische Werkstatt, der die Materialen einer eigenen Prüfung unterzogen hat. Zur Verneinung schreibt er:

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»[...] [Das] Bewusstsein impliziert die Verneinung; es impliziert sie im Bewusstwerden seines eigenen vergrabenen Reichtums und impliziert sie in der Erkenntnis des Realen. Er staunlich ist nicht, dass diese Verneinung durch Ersetzung des Todestriebs entsteht, sondern vielmehr umgekehrt, dass der Todestrieb durch eine so bedeutsame Funktion repräsentiert wird, die nicht mit dem Destruktionstrieb zu tun hat, sondern im Gegenteil mit der spielerischen Symbolisierung, der ästhetischen Schöpfung und schließlich der Realitätsprüfung selbst. Diese Entdeckung genügt, die gesamte Analyse der Triebrepräsentanzen wieder in Fluss zu bringen. Der Todestrieb schließt sich nicht über dem Destruktionstrieb, der, so sagten wir, Lärm ist; vielleicht öffnet er sich auf andere Aspekte der ›Arbeit des Negativen‹, die stumm bleiben wie er selbst.« (Ricoeur 1969/1974: 325)

Freuds konsequente Unvollendung fordert auf, weiter zu fragen. Zum Beispiel in Richtung einer psychoanalytischen Differenzierungsmöglichkeit zwischen Wirklichkeit und Realität zu denken. Weiter zwischen Lärm und Stille zu differenzieren. Ich frage mich, welche anderen archaischen Materialen sich einbeziehen lassen, wenn die Ur-Verdrängung jetzt auch phylo- bzw. protogenetisch, d.h. in dem neuen Licht der Auslösung des Organischen aus dem Unorganischen, gesehen werden kann? Wenn der Trieb nun auch in seiner Autopoiesis begriffen werden kann, als Spannkraft zwischen Leben und Tod, als Doppelsinn Leben-Sterben, ändert das etwas an der Hermeneutik der Psychoanalyse? Ich frage mich, was sich in einem neuen Licht betrachten lässt, wenn es gelänge noch weitere Prinzipen, Prozesse und Strukturen des Thanatos zu heben? Das hieße, Deutungen zu finden für den Tod. Das hieße, den Charakter der Unausweichlichkeit, des Drängens, den Freud als Wunsch für Eros herausgearbeitet hat, in Bezug auf Thanatos zu verstehen. Ich möchte hier den ersten Teil abschließen mit einem psychoanalytischen Blick auf die Unterscheidung von Wirklichkeit und Wahrheit und das paradoxe Drehmoment zwischen beiden. Das Ich als Struktur des Eros leistet einen wichtigen Beitrag zum guten Leben, wenn es dafür sorgt, dass der psychische Prozess einigermaßen reibungslos, d.h. als Teil der Wirklichkeit läuft. Ich glaube aber, wir sind schlecht beraten, ihm eine Rolle in Bezug auf Wahrheit zuzuschreiben oder eine Funktion wie die Unterscheidung in gut und böse aufzubürden. Ich glaube, wenn wir das tun, kommen wir zu dem Punkt, dass die Banalität des Bösen 66 nachvollziehbar wird, aber nicht darüber hinaus. Da uns allerdings das Es und das Über-Ich, unter Eros’ Regentschaft betrachtet, auch nicht weiter gebracht haben als bis zur Regulierung des Wunsches durch Gewaltverzicht, bleibe ich auf der Suche. Die libidinöse Kraft von Es und Über-Ich wirken bei der Entste66 Vgl. Hannah Arendt.

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hungsgeschichte der Psyche mit. So macht es für mich guten Sinn, Wunschgeschehen und Gewalt als Aufhänger zur Entwicklung einer ethischen Haltung zu nehmen. Wodurch aber wird ein ethos teleologisch? Wohin richtet er sich aus? Wie wird der Aufgabencharakter von Wahrheit in Gang gesetzt? Könnte hier Thanatos in seiner Andersgerichtetheit Eros ergänzen? Wir müssten uns fragen, was ein Pendant zum erotischen Wunsch und dem Verzicht, diesen gewaltsam durchzusetzen sein könnte? Ricoeur bringt zuletzt den Nutzen ins Spiel. »Der korrigierende Wert des Nutzens wird manifest, sobald man davon ausgeht, dass der Wunsch eine unerschöpfliche Phantasiequelle und die Triebfeder für Illusionen ist: der Wunsch mystifiziert; das Realitätsprinzip ist der entmystifizierende Wunsch; das Aufgeben der archaischen Objekte äußert sich nun in der Einübung des Zweifels, in der Bewegung der Desillusionierung, im Tod der Idole.« (Ebd. 283)

Die Illusion bringt uns jedenfalls keine Ruhe. Und auch keine Zukunft. Ihre Herkunft im Wunsch und auch die auf sie bezogene, elaborierte Bewegung der Desillusionierung bleibt eine libidinöse, rückwärtsgerichtete Angelegenheit. 67 Wahrlich, man müsste alles auf Null setzen können! Aber wer sagt eigentlich, dass das gar nicht geht? Wovon könnte man sprechen, wenn nicht Eros, sondern auch Thanatos zu Wort käme? Kann Thanatos wirklich nicht sprechen? Wäre das Blanke nicht ein guter Ausgangspunkt für eine direkte Rede? Und ist es nicht vollkommen einleuchtend, dass der Todestrieb vorwärts gerichtet ist, auf das Ende, die Leere? Können wir uns ein ethos vorstellen, das nicht nur darin besteht, etwas nicht (wieder) zu tun, sondern auch darin, etwas Unfassbares anzu67 »Im Bereich der sexuellen Libido liefert die Reziprozität der Beziehung zu einem komplementären und ähnlichen Partner sowie die Unterwerfung des Individuums unter die Gattung das Kriterium für die Vorherrschaft des Realitätsprinzips. Der Haupt beitrag der Psychoanalyse in dieser Hinsicht ist, gezeigt zu haben, dass diese Eroberung der komplexesten Organisation schwierig und ungewiss ist, und zwar nicht aufgrund eines Defekts der sozialen Konditionierung, sondern aufgrund einer strukturellen Notwendigkeit; das unterscheidet Freud von allen Kulturkritikern, welche die Schwierigkeit des Lebens auf die Umstände des sozialen Milieus zurückführen wollen. Für Freud sind die verschiedenen Stufen der Sexualität hartnäckig und schwer ›aufzugeben‹; der Weg der Realität ist mit verlorenen Objekten gesäumt; das erste von ihnen ist die mütterliche Brust; sogar der Autoerotismus ist teilweise mit dem verlorenen Objekt verknüpft: Daher hat die ›Objektwahl‹ einen sogleich prospektiven und sehnsüchtigen Charakter: ›Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung‹. Für die Libido liegt die Zukunft rückwärts, im ›verlorenen Glück‹.« (Ricoeur 1969/1974: 281)

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streben? Etwas Wahres zu tun? Etwas Reales, etwas jenseits von gut und böse und deshalb Ethisches? Etwas, das den Menschen nicht nur von Schuld befreit, sondern ihn von da aus zu einem freien Geist werden lässt? Triebhaft, böse und schön?

B

WANDELN

6

Paradox, total!

Nach dieser Sammlung von Gedanken blicke ich auf meine Problemstellung zurück. Ich möchte verstehen, warum es schwer fällt, – jenseits des eigenen – über das gute Leben miteinander zu sprechen. Genügen die Angesichter von Pluralität und Kontingenz, um über das Gute zu verstummen? Wieso aber gilt nicht dasselbe für das Böse? Warum kann das Böse den gesellschaftlichen Diskurs augenscheinlich problemlos dominieren? Warum wird ihm nicht auch zum Vorwurf gemacht, dass es ja an und für sich gar nicht existiert? Und wie kann es sein, dass im Kleinen alle relativ genau zu wissen scheinen, wie es geht und was gut ist? Warum lässt sich daraus scheinbar nichts für das Wesen des Guten ableiten? Wieso existiert das Gute nur mehr partikulär, fast schon als Geheimnis? Wieso bietet es keinen gemeinsamen Schutz mehr, keine allgemeine Ausrichtung, während das Böse sich seinen gesellschaftlichen Platz, in Form allgegenwärtiger Angst, als universelle Bedrohung immer wieder sichern kann? In der Zusammenschau der im ersten Teil gesammelten Positionen, lässt sich diese Problematik in eine neue Fassung bringen. Es ist nun möglich die Ausgangslage spezifischer zu analysieren. Jetzt wird es darum gehen, den Topos des guten Lebens aus seiner Naivität zu heben und ihn sich noch einmal neu ausbreiten zu lassen, in seiner Potenz zur Reflexion. Dabei ist ein spezielles Interesse bei mir entstanden, an der Kraft, die sich im Zuge moralischen Eiferns freisetzt; die dabei verlorengeht; an ihrer Dynamik in Bezug auf Schuld und in Bezug auf Stille. An der direkten Rede bleibe ich interessiert. Auch ich möchte mit der Revision noch einmal ganz zurück zum Ausgangspunkt gehen. Der Blick auf die Welt bringt jetzt folgendes zu Tage: Nicht 1001 Wahrheiten dringen an unser Ohr (wie schade eigentlich); es sind nur 1001 inszenierte Wirklichkeiten; 1001 Reality Shows rasseln in unseren Hörkanälen. Und auch die Moral wird gerade nicht in der Form der Potenzialität von Kontingenz sichtbar, sondern sie ist dabei, in partikulären Strukturen zu versanden und so das moralische Geschick zu trüben. Statt des Guten lassen sich perverse He-

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donismen beobachten. Dass es kein Tabu mehr in unserer Gesellschaft gibt, scheint zu stimmen. Die unzerstörbare Kraft des Wunsches hat offensichtlich alle Dämme niedergerissen und an der Stelle der Autorität finden sich Pappkameraden. Mit Tröte und Papierhut werden die Menschen gefangen wie die Ratten. Diese im Außen beobachtbare Wirklichkeit lässt sich jetzt in der ihr korrelierenden psychischen Dramatik verstehen: als ein nivelliertes Triebgeschehen, als ungehemmte Wunschdynamik und fehlender Bezug zu der Instanz des Gewissens; in letzter Konsequenz als Einbuße an Triebkraft. Der Mensch taumelt. Das Tabu als phylogenetische Erwerbung, mit seiner Strahlkraft des Schuldgefühls, welches sich als Struktur in Form des Gewissens etablieren sollte, ist einer Kultur des ›Alles ist möglich und ich kann nichts dafür!‹ zum Opfer gefallen. Moral ohne Gewissen. Wenn die Autorität auf diese Weise fällt, kann die Schuld, die man als Mensch hat, nicht mehr prozessiert werden. Eine Welt, die aufgehört hat, Tabus gemeinsam zu akzeptieren und die Gewalttätigkeit als Mittel zur Durchsetzung partikulärer Interessen öffentlich erprobt, bedroht den Menschen nicht nur physisch, sondern bringt ihn insbesondere auch psychisch unter Druck. Es scheint fast so, als wäre die Überforderung des Menschen mit der Welt, in der er lebt, so groß, dass sein psychischer Apparat, anstatt sich mit den neuen Anforderungen weiter zu entwickeln, Struktureinbußen auf sich nehmen muss. Es scheint fast so, als hätte die Seele keine Aussicht auf Bewältigung des wirklichen Wahnsinns, den sie zur Verarbeitung von außen geliefert bekommt, so dass ihr (analog dazu, wie wir es im Falle des sekundären Narzissmus gesehen haben) wieder nichts anderes übrig bleibt, als den Preis dafür mit einer dysfunktionalen Strukturveränderung zu bezahlen.1 Diese Hypothese lässt sich so spezifizieren: Der Mensch ist seelisch gnadenlos überfordert mit all den Tabubrüchen und Gewaltexzessen. Man kann annehmen, dass starke, d.h. besonders stabile und äußerst bewegliche seelische Strukturen dafür vermutlich noch Mittel und Wege des Prozessierens finden können. Man kann beobachten, dass der Aspekt der Abstinenz (d.h. zum Beispiel gezielter Verzicht auf die Zuführung von gewalttätigen Nachrichten, von Kommunikationskanälen insgesamt sowie von Bewerbung und den zugehörigen Produkten, die der Mensch nicht braucht) dabei eine wich1

Luhmann kommt zu dem gleichen Schluss, von dem aus er eine ganz ähnliche Frage stellung eröffnet, die er in der innerhalb seines soziologisch-systemtheoretischen Denkgebäudes so formuliert: »Wir haben es schlicht damit zu tun, dass die moderne Gesellschaft, psychisch gesehen, eine Zumutung ist, der nicht über Konditionierung von Achtung und Missachtung abgeholfen werden kann. Und soziologisch heißt dies, dass man fragen müsste, wie und in welchem Möglichkeitsraum eine Gesellschaft evoluieren kann, die ihrer psychischen Umwelt derartiges aufbürdet.« (Luhmann 2008 a: 344)

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tige Rolle spielt. Ansonsten scheint die brutale Wirklichkeit die Ich-Funktion so in ihren Bann zu schlagen, dass viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, über die normalerweise vorhandenen Ich-Funktionen (Wahrnehmung, Verarbeitung der Sinnesreize, Erinnern, Denken und gezieltes Handeln) frei zu verfügen. Vor allem aber scheint immer häufiger das Über-Ich über so einem Ich zusammen zu klappen. Gewissen ohne Moral. Es scheint so, als würde die unentrinnbare Verbundenheit des Individuums mit seiner brutalen kollektiven Geschichte erneut, gerade wie es der Mythos von dem Trauma des getöteten Vaters über den Beginn einer neuen Sozialordnung erzählt, zu einem psychischen Problem. Denn was ist passiert? Mit Freuds Ursprungsmythos zur Menschheitsgeschichte lässt sich die massive Verunsicherung, die sich derzeit weltweit ausbreitet, folgendermaßen in Worte fassen: Es wurde der Pakt unter den Brüdern gebrochen. Gerade diejenige Verbindlichkeit, die einmal dazu führte, dass sich die Autorität zum Wunsch gesellte; diejenige Bindung, die dem Menschen neben seiner Lust, seine Würde sicherte. Man kann es deutlich sehen: Die Menschheit erlebt ihr nächstes kollektives Trauma. Sie tötet ihre Brüder und Schwestern. Wie sie da wieder rauskommen soll, bleibt einstweilen ungewiss. Für diese existenzielle Verlorenheit sind noch keine psychischen Prozesse erprobt; es fehlt dem Menschen noch an Strukturen zur Bewältigung. Das ÜberIch als ambivalente Instanz zum Umgang mit Liebe und Gewalt ist mit der Neuformulierung der Lage in Hass und Gewalt überfordert. Denn während der getötete Vater ja auch geliebt wurde, so dass der Mord an ihm die nachträgliche Reue mit sich zog, d.h. dem Menschen deutlich machte, dass die Welt eine ethische Herausforderung ist und dass es unbedingt gilt, einen Umgang mit ambivalenten Gefühlen und Gedanken zu finden, werden die heute gemordeten Brüder und Schwestern von Anfang an gehasst. Wenn Liebe und Mord zu Schuld, Sühne, Tabu und Autorität führen, wozu führen dann Hass und Mord? Was passiert mit dem Gewissen ohne Ambivalenz? Wohin entwickelt sich das Ich-Ideal, wenn nicht mehr die Geschichte von Ödipus, sondern die von Kain zunehmend treffender die Libidoorganisation metaphorisch beschreiben kann? Schon sind die ersten pathologischen Umformierungen deutlich wahrnehmbar. Zwei Varianten sind dominant. Zum einen lässt sich beobachten, dass Menschen, jede Form von Autorität als schlecht bekämpfen. Diese dysfunktionale Strategie lässt sich als Hass auf das Ich-Ideal denken. Zum anderen kann man die Pathologie des bedingungslosen Gehorsams beobachten; an Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, die Ambivalenz von Macht und ihre konstante Gefährdung, sich in Herrschaft zu verwandeln, zu begreifen; Menschen, die Herrschaft geradezu idealisieren und anstreben, d.h. natürlich zumeist in Form der Gefolgschaft von neuen Herrscherfiguren, die sich ihrerseits nicht mehr scheuen, ihre Brutalität und Bereitschaft zur Gewalttätigkeit zu zeigen. Es gibt ein Wort

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für diese Art von Herrschaft, die wieder öffentlich vertreten wird: Diktatur. Psychisch ließe sich diese Pathologie als Totalisierung des Ich-Ideals beschreiben. Noch gibt es vielleicht eine Mehrheit dazwischen. Menschen, die vor allem verwirrt sind, die nicht mehr wissen, was sie wollen sollen. Noch entsteht für viele vor allem der unbestimmte Eindruck, dass etwas mit der Welt gravierend nicht stimmt. Noch sagen viele: Die Welt ist aus den Fugen geraten. Mir geht es so: Wenn jemand eine einfache Erklärung dafür hat, warum es immer schwieriger wird, sich über das gute Leben auseinanderzusetzen, habe ich den Verdacht, dass hier eine Situation vorliegt, die in Bezug auf die Quantenphysik von Quantenphysikerinnen in etwa so formuliert wird: Wer behauptet zu wissen, wie Quantenphysik funktioniert, hat sie sicher nicht verstanden. Warum? Weil das Nicht-zu-Fassen-bekommen Teil des Ganzen ist. Wer diese Einsicht auch in Bezug auf die prekäre Lage des Guten in der Welt teilt und es darüber hinaus nicht für eine erstrebenswerte Lösung hält, sich wegzuducken, in eine der, für die überwiegende Mehrheit der Menschen ohnehin unerreichbaren Komfortzonen, an deren Eingängen exklusive Augenmasken verteilt werden, zum störungsfreien Wegschauen, der wird sich fragen müssen, wie mit dieser neuen Schuld umzugehen sein könnte. Freud und seiner Über-Ich-Analyse sei Dank: Wir müssen die Sackgasse, in die jene Behauptung führt, man selbst habe mit alldem rein gar nichts zu tun, gar nicht erst betreten. Auch diese Gasse ist, wie jede breit ausgebaute Straße, das Ende des eigenen Weges. Wir können jetzt verstehen, warum eine a-priori Haltung der Unschuld die Psyche, unbewusst, in einer Verstrickung mit dem Bösen hält. Denn als Teil der Menschheit sind wir (vgl. Wer ist Wir?) Alle, absolut Jeder und Jede, aufgefordert, diese neue Schuld zu prozessieren. Man darf psychoanalytisch hoffen, dass sich so langsam eine neue psychische Struktur entwickeln wird können, die uns aus diesem Drama dann wieder heraushelfen kann. Es spielt, wie Freud anhand seiner Beschreibung der Erkrankungen des Schuld gefühls deutlich gemacht hat, de facto keine Rolle, ob wir tatsächlich Täterinnen oder Opfer oder Bystander sind (egal auch, ob jene, die alles mit ihren Smartphones filmen oder solche, die nur mit ihren Augen zusehen). Selbst wenn wir uns aktiv um eine Transformation bemühen, es genügt, dass wir Menschen sind: mitgehangen, mitgefangen. Wir müssen uns bewegen. Es würde mich interessieren, die Lebenspraxis von Menschen zu untersuchen, die auch in diesen unruhigen Zeiten zu einer Konstanz finden. Ich würde eine solche Forschung jetzt mit diesen Fragen und Hypothesen anlegen: Wie gehen diese Menschen mit der inneren Aufruhr um, die der menschlichen Existenz innewohnt? Haben diese Menschen vielleicht einen Umgang mit dem Aufruhrprinzip gefunden? Sind sie den Anfechtungen ihres Zeitalters gegenüber gewappnet, weil sie einen Weg gefunden haben, mit den Elementen des Thanatos

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umzugehen? Mit Abwesenheit, mit Negativität, mit dem Tod. Wie machen sie das? Können Sie das Böse in der Welt vielleicht deshalb ertragen, weil sie dessen Bindung an Eros durchschauen, weil sie akzeptieren können, dass es Perioden des Guten und des Schlechten gibt, dass dies aber nichts daran ändert, dass beide Elemente in der gesamten Bewegung dauerhaft existent sind, d.h. dass eine Ausrichtung auf das Gute auch dann möglich ist, wenn es vordergründig inexistent scheint? Dass diese Haltung dennoch zu einer guten Interpretation des Lebens führen kann? Komme, was wolle? Wie verarbeiten diese Menschen die Wirklichkeit? In welchen Prozessen? Mit welchen Strukturen? Ich denke nicht, dass die Ideen der Postmoderne und des Poststrukturalismus, den eingangs beschriebenen, für Philosophieren grundlegenden Dualismus zwischen dem Wirklichen und dem Wahren überwunden haben. Ich denke, dass die Begriffe Pluralität und Kontingenz eben jene, für unsere Epoche spezifische Paradoxie des Lebens kennzeichnen. Uns ist klar, dass wir unsere eigene Wirklichkeit mit niemandem teilen. Unser Problem mit der Paradoxie siedle ich, trotz desaströser Wirklichkeiten deshalb nicht auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes an, sondern auf der Seite der Wahrheit. Unser Problem heute ist: Der binäre Code gut/böse stiftet gerade mehr Unfrieden und Verwirrung als Ordnung und Orientierung. Plus: Wir glauben nicht mehr an die Wahrheit. Wenn die Wirklichkeit verrückt spielt, könnte man sie mit der Wahrheit beruhigen. Wenn die Wahrheit inzwischen aber hinter dem Horizont verschwunden ist, haben wir nicht nur einen, wenn auch ewig unerreichbaren Bezugspunkt, d.h. unsere Ausrichtung verloren, sondern auch die Paradoxie als grundlegende Lebensbewegung. Wirklichkeit ohne Wahrheit heißt, dass alles einfach so ist, wie es ist. Gerade das scheint aber weder zu funktionieren, noch tatsächlich der Fall zu sein. Völlig verwirrt über die Ereignisse in der Welt hört man stattdessen allerorts: Das kann doch nicht sein! Ja, würde ich sagen: Das kann nicht sein. Freilich, es ist Wirklichkeit, aber es ist nicht das, was es zu verstehen gilt. Die Wirklichkeit versteht sich von selbst, wenn man hinsieht. Was es zu begreifen gilt, wozu der Geist dienen kann, ist die Reflexion auf die Paradoxie des Seins. Wofür wir uns von daher bereit machen müssen, ist für eine wieder neugierige, stille, erforschende, kritische, sich lustvoll hin und her wendende Lebensbewegung. Eine Bewegung, die Aussage und Frage zugleich ist: Das kann sein!? Welchen Sinn macht es, über etwas zu sagen: ›Das ist.‹? Mit Deleuze und Ricoeur sehen wir: gar keinen. Mit Foucault, Nietzsche und Luhmann sind wir darüber hinaus gewarnt: Wenn jetzt noch ein gut oder böse hinzu kommt, stellt es Herrschaftsverhältnisse her. Mit Aristoteles und Freud schließlich können wir in ganz neue Fragerunden gehen: Was ließe sich als Funktion (areté) des Geistes benennen, wenn sein Element die Paradoxie ist? Und: Welche psychischen Prozesse und Struktu-

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ren könnten wir analysieren, wenn wir die Seele selbst als paradoxes Phänomen zwischen Eros und Thanatos betrachten? Die Einsicht, dass das Ich ein Produkt, um es klar zu sagen, eine sekundäre Struktur ist, abhängig vom psychophysischen Triebleben, von der Wirklichkeit und von phylogenetischen Erwerbungen, kann einen davor bewahren, zu glauben, es sei an sich etwas Wertvolles. Das Ich wird ausschließlich dann wertvoll, wenn es sich in den Dienst stellt. Wenn es sich als Umschlagplatz und Handelszentrum begreift, nicht selbst als die angesagte Ware. Wenn das Ich aufhört sowohl den Trieb, die Kraft des Animalischen als auch die Potenz der Kultur (in Form einer doppelten Auseinandersetzung mit Wirklichkeit und Erbe) als seine Trag- und Zugriemen zu nutzen, dann verliert es sowohl die Hemmungen als auch seine Rolle in der Reflexion. Es kann nichts mehr machen, was Sinn ergibt; es kann nicht mehr zu einem guten Leben führen. Erlauben Sie mir eine kurze, böse Gegenwartsanalyse!? Die Selfie-Erscheinung, um nur ein Beispiel zu nennen, ist für mich in jeder Hinsicht Ausdruck eines dramatischen Taumelns des Ichs. Denn was drückt sich im Selfie aus? Ein Ich, das nichts mehr kann, außer dargestellt werden; dem jede Relevanz fehlt. Dieser psychische Zustand muss schwer zu ertragen sein; was dem Aufwand, den es bedeutet, nichts zu tun und dabei so zu tun als würde man etwas erleben, Rechnung trägt und erklärt, warum sich ein auf diese Weise verwahrlostes Ich so dringend vergewissern muss, dass es den Anderen nicht anders geht. Heraus kommt der kommunikative Wahnsinn, dass Follower Followern folgen. Eine Variante der Kommunikation, die – würde sie sich als einzige diskursive Formation endgültig durchsetzen – über kurz oder lang nicht nur das eigene Ich, sondern auch die gesellschaftlichen Funktionssysteme lahm legen könnte. Das jedenfalls kann man mutmaßen, unter der Voraussetzung, dass ihr Funktionieren, wie von Luhmann beschrieben, von der autopoietischen Anwendung eines binären Codes abhängt. Wenn aber irgendwann nur mehr undifferenzierte Kommunikation auf undifferenzierte Kommunikation folgt, kann man davon ausgehen, dass diese Form von sinnfreier Selbstreferentialität, die korrekterweise eher Ego-Referentialität zu nennen wäre, das Funktionieren von Codes überhaupt außer Kraft setzt. Mit der Digitalisierung wird mehr möglich und mehr wirklich. Dieser Möglichkeitsraum ist aufregend, stellt aber auch eine gefährliche Konkurrenz für die Bewegung des Paradoxen dar. Man kann beobachten, dass eine Art Rastlosigkeit bei gleichzeitiger Unbewegtheit entsteht. Man kann dazu denken, dass diese Entwicklung möglicherweise auch aufgrund der digitalen Beweglichkeit eingesetzt hat. All die Links, Streams, Downloads, digital Moves, kurz das online-Dasein kann den Eindruck vermitteln, es sei ein Kraftmoment im eigenen Leben aktiv.

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Online-Sein kann dazu verleiten, zu glauben, man sei in Bewegung; so dass man u.U. lange nicht merkt, dass man genau im Gegenteil einer Bewegung verlustig geht. Alle technischen Lösungen werden ständig weiter entwickelt, alles lässt sich upgraden, immer mehr und immer neue Technologien stehen dem Menschen zur Verfügung, so dass man kaum glauben kann, dass ausgerechnet der Mensch dabei sein sollte, auf der Strecke zu bleiben? Sich nicht mehr weiter evoluieren sollte? Ich brauche eine Erklärung dafür, dass Menschen Selfies machen an Stränden, an denen zeitgleich andere Menschen ertrinken und ähnlicher Wahnsinn stattfindet. Wir machen uns hier die Mühe, auch dies allzu Menschliche begreifen zu wollen. Aber wer weiß, vielleicht fällt in unbestimmter Zukunft das Denken selbst auch dieser Entwicklung zum Opfer. Vielleicht wird es bald nicht mehr nur anachronistisch sein, über ein gutes Leben nachzudenken, sondern es wird lakonisch heißen: Du denkst noch? Postest Du gar nicht? Vielleicht wird Sinnstiftung als filigrane autopoietische Praxis des Geistes ein Phänomen der Vergangenheit werden? Vielleicht wird die Kraft der Paradoxie einfach ganz erloschen sein, wie irgendwann die Strahlkraft der Sonne? Dann wird es nichts anderes mehr geben als Aussagen und Selbstportraits. Das einzige, was man dann wirklich braucht, sind Follower und Fotoshop. Und die kann man glücklicherweise beide kaufen. Glücklich für die, die Geld haben. Wahrscheinlich sind die, die keines haben, feststellbar selber Schuld. Wer Geld hat, kauft, alles; was dann gleichbedeutend sein wird mit liebt alles2. Alle ohne Geld spielen wirklich keine Rolle. Endlich, eine schöne neue Welt, ohne Aufruhr, ohne existenziellen Riss; der existiert einfach nicht mehr, ist wegretuschiert. Es wird dann nicht mehr einfach Menschen geben, sondern Selfie-Menschen und Vegetier-Menschen. Der Unterschied wird aber aus einer ethischen Perspektive (theoretisch, denn die wird es freilich auch nicht mehr geben) marginal sein, denn die Selfie-Menschen werden alles mit sich selber machen, während man mit den Vegetier-Menschen alles wird machen können. Die meiste Zeit aber werden letztere einfach gar nicht vorkommen; erstere aber auch nicht, jedenfalls nicht als Mensch – denn conditio dafür wäre die Reflexion gewesen. Nicht wahrscheinlich, dieses Szenario? Oder ist es schon so? Wenn es so nicht wird, nicht bleibt oder nicht (nur) ist: dank wem oder wessen? Wer oder was sorgt dafür? Der Mensch wünscht sich in regelmäßigen Abständen innere Ruhe, Spannungsfreiheit, aber wir wissen, das bedeutet noch nichts Gutes. Sein Eros ist so angelegt, mehr nicht. Im Gegenteil, es lauert in seiner Wunschdynamik eine Falle, wie sie sich in unserer Zeit typischerweise so stellt: Der Aufwand zur Bewäl2

Vgl. einen der bekanntesten Werbeslogans unserer Zeit von McDonalds: I’m loving it!

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tigung der Ich-Aufgaben in einer pluralen und kontingenten Welt ist explosionsartig angestiegen. Deshalb ist es kein Wunder, dass eine verbreitete Reaktion auf über die eigene Wirklichkeit hinausgehende Probleme ist: Lasst mich in Ruhe. Ich kann da eh nichts machen. Wir können die Korrektheit an dieser Haltung jetzt beschreiben. Es stimmt, das Ich kann jenseits der persönlichen Situation tatsächlich nichts machen. Seine Handlungsfähigkeit bezieht sich ja gerade auf die eigene Wirklichkeit und nicht auf die Realität, begreift man diese nun als Weltgesellschaft oder als Wahrheits-Horizont. Beides ist für das Ich unfassbar. Es scheint eine neue Dynamik gefragt und eine neue psychische Strukturierung nötig. Deshalb möchte ich einen neuen Begriff dafür einführen: Über-Es. Kann es sein, dass das Böse auftrumpfen kann, weil der korrigierende Wert des Nega tiven in dem derzeit vorherrschenden Weltumgang fehlt? Total 3 paradox, diese Formulierung? Ja. Es geht mir darum, die Potenz der Paradoxie wieder zu Gel tung kommen zu lassen und so der Reflexion den nötigen Raum zu verschaffen. Ich möchte den zweiten Teil dieser Arbeit mit der folgenden Analyse in Gang setzen: Das Gute ist zu einem Problem geworden, weil die Negativität fehlt. Das Abwesende, es existiert. Es gibt eine psychische Kraft der Negativität, Freud nennt sie Thanatos, auf die der Mensch angewiesen ist, will er ein gutes Leben führen. Das gute Leben erscheint in der eigenartigen Form von: Jeder und jede weiß, was es ist, aber keiner kann es so einfach sagen. Ich interpretiere diese Lage so: denn es existiert nicht in Aussageform, nicht als Phänomen, dem man einfach so zustimmen könnte. Feststellungen darüber, was das gute Leben ist, scheitern gemeinhin, weil in den üblichen Formulierungen zum guten Leben die Abwesenheit abwesend ist. Theoretisch wie praktisch. Außerdem stehen wir als Weltgesellschaft vor einem Problem, das ich nun so formulieren möchte: Weil derzeit die Prinzipien und Erscheinungsformen des Thanatos von denen des Eros dominiert werden, ist die Bewegung zwischen gut und böse aus dem Ruder gelaufen. Das Böse scheint dabei zu sein, den Kampf zu gewinnen. Weil nichts mehr unmöglich erscheint, alle Wünsche erfüllbar wirken, alles, was den Menschen antreibt erotisch, d.h. objekthaft besetzt wird, ist die Wirklichkeit nur mehr partial und sehr bedingt kraftvoll; es dehnt sich das Wirkliche gleichzeitig in ein grenzenlos Mögliches aus, welches aufgrund der außer Kraft gesetzten Autorität, insofern primär bedrohlich geworden ist, weil es sich dadurch auch als Möglichkeit zu grenzenloser Brutalität und Gewalttätigkeit äußert. Das Über-Ich wird pervertiert und fehlangewendet als eine Art Unter-Mir. Jenseits des Menschen ist nichts mehr. Nichts ist mehr unmenschlich. Nichts ist mehr leer. Nichts ist mehr nicht. Dies setzt die Potenz sowohl von Kontingenz als auch von Wahrheit außer 3

Total wie absolut? Nein, wie voll und ganz.

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Betrieb und verhindert die für ein ethos unabdingbare Kraft der Negativität, des Noch-Nicht und des So-Nicht4. Meine Frage ist, wie können wir unter dieser Voraussetzung wieder triebhaft werden, böse und schön? Wieder würdevoll und erhaben? Freie Geister, die sich interessieren und kümmern? Und ich schlage einen Prozess vor, der den eigenen Tod bedenkt; eine Struktur, die man Über-Es nennen könnte; die auf die fehlende Verneinung aufmerksam macht; die den Menschen auf das Nichts bezieht. Jenseits des Aufruhrprinzips. Hegel schreibt, die Bewegung ist der daseiende Widerspruch. Damit kann der gesunde Menschenverstand nicht umgehen. Das ist gut so. Auf gesellschaftlicher Ebene korrelieren dem gesunden Menschenverstand Institutionen, die uns Menschen ebenfalls die Last des Widerspruchs abnehmen und zwar dadurch, dass sie Konsens bezüglich der Erwartung unterstellen und anbieten. Tauchen Widersprüche auf, wendet sich der gesunde Menschenverstand ab. Er sagt, angetrieben von seinem funktionierenden Über-Ich: Das geht doch nicht. Das geht zu weit. Das geht wirklich nicht. Die Institution übernimmt das auf diese Weise Ausgeschlossene, indem das Nicht-Akzeptierte als Abweichung wieder aufgenommen wird. So bleiben sowohl der gesunde Menschenverstand und mit ihm der Mensch, der über ihn verfügt, funktionstüchtig als auch die institutionell vertretenen gesellschaftlichen Werte und Normen. Es hat sich ein einzelnes Individuum schuldig gemacht, aber das bekommt die Gesellschaft in den Griff: »Die Funktion der Schuld ist es, Erlösung zu ermöglichen. Schuld ist eine Enttäuschungserklärung, die es gestattet, das enttäuschende Ereignis auf sich selbst zu isolieren und nicht als unabsehbar weiterlaufendes Verhängnis anzusehen, das in Kindern und Kindeskindern fortwirkt. [...] Der Schuldige wird Sanktionen unterworfen und trotzdem nicht aus dem Erwartungsbereich der Norm entlassen.« (Luhmann 2008: 52)

Das läuft aber nur solange gut, wie gesellschaftliche Funktionssysteme bzw. deren Institutionen der Erwartung nachkommen, dass sie tatsächlich funktionieren, eine gute Orientierung bieten, gute Normen vertreten. Aber auch dieser Kragen ist geplatzt. Nicht nur das Über-Ich, sondern auch die kommunikativen Vor4

Vgl. Das vedische Konzept des neti-neti: »Aber die Bezeichnung für ihn (den Purusha = ein Zentralbegriff in der Samkhya-Philosophie, der für den Ur-Geist steht, welcher dem Ur-Stoff dualistisch gegenüber steht) ist: ›es ist nicht so! es ist nicht so‹ (neti, neti); denn nicht gibt es außer dieser (Bezeichnung), dass es nicht so ist, eine andere. Oder: ›denn nicht gibt es außer diesem – darum heißt es: ›es ist nicht so‹ – ein anderes darüber hinaus‹ (mit dem es durch das Wort: ›es ist so‹ verglichen werden könnte). – Sein Name aber ist: ›die Realität der Realität‹; nämlich die Lebensgeister sind die Realität und er ist ihre Realität.« (Michel 2007: 513)

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kommnisse (= unsere Gesellschaft) können nicht mehr für voll genommen werden. Zum einen enttäuschen Institutionen sowie deren Rollenvertreter allerorts, kommen den in sie gesetzten Erwartungen nicht nach. Zum anderen lässt sich das Nicht-Akzeptierte nicht mehr als Abweichung integrieren. Es sind nicht mehr einzelne Individuen, die Widerspruch erzeugen. Die Ausgeschlossenen sind längst viel zu viele; sie lassen sich nicht mehr die Schuld in die Schuhe schieben, sie lassen sich nicht mehr pathologisieren; sie fordern ihr Recht auf Normalität. Ich könnte auch sagen: Wir alle kämpfen für die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen. Und die von Luhmann dargestellte Option des Nicht-Lernens wird zu einem gefährlichen Problem. Der Widerspruch ist daseiend. Das gute Leben ist keine Frage des Konsens. Die Widersprüchlichkeit des Daseins läge an sich offen auf dem Tisch. Mit Freud haben wir gesehen, dass diese nicht nur für das Außen gilt. Er hat ein Vo kabular vorgelegt, um die Widersprüchlichkeit des Innen als Konfliktmodus zwischen psychischen Instanzen betrachten zu können. Die Seele ist uns als Kampf der Giganten verständlich geworden. Die strukturelle Konflikthaftigkeit der conditio humana macht den psychischen Prozess unabschließbar. Freud denkt in Dualismen, in binären Codes, oder wie es, meiner Ansicht nach, am passendsten ausgedrückt ist: in paradoxen Figuren5. Der Mensch ist psychisch nicht dazu angelegt, sich auszuruhen, stehen zu bleiben. Sein Handeln ist unabschließbar, sein Sinn liegt nicht fest, seine Rede wird sich immer weiter entwickeln. Der seelische Weg verläuft, nach Freud, von einer frei verschiebbaren, indifferenten Energie, die sich ausbreitet, wie und wo sie am meisten Lust und am wenigsten Unlust verschafft, über die Bahnung (= Bündelung) dieser Kraft, in Schleifen der Wiederholung, zu differenzierten (= gebundenen) Energiesituatio-

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Spätestes mit der Einführung des Todestriebs erklärt sich Freud endgültig zu einem paradoxen Denker. Ricoeur formuliert das so: »[...] Man darf also nicht mehr versuchen, die Dualität Ichtriebe-Sexualtriebe mit der Dualität Lebenstriebe-Todestriebe zur Deckung zu bringen. Diese zieht sich durch alle Formen der Libido hindurch: [...] Die Objektliebe ist Lebenstrieb und Todestrieb; die narzisstische Liebe ist Eros, der nichts von sich weiß, und geheime Kultur des Todes. Die Sexualität ist überall am Werk, wo auch der Tod am Werk ist. Doch damit ist der Triebdualismus wirklich zu einem antagonistischen geworden, gerade weil es sich nicht mehr um qualitative Unterschiede handelt, wie in der ersten Triebtheorie (Sexualtriebe und Ichtriebe) zwischen Liebe und Hunger, auch nicht um Besetzungsunterschiede, je nachdem ob sich die Libido dem Ich oder dem Objekt zuwendet, wie in der zweiten Triebtheorie; der Dualismus ist wirklich zu dem geworden, was DAS UNBEHAGEN IN DER KULTUR einen ›Streit der Giganten‹ nennt.« (Ricoeur 1969/1974: 301)

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nen. Diese sind zugleich erotisch und destruktiv 6. Eros und Thanatos fungieren zwar füreinander als Gegenspieler, sind in ihrem jeweiligen Streben aber nicht direkt aufeinander bezogen. Die paradoxe Verwobenheit von erotischem und thanatischem Trieb bringt Ricoeur auf den Punkt: Die Sexualität ist überall am Werk, wo auch der Tod am Werk ist. Dieser Aphorismus stellt eine dringliche Frage an die psychoanalytische Hermeneutik: Enthalten Leben und Tod in ihren Äußerungen eine alternative Semantik oder nicht? Lässt sich Thanatos auf dieselbe Weise deuten wie Eros? Ricoeur stellt dazu fest: Es gibt keine Symmetrie zwischen der Hermeneutik des Lebens und der Hermeneutik des Todes, denn das eine neigt zu einem Überschäumen und der andere zu Stille und Rückzug. Abwesenheit und Anwesenheit sind für die Psyche keine Alternativen, oder topisch formuliert, für das Unbewusste kein Widerspruch. Das menschliche Ringen mit Leben und Tod wird mit dieser Sichtweise gut verstehbar. Mensch will nicht nur leben oder nicht mehr leben, will nicht nur das Leben in vollen Zügen genießen oder seine Ruhe, sondern beides ist in ihm am Werk. Das Bewusstsein allerdings hat damit seine Schwierigkeiten. Dieses fordert, zunächst analog dem gesunden Menschenverstand: entweder dies oder das. Das Es mit seiner anfangs- und endlosen Qualität aber lässt beides zugleich gelten. Wie ein gutes transgenerationales Ur-Mutter- und Ur-Vatertier behandelt es alle seine Abkömmlinge gleich, zieht keinen vor und spielt sie nicht gegen einander aus. Kann diese verbindende Qualität des Es in seiner offenen Triebparadoxie helfen, die paradoxe Struktur unseres Strebens nach dem Guten begreifbar zu machen? Die unabschließbare ethische Bewegung, die in keinen Zielzustand münden kann; die bestenfalls ein telos einsetzt, dessen Wahrheit einer unbewussten arché entspringt, die nicht zu entschlüsseln ist, weil sie zu keinem Zeitpunkt Etwas, d.h. etwas Bestimmtes war, sondern immer schon und immer nur nichts anderes als die unfassbare Gleichzeitigkeit – leben/sterben? Es gilt die unterschiedlichen Weisen der Sinnstiftung zu verstehen, angetrieben durch den Wunsch, zu leben und den Wunsch zu sterben.

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Eine anspruchsvolle Möglichkeit, mit dieser geballten Ladung an Spannung im Leben umzugehen, besteht in der Sublimierung dieser Triebenergie. Ein Umgang mit dem Trieb, den Menschen jeglicher Herkunft, weltweit, in Form von bildender, darstellender, literarischer, musikalischer und wissenschaftlicher Kunst praktizieren und geniessen; ein seelischer Prozess, der das Leben mehr als erträglich macht. Die Gefahr lauert auch hier in der Form der Unbeweglichkeit und Passivität: Kunst darf nicht konsumiert werden; die Auseinandersetzung mit Kunst muss in Aufruhr versetzen – andernfalls verliert auch diese Seinsweise ihre Kraft.

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»Der Todeswunsch spricht nicht wie der Lebenswunsch. Der Tod wirkt in der Stille. Fortan befindet sich die Entschlüsselungsmethode, gegründet auf die Äquivalenz zweier Bezugssysteme, des Triebs und des Sinns, in Schwierigkeiten. Und dennoch verfügt die Psy choanalyse über kein anderes Hilfsmittel, als zu interpretieren, d.h. aus einem Spiel von Symptomen ein Spiel von Kräften herauszulesen. Daher beschränkt sich Freud in seinen letzten Schriften darauf, neben eine partielle Entschlüsselung eine waghalsige Spekulation zu stellen. Lediglich ›Anteile‹ des Todestriebs werden durch diesen oder jenen ›Repräsentanten‹ aufgezeigt. Aber es besteht keine Äquivalenz zwischen dem, was entschlüsselt, und dem, was vermutet worden ist.« (Ricoeur 1969/1974: 302)

Ricoeur stellt fest, dass Freud von den Todestrieben häufig im Plural spricht und von Eros hingegen meist im Singular. Daraus schließt er, dass damit einer Vielzahl von Erscheinungsformen, von möglichen Manifestationen des Thanatos, die sich im Leben zeigen können, die Türe geöffnet wird: Pluralität und Kontingenz in Anbetracht des Todes. Wir haben gesehen, dass die psychoanalytische Hermeneutik ihren Bezug zur Energetik nicht verlieren darf, weil sie sonst in ein erkenntnistheoretisch fragwürdiges Interpretationsspektrum sinken würde. Die Interpretation kann sich immer nur um manifeste, gebündelte Energie drehen. Ein weiterer, von hier aus möglicher Schritt, kann nicht jenseits des Triebes führen. Aber er kann die Sinnschöpfung auf alle Erscheinungsformen von Trieb/Energie ausweiten. Auf diese Weise kann die Hermeneutik zu einem Quantensprung ansetzen. Es wäre nicht nur möglich und erlaubt, sondern geradezu geboten, die Semantik zu paradoxieren, sie in ihrer triebhaften Dynamik als Fortsetzung des paradoxen Verhältnisses von etwas und nichts wollen, zu begreifen. Freud hat uns nachvollziehbar gemacht, auf welch vielfältige Weise (sich) Eros produziert. Seine Produktionen liefern nach Ricoeur jenen Sinnüberschuss, der den Einstieg in das Reich der psychoanalytischen Deutung leicht freigibt. Thanatos andererseits hat zwar in seiner Wiederholungsqualität und in seiner Äußerungsform als Destruktionstrieb auch überschießende, lärmende Anteile, aber7 Freud geht davon aus, dass sich die Repräsentanten des Todestriebs (häufig oder immer?) nur in Anteilen zeigen. Das könnte bedeuten, dass sie nicht unbedingt nur als Phänomene der Gegenwart auftreten; was wiederum den Schluss zulässt, dass die Manifestationen des Thanatos wesentlich auch nicht sichtbar, bzw. nicht als schon vorhandene Aussage nach-sagbar sind. Sie wären damit auch nicht akut, sondern äonisch und in diesem Sinne unsichtbar und stumm. Das aber heißt erst einmal nur, dass sie nicht in den jeweils geltenden Herr7

»Wir müssen den Eindruck gewinnen, dass die Todestriebe im wesentlichen stumm sind und der Lärm des Lebens meist vom Eros ausgeht.« (Freud GW XIII)

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schaftsverhältnissen zu finden sind und man sie nicht in den epochal begrenzten diskursiven Formationen suchen sollte. In diesem Sinne stehen sie dem Sichtbaren und Sagbaren gegenüber, ohne einfach so, vom gesunden Menschenverstand, dahin verwandelt werden zu können. Die Frage ist, sind sie deshalb numinos? Ich denke nicht. Denn das Numinose wird als gestaltlos und göttlich definiert. Die Phänomene des Todes sind vielleicht nicht ohne Widerstand sicht- und sagbar, dies bedeutet aber noch nicht, dass nichts auf sie hinweist und keine Rede von ihnen spricht. Sie könnten hör- und spielbar sein. Sie könnten mit schöpferischen Mitteln durch einen freien Geist auszudrücken sein. Sie könnten sich als Phänomene der Fiktion zeigen. Sie könnten die unmögliche Möglichkeit schlechthin verkörpern, sich als daseiender Widerspruch manifestieren. Diese Frage ist zu stellen: Wie können die Abkömmlinge des Thanatos aufgefasst werden? Sehen wir uns das Verhältnis, in dem Wahrheit und Fiktion zueinander stehen, genauer an. Das scheint mir relevant 8, für die Interpretation thanatischer Triebrepräsentanzen und damit für die Entwicklung eines ethos.

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Relevanz ist der Zustand, wenn etwas wieder in die Höhe gehoben worden bzw. zurück nach oben gelangt ist. Ich glaube, die Höhe der Relevanz kann als Sichtbarkeit und Sagbarkeit missverstanden werden. Diese Fehlinterpretation beruht vielleicht auch auf einem Missverständnis über den Raum, über die Vorstellung des gesunden Menschenverstandes von unten und oben als absolute Kategorien. Relevanz jedenfalls ist auf eine Kippbewegung angewiesen. Es braucht dafür einen beweglichen Schwebbalken. Das ohnehin Sichtbare und das Sagbare ist irrelevant, es kann nicht nach oben gehoben werden, es kann nicht nach unten gelangen, weil es nichts darüber und darunter gibt: Es hat nur ein Niveau. Was aber relevant ist, wippt.

7

Das Fiktionale treibt sich in der Wahrheit herum

Inwiefern bedeutet eine gute Wissenschaft auch eine gute Fiktion? Mit dieser Frage möchte ich zu einem Verständnis von Wissenschaft hinführen, bei dem Forschung auf Reflexion beruht, d.h. das paradoxe Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit in der Forschungsbewegung aufgegriffen wird. Dieses Verständnis von Wissenschaft als reflexivem Forschen ist unabhängig von dem Gegenstand, der beforscht wird. In meinem Verständnis ist Wissenschaft immer empirisch, d.h. gründet auf Erfahrung. Meiner Auffassung nach genügen zwei Elemente, um von Forschung zu sprechen: das eine ist die Reflexion in o. g. Sinne, das andere betrifft die Nachvollziehbarkeit der Reflexionsbewegung, die ihrerseits eine Anknüpfung an Erfahrbarem zu ihrer zwangsläufigen Basis hat. Wissenschaft gebietet es, den eigenen Erkenntnisweg offenzulegen und für andere nachvollziehbar zu machen. Diese Forderung hat zunächst nichts mit der gängigen wissenschaftlichen Praxis zu tun, d.h. der Anwendung einer vorab als gültig klassifizierten Methode. Im Gegenteil, während die Methodik im Sinne der grundsätzlichen Vorgehensweise von höchster Wichtigkeit ist, spielt die einzelne Methode in meinem Wissenschaftsverständnis eine untergeordnete Rolle; sie kann im Einzelfall nützlich sein; nicht weniger, aber auch nicht mehr. Eine nachvollziehbare Methode ist allein nicht in der Lage, Erkenntnis zu sichern, weil sie nicht zwangsweise mit der Forschungsbewegung der Reflexion einhergeht. Für manche mag es nicht sofort verständlich sein, wozu eine Interpretation dienen sollte, wenn das, worauf sie sich bezieht, pointiert formuliert, nicht sichtbar und nicht sagbar ist. Ich habe Verständnis dafür. Zum einen entspricht dies nicht dem gesunden Menschenverstand. Wir wissen und akzeptieren, dass er verlangt: Alles muss wirklich sein. Zum anderen kann dieser Zweifel auch von der Forderung getragen sein, alles Wissenschaftliche muss auf Erfahrung bezogen sein. Einen Bezug zu Erfahrung zu schaffen, sehe ich auch als ihre Aufgabe. Der springende Punkt ist an dieser Stelle die zusätzliche Forderung: Die Erfahrung

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muss außerdem in einen reflexiven Bezug zu Wahrheit gebracht werden. Da werden manche vermutlich nicht mitgehen und stattdessen vertreten: Nein, es genügt (eventuell sogar im Sinne eines dann und nur dann Gültigen), wenn Forschung Wirkliches feststellt. Wenn man Wissenschaft wörtlich und als Programm versteht, dem gesunden Menschenverstand mehr Wissen zu verschaffen, dann ist alles, was darüber hinaus geht, zwangsläufig unwissenschaftlich. Nachdem große Teile des derzeit etablierten Wissenschaftsbetriebs1 nach dem Prinzip der Wissensvermehrung im Sinne des gesunden Menschenverstandes funktionieren, exponiert man sich mit der Feststellung, es sei gerade umgekehrt: die allein auf Wirklichkeit bezogene Programmatik sei unwissenschaftlich. Sich auf diese Weise der Missachtung auszusetzen ist anstrengend und bringt einen in die prekäre Lage, nach Komplizen Ausschau halten zu müssen, keine wissenschaftliche Karriere anstreben zu können und sich auf dem kleinschrittigen Weg des Sprechens und Zuhörens verständlich machen zu müssen. Man hat die institutionelle Macht gegen sich, plus den gesunden Menschenverstand. Denn mit Foucault ist einsichtig, dass sich Wissen exakt durch seinen Bezug zu den jeweils in einer Epoche gültigen Aussagen definiert. Wissen ist in diesem Sinne immer banal. Wer das an der heutigen Wissenschaft kritisiert, verkennt ihren aktuellen Status: Sie ist, institutionell betrieben, vor allem auch eine Festlegung der gesellschaftlichen Kampfzone um das, was gelten soll. Wissenschaft als gesellschaftliches Funktionssystem tritt an, um festzulegen, was wahr und was unwahr ist, was man wissen kann und darf und was nicht. Reflexive Forschung hingegen ist einem ethos verpflichtet, bei dem Wahrheit an Wahrhaftigkeit gebunden ist. Wissen und Reflexion sind existenziell andere Phänomene. Beiden geht es darum, einen Bezug zu Wahrheit finden und halten zu können; die Art des Bezugs aber ist wesenhaft verschieden. Bei der reflexiven Forschung funktioniert dieser Bezug nicht über die Festlegung: dies ist wahr und jenes nicht, sondern über eine Bezugnahme auf die Paradoxie der Un-/Wahrheit im Wissen bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf den Herstellungsprozess wissenschaftlicher Aussagen. Es geht in meinem Verständnis von Wissenschaft2 und Forschung neben dem Erkennen immer auch um ein Wahrsprechen.

1

Diese Aussage bezieht sich auf die WEIRDe institutionelle Wissenschaftslandschaft

2

Nachdem Wissenschaft ein starker Begriff ist, fände ich es schade, ihn fallen zu las -

im Jahr 2019. sen. Ich schreibe ihm deshalb eine andere Bedeutung zu. Ob er in weiterer Folge in dem derzeit etablierten oder in dem neu zu etablierenden Sinn verwendet wird, wird aus dem Kontext ersichtlich werden.

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Forschung ist die Suche nach Reflexionsmöglichkeiten auf Erfahrungen. Eine Erfahrung ist ein Ereignis, das mit der Wirklichkeit zu tun hat: Man erfährt etwas über die Welt inklusive sich selbst. Besser gesagt, man erfährt etwas über die Existenz. Jede Erfahrung ist ein legitimer Ausgangspunkt für Reflexion. Es widerspricht dem frei forschenden Geist vollkommen, eine Existenzweise von vorneherein auszuschließen. Geht es doch gerade umgekehrt, um die Erforschung aller möglichen Existenzweisen. Einem forschenden Geist ist erst einmal jedes Mittel recht, das ihm Anhaltspunkte für eine Reflexion bietet: jede Rede, jede Aussage, jede Kommunikation, jede Wahrnehmung, jedes Gerät zur Vertiefung der Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Handlung, jedes Experiment. Für einen freien Geist gibt es keine Hierarchie des Ausgangspunktes. Das Erfahrungsfeld wird von selbst durch die Expertise begrenzt; was aber potenziell erfahrbar ist, kann man unmöglich von vorneherein wissen. Die Forschungsbewegung beginnt mit dem Aufsammeln eines Erfahrungsstückes und dem Aufstellen eines Hypothesenpflockes zu dieser Erfahrung. Dieser Vorgang etabliert das Feld der Forschung indem es ihm eine erste Begrenzung gibt, während die Be wegung der Reflexion unbegrenzt bleibt. Die Begrenzung durch Hypothesenbildung ist kontingent und unumgänglich: sie sichert die Möglichkeit, die Erfahrung zu teilen und die darauf erfolgende Reflexion in Form von Interpretation nachvollziehbar zu machen. Forschung ist Suche nach Sinn, nicht Suche nach Wissen. Wissensstände sind nichts anderes als mögliche Sinninterpretationen. Wer forscht, sammelt, dreht und wendet das gesammelte Stück Erfahrung während sie andere und sich selbst dazu befragt. Forschung bezieht sich auf das ›?Sein‹, wie Deleuze die möglichen Existenzformen dargestellt hat. Sinn ist die Möglichkeit der Forschung auf den daseienden Widerspruch zu reagieren. Im Rahmen eines forschenden Werkes wird dieser daseiende Widerspruch zu einer spezifischen Paradoxie konkretisiert. Diese formuliert sich je nach Feld ganz unterschiedlich. Wir haben uns im ersten Teil mit poststrukturalistischen, systemtheoretischen und psychoanalytischen Formulierungen beschäftigt: mit der Paradoxie zischen den Wörtern und den Dingen, zwischen dem Sagbaren und Sichtbaren; mit der Paradoxie zwischen dem Topos des Anderen und dem des Sozialen, zwischen dem Ausgeschlossenen, das eingeschlossen wird; und mit der Paradoxie zwischen dem Trieb und seinen Repräsentanten sowie der zwischen Eros und Thanatos. In diesem Kapitel geht es um den Schöpfungsaspekt von Wissenschaft, der sich in einer Bewegung zwischen Wahrheit und Fiktion zeigt. Auch dieser Bezug ist paradox, weil das Wahre und das Fiktive hier nicht als Gegensätze voneinander getrennt und zu zwei unabhängigen Phänomenen gestempelt werden; es wird de-

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ren Bezug zueinander gesucht und in einer gewissen rhythmischen Abfolge hergestellt. Ein Rhythmus, der rückwirkend ein Forschungsfeld entstehen lässt. »Erinnern wir uns, dass streng nach Saussurscher Lehre jedes Semantem (jedes Wort, in sofern es bedeutet) mit einem Sinn versehen ist, aber auch mit einem Wert: daher die Not wendigkeit, es zu vernetzen. 1. Xeniteia: wesentliches Element der Askeselehre des altchristlich-orientalischen Mönchtums. = Fremdheit, Unvertrautheit, Emigration, freiwilliges Exil (xenos:fremd). [...] Entsprechungen: a) Erste Stufe der Ordination buddhistischer Mönche: pabbaja: der Abschied von der bis herigen Lebensweise. b) Anfänge der Kommunebewegung, USA: Drop-outs: Aussteiger, die alles aufgegeben haben, sich aus allem ausgeklinkt haben (≠ Drop-ins: Einsteiger, die irgendwo eintreten, sich integrieren). Aussteigen als Versuchung. (Die entsprechende Phantasie zum religiösen Ritus: alles aufgeben, arm werden, um etwas anderes zu beginnen. Angenehmes Gefühl bei der Vorstellung, wie man es anstellen wird, seinen Abschied zu organisieren, dabei zu berechnen, auf welche Gegenstände man für immer verzichtet, welches Minimum man behält usw. Phantasie des ›seine Angelegenheiten ordnen‹. Zum Beispiel: aufs Land ziehen usw.) 2. Stenochoria: der Weg, die Wegenge, das eingeengte Leben = eine Form des Exils wie die xeniteia, doch eine so tief innere Emigration, dass die Welt davon kaum etwas be merkt. Weisheit, die unerkannt bleibt, Wissen, das sich nicht verbreitet, Leben im Verborgenen, Unkenntnis der anderen über das Ziel, das ich verfolge, Ablehnung von Ruhm, Abgrund von Schweigen. [...] 3. Nun zwei Begriffe, die in paradigmatischem Kontrast zur xeniteia stehen: a) Thlipsis, thlibo: einengen, drücken, bedrücken, zerreiben, ängstigen. Dabei handelt es sich um eine Heimsuchung, die der xeniteia auferlegt wird [...]. b) Parresia. Während thlipsis zwar in Opposition zu xeniteia steht, aber die Vornehmheit ihres Gefühls, der Liebe bewahrt ≠ Gegenbegriff: parresia: ohne Größe, engstirnig, rein gesellschaftlich, mondän. [...] Das ist das Netz – oder ein Teil des Netzes – der xeniteia. Wie jedes Netz zeigt es – des halb ist es von Belang –, dass der Sinn lebendig ist, das heißt metaphorischen Transforma tionen und Anpassungen offensteht, sich unseren Interessen anpassen lässt – durch die Geschichte hindurch und oft gegen sie –, nicht in der Tiefe, sondern indem er sich aufsplit tert.« (Barthes 1976-1977/2007: 203 ff.)

An welchen Stellen die Sinnfrage auftaucht, welches Stück Wirklichkeit zum Anlass einer Sammlung wird, hat eine Eigendynamik, die in der forschenden Person wurzelt. Die Forschungsbewegung ist einerseits von einer Freiheit ins Unendliche getragen; andererseits aber ist die Dynamik an Strukturen (vgl. dis-

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kursive, soziale, psychische) gebunden, welche das an sich frei bewegliche Drehmoment erschweren und binden. Forschen ist in Vorhandenes gewoben, in bekannte und erkennbare Manifestationen. Und es führt in fremde Gefilde. Auf diesem doppelten Weg entsteht ein semantisches Netz aus Wahrheit und Fiktion. Wer diese Netz-Erfahrung einmal gemacht hat, den wird die Lust auf die Fremde bzw. auf die Mischung von Vertrautem und Fremdem nicht mehr los lassen. Diese manifeste Verbindungslust ist gekoppelt mit einem Drang zur Leere: Wenn Kontingenz als Potenz zur Entstehung neuer Verbindungen greifbar wird, wird zugleich die Abwesenheit als generatives Moment spürbar. Weil ich mich dafür interessiere, wie gute Wissenschaft entsteht, möchte ich mir den Anlass für eine Forschungsbewegung genauer ansehen. Wie kommt es eigentlich zu der Erfahrung: Das verstehe ich nicht? Inwiefern wirft ein aufgesammeltes Stück Wirklichkeit Fragen auf? Wie kommt es zu Inspiration? Wie lässt sich der Drang zu forschen erklären? Ich möchte dafür diese beiden Linien verfolgen: Konstanzprinzip (Lustprinzip): Realitätsprinzip Aufruhrprinzip (Zerstörungsprinzip): Fiktionsprinzip Der Ausgangspunkt dafür liegt in diesem, bei Ricoeur aufgesammelten, Gedanken: Das Lustprinzip ist »[...] absolut genommen, eine immer schon überwundene Fiktion [...]« (Ricoeur 1969/1974: 273). Er bedeutet: Das Konstanz-, d.h. Lustprinzip erschafft Strukturen. Diese Strukturen basieren auf Phantasien, die der Wunsch in uns auslöst. Der Wunsch ist die arché unserer einfachen, existenziellen Wahrheit: Ich brauche etwas, ich brauche jemanden. Die menschliche UrSexualität, ihre polymorphe, frei bewegliche Anlage korreliert mit der Phantasie des Geistes. Die Triebhaftigkeit ist Garant für die Fiktion. Die erste Kette vom Konstanzprinzip zum Realitätsprinzip, stellt die Fiktion dabei in den Dienst der Wirklichkeit. Das Ich sorgt dafür, dass der gewaltige, ungerichtete freie Strom des Triebs, der wie ein wilder Fluss unterschiedliche Abschnitte, Phasen, Zonen und Objekte beinhaltet, der sich mit den Jahreszeiten verändert, verschiedene Tempi vereint, mit einem Wort, der natürlich fließt, kanalisiert wird. Die so errichteten Triebkanäle homogenisieren die Phantasie, was dem Geist ein Unbehagen an der Kultur verschafft. Dieses wird durch das Über-Ich verschärft, wenn das Gewissen die Dämme noch höher zieht, so dass zu der Trostlosigkeit eines Kanalsystems noch die Mutlosigkeit hinzukommt. Es ist wie es ist und es wird immer sein wie es immer war: Ende der Phantasie. Freud

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bringt einen Pessimismus3 in Bezug auf die geistige Entwicklung des Menschen zur Sprache. Er liefert aber auch Ansätze, die optimistisch machen bezüglich einer freien geistigen Entwicklung. Denn, er ist sicher: Die Libido hält von Natur aus alle Verletzungen der gewöhnlichen Moral vorrätig und behält diese Kraft ein Leben lang. Ricoeur zählt Freuds Vorstellungen von der Unzerstörbarkeit des Wunsches, von der Zeitlosigkeit des Unbewussten sowie einer ursprünglichen Abirrung des Geschlechtstriebs als Kontra-Kanal-Elemente auf und bringt selbst folgende Überlegung ins Spiel: »Deshalb ist auch die menschliche Sexualität der Ort für eine ähnliche Auseinandersetzung wie jene, die die Sophisten über die Sprache führten, die Auseinandersetzung zwischen physis und nomos; die menschliche Sexualität, als Sprache, ist sowohl institutioneller wie natürlicher Art.« (Ricoeur 1969/1974: 205)

Das heißt, wir dürfen alles vom Trieb als Kraft und Motor zu Sinnstiftung erwarten. Die Frage ist wieder und erneut eher: Was können wir dem Trieb persönlich abverlangen? Wenn der Tod als innere Notwendigkeit alles Lebenden begriffen wird und Eros zum Weg- und Ausgestalter des mit der Geburt einsetzenden Sterbens, wird der Andere, aber auch das Andere, mit dem wir uns erotisch verbünden, potenzi ell zu einer Komplizin für die Freiheit der Phantasie und des Geistes. Und weil die Andere in ihrer Vielheit und Andersheit auch unfassbar ist, bringt dieser Weg eine sehr schöne Variante der Fiktion ins Spiel, die des Eros. Mit der anderen Kette, der vom Aufruhrprinzip zum Fiktionsprinzip, bekommen Phantasie und Freiheit in Bezug auf die seelische Entwicklung aber noch eine weitere starke Unterstützung; ich möchte sagen, ihre eigentliche dynamische Basis. Denn Eros ist nicht das einzige, was den Topos des Anderen hochhält. Auch Thanatos ist ein Dämon4. Und seine Kraft besteht gerade darin, die Ungewissheit der Wahrheit hochzuhalten, indem er den Schein, der sich als 3

Vgl. »[...] Einen für Freud sehr charakteristischen Pessimismus, den sämtliche neufreudianischen Spielarten zu mildern oder zu eliminieren trachten [...].« (Ricoeur 1969/1974: 204)

4

Vgl. Sokrates nach Feuerstein, auch wenn ich ein anderes semantisches Netz mit den selben Begriffen aufspanne: Der Dämon kann »[...] in der Philosophie als Urgrund (arché) der Wahrheitssuche gedeutet werden. Der mit Nichtwissen und in Folge mit thaumazein (Staunen) – das für Platon den Anfang der Philosophie bedeutet – in Ver bindung stehende daimon, ist mit den ursächlichen philosophischen Fragen verknüpft. Er ist der Impetus hinter die dóxa (Meinungen) zu schauen, um die alétheia (Wahrheit) zu entdecken: ›Ein daimon ohne einen Philosophen ist ein Gott ohne Olymp.‹«

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Wahrheit ausgibt, zerstört. Dieser Schein verdeckt zugleich die Wahrheit und verdreht die Wirklichkeit; er macht den Anschein, dass wirklich und wahr dieselbe Qualität seien. Diese scheinbare Identität macht Thanatos zunichte. Er versetzt in Aufruhr, indem er das nicht gelten lässt. Mit ihm blitzt die Möglichkeit, dass es anders ist, auf. Mit ihm verschwindet jede Garantie auf eine bestimmte Wirklichkeit. Ich denke, nichts sichert den unverzichtbaren Stellenwert der Fiktion in Bezug auf Wahrheit so, wie ihr thanatischer Drang zur Unbestimmtheit und dessen Verweis auf die existenzielle Abwesenheit von einem bestimmten Sinn. »Wie hatte man überhaupt annehmen können, dass irgendeine Norm in sich selbst aus ihrer eigenen Natur heraus die Garantie für unverbrüchliche, unverzichtbare Geltung enthalte? In der alten Welt war dies durch Ursprungsmythen garantiert gewesen – ihrerseits Auf lösungen der Paradoxie des Anfangs ohne ein ›vorher‹.« Luhmann 2008 a: 236)

Wenn Normierungen die Wahrheit verstellen, bringen Fiktionalisierungen sie am anderen Ende wieder zum Erscheinen. Der Zweifel und die Phantasie sind die beiden stärksten Motoren für Forschung: Das nicht gelten lassen von Wahrheitsbehauptungen und die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Darin wurzeln wissenschaftliche Ethik und Erkenntnis. Worin, wodurch, womit wird dem forschenden Geist ein neues Stück Erfahrung gegeben? Ricoeur favorisiert hier das Symbol. Seine Fassung des Symbolischen als Gabe der Sprache – man kann sagen, als die Erfahrung der Doppel- oder Mehrdeutigkeit beim Sprechen eindeutiger Worte –, macht das Symbol zu einem Appell an den forschenden Geist. Es appelliert an die philosophische Reflexion. »Einzig die abstrakte Reflexion spricht von nirgendwoher. Um konkret zu werden, muss die Reflexion ihren unmittelbaren Anspruch auf Allgemeinheit aufgeben, bis sie die Not »Das Daimonion teilte sich Sokrates akustisch, als innere Stimme und in Form von Träumen mit. [...] Das Daimonion dachte Sokrates unabhängig vom eigenen Ich, weshalb es Erkenntnisse mitzuteilen in der Lage war, die der vernunftsgemäßen Rationalität verborgen blieben. Den Dämon schätzte Sokrates als unfehlbare Instanz, weshalb er Anweisungen auch gegen seine eigene Einsicht befolgte. Während Irrtümer menschlich sind, ist das Daimonion göttlich. Sein Daimonion wurde ihm schließlich zum Verhängnis: ›Er sprach oft und gern von seinem ›Daimonion‹, und so bekannt war diese Seltsamkeit, daß die Anklage darauf fußen und ihm vorwerfen konnte, ›er führe neue dämonische Wesen (kaina daimonia) ein‹.‹ Als unbeugsamer Polisbürger stellte sich Sokrates seiner Anklage und folgte dem Dämon seines Gewissens bis in den Tod.« (Feuerstein, http://www. myzel.net vom 28.04.2017)

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wendigkeit ihres Prinzips und die Zufälligkeit der Zeichen, durch die hindurch sie sich wiedererkennt, miteinander verschmolzen hat. Und gerade in der Bewegung der Interpretation kann sich diese Fusion vollziehen.« (Ricoeur 1969/1974: 61)

Das heißt nicht weniger, als dass jede Form von Gültigkeit einer Aussage durch den zur Sinnschöpfung notwendigen Akt der Interpretation untrennbar verbunden ist mit einer Zufälligkeit der Zeichen. Anders formuliert heißt das: Was gilt, ist zufällig. Denn das Prinzip der Gültigkeit liegt in der Mehrdeutigkeit. »Die Forderung nach Eindeutigkeit gilt nur für eine Rede, die sich als Argument darstellt: die Reflexion aber argumentiert nicht [...].« (Ebd. 66) An dieser Stelle markiert Ricoeur Aristoteles als anschlussfähigen Denker des Paradoxen: »Aristoteles hat als erster genau erkannt, dass die philosophische Rede sich nicht der logischen Alternative des Eindeutigen und des Zweideutigen unterordnet, weil das Seiende kein ›Gattung‹ ist; zwar wird das Seiende ausgesagt, doch ›es wird auf vielfache Weise ausgesagt‹.« (Ebd. 67) In diesem Sinne setzt sich die reflexive Forschung Illusionsabbau einerseits und Rehabilitierung der Wahrheit als Sinnforschung andererseits auf ihre Agenda: »[...] Diese beiden Unternehmen haben das gemeinsame Ziel, den Ursprung des Sinns in einen anderen Mittelpunkt zu verlegen, welcher nicht mehr das unmittelbare Subjekt der Reflexion – das ›Bewußtsein‹ –, das wachsame, auf seine Präsenz bedachte, um sich selbst besorgte und an sich selbst gebundene Ich ist. Somit repräsentiert die von ihren entgegengesetztesten Pole aus angegangene Hermeneutik zunächst eine Kontestation und eine Prüfung der Reflexion, deren erste Bewegung es ist, sich mit dem unmittelbaren Bewusstsein zu identifizieren. Uns von den Widersprüchen der extremen Hermeneutiken zerreißen zu lassen heißt, uns dem Staunen zu überlassen, das die Reflexion in Gang setzt: zweifellos müssen wir von uns selbst getrennt, aus dem Mittelpunkt vertrieben sein, um endlich zu wissen, was Ich denke, ich bin bedeutet.« (Ebd. 68)

Wenn sich der Mensch in Bezug auf seine Fähigkeit zu Erkennen weder auf einen einfachen Ursprung noch auf eine eindeutige Bestimmung berufen kann, wird verständlich, warum beide Topoi in der menschlichen Kulturgeschichte ständig auftauchen: Woher kommst Du? Wohin gehst Du? Mir scheint, jede Erfahrung, die dem Menschen Hinweis in Bezug auf diese beiden Fragen ist, nimmt er zum Anlass für Forschung. Denn er weiß es nicht. Er weiß nur eines mit Sicherheit: Es weiß auch kein anderer Mensch. Dazwischen liegt die Wirklichkeit, deren Qualität gerade darin besteht, das zu sein, was sie ist: gelebtes Leben, Autopoiesis. Sein und Tun sind hier dasselbe; das Leben lebt von selbst. Alles, was ist, ist hier gleich wahr; allein diese Definition von Wahrheit bleibt erkenntnisfrei. Erkenntnis – und man sieht hier gut, warum Erkennen ein Problem,

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zumindest aber eine Problemstellung ist – ist möglich, weil die Wahrheit gerade nicht das ist, was ist. Weil sie die Qualität der Mehrdeutigkeit und Intentionalität darstellt, ist Erkennen gleichbedeutend mit Sinnschöpfen. Forschung beginnt mit einem Fundstück, das zu einer Interpretation bezüglich Ursprung und Bestimmung inspiriert. Ricoeur nennt solche Fundstücke authentische Symbole und qualifiziert sie als erfahrbare Einheiten, die eine paradoxe Textur haben: »Meine These ist die folgende: das, was die Psychoanalyse Überdeterminierung nennt, lässt sich nicht außerhalb einer Dialektik zweier Funktionen verstehen, die zwar als Gegensätze gedacht werden, die das Symbol aber in einer konkreten Einheit koordiniert. Die Ambiguität des Symbols besteht dann nicht in einem Mangel an Eindeutigkeit, sondern in der Möglichkeit, gegensätzliche und in sich kohärente Interpretationen zu tragen und zu erzeugen. Die beiden Hermeneutiken, von denen die eine dem Wiederauftauchen archaischer, zur Kindheit der Menschheit und des Individuums gehörender Bedeutungen, die andere dem Auftauchen von antizipatorischen Gestalten unseres geistigen Abenteuers zugewandt ist, tun nicht anderes, als in entgegengesetzten Richtungen die Anfänge des Sinns zu entwickeln, die in der reichen und rätselvollen Sprache enthalten sind, welche die Menschen erfunden und zugleich empfangen haben, um ihre Angst und Hoffnung auszudrücken.« (Ebd. 507)

Erkenntnis bedeutet, eine Erfahrung der Transformation von Abwesenheit und Anwesenheit zu machen. Forschen heißt, im Dunkeln tappen und dabei in einer bestimmten, nachvollziehbaren Bewegung Lichtkegel in die Dunkelheit zu werfen: Gestalten werden sichtbar und man kann versuchen, Worte dafür zu finden. Thanatos versetzt in Aufruhr, indem er die Behauptung, das Wirkliche sei die Wahrheit, zunichte macht. Die auf den Tod verwiesene Triebhaftigkeit zerstört diese Illusion und entlarvt sie als Beruhigungsstrategie. Die Wahrheit ist: Wir müssen leben und sterben und haben keine Ahnung, was das soll. Wäre die Wirklichkeit schön, oder zumindest in Ordnung und erträglich, könnte man vielleicht auf Reflexion verzichten. So aber, wie es ist, bleibt dem Menschen, um gut leben zu können, nichts anderes übrig, als ein ethos zu entwickeln. In Bezug auf Forschung kann das, meiner Meinung nach, nur bedeuten, die Fiktionalität der Gestalten, die man schöpft, nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Die dafür notwendige und aufgebrachte Phantasie ist der dem Geist eigene Reichtum. Wer damit geizt, verkennt die conditio humana. Phantasie als Hirngespinste zu bezeichnen ist einerseits richtig, verfehlt in der darin enthaltenden Abwertung aber, dass es der Körper selbst ist, der uns diese Phantastik beschert. Das Fundstück nämlich, welches sich als Symbol im Ricoeurʼschen Sinne und damit zum Anlass für Forschung erweist, hat einen körperlichen Aspekt.

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Das unterscheidet das Fundstück von einer reinen Erfindung: während ersteres in einer Erfahrung (sei es als Körper oder an äußeren Körperdingen) entsteht und damit als Wirklichkeit die Wahrheit in Gang setzt, ist zweiteres (wenn es nicht als Erfindung ausgewiesen wird) im strengen Sinne Lüge. Die Gabe des Geistes besteht darin, die Abwesenheit von Eindeutigkeit, d.h. den fiktionalen Anteil alles Anwesenden erkennen zu können. Jede Aussage ist ein Kompromiss in Bezug auf die Mehrdeutigkeit der Wahrheit5. »[Jede] einseitige Theorie des Symbols scheint meiner Meinung nach an einem bestimmten Punkt zu scheitern: zwar trägt sie dem Ersatzcharakter, dem Kompromisswert des Symbols Rechnung, nicht aber seiner Kraft, seinen eigenen Ursprung zu verleugnen und zu überwinden.« (Ricoeur 1969/1974: 515, Fußnote)

Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen Ricoeur Freud als zu kurz greifend kritisiert: Indem Freud sich entschied, den Ödipusmythos nicht nur symbolisch, sondern historisch zu begreifen, unterliefen ihm Vereinfachungen in Form von Analogiebildungen. Freud verliert an diesen Stellen eine, für ihn ansonsten typische Forschungsstärke, die gerade darauf beruht, seine Triebsetzung hermeneutisch für Erkenntnis zu nutzen und legt sich, statt den Mythos als historische Erfahrung und damit als Symbol zu interpretieren, auf eine Wirklichkeit fest. »Die psychoanalytische Deutung hat sich damit in eine realistische Archäologie projiziert; sie bespiegelt sich selbst in einer wörtlichen Deutung des Totemismus. Der Sinn des Ödi puskomplexes, erschlossen im Filigran der Träume und Neurosen, erstarrt zu einer realen Äquivalenz: das Totem ist der Vater; der Vater wurde getötet und verzehrt; die Reue der Söhne findet nie ein Ende; um sich mit dem Vater und sich selbst zu versöhnen, haben sie die Moral erfunden: wir haben jetzt ein reales Ereignis und nicht mehr die Phantasie. [...] Als wissenschaftliches Dokument genommen ist TOTEM UND TABU nur ein gewaltiger circulus vitiosus, bei dem die Phantasie des Analytikers mit der Phantasie des Analysier ten übereinstimmt. Ich meine also, dass man, will man der Psychoanalyse einen Dienst erweisen, nicht ihren wissenschaftlichen Mythos als Wissenschaft verteidigen soll, sondern ihn als Mythos interpretieren muss.« (Ricoeur 1969/1974: 217)

Es besteht ein alles entscheidender Unterschied darin, ob man annimmt, dass auch Ur-Phänomene in Prozessen und Strukturen interpretativ begreifbar sind und man sie auf diese Weise als Hypothesenpflöcke einsetzt, oder ob man sich auf einen bestimmten Prozess und eine bestimmte Struktur als wirklichen Aus5

Vgl. hier noch einmal: »Sprechen macht mir Angst, denn da ich nie genug sage, sage ich immer auch zu viel.« (Derrida 1967/1976: 19)

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gangspunkt festlegt. Ich denke, Freud ist hier über seinen Anspruch der Aufklärung und seinen Glauben an die Wissenschaft gestolpert. Und er konnte seine eigene theoretische Fiktion des Thanatos nicht mehr zu der notwendigen, grundlegenden Revision seines Werkes nutzen. Wenn Freud sagte, dass er den Weg der Realität für den aller schwierigsten hält, dachte er dabei nur in den Kategorien des Eros. Man kann annehmen, dass er seine Ursprungssetzung revidiert hätte, hin zu einer dynamischen Auffassung des Ursprungs als In-Kraft-Setzung. Sein Destruktionstrieb bereitet diesen Schritt auf alle Fälle vor. Und Ricoeur geht hier über Freud hinaus; indem er den Ursprungs-Gedanken als eine Dynamik der Paradoxie, mit der ihr eigenen Fallenstellung, betrachtet: »Es scheint, dass ein solcher Horizont mittels einer Art diabolischer Verkehrung ständig dahin tendiert, sich in ein Objekt zu konvertieren. [...] Der transzendentale Schein ist nicht ein bloßer Irrtum, ein purer Zufall in der Geschichte des Denkens, er ist eine notwendige Illusion. Hier liegt meiner Meinung nach der radikale Ursprung eines jeden ›falschen Be wusstseins‹, die Quelle aller Problematik der Illusion, jenseits der sozialen Lüge, der Le benslüge, der Wiederkehr des Verdrängten; Marx, Freud und Nietzsche operieren bereits auf der Ebene sekundärer, von der Illusion abgeleiteter Formen; daher sind ihre Problematiken partiell und rivalisierend.« (Ebd. 541)

Den Ursprung als sich konvertierenden Horizont zu begreifen, finde ich einen starken, konsequenten Gedanken. Doch während Ricoeur diesen Horizont in den Farben des Heiligen zeichnet, interessiere ich mich für die Farben der Wahrheit in der Mischung mit denen der Fiktion. Dies scheint mir aber vor allem aber ein Unterschied des Interesses zu sein, denn auch Ricoeur schreibt dazu: »Die Gefahr besteht tatsächlich darin, in eine rein antithetische Auffassung der Hermeneutik zurückzufallen, folglich den Gewinn unserer geduldigen Dialektik zu verspielen und dem Eklektizismus zum Sieg zu verhelfen, den wir von Stufe zu Stufe gejagt und vertrieben haben. Deshalb kommt es darauf an zu zeigen, dass eine Problematik des Glaubens notwendig eine Hermeneutik der Entmystifizierung impliziert.« (Ebd. 541)

Dieser Punkt ist für die hier gezeigte Forschungsbewegung ebenso zentral. Es geht bei meinem Erkenntnisweg um Entmystifizierung und Glauben. Mit anderen Worten: um die Fähigkeit, Aussagen zu Wirklichkeit und Wahrheit nicht antithetisch, sondern paradox entwickeln zu können. Aber um hier deutlich zu werden und einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Es geht mir um die Entmystifizierung der Wirklichkeit (nicht des Glaubens) und um den Glauben an die Fiktion, an ihre Wichtigkeit in Bezug auf Wahrheit. Ob man diesen Aspekt nun in Bezug auf den Topos des Heiligen, des Sublimen oder der Fiktion prakti-

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ziert, erscheint mir zweitrangig. Die relevante Frage, die sich in Bezug auf alle Forschungsfelder stellen lässt, die man stellen muss, hat immer mit dem gefährlichen Verhältnis von Macht und Wissen zu tun, d.h. mit der Gefahr, dass sich Herrschaft mit Behauptung (und schlimmstenfalls darauf beruhender Enthauptung) inszeniert. Faszinierend und beruhigend ist für mich, dass die Wahrheit, obwohl sie eine so große Unabhängigkeit von Wirklichkeit hat, dennoch ständig in ihr auftaucht: Wie macht sie das? Schnitt. Was bedeutet es, wenn gute Fiktion (ein Text, ein Film, ein Bild, eine Bewegung, Musik etc.) einen mehr trifft als irgendeine Aussage der Wirklichkeit? Und wie soll man dieses Getroffen-Sein anders verstehen, als dass es existenziell etwas mit einem zu tun hat? Und warum sollte man nun ausgerechnet in diesen extrem starken Formen von Erfahrung keinen Bezug zur Wahrheit sehen? Mich interessiert diese Sichtweise: Der Unterschied von Wirklichkeit und Fiktion besteht nicht primär in ihrem unterschiedlichen Wahrheitsbezug, sondern in ihrer unterschiedlichen diskursiven Einbettung (wie Foucault sagen würde), oder ihrer Zugehörigkeit zu anderen Funktionssystemen und damit anderen Kommunikationsformen (wie Luhmann sagen würde), oder hat etwas mit der Phantasiefähigkeit zu tun (wie man psychoanalytisch sagen könnte). Da ich mich nicht für das Wissenschaftssystem als solches interessiere, sondern dafür, das Menschsein zu beforschen (mit dem Fokus auf die Frage, was ist ein gutes Leben als Mensch), gibt es für mich keinen Grund, die Notiz einer fiktiven Ge schichte über das Schicksal als Mensch wissenschaftlich weniger aufschlussreich oder relevant zu finden, als die Notiz einer ›wahren Begebenheit‹; solange – denn das ist der eigentlich zentrale Punkt – darin eine Drehbewegung zwischen Erfahrung und Wahrheit vollzogen wird. Das aber kann eine Fiktion ebenso gut wie eine Wirklichkeitsbeschreibung leisten (und können beide genauso gut verfehlen). Fiktives kann sogar der treffendere Tausch in Bezug auf Wahrheit sein. Und die Dokumentation der Wirklichkeit kann der Versuch sein, Wahrheit zu verschleiern. »Die Härtung der Realität wird erst über Fiktionalität möglich [...]. Anders als Gesellschaften, die von einer religiösen Weltsetzung ausgingen, können wir Heutigen diese auf Verdoppelungen beruhenden Realitätsbeschreibungen nicht mehr in einem transzendentalen Prinzip zusammenfassen. Auch das transzendentale Subjekt hat in dieser Hinsicht [...] versagt. Unsere Gesellschaft beschreibt sich selbst ›polykontextural‹, das heißt mit einer Mehrheit von Unterscheidungen, wobei die Unterscheidungen mit denen ein Beobachter seine Gegenstände bezeichnet, zugleich dazu dienen, ihn selbst von seinen Gegenständen

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zu unterscheiden, ihn also in einen ›unmarked space‹ zu versetzen, von dem aus er etwas, aber nicht sein Beobachten, beobachten kann.« (Luhmann 2008 a: 232) »Die abendländische Geschichtswissenschaft liegt mit der Fiktion im Kampf. [...] In Ihrem Kampf gegen das genealogische Fabulieren, gegen die Mythen und Sagen des kollektiven Gedächtnisses oder das Ausufern der mündlichen Traditionen erzeugt die Historio graphie eine Distanz zum Alltagsgerede und Aberglauben, in der sie sich ansiedeln kann.« (Certeau 1987/2006: 33)

Die Wissenschaft (in ihrer abendländischen Institutionalisierungsform) ist bestrebt, sich von der Fiktion abzugrenzen. Es soll science, fiction und science fiction geben. Zwei davon sollen als Genres gelten und eines soll sich auf etwas ganz anderes beziehen. Was ist was? Die Fiktion ist »[...] ein Diskurs, der das Reale in eine Form bringt, ohne den Anspruch, es zu repräsentieren, noch es sich anzurechnen. Dadurch unterscheidet sie sich grundlegend von der Historiographie, die immer danach strebt, das Reale zu verkünden – und sich damit niemals davon lösen kann« (ebd. 36).

Certeau sagt, der Unterschied besteht in dem Anspruch auf Wahrheit, auf Verkündung des Realen6. Die institutionalisierte Wissenschaft sagt, sie allein genügt dem Anspruch auf Wahrheit und begründet dies damit, dass sie wissenschaftliche Methoden anwendet; so will sie einen objektiven Zugang zu Wirklichkeit si6

»Sicherlich erfüllt diese Repräsentation der Historiker in einer Gesellschaft oder Gruppe eine notwendige Funktion. Sie flickt unaufhörlich die Risse zwischen Vergan genheit und Gegenwart zusammen. Sie verbürgt einen ›Sinn‹, der die Gewalttätigkeit und die Gegensätze unserer Zeit überwinden kann. Sie schafft einen Schauplatz der Bezüge und der gemeinsamen Werte, die der Gruppe eine Einheit und symbolische Kommunizierbarkeit verleihen. Kurzum, sie ist, wie Michelet sagte, die Arbeit der Lebenden, um die Toten zu beruhigen und um alles Geschiedene unter dem Anschein der Präsenz zusammenzuführen, der die Repräsentation selbst ausmacht. Sie ist ein verbindender Diskurs, der gegen Spaltungen ankämpft, die die Konkurrenz, die Ar beit, die Zeit und der Tod erzeugen. Doch dieser soziale Auftrag ruft gerade nach der Verdunkelung all der Faktoren, die Besonderheit der Repräsentation erst erzeugen. Er führt dazu, die Wiederkehr der gegenwärtigen Spaltung auf dem symbolischen Schau platz zu vermeiden. Der Text ersetzt also die Aufklärung der institutionellen Vorgänge, die ihn selbst fabrizieren, durch die Repräsentation. An die Stelle der Praxis, die ihn produziert, setzt er den Anschein eines (vergangenen) Realen: quid pro quo.« (Certeau 1987/2006: 39)

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chern, der wahre Aussagen produzieren soll. Ich aber frage mich: Wenn es genügt, die Wirklichkeit objektiv zu erfassen, um zu Wahrheit zu gelangen, warum hat der Mensch dann ein Problem mit der Wahrheit? Warum gelingt es dann, seit Gott diese Stelle nicht mehr allgemeingültig einnehmen kann, nicht mehr, zu einem Konsens bezüglich der Wirklichkeit zu gelangen? Oder hat der Mensch ein Problem mit der Wirklichkeit? Liegt es am Menschen? Gibt es einen Menschen, der die Wirklichkeit kennt und erkennt? Ist das vorstellbar? Wenn aber nicht, wozu dann versuchen, so zu tun, als sei das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit allein eine Frage des Zugangs zu Wirklichkeit? Auch für Certeau spielt bei seiner Entwicklung einer alternativen Erkenntnistheorie Freuds Arbeit eine wichtige Rolle. Er schlägt konkret vor, das aus der Erkenntnis Verdrängte hervorzuholen und als Teil des Forschungsprozesses anzuerkennen. Certeau denkt dabei insbesondere an eine Wiederaufnahme der Leidenschaften und generell an die Berücksichtigung der Konsequenzen, die aus der Ökonomie des Unbewussten folgen.7 Denn, so sein Argument, da die Verdrängung unsere psychische Wirklichkeit ist, besteht eine problematische Fehlsicht (im Sinne einer Illusion) darin, zu denken, es gäbe ein dem Menschen original zugängliches Reales. Im Falle der Geschichtswissenschaft beschreibt er diesen Fehler als Abspaltung all derjenigen Geschichten, die als Fiktion bezeichnet werden von dem, was dann als die eigentliche, die echte, die wirklich stattgefundene Geschichte übrigbleibt. Wie Ricoeur sieht auch Certau die erkenntnistheoretische Legitimität der Psychoanalyse gerade deshalb als gesichert, weil Freud seine Hypothesenpflöcke als solche ausweist und nicht in die Falle tappt, das Unbewusste für das Eigentliche zu halten. Die spezifische psychoanalytische Erkenntnishaltung, jedem Erkennen ein triebhaft bedingtes Verkennen an die Seite zu stellen, ist so automatisch ein Angriff auf die Vorstellung von Wissenschaft als objektivem und positivem Vorgehen.

7

»Die Biografie wird hier zur Selbstkritik der liberalen bürgerlichen Gesellschaft, ausgehend von der von ihr geschaffenen Einheit: Das Individuum, jene epistemologische und historische Figur der westlichen Moderne und Basis der kapitalistischen Ökono mie und der Demokratie, wird zum Schauplatz, auf dem sich die Sicherheiten seiner Erzeuger und Wohltäter auflösen [...]. Das im historischen Raum der Aufklärung entstandene Werk Freuds kehrt die Geste um, die das aufgeklärte Bewusstsein einsetzt. Wo Kant die Rechten und Pflichten des aufgeklärten Bewusstseins einklagt [...], verweist Freud die ›mündigen‹ Erwachsenen mit ihren kindlichen Phantasien auf ihre ›Unmündigkeit‹, das Wissen auf Triebmechanismen, die es bestimmen, die Freiheit auf das Gesetz des Unbewussten, und den Fortschritt auf ein am Ursprung liegendes Ereignis.« (Certeau 1987/2006: 76)

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»Freud modifiziert das historiographische ›Genre‹ indem der Analytiker gezwungen wird, den von ihm (affektiv, imaginär, symbolisch) besetzten Platz zu markieren. Das Erklären dieser Besetzung stellt für ihn die Bedingung einer Klarsicht dar, und auf diese Weise ersetzt er den ›objektiven‹ Diskurs, der das Reale anzusprechen sucht, durch den der ›Fiktion‹, wenn man darunter einen Text versteht, der seine Bezüge zu seinem besonderen Produktionsort offenlegt.« (Ebd. 64)

Die Forschungspraxis der Psychoanalyse ist auf die reflexive Grundsituation der menschlichen Existenz bezogen, was vor allem bedeutet, dass sie nicht nur auf die anwesenden Manifestationen abstellt (auch wenn es diese sind, von denen Freuds Forschung ausgeht), sondern das Phänomen der Abwesenheit dabei mit in Rechnung stellt. Wahrheit ist in meinem Erkenntnisverständnis an diese paradoxe fort/daRealität gebunden. Realität ist, dass Anwesenheit und Abwesenheit gemeinsam existieren, dass es Bewusstes und Unbewusstes gibt, Wissbares und Nicht-Wissbares, Wirklichkeit und Wahrheit, Etwas und das Andere, Leben und Sterben. Dieses Realitätsverständnis hat bestimmte Übereinstimmungen mit der Vorstellung von Wahrheit wie sie Lévi-Strauss für das wilde Denken ausmacht. Reflexives Forschen bedeutet eine Art Denken zu praktizieren, welches ein genuines Interesse am Irrationalen hat sowie/d.h. am Körper und seinen Dynamiken des Genießens und des Sterbens. Dieses Interesse und die zugehörige Praxis teilen sich wildes und reflexives Denken außerdem mit der Fiktion. Certeau konstatiert einen Bruch zwischen der Geschichte und der Literatur und analysiert ihn als machtmotiviert: »Seine Begründung (des Bruchs) findet er in der Grenzlinie, die die positiven Wissenschaften zwischen dem ›Objektiven‹ und dem Imaginären gezogen haben, das heißt: zwischen dem, was sie kontrollieren konnten, und dem ›Rest‹.« (Ebd. 81) Diese Art der Abgrenzung macht für reflexives Forschen keinen Sinn. Das Unkontrollierbare, diejenige Erfahrung, die zum Stolpern bringt, die einen stehen bleiben und staunen lässt, ist hier ja gerade der Ausgangspunkt für Wissenschaft. Die Abgrenzung von reflexivem Forschen zu wildem Denken sowie zu Fiktion erfolgt durch die Aufzeichnung, sprich die Nachvollziehbarkeit des Forschungsweges. Während sich wildes Denken auf die traditionelle Überlieferung und/oder den Glauben beruft und die Fiktion ganz ohne Herleitung auskommt, macht es sich die der Wissenschaft verpflichtete reflexive Denkbewegung zur Aufgabe, ihre Erkenntnis potenziell für jeden und jede, zu jeder Zeit, nachvollziehbar zu machen. Reflexives Forschen setzt dabei aber ein nicht kontrollierbares Element in das Zentrum, von dem die Forschungsbewegung ausgeht. Die Annahme und Akzeptanz der paradoxen Situation des Forschens führt zu einer Revision der Grenzlinien.

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»Indem sie (die Literatur) die Termini der Beziehung anders definiert, ermöglicht sie auch neue Beziehungsformen. Ich werde also hier von Freud ausgehen, um ein bestimmtes Abgrenzungsproblem näher zu untersuchen, das die Neuverteilung des epistemologischen Raums betrifft. Letztendlich handelt es sich dabei um die Beziehungen des Schreibens zur Intuition.« (Ebd. 81)

Freud hat angenommen, seine Methode könne die Forschungspraxis der Humanwissenschaften insgesamt verändern.8 Diese Annahme ist durchaus begründet, denn die psychoanalytische Hermeneutik macht eine Erweiterung des Forschungsspielraums möglich. Aber soweit ist es noch nicht; noch immer lässt sich Denken von dem wissenschaftlichen Diskurs ausschließen. »Während sich die ›Wissenschaftlichkeit‹ einen eigenen Ort aufbaut und alles davon entfernt, was sich nicht anpasst, hält die Freud’sche Analyse die Andersheit fest [...]. Sie zeigt die widersprüchlichen Spiele auf, die sich auf ein und demselben Platz abspielen, zwischen dem, was sich dort manifestiert, und dem, was sich verbirgt, und diagnostiziert so die Unsicherheit und Pluralität des Ortes.« (Ebd. 90)

Reflexives Forschen setzt dabei aber ein nicht kontrollierbares Element in das Zentrum, von dem die Forschungsbewegung ausgeht. Die Annahme und Akzeptanz der paradoxen Situation des Forschens führt zu einer Revision der Grenzlinien. »Das Schicksal der Leidenschaften ist in der Tat recht seltsam. Nachdem die älteren medi zinischen und philosophischen Theorien [...] sie als bestimmende Bewegungen aufgefasst haben, deren Zusammensetzung das soziale Leben organisiert, wurden sie von der Ökonomie des 19. Jahrhunderts ›vergessen‹ oder in den Bereich des ›Literarischen‹ verbannt. [...] Erst durch Freud erscheinen die aus den Wissenschaften verstoßenen Leidenschaften wieder in einem ökonomischen Diskurs. Dieser Punkt ist bedeutend: Auf ihre Weise gibt die Psychoanalyse zugleich den Leidenschaften, der Rhetorik und der Literatur ihre Relevanz zurück, die alle historisch eng untereinander verbunden sind und die gemeinsam aus der positivistisch verstandenen Wissenschaftlichkeit ausgeschlossen wurden. Diese Wiederkehr vollzieht sich bei Freud über den Umweg des Unbewussten.« (Ebd. 92)

Die Logik des wahr/unwahr-Codes wird von Freud in einem anderen semantischen Netz aufgezogen, das er als dynamisch durchwoben begreift. Richtig und falsch ist hierfür keine passende Kategorie. Diese wird dem gesunden Menschenverstand vorbehalten; der ist in der Lage diese Feststellung zu treffen. Der 8

Vgl. Certeau 1987/2006: 82.

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reflexive Geist hingegen weiß um sein Schwanken und erkennt den strategischen Punkt, das paradoxe Drehmoment darin, als sich selbst. In einem positivistischen Wissenschaftsverständnis wird das Nicht-Wissbare in Schach und zugleich die paradoxe Position des Forschungssubjekts außer Reichweite gehalten mit der Autorität der Institution. Beides muss Tabu bleiben. Diese Form von Wissenschaft funktioniert deshalb auch recht reibungslos, solange diese Grenzen eingehalten werden. Allerdings eben auch recht phantasie- und leidenschaftslos. Das ist der Preis, der gezahlt werden muss, wenn sich Wissenschaft positivistisch versteht; ein Verständnis, das wir auch als Eros und seinen Manifestationen (das offiziell Sichtbare9 und Sagbare) unterstellt, begreifen können. Die Glaubwürdigkeit eines Forschens, das sich gleichermaßen auf Eros wie auf Thanatos beziehen möchte, ist demgegenüber, nicht so einfach herzustellen. Es genügt nicht, Tabus zu errichten und darüber die Grenzen der Gültigkeit festzulegen. Warum geht das in diesem Fall nicht? Weil das Tabu als dynamisches Element und die Frage nach der Rechtschaffenheit (der Bereich der Gültigkeit) als Effekt dieser Dynamik begriffen wird. Weil es eben nicht nur um die Beschreibung einer Struktur geht, sondern darum, Prozess und Struktur gemeinsam zu erfassen. Dass die Struktur deshalb immer in einem Bezug zu einem Nichts, zu der Abwesenheit von Struktur steht und nicht feststeht, wo und wie die Dynamik sie gestaltet, ist der kritische Punkt dabei. Theorie ist hier in keinem Sinne von Praxis zu trennen. Und die Praxis steht und fällt in diesem Fall mit ihrem re flexiven Bezug. Der kann auf unterschiedlichen Wegen hergestellt werden, ist aber notwendig verbunden mit einer Negativität, einer Abwesenheit, einem Anderen und dem Bewusstsein darüber, dass der exakte Punkt des Wechselns von einem ins andere nicht angegeben werden kann. »Seine [Freuds] Theorie der Schrift muss mit seiner Schreibpraxis verglichen werden. Ich werde hier den entscheidenden Moment in seiner Vorgangsweise isolieren: die Stelle, wo er im Mann Moses das Nichts bezeichnet, auf dem die ›Geschichtsschreibung‹ errichtet 9

»Das Sichtbare ist für Foucault in der Tat das Feld, auf dem sich Wissen und Macht neu konstituieren. Seiner Ansicht nach bildet es das gegenwärtige Theater unserer grundlegenden Handlungsmöglichkeiten. Auf diesem Schauplatz stehen sich die polizeiliche Überwachung des Raumes und eine Wachsamkeit für das Andere, das sich dort noch ereignet gegenüber. Auf diesem epistemologischen Schlachtfeld setzt die Arbeit des Philosophen den Systemen, die den Raum ihrer Überwachung unterwerfen, die aus Paradoxa entspringenden Zufälle oder die Diskontinuitäten entgegen, die innerhalb der panoptischen Nivellierung das Denken aufbrechen. Zwei Praktiken, den Raum zu behandeln, prallen so im Feld der Sichtbarkeit aufeinander [...].« (Certeau 1987/2006: 111)

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wird. Sie soll das Beispiel für Freuds Praxis des Schreibens abgeben. Mithilfe eines Kunstgriffs, der regelmäßig an den Wendepunkten seiner Analyse wiederkehrt, autorisiert Freud hier seine Erfindungen am Ende nicht durch Beweise, sondern durch ein Zitat, das die Form seines Denkens zeigt. Es handelt sich dabei um ein Gedicht, das heißt, um ein Schreiben, dessen ›Wahrheit‹ von nichts unterstützt wird außer vom Bezug zu sich selbst, von seiner Schönheit. Das zitierte Fragment stammt von Schiller (aus Die Götter Griechenlands): ›Was unsterblich im Gesang soll leben. Muss im Leben untergehen.‹« (Ebd. 97)

In letzter Konsequenz muss reflexives Forschen auf die Vorstellung, erkennen zu können, verzichten. »Es ist ein Verlust an Wissen, mehr als das, denn bei Freud ist Verlieren nicht zu trennen von Verlieren-Wollen: Die Geste des Schreibers besteht hier in der Tat darin, sich in das ›Nichts‹ des Gedichts zu stürzen. [...] Kurz gesagt, das Gedicht macht ihn glaubwürdig, weil es einen Glauben hervorbringt.« (Ebd. 98)

Diesen Verzicht bringen sowohl Ricoeur als auch Certeau mit einem Glauben in Verbindung, genauer: mit einem Gewinn an Glauben. Doch während Ricoeur hierbei an die Möglichkeit des religiösen Glaubens denkt, bringt Certeau den Glauben an die Kunst ins Spiel. Mallarmé10 »[...] deutet sehr genau darauf hin, was das Schreiben mit dem ›Nichts‹ verknüpft: ein Glauben. [...] Das Gedicht bildet die Spur dieses Glaubens: es darf nichts ge ben, damit man daran glauben kann; nichts braucht von der Sache zu ›bestehen‹, damit das Schreiben in Gang kommt. Umgekehrt bringt das Gedicht gerade darum einen Glauben hervor, weil es nichts enthält. Wenn Mallarmé in seinen Briefen an Casalis von der Schönheit spricht, meint es dasselbe, wie wenn er vom Glauben spricht. Er bezieht sich auf etwas, das von keiner Realität gestützt wird, etwas das keinem Sein entspringt. Der Glaube ist also eine Bewegung, die aus einer Leere geboren wird und wiederum ein Nichts er zeugt.« (Ebd. 99)

In einem positivistischen Wissenschaftsverständnis hat der Glaube in dem Feld des Wissens nichts zu suchen; deshalb wird der Versuch unternommen, das Wis10 Vgl. Ein Gedichtfragment Stéphane Mallarmés, für den das Nichts zentraler Topos seines Schaffens ist: »Und es darf nichts davon existieren, damit ich es fassen kann und ganz daran glaube Nichts – nichts.« (Certeau 1987/2006: 99)

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sen mit dem Wirklichen zu legitimieren. Was dabei, laut Certeau, passiert, ist, dass ein Diskurs entsteht, dem Wissen unterstellt wird. Der Forscher wird zu einem Wissenden. Das Einhalten des geforderten Tabus verhilft zu einem Status der Autorität11. Für mich persönlich sind Menschen aber dann und nur dann Autoritäten, wenn sie im Zweifelsfall trotz und gegen die Institutionalisierung die Kraft aufbringen, sich ein Tabu aufzuerlegen. Wie alle triebhaften Lebensäußerungen braucht Forschen das Element des Tabus, um würdevoll zu werden; ethische und erkenntnistheoretische Tabus. Letztere bestehen in der Auswahl der Perspektive und des Fokus, d.h. in der Angabe des Gültigkeitsbereiches, über den hinaus keine Aussagen getroffen werden können. Reflexives Forschen beinhaltet dabei gerade die Aufgabe und Anstrengung, die Grenze selbst zu ziehen, gegebenenfalls zu verschieben, diesen Vorgang zu reflektieren und nachvollziehbar zu machen. Die dabei grundlegend andere Herangehensweise zwischen positivistischem und reflexivem Forschen, bringt Certeau auf diesen Punkt: »Die Grenzlinie verläuft somit nicht zwischen Literatur und Geschichte, sondern vielmehr zwischen zwei Formen, den Text aufzufassen: von einer Institution autorisiert oder auf ein ›Nichts‹ bezogen.« (Ebd. 103) Ich denke, die prekäre Forschungslage, in die man sich begibt, wenn man von der Paradoxie des Lebens und Sterbens schreibt, d.h. gleichermaßen an Abwesenheiten interessiert ist wie an Anwesenheiten, erleben alle, die sich dennoch für diesen Weg entscheiden. Ich kann nicht sicher sein, aber ich gehe davon aus, dass die meisten Denkerinnen, die in diesem Text zur Sprache kommen, davon betroffen waren. Erfreulicherweise konnten sich manche Geister des Forschungsprekariats noch zu Lebzeiten Autorität verschaffen. Prominentes Beispiel ist neben Freud auch Foucault. Sein ganzes Werk hindurch war er Angriffen auf seine Forschungspraxis ausgesetzt. Aber seine Kraft und sein Schicksal (dennoch damit Geld verdienen, d.h. einen Lebensmittelpunkt daraus machen zu können) haben es ihm ermöglicht, diese Angriffe gelegentlich zu weiteren Schauplätzen seiner Auseinandersetzung umzuwandeln; beispielhaft hat er dann daran aufgezeigt, auf welche Weise Herrschaftsverhältnisse Auslöser für Kontroll- und Sanktionierungsbedürfnisse freiem Denken gegenüber werden. »Der Gefangene einer Klassifikation, eines Ortes oder einer Kompetenz zu sein, mit den Abzeichen der Autorität bedeckt, die ihren Getreuen eine disziplinäre Zugehörigkeit verbürgt, in der wissenschaftlichen Hierarchie ›etabliert‹ und kaserniert zu sein: das war für Foucault die Figur des Todes selbst. ›Nein, nein.‹ Die Identität lähmt die Bewegung des Denkens. Sie verbeugt sich vor einer Ordnung. Denken aber heißt weitergehen, diese Ord11 »Nehmen Sie dem Autor einer historischen Abhandlung seinen Professorentitel, und er ist nur mehr ein Romancier.« (Certeau 1987/2006: 101)

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nung infragestellen, staunen, dass es sie überhaupt gibt, nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit fragen, ihre Landschaften durchqueren, um die Spuren der sie formenden Bewegung aufzufinden und in diesen scheinbar ruhenden Geschichten zu entdecken, »wie und wieweit es möglich wäre anders zu denken«. (Certeau 1987/2006: 107)

Der Anspruch reflexiver Forschung leitet sich nicht von der Gesamtheit oder einem Apriori-Status des Gegenstandes ab und besteht in diesem Sinne nicht in Kohärenz, sondern eben darin, Widersprüche nicht auflösen zu müssen. Weil hier die Vorstellung herrscht, dass nicht eine Totalität, sondern eine Negativität produktiv wirkt, behält das so Hergestellte immer eine gewisse Zerbrechlichkeit, die mit dem Rätselhaften des Ausgangspunktes korreliert. Wäre ihr Ausgangspunkt nicht rätselhaft, bestünde tatsächlich kein Grund zu forschen. Das Rätsel drückt sich aus in den Fragen: Was ist das? Und wie kann ich das verstehen? Mit Deleuze kann man sagen, es gibt Rätsel, weil sich Dinge ereignen. Er definiert ein Ereignis im Rückbezug auf die Stoiker als das Werden schlechthin, d.h. als unaufhaltbare Teilung in Vergangenheit und Zukunft. Ereignisse haben bzw. sind per se paradoxe Wirkungen. Wenn sich etwas ereignet treten zugleich auf: die Unerschütterlichkeit der Zustände und die Genese im Passieren 12. Der Sinn des Ereignisses wird in der Beobachtung von Dingen/Körpern und was mit ihnen passiert erschaffen. Umgekehrt gilt deshalb auch: ohne Beobachtung kein Sinn. Und weil es keine Beobachtung ohne Beobachterin oder Beobachter gibt, heißt das: Ohne reflexiven Bezug kann man sich nur in der Sphäre von Bedeutung aufhalten, nicht aber in jener des Sinns. Für die Forschung im Feld der Geschichtswissenschaften drückt Certeau dies so aus: »Ich denke, dass die Geschichtsschreibung keineswegs aus der Vergangenheit zu uns herauf dringt, sondern von uns ausgeht und auf eine bestimmte Weise das verständlich macht, was wir als vergangen annehmen oder setzen. In dieser Perspektive ist das Ereignis etwas, das die Geschichte verändert. Man kann auch umgekehrt sagen, dass eine Tatsache nur aufgrund der Veränderungen, die sie in der Geschichtsschreibung nach sich zieht, als ein Ereignis betrachtet werden kann. Wir wissen nicht, was ein Ereignis ist. Doch bilden die durch es ausgelösten epistemologischen Veränderungen eines der Kriterien um es zu beur teilen. Anders gesagt, erlaubt nur das, was man mit dem Ereignis macht, es als solches zu qualifizieren.« (Ebd. 166)

Aufgrund dieses Nicht-Wissen-Könnens schlägt er vor, den Wahrheitsbegriff an die Möglichkeitsbedingungen, wie sie in Erscheinung treten kann, zu binden und kommt zu dem Schluss, »[...] dass das Reale eben jenes Nichtrationalisierbare 12 Vgl. Deleuze 1969/1993: 126.

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ist, das die Rationalisierungen hervorbringt, kurzum das Abwesende, das die Geschichte ermöglicht und ihr entgleitet« (ebd. 167). So ernst das Tabu als Institution zu nehmen ist, so wichtig ist es, die Institution, die tabuisiert, kritisch zu betrachten. Hier muss man sich positionieren und eine Antwort finden auf die Frage: Wodurch wird das Tabu autorisiert? Durch die Not, den Verlust, das Chaos, die Abwesenheit oder durch die Ordnung, die Festlegung, das Positive? Gibt es das Tabu, weil das Gute es mit sich bringt? Oder weil das Böse es erfordert? Oder anders gefragt: In welchem Verhältnis stehen das Notwendige und die Kontingenz in Bezug auf das Tabu? Lévi-Strauss hat für totemistische Kulturen folgende Beziehung analysiert: »Das mythische System und seine Erscheinungsformen dienen also zur Herstellung von homologen Beziehungen zwischen den natürlichen Bedingungen und den gesellschaftlichen Bedingungen, oder genauer, zur Definition eines Gesetzes der Äquivalenz von signifikanten Kontrasten, die auf mehreren Ebenen liegen: der geografischen, meteorologischen, zoologischen, botanischen, technischen, wirtschaftlichen, sozialen, rituellen, religiösen und philosophischen.« (Lévi-Strauss 1962/1973: 111)

In diesem sowie in Freuds Sinne glaube ich: intuitive, körperlich motivierte Tabus und gesellschaftliche Orientierung, d.h. Normen- und Wertesysteme funktionieren dann gut, wenn sie sich gegenseitig stützen. Mit der Kette Konstanzprinzip/Lustprinzip/Realitätsprinzip lässt sich der Verlauf der Dynamik, mit der eine erste Ordnung geschaffen wird, beschreiben. Je ruhiger und angenehmer deren Nutzen sich auswirkt, desto stabiler wird sie sein. Freud nahm an, dass die Vernunft der wichtigste Faktor sei, um nicht nur psychisch, sondern auch sozial bzw. als Gesellschaft ein gutes Leben entwickeln zu können. Er glaubte an die ultimative Kraft des Realitätsprinzips, wodurch der Mensch sich nicht nur bezüglich der intimen Objektwahl zu erziehen in der Lage sei, sondern auch die harten Seiten des Daseins, den Schmerz und das Leid, zu ertragen lerne. Freud legte sich auf die Vernunft auf individueller und auf die Wissenschaft auf kollektiver Ebene, als die beiden stärksten Trümpfe des Menschen, fest. Was können sie stechen? Alles, was sich gegen die Aufklärung stellt. Als Teil dieser muss die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse begriffen werden. Freud entwickelte sie als ein Verfahren, dass dem Menschen hilft, seine Schmerz und Leid verursachenden Fixierungen des Triebgeschehens aus dem Unbewussten zu heben, in einen bewussten Zustand zu versetzen, um so dagegen arbeiten zu können. Er hat die Psychoanalyse der Aufklärung verpflichtet. Zwei Topoi deuten in seinem Werk eine Alternative an, die er selbst jedoch nicht mehr vollzieht: die Kunst und der Tod. Bei Freud bleiben diese Phänomene am Ende an das Realitätsprinzip gebunden. Hier schlägt Ricoeur einen anderen

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Weg vor, der für ihn über den Glauben und die Religion verläuft. Und ich zweige hier auch von Freud ab, allerdings nicht, indem ich Ricoeur folge. Freud hat sich darauf konzentriert, zu zeigen, dass es kein Jenseits des Realitätsprinzips gibt, dass die Notwendigkeit, den Wunsch zu erziehen, das einzige Jenseits ist und zwar eines, das dem Konstanz-, bzw. Lustprinzip entgegen wirkt. Die Einsicht, dass man das Schicksal, ein Mensch zu sein, nur annehmen kann, wenn man die Härte des menschlichen Lebens ertragen lernt, teilt Ricoeur mit Freud und ich mit beiden. »Die Ergebung ist hauptsächlich eine Arbeit am Wunsch, die ihm die Notwendigkeit zu Sterben einverleibt. Im Wunsche wird sich die Realität, insofern sie den Tod ankündigt, einschreiben. [...] Den eigenen Tod aus der Perspektive des Lebens auszuschließen [...] ist das natürliche Bestreben des Wunsches; der Wunsch ist von seiner Unsterblichkeit über zeugt. Das ist ein Aspekt der Widerspruchslosigkeit des Unbewussten.« (Ricoeur 1969/1974: 337)

Wenn die ultimative Aufgabe darin besteht, den Tod zu akzeptieren 13, scheinen mir jedoch nicht Lust-, und Realitätsprinzip die erste Wahl dafür zu sein. Es macht für mich allerdings auch keinen Sinn, ein Jenseits des Realitätsprinzips anzunehmen, denn das könnte nichts anderes bedeuten, als ein transzendentes Feld des Ursprünglichen zu eröffnen. Wenn das kein gangbarer Gedanke ist, wenn man die Wirklichkeit als einzige Ebene, auf der Erscheinungen stattfinden, gelten lässt, kann der Weg nur über eine andere Interpretation des Wirklichen erfolgen. Und das heißt für mich, die existenzielle Verbundenheit der Wirklichkeit mit dem Nicht-Eintretenden, mit der Abwesenheit, mit der Negativität, in den Blick zu bringen. Den Tod kann ich nicht als Teil des Lebens akzeptieren. Er ist nicht Teil des Lebens. Der Tod ist das Andere. Als dieses muss es angenommen und beforscht werden. Aber wie kann man sich das vorstellen? Indem man konsequent bleibt: Wenn jede Erfahrung Ausgangspunkt für Forschung werden kann, wenn eben nicht nur alles potenziell Sichtbare, sondern auch alles Aussagbare ein Fundstück der Wirklichkeit sein kann, dann gehören selbstverständlich alle Äußerungen über innere Zustände dazu. Sie gehören tatsächlich nicht nur dazu, sie sind insofern ein besonderes Feld für Forschungsfundstücke als an ihnen sowohl Inhalt, als auch Dynamik des Sprechens bzw. Kommunizierens untersucht werden kann. Sprechen ist ein eigenartiges Stück Wirklichkeit. Und 13 »(Die) Unsterblichkeit des Es, die mit dem Schuldbewusstsein verknüpfte Todesangst, die Mordgelüste – dies alles sind Schutzschilde zwischen der schicksalhaften Bedeu tung des Todes und uns. Und wir verstehen nun, dass den Tod zu akzeptieren eine Aufgabe ist [...].« (Ricoeur 1969/1974: 338)

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weil es wie nichts anderes die Existenz als Mensch qualifiziert, ist auch nicht anderes so prädestiniert als Ausgangspunkt genommen zu werden, um zu verstehen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Im Sprechen drückt sich faszinierender Weise auch das aus, wovon nicht gesprochen werden kann, jedenfalls nicht auf die gleiche Weise wie über das Sichtbare. Sprechen ist eben auch affektiv. Endlich verstehe ich, warum ich so an der direkten Rede hänge. Eine Position, ja, ein Phänomen, das sich bisher nirgends dingfest machen ließ: nicht in der Subjektstelle von Aussagen (man sagt), nicht in der unbewussten Wunschdynamik, die zum Sprechen treibt (ich will), nicht in der sozialen Dynamik des Kommunizierens (es kommt vor/nicht vor). Die direkte Rede ist das missing link zwischen Mensch und Menschlichkeit. Sie kann sich so weit aus der Wirklichkeit zurückziehen, dass sie tatsächlich nicht mehr auftritt: sie ist nicht garantiert, sie erscheint nicht automatisch, wenn Menschen sprechen. Sie ist eine schwierige Praxis, die sich der Mensch in einem langwierigen Procedere, mit vielen Rückschlägen, da allerorts Fallen lauern (man sagt, ich will, es kommt vor/nicht vor), aneignen muss. Die direkte Rede spricht vom Anderen. Sie bringt den Tod im Le ben zur Sprache, verbindet das Abwesende mit dem Anwesenden, bezieht die Anwesenden auf die Negativität, auf das Ausgeschlossene, auf das, was gerade nicht eingetreten ist. Diese Paradoxie am Sprechen gilt es zu verstehen: solange sie nur auf das Sichtbare bezogen bleibt, solange sie sich in den Spielarten des Diskurses, des Wunsches und der Gesellschaft amortisiert 14, bleibt die Rede indirekt. Erst wenn sie auf das Andere, auf das Ungewusste, auf das, was von der Kommunikation ausgeschlossen wird, mit einem Wort auf die Negativität bezogen ist, qualifiziert sie sich zur direkten Rede. Das nehme ich an. Das kann ich annehmen, weil sich ein Element der Abwesenheit immer wieder in der Welt der Erscheinungen zeigt: die Aufruhr. Als Aufruhr ist das Nichts Teil der Wirklichkeit. Indem der Mensch dieser zu begegnen sucht, setzt das Fiktionsprinzip ein und mit ihm die direkte Rede. Es stimmt, jenseits des Realitätsprinzips ist nichts. Dieses Nichts korreliert mit einem Jenseits des Lebens und einer zweiten Kraft, die paradox zum Leben steht. Das Prinzip dieser Kraft kann nicht Konstanz sein. Konstanz ist für Eros ein relevantes Maß; für ein Triebgeschehen, das uns unsterblich wünschen und lieben lässt, das uns hinaustreibt, immer weiter. Damit wir uns dabei nicht verlieren, braucht es ein Prinzip, dass uns zwischendurch zurück holt und zu Ruhe bringt. Für Thanatos macht dieses Prinzip keinen Sinn; denn, wenn man so will, er ist die Ruhe in Person, er geschieht als die Konstante schlechthin. Unaufhörlich macht er verständlich, dass alles aufhört, anfängt, aufhört, anfängt; seine Konstanz vollzieht sich als unendliche Schwingung zwischen Leben und Tod. In Bezug auf diese Unentrinnbarkeit ist die Aufruhr und 14 Vgl. A mors – zu dem Tod hin, d.h. hier: auflöst, verschwindet.

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der Umgang damit das Maß der Dinge. Wenn uns das Lustprinzip die Wirklichkeit vor Augen hält, so ist uns mit dem Destruktionsprinzip die Fiktion gegeben. Die Aufruhr ist als Erscheinung wirklich; ihr Grund aber befindet sich in einer unergründlichen Abwesenheit. Der Abwesenheit und Aufruhr begegnet der Mensch mit seiner Fähigkeit zur Fiktion. Ob ein Mensch den Tod als Leere fiktionalisieren kann, ist vermutlich eine Frage seiner Neigung, Begabung und des Umfeldes, in dem er aufwächst. Alternativ bietet die Religion ein Auffangbecken; wenn der Tod gar nicht ertragen werden kann, wird er positiviert. Der wahre Urgrund aller Fiktionen scheint mir die Negativität als Kraft und nicht die Notwendigkeit, mit Eros fertig zu werden. »Alles bei Freud gibt uns zu verstehen, dass die wahre, aktive, persönliche Ergebung in die Notwendigkeit das große Werk des Lebens ist und dass es nicht mehr ästhetischer Natur ist. Aber immerhin, wenn die Kunst auch nicht die Weisheit ersetzen kann, so führt sie doch auf ihre Weise zu ihr hin: die symbolische Lösung, die sie den Konflikten bietet, die Versetzung der Wünsche und Abneigungen in die Welt des Spiels, des Tagtraums und der Dichtung grenzt an Ergebung; vor der Weisheit und in Erwartung der Weisheit hilft uns das dem Kunstwerk eigentümliche symbolische Verfahren, das harte Leben zu ertragen und, zwischen Illusion und Realität schwebend, das Schicksal zu lieben.« (Ricoeur 1969/1974: 343)

Diese Auffassung Freuds, die Ästhetik ließe sich der Vernunft unterordnen, teile ich nicht. Jedenfalls nicht, wenn man die Vernunft auf die Wirklichkeit bezogen denkt und das macht an sich guten Sinn. Deshalb unterscheide ich zwischen der Vernunft einerseits und der reflexiven Anwendung des Geistes, dem Denken, andererseits. Welchen Begriff man wofür einsetzt, ist Geschmacksache; worauf es ankommt, ist, ob man überhaupt differenziert, zwischen einer geistigen Tätigkeit, die jenes paradoxe Drehmoment mitreflektiert (paradoxe Subjektivierung: Ich ist nicht das, als was ich es annehmen muss) und einer, die sich ganz auf die Verarbeitung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisereignissen konzentriert (IchInstanz: Ich funktioniert). Diese Formen der Differenzierung verschieben die geistigen Linien und beuten andere Grenzziehungen. Insbesondere für den Vorgang der Sublimierung ergibt sich aus dieser Differenzierung ein neuer Blickwinkel. Mit der Unterscheidung zwischen Vernunft und Denken wird es naheliegend, dass das Sublime sich vor allem in Symbolen zeigt, die dem Triebgeschehen von Thanatos zuzuschreiben sind. Ich möchte das so ausdrücken: Es ist gut, vernünftig auf Eros und sublim auf Thanatos zu rea gieren. Wenn man überhaupt von einem Triebdualismus ausgeht, dann kommt man nicht umhin, Freuds Konzept zu der elaborierten Triebäußerung der Sublimierung in diese Richtung zu revidieren.

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»Zwischen dem Geist, der schläft, und dem, der wacht, macht der Geist, der träumt, eine Erfahrung, die sich bei keiner anderen ihr Licht oder ihren Genius entleiht. Schelling sprach in diesem Sinne von jenem ›schlafenden Wachen‹ und jenem ›wachenden Schlaf‹, der der clairvoyance gleicht und der eine unmittelbare Rückkehr zu den Objekten ist, ohne die Vermittlung der Organe in Anspruch zu nehmen.« (Foucault 1954/2001: 13) »Halten wir fürs erste eines fest: Wie alle imaginäre Erfahrung ist der Traum ein anthro pologisches Anzeichen für Transzendenz, und in dieser Transzendenz verkündet er dem Menschen die Welt, indem er selbst Welt wird und selbst die Gestalten des Lichtes und des Feuers, des Wassers und der Dunkelheit annimmt. Hinsichtlich seiner anthropologischen Bedeutung lehrt uns die Geschichte des Traumes, dass er zugleich die Welt in ihrer Transzendenz offenbart und über das Element ihrer Materialität die Welt in ihrer Substanz moduliert.« (Ebd. 18)

Foucault bringt hier zwei Elemente ins Spiel, die mir zentral für eine weitere Erforschung thanatischen Triebgeschehens scheinen: zum einen eine bestimmte Art von Erfahrung, die erst möglich wird, wenn der Mensch sich in einer bestimmten Weise verhält. Ich spreche von einer Kategorie von Erfahrungen, die an eine bestimmte, kontinuierliche Praxis gebunden sind. Die Traumerinnerung ist ein Beispiel dafür; sie nimmt zu, je konsequenter man Träume direkt nach dem Aufwachen memoriert. Analoges gilt für alle anderen Übungspraxen, d.h. in das grundsätzlich tägliche Handlungsspektrum aufgenommenen Verrichtungen. Ich gehe davon aus, dass die Energie, die ein Mensch braucht, um eine Handlung zu vollziehen, in ganz unterschiedlichen Anteilen von Thanatos und Eros gespeist sein kann. Deshalb nehme ich weiter an, dass diejenige Praxis, die wesentlich von thanatischer Triebenergie motiviert ist, zu Erfahrungen hinsichtlich des Wechsels von An- und Abwesenheit, führen kann. Die Praxen der Meditation, des Denkens und der Fiktionalisierung halte ich für prädestiniert, um diese Art von Erfahrung machen zu können, da ich annehme, sie beziehen den überwiegenden Teil ihrer Triebenergie aus der Leere bzw. der Kraft der Negativität. Das Realitätsprinzip des Eros ist auf die Struktur des Ichs fokussiert. Das Ich unterscheidet innen und außen anhand der körperlichen Möglichkeit, zu beeinflussen. Die größte Falle, in die das Realitätsprinzip geraten kann, ist der sekundäre Narzissmus: Alles erscheint auf das Ich bezogen, das umgekehrt auch alles beeinflussen zu können scheint. Thanatos und sein Fiktionsprinzip fokussiert das Unbewusste. Die zentrale Unterscheidung für das Es lautet nicht innen/außen, sondern da/fort; eine Erfahrungsdimension, bei der es darum geht, ob Abwesenheit in Anwesenheit gefasst werden kann. Die größte Falle des Fiktionsprinzips ist entsprechend der Verlust des Bezugs zur Negativität, so dass alles anwesend erscheint. In diesem Fall wird die Wirklichkeit nicht von der Realität unterschie-

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den, d.h. alles, was möglich ist, wird kurzerhand als wirklich definiert. Mit bei den psychisch problematischen Vereinfachungen geht jeweils der Bezug zu Wahrheit verloren, die nicht mehr als arché und telos am Horizont auftaucht, sondern mit der so umgedeuteten Wirklichkeit gleich gesetzt wird. Was in beiden Fällen imponiert, ist die aufgegebene Leerstelle: Ich ist alles und alles ist möglich. Der Verlust der Leere verunmöglicht einen reflexiven Bezug zur eigenen Existenz; weder kann der Wunsch durch das Realitätsprinzip erzogen, noch der Aufruhr mit dem Fiktionsprinzip begegnet werden. Jede Vereinfachung der paradoxen menschlichen Lebenssituation (Wahrheit ist nicht gleich Wirklichkeit) führt dabei noch eine spezifische Problematik mit ein, die für meine Fragestellung eine spezielle, eigene Relevanz hat: nicht nur der Bezug zur Leere geht so verloren, sondern auch der intersubjektive Bezug wird behindert. Das symbolische Potenzial des Ödipuskomplex besteht auch darin, zu verstehen, dass der Wunsch eine intersubjektive Geschichte hat, dessen primärnarzisstische Wunschdynamik nicht dazu da ist, erfüllt zu werden; sie ist eine Dynamik, die zum Sprechen treibt (und die uns die Anderen anflehen lässt). Mit dem Mythos von Kain und Abel wiederum ließe sich die Aufruhr symbolisch verstehen und erzählen lassen, als die Geschichte über den Menschen, dessen primäre Zerstörungswut nicht die angestrebte Leere mit sich bringt, der einsehen muss, dass er sich seiner Aufruhr nicht so einfach entledigen kann; auch diese Dynamik treibt ihn zum Sprechen (und lässt ihn von Zeit zu Zeit Gott anflehen). Erotisch wie thanatisch wäre es eine Katastrophe, würde die Primärdynamik tatsächlich zu der Realisierung des vordergründig Angestrebten (absolute Auflösung oder Zerstörung) führen. Ebenso lässt sich über die reflexive Forschungshaltung sagen, dass es auch dabei nicht darum geht, das vermeintlich Offensichtliche zu erreichen, d.h. Wissen zu schaffen. Wunsch- und Aufruhrdynamik werden hier dafür eingesetzt, dem Anwesenden wie dem Abwesenden in ihrem Wechselspiel einen Sinn abzuringen, d.h. einerseits Widerstände zu meistern und andererseits Grenzen zu ziehen. Reflexives Forschen bedeutet in Bewegung zu bleiben, innerhalb eines durch Hypothesenpflöcke abgesteckten Feldes und diese Forschungsbewegung aufzuzeichnen, um sie nachvollziehbar zu machen. Es ist gleichermaßen der Wirklichkeit wie der Fiktion verpflichtet und erlegt sich dabei zusätzlich die Regel der Wahrhaftigkeit auf. Es geht darum, die Indirektheiten der menschlichen Rede zu überwinden. Die dabei versuchte direkte Rede ist anstrengend und insofern mutig, als sie gegen die dreifache Unterwerfung des Subjekts durch den Diskurs, den Wunsch und die Kommunikation antreten muss. Dies ist nur mit einer kontinuierlichen Praxis durchzuhalten. Ohne ständiger Übung darin, wird es nicht gelingen, die Kraft so zu bündeln, dass die drei Hürden immer wieder überwunden werden können. Reflexive Forschung ist nicht einseitig ergebnisorientiert, sie ist gleichermaßen am Inhalt wie

Das Fiktionale treibt sich in der Wahrheit herum | 211

an der Form interessiert. »[Die] Pointe der Technik besteht in jener Kunst, die Übertragungsliebe zu benutzen, ohne sie zu befriedigen.« (Ricoeur 1969/1974: 426) Das schreibt Ricoeur über die klinische Technik der Psychoanalyse. Die Leere manifestiert sich hier in der Form der Abstinenz des Psychoanalytikers. Es ist diese Abstinenz innerhalb der Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik, die es dem Analysanden ermöglicht, dem inneren Geschehen im Verlauf des Sprechens seinen eigenen Sinn zu geben, mit dem er gut leben kann. Die kontinuierliche Versagung verhindert die schnelle Ersatzbefriedigung; sie ist das negative Moment, welches dazu auffordert, sich zu bewegen. Der Ort, an dem sich die direkte Rede aufhalten kann, zeichnet sich gleichermaßen durch Fülle wie durch Leere aus: »An der Nahtstelle von ›Natürlichem‹ und ›Signifikantem‹ wird die Triebregung durch den Affekt und die Vorstellung ›repräsentiert‹; daher ist die Koordinierung der ökonomischen und intentionalen Sprache das große Problem dieser Erkenntnistheorie, das nicht durch Zurückführung auf die eine oder die andere umgangen werden kann.« (Ebd. 404)

In dem Zusammenspiel von Ökonomik und Hermeneutik kann immer wieder von Neuem eine epistemologisch-ethische Bewegung entstehen: reflexives Forschen.

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Der Bricolage-Begriff (Werksbegriff: Wertbegriff) Der Tiger Shir Khan: Wie sieht denn Deine Mitte aus? Die Schlange Kaa: Die Mitte? Ach so, die Mitte.. Da ist wirklich nichts!? Der Tiger Shir Khan: Schade.1

Ausnahmsweise eine Beruhigung, zu glauben, dass da gar nichts ist, in der Mitte. Aber auch nur, weil tatsächlich Mogli, das Menschenkind, fest darin eingewickelt steckt, der Frager das Böse in Tigergestalt ist und wir uns hier strikt innerhalb der Fiktion befinden. Anders als für Shir Khan, der in Anbetracht der Leere in der Mitte achselzuckend weiter zieht, ist sie für den Menschen seine ultimative Herausforderung. Uns bringt diese Leere in eine existenzielle Aufruhr, die Kant auf jene letzte Frage vor dem Abgrund gebracht hat: Was ist der Mensch? Diese Frage spitzt sich für mich zu: Wie ist das Menschsein angesichts der existenziellen Leere (Abwesenheit als Struktur, Negativität als Dynamik) zu begreifen? Was hat man als Mensch damit anzufangen? Das thetische Urteil, man fällt es nicht einfach so! Ich sehe, da ist nichts, aber ich bin trotzdem. Diese erste mögliche Erkenntnis, mit der alles steht und gleichzeitig fällt, ist schauerlich. Eva springt aus dem Paradies. Und wir landen mit ihr in der Dimension der Un-/Menschlichkeit; ab sofort zur Re-Flexion verdammt. An was können wir uns dabei festhalten? An dem Abwesenden. Was gilt? Nichts, jedenfalls nicht apriori. Außer eben der Notwendigkeit zur Rückbeuge. Mit der Reflexion kann sich deshalb der Horror vacui verändern, lassen sich Formen finden, lässt sich die Aufruhr in unterschiedliche Dynamiken verwandeln. Zum Beispiel in eine tiefe Gelassenheit: Da ist nichts!? Gut (ein Zucken mit den Achseln), dann gibt es nichts zu wissen, nichts zu tun, nichts zu hoffen. Der existenziellen Fremdheit im eigenen Haus mit Beheimatungsphantasien und -strategien zu begegnen, das möchte ich als das Ur-Motiv der Bricolage bezeich1

Vgl. Kipling, Das Dschungelbuch.

214 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

nen. Die Bricolage ist eine spezielle Form der Reflexion, die man auch als Einrichtung2 bezeichnen könnte. Sie ist Interpretation, Schöpfung und Praxis. Sie ist gleichermaßen auf erkenntnistheoretische wie auf ethische Fragen verwiesen. Sie entwickelt und spannt sich aus dem Nichts als Fährte auf, sie wechselt als BeWeg-ung zwischen der Existenzweise Wert und Werk; sie ist eine Art, Sinn und Kraft aus der direkten Rede zu ziehen. In diesem Kapitel geht es darum, den Begriff der Bricolage als spezifischen Werks- und Wertbegriff zu explizieren und darüber die fortschreitende, durch neue Fundstücke ausgelöste, Revision der Gedanken als erkenntnistheoretischen Gegenbegriff zu einer zielgerichteten Methode zu fundieren. Und diesen Prozess der Erkenntnis gleichzeitig als Forderung zu formulieren, jede wissenschaftliche Praxis einem ethos zu verpflichten. Die Bricolage bezieht ihre Kraft aus der existenziellen Bewegung des da/fort: Was vermitteln meine Sinne? Was ist dadurch nicht? Wer bricoliert, geht von einer konkreten Erfahrung des Differenzierens aus. Es sind die Manifestationen der Wirklichkeit die zum Forschen reizen. Aufnehmen oder nicht? Sammeln und verarbeiten oder liegen lassen und ignorieren? Als Anlass für Arbeit und Umarbeitung nehmen? Bei einer Bricolage verfolgt man, an welchen Stellen die Sinnfrage auftaucht? Die Sinnfrage ist die Form der Reflexion, die den Horror vacui als tiefsten Ausdruck der Abwesenheit nicht in eine Konsistenz hineinrationalisieren, sondern als solchen gelten lassen will. Die Angst und der Schmerz sind gleichermaßen ihre Motoren wie die Lust und die Ruhe. Sie liefern die ökonomische Basis zur Hermeneutik der Bricolage. »Künftig wird es der Idiotus sein, der Nicht-Spezialist, der Mann ohne Eigenschaften und ohne Position, der eine Frage der Wahrheit in den schreitenden Diskurs des de-plazierten und erstaunten Philosophen hineinträgt. Umgekehrt kämpfen die von einem Ort definierten Praktiken ohne Unterlass darum, die Masse zu erziehen, zu disziplinieren und zu gruppieren und geben dabei ständig vor, sie zu repräsentieren.« (Certeau 1987/2006: 116)

Lévi-Strauss hat den Begriff der Bricolage bereits in seine erkenntnistheoretischen Überlegungen zum Unterschied zwischen wildem und zivilisiertem Denken eingeführt, um zwei Arten von Wissenschaft und Forschung voneinander zu differenzieren. Mehrfach hat er dabei betont, dass er diese Unterscheidung nicht im Sinne zweier Stadien der Entwicklung trifft, sondern als zwei unterschiedliche Strategien, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Beide Arten nutzen Klassifi-

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Sowohl im Gegensatz zur Zurichtung als auch zur Aufrichtung.

Der Bricolage-Begriff (Werksbegriff: Wertbegriff) | 215

zierungen, aber nur eine nutzt die Kraft zur Fiktionalisierung und stützt sich auf die sinnliche Intuition.3 »Der Unterschied ist also nicht absolut, wie man ihn sich vorzustellen versucht wäre; er bleibt jedoch in dem Maße wirklich, wie der Ingenieur in bezug auf jene Zwänge, die einen Zivilisationszustand zum Ausdruck bringen, immer einen Durchgang zu öffnen ver suchen wird, um sich darüber zu stellen, während der Bastler freiwillig oder gezwungen darunter bleibt; mit anderen Worten, der erstere arbeitet mit Hilfe von Begriffen, der letz tere mit Hilfe von Zeichen. [...] Der Begriff erscheint somit als dasjenige, das die Eröff nung des Ganzen, mit dem man arbeitet, bewerkstelligt, und die Bezeichnung als dasjeni ge, das seine Reorganisation bewerkstelligt; die Bezeichnung erweitert das Ganze nicht, noch erneuert sie es; sie beschränkt sich darauf, seine verschiedenen Umwandlungen zu erhalten.« (Lévi-Strauss 1962/1973: 33)

Den Umgang mit Sprachzwängen, die Disziplinierung dieses Darunters und Darübers bezüglich der Zeichen einerseits und der Begriffe andererseits, muss man sich genau ansehen; es verbirgt eine erstaunliche Sichtweise. Nehmen wir an, der Bastler bleibt gezwungenermaßen unter dem Niveau der Begriffe, so erlegt sich die Bricoleurin diese Grenze zunächst freiwillig auf. Warum tut sie das? Weil sie nicht glaubt, dass Erkenntnis absolut sein kann, weil sie deshalb nicht auf etwas Anderes hinter den Begriffen abstellt. Das Zeichen ist ihr Fundstück und Anlass genug, um Begriffe zu schaffen. 4 Der Bricoleur glaubt nicht, dass das Zeichen eine Botschaft enthält, die Wahrheit ermöglicht. Aber er bleibt auch nicht, wie der Bastler, bei dem Zeichen stehen, sondern er stellt sich die Frage, welche geistigen Möglichkeiten (Sinn) dieses Zeichen eröffnet. Denn 3

Vgl. Lévi-Strauss 1962/1973: 27.

4

»Dieses alleinige Problem, das Cassirer mit der Vokabel des Symbolischen belegt, haben wir schon eingangs angedeutet: es ist das Problem der Einheit der Sprache und der Verschränkung ihrer mannigfachen Funktionen in einem einzigen Bereich der Rede. Doch dieses Problem scheint mir durch den Begriff Zeichen oder bezeichnende Funktion besser charakterisiert zu sein. [...] Handelt es sich also um einen Wortstreit? Ich glaube nicht. Was in dieser terminologischen Diskussion auf dem Spiel steht, ist die Spezifität des hermeneutischen Problems. Indem Cassirer alle Vermittlungsfunktionen unter dem Titel ›Symbolisches‹ vereint, verleiht er diesem Begriff einen ebenso großen Umfang wie einerseits dem Begriff der Realität und andererseits dem der Kultur; und so schwindet ein grundlegender Unterschied, der in meinen Augen eine wirk liche Scheidelinie darstellt: der zwischen eindeutigen Ausdrücken und vieldeutigen Ausdrücken. Eben in diesem Unterschied gründet das hermeneutische Problem.« (Ricoeur 1969/1974: 23)

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was heißt es für einen Wissenschaftler, wenn er auf die Wahrheit seines Fund stücks baut? Bedeutet dies nicht, dass ausgerechnet der Positivismus mit der Botschaft dahinter, oder darüber rechnet und zwar durch seine (für die Bricoleurin ungerechtfertigte) Annahme, die Wahrheit sei notwendig in der Wirklichkeit? »Die Wissenschaft baut sich ganz und gar auf der Unterscheidung zwischen Zufälligem und Notwendigem auf, die gleichzeitig die zwischen Struktur und Ereignis ist. Die Qualitäten, die sie bei ihrer Entstehung für sich in Anspruch nahm, waren genau diejenigen, die, da sie nicht der gelebten Erfahrung angehörten, außerhalb der Ereignisse und ihnen gleichsam fremd blieben [...].« (Ebd. 35)

Das positivistische Apriori – trotz Zufall und Kontingenz des Ereignisses existiert dahinter/darüber Notwendiges und in dieser notwendigen Struktur liegt die Möglichkeit wahrer Erkenntnis – ist zumeist so konsequent in leidenschaftslose Begriffe verpackt, dass es, mich jedenfalls, doch ziemlich erstaunt hat, als ich zum ersten Mal die Hoffnung auf Transzendenz daraus schimmern sah. Der positivistische Wissenschaftler glaubt an die Möglichkeit, Sicherheit bezüglich einer Erkenntnis zu erlangen. Entlang dieser Achse wird eine Verwandtschaft sichtbar, zwischen dem Denken positivistischer Wissenschaften und dem von Religionen und Esoterikern. Ihnen ist gemeinsam, dass sie auf einen Zustand der Erkenntnis abstellen, den man absichern kann, sei es mit wissenschaftlichen, sei es mit Glaubens-, oder mit esoterischen Praktiken. Demgegenüber lässt sich eine gemeinsame Achse zwischen reflexiver Wissenschaft, Fiktion und mythischem Denken erkennen; in diesen Feldern wird die Wahrheit als das unerreichbar Andere, d.h. in Bezug auf die Wirklichkeit je Herzustellende verstanden. Ausgehend von Lévi-Strauss’ Begriff wird Bricolage im Weiteren von mir nicht mehr nur im Sinne eines Bastelns, das sich unterhalb des Niveaus der Begriffsbildung ansiedelt, verwendet, sondern ausgeweitet auf ein Verständnis eines reflexiven Forschungsvorgangs, bei dem das Basteln und der Zufall, vor allem aber auch das Zeichen/Fundstück von gleichrangiger Bedeutung sind wie die Abstraktion des Gesammelten zu einer Idee, einem Forschungsfeld, einer Theorie. Der Herstellungsprozess ist ein entscheidender Faktor. Die Auswahl und Anordnung der gesammelten Materialien, aber auch der Umgang damit, d.h. die Frage, wie werden Fundstücke aufbewahrt und (wieder)verwendet, ist bei einer Bricolage nicht wegzudenken von dem Ergebnis. Das fertig gestellte Einzelwerk ist für einen Bricoleur immer ein Werksausschnitt in dem Sinne, als sein Anfang und Ende kontingent sind. Es gibt immer etwas, das vorausgeht und nachfolgt. Die Art der Eingebundenheit ist bei einer Bricolage ganz anders als bei einem Werk, das institutionalisiert entsteht. Bei letzterem erfolgt die Einbindung durch gezielte Zitation zeitgleich entstehender Werke zu dem gleichen

Der Bricolage-Begriff (Werksbegriff: Wertbegriff) | 217

Thema; die Wissenschaftlichkeit der Arbeit stellt sich in diesem gewissen Sinne, überspitzt formuliert, dadurch her, dass alle das Gleiche immer wieder schreiben und wird dadurch abgesichert, dass diese Texte in institutionalisierten Organen erscheinen (müssen). Bei einer Bricolage geht es nicht darum, möglichst flächendeckend (im Sinne der Gesamtheit des zu einem gegebenen Zeitpunkt Veröffentlichten) zu sammeln und zu vergleichen, um sich im Vergleich zu sichern und zu profilieren. Das Profil einer Bricolage ist üblicherweise sofort wahrnehmbar, weil hier der Versuch unternommen wird, eine Sprache zu finden für etwas, was einem aufgefallen ist. Die Art der Zusammenführung von Fundstücken und Begriffen ist gerade das Spezifische. In ihr werden Begehren, Instinkt, Intuition und Engagement der Bricoleurin von Anfang an sichtbar. »Es steckt zweifellos etwas Paradoxes in der Vorstellung einer Logik, deren Begriffe in Abfällen und Bruchstücken, Spuren psychologischer oder historischer Vorgänge bestehen, die als solche jeder Notwendigkeit ermangeln. Wer Logik sagt, sagt Herstellung notwendiger Beziehungen; wie aber sollten sich solche Beziehungen zwischen Begriffen herstellen, die nichts zur Erfüllung dieser Funktion prädestinieren? Sätze können sich erst dann ineinanderfügen, wenn ihre Begriffe vorher unzweideutig definiert worden sind. Haben wir uns nicht auf den vergangenen Seiten die unmögliche Aufgabe gestellt, die Bedingungen einer Notwendigkeit a posteriori aufzudecken? Zunächst einmal zeigen die Abfälle und Bruchstücke jenes Merkmal nur im Hinblick auf die Geschichte, die sie hervorgebracht hat, und nicht unter dem Gesichtspunkt der Logik, wozu sie dienen. Nur in Bezug auf den Inhalt kann man sie heteroklit nennen; denn was die Form betrifft, existiert zwischen ihnen eine Analogie, die am Beispiel der Bastelei de finiert werden konnte: diese Analogie besteht darin, dass ihre Form selbst von einem bestimmten Quantum Inhalt, das für alle ungefähr gleich ist, durchdrungen ist.« (Ebd. 49)

Diese Beschreibung des Umgangs mit mythischem Material von Lévi-Strauss drückt etwas aus, das ich als Körpersinn bezeichnen möchte. Ein wesentlicher Aspekt der Bricolage ist, dass ihr eine körperliche Aufruhr zugrunde liegt. Begriffe werden arrangiert, um zu verstehen, nicht umgekehrt. Man versteht nicht und ist deshalb in Aufruhr. Man kann nicht vorab wissen und definieren, worauf man hinaus will. Man geht bei einer Bricolage immer ins Leere, getragen von fremden, angrenzenden Feldern, aus denen man sich relevante Gedanken leihen kann. Man muss sich bei einer Bricolage notwendigerweise auf die eigene Kraft verlassen und kann dabei auf die prinzipielle Gestaltungskraft der Reflexion bauen. Die Methodik der Bricolage zeichnet sich durch das ständige Aufrechterhalten einer Leerstelle aus. Luce Giard schreibt in einem Vorwort zu Certeaus Buch ›Theoretische Fiktionen‹ über dessen Arbeitsweise:

218 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

»Certeau schritt aus Notwendigkeit von einem Wissensgebiet zum anderen fort, um einer Frage zu folgen, die sich anderswo gestellt hatte und die seiner Ansicht nach dort keine zufriedenstellende Antwort gefunden hatte. Er wollte nicht die Identitäten der einzelnen Disziplinen durcheinanderbringen, er predigte nicht die Vermischung der Methoden und Wissensformen im Namen einer letzten Einheit des Wissens oder einer gemeinsamen Be dingung aller erkennenden Subjekte. [...] Er ließ sich von gewissen Fragen nicht durch eingesessene Urteile abbringen, die eine ›alte Fragestellung‹ zu disqualifizieren suchten, weil sie in einer gegenwärtigen, scheinbar avancierten Forschungslandschaft nicht mehr aktuell sei. [...] Dass eine Frage im gegenwärtigen Wissenssystem schwer artikulierbar war, hieß noch lange nicht, dass sie sinnlos war.« (Certeau 1987/2006: 8 f.)

Etwas Vergleichbares fordert Ricoeur in der Einleitung des zweiten Buches seines ›Versuchs über Freud‹. Er sagt, dass er seine Freud-Interpretation in mehreren Schritten vollzieht und dass die dabei getätigten Aussagen am Ende zum Teil sogar widersprüchlich erscheinen können; dass er dabei aber auf keine Lesart verzichten kann und die nachfolgenden die ersteren nicht ersetzen. »[Jede] Lesart ist wesentlich und muss erhalten bleiben.« (Ricoeur, 1969/1974: 73) Diese Beweglichkeit des Sinns ist ein wichtiges Kennzeichen der Bricolage. Während der Widerspruch in der positivistischen Wissenschaft ein zu eliminierendes Problem ist, ist sie für die Bricolage der anhaltende Grund für die Denkbewegung. Widerspruchsfreiheit ist in diesem Sinne kein Topos der Bricolage und auf keinen Fall ihre Utopie. Sie achtet auf das Differente, strebt nicht die Synthese an. Die Bricolage besteht aus einer Zusammenfügung von Hypothesen, die sich nicht ineinander auflösen und erscheint schließlich in einer Form, die aufgrund ihrer Differenziertheit und gleichzeitigen Vagheit mit diesem Ausdruck gut beschrieben ist: eine Idee von etwas bekommen. Ihre Form (Sammeln, Analysieren, Arrangieren) wird zu einem Verständnis (Wandeln, Interpretieren, Umarbeiten). In einer ständigen Bewegung zwischen Struktur und Dynamik liegt der Grund sowohl für die Unabschließbarkeit der inhaltlichen Auseinandersetzung, als auch für die Kontingenz der gewählten Form. Kein Gedanke ist jemals zu Ende gedacht, immer nur weiter getrieben, erneut gewendet, anderes inszeniert, weg gelassen, etc. Der Geist tritt wie ein Element, d.h. wie ein dynamischer Grundstoff, in Erscheinung; der sich entzündet, lodert, erlischt, weiter glüht, an anderer Stelle wieder aufflammt. Man kann den gleichen Ofen jeden Tag heizen, aber es wird doch nie dasselbe Feuer darin brennen und doch auch nie ein anderes. Bruno Latour schreibt in seiner Anthropologie der Moderne über Existenzweisen nur im Plural. Empirische Philosophie nennt Latour sein bzw. das von ihm initi-

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ierte kollektive Unterfangen, das Sein als Vielfältigkeit zu formulieren. Auf knapp 700 Seiten spricht er von dieser Art zu forschen. Sie umfasst »[...] gleichzeitig methodische, begriffliche, stilistische und inhaltliche Neuerungen [...]« (Latour 2014: 23). Es gibt viele mögliche Schnittstellen zwischen der hier beschriebenen reflexiven Forschung und seiner empirischen Philosophie. Die folgende Passage greife ich auf, weil sie auch die Bricolage besonders betrifft: »Die nunmehr philosophische und nicht mehr anthropologische Frage lautet, die Sprache fähig zu machen, den Pluralismus der Werte zu absorbieren. [...] Das Ziel bestünde darin, weniger Diversität in der Sprache zu erreichen – man wird bar bezahlen müssen und nicht mit ungedeckten Schecks –, aber mehr Diversität bei den Wesen, die zur Existenz zugelassen sind [...]. Die Gelingens- und Mißlingensbedingungen bezeichnen nicht nur Redeweisen, wie in der Theorie der ›Sprechakte‹, sondern auch Seinsmodi, die auf entscheidende, aber jedesmal andere Weise einen der auffindbaren Unterschiede des Wahren und Falschen in Anspruch nehmen. Was man sagt, verpflichtet sehr viel weiter, als man wollte – weswegen man besser jedes Wort dreimal auf die Goldwaage legen sollte, ehe man es ausspricht. Aber umgekehrt wird man vielleicht von einem ontologischen Pluralismus profitieren, der es erlauben wird, den Kosmos etwas reichhaltiger zu bevölkern und folglich auf einer ge rechteren Basis den Vergleich der Welten zu beginnen – das Abwägen der Welten. Man verwundere sich daher nicht, dass ich im folgenden von den ›Wesen‹ (etres) der Wissenschaft, der Technik etc. spreche. Im Grunde müssen wir die alte Frage, ›Was ist ...?‹ wie deraufgreifen (Was ist die Wissenschaft? Worin besteht das Wesen der Technik? etc.), aber indem wir jedesmal Wesen mit unterschiedlichen Eigenschaften entdecken. Was man an Freiheit des Wortes verlieren wird – die Worte tragen ihr Gewicht an Sein –, wird man wiedergewinnen durch die Macht, in Kontakt mit Typen von Entitäten zu treten, die keinen Platz mehr in der Theorie hatten und für die man jedesmal eine Sprache wird finden müssen, die ihnen angemessen ist. Ein wahrhaft gefährliches Unterfangen.« (Latour 2014: 55 und 57)

Der Bricoleur reagiert mit seinem Körpersinn (intuitiv) auf die Gefahr beim Sprechen; mit der Anmutung des Stehenbleibens, des Nicht-weiter, des So-nicht; und mit der Kraft des Gehens, woanders hin sich umsehend, einen Weg suchend, ins Unbekannte; letztlich mit dem Ziel, sich auch im Unklaren aufhalten zu können, d.h. sich beheimaten zu lernen, ohne Festlegung. Wovon getrieben gehen die Bricoleure ihre Wege? Sie treiben sich im Gehen ein ›ungedecktes‹ Sprechen aus. Sie gehen und sehen und sammeln Erfahrungen; nicht die, die sie sich gewünscht haben; nicht die, von denen alle erzählen; die, die wirklich kommen. Sie schreiben diese Erfahrungen auf. So gut sie es können. Was heißt gut in diesem Zusammenhang? Gut, heißt lernend.

220 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

Wenn man sich für die Möglichkeit des Lernens 5 entscheidet, impliziert dies die folgende Annahme: Was ich erfahre, kenne ich noch nicht und ich kann alles kennen lernen. Diese Grundannahme treibt zu einer Bricolage an. Diese an sich simple Haltung hat gravierende epistemologische Konsequenzen: Es macht keinen (wissenschaftlichen) Sinn, Begriffe zu bilden über etwas, das ich weiß; man versucht über das zu sprechen, was man nicht weiß und zwar so, dass dieses Nichtwissen dabei erhalten bleibt. »Um zu existieren, muß ein Wesen nicht nur seinen Weg durch ein anderes nehmen (NET), sondern auch auf eine andere Weise (PRÄ), indem es, wenn man so sagen kann, andere Weisen erkundet, sich zu verändern, zu ALTERIEREN.« (Ebd. 111) »Ich kann den Gegenstand unserer Forschung nun rekapitulieren. Indem sie die beiden Modi (NET) und (PRÄ) verbindet, erhebt die Untersuchung den Anspruch zu lernen, rich tig zu ihren Gesprächspartnern über das zu sprechen, was sie tun – über das, wodurch sie passieren, und das, was sie sind –, das, worauf sie Wert legen.« (Ebd. 114)

Um zu sehen, ob das funktioniert (hat), schlägt Latour vier Tests vor: »- DER ERSTE Test ist faktisch und empirisch: Sind wir dem Feld treu geblieben, inso fern wir Beweise für das haben, was wir vorbringen? - DER ZWEITE verlangt schon eine kompliziertere Verhandlung, das, was man Rekonstruktion am Ende der Untersuchung nennt: Sind wir dahin gelangt, uns denen verständlich zu machen, die wir vielleicht schockiert haben, ohne gleichwohl unsere Formulierungen aufzugeben? - DER DRITTE ist gleichzeitig historisch und spekulativ: Haben wir Rechenschaft abgelegt über die historische Fluktuationen zwischen Wert und Netzwerk? - DER VIERTE erfordert die Talente eines Architekten, eines Stadtplaners, eines Designers, aber auch eines Diplomaten: Sind die künftigen Bewohner im so vorgeschlagenen Plan eines Neubaus der Institution besser aufgehoben als zuvor?« (Ebd. 115)

Diese aus dem Zusammenhang genommenen Zitate, können hier natürlich nicht ihren vollen Gehalt in Bezug auf die von Latour angestrebten Bedeutungen entfalten. Sie enthalten Voraussetzungen, die hier nicht erwähnt werden und spezifische Begriffsdefinitionen. Die darin aufgezeigte forscherische Grundhaltung aber lässt sich trotzdem gut erkennen: Latour will vermitteln, macht es sich zur Forschungsaufgabe, ein Dispositiv zu schaffen, welches als Verhandlungsmasse dienen können soll; er will der positivistischen Wissenschaft ein diplomatisches 5

Vgl. noch einmal Luhmanns Auffassung des binären Codes Lernen/Nicht-Lernen als unhintergehbar für den Menschen.

Der Bricolage-Begriff (Werksbegriff: Wertbegriff) | 221

Angebot machen. Warum will Latour diplomatisch sein? Bedeutet dies innerhalb der Wissenschaft nicht automatisch eine Einbuße an Wahrhaftigkeit? Wie passen Diplomatie und Radikalität in der Forschung zusammen? Latours Antwort ist Augen öffnend. In meinen Worten ausgedrückt, gibt er zu verstehen, wie absurd es wäre, sich nicht für die Werte eines anderen Forschers zu interessieren, vor allem, wenn man im Feld der Humanwissenschaften forscht. Diplomatie bedeutet für ihn an dieser Stelle nicht, Kompromisse bezüglich der eigenen Forschungsbewegung einzugehen, sondern selbst den Fehler des Vorab-Ausschlusses von Gedanken und Möglichkeiten zu vermeiden, wie er so charakteristisch für den Positivismus ist. Wenn es nicht darum geht, zu vereinheitlichen, sondern zu differenzieren, kann das polemogene Element der Ungleichheit wieder wünschenswert werden. Man kann gemeinsam über Ereignisse streiten: »Erlaubt die Neubeschreibung eines Existenzmodus oder erlaubt sie es nicht, die Wertekonflikte aufzuhellen, die bislang Raum boten für mehr oder weniger heftige Debatten?« (Ebd. 53) Das gefällt mir gut, weil die Verantwortung der Forscherin dabei so deutlich wird. Auf eine solche Weise mit Forschung umzugehen, entspricht der Forderung, dass jede wissenschaftliche Bewegung zugleich der Epistemologie wie einem ethos verpflichtet sein sollte. Dies ist die Bricolage: Radikale Reflexion mit dem Ziel, dass anschließend besser differenziert werden kann und weniger feststeht. Weil die Forscherin seelisch und biografisch in den Stoff, den sie untersucht, verwoben ist, gewährt eine Bricolage in diesem Sinne einen intimen Blick in ihr Angesicht. Diese Exposition ist nicht unbedingt angenehm, aber notwendig und tatsächlich auch der Garant dafür, dass Begegnungen möglich werden, bei denen es um einen wahrhaftigen Austausch bezüglich der beforschten Fundstücke geht. Weil Denken in dem Selbstverständnis eines Bricoleurs nicht übertragbar ist, sondern sich selbst angeeignet werden muss, steht es immer in einem subjektiven Verhältnis zu Wahrheit. Die Konsequenz daraus ist seit jeher bekannt und kann nicht radikal genug formuliert werden: Wir wissen nichts. Alternative Interpretationen dürfen deshalb nicht synthetisch aufgelöst, sondern müssen nebeneinander ausgehalten und erhalten werden. Diese erkenntnistheoretische Pluralität aufrecht zu erhalten, ist ein Kraftakt, der wesentlich darin besteht, sich von einem herrschenden Diskurs zu befreien.6 Die von einer Bricoleurin aufgebrachte Konzentration und Selbstbeherrschung7 (Tugenden, wie sie im Veda hervorgehoben werden) werden von

6

Vgl. die Erkenntnistheorie und Aneignungspraxis von Wissen wie sie im Rgveda beschrieben wird.

222 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

außen gelegentlich beschrieben als ›sie brennt‹8 für ihre Forschung. Wer bricoliert bekennt sich in diesem Sinne zu etwas Gewaltigem, Unbekanntem, das antreibt: zu einer psychischen Energie, die für den Bricoleur immer wieder spürbar ist, die er deshalb aber nicht unbedingt und/oder zu jeder Zeit im Griff hat. »The word energy, in brief, derives from the Greek word for work, ergon, and refers to the capacity to do work, so that when Aristotle or Sidney 9 used the term, they had in mind that the writer or speaker, by the application of ›forcibleness‹ or ›energy‹ accomplished something – that is, a work or, as we might say, a ›piece of work.‹ It is not accidental that we refer to a work of art or that a musical composition is called an opus, the Latin word for work – they are the outcome of the ›forcible‹ application of ›energy‹. Energy, force, and work were linked together in human experience long before modern physics. For these reasons, as I have proposed elsewhere (Shevrin 1981), these terms should not be abandoned simply because they have become in large measure the property of physics, which has embedded them in ›mechanical‹ and ›impersonal‹ theories. Rather, we should return to their root meaning and see how they can be of benefit to us. I believe that this root meaning can be expressed in this way: Doing something actively to something beyond its capacity to resist. This ›something‹ can be either physical or mental. When we apply ourselves actively to a task and bring about its conclusion, we have – in the root meaning of the word – worked. My main point is that energy, force, and work are not intrinsically impersonal and mechanical, but are naturally a part of our experience of ourselves and of our actions and accomplishments.« (Shevrin 1997/2017: 853)

Die Bricolage nutzt den Trieb und baut auf Diplomatie. Sie wird nicht betrieben, um einen weiteren herrschenden Diskurs zu etablieren, sondern um zusammen 7

Vgl. Tapas (Sanskrit): Glut, Hitze und Tapasya (Sanskrit): die Konzentration und Selbstbeherrschung, die eingesetzt werden muss, um sich nicht von einem herrschen den Diskurs vereinnahmen zu lassen, sondern sich asketisch, d.h. mit der notwendigen Hitze der disziplinierten Konzentration zu ihm zu verhalten.

8

Vgl. hier auch noch einmal Aristoteles: »Denn eine Tätigkeit wird intensiviert durch die ihr eigentümliche (oikeios) Lust: Wer mit Lust tätig ist, wird jedes Ding besser beurteilen (krinein) und genauer bearbeiten. So werden diejenigen Menschen zu Experten [...].« (Aristoteles NE: 322)

9

»The terms energy and force (and, secondarily, work and power) have in our time been taken over by physics. That was not originally the case. Like all sciences, physics borrowed its terms from the language of everyday life. The very word energy, according to the Oxford English Dictionary, was originally introduced into English by the poet Sidney in 1581, who borrowed it from Aristotle. Aristotle used the term to refer to the force or vigor of written or spoken expression.« (Shevrin 1997/2017: 853)

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zu denken. Sie ist an der Potenz des Denkens, ein Fundstück zu transformieren, interessiert: Was kann man damit (noch) machen? Wie kann ich das (anders) betrachten? Wofür kann ich das (außerdem) gebrauchen? Wo kann das (weiter) hinführen? Die Fähigkeit zu phantasieren, ist dem Menschen von Beginn seines Lebens an gegeben; er nutzt/erlebt sie, wenn er Transformationen seiner Wunschdynamik vornimmt/zulässt. Die unbewusste Dynamik des Wunsches bringt jene psychischen Gestalten hervor, mit denen wir immer weiter entwickeln, was wir rückblickend gewesen sein werden. Existieren ist transformativ. Der Mensch hat die Gabe, reflexiv auf seine Existenzdynamik/-struktur Einfluss zu nehmen – bis zu einem gewissen Grad. »Vielleicht liegt tatsächlich gerade im Setzen des Wunsches die Möglichkeit, von der Kraft zur Sprache überzugehen, aber auch die Unmöglichkeit, die Kraft völlig in die Sprache einzubringen.« (Ricoeur 1996/1974: 81) Wie kann der Mensch seine Energie so nutzen, dass er der Transformation von Kraft zu Sinn und umgekehrt nicht nur unterworfen ist, im Sinne eines ›es passiert‹, sondern zusätzlich in die Lage kommt, auch selbst kreativ damit umzugehen? Wie kann man dem dreifachen (dem eigenen, dem diskursiven, dem kommunikativen) Widerstand zum Trotz so von Erfahrungen sprechen, dass der gestaltende Einfluss während des Sprechens darüber wirksam werden kann? Und wie können widersprüchliche Anschauungen zu dem, was passiert (der Wirklichkeit), darin Platz finden? Das ist das Ziel einer Bricolage: die Kraft für eine Sprache einzusetzen, die Menschen mit divergierenden Auffassungen eine direkte Rede miteinander ermöglichen kann.

8.1 DIE EPISTEMOLOGISCHE SEITE DER BRICOLAGE: EIN TRAUM »Nun haben wir aber kein anderes Mittel zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit als unsere Intelligenz.« (Freud 1927/2007: 150)

»Gewiss wird der Mensch (der sich aufmacht, der Illusion zu widerstehen, d.h. der erkennen will) sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze Hilf losigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vor sehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss

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endlich hinaus ins ›feindliche Leben‹. Man darf das ›die Erziehung zur Realität‹ heißen [...]. [...] Sie fürchten wahrscheinlich, er wird die schwere Probe nicht bestehen? Nun, lassen Sie uns immerhin hoffen. Es macht schon etwas aus, wenn man weiß, dass man auf seine eigene Kraft angewiesen ist. Man lernt dann, sie richtig zu gebrauchen.« (Ebd. 157)

Wem es gelingt, die dem Menschen von Natur aus gegebene Energie richtig zu gebrauchen, der kann lernen, zu erkennen, sagt Freud. Bedingung des Erkennens im Sinne einer Bricolage ist eine Schulung im Umgang mit der Subjektstelle der Erkenntnis, d.h. mit dem Prinzip der Ergebnisabhängigkeit einer Forschung von der Seele der Forschenden. Ein Fundstück, das mit der Methodik der Bricolage beforscht wird, wird dadurch (anders) er-/gefunden. Dieses Eingeständnis des fiktionalen Elements im Prozess des Erkennens schmälert – in den Augen eines Bricoleurs – nicht die Relevanz der Erkenntnis, sondern erweitert ihren Spielraum und ihre Anschlussmöglichkeiten. Das Unternehmen, der Gang, die Untersuchung (work) ist/wird die Untersuchung (piece of work). Motiviert von einem ethischen Verlangen nach Wahrhaftigkeit (arché), erkennt man rückblickend (metá), dass der Weg (hodós) zu etwas hin geführt hat (telos). Theorie und Praxis werden von einem Bricoleur nur zusammen akzeptiert oder verworfen. »Man hat [...] versucht, die wissenschaftliche Bemühung radikal zu entwerten durch die Erwägung, dass sie, an die Bedingungen unserer eigenen Organisation gebunden, nichts anderes als subjektive Ergebnisse liefern kann, während ihr die wirkliche Natur der Dinge außer uns unzugänglich bleibt. Dabei setzt man sich über einige Momente hinweg, die für die Auffassung der wissenschaftlichen Arbeit entscheidend sind, dass unsere Organisation, d.h. unser seelischer Apparat, eben im Bemühen um die Erkundung der Außenwelt entwi ckelt worden ist, also ein Stück Zweckmäßigkeit in seiner Struktur realisiert haben muss, dass er selbst ein Bestandteil jener Welt ist, die wir erforschen sollen, und dass er solche Erforschung sehr wohl zulässt, dass die Aufgabe der Wissenschaft voll umschrieben ist, wenn wir sie darauf einschränken zu zeigen, wie uns die Welt in Folge der Eigenart unserer Organisation erscheinen muss, dass die endlichen Resultate der Wissenschaft gerade wegen der Art ihrer Erwerbung nicht nur durch unsere Organisation bedingt sind, sondern auch durch das, was auf diese Organisation gewirkt hat, und endlich, auf das Problem ei ner Weltbeschaffenheit ohne Rücksicht auf unseren wahrnehmenden seelischen Apparat eine leere Abstraktion ist, ohne praktisches Interesse.« (Ebd. 157)

Wenn mit dem Tod die persönliche Energie und mit ihr die Frage nach dem Sinn versiegt, so ist bis zu dem letzten Atemzug das Wandeln des Be-/Deutens ein zugleich haltloser und haltgebender Prozess. Der Vorgang der Erkenntnis umfasst bei einer Bricolage die Beobachtung und Sammlung von Zeichen, die zunächst einmal alles und nichts sein können, sowie die Verarbeitung der Zeichen zu Be-

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griffen. Die Körperlichkeit/Sinnlichkeit des Zeichens ist dabei entscheidend, weil sie die Brücke zur Wirklichkeit darstellt. Das sinnliche Ausgangselement macht den wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Fiktion, nicht ihr Bezug zu Wahrheit. Die Bricolage als wissenschaftliches Verfahren arbeitet mit einem wirklichen Zeichen, d.h. einem Ereignis, das aus der Wirklichkeit stammt. Die Wirklichkeit wird allerdings nicht auf das Außen reduziert, sondern die psychischen Prozesse und Strukturen werden als ebenso wirklich begriffen; Welt und Seele werden eine sinnliche Qualität zugesprochen. 10 Die Bricolage stellt durchaus auf einen objektiven Zugang zu ihrem Material ab, aber in einem gänzlich anderen Sinne, als der Begriff ›Objektivität‹ in der klassischen Methodenlehre-Trias ›Objektivität-Reliabilität-Validität‹ benutzt wird. Objektiv zu sein, ist für eine Bricolage insofern eine Forderung, als das Fundstück objektiv sein muss; dieses muss objekthaft, d.h. übertragbar sein, als Welt- oder Seelenerscheinung in verschiedenen Händen oder Köpfen gehalten werden können. Eine Phantasie ist ein geeigneter Ausgangspunkt für Fiktion, die darüber ebenso wahrhaftig, d.h. mit dem telos Wahrheit erzählen kann, nicht aber für Forschung. Innen und außen werden bei einer Bricolage hingegen nicht gegeneinander profiliert. In dieser, unserer Welt-Seele-Wirklichkeit gibt es eine Sollbruchstelle: die Sprache. Unaufhaltsam bricht sich die Wirklichkeit mit der Wahrheit und dieser Bruch realisiert sich in der Sprache. Ihn wahrzunehmen, lässt einen stehen bleiben; man staunt und stolpert darüber: Was? Er kann schockierend sein und böse, aber auch erhellend und gut. Certau beschreibt die Bruchstellen, die Foucaults Analyse des Diskurses inspiriert haben, mit dem Begriff der Andersheit. »[Alle] Anzeichen der Andersheit, ob ›winzige Sprünge‹ oder gewaltige Bekenntnisse, galten ihm als Beleg eines Ungedachten. Sie sind da, sagte er, gut lesbar, doch ungelesen, weil sie alle Erwartungen und Normen unterlaufen. Wenn er sie entdeckte, brach er in ein 10 Ich möchte an dieser Stelle auf die von Deleuze und Freud gemeinsam benutzte Begrifflichkeit ›Oberfläche‹ aufmerksam machen. Deleuze spricht von den Wirkungen als Oberflächenphänomen, die sich an den Körpern/Dingen abspielen und kommt in mehreren Schritten zu der Vorstellung, dass der Sinn als hergestellter Effekt das Ober flächenphänomen schlechthin ist. Freud spricht davon, dass das Ich aus körperlichen Erfahrungen entsteht und nennt das Ich in Bezug darauf ein Oberflächenwesen. In dieser Terminologie könnte man sagen, ein Ereignis oder eine Erfahrung, die zu ei nem wissenschaftlichen Fundstück taugt, muss immer auch die Qualität einer Oberflä che haben, d.h. muss einen sinnlichen Zugang gewährleisten; sowohl innere als auch äußere Oberflächen (Ich-Affekte und Körper-Effekte) können ein Fundstück zu einem Ausgangspunkt für die reflexive Forschung einer Bricolage qualifizieren.

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Gelächter aus [...]. Durch die Ritzen des Diskurses dringen unangebrachte oder paradoxe Späße ein; sie brechen das Denkbare auf und eröffnen Möglichkeiten anders zu denken. Der Philosoph vom Lachen geschüttelt und von der Ironie der Dinge gepackt (was einer Erleuchtung gleichkommt), ist nicht der Autor, sondern der Zeuge dieses Aufblitzens, das den von der etablierten Vernunft befestigten diskursiven Rahmen durchkreuzt und überschreitet. [...] Foucaults Bücher kombinieren so das Lachen des (Er)Findens mit der Sorge um die Genauigkeit, selbst wenn das Verhältnis schwankt und wenn, mit der Zeit, die Ge nauigkeit immer mehr über das Lachen siegt [...]. [...] Foucaults ›Berichte‹, wie er sie nannte, erzählen von der Entstehung und Etablierung neuer Problemstellungen.« (Certeau 1987/2006: 108 und 109)

Definition und Beweglichkeit, ein exakter und freier Umgang mit dem Material, das zeichnet eine Bricolage aus. Es ist die Brüchigkeit der Rede, die zwar auf sehr unterschiedliche Weisen, aber doch gemeinsam in genau dieser Qualität als Andockmoment für Forscher dient, die über das Menschsein nachdenken. Der Brüchigkeit begegnen reflexive Forscherinnen insofern auf vergleichbare Weise, als sie versuchen, sie nicht verschwinden zu lassen. Sie/wir versuchen so zu sprechen und schreiben, dass die paradoxe Textur der direkten Rede, sowie ihre Qualitäten, definieren und schöpfen zu können, erhalten bleiben. Diese Kippmomente der Sprache sind für uns wesentliche Hinweise auf den Existenzmodus des Menschen. »Die Schriften Freuds präsentieren sich von Anfang an als eine gemischte, sogar zwiespältige Rede, die bald Aussagen über – einer Energetik unterworfene – Kräftekonflikte macht, bald Aussagen über – einer Hermeneutik unterworfene – Sinnbeziehungen. Ich möchte zeigen, dass diese offenbare Ambiguität wohlbegründet und dass diese gemischte Rede die Basis der Psychoanalyse ist.« (Ricoeur 1969/1974: 79) »[Den] ›Triebschicksalen‹ [...] ist nur durch die ›Sinn-Schicksale‹ beizukommen. [...] All diese psychischen Produktionen (Witz, Mythos, Kunstwerk, religiöse Illusion) liegen im Umkreis des Sinns und gehören zu einer einzigen Frage: wie kommt das Wort zum Wunsch? Wie bringt der Wunsch das Wort zum Scheitern und scheitert selbst am Sprechen? Dieser neue Ausblick auf die Gesamtheit des menschlichen Sprechens, auf das, was der begehrende Mensch sagen möchte, verleiht der Psychoanalyse einen Anspruch darauf, an der großen Debatte über die Sprache teilzunehmen.« (Ebd. 18)

Absolute Hingabe an das Material, totale Verpflichtung zu einem präzisen und wahrhaftigen Umgang damit, sowie die Einsicht, dass diese Hingabe einen schöpferischen Umgang erfordert, diese Mischung nehme ich bei allen Denkern, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, wahr. Ich denke, es ist das Zugeständnis

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der Vorrangstellung der Fundstücke (von ihnen geht alles aus, auf sie ist alles bezogen), das einen dazu bringt, die eigene Wankelmütigkeit sowohl zu erkennen, als auch als ein problematisches Element in Bezug auf Erkenntnis anzuerkennen. Die Versuchung, einer der drei mächtigen Kräfte der Subjektivierung nachzugeben ist groß und wie auch immer man die Forschungsverpflichtung, dies nicht zu tun, in Begriffe fasst (ob als empirische Philosophie im Sinne des gesamten Unterfangens, ob als Bricolage im Sinne der konkreten Arbeitsweise), sie ist alles entscheidend. Wer in dieser Tradition forscht, hat damit die Aufgabe auf sich genommen, einen (eigenen) Weg zu gehen. Auch deshalb ist die Frage nach der Epistemologie einer Bricolage nicht von der Frage nach ihrer Ethik zu trennen. Bei einer Bricolage ist es prinzipiell möglich, Genres zu mischen und ganz selbstverständlich, Texte von Denkern und Denkerinnen, die traditionellerweise unterschiedlichen Disziplinen zugeordnet werden, übergangslos miteinander zu verbinden. Denn man ist nicht einer institutionalisierten Disziplin verpflichtet, sondern der Disziplin beim Forschen. »Diesen einführenden Zeilen heute geht es fast nur um eines: eine Form von Analyse vorzustellen, deren Entwurf nicht eine Philosophie und deren Ziel nicht eine Psychologie sein soll, eine Form von Analyse, die sich jeder konkreten, objektiven und experimentellen Erkenntnis gegenüber als grundlegend auszeichnet, und deren Ausgangspunkt und Methode schließlich von Beginn an bestimmt ist durch das absolute Vorrecht ihres Gegenstandes: der Mensch oder vielmehr das Menschsein. So lässt sich die tragende Oberfläche der Anthropologie im Ganzen umschreiben. Dieser Entwurf stellt sie in einen Gegensatz zu sämtlichen Formen eines psychologischen Positivismus, der glaubt, den Bedeutungsgehalt des Menschen im reduktiven Begriff eines homo natura ausschöpfen zu können, und setzt sie zugleich in den Kontext einer ontologischen Reflexion zurück, deren Hauptthema die Gegenwart zum Sein, die Existenz, das Dasein ist. Es versteht sich, dass eine Anthropologie dieses Stils ihre Rechte nur geltend machen kann, indem sie zeigt, wie sich eine Analyse des Menschseins an eine Analytik des Daseins anschließen lässt [...]. [...] Die Anthropologie kann sich also von dem Moment an als ›Tatsachenwissenschaft‹ bezeichnen, da sie auf strenge Weise den existentiellen Gehalt der Gegenwart zur Welt entwickelt. Sie auf den ersten Blick abzuweisen, weil sie weder Philosophie noch Psychologie ist, weil man sie weder als Wissenschaft noch als Spekulation definieren kann, weil sie weder die Gangart einer auf Tatsachen beruhenden Erkenntnis noch den Gehalt einer apriorischen Erkenntnis hat, bedeutet eine Missachtung des ursprünglichen Sinns ihres Entwurfs. Es schien uns der Mühe wert, einen Augenblick lang dem gedanklichen Weg dieser Reflexion zu folgen und mit ihr zu ergründen, ob nicht die Wirklichkeit des Menschen allein außerhalb einer Un terscheidung zwischen dem Psychologischen und dem Philosophischen zugänglich werde;

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ob nicht der Mensch in seinen Formen einer Existenz das alleinige Mittel sei, zum Men schen zu gelangen.« (Foucault in Binswanger 1954/2001: 1 und 2)

8.2 DIE ETHISCHE SEITE DER BRICOLAGE: EINE NOTWENDIGKEIT You know, i changed my mind!?11

Die ethische Seite einer Bricolage wird in der Veränderung der eigenen Deutung praktiziert. Die Wandlungen des eigenen Denkens, in denen auch widersprüchliche Gedanken gemeinsam gelten sollen, sind Ausdruck dafür, dass man nicht nach einem bestimmten Wissen strebt, sondern nach einem Verständnis. Luhmann vertritt offensiv die wissenschaftliche Tugend, Beantwortungsmöglichkeiten von Problemstellungen offen zu halten und nicht von vorneherein auf eine Lösung festgelegt zu sein. Mit anderen Worten: Es geht beim Forschen darum, Begriffe zu bilden. »Wenn man mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit Sachverhalte beobachten und beschreiben will, genügen die Worte des täglichen Lebens nicht. Man muss Begriffe bilden.« (Luhmann 2008: 270) Beobachten und beschreiben kann eine Wissenschaft nur das, was sie mit Begriffen bezeichnen kann. Andere Begriffe heißt andere Sachverhalte. Die Problemstellung besteht darin, dass zwar das Material, nicht aber der Sinn des Materials gegeben ist. Lévi-Strauss spricht von einer fundamentalen Nichtentsprechung zwischen Signifikant und Signifikat. Man könnte auch sagen: Der Mensch weiß Dinge, die er gar nicht kennt. Oder: Als Sprachwesen ist der Mensch mit Begriffen konfrontiert, die ihm nichts sagen. Eine wichtige Frage in Bezug auf Forschung ist für mich: Wie nackt kann man sich/die Welt sehen? Längst ist klar, dass es sich dabei nicht um eine Nacktheit im Sinne einer Unmittelbarkeit handelt, sondern um eine, die zu einem schöpferischen Umgang mit der geistigen Textur auffordert. Mit welchen semantischen Netzen verknüpft man die Verschobenheit der Signifikanten12 in Bezug auf die unsagbaren Signifikate? In welche Sinngewebe begibt man sich? Welche Interpretationen bevorzugt man? Wie unterschiedlich 11 Etwas, worauf ich Lust hätte: Ein Mind Changing Center (MCC) eröffnen. Darin passiert: •

Änderung der Absicht



Sinneswandel



Wechsel des Gemüts



Verwandlung des Gedankens.

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sieht man selbst und die Welt dabei aus oder wie immer gleich? Welche Begriffe begleiten einen wie ein Lieblingskleidungsstück so lange bis sie sich von selbst auflösen?13 Die ethische Seite der Bricolage besteht in einem sorgsamen Umgang mit Begriffen. Die Sorge gilt der Differenzierung, um der Diversität des Materials Rechnung zu tragen. Die Angst des Bricoleurs ist die vor Normierung und Vereinnahmung durch Herrschaft. Das Bemühen der Bricoleurin geht deshalb immer dahin, die Andersheit und die Dynamik der mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeit als Spielraum offen zu halten. Dabei vertrauen Bricoleure darauf, dass der Geist schöpferisch ist und prinzipiell die Fähigkeit besitzt, mit Paradoxien umzugehen. Ricoeur bezeichnet dieses Vertrauen als einen post-reflexiven Glauben, d.h. einen Glauben, der erst durch die Reflexion entsteht und nicht jenen, der davor Halt macht14. Der gesunde Menschenverstand operiert mit Aprioris, er hinterfragt sie nicht, er benutzt sie, um zu einer Einschätzung der Lage zu kommen. Es sind aber gerade jene Ereignisse, jene Fundstücke, die einen Bruch der Wirklichkeit mit ihren Aprioris zeigen, welche die reflexive Forscherin zum Denken bringt und die sie perplex15 aufsammelt. »Unsere Hypothese ist, dass sich das Verhältnis von Moral und Welt, also von Moral und Realität in einer sehr viel radikaleren Weise geändert hat, als in den Texten zum Ausdruck kommt, die sich damit begnügen, die Ethik vernünftig, das heißt mit Rückgriff auf sich selbst als letzte Instanz zu begründen.

12 Vgl. Jacques Lacans begriffliche Schöpfungen ›Signifikantenkette‹ und ›Stepppunkt‹ bzw. ›Polsterstich‹, mit denen er die Kluft sowie die Art der Zusammenfügung von Signifikant und Signifikat beschreibt. 13 Könnte diese Begriffsauflösung jener Moment sein, in dem es Sinn macht von einer nackten Tatsache zu sprechen? 14 »Zunächst sehe ich in der Sorge um das Objekt, dem Charakteristikum jeder phänomenologischen Analyse, die erste Spur jenes Glaubens an eine Offenbarung durch das Wort.« [...] »Letztlich liegt dieser Sorge ein Vertrauen in die Sprache zugrunde, – der Glaube, dass die Sprache, die die Symbole trägt, weniger von den Menschen als zu den Menschen gesprochen wird, dass die Menschen inmitten der Sprache, im Licht des Logos geboren werden, ›dass alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen‹.« (Ricoeur 1969/1974: 43 und 42) 15 Vgl. plectere (lat.): flechten, ineinanderfügen. Perplex von daher wörtlich: verflochten, wirr durcheinander, durchkreuzt. Hier als Durchkreuzung und verwirrendem Durcheinander von Wirklichkeit und Aprioris.

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Wir sagen: in der modernen Gesellschaft bezieht sich eine universell ausgelegte Beobachtung bzw. Beschreibung auf Realität immer dann und nur dann, wenn sie eine Unterscheidung benutzt, in der das Beobachten und Beschreiben selbst wieder vorkommt. Da keine Beobachtung und Beschreibung die Realität der eigenen Operation negieren kann, ohne die Negation durch ihren eigenen Vollzug zu desavouieren, ist die Selbstinklusion in das Beobachtete und Beschriebene die Form der Realitätsvergewisserung, die epistemologisch nicht unterlaufen werden kann. Sie bringt, wie man im Grunde seit Descartes weiß, die Beobachtung der Realität auf den Punkt, an dem jede Negation sie bestätigt. Es gibt keine Flucht aus der Welt. Es gibt keinen externen Standpunkt. Zur Wahl steht nur, die Unter scheidung, mit der man die Welt beobachtet und durch die man zum Ausdruck bringt, wie die Operation, die dies tut, selbst an der Welt partizipiert. Und noch genauer formuliert: zur Wahl steht nicht, dass man der Beobachtung und Beschreibung eine Unterscheidung zugrunde legt, denn ohne Unterscheidung lässt sich nichts bezeichnen; zur Wahl steht aber, mit welchen Unterscheidungen man es tut, das heißt, wie man das Beobachten und Beschreiben instrumentiert. Es ist diese Einsicht, mit der unsere Überlegungen zur Geschichtlichkeit von Weltbeschreibungen einsetzen. Die Unterscheidungen, mit denen man Welt beobachtet, indem man sie dichotomisiert, um etwas auf der einen und nicht der an deren Seite der Unterscheidung bezeichnen zu können – diese Unterscheidungen können wechseln, und durch diesen Wechsel vermag das Beobachten und Beschreiben sich gesellschaftsstrukturellen Veränderungen anzupassen.« (Luhmann 2008 a: 326)

Was passiert, wenn der Sprung zwischen Wahrnehmen und Sprechen nicht reflexiv erfolgt? Neutral und mit Luhmann gesagt, liegt dann der Fall vor, dass die Entscheidung für eine bestimmte Unterscheidung, um beobachten und beschreiben zu können, nicht offen gemacht wird. Diese Nicht-Öffnung kann in der Form von Heuchelei (man öffnet die eigene Sichtweise nicht nach außen) oder von Selbsttäuschung (die eigene Sichtweise ist nach innen nicht geöffnet, d.h. ist einem selbst nicht bewusst) auftreten. Sich diesem paradoxen Kippmoment zu stellen, ist die ethische Forderung für eine Bricolage. Die doppelte Forderung an eine gute Forschung, sowohl nach einer ausgewiesenen Epistemologie als auch nach einem erkennbaren ethos, verleiht der Psychoanalyse als Erkenntnis- und Selbstkenntnispraxis immer wieder von neuem eine besondere Relevanz als Forschungspraxis. Sie eröffnet nicht nur in ihrer angewandten Form als Redekur, sondern auch als geisteswissenschaftlicher Forschungsansatz die Möglichkeit, Gedanken zu verwandeln und dabei gleichzeitig Absichten zu ändern, um (etwas) anders erkennen zu können. »Interpretieren ist eine Weise, auf die Aussagearmut zu reagieren und sie durch eine Vervielfachung des Sinns zu kompensieren; eine Weise, ausgehend von ihr und trotz ihr zu sprechen. Aber eine diskursive Formation zu analysieren heisst, das Gesetz der Armut zu

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suchen, ihr Mass zu nehmen und ihre spezifische Form zu bestimmen. Es ist also in einem gewissen Sinn das Wägen des ›Wertes‹ der Aussagen. Dieser Wert wird nicht durch ihre Wahrheit definiert, wird nicht durch die Präsenz eines geheimen Inhalts geschätzt, sondern charakterisiert ihren Platz, ihre Zirkulations- und Tauschfähigkeit, ihre Transformationsmöglichkeit, nicht nur in der Ökonomie der Diskurse, sondern in der allgemeinen Verwaltung der seltenen Ressourcen. So begriffen hört der Diskurs auf, das zu sein, was er für die exegetische Position ist: unerschöpflicher Schatz, aus dem man stets neue, jedesmal unvorhersehbare Reichtümer ziehen kann. Vorsehung, die stets im Vorhinein gesprochen hat und, wenn man zu hören versteht, retrospektive Orakel erklingen lässt: er erscheint als ein endliches, begrenztes, wünschenswertes, nützliches Gut, das seine Erscheinungsregeln, aber auch seine Aneignungs- und Anwendungsbedingungen hat. Ein Gut, das infolgedes sen mit seiner Existenz [...] die Frage der Macht stellt. Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand eines Kampfes und eines politischen Kampfes ist.« (Foucault 1973/1981: 175)

Ist der forschende Mensch nicht der, der aufbricht und sich aufmacht, etwas zu erfahren, was vorher noch nicht wahr war? Der sich dafür interessiert, was noch alles wahr sein könnte? Der sich deshalb automatisch auch vor der Frage wiederfindet: Was ist Erkenntnis und wozu dient sie? Wozu bekenne ich mich? Was finde ich? Und was finde ich gut?

9

Für das Negative

In diesem Kapitel möchte ich mich noch einmal explizit der Frage widmen, inwiefern das hier unternommene Denken und Schreiben eine praktische Arbeit ist, d.h. politisch im Sinne der Frage: Wie können wir gut miteinander leben? Angetrieben, getragen und gefasst in einem komplexen Zusammenspiel von Kräften und Interpretationen, lässt sich diese Bricolage auch bezeichnen als: Filigrane Praxis der Liebe in Anbetracht des Eros. Schöpferische Praxis der Fiktion im Angesicht des Todes. Kleinschrittige Praxis der Diplomatie mit Blick auf das Notwendige. Es geht darum, sich mit der bricolierenden Praxis einen Weg zu bahnen, um gut leben zu lernen. Es geht darum, die Arbeit des Erkennens und die Arbeit der Moral so begreifen zu können, dass es in unserer pluralen und kontingenten Weltwirklichkeit wieder möglich wird, sich darüber zu unterhalten, wie wir uns auf Wahrheit beziehen und was wir gut finden. Wie kann uns Denken nutzen und das Gute dienen, um als Mensch zu leben, in einer gemeinsam geteilten Welt? Was braucht es, um die Welt teilen zu können? Die Ausgangslage, in der wir uns heute befinden, ist diesbezüglich schwierig. Es wirkt nicht so, als würde es uns auf Anhieb gelingen, mit dem kommunikativen Weltzusammenschluss auch die geistigen und moralischen Funktionen entsprechend komplexer werden zu lassen. Wir zirkeln in Weltfragmenten und befinden uns im Krieg. Warum ist uns nichts Besseres gelungen? »Mit der anonym und latent bleibenden Konstitution von Sinn und Welt wird das volle Potential der an sich gegebenen Erlebnismöglichkeiten, die extreme Komplexität der Welt, dem Bewusstsein entzogen. Die vertraute Welt ist dann relativ einfach und wird in dieser Einfachheit durch ziemlich enge Grenzen gesichert. Die Komplexität ihrer Mög lichkeiten erscheint gleichwohl, und zwar als Schnitt zwischen dem Vertrauten und dem

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Unvertrauten, dem Fremden, dem Unheimlichen, das bekämpft oder mystifiziert wird.« (Luhmann 1968/2000: 22)

Vielleicht ist es ein typischer Zustand für das Wesen Mensch, sich am Rande seiner Kapazität zu befinden? Immerhin sind wir anhaltend damit beschäftigt, das Einfache mit dem Komplexen, sowie uns selbst mit dem großen Ganzen in ein Verhältnis zu bringen. »Deshalb werden zugleich mit dieser zusätzlichen Komplizierung neuartige Mechanismen der Reduktion von Komplexität erforderlich – allen voran natürlich die Sprache und das reflexible Selbstbewusstsein als Mechanismen der Generalisierung und der Selektivität.« (Ebd. 6) Was dabei aber auffällt, ist, dass der Mensch Schwierigkeiten hat, seine Fähigkeiten, zu sprechen und reflexiv zu denken, ethisch zu nutzen. In einem hyperkomplexen Zirkel von Entscheidungen und Freiheit, die dadurch entsteht, dass man entscheiden muss, ist es angelegt, dass wir das Gute immer wieder verlieren. Luhmann sieht das so: Weil jede Kommunikation die Teilnehmerinnen vor die Wahl stellt, sie anzunehmen oder abzulehnen, provoziert erst Kommunikation Freiheit; sie ist ein Effekt von Gesellschaft und nicht eine menschliche Grundsituation. Dieser Luhmannʼsche Gedanke lässt sich auf die anderen beiden Subjektivierungsdimensionen übertragen. Auch die diskursive Freiheit liegt nicht in einem frei verfügbaren Sprachfeld jenseits der Aussagen, sondern in einer mühsamen, selbstdisziplinierenden, Freiheit erst dadurch schaffenden, diskursiven Praxis. Und die Willensfreiheit? Selbst dieser Fels in der Brandung der Menschlichkeit ist Ergebnis einer Entscheidung: Ein Freiheitseffekt, der entsteht, wenn die Seele reflexiv tätig wird, d.h. bewusst differenziert. Für alle Formen der Freiheit ist das Vorhandensein des Neins entscheidend. Ohne Ablehnung, ohne Auslassung, ohne Abwesenheit, mit einem Wort, ohne Negativität, keine Freiheit – und ohne die so hergestellte Freiheit mit den Epiphänomenen der Wahrheit und des Guten zu qualifizieren, kein ethos. Ethos entsteht, indem man sich einen beweglichen, einen ›freischwebenden‹ Umgang mit den subjektivierenden Mechanismen erarbeitet und kultiviert. »Was ist Kultur? Sagen wir zunächst negativ, dass keine Veranlassung besteht, Kultur und Zivilisation zu trennen; [...] dieser Unterschied, der unter einem anderen Gesichtspunkt als dem der Psychoanalyse einen Sinn haben mag, verliert ihn, sobald man beschließt, sich der Kultur unter dem Gesichtspunkt der Bilanz von Besetzungen und Gegenbesetzungen der Libido zu nähern. Diese ökonomische Interpretation beherrscht alle Freudschen Kulturbetrachtungen. Der Kulturbegriff stellt bei Freud zum Teil dasselbe dar wie der des Über-Ichs, zum ande ren etwas Neues und Umfassenderes. Die Kultur ist nur ein anderer Name für Über-Ich, solange man ihr als erste Aufgabe das Verbieten sexueller oder aggressiver Wünsche zu-

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weist, die sich mit einer sozialen Ordnung nicht vereinbaren lassen; ökonomisch gesagt: die Kultur impliziert einen Triebverzicht; man braucht nur an die drei universellsten Verbote erinnern: das des Inzests, des Kannibalismus, des Mordes: Dass Kultur und Über-Ich hier zwei Namen für ein und dieselbe Realität sind, bezeugt der Mechanismus der Introjektion. Ganz nebenbei fügt Freud noch zwei weitere Züge hinzu: einerseits sorgt die ästhetische Befriedigung für eine bessere Verinnerlichung der Kultur, die als sublimierter Wunsch und nicht als einfaches Verbot empfunden wird; andererseits verhilft die hochmütige und kriegerische Identifizierung des Individuums mit seiner Gruppe, deren Hass es sich zu ei gen macht, ihm zu einer Befriedigung narzisstischer Art, die seiner Feindseligkeit gegen die Kultur entgegenwirkt und die korrigierende Wirkung des sozialen Modells verstärkt; doch diese beiden Befriedigungen [...] führen uns nicht aus dem nun bekannten Rahmen der Triebe, die sich hinter jeder Idealbildung verbergen. Wir gehen einen weiteren Schritt über die klassisch gewordene Analyse des Über-Ichs hinaus, wenn wir berücksichtigen, dass die Kultur außer dem Verbieten und Korrigieren auch die Aufgabe hat, das Individuum gegen die Übermacht der Natur zu schützen. Mit dieser Aufgabe müssen wir später die Illusion verknüpfen. Sie gliedert sich in drei Themen: Verminderung der Last der den Menschen auferlegten Triebopfer; Versöhnung der Individuen mit jenen Verzichten, die unvermeidlich sind; Bereitstellung von befriedigenden Entschädigungen für diese Opfer. Freud nennt dies den ›seelischen Besitz der Kultur‹, und in diesem Besitz ist der wahre Sinn der Kultur zu suchen.« (Ricoeur 1969/1974: 258)

Was nun, wenn der seelische Besitz der Kultur selbst zu einer schweren Bürde wird? Was tun, wenn eine maligne Kulturdynamik das Gut der Kultur zu einer infernalen Struktur für den Menschen macht? Was wollen, wenn die Unzerstörbarkeit der ältesten Wünsche der ganzen Welt einen erotischen Stempel aufzudrücken versucht? Wenn alles von Eros gebrandmarkt wird, dessen Kraft dabei doch gleichzeitig und exponentiell mit der Außerkraftsetzung der Tabufunktion schwindet? Wie sich kultiviert verhalten, wenn Zivilisation zu einer Last wird, Kultur zu einem Leid? »Die Ersetzung der Libido durch den Eros signalisiert eine sehr präzise Intention der neu en Triebtheorie: wenn das Lebende aus inneren Gründen stirbt, dann ist das, was gegen den Tod kämpft, nicht etwas dem Leben innewohnendes, sondern die Kopulation eines Sterblichen mit einem Sterblichen. Eben dies nennt Freud Eros: der Wunsch nach dem Anderen wird unmittelbar mit dem Setzen von Eros impliziert; immer kämpft das Lebende zusammen mit einem Anderen gegen den Tod. Dies ist der intuitive Gedanke, den Freud auf die großen und die kleinen Einheiten extrapoliert [...].« (Ebd. 299)

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Dieser Shift von der innerpsychischen Perspektive auf den Trieb als Libido zu einem umfassenden Blick auf die Seele, der mit den Begriffen Eros und Thanatos vollzogen wird, ermöglicht es, die existenzielle Frage nach dem guten Leben psychoanalytisch zu stellen. Mit der Einführung der Triebparadoxie Eros/Thanatos, setzt Freud die Potenz der Psychoanalyse in Kraft, Forschungstradition zu sein, d.h. unabhängig zu werden von ihrer therapeutisch-klinischen Anwendung. Der psychische Apparat erhält eine Raumzeit-Qualität, bei der die Vergänglichkeit der individuellen Existenz gleichzeitig mit dem Bezug zum Anderen in den Fokus gebracht wird. All dies auf der Basis einer differenzierten Beschreibungsmöglichkeit der seelischen Dynamik und Struktur des einzelnen Menschen. Während man mit dem Libidobegriff analysieren kann, was der Mensch haben will und dadurch sein kann, bzw. vor allem auch wie er sich fixiert und dadurch neurotisch sein kann, wird mit den Begriffen Eros und Thanatos eine Analyse möglich, die in Betracht zieht, was der Mensch nicht hat und nicht ist. Es wird möglich, sich für das Negative zu interessieren. Es wird möglich, all das, was man nicht ›...‹, als genauso wesentlichen Teil des Lebens als Mensch miteinzubeziehen. Zentripetal- und Zentrifugalkräfte der Differenzierung fort/da werden freigesetzt. Und die Problematik der Frage nach dem guten Leben kann aus dem engen Rahmen der moralischen Funktion gehoben werden und in den Zusammenhang mit der Frage, was ist das Leben als Mensch überhaupt, gebracht werden. Wie lässt sich die Kapazitätsgrenze, an die der Mensch aktuell gelangt, begreifen? Wie die spezifische Schwierigkeit, die er mit der gegenwärtigen Komplexität hat, zu entscheiden, was gut ist? Mein Vorschlag: Als eine Problematik der Abwesenheit des Negativen. In dieser Arbeit habe ich beschrieben, inwiefern sich die seelische Existenz des Menschen mit einem paradoxen Element in Kraft setzt und das Reflektieren eine Praxis ist, bei der die Mitte insofern immer leer bleibt, als es um die Verhältnisse geht, die dabei geschaffen werden. Dieser existenziellen Leere korrespondieren Abwesenheits-/Anwesenheits-dynamiken auf allen Ebenen. Wenn die Negativität mitreflektiert wird, kann sich eine theoretische Auseinandersetzung mit dem guten Leben darauf konzentrieren, bezüglich der unterschiedlichen Subjektivierungsdimensionen in den Blick zu nehmen, welche Unterscheidungen zu welcher Welt führen. Man kann sich fragen: Welche Differenzierungen lassen welche Aussagen / Kommunikationen / Wünsche positiv werden (kann sein) und welche negativ (kann nicht sein)? Auf der Basis des dadurch entstehenden Sets von Unterscheidungen, kann man sich daran machen zu entscheiden, welchem Sollen man sich zuwendet und von welchem man sich distanziert. Dafür braucht es Lücken; Spielräume, Freiräume, Zeit zu reflektieren.

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Wenn man diesen Blick anwendet auf die kulturelle Dynamik und die kulturellen Strukturen, mit denen wir heute als Weltgesellschaft konfrontiert sind, sehe ich: Uns fehlt die Leere, das Nichts, der Tod, die Negativität als das Andere. Die Positivitäten, d.h. das, was wir schaffen und schaffen wollen, sind wie bei dem Wettrennen zwischen Hase und Igel immer schon da – noch bevor wir uns dazu befragen können. Die Wirklichkeit scheint mehr und mehr wie abgekoppelt vom Bewusstsein, insofern, als wir den Ereignissen nur mehr hinterherhecheln können, anstatt sie mit unserer Fähigkeit, wahrzunehmen und zu handeln, zu unserem Leben zu machen, uns darin einzurichten. Die Positivität, das, was ist, das, was sich ereignet, ist so massiv geworden, so überfordernd komplex, dass sich der einzelne Mensch darin kaum mehr verorten kann; jedenfalls nicht, wenn man unter Verortung einen vorangegangenen Orientierungsvorgang versteht. Man kann die Vorstellung bekommen, nicht vorzukommen, nicht mehr Teil dieser Welt zu sein: nicht zu gelten, nichts zu sagen zu haben; man kann das Gefühl bekommen, dass es keine Raumzeit gibt, für das, was man wirklich braucht. Ständig passiert etwas, aber man weiß nicht, was es soll; man verliert das Gefühl, dass die Wirklichkeit mit einem zu tun hat und damit die Freiheit, sich dazu zu verhalten. Man steckt irgendwie einfach mit drin’ und zwar in einer Welt, gegen die sich vieles in einem sträubt. Dies ist eine perfekte Struktur, eine optimale Dynamik für totalitäre Herrschaftsstrukturen. Denn was ist die Phantasie totalitärer Systeme? Wir sind alles. Wir sind die Guten. Wir zählen. Wir schaffen die Strukturen, wir bestimmen, was gilt und was nicht. Das Andere verhindert das Gute und hat deshalb keine Legitimation. Das Andere soll es nicht geben. Wir machen alles positiv. Die unendliche Fremdheit des Anderen ist laut Lévinas 1 am Antlitz des Anderen grundsätzlich wahrnehmbar. Sie kommt zum Ausdruck als mein Unvermögen, den Anderen vollständig zu identifizieren und/oder zu objektivieren. In der Begegnung mit einem anderen Antlitz, kann der Mensch, seiner Meinung nach, deshalb die Erfahrung machen, als Mensch frei zu werden; nämlich dann, wenn er die radikale Verletzlichkeit des Anderen, die darin gipfelt, dass er von mir getötet werden kann und das daraus folgende moralische Gebot, nicht zu töten, wenn diese Infragestellung nicht als Einschränkung, sondern als Bedingung der eigenen Möglichkeit, frei zu werden, durchschaut und empfunden werden kann. Die Verlockung des Bösen besteht darin, die Welt zu vereinfachen. Es führt ein unmoralisches Versprechen ein: Du kannst bekommen, was du ersehnst! Man beachte, wie treffend dieser Ausdruck gerade für den Fall ist, dass dieses Versprechen nie mit der Absicht in die Welt gesetzt wurde, es auch einzuhalten: 1

Vgl. Celikates, R./Gosepath, S. (Hg.), 2009.

238 | Moral Bricolage – über das Gute sprechen

ein Ver-Sprechen, d.h., es muss dadurch nicht mehr tatsächlich miteinander gesprochen werden. Es muss (und kann dann aber auch) nicht mehr abgewogen werden, was man gut findet und was nicht. Die Dinge werden eindeutig festgelegt. Identitäten müssen nicht mehr interpretiert werden; man kann sie feststellen. Positivitäten müssen nicht mehr als kontingente Erscheinungen im Zusammenhang mit dem, was nicht ist, angenommen werden; sie werden Errungenschaften, auf die man nicht nur stolz sein und eine Identität gründen kann, sondern die man auch verteidigen darf. Wenn nötig mit Gewalt, wenn noch nötiger, mit Mord. Auf diese Weise einfacher fertig zu werden mit der Komplexität des Daseins, das ist das Angebot des Bösen. Diesem Angebot sein Nein entgegen zu halten, ist die grundlegende Bewegung für ein ethos. Lévinas beschreibt die Entscheidung, einen anderen Menschen zu töten, als Verzicht auf Verstehen. Und Sprechen (entsprechend) als Eingehen einer Beziehung. Der Sprache schreibt er deshalb eine ethische Potenz zu, die sich der Mensch als seine Rede zu eigen machen kann; die ihn zum Wahrsprechen verpflichtet. Er begreift die ethische Dimension von Sprache als Rede, welche das Ich in Frage stellt. Aus ihr wurzelt die Vernunft bzw. das Denken als Kraft. Die Andersheit, die prinzipielle geistige Getrenntheit vom Anderen, aber auch das Genießen der eigenen Existenz, welches ebenfalls nur in einer Situation der relativen Getrenntheit denkbar ist, finden laut Lévinas in der unweigerlichen Grundbewegung des menschlichen Seins statt: von sich zum Anderen hin. Vom konkreten Widerstand des Anderen einerseits und von dem nicht vereinnehmbaren, unendlich Anderen2, wird die ethische Dimension bereitet. Sie beginnt also mit dem, was wir nicht sind und nicht verstehen. Das Negative, so verstanden, ist gleichermaßen Schutz vor Illusion wie vor Krieg. Es ist die erste zu lernende Notwendigkeit, es zeigt den Tod an und ermöglicht die Liebe. Der Wert des Wahrsprechens beginnt mit einer Leerstelle und entfaltet sich in all seinen Dimension, wie der epistemologischen, der ethischen, der politischen, etc., dadurch, dass diese Leere nicht gefüllt wird.

2

Lévinas nennt dies das transzendente Unendliche, welches sich wiederum konkret im Antlitz zeigt.

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9.1 WIR MÜSSEN WAHRE SÄTZE...

3

»There is always another voice speaking through our own voice when we truly say something« (Nancy 2002)

Wenn wir wirklich etwas sagen, spielt das Unbekannte eine zentrale Rolle. Wahres Sprechen, die direkte Rede, ist immer ein Versuch, zu sprechen. Versuch, weil nicht klar ist, was dabei herauskommt. Versuch, weil wir bisweilen scheitern, schweigen, es uns bisweilen aber auch gelingt. Wahre Sätze sind ein Ereignis, ich möchte sagen: wie jedes andere Naturereignis. Wer es auf wahre Sätze abgesehen hat, muss sich vom Subjekt abwenden: Es hat nichts zu sagen. Wenn das Subjekt aussagt, unternimmt Wahrsprechen eine endlose Korrektur des Gesagten: Nein, das ist es nicht. Dieser Sprechart, bei er es darum geht, die Wirklichkeit wahr werden zu lassen und das Wahre wirklich, würde ich gerne den Ausdruck ›direkte Rede‹ reservieren. Es ist ein Sprechen, das oft genug gestammelt auftritt, sich selbst wiedersprechend, das Gesagte wieder zurücknehmend, es mit neuen Sätzen versuchend. Es ereignet sich tastend. Ein Tasten zwischen dem, was man vorfindet und dem, was dies Vorgefundene nicht ist. Deshalb gibt es auch gute Gründe, diese Rede als indirekt zu bezeichnen. Aber weil es beim Wahrsprechen immer auch darum geht, Begriffe aus der Umklammerung des Eindeutigen zu lockern und sich an dieser Stelle wieder einmal so einfach die Möglichkeit böte, diesem Sprechversuch aufgrund seines brüchigen Charakters eine untergeordnete Position in der Sprache zuzuschreiben, ziehe ich den starken Ausdruck ›direkte Rede‹ dafür vor. Das Direkte ist jetzt das, was von einer Diskrepanz spricht. Die direkte Rede ist gerade nicht klar und einfach, sondern lebt von der Spannung zwischen dem Positiven und der Negativität. Sie ist Ausdruck der Aufruhr darüber. Sie spricht mit dem Negativen all dieser Nichtse über das Positive und begreift den Abstand zwischen beiden als Quell der Wandlung. Und obwohl sie nicht eindeutig sein kann, d.h. Struktur und Inhalt von Dynamik und Form abhängen, richtet sie sich immer auf das Konkrete.4 3

Vgl. Den Titel eines Buches von und über Ingeborg Bachmann: ›Wir müssen wahre

4

Vgl. dazu auch Ricoeurs Bekenntnis zu seiner Art reflexiv zu forschen:

Sätze finden‹. Gespräche und Interviews, 1935-1973/1994. »Erst ganz am Ende also sehe ich die ersten Annäherungen an die Lösung des Problems, das doch schon zu Beginn meiner Untersuchung gestellt war. Daraus wird nicht nur ersichtlich, wie gewaltig die Frage, sondern auch, wie naiv unsere Forderung

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Sie fragt: Wie kann ich so leben, dass ich weder beherrscht werde, noch jemand anderen beherrsche? Wie kann ich mich in diesem Kräftefeld bewegen und mich dabei selbst beherrschen? Die Thematik der Beherrschung lässt sich in Bezug auf den Versuch wahrzusprechen nicht mehr nur bezüglich der drei Subjektivierungsdimensionen begreifen, sondern vor allem auch als Beherrschung des Umgang mit dem Topos des Anderen. Bei diesem Versuch, die Negativität nicht verschwinden lassen zu müssen, geht es darum, das Schäumende des Eros und die Stille des Thanatos zugleich auszudrücken. Wahrsprechen ist direkt von dieser Triebparadoxie gespeist. Es ist – ausgesprochen – individuell (je nach Libidoorganisation) und doch ist es als solches sogleich daran zu erkennen, dass es einer spezifischen Rhythmik folgt, die jeder direkten Rede eigen ist. Denn das Sprechen der direkten Rede veräußert nicht nur einen Inhalt (so wie dies Rede als Aussage, Wunsch, Kommunikation tut), sondern zugleich auch die Kraft, die für die Interpretation des Inhaltes notwendig ist. Die einzelnen Äußerungen sind getragen von der Trajektorie, die sich sobald jemand direkt zu sprechen beginnt, aufspannt, zwischen seiner arché und seinem telos. Die direkte Rede ist so brüchig, weil ihr Angriffspunkt sich beständig zwischen diesen Kräften und Sinnzusammenhängen verschiebt. Sie ist Bewegung und bleibt damit in ihrem Wesen notwendig bruchstückhaft. Ich glaube, wenn man diese Dynamik beherrschen lernt, lassen sich mit ihr Strukturen bilden, die dem fort/da-Rhythmus Raumzeit geben, mit dem wir uns auf das gute Leben zubewegen können. Auch, wer den Versuch unternimmt, wahrzusprechen schirrt sich selbst ein. Der Unterschied liegt in der Art der Anjochung. Wenn man sich nicht einfach in das Geschirr der Subjektivierung einspannen lässt, sondern sich das Leben selbst zutraut, ist man deshalb nicht frei von den Subjektivierungsdimensionen. Man kommt nicht herum, sie zu bedienen/von ihnen unterworfen zu werden. Aber man kann sich selbst darin so gut wie möglich beherrschen. Man kann sich dazu verhalten. Man muss nicht in den ausgetretenen Pfaden gehen, man muss sich nicht den ausgeleierten Zügeln überlassen, man muss nicht darauf warten, bis man einen Schlag empfängt. Man kann selber denken, sein eigenes Geschirr 5, die eigenen Trag- und Zugriemen 6 benutzen, man kann sein Antlitz zeigen. Es wird

nach einer Antwort war. Dass der Weg zurück zum Ausgangspunkt so mühselig ist, rührt daher, dass das Konkrete die letzte Eroberung des Denkens ist.« (Ricoeur 1969/1974: 351) 5

Vgl. Yuj (Sanskrit): das Joch; die Praxis des Yoga als Verbindung/Anbindung von

6

Vgl. les bricoles (franz.): die Trag- und Zugriemen.

körperlichen und geistigen Kräften.

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nicht gelingen, außerhalb der Synchronie der Subjektivierungsdimensionen sinnvoll zu sprechen, aber man kann diachronisch darin denken7. »Die ursprünglichen Formen des Denkens führen sich selber ein: Ihre Geschichte ist die einzige Form von Auslegung, die sie ertragen, und ihr Schicksal die einzige Form von Kritik.« (Foucault 1954/2001: 1) Wahrsprechen8 heißt auch ganz einfach, das Sagen, was man denkt und das eigene Denken affizieren und transformieren lassen von den Reaktionen, die dar7

Vgl. »Dennoch ist das Band zwischen Synchronie und Diachronie nicht starr, zunächst einmal, weil im großen und ganzen alle Sprechenden gleichwertig sind (eine Formel, die sich schnell als falsch herausstellen würde, wenn man sie an bestimmten Fällen verdeutlichen wollte), zum anderen und vor allem aber, weil die Struktur der Sprache durch ihre praktische Funktion als Kommunikationsmittel relativ geschützt ist: die Sprache ist also für den Einfluß demographischer Veränderungen nur in bestimmten Grenzen empfänglich, soweit ihre Funktion nicht gefährdet ist. Aber die Begriffssysteme, die wir hier untersuchen, sind nicht (oder erst an zweiter Stelle) Kommunikationsmittel; sie sind Mittel des Denkens, einer Tätigkeit, deren Bedingungen viel weniger streng sind. Man macht sich verständlich oder nicht; aber man denkt mehr oder weniger gut.« (Lévi-Strauss 1962/1973: 83)

8

»In der kynischen Existenzweise erkennt Foucault schließlich auch ein Paradebeispiel für ein spezifische Praxis, welche das Thema seiner letzten Vorlesungen und Vorträge werden sollte: die parrhesia, das Wahrsprechen. Dabei geht es Foucault gerade nicht, wie in der archäologischen Phase, um die strukturellen Entstehungsbedingungen von Aussagen, die in der Antike als wahr anerkannt wurden, sondern um den Sprechakt des Wahrsprechens. Dieser zeichnet sich demnach auch nicht durch Inhalt oder Form (das Gesagte kann von einem anderen durchaus als falsch erachtetet werden), sondern durch das Verhalten eines Sprechers innerhalb einer spezifischen Sprechsituation aus. Als parrhesia kann ein Sprechverhalten bezeichnet werden, bei dem sich der Sprecher dergestalt an die Wahrheit des Gesagten bindet, dass er mit dessen Aussprache bewusst etwas riskiert – zumindest die Beziehung zum Angesprochen, aber häufig sogar das eigene Leben. Während also Kritik in einer Freundschaft oder die Konfrontation des Tyrannen mit einer provozierenden Meinung einen Akt des Wahrsprechens darstellen, fällt die Darlegung eines wahren mathematischen Satzes durch den Lehrer an den Schüler nicht darunter. Die pharresia ist also ein inhärent politischer Akt, bei dem der Sprecher seinen Mut zur Wahrheit beweist, indem er freimütig alles ausspricht und dabei sich und seine Beziehung zum Adressaten aufs Spiel setzt. Sie ist keine Form der Rhetorik, da sie nichts hinter Stilmitteln zu verbergen sucht. Stattdessen stellt das Wahrsprechen zumeist einen Akt öffentlichen Aufbegehrens dar, mit dem sich die von der Geschichtsschreibung vergessenen Außenseiter widersetzten und eine

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auf folgen. In dem Versuch der Äußerung jener Differenzierungen, die uns wichtig sind, besteht die Praxis des wahre Sätze Findens. Wer sich beim Sprechen hingegen auf seinen Subjektstatus verlässt, entwickelt eine Hermetik, die einem Sprechethos entgegenwirkt. Da die direkte Rede eine Selbstmaßnahme ist, liegt eine Erschwernis für sie darin, dass sie nicht kollektiv auftreten kann. Man muss selbst denken, was man will und was das soll. Die dadurch angestrebte Freiheit ist immer persönlich riskant: wer äußert, was er sich wünscht, wer eine reflexive Position findet zu dem, was andere als Wissen festlegen wollen, wer mit Kommunikation nach Spielräumen sucht, bedroht Herrschaftspositionen. Was immer ein Mensch sagt, ist politisch in dem Sinn, als es eine Form des Zusammenlebens privilegiert. 9 An den Aussagen, den Wünschen und der Kommunikation sind Herrschaftsverhältnisse abzulesen. Der relevante Gegensatz bezüglich eines ethos besteht nicht zwischen Wort und Tat, sondern zwischen dem tatsächlich Gesagten und Getanen und dem, was darin nicht vorkommt. Wahrsprechen ist die Praxis der Rede, die darauf aufpassen möchte, welchen Wandel man damit vollzieht. Die direkte Rede führt dazu eine Klippe ein, einen Hohlraum, eine Leerstelle. alternative politische Realität im Angesicht des eigenen Untergangs zu schaffen suchten. Es stellt einen genuin performativen Sprechakt dar, bei dem Reden und Handeln in eins fallen [...].« (Simmerl 2013: 19) 9

»Die in der Archäologie des Wissens begonnene Hinwendung zur diskursiven Praxis radikalisiert Foucault [...] in der Genealogie, ohne jedoch den Strukturalismus vollends aufzugeben: Regelsysteme ohne inhärente Wesensbedeutung – also genau jene Formationsregeln des Diskurses, welche die Archäologie positivistisch, ohne jegliche Interpretationen beschreibt – bleiben Teil der Analyse. Die kontingenten Ereignisse der Geschichte können allerdings nur verstanden werden, wenn die interpretative Praxis der Sprecher – sowohl die dominante als auch die subalterne, von der konventionellen Geschichtsschreibung unterschlagene – untersucht und dabei aufgedeckt wird wie der Diskurs über die Zeit hinweg verknappt wurde, wer sich seiner bemäch tigen konnte und welches Wissen verloren ging. Mit dieser Mischung aus Fortführung und Überschreitung der Archäologie entwickelt Foucault also eine genuin poststrukturalistische methodologische Position. [...]. Über das analytische Bindeglied der Interpretation eröffnet sich Foucault die Möglichkeit, sich in seinen Genealogien vor allem den Ritualen zu widmen, welche letztlich die Interpretation der wesenslosen Regel systeme in Handlungen übertragen und somit die eigentlichen Manifestationen der Machtbeziehungen darstellen. In ritualisierten Handlungsweisen, wie etwa den Disziplinar- und Geständnispraktiken, verschränken sich Diskursives und Nicht-Diskursives miteinander und finden in der Subjektivierung – in der Formung von Körper und Seele des Individuums – ihren performativen Brennpunkt.« (Simmerl 2013: 13)

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9.2 ...WANDELN UND DEUTEN Wenn man versucht, wahre Sätze im Wandel zu deuten, will man auch Acht geben darauf, was man nicht liebt, was man nicht phantasiert und was man nicht für notwendig erachtet. Mit dem telos, Wahrheit und Wirklichkeit zueinander in ein Verhältnis zu setzen, verhilft man automatisch dem Topos des Anderen zu Relevanz. Indirekt, in Form des Halles der Negativitäten, die mit entstehen: das Nicht-Sichtbare und Nicht-Sagbare, das Nicht-Kommunizierte, das Nicht-Gewünschte. Und in Form der direkten Rede jener Anderen, die mir mit ihrem Wahrsprechen in ihrer Andersheit begegnen. Und auch wenn die eigene Strahlkraft körnchenklein ist, so ist die Praxis der direkten Rede doch wie ein Minikeil, der sich aufspannt in die Geschichte, als die eigene Geschichte zwischen all dem. Wahre Sätze verlaufen zwischen der reflexiv aufgebrachten arché und dem telos, das sich als Horizont beständig bricht, während man nicht aufhört, sich darauf zuzubewegen. Das ist die seelische Trajektorie. Sie ermöglicht und verlangt die Entwicklung (als Aufspannung und Abwicklung zugleich) eines ethos. Die soziale Trajektorie wahrer Sätze spielt sich zwischen Ego und Alter ab, d.h. als kommunikative Auslotung des Verhältnisses, in dem man sich zueinander bewegt. Diese Situation ist per se moralisch, wie Luhmann dies deutlich gemacht hat. Während man die Distanzen kommunikativ vermisst, nähert man sich an, indem man akzeptiert, entfernt sich, indem man nicht akzeptiert. 10 Schließlich ziehen wahre Sätze eine Verbindung zwischen die eigene und die anonyme Existenz, indem sie uns Sprecherinnen werden lässt, die ihr Denken dazu benutzen, um über Körper/Welt zu sprechen. Indem man so spricht, wandelt man das Wissen. Mit dieser Trajektorie wird das ethos eines Menschen wahrnehmbar. Das entscheidende Moment bei alldem ist, dass sich wahre Sätze dafür offen halten, was nicht ist. Sowohl die direkte Rede als auch der Mensch, der sie führt, ist beweglich. Er bewegt sich in einem Rhythmus des Schöpfens. Wer wahrspricht bekennt sich gleichermaßen zur Wirklichkeit wie zur Fiktion; sie weiß, dass Reden Deutungen sind, dass wahre Sätze als Interpretationen erfolgen. Die Praxis des Wandelns wahrer Sätze bringt konkrete Interpretationen hervor und besteht zugleich in der Verwandlung des Konkreten. »Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns freilassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« 10 Vgl. auch hier noch einmal die ursprüngliche Bedeutung, die dem Lehrerin-SchülerinVerhältnis in dem vedischen Wort für Lehrer gegeben wird, in der sowohl ein Verhältnis bezeichnet wird, als auch eine Bewegung. Acharya (Sanskrit): Der, der herankommen lässt (= der Lehrer).

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(Foucault 1973/1981: 30) Wahre Sätze finden, heißt, eine Andere werden. Ein Anderer werden, ist für den Menschen keine freiwillige Angelegenheit, sondern eine Notwendigkeit – zumindest wenn man sich um ein ethos bemühen will und von der Frage umgetrieben wird, was soll ich sein (Mensch!?). Das Gute bleibt (sowohl) immer ein Phantasma und ist (als auch) unendlich differenzierter als das Böse; und zwar gerade aufgrund der aus jener Unerreichbarkeit des Guten folgenden Notwendigkeit, es zu reflektieren, es nicht festzulegen. Das Böse ist schnell erreicht und leicht geschaffen. Es sind schwierige, weil komplexe und konkrete Entscheidungen gefragt, um gut zu leben; bezüglich der Abstände, die man einnimmt zu der Gesellschaft, zu seinen Wünschen, zu dem Diskurs. Man geht an die Grenzen, man schafft Differenzen. Aus dieser Perspektive – der geschaffenen Differenzen – geht es vor allem um das Verhältnis gut/böse. Aus die ser Perspektive ist eine Moralkritik vorrangig. So gesehen, verläuft der Weg zu einem ethos über die Dekonstruktion des Guten als Wahrheit und die Rekonstruktion der Genealogie von Moral. Dieses De- und Rekonstruieren kann kollektiv erfolgen; man kann dazu die Wahrnehmung und das Denken sowie die Kommunikation schulen, man kann das Wissen um die Relativität des Wissens diskursiv privilegieren. Aus dieser Perspektive kann ich verstehen, warum Moralkritiker diesem Weg den Vorzug geben. Wenn das Böse brutal ist, so ist das Gute ständig gefährdet in dessen zweites Gesicht verwandelt zu werden. Darauf kann man nicht genug Acht geben, das lehren die Geschichten allerorts. Ich kann aber auch verstehen, warum man eine Reflexion über das Gute bevorzugt. Denn so sehr in dem Topos des Guten eine Gefahr liegt, so wenig ist dieser Aspekt das Wesentliche des Guten. Das Wesen des Guten ist performativ und überraschend, weil es fiktive Elemente in Erscheinung bringt. Es besteht in der Anstrengung, die Differenz nicht verschwinden zu lassen und das Negative nicht zu dem anderen Pol des Positiven zu vereinfachen. Das Gute begreife ich als Motor der Komplexität Raum zu geben; als ein Mittel, das strukturell zum Wandel auffordert und dynamisch die dafür notwendige Leerstelle bereithält. Während das Böse in seiner Eindeutigkeit die Spielräume extrem verengt und reaktiv nur die Bewegung des Zurückschreckens veranlassen kann, ist das Gute ein echter Bewegungsgrund; ein täglich zu vollziehender radikaler Schritt ins Unbekannte; ein unbekannter Anlass, anders zu werden. Vom Totemismus kann man darüber etwas lernen, wie wir Andere werden können, während wir uns an etwas halten. »Wenn sich die totemistischen Vorstellungen auf einen Code zurückführen lassen, der die Möglichkeit bietet, von einem System zu einem anderen überzugehen, ob dieses nun in Begriffen der Natur oder der Kultur formuliert ist, wird man sich vielleicht fragen, warum

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diese Vorstellungen von Handlungsvorstellungen begleitet sind; auf den ersten Blick we nigstens sprengt der Totemismus oder was man dafür hält den Rahmen einer einfachen Sprache, er begnügt sich nicht damit, Regeln der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit zwischen Zeichen aufzustellen; er begründet eine Ethik, indem er Verhaltensweisen vor schreibt oder verbietet.« (Lévi-Strauss 1962/1973: 116) »Der Pelz, die Federn, der Schnabel, die Zähne können von mir sein, weil sie das sind, wodurch sich das eponyme Tier von mir unterscheidet: diesen Unterschied nimmt der Mensch als Sinnbild, um seine symbolische Beziehung zum Tier zu bekräftigen; während die eßbaren, also assimilierbaren Teile das Indiz einer realen Konsubstanzialität sind, die zu leugnen jedoch, anders als man es sich vorstellt, das eigentliche Ziel des Verbots ist. Die Ethnologen haben den Irrtum begangen, nur den zweiten Aspekt zu berücksichtigen, was sie dazu geführt hat, die Beziehung zwischen den Menschen und dem Tier als eindeutig, in Form der Identität, Affinität oder Partizipation zu begreifen. In Wirklichkeit sind die Dinge unendlich komplexer: zwischen Kultur und Natur handelt es sich um einen Tausch von Ähnlichkeiten gegen Unterschiede, die bald zwischen den Tieren, bald zwischen den Menschen und bald zwischen den Tieren und den Menschen besteht.« (Ebd. 128)

Das paradoxe Element, welches dem Totemismus seine moralische Funktion, d.h. Aussagen über das Sollen ermöglicht, liegt schlicht in der Forderung nach differentiellen Abständen. An diese Notwendigkeit zur Grenzziehung können wir uns halten. Und ist das Triebhafte am Menschen nicht der Garant dafür, dass wir die Differenzen und Abstände nicht verlieren? Den reflexiven Bezug zu den Positivitäten und der Negativität unaufhörlich suchen? Treibt unsere Energie, die bald als Quelle, bald als Kraft und bald als Ausrichtung auftritt nicht dazu an, unsere Position unaufhörlich zu verlassen und unseren Fokus immer wieder zu ändern? Stellen nicht die Merkmale des Triebs – wie sein Zielprimat, seine kontingente Objektwahl, dies und jenes zu favorisieren, seine freie Beweglichkeit bei phasenweiser Fixierung, seine Zeitlosigkeit und ewige Wiederkehr – gerade jene energetischen Elemente zur Verfügung, die uns zur Entwicklung eines ethos hilfreich sind? Und ist nicht vor allem dessen paradoxe Dynamik, die uns treibt uns selbst zu verlassen während wir den Anderen anrufen und uns zugleich gerade damit selbst aufzusuchen nicht genau die Kraft, die wir dazu brauchen?

10 Zusammenfassung

Ich wollte begreifen, warum es so schwer ist, sich darüber zu verständigen, was ein gutes Leben ist. Mir war bewusst, wie naiv einerseits und groß andererseits dieses Ansinnen ist. Aber das Gute, die Wirklichkeit und Wir, das ist für mich ein so attraktives Dreiergespann, dass mich weder die Aussicht belächelt zu werden, noch die zu scheitern abgeschreckt hat. Nun, da ich ein Verständnis darüber entwickelt habe, kann ich das Anziehende am Guten umso mehr genießen. Was aber noch entscheidender ist, ich kann mich zum Bösen verhalten. Denn ich wollte vor allem auch begreifen, wie sich ein gutes Leben verstehen lässt, um der Crux begegnen zu können, große Fragen in Anbetracht einer pluralen und kontingenten Weltgesellschaft als bedeutungslose Liebhaberei aus dem öffentlichen Diskurs ins Private zu verbannen und sie als eine Frage der persönlichen Lebensphilosophie unwirksam zu machen. Es heißt, die Zeit der großen Geschichten sei vorbei. Mag sein, mag nicht sein; was mir daran tatsächlich wichtig erscheint, ist zu fragen: Welche Wirklichkeit entsteht, wenn es keine großen Geschichten mehr gibt, die von einem ethos für unsere Weltgesellschaft erzählen? Die Antwort ist für mich klar: Wenn Reflexionen darüber zu einem individuellen Gut degradiert werden, profitiert das Böse. Eine Erkenntnis im Zuge meines Nachdenkens besteht für mich darin, dass Moralkritiker wie z.B. Nietzsche tatsächlich nicht das gleiche Feld beackern wie Philosophinnen, die das Gute als spezifische Qualität für den Menschen reklamieren wie z.B. Aristoteles. Inwiefern? Die Kritik bezieht sich auf Moral. Nietzsche hat dargelegt, warum ein Geist erst wenn er sich mit der Genealogie einer Moral auseinandersetzt, frei werden kann, was für ihn bedeutet, sich sowohl vom Herrschen als auch vom Beherrscht-Werden zu befreien; und dass ein freier Geist nur jenseits dessen existieren kann, was die jeweils geltende Moral als gut oder böse vorschreibt. Luhmann hat seines Zeichens eine systemtheoretische Genealogie der Moral unserer kommunikativen Weltgesellschaft geschrieben. Moralische Kommunikation analysiert er als eine gesellschaftliche Funktion, welche

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dazu dient, die hyperkomplexen Weltvorgänge so zu vereinfachen, dass ein Gefühl von Sicherheit entsteht. Er denkt, moralisches Kommunizieren wird zur Kontingenzverarbeitung eingesetzt, insbesondere um die Unkontrollierbarkeit des Anderen in eine erträgliche Form zu bringen. Moral wird dabei von ihm als kommunikativer Vorgang beschrieben, der mit dem binären Code gut/böse in Gang gesetzt wird. Weil ein binärer Code zwei gleichrangige Werte beinhaltet, wird damit im engeren Sinne keine Orientierung angeboten (denn es ist noch nicht klar, für welchen Wert man sich wann entscheiden soll), aber allein die Entscheidung für eine der beiden Optionen reduziert dennoch die unüberschaubare Komplexität unserer Welt. Diese Analyse ist in Bezug auf Moral und ihre Unterscheidung in gut/böse durchaus bemerkenswert: sie widerspricht dem Gemeinsinn und überzeugt dabei, weil mit ihr verständlich wird, warum bei moralischem Kommunizieren nicht unbedingt etwas Gutes herauskommt. Die philosophische Reflexion über das Gute ist anders als die Kritik nicht auf Moral bezogen, sondern auf das Prinzip des Guten. Philosophinnen des Guten, wie ich sie nenne, unternehmen auf unterschiedliche Weise den Versuch, die Möglichkeit sich am Guten orientieren zu können, plausibel zu machen. Wenn Philosophen des Guten hinter die Erkenntnis zurückfallen, dass Normen in ihrem Wesen kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen sind, wie Luhmann es ausdrückt, kann man damit heutzutage niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Das wäre nicht weiter schlimm, eine Philosophie des Guten kann aber auch richtig problematisch werden. Denn Werte werden ja insbesondere dann heraufbeschworen, wenn Entscheidungen gefragt sind; dass es um eine Entscheidung geht, macht dabei aber klar, dass jeder Wert gerade aufgrund der Kontingenz des Entscheidens notwendig wird. Wer dies einmal durchdacht hat, wird sich hüten, Werte und eine allgemeine Gültigkeit in einem Atemzug zu nennen. Ich möchte das Problem mit dem Guten so ausdrücken: Wer Werte und Normen aus einem höheren Gut ableiten will, muss das Gute dabei konkretisieren und genau das verträgt es nicht. Denn was folgt aus der Unmöglichkeit, Werte und Normen mithilfe des Guten zu legitimieren? Dass diese kontingent sind? Oder dass es das Gute nicht gibt? Im Zuge meiner Überlegungen konnte ich diesen Gedanken nach und nach entwickeln: aus einer Dynamik kann man legitimerweise ein Prinzip folgern, nicht aber eine Differenzierung. Eine Unterscheidung macht ihrerseits nur in Bezug auf eine Struktur Sinn. Daraus folgt: Wer darüber nachdenken will, was ein gutes Leben sein könnte, muss heutzutage als erstes durch die Moralkritik hindurch. Sie kritisiert konkrete gesellschaftliche Strukturen, wie sie aus spezifischen, verfestigten Unterscheidungen in gut und böse entstanden sind. Weil Strukturen bestimmte Dynamiken prädestinieren und andere erschweren, ist es

Zusammenfassung | 249

wichtig, sich zunächst klar zu machen, dass die moralischen Unterscheidungen, welche die Gesellschaft dominieren, kontingent sind. Die Potenz der Moral, mit ihrer dramatischen Differenzierung in gut und böse, relativ stabile Strukturen zu schaffen, wird konstant dazu missbraucht, Herrschaftsverhältnisse zu etablieren und aufrecht zu erhalten. Ein strukturell verfestigtes Gut kann unter den geeigneten Bedingungen eben ganz leicht zu einem Übel werden. Jeder Wert kann dazu missbraucht werden, Gutes zu fordern und damit Böses zu schaffen. Ich beobachte, dass diese Erkenntnis im Gemeinsinn angekommen ist. Ich glaube aber auch, dass der gesunde Menschenverstand deshalb dennoch nicht in der Lage ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen, sowohl für das Verständnis des Guten als auch für die Praxis des guten Lebens. Stattdessen ist der Topos des Guten allge mein unter Verdacht geraten. So wichtig ich die moralkritische Perspektive finde, so unzureichend erscheint sie mir, wenn ich ansehen muss, dass das Böse erstaunlicherweise nicht dasselbe Schicksal ereilt. Wie kann das sein? Handelt es sich doch nicht nur um eine kontingente Differenzierung? Wie kommt das Böse zu dem Privileg als solches anerkannt zu werden, während das Gute als solches bezweifelt wird? Das hat mich stutzen lassen und zu meinem Verständnis des Guten gebracht: als Dynamik und Bewegung, als Anlass und Motor, anders zu werden. Dieses Verständnis möchte ich hier anbieten. Von da an ließ ich mich von dieser Frage leiten: Wie entwickelt man – in einer Welt, in der sich das Böse Geltung verschaffen kann, das Gute aber nicht mehr gilt – ein ethos? Mir war also klar geworden, inwiefern die abwiegelnde Haltung des gesunden Menschenverstandes in Bezug auf das Gute tatsächlich berechtigt ist. Aussagen, wie: ›Lassen Sie mich mit dem Guten in Ruhe!‹, ›Die Welt ist auf den Fugen geraten!‹ und ›Ich kann da eh nichts machen!‹, sind in Anbetracht des bruta len Wahnsinns, der in der Welt herrscht, der Gewaltexzesse und Tabubrüche, die auf der Tagesordnung stehen und von denen uns täglich berichtet wird, durchaus passend. Den Begriff des ethos habe ich von Foucault übernommen und bezeichne damit eine Seinsweise, die etwas Unfassbares anstrebt; etwas, das man nicht haben kann wie eine bestimmte moralische Sichtweise, sondern durch das man mit einer kontinuierlichen Praxis auf eine bestimmte Art werden kann. Ein ethos zu entwicklen bedeutet für mich eine Art zu leben, bei der man sich nicht auf Setzungen verlässt, sondern den Versuch unternimmt, wahrhaftig mit den Ereignissen umzugehen. Ein ethos zu entwickeln ist für mich die Möglichkeit, sich dem Bösen zu stellen während man sich davon distanziert. Ich musste unter dieser Perspektive also noch einmal ganz von vorne fragen: Was ist das Gute? und zusätzlich: Wie komme ich zu meiner Sichtweise? Oder anders formuliert: Was bedeutet Erkenntnis?

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Diese Fragen stellte ich mir vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass der menschliche Geist in Anbetracht des Bösen Polemiken, Beschwichtigungen und Heuchelei sowie Selbsttäuschung recht bereitwillig als Ausflucht nimmt, um seine Arbeit einzustellen. Und mit der Beobachtung, dass diese Ausflüchte heutzutage unglücklicherweise ausgerechnet von dem Guten, bzw. von dem Verlust des Absoluten-Status, den das Gute hinnehmen musste, eine Unterstützung erfahren. Wenn man sich auf nichts Gutes mehr gemeinsam beziehen kann, wenn die Wirklichkeit nun einmal plural und kontingent ist, wer kann da noch ernsthaft einfordern, dass etwas anders laufen soll? Es läuft eben wie es läuft und wie es gesellschaftlich läuft, hat Luhmann mit Hilfe des autopoietischen Mechanismus der Kommunikation präzise beschrieben. Hinzu kommt folgendes: Wer daran glaubt, dass das Gute eine eigene Kraft besitzt, steht vor der Notwendigkeit zu erklären, warum diese schon durch Polemiken, Beschwichtigungen, Heucheleien und Selbsttäuschungen zum Versiegen gebracht werden kann! Um mir eine Vorstellung davon machen zu können, was das Gute für den heutigen Menschen sein kann und wie man sich darüber verständigen könnte, fragte ich mich also zunächst: Wie geht der Mensch mit seinem Wort um? Wie kommt der Mensch zu seinem Wort? Inwiefern kann der Mensch dafür zur Rechenschaft gezogen werden? Was bedeutet es, wenn ein Mensch spricht? Ich brauchte, kurz gesagt, ein Verständnis von dem Phänomen der Sprache. Ich brauchte, genauer gesagt, ein Verständnis, in welchen Verhältnissen sich Mensch und Sprache zueinander befinden. Ich wollte wissen, ob der Mensch seine Sprachfähigkeit dazu benutzen kann, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern und habe mich deshalb dafür interessiert, wie frei oder unfrei wir sprechen können, oder anders formuliert, welche Subjektivierungskräfte durch die Sprache auf den Menschen wirken. Mit Foucaults Diskursanalyse gilt es zu verdauen, dass ausgerechnet die Aussagen, die ein Mensch tätigt, nicht von vorneherein das sind, was sie oder er selbst sagen will, sondern zunächst einmal durch den jeweils herrschenden Diskurs vorgegebene Aussagefunktionen. Die Aussagefunktion stellt nach Foucault her, was in einer bestimmten Epoche als Wissen gilt und determiniert das Subjekt gewaltig. Sie macht uns Menschen zu Unterworfenen der Sprache, indem wir zwar alle dasselbe sagen können, aber jede und jeder, der und die etwas anderes sagen möchte, sofort das Gewicht des Diskurses gegen sich hat. Gleichzeitig eröffnet dieser Blick auf das Verhältnis von Sprache und Mensch eine enorme Freiheit. Denn wenn die Sprache eine vom Individuum unabhängige Existenz führt, dann ist es möglich, das Gesagte als solches zu analysieren und den Erzählungen gegenüber eine Haltung einzunehmen. Es wird dann möglich zu differenzieren, zwischen ›man sagt‹ und ›es soll so sein, weil man es sagt‹. Es wird dann auch möglich zu unterscheiden, zwischen der Wirklichkeit, die dadurch herge-

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stellt wird, dass ›man sagt‹ und dem, was der reflektierende Geist vielleicht noch anderes auszudrücken vermag. Ich differenziere deshalb zwischen der Wirklichkeit des Subjekts und der Realität des Menschen. Und verstehe unter der Realität des Menschen seine conditio humana, die darin besteht, dass der Mensch in einer Wirklichkeit lebt und sich gleichzeitig reflexiv zu dieser Wirklichkeit befindet. Im Anschluss an Foucault habe ich so weitergefragt: Wenn es aufgrund der Unterwerfungsmacht eines Diskurses zwar schwierig, prinzipiell aber dennoch möglich ist, sich zu den diskursiven Formationen einer Zeit zu verhalten, welche Kraft wäre dann dabei am Werk? Anders gesagt: Was begünstigt Reflexion? Diese Frage habe ich mir zunächst auf folgende Weise gestellt: Wovon spricht der Mensch noch, außer von dem Wissen seiner Zeit? Eine Antwort gibt die Freud’sche psychoanalytische Theorie zu den Wirkmechanismen der Seele. Auch Freuds Psychoanalyse macht sogleich deutlich, warum vom Subjekt keine starke Setzung zu erwarten ist. Wenn der Mensch von außen dazu gebracht wird, zu sagen, was herrschende Meinung ist, so drängt es ihn von innen dazu, zu äußern, was er wünscht. Aber auch die Wunschdynamik ist eine, die den Menschen unterwirft. Auch bezüglich seines Wollens ist der Mensch alles andere als frei. Den hohen Fremdbestimmtheitsfaktor in dem Ausdruck ›ich will‹ hat Freud mithilfe der seelischen Prinzipien Konstanz, Lust/Unlust und Realität anhand seines zweiten topischen Modells eindrucksvoll herausgearbeitet. Das Ich als sekundäre seelische Struktur äußert, was es will; dies ist aber primär das, was Es will – also zum einen unbewusst und zum zweiten durch transgenerational weitergegeben Normen gefärbt – sowie darüber hinaus auch noch entscheidend abgewandelt durch das, was gesellschaftlich gerade gewollt werden darf. Ich war doch erstaunt: Weder in der äußeren noch in der inneren Welt ist das Gute angelegt. Die Behauptung des aufgeklärten, gesunden Menschenverstandes, dass es nicht existiert, wurde immer folgerichtiger. Ich konnte mit meinem bisherigen Fragen jedenfalls auch keine Hinweise auf das Gute finden, weder in den Strukturen der Psyche noch in denen der Gesellschaft, wie sie je Freud, Foucault und Luhmann analysiert haben. Es vereint diese drei großen Analysen eine Abkehr vom Subjekt. Zusammen mit der Moralkritik brachte mich die mehrfach hergeleitete Einsicht, dass von der Struktur des Subjekts nichts Gutes zu erwarten ist, zu der Hypothese, dass vielleicht auch die Struktur des Guten nichts Gutes verheißt; jedenfalls nicht unbedingt. Dass sich die Potenz des Guten eventuell überhaupt nicht strukturell zeigt. So kam ich zu einem ganz neuen Zugang und zuletzt zu dieser Frageperspektive: Gibt es eine Dynamik des Guten, die gut ist und wie ließe sich die beschrei ben? Wenn man die Frage nach dem Guten so stellt, eröffnet sich dadurch eine

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Verbindung zwischen der philosophischen Tradition, dualistisch zu denken und der Sicht auf unsere Wirklichkeit als eine plurale und kontingente. Es wird wieder möglich jenseits der Wirklichkeit zu denken, ohne allerdings dass man deshalb etwas Absolutes behaupten muss, dessen Gültigkeit apriori gegeben sei. Man kann so das menschliche Ringen um das Gute wieder als eigene Qualität des Seins annehmen, die nicht in einem Widerspruch steht zu dem gelebten Leben mit all seinen Verfehlungen. Und man gewinnt einen suspekt gewordenen, schon verloren geglaubten Begriff zurück: Wahrheit. Man wird ihn neu verstehen müssen, aber man hat ihn wieder. Meine Forschungsfrage stellte sich mir jetzt so: Wenn ich mich für die Dynamik des Guten interessiere, wie ließe sich also die Bewegung beschreiben, die ein Mensch vollziehen muss, um ein gutes Leben führen zu können? Um diese Dynamik verstehen und diese Bewegung nachvollziehen zu können, sah ich mir zunächst an, was unsere psychische Kraft überhaupt ist bzw. wie sie sich beschreiben lässt. Ein zweiter suspekter Begriff wurde mir dabei wieder zugänglich; ein Begriff, den zuletzt die Esoterik so marktschreierisch für sich beansprucht hat, dass auch mit diesem niemand mehr etwas zu tun haben wollte: Energie. Ich fragte über die Perspektive, wie uns etwas treibt, zu sagen ›ich will‹, hinaus: Was treibt uns überhaupt an? Das brachte mich wieder zu Freud und zu seiner bemerkenswerten Definition der seelischen Energie: »[Der] ›Trieb‹ [ist] ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.« (Freud 1915/1975 a: 85) Ich wollte also Freuds Triebbegriff mit der ihm angemessenen Differenzierung auffassen, seine Gedanken zu den Triebrepräsentanzen – dasjenige am Trieb, was in Form von Affekten und Vorstellungen bewusst werden kann und damit reflexiv zugänglich ist – nachvollziehen können. In Bezug auf Freud bedeutet ein gedanklicher Nachvollzug, sich bereit machen, für die kontinuierliche Weiterentwicklung einer Idee in Form von Verwerfungen, Revisionen und Neuformulierungen von Begriffen. Mit einem Freudʼschen Begriff hatte ich von Anfang an Schwierigkeiten. Erst mit Hilfe von Ricoeurs Interpretation konnte ich zuletzt Freuds Idee des Ödipus-Komplexes als zentrales Moment der Psychoanalyse nachvollziehen. Und zwar als ein transgenerationales Strukturmoment, das dem Wollen die Kraft des Sollens hinzugesellt. Die innere Stimme des ›Du sollst‹ kann, im Gegensatz zu dem von der Wirklichkeit ausgesagten ›Du darfst/darfst nicht‹, welches die Vorstellungen des Wunsches einer Anpassung unterzieht, mit Hilfe der ödipalen Idee von Freud sinnvoll als eine eigene Kraft betrachtet werden. Beinahe wäre ich an dem Verständnis für die Wichtigkeit, die Freud der ödipalen Dynamik mit aller Entschiedenheit zugesprochen hat, gescheitert. Dass ich mich trotz meiner Widerstände diesem Komplex gegenüber noch einmal zur Reflexion darüber frei

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machen konnte, war wichtig. Denn erst nachdem ich Freuds Über-Ich-Konzeption einen transgenerationalen Sinn zuordnen konnte, waren mir weitere gedankliche Schritte möglich, die entscheidend für mein jetziges Verständnis zum guten Leben waren. Sie betreffen den Triebdualismus Eros-Thanatos. Nachdem mir klar geworden war, dass der Trieb, den Freud rückwirkend Eros nannte, uns zu allem Möglichen verleitet, nicht aber dazu, ein ethos zu entwickeln, interessierte ich mich unter diesem spezifischen Gesichtspunkt für Freuds letzte große Idee: die des Thanatos. Eros verstand ich nun so: er treibt uns zum Leben, d.h. dazu, seelische Strukturen zu entwickeln, die dafür sorgen, dass unsere Wünsche uns weder allzu sehr in Konflikt bringen mit der Wirklichkeit, noch mit der Arterhaltung. Gerade so wie Luhmann der Moral die selbstselektierende Funktion des Unterscheidens in gut und böse zuordnet, konzipiert Freud das Gewissen als eine Instanz, die allein aus ihrer Funktion entsteht, d.h. nichts anderes begründet und differenziert sie als ihre Genese. Dann aber fügte Freud dem urbiologischen Treiben des Eros, mit dem er sich jahrzehntelang beschäftigt hat und auf dem alle seine komplexen Begrifflichkeiten basieren, in seinem Spätwerk, wie aus dem Nichts – es wird gleich deutlich, warum ich an dieser Stelle diesen Ausdruck verwende – Thanatos hinzu, einen zweiten Trieb. Mit diesem Paukenschlag transformierte Freud seine Psychoanalyse von einem positivistischen, bis dahin strikt der Aufklärung verschriebenen Denkmodell in eine philosophische Theorie. Es gibt nun nicht mehr nur die Möglichkeit, die psychische Energie als eine zu beschreiben, die leben will, sondern auch als eine, die sterben will. Und das Besondere dabei: Der Mensch wird als ein Wesen verständlich, welches es zu beidem gleichzeitig treibt; nicht gegeneinander im Sinne von alternativ, sondern zugleich. Die daraus resultierende paradoxe psychische Dynamik lässt sich an dem Ruhebedürfnis bei immer wieder einsetzender Aufruhr einerseits und an der Neugier und dem Forscherdrang bei grundsätzlicher Trägheit andererseits tatsächlich auch recht augenfällig wahrnehmen. Eros schafft und fixiert Strukturen. Thanatos steht für die Auflösung von Strukturen, für die Abwesenheit von Struktur und für das was ich ›das Negative als Dynamik‹ nenne. Zugleich eine strukturschaffende und eine strukturauflösende Kraft der Psyche anzunehmen, die dabei aber nicht derselben Dynamik folgen, heißt ihr eine paradoxe Kraft zuschreiben. Paradoxe Seinsweisen und Denkmechanismen wieder stark machen zu wollen, war zu Beginn dieser Arbeit ein intuitives Anliegen für mich. Das Nicht-Wissbare, das Andere gemeinsam mit den Positivitäten der Wirklichkeit als Realität zu begreifen, erschien mir als ein probates Mittel, um auf Herrschaft und Gewalt zu reagieren. Das Nicht-Integrierbare ist für das Paradoxe kein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit, besteht es doch eben darin, dem gesunden Men-

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schenverstand und seiner Wirklichkeit den Topos des Anderen, des Unbekannten, hinzuzufügen. Der hier in Gang gesetzte Topos des Anderen besteht dabei nicht in einer anderen Wirklichkeit; sondern die Paradoxie schafft Raum für etwas wesenhaft Anderes: für das Abwesende, das ›nicht ..‹, das Negative. Das Eine und das Andere gemeinsam zu denken, das ist die Potenz des Paradoxen. Dieses Andere bietet als Unmöglich-zu-Wissendes die Gelegenheit, den Begriff der Wahrheit neu zu denken. Und mit Freud kann man begreifen, inwiefern der Mensch auch zu diesem Anderen und damit zur Wahrheit einen Trieb hat. Ich denke so: Die Dynamik des Eros strukturiert die Seele, sie führt zu Fixierungen, aber auch dazu, dass der Mensch nie aufhört zu wünschen, was bedeutet, dass immer neue psychische Strukturen entstehen und die, die da sind, zwar nicht beliebig sind, aber auch nicht zwingend. Eros treibt sich in der Wirklichkeit herum; seine Kraft ist auf die Positivitäten bezogen, auf das, was ist, unabhängig davon, ob dies nun gut oder böse ist. Thanatos löst Strukturen auf; seine Dynamik bringt die Leere mit sich, sie lässt das Nichts leuchten und die Wahrheit am Horizont auftauchen, sie bringt ins Spiel, dass auch das wirkt, was (noch) nicht (mehr) wirklich ist – nicht in der selben Form wie die Wirklichkeit, aber in seiner eigenen Modalität. Seine Kraft ist die Negativität, die ebenfalls weder gut noch schlecht ist. Die Modalität der Unerreichbarkeit dieses Anderen möchte ich mit dem Begriff der Wahrheit in Zusammenhang bringen. Wahrheit ist so verstanden etwas Unfassbares; aber sie kommt in der Wirklichkeit vor und zwar u.a. als Infragestellung der Festlegungen und Bestimmungen und der als fix geglaubten Strukturen der Wirklichkeit. Wahrheit ist dann zwar in gewisser Hinsicht eine Korrektur der Wirklichkeit, aber nicht aus einer ethischen Perspektive. Wahrheit ist nicht besser als Wirklichkeit, sie ist nur wahrer. Mit dieser Qualität kann sie perplex machen, eben wenn sie in der Wirklichkeit auftaucht und sich quer zu dieser stellt. Die gegebene Wirklichkeit und die unerreichbare Wahrheit begreife ich als die beiden nicht ineinander auflösbaren Elemente der Seinsweise als Mensch. Diese Art zu sein ist verantwortlich dafür, dass den Menschen allein schon die Wahrnehmung ›ich bin‹ aus dem Konzept bringen kann, dass ›sum‹ überhaupt zu einem vorangestellten ›ergo‹ veranlasst. Sie macht die Aufforderung ›Erkenne Dich selbst!‹ zu einer paradoxen. Sie macht Derridas Aussage – »Sprechen macht mir Angst, denn da ich nie genug sage, sage ich immer auch zu viel.« (Derrida 1967/1976: 19) –, so nachvollziehbar. Sie bringt die Reflexion ins Spiel und verpflichtet dazu, zu reflektieren, wenn nicht nur die Wirklichkeit vorherrschen, sondern auch die Wahrheit vorkommen soll. Und sie macht noch einmal deutlich, inwiefern die für das tägliche Leben so zentralen psychischen Strukturen wie sie mit den Begriffen ›Ich‹ und ›Subjekt‹ beschrieben werden, tatsächlich nicht im Sinne eines Zentrums begriffen werden sollten. Die Mitte des Geschehens bleibt in dieser Perspektive leer; im Zentrum bewegt sich das

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paradoxe Kippmoment, das als solches nicht genau erfasst werden kann, dessen Moment des Übergangs, vom Einen ins Andere und umgekehrt, opak bleibt und dessen Ungleichheit dabei Genese bedeutet. Eros treibt zu der Wirklichkeit und den Positivitäten, Thanatos zu der Wahrheit und der Negativität. Das eine wird nie zum anderen und umgekehrt. Sie wirken gemeinsam und lassen sich sowohl getrennt voneinander analysieren als auch zusammen. Die gemeinsame Dynamik in den Blick nehmend, komme ich zu der Beschreibung, dass diese durch ein paradoxes Drehmoment gekennzeichnet ist. Das denkend, formulierte ich die Hypothese, dass der Mensch aus dieser paradoxen conditio humana eine Konsequenz ziehen muss, um ein gutes Leben führen zu können. Um die paradoxe menschliche Grunddynamik besser zu verstehen, fragte ich deshalb weiter, wie sich Wahrheit, Negativität, der Trieb zu diesem Anderen der Wirklichkeit in Bezug auf den Menschen zeigt. Eros ist gut untersucht und differenziert beschrieben. Ich fragte mich, welche Affekte und Vorstellungen eventuell Thanatos zuordenbar sein könnten? Freud beschreibt die Dynamik des Eros mit einem Ineinanderwirken von drei Prinzipien: dem Konstanzprinzip, dem Lust-/Unlustprinzip und dem Realitätsprinzip. In Analogie dazu schlage ich folgende Prinzipienkette für die Dynamik des Thanatos vor: Aufruhrprinzip, Zerstörungsprinzip, Fiktionsprinzip. Freud hat sich dazu entscheiden, Thanatos in sein Denken aufzunehmen, weil er das Unendliche in der Bewegung der Wiederholung, das Gleichbleibende und die ewige Wiederkehr mit Eros nicht erfassen konnte. Die Prinzipien des Eros beschreiben das Leben als organisches Werden und Evolution. Mit Thanatos’ Prinzipien lässt sich Unveränderliches und ein Streben nach Anorganischem denken, ohne dabei die Ideen des Absoluten und des Eigentlichen ins Spiel bringen zu müssen. Das individuelle Triebschicksal eines Menschen bekommt eine unpersönliche Qualität anheimgestellt. Für ein gutes Leben folgt daraus sowohl eine persönliche Verantwortung dafür als auch die Notwendigkeit, das Unabänderliche zu akzeptieren. Ich denke das Unabänderliche dabei auf diese Weise: Weil es sich nicht in den Strukturen der Wirklichkeit ereignet, hat der Mensch keine Möglichkeit darauf einzuwirken. Das Abwesende, das ›nicht ...‹ kann von uns nur als solches hingenommen werden. Und ich denke weiter: es ist dieses Nichts, dass den Menschen in Aufruhr versetzt; in eine existenzielle Aufruhr, die er mit Handlungen nicht in den Griff bekommen kann. In Bezug darauf eben ist diese Formulierung so stimmig: (Das) Ich kann nichts machen. Erfreulicherweise ist das Ich nicht die einzige psychische Struktur, gibt es eben jenseits des Konstanz-/Lust-/Realitätsprinzips noch eine andere Dynamik.

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Reflexion als menschliche Reaktion auf die paradoxe conditio humana betrachtend, habe ich aus der Aufruhr, in die uns die Dynamik des Thanatos versetzt, folgende Schlussfolgerung für die Art des Reflektierens gezogen, die mit einem guten Leben einhergeht: Wer ein gutes Leben führt, nutzt die geistige Fähigkeit zur Phantasie. Ich denke, das Fiktive ist keine an sich sinnlose und von daher zwar schöne, aber unnötige geistige Spielerei, sondern hat eine zentrale Funktion für den Menschen. Ich sehe das so: Mit dem Fiktionsprinzip geht der Mensch mit der Aufruhr um, in die ihn das Abwesende versetzt. Wir erfinden, weil uns etwas dazu treibt. Der Trieb Thanatos, mit seiner Dynamik der Negativität, liefert uns seit Menschengedenken die Einsicht: Wir wissen nichts; und zugleich die Kraft, schöpferisch mit unserer Phantasie umzugehen. Auf die Beweglichkeit dessen zu reagieren, was wir Sinn nennen, mit dem wir Wirklichkeit und Wahrheit zueinander in ein Verhältnis setzen – das paradoxe Drehmoment –, ist dem Menschen mit der Sprache gegeben. Durchaus denkbar ist für mich auch, dass die Sprache das paradoxe Element erst einführt. Ob so oder anders, ich bezeichne das Sprechen deshalb jedenfalls als Sollbruchstelle im menschlichen Leben. Die Brüchigkeit der Rede nehme ich als beobachtbares Zeichen der paradoxen Getriebenheit des Menschen. Die Kippmomente der Sprache treten in ihren verschiedenen Existenzmodi (dem gesellschaftlichen, dem diskursiven und dem Sprachmodus der Psyche) unterschiedlich auf. Sie erscheinen mir insgesamt so existenziell für die Lebensart des Menschen, dass ich damit verstehen kann, warum sich die Frage nach dem guten Leben nur stellen, nicht aber beantworten lässt. Zugleich habe ich darüber, zusammen mit meiner Beobachtung, dass gute Wissenschaft immer auch etwas mit guter Fiktion zu tun hat, ein spezifisches epistemologisches Verständnis entwickelt. Ausgehend von Lévi-Strauss’ Bricolage-Begriff, beschreibe ich die Methodik, mit der ich meine Forschung vorangetrieben habe, als Bricolage. Darunter verstehe ich eine radikale Reflexion, welche bestrebt ist, die Paradoxie des Seins nicht durch Wissen zu vereinfachen. Es ist eine reflexive Art zu forschen, die sich um Begriffsbildungen bemüht, welche Differenzierungen auf eine solche Weise vornimmt, dass sich die entstehenden Interpretationen beweglich und nicht festlegend einsetzen lassen. Angelehnt an Latours Definition seiner empirischen Philosophie hat die Bricolage das Ziel, Begriffe zu entwickeln, die es Menschen mit divergierenden Auffassungen ermöglicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Eine Bricolage geht immer von einem Zeichen der Wirklichkeit aus, oder wie ich diese wahrnehmbaren Ereignisse alternativ nennen möchte, von objektiven Fundstücken. Denn Anspruch auf Wissenschaftlichkeit kann die bricolierende Methodik aus zwei Gründen erheben: erstens, weil sie von Erfahrbarem ausgeht, d.h. eben Wahrnehmungen der Wirklichkeit zum Anlass für

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die Forschung nimmt. Die sinnliche Verankerung des Ausgangspunktes, d.h. dass jeder andere Mensch prinzipiell auch in die Lage kommen kann, mit seinen Sinnen den Anlass für die Forschung wahrzunehmen, gewährleistet, dass die Forschungsbewegung nachvollziehbar wird. Um die Nachvollziehbarkeit einer Bricolage zu ermöglichen, wird außerdem die Reflexionsbewegung mit ihren gedanklichen Stationen offen gelegt. Als zweite epistemologische Notwendigkeit sehe ich nur noch die Reflexion. Reflektieren betrachte ich als eine per se forschende Bewegung zwischen den Positivitäten und der Negativität. Reflexive Forschung nenne ich die forscherische Grundherangehensweise, wie sie die Bricolage praktiziert. Bei dieser Herangehensweise interessiert sich die Forscherin nicht nur für ihre Epistemologie, sondern dezidiert auch dafür, ein Forschungsethos zu entwickeln. Letzteres besteht wesentlich in dem Bemühen, Begriffe so zu bilden, dass sie der Vielfalt des Seins Rechnung tragen können. Auch deshalb ist das fiktionale Element ein wichtiger Bestandteil dieser Art zu forschen; mit ihm wird u.a. dafür gesorgt, dass das Nicht-Wissen-Können erhalten bleibt. Nicht eine bestimmte Methodik und nicht ein klares Ziel sind entscheidend, stattdessen die Reflexion nicht nur des Inhalts, sondern auch der Methodik und die konstante Verschiebung des Forschungstelos: ›Eine Idee von etwas bekommen‹ ist das angestrebte Ergebnis. Welche Idee also habe ich bekommen von dem paradoxen Drehmoment in der Frage nach einem guten Leben? Die, dass das Gute als Topos auch in Zeiten offensichtlicher Pluralität und Kontingenz wieder relevant gemacht werden kann. Wenn wir das Gute wie die Wahrheit als Abwesenheit betrachten, d.h. als ein Phänomen, das sich nicht in der strukturierenden Qualität der Wirklichkeit zeigt, eröffnet sich, neben der Beschreibung, wie der gut/böse-Code differenziert, d.h. Strukturen schafft, eine zusätzliche und neue Möglichkeit, das Gute vom Bösen wesenhaft zu unterscheiden und zwar hinsichtlich ihrer Dynamik. Das Böse arbeitet mit der Fixierung auf eine bestimmte Differenzierung der Wirklichkeit; das Böse weiß, warum das Andere, in Gestalt konkret von ihm ausgemachter Anderer, böse ist; das Böse schreibt das Böse zu. Seine Dynamik ist die Festlegung. Das Gute hingegen fordert zur Reflexion auf, zu einer reflexiven Bewegung, welche die Paradoxie zwischen Wirklichkeit und Wahrheit lebendig hält; die deshalb nie zu Ende ist. Das Gute liefert die bewegliche Grundlage, um selbst anders zu werden. Seine Dynamik ist unabschließbar und besteht in einer Öffnung des Spielraums, sowohl zu denken als auch zu sein. Ich denke, ein Grund, warum wir als heutige Menschen in Anbetracht unserer brutalen Wirklichkeit so unter Druck geraten, hat damit zu tun, dass wir uns den Zugang zur Dynamik des Guten selbst dadurch verbaut haben, dass wir die

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falschen Schlüsse aus der berechtigten Moralkritik gezogen haben. Ich glaube nicht, dass es heute fiesere Herrschaftsformen und brutalere Arten, diese durchzusetzen, gibt als immer schon. Klar, es gibt heute eine gänzlich andere mediale Verbreitung von Bildern und Informationen darüber. Auch diesbezüglich denke ich allerdings, dass uns die zur Reflexion verleitende Leere fehlt; dass Medienabstinenz tatsächlich eine wichtige Maßnahme ist, um die ansonsten zwangsläufig eintretende Überforderung des psychischen Apparates zu vermeiden, der ja darauf angelegt ist, aufgrund von Wahrnehmungen der Wirklichkeit zu handeln. Tatsächlich denke ich auch, dass sich die psychische Struktur an dieser Stelle ändern wird, dass ›Wahrnehmung‹ für nachfolgende Generationen vermutlich etwas anderes bedeuten wird als für heutige Erdenbürgerinnen. Bezüglich des neu zu schaffenden Zugangs zum Guten, habe ich jedenfalls die Idee bekommen, dass das Gute nicht über sich verfügen lässt; man kann nicht festlegen, was es ist. Um auf- und einzutreten, verlangt es nach einer Bewegung, die zwischen dem, was ist und dem was nicht ist, hin und her pendelt, die einen reflexiven Bezug dazwischen schafft. Wirklichkeit, Wahrheit und Fiktion –, bei dieser Bewegung spielen alle drei eine Rolle. Um dynamisch für das Gute zu wirken, dürfen diese drei Modalitäten nicht ineinander aufgelöst werden. Integration ist überhaupt ein Problem für das Gute. Denn es will im Gegenteil Sorge tragen, dass die Differenzen nicht verschwinden. Integer-Sein bedeutet für das Gute, vom Fiktionalen berührt sein, von der Wirklichkeit und von Wahrhaftigkeit. Das Gute mag nicht festzulegen sein, aber es ist ein fataler Schluss, wenn man deshalb davon ausgeht, dass es nicht existiert. Seine Art ist eine Dynamik, die offen halten will und die an der Leere interessiert ist, die dadurch entsteht; nicht an einer Antwort. Das Gute lässt uns fragen: Was finde ich gut? Und wie kann ich das zum Ausdruck bringen? Taumelt der Mensch? Vielleicht weil er dem Bösen auf den Leim gegangen ist, anstatt dem paradoxen Drehmoment nachzugeben? Dem Kulturwesen Mensch ist seine Kultur jedenfalls scheinbar nicht mehr nur unbehaglich, sie ist zu einer untragbaren Bürde geworden. Die Menschheit macht Dinge, die eine Zumutung für die Seele des einzelnen Menschen sind. Das Triebhafte ist dagegen, wenn man es mit Freuds Triebparadoxie auffasst, unser Garant, dass wir sowohl leben wollen, als auch dass wir gut leben wollen. Es treibt uns zur Lust und zum Anderen, aber auch zur Fiktion und zur Wahrheit. Als direkte Rede bezeichne ich den Versuch, so zu sprechen, dass dies gemeinsam vorkommen kann. Die direkte Rede avisiert eine konkrete, wahrhaftige und fiktive Interpretation. Sie versucht, über etwas zu sprechen, worüber sich schwer sprechen lässt: was es heißt, ein Mensch zu sein.

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Ich möchte die direkte Rede als eine Praxis des guten Lebens bezeichnen, d.h. als etwas, das man beständig üben muss. Sie versucht, wahre Sätze zu finden, welche die daseienden Widersprüche nicht eliminieren. Das gute Leben ist wohl keine Frage des Konsenses. Nicht einmal mit sich selbst: Wahre Sätze finden heißt, eine Andere werden. Weiterziehen wie die Wolken am Himmel. Fragen, nicht um die Antwort dingfest zu machen, sondern um geschmeidig zu bleiben. Sich trainieren, nicht am Bösen zu scheitern. Die Gefahr der Vereinfachung wahrnehmen, ihr nicht nachgeben. Sich nicht mit Identitäten beruhigen, den Puls regelmäßig mit Reflexionen in die Höhe treiben. Die Unmöglichkeit, etwas Relevantes wissen zu können, genießen zu lernen. Die Haut damit weich werden lassen. Das Leben paradox interpretieren.

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Philosophie Andreas Weber

Sein und Teilen Eine Praxis schöpferischer Existenz 2017, 140 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3527-0 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3527-4 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3527-0

Jürgen Manemann, Eike Brock

Philosophie des HipHop Performen, was an der Zeit ist April 2018, 218 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4152-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4152-7

Gerald Posselt, Tatjana Schönwälder-Kuntze, Sergej Seitz (Hg.)

Judith Butlers Philosophie des Politischen Kritische Lektüren Januar 2018, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3846-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3846-6

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Philosophie Franck Fischbach

Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) 2016, 160 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3244-6 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0

Claus Dierksmeier

Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung 2016, 456 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3477-8 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8

Dirk Braunstein

Wahrheit und Katastrophe Texte zu Adorno März 2018, 372 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4269-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4269-2

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