Monster und Freaks: Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert [1. Aufl.] 9783839416075

Im 19. Jahrhundert wurden außergewöhnliche Körper in den Wissenschaften als »Monstrositäten« bezeichnet und in der Popul

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Monster und Freaks: Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert [1. Aufl.]
 9783839416075

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1 Einleitung
1.1 Monster, Monstrositäten und Freaks
1.2 Versuch einer Defi nition
1.3 Kulturelle Praktiken und wissenschaftshistorische Ansätze
1.4 Moderne Monstrositäten: Normalisierungsdiskurse und Geschlecht
1.5 Der Aufbau der Studie
2 Zur Geschichte der Monster und Monstrositäten
2.1 Das Monster im Zirkus und die Monster in den Wissenschaften
2.2 Von der Rationalisierung des Monsters im 19. Jahrhundert: eine Kritik
2.3 Vom Monster als Wunder zu den Monstrositäten als Wissensobjekten
3 Zur Wissenschaftsgeschichte der Monstrositäten
3.1 Wissenschaftliche Diskurse: Physiologien des Körpers im 19. Jahrhundert
3.2 Geschlechterdiskurs: Zur Konvergenz von Geschlecht und Monstrosität
3.3 Die Medizin als Leitwissenschaft der Monstrositäten: Zwei Betrachtungen
3.4 Der medizinische Diskurs über das Pathologische und das Normale
3.5 Canguilhem: Monstrositäten, das Pathologische und das Normale
3.6 Normalisierungspraktiken und die Zweideutigkeit des Anormalen
3.7 Die politische Dimension des Monsters nach Foucault
3.8 Zwischenfazit
4 Das monströse Geschlecht
4.1 Momente des Verstummens: das Monströse und das Ausgeschlossene
4.2 Plaudereien mit Monstrositäten: Rudolf Virchow
4.3 Sara Baartman als die ‚Venus der Hottentotten‘
Exkurs: Heterogene Aussagen und kanonisiertes Wissen
4.4 Der weibliche Körper als Gegenstand medizinisch-ethnologischer Aussagen
4.5 Experiment und Teratologie: Vom Ende der Monstrositäten in der Medizin
5 Schlussbetrachtung
5.1 Freaks, Monster und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert
5.2 Ausblick: Die Geburtsstunde neuer Monster im 20. Jahrhundert
6 Quellen
6.1 Literatur
6.2 Abbildungen

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Birgit Stammberger Monster und Freaks

Birgit Stammberger (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich »Philosophy« am College der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Genderforschung, Diskurstheorie und Körpergeschichte.

Birgit Stammberger

Monster und Freaks Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Julia Pastrana, Fotografie ca. 1860, © Wien Museum Lektorat & Satz: text plus form, Dresden Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1607-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Für Lily und Sofie

Inhalt

Danksagung | 9 1 Einleitung | 11 1.1 Monster, Monstrositäten und Freaks | 11 1.2 Versuch einer Definition | 18 1.3 Kulturelle Praktiken und wissenschaftshistorische Ansätze | 24 1.4 Moderne Monstrositäten: Normalisierungsdiskurse und Geschlecht | 28 1.5 Der Aufbau der Studie | 32

2 Zur Geschichte der Monster und Monstrositäten | 39 2.1 Das Monster im Zirkus und die Monster in den Wissenschaften | 39 2.2 Von der Rationalisierung des Monsters im 19. Jahrhundert: eine Kritik | 52 2.3 Vom Monster als Wunder zu den Monstrositäten als Wissensobjekten | 65

3 Zur Wissenschaftsgeschichte der Monstrositäten | 85 3.1 Wissenschaftliche Diskurse: Physiologien des Körpers im 19. Jahrhundert | 85 3.2 Geschlechterdiskurs: Zur Konvergenz von Geschlecht und Monstrosität | 92 3.3 Die Medizin als Leitwissenschaft der Monstrositäten: Zwei Betrachtungen | 108 3.4 Der medizinische Diskurs über das Pathologische und das Normale | 117 3.5 Canguilhem: Monstrositäten, das Pathologische und das Normale | 127 3.6 Normalisierungspraktiken und die Zweideutigkeit des Anormalen | 154

3.7 Die politische Dimension des Monsters nach Foucault | 178 3.8 Zwischenfazit | 206

4 Das monströse Geschlecht | 209 4.1 Momente des Verstummens: das Monströse und das Ausgeschlossene | 209 4.2 Plaudereien mit Monstrositäten: Rudolf Virchow | 217 4.3 Sara Baartman als die ‚Venus der Hottentotten‘ | 239 Exkurs: Heterogene Aussagen und kanonisiertes Wissen | 270 4.4 Der weibliche Körper als Gegenstand medizinisch-ethnologischer Aussagen | 280 4.5 Experiment und Teratologie: Vom Ende der Monstrositäten in der Medizin | 299

5 Schlussbetrachtung | 309 5.1 Freaks, Monster und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert | 309 5.2 Ausblick: Die Geburtsstunde neuer Monster im 20. Jahrhundert | 311

6 Quellen | 317 6.1 Literatur | 317 6.2 Abbildungen | 341

Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist die leicht geänderte Fassung meiner Dissertation, die im November 2009 an der Universität Vechta am Institut für Philosophie unter dem Titel „Moderne Monstrositäten und Freaks. Normalisierungsdiskurse und Geschlecht im 19. Jahrhundert“ eingereicht wurde. Mein größter Dank gilt meiner Betreuerin und Erstgutachterin Christina Schües, die mich kritisch und wertschätzend begleitete und mir den nötigen Freiraum gewährte, den vorliegenden Text zu schreiben. Außerdem danke ich für ihre Gutachten Markus Dederich und Rudolf Rehn, die mir während der gesamten Zeit der Promotion als Ansprechund Diskussionspartner zur Verfügung standen. Ich hatte das Glück, meine Arbeit an vielen Orten und Institutionen vorstellen und diskutieren zu dürfen. So danke ich Cornelius Borck, Claus-Arthur Scheier, Volker Kirchberg und Christoph Jamme, die mir in Promotionskolloquien die Möglichkeit geboten haben, meine Arbeit, meine Gedanken und Ideen zu präsentieren. Hier habe ich zahlreiche Anregungen erhalten, die vielfach Eingang in den vorliegenden Text gefunden haben. Außerdem danke ich den Studierenden der Leuphana Universität Lüneburg für die zahlreichen Diskussionen im Rahmen meiner Lehrtätigkeit. Steffi Hobuß danke ich sehr herzlich für ihre konstruktive Kritik und ihre stetige Aufforderung, meine Gedanken zu präzisieren. Für die vielen Diskussionen, Kommentare und Fragen, ihre Hilfe und Geduld und dafür, dass sie da waren, danke ich ganz besonders Daniela Döring, Maren und Paul Reichwaldt und Ulrich Lölke sowie allen Freunden, die mich während dieser Zeit begleitet haben. Meine Eltern haben mich unermüdlich darin bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich möchte meinen Vater an dieser Stelle bitten, den Dank für meine Mutter entgegenzunehmen, die den Abschluss dieser Arbeit nicht mehr erleben durfte. Dieses Buch widme ich meinen beiden

10 | DANKSAGUNG

Töchtern Lily und Sofie, die mir durch ihre Lebendigkeit und ihr stetes Nachfragen immer wieder neue Sichtweisen eröffnen. Dieses Projekt hätte ohne ein zweijähriges Stipendium der Kommission für Gleichstellung an der Universität Vechta nicht durchgeführt werden können. Für die professionelle Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskriptes danke ich Steffen Schröter. Dem transcript Verlag danke ich für den reibungslosen Ablauf zur Veröffentlichung.

1

Einleitung

„Die Monster unserer Ängste sind wir selbst. ‚Die Natur‘ scheint Modelle für unser Handeln abzugeben, weil wir die Bedeutungen in die Natur hineinlesen. Wir behaupten ihre Geheimnisse und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, und wir geben ihr die Bedeutung von Gesetzmäßigkeiten, die wir erfunden haben und als natürlich bezeichnen.“1

1.1

M ONSTER , M ONSTROSITÄTEN

UND

FREAKS

Nichts scheint so offensichtlich wie der fehlgebildete Körper. Er ist ein Irrtum, ein natürliches Phänomen. In seiner radikalen Form ist der fehlgebildete Körper eine Monstrosität, ein Fehlschlag der Natur. Monstrositäten bedeuten Leiden, Bedürftigkeit, Schmerzen oder sie sind die natürliche Negation des unversehrten Lebens. Von vormodernen Flugblättern über die Naturalienkabinette des 18. Jahrhunderts, die Freakshows des 19. und 20. Jahrhunderts bis zu gegenwärtigen Talkshows verbindet man mit Monstrositäten menschliches Leid auf der einen und kommerzielles Kalkül auf der anderen Seite.2 Ein solcher Körper scheint voll und ganz Natur zu sein und hat keine Geschichte. Wäre das so, wäre aus kulturphilosophischer Perspektive nichts hinzuzufügen. Vielleicht könnte man von der Anziehungskraft, vom Staunen, dem Schrecken und der Faszination erzählen, die sie auslösen. Dennoch ist der monströse Körper keine geschichtslose Gegebenheit, nicht bloß Natur, sondern er

1

Gilman, Sander: 1997, 7.

2

Vgl. Stulman Dennett, Andrea: 1996.

12 | EINLEITUNG

ist das Resultat kultureller und wissenschaftlicher Praktiken. Monstrositäten gehören zur Kultur. Sie haben eine Geschichte.3 Lange Zeit gehörten Monstrositäten und Monster nicht zu den Gegenständen akademischer Auseinandersetzungen. Allenfalls als fiktionale Figuren oder als Sinnbilder des Hässlich-Grotesken weckten Monster das Interesse literaturwissenschaftlicher oder ästhetischer Untersuchungen. Als Lorraine Daston und Katharine Park 1981 ihre wissenschaftshistorische Arbeit über Wunder und die Ordnung der Natur veröffentlichten, waren Monster noch Gegenstände einer „einsamen Beschäftigung“4. Ihre Studie war nach über fünfzig Jahren die erste Arbeit zu einer Geschichte der Monster. Vielleicht – so Daston und Park – habe Michel Foucault mit seinen Arbeiten über Abweichung und Normalität zu einer Faszination für das Außergewöhnliche und Randständige beigetragen. Eine Geschichte der Monster ist aber kein marginaler Bereich wissenschaftshistorischer Analysen, sondern mit dem Monster können die Ideen, die Ideale, die Rationalitäten und die Objekte der Wissenschaften, kurzum die traditionellen Hierarchien von wichtig und wesentlich grundsätzlich infrage gestellt und die Selbstverständlichkeiten wissenschaftlicher Haltungen problematisiert werden. Dass Monstrositäten für eine Geschichte der Wissenschaften tatsächlich von Interesse sind, zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre.5 Zudem haben aktuelle Debatten im Kontext der poststrukturalistischen Theorien und der Wissenschaftsgeschichte dazu beigetragen, die Erzählmuster traditioneller Geschichtsauffassungen aufzubrechen. Entgegen der Annahme einer linearen, kohärenten Verwissenschaftlichung der Monster seit dem 18. Jahrhundert fragen Daston und Park, wieso bestimmtes Wissen in den akademischen Kontext eingegangen ist, während anderes Wissen ausgeschlossen wurde. An der Schnittstelle von Wissen und Nichtwissen eröffnet eine Analyse der historischen Definitionen von Monstrositäten neue Einsichten über den politischen und sozialen Umgang mit Wissenspraktiken. Es geht um ein Verständnis für die und eine Perspektive auf die Momente der Wissensproduktion, die sich nicht auf der Ebene des disziplinären Wissens abbilden lassen.

3

Vgl. Hagner, Michael: 2005a.

4

Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 8.

5

Vgl. Hagner, Michael: 2005; Sarasin, Philipp: 2001; Schmidt, Gunnar: 2001; Foucault, Michel: 2003; Zürcher, Urs: 2004; Dornhof, Dorothea: 2005; Dederich, Markus: 2007; Schumacher, Florian: 2008.

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UND

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Monster haben von jeher Neugier, Staunen und Faszination ausgelöst. Die emotionale und kognitive Beschäftigung mit den Monstern war jedoch nicht zu allen Zeiten gleich. Mit dieser Einsicht haben Daston und Park die je spezifischen wissenschaftlichen und kulturellen Einstellungen zu den Monstern seit der Neuzeit bis zum 18. Jahrhundert historisch gefasst. Warum und wieso wurden bestimmte Gegenstände und Menschen als etwas Wunderbares oder Monströses bestaunt ? Welche wissenschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge erschließen sich über eine Geschichte der Monster und Monstrositäten ? Mit ihrer Geschichte der Monster und der Ordnung der Natur haben Daston und Park die klassische Unterscheidung zwischen objektiver Wissenschaftsforschung und subjektiver Alltagserfahrung kritisch hinterfragt und gezeigt, dass die Wissenschaften immer mit zwei Aspekten der Erkenntnis verwoben sind, nämlich der objektiven Erkenntnis und der subjektiven Empfindung. Sie sind die „Vorder- und Kehrseite ein und derselben Medaille“. Die subjektiven Empfindungen gehören seit der Aufklärung zu den „persönlichen Gefühlserfahrungen“6. Dem Staunen hafte, so Daston und Park, ein Beigeschmack des Populären, des Amateurhaften und des Kindischen an, denn das Staunen sei seit der Aufklärung „für eine in ihren Alltagsgeschäften befangene Wissenschaft zur Untugend geworden“7. Als Gegenstand wissenschaftlichen und kulturellen Wissens steht das Monster immer in einer spannungsreichen Beziehung zur Ordnung des Wissens und zu subjektiven Empfindungsweisen. Die Affekte und Herausforderungen, die Monster provozieren, verweisen auf das historische Gewordensein der Ordnung der Dinge. Im 18. Jahrhundert hat Voltaire im Dictionnaire philosophique unter dem Stichwort ‚Monstren‘ eine Jahrmarktsausstellung beschrieben. Dort wurde eine Frau mit vier Brüsten gezeigt. Es sei, schrieb Voltaire, unschwer zu erkennen gewesen, dass sie ein Monstrum war, „wenn sie ihren Busen anschauen ließ, wenn sie dies jedoch nicht tat, war sie ein ganz erfreulicher Anblick“8. Die Normverletzung des Monsters ist also nicht auf die Natur zu beziehen, stattdessen resultiert sie aus der Verletzung kultureller und sozialer Normen der Betrachter. Die ästhetischen und affektiven Empfindungsweisen werden auf visueller Ebene ausgehandelt.

6

Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 14 f.

7

Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 15.

8

Voltaire, zitiert nach Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 251.

14 | EINLEITUNG

Das Staunen ist somit eine relative Erfahrung kultureller Normalität und niemals nur auf die morphologische Differenz bezogen.9 Seit dem 17. Jahrhundert vermehrten sich die Berichte über seltsame Wesen, Wundergeburten und exotische Kreaturen.10 Besonders durch die kolonialen Erschließungen des Fremden und den Anstieg der Veröffentlichungen von Reiseberichten über unbekannte Regionen verlagerten sich seit der Neuzeit die Orte der Monster von den Rändern der Welt ins Innere der bürgerlichen Gesellschaft.11 Ursprünglich religiöse Vorzeichen

9

Vgl. Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 251. An dieser Stelle wird ein weiteres Beispiel der Relativität des Grauens gegeben; die Autorinnen beziehen sich hier auf Schikaneders Libretto aus Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem Jahr 1791 und fassen zusammen: „Der erste Neger war jedoch in den Augen weißer Frauen ein Monstrum, und die erste unserer Schönheiten war für Neger ein Monstrum“ (ebd., 251). Die Relativität des Grauens ist auch in Carson McCullers’ Roman Frankie ein tragendes Motiv der Erzählung und eine Quelle der stetigen Verunsicherung der Identität der Protagonistin. In der Begegnung zwischen der Romanfigur und den außergewöhnlichen Freaks bricht McCullers die Relativität des Grauens bis in die alltäglichen Erfahrungen der Protagonistin herunter (vgl. McCullers, Carson: 1974). Bereits Leslie Fiedler hat in der von ihm verfassten Geschichte der Freaks von den „Myths and Images of the Secret Self“ gesprochen (vgl. Fiedler, Leslie: 1978). Fiedler hatte mit seiner Studie eine Pionierarbeit zu einer Geschichte der Freaks vorgelegt. Obwohl er die Definitionen von Freaks mit verborgenen Strukturen persönlicher Erfahrungen moderner Subjekte relativiert, werden die Kategorisierungen von Freaks nicht kritisch hinterfragt. Robert Bogdan hatte dann die Konstruktionsweisen der Bedeutungen von Freaks betont und gezeigt, dass diese immer als soziale und kulturelle Konstrukte zu betrachten und damit historisch kontingent sind (vgl. Bogdan, Robert: 1988, 1996). Die Frage der Instabilität von Bedeutungen wurde schließlich von Adams wieder aufgenommen und die Perspektive der sozialen Konstruktion von Bedeutungen mit Ansätzen der poststrukturalistischen Theorie erweitert (vgl. Adams, Rachel: 2001).

10

Vgl. Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 208.

11

Vgl. Schumacher, Florian: 2008, 33–84. In seiner Studie verfolgt Schumacher die Verschiebungen der Bedeutungsfelder von Monstern von den Rändern der Welt in die Mitte der Gesellschaft. Aus einer kulturhistorischen Perspektive erörtert er die unterschiedlichen historischen Konzepte des Monsters, die immer auch eine gesellschaftliche Funktion haben. Seit der

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göttlicher oder teuflischer Mächte, veränderte sich vom 16. Jahrhundert an die Bedeutung der Monster vom Zeichen als Wunder zum Zeichen für die Vielfalt der Natur. Seit dieser Zeit wurden Monster zu Monstrositäten und zu Gegenständen wissenschaftlicher Interessen.12 Von den religiösen Bedeutungen bis zu einem Denken der Vielfalt der Natur wurde mit moralischen Konnotationen des Monsterbegriffes vor allem auch politische und religiöse Macht ausgeübt. Als Objekte des Wissens erhielten Monstrositäten eine wissenschaftliche Faktizität und wurden damit vom Monster mit seinen moralischen Konnotationen unterschieden. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde nicht mehr die Seltenheit oder Einzigartigkeit von Monstern besprochen, sondern an den wissenschaftlichen Objekten, den Monstrositäten, zeigten sich die Un-Regelmäßigkeiten und Regularitäten der Natur. Der Blick auf das Monster verschob sich von einer öffentlichen Lust am Schauen zu einem wissenschaftlichen Interesse an der Klassifikation, Sammlung und Aufzeichnung. Monstrositäten waren nun Teil einer natürlichen Ordnung. Diese Ordnung ist nicht universell oder statisch, sondern das Resultat einer kontingenten An-Ordnung der Zeichen in einer Kultur, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Damit sind die Definitionen von Monstrositäten an historische Zeit-Räume des Wissens gebunden. Während das Monster mit seinen mythischen Konnotationen einer bestimmten Tradition der Interpretations- und Wissenskulturen entstammt, hat der wissenschaftliche Umgang seit der Aufklärung zu einer Aufkündigung dieser Traditionen geführt. Mit der Entstehung der modernen Humanwissenschaften wurden Monstrositäten zu Objekten des Wissens, an denen man die natürlichen Entwicklungen und normalen Prozesse des menschlichen Lebens erforschen konnte. Aus den Monstern als Wunder, dann als Zeichen der Vielfalt der Natur, wurden im 19. Jahrhundert Monstrositäten, die nun als Irrtum entwicklungsgeschichtlicher Prozesse des Lebens galten.

Aufklärung – so die These Schumachers – stellen Monster die Gegenposition des aufgeklärten und vernünftigen Menschen dar. Seine Arbeit nimmt mit dem Monster und dem künstlichen Menschen letztlich ein Projekt der Aufklärung in den Blick, das sowohl eine bestimmte Auffassung von Natur als auch die Herstellung von Natur beinhaltet. 12

Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 208.

16 | EINLEITUNG

In dieser Zeit vollzog sich ein Bruch in der Repräsentation anthropologischer Objekte, wie Anke te Heesen und Petra Lutz betonen.13 Wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein die Welt im Ganzen abgebildet und wurden anthropologische Objekte in taxonomischen Klassifikationssystemen14 zur Sprache gebracht, begann im 19. Jahrhundert ein Prozess der Umkehrung. Einzelne Körperfragmente waren Ausgangspunkte für wissenschaftliche Aussagesysteme über Persönlichkeit, Ethnie oder Geschlecht. Dieser Prozess der Umkehrung konfigurierte Monstrositäten in einem Verhältnis zwischen Materialität und wissenschaftlichen Aussagen. Man schaute nicht mehr auf das Monster jenseits der Ordnung der Dinge, sondern hinter den Anomalien und Unregelmäßigkeiten erschien nun das Monster der Kultur, des Geschlechts oder des Wissens. Die monströsen Objekte als verstummte, festgestellte oder tote Einzeldinge wurden zu Indizien für das Leben, die Kultur oder das Humane.15 Dieser Umbruch vom taxonomischen Verfahren hin zum Prozess der gegenseitigen Legitimation wissenschaftlicher und sozialer Vorstellungen des

13

Heesen, Anke te/Lutz, Petra: 2005, 13. Die Autorinnen widmen sich in ihrer Arbeit der sogenannten „Dingkonjunktur“ und fragen nach den historischen Veränderungen epistemischer und musealer Dinge. Sie betonen hier, dass die Materialität und die Aussagen auf ganz neue Weise verknüpft werden, weil das Materiale zum Bedeutungsträger wird, „der etwas über den Menschen und das Wissen aussagt und beide zugleich formt“ (Heesen, Anke te/Lutz, Petra: 2005, 14).

14

Der Begriff der Taxonomie bezeichnet eine wissenschaftliche Tätigkeit der Klassifikation, die darauf beruht, allgemeine Merkmale am Konkreten auszuwählen. Die Taxonomie dient der Einordnung von Merkmalen und der Aufstellung bestimmter Gruppen oder Klassen, wie bspw. in der Biologie oder Medizin. Die Klassifikation des Lebendigen beruht nicht nur auf der Aufstellung von Klassen, sondern impliziert immer hierarchische Ordnungen anhand morphologischer Kriterien. Zum Begriff der Taxonomie vgl. Jensen, Uffe Juul: 1990, Bd. 4, 911 ff.; Wolters, Gereon: 1996, 214.

15

Vgl. Hagner, Michael: 2005c, 175. Michael Hagner betont, dass anthropologische Objekte – wie das Gehirn oder der Schädel – auf ganz anschauliche Weise zeigen, wie die am Körper festgemachten Interpretationen immer in einer engen Verschränkung mit theoretischen Konzepten der Physiologie oder Anthropologie stehen. Hagner geht es darum, die kulturellen Prozesse zu beleuchten, die aus dem anthropologischen Objekt erst eine wissenschaftliche Tatsache formen.

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UND

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Anderen vollzog sich sowohl in wissenschaftlichen als auch in öffentlichen Räumen des 19. Jahrhunderts. Monströse Objekte unterlagen einer doppelten Bewegung: Zum einen wurde durch die wissenschaftlichen Prozesse der allmählichen Partialisierung und Fragmentierung des Körpers die Bedeutung des Monsters als extreme, einzigartige Abweichung aufgekündigt, zum anderen wurden die monströsen Einzeldinge in wissenschaftlichen und kulturellen Aussagesystemen in ihrer einzigartigen Materialität hergestellt. Die Darstellungs- und Repräsentationsstrategien von medizinischen Bildern des Monströsen wurden zu einem konstitutiven Bestandteil kultureller Vorstellungen des Anderen. Während das Monster als Monstrosität in wissenschaftlichen Formationen repräsentiert und damit der Öffentlichkeit entzogen wurde, übernahmen die Freakshows die Ausstellungen des Fremden und Exotischen im öffentlichen Raum. Freaks verkörperten Seltenheit, Wildheit, Atavismus und Attraktion. Zwar wurden bereits seit der frühen Neuzeit Menschen mit seltenen Fehlbildungen ausgestellt, wovon zahlreiche Darstellungen und später auch Drucke zeugen, aber erst im 19. Jahrhundert entstand daraus eine profitorientierte Massenunterhaltung. Freaks und Monstrositäten unterlagen jedoch gleichermaßen den neuen technischen Möglichkeiten der medialen Repräsentation und den wissenschaftlichen Aussagesystemen. In nahezu allen europäischen und nordamerikanischen Zentren fand in den Freakshows und Kolonialausstellungen eine industrielle Vermarktung des Fremden und Anderen statt. Das 19. Jahrhundert hat die Zeit der Ausstellungen von Monstrositäten zu einem kurzen Höhepunkt gebracht. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, als die Erfahrung der eigenen Verstümmelung und Zerbrechlichkeit den Alltag der Menschen bestimmte, fanden die Freakshows ihr allmähliches Ende.16 Als Gegenstand volkskundlicher Forschungen wurden die Freakshows als ein zeithistorisches Phänomen thematisiert und somit zu Ausnahmeerscheinungen historischer und gesellschaftlicher Prozesse erklärt. Wenn hier Freaks als gegebene und natürliche Körper mit extre-

16

Urs Zürcher betont, dass der Erste Weltkrieg Missbildungen „real und alltäglich“ gemacht hat. Dieser radikale Funktionswandel ist als ein historischer Einschnitt zu betrachten: „Missbildungen hatten sich in Subjekte verwandelt“ (Zürcher, Urs: 2004, 275 f.). Auch Anke Tervooren spricht von einer Zäsur und betont, dass sich durch den Ersten Weltkrieg die „Repräsentationsweisen von Behinderung […] grundlegend“ veränderten (Tervooren, Anke: 2002, 180).

18 | EINLEITUNG

men Abweichungen betrachtet wurden, so reduzieren diese Ansätze die spektakulären Inszenierungen des Anderen auf eine Geschichte, die nur moralisch davon erzählt, wie diese Körper ausgestellt wurden. Eine solche Perspektive verortet den Körper jenseits von Geschichte. Das historische Gewordensein solcher durchaus fragwürdigen Kategorisierungen kann dann nicht mehr in den Blick genommen werden. Freaks wurden nicht einfach ausgestellt, sondern mit und an ihnen wurden Seltenheit, extreme Abweichung und kulturelle Fremdheit in einem Netz mythischer Erzählungen und biologisierender Normalität wissenschaftlich und kulturell konstruiert. Indem Freaks als Metapher des Anderen funktionalisiert wurden, führten sie den Zuschauern ihre eigene Normalität vor.

1.2

VERSUCH

EINER

D EFINITION

Freaks und Monstrositäten sind weder das Pathologische, das Hässliche oder das Fremde noch leiten sich die Begriffe aus den dem Normalen, Gesunden oder Schönen entgegengesetzten Bereichen ab. Als historische Repräsentationsformen des Körpers könnten Monstrositäten oder Freaks in einem Zusammenhang mit körperlicher Behinderung, physischer Fehlbildung oder extremer Abweichung stehen. Diese Attribute sind aber deshalb problematisch, weil damit noch keine Aussage darüber getroffen ist, wie aus Anomalien, Fehlbildungen und Abweichungen Monstrositäten oder Freaks werden. Behinderung kann genauso wenig wie der Körper selbst als eine aus den historischen und sozialen Kontexten herausgelöste natürliche Gegebenheit betrachtet werden.17 Die Definitionen von Freaks und Monstrositäten bewegen sich nicht einheitlich auf der Ebene rein körperlicher Differenzen oder kognitiver Devianzen. Schon der Versuch einer einheitlichen Definition muss – will er sich allein in der Bestimmung morphologischer Unterschiede entfalten – scheitern. Elizabeth Grosz schreibt: „The term freaks does not simply refer to disabilities of either a genetic, developmental, or contingent kind. Indeed, some classified as freaks (such as the bearded lady or the human skeleton) are not necessarily physically incapacitated at all, although, of course, many are. All suffer a certain social marginalization.“18

17

Vgl. Butler, Judith: 1991.

18

Grozs, Elizabeth: 1996, 56.

V ERSUCH

EINER

DEFINITION

| 19

Grozs betont im Kern des Begriffes die soziale Konstruiertheit. Die Bedeutungen von Freaks sind nicht notwendig auf physische Merkmale bezogen. Vielmehr ist der Körper Resultat und Ort gesellschaftlicher Prozesse sozialer Ausschließung oder Marginalisierung. Um danach zu fragen, wie aus Menschen Freaks werden, geht es also nicht ausschließlich um Fragen nach dem Körper, sondern um die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen, die an diesen Körpern festgemacht werden. Die Bedeutungen und Definitionen von Freaks können somit nicht im Vorhinein festgelegt werden. Es gibt eine Unterscheidung von freaks of nature und freaks of culture.19 Mit dieser Dichotomie wird zwischen Freaks in einem biologischen Sinne angeborener Fehlbildungen, die einfach ausgestellt werden, und einem durch kulturelle Praktiken erzeugten und konstituierten Bereich unterschieden. Die Bedeutung von Freaks wird damit in einen geschichtslos-biologischen und einen geschichtlich-kulturellen Bereich gespalten und nur partiell werden die Konstruktionsweisen des „Gemacht-Werdens“ thematisiert. Aber diese einfache Aufteilung zwischen Kultur und Biologie lässt sich nicht aufrechterhalten. Freaks erlangen als Antithese kultureller Normalität ihre Bedeutung. Wenn Freakshows einfach nur als eine – durch kommerzielle Interessen bestimmte – inhumane Praxis des Umgangs mit behinderten Menschen aufgefasst werden, so ist dies nur ein Teil einer kritischen Position. Die Kritik wird damit auf Aspekte des Umgangs mit dem behinderten Körper verkürzt und die diskursive Produktion von Behinderung für kulturelle Vorstellungen von Normalität und Anormalität historisch nicht in den Blick genommen. In den Disability Studies wird eine kritische Perspektive auf die biologisch fundierten Zuschreibungen an den Körper eingenommen.20 Bis heute

19

Vgl. Bogdan, Robert: 1988, 6 f.; Garland-Thomson schreibt: „Thus, what we assume to be a freak of nature, was instead a freak of culture“ (GarlandThomson, Rosemarie: 1996a, 10).

20

Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 1997, 55–80, Tervooren, Anke: 2002. Tervooren hat gezeigt, dass Kategorisierungen von Behinderung immer als historische, zeitgebundene und soziokulturelle Konzepte verstanden werden müssten und dass diese Einsicht weitreichende theoretische Implikationen für Vorstellungen von Behinderung nach sich ziehe (ebd., 181). Dafür greift sie die in den Kulturwissenschaften zentrale Thematik des Körper auf und betont, dass „jede Definition des Körper ein Produkt ihres historischen Kontextes ist“ (ebd., 173). Am Beispiel von Freakshows untersucht sie die

20 | EINLEITUNG

ist Behinderung das Modell medizinischer Bestimmungen, die jedoch nicht unabhängig von sozialen und kulturellen Kontexten betrachtet werden können. Behinderung wird „als eine Art und Weise betrachtet, über den Körper zu denken, und nicht als etwas, das mit Körpern nicht stimmt“21. Gibt es körperliche Merkmale des Monströsen oder des Freaks, die als solche bereits „Träger von so etwas wie einer Krankheit oder Gebrechlichkeit“22 wären ? Es ist nicht zu bestreiten, dass in Freakshows Menschen ausgestellt, ausgebeutet und ausgenutzt wurden, doch bevor der monströse Körper als solcher erscheint, hat er bereits in einem historisch-spezifischen Kontext seine Bedeutungen erhalten. Dieser scheinbar faktische Körper muss als Ergebnis von Repräsentationsstrategien analysiert werden, in denen sich die spektakulären und medialen Inszenierungen immer auf eine biologische Faktizität des Körpers bezogen und diesen als solchen erst hervorgebracht haben.23 Freakshows sind

einschneidenden Veränderungen historischer Repräsentationsformen des außergewöhnlichen Körpers und plädiert dafür, die Thematik des verletzlichen Körpers in eine Perspektive auf Körperdiskurse miteinzubeziehen. 21

Garland-Thomson, Rosemarie: 2003, 420. Mit dieser Perspektive etablieren sich die Disability Studies seit einigen Jahren auch in Deutschland als ein interdisziplinärer Forschungsansatz, der auch die Kulturwissenschaften und die Kulturgeschichte einschließt.

22

Vgl. Foucault, Michel: 2003, 175.

23

Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 1997, 58. Garland-Thomson zeigt, dass sich mit einer historischen Analyse der konstitutiven Differenz zwischen dem Betrachter und dem „marvellous body“ der Freakshows auch theoretische Konsequenzen für die Disability Studies ergeben. Es ist gerade der traurige Erfolg der Freakshows, diese Differenz zu negieren und scheinbar nur den Körper als solchen auszustellen. Damit werden aber die Bedeutungen von Behinderung auf ‚reine‘ Körperlichkeit mit biologischen Argumenten reduziert; diese Reduktion ist eben nicht nur eine Funktionsweise von Freakshows, sondern betrifft kulturelle Vorstellungen im Allgemeinen. Freaks stellen eben nicht einfach nur eine bestimmte leidvolle Lebensform dar, sondern sie sind in ihren Bedeutungen das Produkt der Wahrnehmung und das Resultat kultureller Praktiken der Normalisierung. Eine historische Analyse der Freakshows dient demnach nicht einfach neuen Perspektiven, um zu zeigen, was mit dem Körper gemacht wurde, sondern sie dient Einsichten über Körperpraktiken, die in aktuellen Theorien aufgegriffen werden können (vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 2003, 421 f.). Auch Dederich

V ERSUCH

EINER

DEFINITION

| 21

Strategien der Repräsentation, die den monströsen Körper substanzialisiert, naturalisiert und biologisiert haben. Auch der monströse Körper als Objekt des Wissens beruht auf einer kulturellen Konstruktion und kann nicht auf eine Fehlbildung des Körpers reduziert werden. Das heißt, nicht der monströse Körper gibt die Definitionen vor, die das Objekt zum Gegenstand von Wissenschaft oder Kultur machen, sondern an ihm vollziehen sich Weisen des wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Zugriffs. Die Aufzeichnung, das Vermessen, das Vergleichen und die statistische Berechnung – später werden diese Verfahren um Prognosen erweitert – dominieren die humanwissenschaftlichen Praktiken des 19. Jahrhunderts. Mythische Aufladung, Irrationalität und die Projektion von Ängsten bestimmen den Zugriff auf den Körper, der sich in den medialen Inszenierungen vollzieht. Diese Praktiken sind jedoch nicht einfach voneinander zu trennen, so, als ob dann etwas wissenschaftlich als monströs oder populär als Freak bezeichnet würde. Die Monstrosität und der Freak verweisen und warnen. Im 19. Jahrhundert sind Monstrositäten und Freaks Indiz für eine Norm in ihrem „größtmöglichen Fehlzustand“24. Etymologisch stammt der Begriff Monster vom lateinischen monstrare = zeigen und von monere = mahnen, warnen ab.25 Das Monster ist ein Mahnzeichen. Es zeigt, verwarnt, mahnt. Die Monstrosität leitet sich von dem lateinischen Begriff monstruosus ab und bedeutet scheußlich, widernatürlich. Im Begriff des Monsters vermischen sich fiktive und fantastische Elemente mit tatsächlicher Fehlbildung. Monstrositäten hingegen sind reale Fehl- oder Missbildungen. Das Monster ist ein mythologischer Begriff, eine Fiktion und etwas Hybrides. Die Monstrosität fungiert als Gegenstand wissenschaftlicher Praktiken und wird in ein Denken natürlicher Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen integriert. Monstrositäten sind demnach ein integraler Bestandteil der Wissenschaften. Das Monster indessen ist ein Zeichen und Teil imaginärer und fiktionaler Prozesse. Der Begriff Freak wurde im Englischen erstmals im Jahr 1637 gebraucht. In John Miltons Gedicht Lycidas wurde der Begriff gleichbedeu-

erörtert im Umfeld der Disability Studies den Freakdiskurs der Moderne (vgl. Dederich, Markus: 2007, 100 ff.). 24

Zürcher, Urs: 2004, 10.

25

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen: 1989, 1123. Vgl. auch die Ausführungen von Zürcher, Urs: 2004, 10 ff.

22 | EINLEITUNG

tend mit „Fleck“ oder „trüber Farbe“ verwendet.26 Im 19. Jahrhundert wurden Freaks als „Laune der Natur“ bezeichnet und somit zum Synonym für eine körperliche oder andere extreme Anomalie im Zusammenhang mit medialen Zurschaustellungen.27 Die kulturellen Repräsentationspraktiken der Freakshows knüpften zwar an die traditionellen Ausstellungen von Monstern an, sie unterschieden sich jedoch in der Organisation und Darstellung. Während die Monsterschauen noch ein Gemenge aus religiösen und wissenschaftlichen Wissensformationen darstellten, wurde die Trennung zwischen Wissenschaft und Kultur, zwischen Politik und Biologie des 19. Jahrhunderts konstitutiv für die Materialisierungs- und Naturalisierungspraktiken der Freakshows.28 In den Repräsentationsformen der Freakshows verbinden sich auf neuartige Weise wissenschaftliche und populäre Diskurse des Anderen. In dieser Konstellation kommt es im 19. Jahrhundert zu einem historischen Bruch mit den traditionellen Formen der Ausstellung von Monstern. Im Zusammenhang mit der Trennung von populären und wissenschaftlichen Diskursen basieren Freakshows

26

Vgl. The English Oxford Dictionary: 1970; vgl. hierzu auch die Ausführungen von Garland-Thomson, Rosemarie: 1996a, 4.

27

Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 1996a, 4. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Freaks zu selbst ernannten Aussteigern, die sich mit dem Gestus der gefeierten Abweichungen gegen die Normvorstellungen der bürgerlichen Kultur richteten. Die Bedeutungen von Freaks werden somit von einer Offensichtlichkeit des Körpers in den Bereich des Psychischen verschoben. Diese Veränderungen können jedoch hier nicht weiter beachtet werden, da sie den historischen Rahmen der Studie sprengen und an der Fragestellung, wie das Monströse als anthropologisches Objekt entworfen wird, vorbeigehen würden. Die Studie fokussiert ausschließlich auf die Praktiken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Transformationen der historisch und kulturell unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs Freak sind nicht Gegenstand dieser Studie (für Arbeiten über die Bedeutungen von Freaks vgl. Fiedler, Leslie: 1978; Bogdan, Robert: 1988; Adams, Rachel: 2001).

28

Tervooren zeigt, wie in dem Film Freaks (1932) von Tod Browning die Inszenierungsstrategien der Freaks (im Gegensatz zu denen der anderen Schauspieler) unthematisiert bleiben. Wie auch auf der Bühne werden sie – wie Tervooren unterstreicht – „so dargestellt, als spielten sie stets nur sich selbst, eine Präsentationsform, die ich Naturalisierung nennen möchte“ (Tervooren, Anke: 2002, 179; Hervorh. im Orig.). Zur Rezeptionsgeschichte des Films vgl. Stevenson, Jack: 1997.

V ERSUCH

EINER

DEFINITION

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auf einer Politisierung des biologischen Körpers: Diese Transformation bezeichnet Garland-Thomson als einen „Freak-Diskurs der Moderne“29. In welchen Zusammenhängen stehen die wissenschaftlichen Formationen, in denen etwas Monströses zur Sprache gebracht wird, mit den medialen Formationen der Freakshows ? Welche Bedeutungen werden hier erzeugt, was wird festgeschrieben und welche Objekte dienen der Stabilisierung gesellschaftlicher Vorstellungen von Normalität ? Wie lassen sich die begrifflichen Annäherungen überhaupt sinnvoll zusammenbringen, wenn hier von der These ausgegangen wird, dass am Freak und an den Monstrositäten wissenschaftliche und kulturelle Praktiken ineinandergreifen ? In dieser Studie geht es darum, die Funktionsweisen des Wissens in einem historisch konkreten Rahmen zu untersuchen und die Orte aufzuspüren, an denen der monströse Körper in einem System des Denkens, der kulturellen Repräsentation und der wissenschaftlichen Handlungsräume hervorgebracht wird.30 Der Körper ist keine situationsunabhängige Entität und tritt nicht vor den sprachlichen Verhandlungen auf. Wissenschaftliche Erkenntnisse über den Körper sind immer an eine Geschichte des Wissens gebunden, sie fördern nicht einfach ein Wissen über den Körper zutage. Auch wenn die Geschichtlichkeit des Körpers nicht radikal genug gedacht werden kann – wie Sarasin und Tanner betonen –, heißt das nicht, dass die Existenz fehlgebildeter Körper bestritten werden soll und es keine Ansätze gibt, mit denen die Materialität des Körpers gefasst werden könnte.31 Hinter all den Geschichten, den wissenschaftlichen Bestimmungen und populären Inszenierungen stehen Menschen, die auf eine bestimmte Weise von der Verletzbarkeit des Lebens erzählen. Allerdings darf dies nicht dazu führen, dass die Erfahrungen des Körpers aus der Kulturgeschichte ausgeklammert und als natürliche Gegebenheiten betrachtet werden, die außerhalb diskursiver Praktiken stehen, denn letztlich wird damit in einer Dichotomie zwischen Natur und Kultur das als gegeben angenommen, „was eigentlich erst erklärt werden soll“32.

29

Garland-Thomson, Rosemarie: 1996a, 2.

30

Vgl. Sarasin, Philip/Tanner, Jakob: 1998a, 18.

31

Vgl. Sarasin, Philip/Tanner, Jakob: 1998a, 23.

32

Yanagisako, Silvia Junko: 1998, 38.

24 | EINLEITUNG

1.3

KULTURELLE P RAKTIKEN

UND

WISSENSCHAFTSHISTORISCHE

A NSÄTZE

Lange Zeit wurden Monstrositäten von zwei unterschiedlichen Disziplinen aus betrachtet: der Medizin und der Volkskunde. Die medizinhistorischen Studien haben sich den Prozessen der Entmystifizierung und Versachlichung angeborener Fehlbildungen angenommen. Diese Arbeiten waren geprägt von der Auffassung eines zunehmend wissenschaftlich-rationalen Umgangs mit dem Körper.33 Als Gegenstand der Medizingeschichte waren Monstrositäten vor allem deswegen von Interesse, weil sich in diesen die Prozesse der Rationalisierung des Wissens und der Naturalisierung des Körpers abzeichneten. Volkskundliche Untersuchungen hingegen widmeten sich den populären Darstellungen und Ausstellungspraktiken außerhalb akademischer Räume. Hier wurden der kulturelle Umgang mit dem andersartigen Körper sowie die mythischen Aufladungen populärer, affektiver und geschmackloser Präsentationen thematisiert.34 Mit dieser disziplinären Trennung wird die Geschichte der Monstrositäten allerdings auf der einen Seite (Medizingeschichte) auf die Thematik der wissenschaftlichen und disziplinären Erkenntnisprozesse, auf der anderen Seite (Volkskunde) auf die kulturellen Praktiken der Ausstellungen verengt. Dass die Geschichte der Monstrositäten in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorstellungen und wissenschaftlichen Praktiken bisher nur ansatzweise thematisiert wurde, hat Michael Hagner betont. Das liegt zum einen daran, dass sich die historischen Studien hauptsächlich auf die physiologisch-anthropologischen Wissenschaften stützen, in denen die fiktionalen und fantastischen Konnotationen von Monstern allmählich zugunsten einer realistischen, objektiven und neutralen Darstellung und Ursachenforschung des fehlgebildeten Körpers aufgekündigt wurden.35 Das thematische Interesse an Monstrositäten wird damit auf die Prozesse der Verwissenschaftlichung verengt und diese Ansätze ziehen sich auf

33

Schumacher, Gert-Horst: 1996; Nippert, Irmgard: 1987; Hintzsche, Erich: 1972; als sehr frühe Auseinandersetzung mit dem Thema vgl. Holländer, Eugen: 1921.

34

Vgl. Scheugl, Hans: 1978; Lehmann, Alfred: 1952, Saltarino, Signor: 1895, 1900.

35

Vgl. Nippert, Irmgard: 1987; Schumacher, Gert-Horst: 1996; Enke, Ulrike: 2000.

K ULTURELLE PRAKTIKEN

UND WISSENSCHAFTSHISTORISCHE

ANSÄTZE

| 25

eine geradlinige Fortschrittshypothese zurück. Ausgangspunkt des von Hagner zu einer Geschichte der Monstrositäten herausgegebenen Sammelbandes Der falsche Körper war es, die scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu unterlaufen und zu zeigen, „daß die Frontlinien etwas anders verlaufen, als es eine stromlinienförmige Fortschrittshypothese annimmt.“36 Die kulturwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre hingegen haben sich vorwiegend den populärwissenschaftlichen Repräsentationspraktiken der Freakshows seit Ende des 19. Jahrhunderts gewidmet. Dabei wurde herausgestellt, dass der außergewöhnliche Körper im Zusammenhang mit medialen Inszenierungen eine zentrale Funktion für die in der Moderne entscheidenden narrativen Arrangements des Eigenen und des Anderen an der Schnittstelle individueller Selbstverhältnisse sowie allgemeiner gesellschaftlicher und kultureller Vorstellungen erhielt. Weit davon entfernt, die Freakshows als einen ‚Unfall der Geschichte‘ menschenverachtender Ausstellungspraktiken zu sehen, haben diese Untersuchungen den symbolischen und politischen Gehalt von medialen Repräsentationen in ihrer regulierenden Funktion für die Selbst-Normalisierung moderner Subjekte herausgestellt. Die medialen Inszenierungen wurden hier als ein Spektakel der Normalisierung, als eine historisch-spezifische „Aufbereitung der Normalität“ und Produktion von Normalität analysiert.37 Die neueren Arbeiten im deutschsprachigen Raum knüpfen zum Teil an die in den USA veröffentlichten Studien zu den Freakshows an.38 Seit den 1970er Jahren begann im US-amerikanischen Raum eine Debatte über die spezifischen Modalitäten der Repräsentation von Freaks und Monstrositäten in einem größeren kulturellen Zusammenhang.39 Freakshows sind nicht einfach historische Repräsentationsformen des außergewöhnlichen Körpers, sondern sie sind untrennbar mit einer Politik des Sehens verbunden, mit denen den Kategorien des Außergewöhnlichen oder Extremen Sichtbarkeit verliehen wurde.40 Diese Einsicht

36

Hagner, Michael: 2005a, 10.

37

Vgl. Bartz, Christina/Krause, Marcus: 2007, 19.

38

Vgl. Wolter, Stefanie: 2004; Sarasin, Philipp: 1998; Regener, Susanne: 2001; Lange, Britta: 2006; Macho, Thomas: 2005.

39

Vgl. Fiedler, Leslie: 1978; Bogdan, Robert: 1988.

40

Vgl. Dederich, Markus: 2007, 97. Dederich betont an dieser Stelle mit Rekurs auf wissenschaftshistorische Arbeiten die gleichzeitige Herausbildung einer „technikgestützten Ikonographie“ in der Medizin und argumentiert, dass

26 | EINLEITUNG

erlaubt es, den symbolischen Gehalt von Freakshows in Literatur, Film und Kunst41 sowie den politischen Kontext im Zusammenhang mit kulturellen Vorstellungen von Normalität nachzuzeichnen.42 Seit den 1990er Jahren kann mit poststrukturalistischen Theorien gezeigt werden, dass Freaks eine performative Identität haben. Damit wird die Materialität von Freaks in den Bereich der Sprache gerückt und der andere Körper konsequent als diskursive Formation verstanden.43 Dieser theoretische Zugang weckt aktuell ein neues Interesse an den Konstruktionsprozessen sowie an den kulturellen und sozialen Praktiken der Ausstellung von Freaks und Monstrositäten.44 Es geht dabei um die Frage, in welchen Kontexten diese Kategorien jeweils definiert und erzeugt werden. Während sich das wissenschaftshistorische Forschungsinteresse im deutschsprachigen Raum auf die humanwissenschaftlichen Praktiken des 18. und 19. Jahrhunderts richtete, wurden im US-amerikanischen Raum die kulturellen Ausstellungspraktiken der Freakshows als Exotisierungsstrategien des Körpers analysiert. Bis heute wurden allerdings noch keine Arbeiten vorgelegt, die systematisch die Schnittstelle zwischen kulturellen Praktiken und wissenschaftlicher Wissensproduktion thematisieren. Insgesamt stellt sich der Forschungsstand also so dar, dass seit den 1990er Jahren ausschließlich im US-amerikanischen Raum zahlreiche Studien veröffentlicht wurden, die sich den Neubestimmungen und den Praktiken der öffentlichen Zurschaustellung von Freaks vom 19. Jahrhundert an bis zu den aktuellen Darstellungen in der Fotografie, der Literatur und den Medien widmen. Hier wurden vor allem die auf Konzepten der Rassenanthropologie basierenden Strategien der Exotisierung von Freaks herausgearbeitet. Im deutschsprachigen Raum wurden mit einer Geschichte der Monstrositäten die wissenschaftshistorischen Entwicklungen in der Medizin und der Anthropologie nachgezeichnet sowie die Veränderungen und historischen Brüche der Definitionen des Monströsen im Kontext der Human- und Lebenswissenschaften untersucht.45

in einer Kultur des Sehen die technischen Visualisierungsmedien und epistemischen Felder für kulturelle Produktionen des Wissens ineinandergreifen. 41

Vgl. Adams, Rachel: 2001.

42

Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 1996, 1997.

43

Vgl. Adams, Rachel: 2001.

44

Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 1996, 1997; Hagner, Michael: 2005; Dederich, Markus: 2007.

45

Zürcher, Urs: 2005; Schmidt, Gunnar: 2001.

K ULTURELLE PRAKTIKEN

UND WISSENSCHAFTSHISTORISCHE

ANSÄTZE

| 27

Was kann eine Geschichte der Monstrositäten leisten? Im Rahmen der Disability Studies stellt Markus Dederich die Frage, welchen Gewinn eine kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Beschäftigung mit Monstrositäten verspricht. Dabei geht er von zwei Punkten aus: Erstens dient eine Geschichte der Monstrositäten einer Art von Aufklärung für jene Wissenschaften, die den Körper als „außerhistorische und überkulturelle Gegebenheit betrachten“, und zweitens werden durch die Herausarbeitung der historisch unterschiedlichen Modelle des Menschen die Prozesse „der Ausformung spezifischer allgemeiner Kategorien sichtbar, unter die das Besondere subsumiert wird“46. Dass gerade im 19. Jahrhundert der wissenschaftliche und kulturelle Umgang mit Menschen, die als monströs bezeichnet wurden, immer an Prozesse der Abwertung des einzelnen Lebens gebunden ist, betont Hagner und verweist darauf, dass am monströsen Körper die Grenzen von Normalisierung und sozialen Gefahren markiert wurden. Es gab im 19. Jahrhundert – so Hagner weiter – kaum einen Bereich, in dem Monstrositäten nicht thematisiert und instrumentalisiert worden wären.47 Dederich zeigt, dass durch eine historische Beschäftigung mit Monstrositäten die Materialisierungen

46

Dederich, Markus: 2007, 86. Anders als man denken möchte, hat eine Kritik an den Wissenschaften, die den Körper immer noch als eine außerhistorische Gegebenheit betrachten, aktuell nicht an Brisanz verloren. Kerstin Palm betont, dass in den Lebenswissenschaften Geschlechts- und Genderfragen bis heute nicht reflektiert werden. Angesichts dessen bestehe die gegenwärtige Aufgabe der Kulturwissenschaften darin, „die wissenschaftlichen Beschreibungen des biologischen Geschlechts zu historisieren“ (Palm, Kerstin: 2005, 186). Marie-Luise Angerer konstatiert, dass durch die Dominanz der Lebenswissenschaften „das Soziale und seine Akteure derzeit einem umfassenden Renaturalisierungsprozess unterworfen werden“ (Angerer, Marie-Luise: 2008, 8). Es sei Aufgabe der Gender Studies die historischen Transformationen, die wissenschaftlichen Konzepte und die alten Verbindungen zwischen einem Denken des Geschlechtlichen und den Wissenschaften der Medizin, Biologie und Physik in ihren historischen und aktuellen Formatierungen herauszuarbeiten (vgl. ebd., 9). Dass diese Forderungen gerade auch die Wissenschaftsgeschichte betreffen, unterstreichen Bettina Wahrig und Sabine Höhler in ihrem Aufsatz Geschlechterforschung ist Wissenschaftsgeschichte – Wissenschaftsforschung ist Geschlechterforschung (vgl. Höhler, Sabine/Wahrig, Bettina: 2006).

47

Vgl. Hagner, Michael: 2005a, 10.

28 | EINLEITUNG

und Naturalisierungen des biologischen Körpers und die historischen Normierungsprozesse kritisch gefasst werden können. Hagner hingegen betont die Stigmatisierungsprozesse, die mit Monstrositäten soziale Gefährdungen verknüpften. Insofern verbinden sich mit einer Geschichte der Monstrositäten zwei Enden, die zunächst paradox erscheinen: Zum einen können mit einer historischen Analyse Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse in kulturellen Kontexten im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Praktiken in den Blick genommen werden. Zum anderen können mit der Kategorie des Monströsen die Naturalisierungen des Körpers aufgebrochen und in ihrem historischen Gewordensein aufgezeigt werden. Insofern verbinden sich mit Monstrositäten Gewinn, Einblick und Transformation auf der einen Seite sowie Stigmatisierung, Naturalisierung und machtvolle Zäsur auf der anderen. Weder Hagner noch Dederich haben mit einer Geschichte der Monstrositäten die Kategorisierungen des Geschlechts thematisiert. Ein erster Schritt zur Schließung dieser Lücke soll in der vorliegenden Studie geleistet werden, indem historisch spezifische Auffassungen des Körpers und des Lebens im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Praktiken und kulturellen Codierungen von Geschlecht und Ethnie analysiert werden.

1.4

M ODERNE M ONSTROSITÄTEN: N ORMALISIERUNGSDISKURSE UND G ESCHLECHT

Im 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche Abhandlungen zu anatomischen Begründungen von Prostitution, Delinquenz und kultureller Fremdheit. In den Arbeiten von Medizinern, Anthropologen und Ethnologen wurden anhand des Geschlechts und der Monstrosität soziale und politische Fragen verhandelt. Im Rahmen einer neuen wissenschaftlichen Betrachtungsweise des Körpers haben die Konstruktionen des Monströsen „speziell den weiblichen Körper zu einem dämonischen Austragungsort von Gefahren, Bedrohungen und Verschmutzungen werden lassen“48, wie Dorothea Dornhof betont. Im 19. Jahrhundert organisierte ein biologischer Diskurs das Denken über das Geschlecht, das Leben und die Kultur mit Kategorien, die aus der Medizin, der Anatomie und der Anthropologie stammten.

48

Dornhof, Dorothea: 2005, 253.

M ODERNE M ONSTROSITÄTEN

| 29

Für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach der ‚Natürlichkeit‘ des abweichenden Körpers scheint es angesichts der Vielzahl feministischer Arbeiten und kulturphilosophischer Ansätze ein Leichtes, die biologisierenden und materialisierenden Effekte wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse aufzugreifen und die am scheinbar natürlichen Körper festgemachten sozialen und politischen Geltungsansprüche herauszuarbeiten. Auch das Geschlecht und das Sexuelle stehen nicht außerhalb sozialer Ordnungen, sondern sie unterliegen materialisierenden Diskursen in historisch situierten Praktiken.49 Ziel der Studie ist jedoch nicht, die unterschiedlichen methodischen Zugänge von Naturwissenschaften und Kulturgeschichte gegeneinander auszuspielen. Auch geht es nicht darum, sich aus einer feministischen Perspektive dem wissenschaftlichen Umgang mit extremen Abweichungen zuzuwenden – was nicht zuletzt im Hinblick auf eine Geschichte der Teratologie sicher sehr instruktiv sein könnte. Und schon gar nicht soll einer Geschichte der Monstrositäten und der Freaks einfach die Kategorie des Geschlechts hinzugefügt werden. In dieser Studie geht es vielmehr um die Prozesse der Wissensbildung und um die Geschichtlichkeit des Wissens vom monströsen Körper. Dabei soll insbesondere der historische Zusammenhang des monströsen Körpers mit den Kategorisierungen von Geschlecht und „Rasse“50 im Kontext wissenschaftlicher und kultureller Praktiken der Normalisierung in den Blick genommen werden. Dem geht die Auffassung voraus, dass die wissenschaftlichen Systeme und die kulturellen Vorstellungen eng miteinander verknüpft sind, zugleich aber auch ihre je eigenen Dynamiken und Beharrungstendenzen aufweisen. Auf der einen Seite haben die wissenschaftlichen Praktiken der Erfassung des Normalen und der wissenschaftlichen Bestimmung des Lebens dazu geführt, dass stetig neues Wissen über den normalen Körper generiert und letztlich auch der abweichende Körper als singuläres Phänomen normalisiert wurde. Zugleich waren Monstrositäten zentraler Bestandteil wissenschaftlicher

49 50

Vgl. Yanagisako, Sylvia Junko: 1997; Butler, Judith: 1991. „Rasse“ ist ein historisch sehr belasteter und problematischer Begriff. Er wird im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt, um die rassistischen Implikationen und die in ihm enthaltenen Konzepte, mit denen bestimmte Menschen anhand von bspw. biologisierenden Kriterien abgewertet wurden, sichtbar zu machen. Jedoch kann der Begriff bei der historischen Quellenarbeit nicht aufgegeben werden, weil es darum geht, die an diesem Begriff festgemachten Haltungen zu kritisieren.

30 | EINLEITUNG

und gesellschaftlicher Prozesse der Normalisierung, mit denen Abweichungen erkannt, die Topografien des Monströsen vervielfältigt und in ein Aussagesystem wissenschaftlicher und kultureller Bewertungen und Hierarchisierungen eingebettet wurden. Auf der anderen Seite haben zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten auch im 19. Jahrhundert noch das monströse Körperobjekt beschrieben, erfasst und als singuläres Phänomen substanzialisiert. Die Vielfalt der Pathologien des partialisierten und die Singularität der extremen Abweichung des materialisierten Körpers wurden dort in ein Verhältnis gebracht, mit dem die gesellschaftlichen Praktiken der Normalisierung am Geschlecht gestützt, legitimiert und erzeugt wurden. In diesem Verhältnis diente der monströse Körper der Produktion weiterer Differenzen von Geschlecht und „Rasse“. Im Hinblick darauf soll hier gezeigt werden, dass Geschlecht niemals allein wirksam ist, sondern gleichzeitig mit und durch Differenzen in spezifischen Kontexten konstruiert, artikuliert und sozial realisiert wird.51 Mit dieser These ist der historische und thematische Rahmen für die vorliegende Studie gesetzt. Für den Zeitraum des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts werden im Folgenden aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive die an der Schnittstelle von Medizin, Anthropologie, Ethnologie und Gesellschaft zu verortenden wissenschaftlichen und kulturellen Codierungen des monströs-weiblichen und fremden Körpers analysiert. In einer Perspektive auf die Humanwissenschaften wird gezeigt, wie der individuelle Körper für das Denken eines integralen Gesellschaftskörpers funktionalisiert wurde und wie zwischen den beiden Polen – dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen – ein spezifisches Wissen für politische sowie soziale Interventionen und Bewertungen an Dynamik gewonnen hat. Die Wissenschaften vom Menschen haben im 19. Jahrhundert den Körper klassifiziert und fragmentiert. Der wissenschaftlich-technische Zugriff auf den Körper hat dazu geführt, dass auch das Monster in einzel-

51

Vgl. Strasser, Sabine/Schein, Gerlinde: 1998, 7. Unter dem Stichwort „Intersektionalität“ werden die Überschneidungen von Kategorien erneut diskutiert. Braidotti bezieht sich in ihrem Aufsatz Biomacht und posthumane Politik auf den von Crenshaw geprägten Begriff und betont, dass „Differenzen als ein Bündel gleichzeitiger, aber dennoch verschiedener Achsen der Subjektivierung zu definieren und diese im Wechselspiel zu analysieren“ sind (Braidotti, Rosi: 2008, 26; vgl. auch Crenshaw, Kimberlé W.: 1989). Im Abschnitt 3.2 Geschlechterdiskurs: Zur Konvergenz von Geschlecht und Monstrosität werde ich auf diese Problematik näher eingehen.

M ODERNE M ONSTROSITÄTEN

| 31

ne, empirisch überprüfbare Teile zerlegt und damit in kleinen Anomalien vervielfältigt wurde. Zugleich wurden diese Unregelmäßigkeiten und Anomalien des Körpers zu „rassen-“ und geschlechtsspezifischen Merkmalen wieder als Ganzes zusammengesetzt. Der wissenschaftliche Zugriff auf den Körper erfolgte somit in Prozessen der Fragmentierung und der Rekonstruktion. Die wissenschaftlichen Aussagesysteme haben den Körper und seine Teile auf der Matrix der Leitdifferenz des Normalen und Anormalen zeitlich und räumlich neu angeordnet. Im 19. Jahrhundert haben somit die wissenschaftlichen Praktiken den Körper neu geformt und den geschlechtlichen Menschen anhand des humanwissenschaftlichen Instrumentariums entworfen.52 Das Wissen über den Körper wird damit in wissenschaftlich-begrifflichen Regularitäten und sprachlichen Bezügen hervorgebracht. Judith Butler schreibt, dass „die Sprache mitsamt ihren Normen, Formen und Rahmen an der Herstellung des Körpers beteiligt ist, der Körper aber andererseits von keiner dieser Herstellungsversuche je ganz erfasst oder erschöpft werden kann“53. Der weibliche Geschlechtskörper wurde als Rätsel konstruiert, an dem sich die wissenschaftlichen Aussagen über das Normale und Anormale verdichtet haben. Am weiblichen Körper wurde stetig ein Wissen über das Normale und das Pathologische generiert. Die Fragestellung der Studie wird anhand von Beispielen aus den genannten Disziplinen erörtert und die Situiertheit von Kategorien und ihren Konstruktionen eng am historischen Material entwickelt. Die Analyse des hier vorgestellten historischen Materials erfolgt nicht in einer chronologischen Abfolge. Wie Sarasin schreibt, seien wissenschaftliche Eigenlogik und außerwissenschaftliche Codierungen nicht chronologisch aufeinander abzubilden.54 Diese beiden Bereiche sind nicht im Vorhinein in einer ausschließlich auf die Wissenschaft oder auf die Gesellschaft festgelegten Perspektive zu erfassen. Im Folgenden werden die Spannungen und Bruchlinien nicht entlang großer Entwürfe der Geschichte verfolgt, vielmehr geht es um diskursive Komplexe und Formationen, die sich nicht in bereits vorstrukturierte chronologische Erzählmuster einfügen lassen. Wissenschaftliche Konzepte können nicht umstandslos mit gesellschaftlichen Interessen oder gar Strategien begründet werden.55

52

Vgl. Bublitz, Hannelore: 2000, 19 ff.

53

Butler, Judith: 2009, 51.

54

Vgl. Sarasin, Philip/Tanner, Jakob: 1998a, 35.

55

Vgl. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 35.

32 | EINLEITUNG

Dennoch sind wissenschaftliche Praktiken immer auch in historischen Machtkonstellationen verankert, sie können daher durchaus zeitlich unterschiedliche Dynamiken aufweisen. Insofern ist es das Ziel der Studie, die Diskurse über Monstrositäten in ihren historisch-spezifischen Formationen in Wissenschaft und Gesellschaft aufzuzeigen, die sich gerade nicht in der Perspektive einer fortlaufenden Erzählung erschließen lassen. In der vorliegenden Studie wird eine Verknüpfung von wissenschaftshistorischen, kulturphilosophischen und lebenswissenschaftlichen Disziplinen vorgenommen. Den gemeinsamen methodischen Bezugspunkt der historischen Analyse in der vorliegenden Studie bildet die Diskurstheorie nach Michel Foucault.56 Einer diskurstheoretischen Vorgehensweise in einem historisch-spezifischen Feld geht zunächst die Annahme der diskursiven Produktivität voraus, mit der ein „Diskurs seine Gegenstände selbst hervorbringt“57. Im Spannungsfeld von Methode und Methodenkritik verortet, grenzt sich die Diskurstheorie von einer empirischen Annahme ab, „die aus einer spezifischen Theorie eine Methode ableiten“58 will, stattdessen wird das wechselseitige Verhältnis von Methode und Gegenstand in seiner historischen Konstellation untersucht. Das methodische Anliegen der Studie ist es, die historischen Texte zu verbinden und als Diskurse zu untersuchen. Da die Texte nicht nur als historisches Material, sondern zugleich auch als diskursive Praktiken und historische Konzepte der Materialität aufzufassen sind, können sie ebenso als philosophische Texte gelesen werden, weil sich in ihnen theoretische Implikationen historischer Thesen aufzeigen lassen.59

1.5

D ER AUFBAU

DER

S TUDIE

In einer Einführung im Kapitel 2 werden die Diskursformationen vorgestellt, in denen extreme Abweichung, kulturell Fremdes und individuelle Merkmale der Freaks im öffentlichen bzw. der Monstrositäten im wissenschaftlichen Raum zur Sprache gebracht werden. Dass gerade

56

Vgl. Foucault, Michel: 1981. Zum methodischen Ansatz diskursanalytischer Verfahren vgl. Keller, Reiner: 2006; Sarasin, Philipp: 2006; Bublitz, Hannelore: 2003a; Hanke, Christine/Seier, Andrea: 2000.

57

Hanke, Christine/Seier, Andrea: 2000, 97.

58

Hanke, Christine/Seier, Andrea: 2000, 97.

59

Vgl. Sarasin, Philipp: 2002, 195 f.

DER AUFBAU

DER

STUDIE

| 33

Menschen, die in den Freakshows als spektakuläre Ausstellungsobjekte inszeniert wurden, zugleich auch in wissenschaftlichen Abhandlungen als Objekte des Wissens fungierten, zeigt, wie hier wissenschaftliche und kulturelle Praktiken ineinandergreifen. Im Abschnitt 2.2 wird dann die Annahme kritisiert, dass Monstrositäten in der Moderne keine Bedeutung mehr haben, und es wird gezeigt, dass in den wissenschaftlichen und kulturellen Diskursformationen außerordentlich viel über den monströsen Körper verhandelt und publiziert wurde. Anhand exemplarischer Arbeiten von Ulrich Bischoff und Thomas Macho wird diskutiert, ob sich eine historische Perspektive auf die Zurschaustellung des behinderten Körpers ausschließlich in einer auf Moral und Ethik aufbauenden Kritik erschließen lässt und inwieweit die Wissenschaften seit der Aufklärung das Monster rationalisiert und damit vereinnahmt haben. Für Macho ist die konstitutive Funktion des Monsters für ein Denken von Vielfalt und Spontaneität völlig von den Wissenschaften liquidiert worden. Mit dieser Auffassung werden wissenschaftliche Praktiken auf eine repressive Funktion reduziert und der Blick auf die vielfältigen und komplexen Marginalisierungs- und Stigmatisierungsprozesse wird versperrt. Im Kapitel 3 werden zunächst Monstrositäten in ihrer Rolle für wissenschaftshistorische Entwicklungen dargestellt. Dabei werden sowohl Arbeiten von Denis Diderot als auch kulturhistorische sowie medizinhistorische Studien bspw. von Eugen Holländer erörtert. Am Beispiel Diderots wird abgehandelt, wie Monstrositäten zu Objekten des Wissens wurden und welche Rolle und epistemologische Funktion sie im Denken über die Ordnung der Natur seit dem 18. Jahrhundert zugewiesen bekamen. Der wissenschaftliche Umgang hat zu einer Naturalisierung und Verwissenschaftlichung des Monsters beigetragen und so dafür gesorgt, dass die moralischen Konnotationen und Aufladungen des Monsters den wissenschaftlichen Objekten entgegengestellt wurden. Zugleich stellten Monstrositäten im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erfassung des Normalen auch einen besonderen Anreiz zum Wissen dar. Mit Monstrositäten wurden Aussagen über den Körper, das Normale und das Pathologische in wissenschaftlichen Ordnungssystemen getroffen; zugleich stellten Monstrositäten auch im 19. Jahrhundert eine produktive Störung der Ordnungen des Wissens dar. In dem Spannungsverhältnis zwischen analytischer Kategorie für die Erfassung des Normalen und nicht vollständig identifizierbaren Wissensbeständen werden die methodisch unerfassten oder unerfassbaren Stellen in ihrer epistemologischen Funktion und in ihrer gesellschaftlichen Relevanz diskutiert. Mit den Arbeiten von Georges Canguilhem werden die medizinischen Diskurse

34 | EINLEITUNG

und die wissenschaftlichen Auffassungen des Lebens erörtert und es wird die Frage aufgeworfen, welche Rolle Monstrositäten in einem Diskurs spielen, der das Pathologische im Zusammenhang mit dem Normalen entwickelt. Mit Canguilhem wird gezeigt, wie das humanwissenschaftliche Instrumentarium auf der Matrix des Normalen und Pathologischen einen Begriff vom Menschen und vom Leben entwickelt, der die tatsächliche Vielfalt und Uneindeutigkeit des Lebens nicht zu fassen vermag. Die Figur der Monstrosität wird damit zu einer paradigmatischen Figur für die bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Normalen nicht erfassten Bereiche. Im Anschluss an Canguilhem wird danach geprüft, ob das Monströse als verworfene Zone dieser wissenschaftlichen Erfassung des Normalen und des Lebens aufzufassen ist und welche Konsequenzen sich hier für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft abzeichnen. Mit Foucault wird gezeigt, dass etwas Monströses nicht einfach die wissenschaftlich nicht erfassten Bereiche darstellt, sondern auch in seiner gesellschaftlichen Relevanz zu betrachten ist. Es wird dargelegt, dass die wissenschaftlichen Bestimmungen des Lebens und des Menschen auf eine Bewertung, Hierarchisierung und Strukturierung von Abweichung und Normalem hinauslaufen. Damit wird der Mensch in einem wissenschaftlichen Aussagesystem, das auf dieser Matrix des Normalen und des Pathologischen basiert, der Hierarchisierung wie auch der Bewertung unterworfen. Inwieweit lassen sich diese Ergebnisse auf eine Analyse des Geschlechterdiskurses übertragen ? Im Kapitel 4 werden die Ergebnisse aus den im dritten Kapitel vorgenommenen wissenschaftshistorischen Analysen um eine Perspektive auf den Geschlechterdiskurs des 19. Jahrhunderts erweitert. Anhand historischer Quellen werden in einem diskurstheoretischen Ansatz die Prozesse der Begriffsbildung und diskursiven Erzeugung der als monströs bezeichneten Gegenstände dargelegt. Anhand der je unterschiedlichen disziplinären und historischen Zugänge zur Erfassung des Körpers werden die wissenschaftlichen Formatierungen und Verbindungen von Geschlecht, „Rasse“ und Monstrosität analysiert. Zunächst werden im Abschnitt 4.2 die Arbeiten des Mediziners Rudolf Virchow erörtert. Dabei wird gezeigt, wie die Begriffe von Monstrositäten im wissenschaftlichen Diskurs gebildet wurden. Indem das am weiblichen Körper identifizierte, singularisierte Phänomen des Monströsen in einem wissenschaftlichen Aussagesystem zur Sprache gebracht werden muss, wird veranschaulicht, wie die Prozesse der Wissensbildung an der Herstellung und Begriffsbildung der genitalisierten Monstrositäten beteiligt sind. Am Beispiel von Sara Baartman werden dann die engen Verschränkungen

DER AUFBAU

DER

STUDIE

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und kulturell-wissenschaftlichen Formatierungen von Monstrosität und Geschlechterdifferenz erörtert. Hatten zunächst seit dem 17. Jahrhundert die ethnografischen Berichte kulturelle Bestandsaufnahmen des Monströsen erarbeitet, indem sie die als kurios und selten konfigurierten Phänomene des weiblichen Körpers in Abbildung brachten und somit eine bestimme Weise der Wahrheitsaussage lieferten, so wurden im 19. Jahrhundert Monstrositäten wissenschaftlich neu formatiert. Hier findet eine Verschiebung der Kategorien vom ethnografischen in einen medizinisch-anthropologischen Bezugsrahmen statt. Nun als Gegenstand medizinisch-pathologischer Diskurse gefasst, wird am Beispiel des Sektionsberichtes von Johannes Müller gezeigt, wie Monstrositäten als Einzelteile des Körpers genitalisiert sowie rassifiziert und zugleich mit kulturellen Vorstellungen von Geschlecht und „Rasse“ verknüpft wurden. Anhand der Arbeiten über Das Weib von Heinrich Ploss und Max Bartels werden diese historischen Konstellationen im Zusammenhang mit dem Geschlechterdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts näher analysiert. Sowohl die medizinisch-anthropologischen als auch die ethnologischen Praktiken der physischen Anthropologie entwerfen den weiblichen Körper als Rätsel, zugleich dient er aber auch als Ort der Wissensbildung. An einer im Jahr 1928 von Leonhard Schultze Jena vorgelegten Studie werden dann die Funktionen geschlechtlich-genitalisierter Objekte für rassenanthropologische Aussagen dargelegt. Die nun in einem medizinisch-anthropologischen Untersuchungsrahmen als geschlechtlich und genitalisiert codierten Monstrositäten dienten einer auf dem weiblichen Geschlechtsorgan aufbauenden sozialen und politischen Bestimmung gesellschaftlicher und kultureller Geschlechterverhältnisse. Die medizinisch-anthropologischen Aussagen enthalten nicht nur eine grundlegende Dimension gesellschaftlicher Normalisierung, sondern sind ein zentraler Bestandteil der historischen Prozesse der gesellschaftlichen Normalisierung des Geschlechts. Im Abschnitt 4.5 werden dann die wissenschaftlichen Praktiken der Teratologie untersucht. Es wird gezeigt, wie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Praktiken zur Erfassung des Monströsen auf der Basis experimenteller Forschung wissenschaftlich neu fundamentiert wurden. Damit hatte das Verhältnis von Monstrosität und statischem Körper wissenschaftlich an Bedeutung verloren und der technisch-experimentelle Zugriff auf Monstrositäten erfolgte nun in einem Zugang zum Geschehen in der Zeit. Damit wurde auch die Materialität des Monströsen wissenschaftlich neu formatiert und die Bedeutungen in einem Schema der räumlichen und zeitlichen Interventionen erweitert. Nicht mehr

36 | EINLEITUNG

der monströse Körper war Gegenstand der Erfassung des Anormalen und Normalen, sondern die Prozesse seiner Entstehung gerieten ins Visier der wissenschaftlichen Praktiken. Die wissenschaftlichen Praktiken haben zum einen die als monströs identifizierten Körperobjekte für Kategorisierungen des Weiblichen sowie der „Rasse“ und zum anderen die entmaterialisierten Dinge für Prozesse der experimentalisierten Wissensbildung konfiguriert. Angesichts dessen ist es das Ziel der Studie, darzulegen, wie im Hinblick auf das Geschlecht die Strategien der Normalisierung auf ganz unterschiedliche Weise wirksam waren. In diesen ungleichmäßigen Prozeduren wurden allerdings am wissenschaftlichen Gegenstand implizit immer auch politische Positionen verhandelt. So können mit einer Analyse der Wissensbestände die wissenschaftlichen Verfahren als lokale, heterogene, aber teilweise sehr robuste Praktiken aufgefasst werden, mit denen die Ein- und Ausschlüsse gesellschaftlicher Normalisierungsdiskurse reflektiert werden können.60 Dieser Reflexion liegt allerdings – darauf muss explizit hingewiesen werden – nicht die Auffassung zugrunde, dass die Kategorie „Frau“ aus vorab bestimmbaren Kriterien herzuleiten wäre. Vielmehr werden die Möglichkeiten der Artikulation des Geschlechts aus einer historischen Perspektive entwickelt, in der die diskursiven Produktivitäten im Zusammenhang mit historischen Normalisierungsprozessen und wirksamen Verschränkungen von Wissen und Gesellschaft für eine Bedeutungsherstellung von Geschlecht in ihren je unterschiedlichen historischen Konstellationen zu untersuchen sind. Wie Bettina Wahrig und Sabine Höhler schreiben, richtet die feministische Wissenschaftsforschung ihr Interesse auf „jene Ränder des wissenschaftlichen Tuns, an denen die politischen und wissenschaftlichen Praktiken ineinander verlaufen“. Geschlechtergeschichte ist – wie Wahrig und Höhler treffend formuliert haben – weder die „Abstellkammer noch das Kuriositätenkabinett der Geschichtsschreibung“61 und somit nicht als einfacher Zusatz zur Wissenschaftsforschung zu betrachten. Geschlechterforschung stellt einen bedeutenden Ansatz für die Wissenschaftsgeschichte dar. Nicht nur weil die Geschlechterforschung die gesellschaftlichen und politischen Implikationen wissenschaftlichen Wissens analysiert, sondern weil, wie Christina von Braun und Inge Stephan überzeugend dargelegt haben, die Wissenschaftsgeschichte der Geschlechterforschung wichtige Impulse für eine Analyse der Diskurse

60

Vgl. Wahrig, Bettina/Höhler, Sabine: 2006, 205.

61

Wahrig, Bettina/Höhler, Sabine: 2006, 205.

DER AUFBAU

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und Praktiken des Wissens verdankt.62 So kurios und grotesk manche historischen Texte und Aussagen auch erscheinen mögen, sie sollten dennoch nicht als Unfälle oder falsche Aussagen aufgefasst und in das Kuriositätenkabinett der Wissenschaftsgeschichte aufgenommen werden.

62

Vgl. Braun, Christina von/Stephan, Inge: 2009.

2

Zur Geschichte der Monster und Monstrositäten

„Am meisten drängten sich die Leute vor der letzten Kabine, wo der Hermaphrodit wohnte, ein wissenschaftliches Wunder. Er bestand aus zwei ganz verschiedenen Hälften; die linke war ein Mann, die rechte eine Frau. Links trug das Wesen ein Leopardenfell, rechts einen Büstenhalter und ein Flitterröckchen. Die eine Gesichtshälfte trug einen dunklen Bart, die andere war geschminkt und gepudert. Die beiden Augen waren traurig und sonderbar. Frankie hatte sich alle Kabinen genau angesehen. Die Abnormitäten machten ihr Angst. Sie hatte das Gefühl, als ob alle ganz besonders sie anblickten auf eine unheimlich vertrauliche Weise, als wollten sie ihr zu verstehen geben: wir kennen dich.“1

2.1 DAS M ONSTER IM Z IRKUS UND DIE M ONSTER IN DEN W ISSENSCHAFTEN Im 19. Jahrhundert gab es zwei dominante Diskursformationen, in denen extreme Abweichungen, körperliche Besonderheiten und kulturell Fremdes zur Sprache gebracht wurden. In den medizinischen Texten, Sammlungen oder in ethnografischen Berichten wurden Abweichungen zu Monstrositäten und zugleich zu wissenschaftlichen Gegenständen. In der Populärkultur wurden sie als Freaks in Ausstellungen, Shows und

1

McCullers, Carson: 1974, 22.

40 | ZUR GESCHICHTE DER MONSTER UND MONSTROSITÄTEN

im Zirkus präsentiert. In welchem Zusammenhang stehen diese wissenschaftlichen und populären Diskurse ? Welche Praktiken müssen untersucht werden und wie erfolgte der Zugriff auf die als monströs, selten oder als minderwertig bezeichneten Objekte? Wie werden aus Menschen Freaks oder Monstrositäten? Welche Diskurse brachten Monstrositäten als anthropologische Objekte oder als Ausstellungsobjekte hervor und welche gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen bilden sich hier ab ? Monster standen von jeher für eine provozierende Ausnahme, mit ihnen wurden Selbstverständlichkeiten irritiert und der Glaube an das Wiederkehrende erschüttert. Das Monster steht damit für eine konstitutive Differenz zwischen dem Gewohnten und dem Ungewohnten. Die Prozesse der Verwissenschaftlichung haben das Monster wissbar gemacht und damit einen wissenschaftlich verfassten Begriff der Monstrosität hervorgebracht. Es mag so erscheinen, dass die Wissenschaften diese Funktionalität des Monsters für die konstitutive Differenz allmählich aufgekündigt haben und damit die Existenz von Monstern zum Verschwinden gebracht wurde. Auch Freakshows wären in dieser Betrachtung der zähe Ausläufer einer langen Tradition, die nun im 20. Jahrhundert ihr Ende gefunden hat. In dieser Annahme wird die Verwissenschaftlichung als ein linearer Prozess beschrieben, der allenfalls von den öffentlichen Zurschaustellungen unterbrochen wurde. Hingegen wird im Folgenden gezeigt, dass es sich hier nicht um einen allmählich fortschreitenden, sondern um einen diskontinuierlichen, oft auch widersprüchlichen Prozess handelt. In diesem Prozess erhalten Monstrositäten eine erneute Bedeutung für wissenschaftliche Aussagen und kulturelle Deutungsmuster. Prozesse der Verwissenschaftlichung haben damit nicht einfach die konstitutiven Differenzen zwischen dem Eigenen und Anderen, dem Gewohnten und Ungewohnten aufgekündigt, sondern sie haben diese vervielfältigt, in andere Bereiche verschoben und somit auch stetig neue Bedeutungen des Monströsen erzeugt und produziert. Um dieses Argument zu entfalten, werden im Folgenden zunächst die unterschiedlichen Zugänge wissenschafts- und kulturhistorischer Arbeiten aufgegriffen und es wird gezeigt, dass eine historische Perspektive auf eine Geschichte der Monstrositäten sowohl wissenschaftliche als auch populäre Topografien des Monströsen aufgreifen muss.

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Zwei Geschichten, so könnte man meinen, müssten hier geschrieben werden.2 Die eine Geschichte beginnt im Zirkus und versetzt uns in abgedunkelte Bühnenräume, in die Abnormitätenkabinette und Freakshows. Die andere Geschichte führt uns in die wissenschaftlichen Räume großer Gelehrter, in die Bibliotheken, anthropologischen Sammlungen und Naturalienkabinette. Wir richten unseren Blick auf die missgebildeten Kreaturen, auf die Armlosen, die Gelähmten, auf die Hermaphroditen, auf die doppelten Leiber, auf die Geschlechtslosen und die bärtigen Frauen. Aber unser Blick fällt auch auf die stummen Sammlungen absonderlichster Fehlbildungen, auf die körperlichen Zonen der Andersartigkeit und des Atavismus. Schlägt man in der medizinischen Literatur des 19. Jahrhunderts nach, fallen die Vielfalt und der Reichtum der Begriffe „monströs“ oder „Monstrosität“ auf. In zahlreichen Fallstudien wurden wissenschaftliche Beschreibungen und Klassifikationen geliefert. Die sichtbaren Zeichen körperlicher Devianz oder physiologischer Andersartigkeit mussten dokumentiert, gesammelt und geordnet werden. Man präsentierte in den wissenschaftlichen Räumen stumme Objekte, tote Körper und sezierte Leichenteile. In den populären Repräsentationsformen schlägt sich die ungeheuerliche Beredsamkeit über den kulturell Fremden oder den körperlich Anderen nieder. Mit den Ausstellungsobjekten war das vermarktungsträchtige Versprechen eines großen Seltenheitswertes verbunden. Freaks wurden zu Metaphern des Anderen. In den populären Inszenierungen wurden Menschen auf den Jahrmärkten medial zur Schau gestellt, die beim staunenden und schockierten Betrachter den inneren Monolog „I’m so glad that’s not me !“ herausforderten.3 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Sara Baartman aus Südafrika nach Europa gebracht und in London und Paris ausgestellt.4 Ihr unge-

2

Macho stellt die Frage im Hinblick auf eine Konstellation von „Bibliothek oder Zirkus“. Laut seiner Deutung wird der Begriff des Monsters seit Beginn der Moderne allerdings völlig von der wissenschaftlichen Verfasstheit überlagert (vgl. Macho, Thomas: 1998, 12). Im Abschnitt 2.2 Von der Rationalisierung des Monsters im 19. Jahrhundert: Eine Kritik wird darauf näher eingegangen.

3

Stulman Dennett, Andrea: 1996, 320.

4

Sara Baartman ist der Name, den die holländischen Kolonisatoren ihr gegeben haben. Unter der Bezeichnung „Hottentottenvenus“ wurde sie in den populären und wissenschaftlichen Diskursen zur Sprache gebracht. Ihr eigentlicher Name bleibt unbekannt. In der Literatur werden unterschied-

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wöhnlicher Körperbau, die Stärke ihres Gesäßes und der Mythos über die besondere Anatomie ihrer Genitalien waren Teil populärer Inszenierungsstrategien. In den nur kurz andauernden Zurschaustellungen wurde sie in einen Käfig gesperrt und folgte den Anweisungen ihres Impresarios, sich in einer bestimmten Art zu bewegen, die ihre Wildheit und Minderwertigkeit belegte. Als „Venus der Hottentotten“ bezeichnet, verkörperte sie das sexualisierte und kulturelle Monster, das zur Identifikationsfigur der Verletzungen der bürgerlichen und moralischen Normvorstellungen wurde. Als Ausstellungsobjekt tanzte im 19. Jahrhundert eine andere Frau aus Mexiko in selbst entworfenen Kleidern durch die europäischen Vergnügungshallen und ließ ihren durch Überbehaarung auffälligen Körper betrachten. Nicht als Julia Pastrana trat sie auf, sondern als „Mexican Ape Woman“5. Im Jahr 1860, verheiratet mit ihrem Impresario und in ganz Europa bekannt, starb sie kurz nach der Geburt ihres Kindes. Doch ebenso wie bei Sarah Baartman beendete auch bei ihr der Tod nicht ein Dasein als Ausstellungsobjekt.6 Die Leichname von Julia Pastrana und ihrem Kind wurden in Russland einbalsamiert, und nur kurze Zeit später konnte man sie in einem gläsernen Schaukasten weiterhin bei den Freakshows für Geld betrachten. Bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein wurde Julia Pastrana ausgestellt, obwohl die ‚große Zeit‘ der Freakshows längst vorüber war.7 Vor einigen Jahren, so berichtet Stephen Jay Gould in seinem Aufsatz über die Venus der Hottentotten, habe er im Magazin des Musée de l’Homme ein makabres Durcheinander entdeckt: „abgetrennte Körper aus Neu-Kaledonien; eine Darstellung der Fußbandagierungen“, den Schädel von Descartes und das in Formalin eingelegte Gehirn von Paul Broca. Die Objekte der Gehirnsammlung

liche Schreibweisen des Namens verwendet, wie bspw. ‚Saartje‘. Da diese Bezeichnung eine Diminutivform darstellt, wird sie im Folgenden nicht verwendet. 5

Vgl. Gylsetz, Hals Christopher/Toverud, Lars O.: 2004.

6

Frank Westerman erzählt in seinem Roman eine ähnliche Geschichte. In einem spanischen Museum wurde bis Ende des 20. Jahrhunderts der Leichnam eines Afrikaners ausgestellt, der regelmäßig mit schwarzer Schuhcreme eingerieben wurde. Westerman schreibt: „Und was sollte man von dem Entschluss früherer Museumskonservatoren halten, El Negro mit Schuhcreme zu schwärzen ? Hatten sie Angst, er könne ihnen zu nahe kommen, wenn er verblasste ?“ (Westerman, Frank: 2005, 120)

7

Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: 1996, 77.

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entstammten ohne Ausnahme von weißen Menschen männlichen Geschlechts. Aber es wurden auch sezierte Genitalien ausgestellt: „[I]n drei kleineren Gefäßen entdeckte ich die sezierten Genitalien von Frauen aus der Dritten Welt. Ich fand jedoch keine Gehirne von Frauen, und weder Brocas Penis noch sonst irgendwelche männlichen Genitalien zierten die Sammlung.“8 Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts entdeckte Gould die sterblichen Überreste von Sara Baartman in einem Pariser Museum. Erst im Jahr 2002 wurden diese nach nahezu 200 Jahren nach Südafrika zurückgebracht. Es war der natürliche Körper, auf den man sich in den populären Ausstellungen, in den Wissenschaften und später im Museum berief.9 In der Zeit dazwischen entstanden zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen. Julia Pastrana und die „Venus der Hottentotten“ waren die Monster des weiblichen Geschlechts in den Wissenschaften und die Monster der eigenen Kultur in den populären Inszenierungen der Freakshows. Freaks gründeten ihre eigene Welt, die hinter den Bühnenvorhängen fernab der bürgerlichen Gesellschaft stattfand. Sie waren Monster, Kannibalen, ihre Existenz war eine Verletzung der bürgerlichen und natürlichen Norm. Sie waren lebende Objekte, die heirateten, Kinder bekamen und später ihre Memoiren veröffentlichten. In den populäreren Diskursen wurde der Andere vergeschlechtlicht, rassifiziert und singularisiert. Freaks wurden nicht einfach auf den Sockel der Schaubühnen gestellt, sondern um sie herum wurde ein ganzes ökonomisches System industrieller Ausstellungspraktiken installiert: Die Zeitungen bewarben die Ankunft der Wanderzirkusse, Professoren und Ethnologen versicherten anhand von Zertifikaten den außerordentlichen Seltenheitswert, mit denen den Freakshows zugleich eine wissenschaftliche und seriöse Verfassung verliehen wurde. Die Freaks der Shows gelangten auch in die Säle der Universitäten. Hier wurden sie vermessen, gezeigt und erklärt. In den wissenschaftlichen Publikationen wurden populäre Bezeichnungen wie Haarmensch, Nachtigall und Azteke wieder aufgegriffen. Als Freak war Julia Pastrana die „Affenfrau“, in der wissenschaftlichen Untersuchung zur Hypertrichose wurde sie zum „Hundemensch“. Die Folgen der krankhaften Überbehaarung machten sie zu einem haarigen Monstrum, dessen

8

Gould, Stephen Jay: 1995, 230.

9

Zur Problematik der Ausstellungspraktiken vgl. Heesen, Anke te/Lutz, Petra: 2005. Zur Problematik der Rekonstruktion medizinischer Bilder vgl. Schmidt, Gunnar: 2001.

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Faszination darin bestand, eine Ausnahme und eine Besonderheit des sonst so glatten und schönen Geschlechts zu sein.10 Zwei unterschiedliche Geschichten also, in denen die jeweiligen Bedeutungen über Monstrositäten in disziplinär getrennten Bereichen verhandelt wurden. Die historischen Diskurse zeigen die unterschiedlichen Interpretationskomplexe. Aus den Monstern des Mittelalters, die immer im Kontext religiöser Bedeutungen göttlichen Zornes oder teuflischer Besessenheit standen, wurden nun Monstrositäten der Moderne, die in wissenschaftlichen Kategorien rationalisierter und naturalisierter Abweichungen beschrieben wurden. Es wäre die Geschichte der Transformation vom Monster zu den Monstrositäten, wie sie sich in den wissenschaftlichen Systematisierungen der Teratologie seit dem 18. Jahrhundert vollzieht.11 Demgegenüber gäbe es eine Geschichte populärer und kultureller Ausbeutungsstrategien, die von der Vermarktung und der Zurschaustellung körperlicher Fehlbildungen handelt, mit der die zahlreichen Repräsentationsformen, die sich seit der Antike beobachten lassen, historisch aufgearbeitet werden könnten.12 Die Moderne bringt diese Medialisierung des Anderen in den Freakshows zu ihrem Höhe-

10

Vgl. Fuchs, Josef: 1917, 32. Fuchs schreibt: „Hundemenschen besitzen noch ihren Embryonalflaum und was bei ihnen als abnorm starke Behaarung, als Hypertrichose imponiert, ist die embryonale Lanugo“ (ebd., 13). Julia Pastrana falle, so Fuchs, nicht unter diese Kategorie, weil ihre Behaarung nicht die Struktur der embryonalen Lanugo aufweise. Vielmehr weise ihr Haar eine männliche Struktur auf. Mit dieser Feststellung wird der medizinische Text in den Geschlechterdiskurs des 19. Jahrhunderts übertragen. Wissenschaftliche Aussagen werden zu sozialen und politischen Argumentationsweisen, z. B. dort, wo Fuchs die „Gleichheitsbestrebungen“ der Frau in seinem Text aufgreift (ebd., 32).

11

Hagner, Michael: 2005a, 11.

12

In seinen Studien über Freaks betont Bogdan die Prozesse der sozialen Konstruktion und richtet den Fokus insbesondere auf die Repräsentationsstrategien und ökonomischen Interessen der „human exhibits to the public for amusement and profit“ (Bogdan, Robert: 1996, 23). Damit erweitert Bogdan die historische Perspektive auf die Ebenen der Inszenierung und der medialen Konstruktion von Freaks. Leslie Fiedler, der sich bereits in den siebziger Jahren mit der Geschichte der Freaks beschäftigte, betont die historischen Veränderungen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, die sich in einer Verschiebung vom kulturell Anderen zu den „Images of the Secret

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punkt und zugleich zu ihrem Verschwinden, denn in einer humanistisch aufgeklärten und zivilen Gesellschaft, inmitten eines Klimas der political correctness, gehören diese Praktiken, die zur Stigmatisierung und Unterdrückung von behinderten Menschen beigetragen haben, der Vergangenheit an. Während Monstrositäten bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts Teil ethnografischer Diskurse waren, erhielten sie später in medizinischen Wissensformationen eine zentrale Bedeutung. Erst für den Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich verzeichnen, dass Begriffe wie „monströs“ oder „Monstrosität“ kaum mehr in der medizinischen Literatur auftauchen. Auch Freaks hatten als körperliche Ausstellungsobjekte spätestens seit den verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges ihre populäre Brisanz verloren. Wenngleich Monstrositäten in den teratologischen und medizinischen Wissenschaften – wie Urs Zürcher in seiner Studie zur Teratologie des 18. und 19. Jahrhunderts betont – kaum mehr eine Bedeutung gehabt hätten, habe der lustvolle Blick auf das „polymorph Monströse“ im 20. Jahrhundert eine erneute Dominanz bekommen.13 Welche Transformationen und Verschiebungen lassen sich nachzeichnen, wenn die Bestimmungen von Monstrositäten in den Humanwissenschaften ihre Dringlichkeit verloren haben ?

Self“ manifestieren. Allerdings bedient sich Fiedler weiterhin medizinischwissenschaftlicher Kategorisierungen (vgl. Fiedler, Leslie: 1978). 13

Zürcher, Urs: 2004, 285. Nicht mehr die Teratologie organisiert die Bestimmungen des Monströsen mit Kategorien, die aus der Medizin oder Anatomie stammen, sondern das Monströse gewinnt – wie Yvonne Volkart betont – mit der bildenden Kunst der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts „erneut an Virulenz“. Sie stellt fest, dass hier „Figurationen abnormer, technoider Körper und Geschlechtsteile an Interesse gewinnen“ (Volkart, Yvonne: 2005, 519). Die bildlichen Inszenierungen der Monster können als technische Inszenierungen neuer Menschenbilder gelesen werden, aber auch als Entsprechungen eines „fehlgegangenen technologischen Fortschritts“ (ebd., 520). Sigrid Schade hat in einem Aufsatz betont, dass darauf geachtet werden müsse, dass die historischen Verbindungen und Formatierungen, die das Monster im 19. Jahrhundert mit der Medizin und Anthropologie bekam, nicht aus dem Blick geraten, wenn es aktuell in der Kunst darum geht, mögliche Erlösungsversprechen und alternative Subjektpositionen mit dem Monster aufzuzeigen (vgl. Schade, Sigrid: 1987, 254; vgl. auch Volkart, Yvonne: 2006, 80 f.).

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Was macht den Freak zum Ausstellungsobjekt und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit aus einer Abweichung eine Monstrosität wird? Freak und Monstrosität decken sich nicht vollständig mit den analytischen Kategorien von Identität, Geschlecht oder Ethnie. Vielmehr entfalten sie ihre Bedeutung in einem Zwischenraum traditioneller Analysekategorien. Der Freak und die Monstrosität provozieren Normverletzungen, sie fordern unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten heraus, sie haben einen Schauwert, sie schockieren und faszinieren. Sie verweisen auf unsere inneren Ängste. Sie erzeugen Affekte und Emotionen, die sowohl der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Neugier waren als auch eine ökonomische Ausbeutung auf Jahrmärkten ermöglichten. Es waren zwei Geschichten, die erzählt wurden: In einem wissenschafts- und einem kulturhistorischen Diskurs hatte die Literatur über Monstrositäten unterschiedliche Orte historiografischer Untersuchungen beansprucht. In diesen beiden Geschichten wurden die Begriffe der Monstrositäten und des Freaks den je eigenständigen disziplinären Aussagen zugeordnet und dahin gehend differenziert, dass es zum einen den Diskurs in der populären Kultur und zum anderen den Diskurs über die Verwissenschaftlichung des Monsters gab.14 Diese beiden Geschichten

14

Wie bereits in der Einleitung dargelegt wurde, wurden gerade im deutschsprachigen Raum in volkskundlichen Studien Freaks weiterhin als Einzelfälle und Kuriositäten beschrieben und die vielfältigen Überschneidungen mit wissenschaftlichen und kulturellen Diskursen nicht in den Blick genommen (vgl. Merkert, Jörn: 1978). Hingegen versuchen neuere Arbeiten die ökonomischen Strategien und die kommerziellen Interessen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext in den Blick zu nehmen (vgl. Wolter, Stefanie: 2004). Stephen Jay Gould vertritt in seinen Arbeiten die Haltung, dass die Repräsentationsstrategien auf der Vereinnahmung eines falschen Wissens basieren. Auch wenn er betont, dass Wissenschaft immer als eine gesellschaftlich verankerte Tätigkeit aufzufassen sei, bleibt er in seiner Kritik einer Auffassung von objektiver Wissenschaft verhaftet. Die Geschichte von Sara Baartman dient ihm als Beispiel, um zu zeigen, wie die Popularität der „Hottentottenvenus“ auf falschen Voraussetzungen von Wissen beruhe (vgl. Gould, Stephen Jay: 1995, 237 f.; zu Wissenschaft als gesellschaftlich verankerter Tätigkeit vgl. ders.: 1988, 13–24). Im Abschnitt 4.3.1 Geschichte einer afrikanischen Frau, die zur Ikone wurde werde ich auf die Frage, welche Kriterien und Fragestellungen eine historische Analyse der „Hottentottenvenus“ aufzunehmen hat, mit Arbeiten von Londa Schiebinger, Stuart Hall, Sander Gilman und unter

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sind in je unterschiedlichen wissenschaftlich-disziplinären Perspektiven lokalisierst und spalten sich entlang dieser Grenzziehungen auf. In den unterschiedlichen disziplinären Zugängen, die jeweils einen eigenen Gegenstandsbereich beansprucht haben, drohten die vielfältigen Überschneidungen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Vorstellungen in zwei Bereiche auseinanderzufallen. Beide Erzählungen sind jedoch Teil einer komplexen und vielfältigen Geschichte der Wissenschaften, des Körpers und des Geschlechterdiskurses. Eine Geschichte der Freakshows und eine Geschichte der Monstrositäten eröffnet eine Perspektive auf die komplexen Zusammenhänge von Wissenschaft und Gesellschaft. In beiden Geschichten kann gezeigt werden, wie sich die wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Codierungen des Körpers „zu einem konkreten historischen Zeitpunkt zueinander verhalten“15. Beide Geschichten sind Teil kultureller Praktiken. In ihnen zeigen sich die Ausschlussfunktionen und die Effekte von Diskursen. Der außergewöhnliche Körper wird nicht einfach gezeigt oder repräsentiert. In die Sichtbarkeit des anderen Körpers, in die Visualisierungsstrategien des Anderen mischen sich andere Funktionsweisen, die nicht in der Dichotomie von wissenschaftlicher Monstrosität und kulturellem Freak begründet liegen. Unter der Oberfläche einer offensichtlichen Differenz scheint es das Wesen von Monstrositäten und Freaks zu sein, sich unentwegt wesenlos zu zeigen. Monstrositäten und Freaks wurden an der Schnittstelle zwischen dem normalen, weißen, männlichen und dem anormalen, schwarzen, weiblichen Körper identifiziert und als morphologische Differenz entworfen. Die Aspekte der Seltenheit und Faszination liegen nicht in einer physiologischen Differenz begründet; der Körper ist vielmehr der Ort, an dem sich individuelle Abweichungen mit biologisierenden Argumentationen überkreuzen. Auch die Definitionen und Bedeutungen von Monstrositäten und Freaks lassen sich nicht auf physiologische Differenzen reduzieren, sondern sind Teil kultureller und gesellschaftlicher Vorstellungen über das Normale und damit auch ein politischer Diskurs über Identität. Identitätsdiskurse konstituieren Bereiche des Eigenen und Anderen, die mit der Figur des Monsters abgesichert und stabilisiert werden können. Zugleich verweist das Scheitern der begrifflichen Bestimmungen

Rückgriff auf die im Kontext der Postcolonial Studies geführten Debatten näher eingehen. 15

Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 35.

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von Monstrositäten auch auf eine Instabilität von Diskursen. Das Feld der Differenzen ist von einem konstitutiven Fehlschlag der Identitätsaussagen durchzogen. Eine Identitätspolitik bedient sich geradezu jener Monstrositäten, mit denen diese Instabilitäten des Eigenen abgesichert werden müssen. Zugleich unterlaufen Monstrositäten stets auch die in Identitätsbehauptungen enthaltenen Dichotomien und Differenzen. Mit Dichotomien wie Tier und Mensch, Kultur und Natur, Zivilisation und Atavismus, Mann und Frau werden wissenschaftliche Grenzziehungen kulturell verteidigt und stabilisiert.16 Im Spannungsfeld von Seltenheit, Schauwert und eindeutigen Klassifikationen wurden die uneindeutigen Identifizierungen von Monstrositäten und Freaks produziert, konstruiert und stetig inszeniert. Es sind die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Grenzziehungen, die in den kulturell und historisch bestimmten Ordnungsrastern diese beiden Geschichten miteinander verbinden. In beiden Geschichten fallen gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse der Ausgrenzung und Kategorisierungen der Zugehörigkeit und des Ausschlusses zusammen, zugleich sind sie nicht kausal miteinander verbunden, sondern weisen unterschiedliche Dynamiken auf. Wenn die wissenschaftlichen Wissensformationen von den populären Diskursen getrennt analysiert werden, läuft man nicht nur Gefahr, die komplexen Verbindungen von Wissenschaft und kulturellen Praktiken zu vernachlässigen, sondern auch diese politisch verteidigten sozialen Grenzziehungen zu reproduzieren. Im Rahmen einer Analyse der wissenschaftlichen Objekte und der Ausstellungsobjekte populärer Inszenierungen kann gezeigt werden, dass sich hier gesellschaftliche und wissenschaftliche Interessen abbilden lassen, die Teil einer politischen Epistemologie des Körpers im 19. Jahrhundert sind. Bruno Latour, der die in der Moderne hervorgebrachten wissenschaftlichen Grenzziehungen als kulturelle und politische Praktiken untersucht, schreibt:

16

Nina Lykke zeigt, dass die modernen Monster genau dort erscheinen, wo diese Grenzziehungen brüchig geworden sind. Auch Elisabeth Grosz betont, dass Freaks und Monster die Voraussetzungen, unter denen Identität beansprucht wird, brüchig machen und damit die an Normen festgemachten Anspruchshaltungen unterlaufen werden können (vgl. Lykke, Nina: 1996a, 15 f.; Grosz, Elisabeth: 1996, 56 f.).

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„Alle Fragen der Epistemologie sind Fragen der Gesellschaftsordnung, weil in letzter Instanz der soziale Kontext die Definitionen dessen enthält, was als gute Wissenschaft gilt.“17

Die Definitionen von Monstrositäten können demnach nicht unabhängig von den kulturellen und sozialen Praktiken analysiert werden. Im gleichen Sinne wäre diese Aussage auch im Hinblick auf eine historische Analyse der Freakshows relevant. Freakshows sind keine Praktiken der Schaumedizin,18 sie basieren nicht auf der Übertragung wissenschaftlicher Aussagen in den öffentlichen Bereich. In den Freakshows wird zwar das, was wissenschaftlich aussagbar oder nicht aussagbar ist, auf kulturelle Kontexte hin erweitert, aber man kann nicht von einer geradlinigen Übertragung wissenschaftlichen Wissens in den populären Raum sprechen.19 Freakshows sind – obwohl hier wissenschaftliches Wissen auf die kurioseste Weise angeeignet wurde – nicht einfach populärer Ausdruck

17

Latour, Bruno: 2008, 38.

18

Zürcher bezeichnet die Ausstellungspraktiken der Freakshows als eine Form der Schaumedizin. Dieser Begriff suggeriert, dass hier eine einseitige Übertragung wissenschaftlichen Wissens in den öffentlichen Raum stattfindet. Jedoch betont Zürcher, dass es sich hier nicht um einen linearen Prozess der Wissenschaftspopularisierung handelt, sondern dass die Verbindungen von Wissenschaft und Kultur in einem historisch-spezifischen Wissensraum vollzogen werden, in dem die dinglichen und imaginären Vorstellungen des Monströsen verteilt und angeordnet sind (vgl. Zürcher, Urs: 2004, 264). Für aktuelle Studien zur Wissenspopularisierung vgl. Schwarz, Angela: 1999; Kretschmann, Carsten: 2003; Daum, Andreas: 1998. Im Zusammenhang mit den Besprechungen von „Siamesischen Zwillingen“ durch Rudolf Virchow werde ich auf diese Problematik im Abschnitt 4.2 Plaudereien mit Monstrositäten näher eingehen.

19

Die Annahme einer Übertragung wissenschaftlichen Wissens in den öffentlichen Raum übersieht die Komplexität des Vermittlungsgeschehens und „bleibt in dieser Vorstellung ganz an der akademischen, der ‚eigentlichen‘ Wissensproduktion orientiert“ (Kretschmann, Carsten: 2003a, 9). Die ältere Forschung zur Wissenspopularisierung konnte damit keine Perspektive auf die Prozesse der Wissenskommunikation anbieten. In den aktuellen Debatten werden die bislang wenig beachteten Prozesse der Wissensverbreitung aufgegriffen und populäres Wissen wird nicht länger als ein bloßes Derivat wissenschaftlicher Diskurse betrachtet. Stattdessen wird

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guter oder schlechter Wissenschaft. Sie sind im Hinblick auf ihre Funktionsweise vielmehr als eine spezifisch-räumliche Verteilung von Begriffen, Theorien und kulturellen Vorstellungen zu betrachten. Auch in den wissenschaftlichen Aussagen über Monstrositäten ging man weit über das hinaus, was wissenschaftlich aussagbar war. Die wissenschaftliche Verfasstheit von Monstrositäten ist nicht auf eine analytische Differenz von wahrem und falschem Wissen zu reduzieren. Eine Geschichte der Monstrositäten und der Freaks ist eine Geschichte über Wissensformationen im 19. Jahrhundert, die festlegen, wovon gesprochen wird: von den Monstrositäten als wissenschaftlichem Objekt und von den Freaks als Ausstellungsobjekt. In den Funktionsweisen der Bedeutungen von Freaks und Monstrositäten zeigen sich diskursive Regularitäten, die nicht biologische Kriterien darstellen, sondern das Ergebnis naturalisierender und biologisierender Diskurspraktiken sind. Es sind die Momente sichtbar zu machen, in denen ein wissenschaftliches Instrumentarium für eine regulierende und diskursive Praxis von Abweichung, Normalität und Anormalität historisch wirksam wird. Monstrositäten enthalten ein Versprechen auf Erkenntniszuwachs und ein beunruhigendes Moment des Erkenntnisdefizits. Obwohl die wissenschaftlichen Formatierungen eine kulturelle und politische Dimension enthalten, lässt sich die Rolle der Wissenschaften nicht umstandslos auf gesellschaftliche Interessen und kulturelle Vorstellungsbilder übertragen. Philipp Sarasin und Jakob Tanner stellen diese Problematik heraus und schreiben: „Es gibt die Sprunghaftigkeit von Paradigmenwechseln, die nicht einfach mit den Bruchlinien gesellschaftlicher Entwicklungen parallelisierbar sind, und es gibt die Spezialisierungen der wissenschaftlichen Sprache und Techniken, die die scientific community bis zu einem gewissen Grade gegenüber anderen kulturellen Feldern autonom setzen. Es ist wahrscheinlich sinnvoll, sich im Bereich dieser Problematik nicht für das eine oder andere zu entscheiden, sondern die Frage als empirische offenzulassen, wie wissenschaftliche Eigenlogik und außerwissenschaftliche Codierung sich im Fall einer je bestimmten Wissenschaft zu einem konkreten historischen Zeitpunkt zueinander verhalten.“20

die gegenseitige Bedingtheit der Wissensproduktion in einem historischen Kontext von Wissenschaft und Gesellschaft in den Blick genommen. 20

Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 35.

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Zwischen den kulturellen und den wissenschaftlichen Feldern entstehen Bruchlinien, Spannungen und Differenzen. Dennoch stehen beide Bereiche in einem komplexen Zusammenhang und sind nicht nur historisch verbunden. Die Frage, welche Geschichte – die der Freaks oder die der Monstrositäten – zu schreiben wäre, kann letztlich nicht im Vorhinein entschieden werden. Zwar haben die Humanwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung sozialer Erklärungsmuster gespielt, aber dabei dürfen die Erfahrungslinien alltäglicher Vorstellungen nicht aus dem Blickfeld geraten. Die Faszination, die Neugierde und das Staunen waren zwar weiterhin ein wichtiger Impuls für die Repräsentation und Darstellung des Monströsen in der Moderne, mit dem Entwurf von anthropologischen Objekten entstand jedoch eine neue historische und epistemologische Ausgangslage. Auch wenn die Bedeutungen von Monstrositäten in wissenschaftlichen Kategorien zusammengefasst wurden, lassen sich hier kulturelle und politische Problemkonstellationen nachzeichnen. Obwohl es im 19. Jahrhundert zur Aufkündigung des traditionellen Monsterbegriffes kam, bereitet das Monster weiterhin Probleme. Wie Foucault schreibt, hat dieses Problem „das gesamte 19. Jahrhundert“21 wissenschaftlich beschäftigt. Inwieweit Affekte der Neugierde, des Staunens und der Faszination Resultate des wissenschaftlich Un-Fassbaren oder das Resultat wissenschaftlicher Praktiken sind, wird mit dem Prozess der Verwissenschaftlichung des Monsters erörtert. Im 19. Jahrhundert wurden Monstrositäten wissenschaftlich gefasst und festgestellt. Die affektiven Parameter populärer Beschreibungen mussten in den wissenschaftlichen Abhandlungen annulliert werden. Insofern gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlichen und kulturellen Vorstellungen, das sich entlang historischer Bruchlinien entfaltet.

21

Foucault, Michel: 2003, 78.

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2.2 VON DER R ATIONALISIERUNG DES M ONSTERS 19. JAHRHUNDERT: EINE K RITIK

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„Im Augenblick leben wir so, als gäbe es gar keine Monstren auf dieser Welt. […] Die Monstren haben wir ebenso erfolgreich ausgeschlossen wie die Toten oder die unheilbar Kranken.“22

Die Bestimmung dessen, was eine Monstrosität ist, ist historisch kontingent und wandelbar. Selbst dort, wo wissenschaftliche Erklärungen von Monstrositäten seit dem 18. Jahrhundert geleistet wurden, konnten sich Mediziner und Anatomen nicht auf eine einheitliche Definition einigen. In einer Perspektive auf die traditionellen Begrifflichkeiten des Monsters macht Daston deutlich, dass die Bedeutung von Monstrosität trotz des objektiven Blicks auf die Morphologie nicht allein auf Kriterien anatomischer und physischer Differenz beruhte. Daston zeigt, dass im 18. Jahrhundert die wissenschaftlichen Bestimmungen in Abgrenzung zum kulturellen Monster zu keinen eindeutigen Definitionen oder Klassifikationen geführt haben. „Im frühen achtzehnten Jahrhundert konnten sich Anatomen nicht einmal auf eine Definition und noch viel weniger auf eine Klassifikation des Monstrums einigen. Gegen jede Erklärung gab es kritische Einwände. […] Die Versuche zur anatomischen Erforschung der Monstren im frühen achtzehnten Jahrhundert waren nicht durch eine spezifische Theorie geeint, sondern nur durch den allgemeinen Untersuchungsrahmen.“23

Die Bedeutungen des Monsters sind nur im Zusammenhang mit den wissenschaftshistorischen und kulturellen Untersuchungsrahmen zu analysieren. Die Etablierung eines gemeinsamen Untersuchungsrahmens wurde seit dem 18. Jahrhundert zu einer dringenden Aufgabe der Wissenschaften.

22

Macho, Thomas: 1999, 146 f.

23

Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 241. Auch Javier Moscoso beschreibt in seiner Abhandlung über die Monstren des 18. Jahrhunderts die Schwierigkeiten, die sich bei den Versuchen der Definition und Festlegung des Monsters ergaben, „denn das Monster konterkarierte stets die harmonische Beziehung zwischen der natürlichen Ordnung und dem wissenschaftlichen Diskurs“ (Moscoso, Javier: 2005, 58 f.).

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Seit dieser Zeit zeigte man Monstrositäten nicht mehr nur in öffentlichen Räumen, sondern sie wurden auch zu Gegenständen anatomischer Diskurse. Historisch setzte damit eine Epoche der wissenschaftlichen Darstellung und Besprechung ein, die zu einer Aufkündigung traditioneller Repräsentationsformen des Monsters führte. Die Verschiebungen sind gekennzeichnet von einem neuen Denken über die Natur, das Leben und den Menschen. Welche Rolle spielen Monster in den modernen Wissenschaften und in den kulturellen Vorstellungen ? Entgegen der Annahme, dass in der Moderne die wissenschaftlichen Praktiken zu einem Verschwinden des Monsters geführt haben, wird argumentiert, dass gerade die modernen Humanwissenschaften zu einer Vervielfältigung und Diversifikation des Monsterbegriffes beigetragen haben. Am Monster verbinden sich Strategien von Identitätspolitik und Normalisierung. Mit der These, die Moderne habe die Monster abgeschafft, werden im Grunde die machtvollen Grenzziehungen und die historischen Konstellationen von Differenz und Identität als ahistorische Gegenstände bestätigt. An zwei Beispielen – den Überlegungen, mit denen das Ende der Freakshows erklärt wird, und der These, dass die Moderne keine Monster mehr kenne – sollen im Folgenden die jeweiligen Grundlagen dieser Haltungen reflektiert und kritisiert werden. Es wird argumentiert, dass die unterschiedlichen Bedeutungsverhandlungen in Wissen und Kultur nicht auf einen Rückzug des Monsters aus der Öffentlichkeit verweisen. Stattdessen könnten in ihnen die konstitutiven Bestandteile für die diskursive Erzeugung des Anderen dargestellt werden, die eine solche Selbstverständlichkeit bekommen haben, dass sie nicht hinterfragt werden. Die These, dass es in der Moderne keine Monster mehr gebe, ist nicht nur zu kritisieren, sondern es ist danach zu fragen, welche Haltungen von Wissenschaft und Populärkultur am Monster eingeschrieben sind. Erstens geht es in diesem Kontext um die Annahme, dass die Moderne zu einer Entzauberung monströser Phänomene geführt habe. Zweitens wird anhand eines Textes über das Ende der Freakshows die These diskutiert, ob sich eine kritische Perspektive auf die Zurschaustellung des (behinderten) Körpers ausschließlich mittels einer auf Moral und Ethik aufbauenden Argumentation erschließen lässt. Mit der Herausbildung einer auf demokratischen und humanistischen Prinzipien beruhenden Institutionalisierung des Schutzes behinderter Menschen seien die schockierenden Praktiken ihrer kommerziellen Ausstellung zum Zwecke der Ausbeutung vom sozialen Wohlfahrtssystem aufgefangen und damit beendet worden, so die These von Ulrich Bischoff.

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Am Beispiel der Freakshows will Bischoff zeigen, wie Menschen mit körperlichen Behinderungen ausgebeutet wurden. In diesem Erklärungsansatz werden Bilanzierungen von Ausschlüssen dargelegt und eine Geschichte der Freakshows wird im Rahmen eines Opferdiskurses erzählt, der heute durch gesellschaftlich regulierte Integrationsbestrebungen institutionell aufgefangen wurde: „Heute ist die unmittelbare Erfahrung mit monströsen Erscheinungen weitgehend aus unserer Welt verbannt.“24 Bischoff versucht, das Ende der Freakshows historisch zu fassen. Die Praxis der Freakshows des 19. Jahrhunderts lasse sich nicht mehr mit der aus den aktuellen politischen Debatten heraus entstandenen gesellschaftlichen Haltung gegenüber behinderten Menschen vereinbaren. Er folgt zum einen dem Leitmotiv der Herausbildung demokratisch begründeter moralischer Argumentationsweisen und zum anderen der Sichtbarmachung historischen Materials zur Sensibilisierung für Praktiken aus der Vergangenheit. Mit den Freakshows zeige sich ein längst überwundener und schockierender Umgang mit behinderten Menschen. Bischoff schreibt: „Unter dem vorstehenden Sammeltitel [Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei; Anm. d. Verf.] wird in dieser Abteilung Material vorgestellt und ausgebreitet, das einerseits uns allen in irgendeiner Weise bekannt ist, andererseits in seiner unmittelbaren Erscheinungsform soweit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt ist, daß wir bei der tatsächlichen Konfrontation in einer Weise betroffen sind, als ob wir nie zuvor von der Existenz dieses Phänomens etwas gewußt hätten. Diesem gesellschaftlich bedingten Erfahrungsentzug entspricht die Art und Weise, in der das hier ausgestellte Material bisher aufbewahrt bzw. vergessen und vernichtet wurde.“25

24

Bischoff, Ulrich: 1978, 193.

25

Bischoff, Ulrich: 1978, 178. Bischoff bezieht sich hier auf das zuvor von Scheugl veröffentlichte Buch Show Freaks und Monster, mit dem in den siebziger Jahren eine der ersten umfangreichen Materialsammlungen publiziert wurde. Scheugl vertritt wie Bischoff die These, dass man sich des historischen Materials aus akademischer Perspektive deswegen nicht angenommen habe, weil die Geschichte der Freaks wohl zu abseitig war, um sie in der Kulturgeschichte zu berücksichtigen. Bei Scheugl heißt es: „Die modernen Institutionen der westlichen Kultur erlauben es heute nicht mehr, behinderte Menschen als Freaks auszustellen, denn der wirtschaftliche Wohlstand des Westens erlaubt es heute fast jedem körperlich abnormen

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Es ist die Betroffenheit, die sich als unmittelbare Erfahrung aus der Beschäftigung mit vergessenen historischen Quellen ergibt. Bischoff verweist auf die Leidenswege der Menschen, die damals ausgestellt wurden. Die Auseinandersetzung mit den Ausstellungspraktiken des 19. Jahrhunderts bleibt auf der Ebene der Wiederaneignung des Materials stehen und dient einem ausschließlich historischen Interesse. Freakshows sind demnach ein Sonderfall der Geschichte. Das historische Interesse bezieht sich auf Einsichten darüber, wie im Schaugeschäft medizinisches Wissen vereinnahmt wurde.26 Aus heutiger Sicht interpretiert Bischoff die kommerziellen Praktiken der Vergangenheit als Formen falscher Aneignungen wissenschaftlichen Wissens, mit denen erfolgsträchtige Präsentationen des anderen Körpers in der Öffentlichkeit umgesetzt wurden. In dieser Perspektive verfestigt er den Opferstatus von Freaks. Es ist richtig, dass Freakshows, wie Bischoff ausführt, in dieser Tradition nicht weitergeführt wurden und dass die spektakulären Praktiken der Ausstellung behinderter Menschen, die letztlich dem kommerziellen Erfolg dienten, zu verurteilen und scharf zu kritisieren sind.27 Fraglich bleibt jedoch, ob eine kritische Argumentation auf der Fokussierung auf moralische Instanzen aufzubauen ist und sich in einem Schema von Opfer und Täter erschließen lässt.28 Bischoff bleibt einem historischen Modell verpflichtet, das sich der Geschichte der Freakshows im Rahmen einer

Menschen, einen Beruf nach seinen Vorstellungen zu wählen, was früher nicht möglich war“ (Scheugl, Hans: 1978, 21). 26

Bischoff, Ulrich: 1978, 192.

27

Adams betont, dass der symbolische Gehalt der Freakshows einen großen Einfluss auf Kunst, Fotografie und Literatur des 20. Jahrhunderts gehabt habe. Im 20. Jahrhundert würden zwar weiterhin Freakshows aufgeführt, aber die Organisatoren seien vertraut mit poststrukturalistischen Ansätzen und den historischen Debatten über Freakshows. „The freak show’s reappearance has been greeted with interest by scholars in the humanities and social sciences“ (Adams, Rachel: 2001, 2; vgl. auch ebd., 210 ff.).

28

Dieses Schema lässt sich bis in die Nischen moderner Medienkunst verfolgen. Wie Yvonne Volkart zeigt, wird in den künstlerischen Inszenierungen monströser Körper ausgelotet, inwiefern am Monströsen die als deviant verworfenen Zonen moderner Subjektverhältnisse sichtbar gemacht werden können. Sie veranschaulicht jedoch anhand aktueller Positionen zeitgenössischer Kunst, dass es nicht einfach darum gehen könne, Entstelltes und Verdrängtes sichtbar zu machen (vgl. Volkart, Yvonne: 2006, 73–120).

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fortschrittsgeleiteten Ideengeschichte annimmt. Mit ihrer Kritik an diesem teleologischen Modell der Geschichtsschreibung verweist Adams auf eine ganz andere Problematik und zeigt, dass die Zusammenführung von Freak und Behinderung zu kurz greife und letztlich keine Perspektive eröffne, mit der die Anspruchshaltungen jener Festschreibungen aufgebrochen werden könnten. „It would be a mistake to see institutions as the corrective to the freak show, for removing certain kinds of deviance from sight does not necessarily indicate a more human or progressive attitude towards disability.“29

Eine Argumentation, die sich den kategorialen Bestimmungen von Behinderung bedient, unterminiere die Tatsache, dass die Repräsentationsstrategien von Freakshows auf den vielfältigen Ausschlussmechanismen von Rassismus und Exotisierung beruhen, mit denen der Westen seine kulturelle Überlegenheit letztlich behauptet und inszeniert hat. Freakshows seien vor allem Konstruktionsstrategien für rassifizierte Subjektpositionen.30 Der exotisierende Modus der Inszenierungen sei zudem eine bestimmte Weise der Herstellung von Menschen als Ausstellungsobjekten. Für die Repräsentation außergewöhnlicher Körper bediente man sich bürgerlicher Normen und kultureller Tabus. Die Ausstellungsobjekte wurden als Figurationen des Andersseins funktionalisiert. Auch behinderte Menschen wurden nicht einfach ausgestellt, sondern in kommerziellen Arrangements als spektakuläre Objekte narrativ aufgeladen. Der Repräsentationsmodus der Exotisierung und des Spektakulären dient der Rekontextualisierung von Wissen. Die medialen Inszenierungen, die sich der Figurationen extremer Abweichung oder radikaler Fremdheit bedienten, sind historische Weisen der „Bestätigung und Verfestigung einer spezifischen Normalität in der Kultur der Betrachter“31. Mit der Argumentation von Bischoff sind die vielfältigen Überschneidungen von Identitätskonstruktionen des Eigenen und Anderen nicht in den Blick zu bekommen. Zudem ist das Ende der Freakshows nicht gleichbedeutend mit einem gesellschaftlich verbesserten Umgang mit Behinderung. Vielmehr müssen die kulturellen Normen als historisch verfasste Normen dekonstruiert werden und nicht in einer Haltung empirischer For-

29

Adams, Rachel: 2001, 15.

30

Vgl. Adams, Rachel: 2001, 31 ff.

31

Dederich, Markus: 2007, 101.

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schung weiterhin bestätigt werden. Die Kategorisierung von Behinderung als devianter Subjektposition wird in einem Modell des Fortschritts, wie Bischoff es vertritt, nicht aufgelöst oder problematisiert, sondern weiterhin für eine Kritik vorausgesetzt und als solche erneut reproduziert. Die Frage, wie und warum bestimmte Menschen zu kuriosen Objekten einer grenzenlosen Schaulust werden konnten, bleibt damit unbeachtet. Es sind gerade diese Kategorisierungen von Behinderung und Monstrosität, die als ein konstitutives Element für die Festschreibung des Freaks zu hinterfragen sind. Monströse Erscheinungen sind für Bischoff an den anderen Körper gebunden, der nun nicht mehr der Befriedigung visueller Schaulust ausgesetzt sei. In seinem Modell einer Geschichte der Institutionalisierung von Behinderung läuft Bischoff Gefahr, außergewöhnliche Phänomene als Gegensatz zum körperlich Normalen fortzuschreiben und als ahistorische Differenz zu bestätigen. Wie Dederich schreibt, haben ethisch motivierte Inklusionsangebote von Behinderung nicht die „verankerten Tendenzen zur systematischen Ausgrenzung, Benachteiligung und teilweise sogar Verfolgung und Vernichtung behinderter Menschen“ beheben können, sondern tragen vielmehr selbst zur „Ausformung neuer Exklusionsbereiche in der Gesellschaft bei“32. Auch Hagner verweist auf die Gefahren einer „moralisch begründeten Verabschiedung von Monstrositäten aus der Öffentlichkeit“33. Eine ausschließlich auf moralischen Argumenten aufbauende Kritik mag gerechtfertigt sein, jedoch ist damit noch keine Perspektive auf Materialisierungs- und Naturalisierungspraktiken eingeführt, die konstitutiv für vielfältige Repräsentationsstrategien von Andersheit sind. Die Freakshows waren nicht einfach Orte, an denen abweichende Körper öffentlich gezeigt wurden, sondern sie offenbarten Funktionsweisen der Inszenierungen des Anderen, die bis heute als wirksame Parameter in unterschiedlichen Medienformaten ihre Anwendung finden.34

32

Dederich, Markus: 2007, 10.

33

Hagner, Michael: 2003, 60.

34

So stellt Joshua Gamson eine historische Verbindung zwischen den gegenwärtigen Talkshows und den Freakshows her und untersucht die Konstellationen von Geschlecht, „Rasse“ und Klasse, um die Verschiebungen und Transformationen ihrer Bedeutungen zu erörtern (vgl. Gamson, Joshua: 1999). Auch Matthias Thiele hat mit einer Analyse von Boulevardmagazinen gezeigt, wie in aktuellen Fernsehformaten die alltäglichen Erfahrungen einem statistischen und Expertenwissen gegenübergestellt werden. Normalität wird medial über die gleichzeitige Präsenz von Monstrositäten

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Was Bischoff als historische Zäsur formuliert, ist für Thomas Macho die Signatur der modernen Kultur überhaupt. Seit der Aufklärung hätten die Wissenschaften dem Monster die Kraft des Schreckens, des Unheimlichen und des Unvertrauten genommen. Was übrig bleibe, sei ein entzauberter Begriff des Monsters, der völlig im wissenschaftlichen Raum aufgegangen sei. Die Moderne kenne keine Monster mehr, weil alles entzaubert sei. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Macho geht davon aus, dass die Wissenschaften seit der Aufklärung das Monster völlig vereinnahmt haben. Der konstitutive Blick auf das vielfältige und spontane Monster sei von der Totalität der rationalisierten Wissenschaften liquidiert worden. Mit dieser These versucht Macho zwar am Monster ein kritisches Potenzial für die Vielfalt des Humanen zu entwickeln, aber er übersieht dabei die historischen Variabilitäten, mit denen die unterschiedlichen Definitionen des Monströsen erzeugt wurden, die letztlich zu neuen Marginalisierungen und Stigmatisierungen beigetragen haben. Weder sind die Bedeutungen völlig von den Wissenschaften vereinnahmt worden noch sind sie einer für immer festgelegten Definition unterworfen. Mit der Behauptung der totalen Vereinnahmung des Monsters durch ein rationalisiertes Wissen werden die unterschiedlichen Definitionen und Marginalisierungen historisch nicht mehr fassbar. Im Augenblick, schreibt Macho, würden wir in einer Welt leben, in der das Monströse nicht mehr existiert. Dieser Augenblick ist die Moderne. Durch die wissenschaftlichen Erklärungen wurden die Existenz und der Reiz des Monsters aufgekündigt. Diesen Verlust sieht Macho als symptomatisch für den Verlust einer kritischen Position an, die den Bezug zu dem, was wir sind, völlig aufgegeben habe. Nur die lebendige Existenz ist zugleich auch monströs, so, als „wäre Lebendigkeit auch stets ein wenig verschwistert mit Monstrosität“35. Das Lebendige und das Monströse werden hier zusammengebracht und als dem Leben inhärente Phänomene gedeutet.36 Sie sind Teil menschlicher Existenz und können gerade nicht

in „Erscheinung gebracht, ausgestellt und narrativiert“ (Thiele, Matthias: 2007, 108, 117). 35 36

Macho, Thomas: 1998, 37. Im Abschnitt 3.4.3 Monstrositäten als lebendiges Phänomen und als verworfene Zone wird mit Canguilhem im Hinblick auf die Wissenschaften des Lebens erörtert, wie das Monströse als Potenzial des Lebendigen aufgefasst werden kann. Als verworfene Zone wissenschaftlich-methodischer Diskurse dient das Monströse hier als Kritik an einer wissenschaftlichen Auffassung

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auf eine wissenschaftliche Erklärung reduziert werden. Die Aufklärung habe den Versuch unternommen, die lebendige Existenz wissenschaftlich zu verdinglichen, und habe damit zu einem Verlust der Vielfalt in einer ehemals lebendigen Welt beigetragen. In dieser Perspektive bleibt das Monströse nur noch als wissenschaftliches Objekt existent. Auch wenn Macho damit den Prozess der Verwissenschaftlichung kritisiert, so bleiben doch die Definitionen von Monstrositäten in einem Korsett wissenschaftlicher Geschichtslosigkeit gefangen. Es scheint, als müsste die Vielfalt des Lebens gerade mit der Figur des Monsters wieder zurückgeholt werden. Damit wird das Modell repressiver Machtausübung funktionalisiert. Macho definiert Macht durch ihre Ausschluss- und Unterdrückungsfunktion.37 Wenn die verschiedenen Bedeutungen dessen, was auch in der Moderne als Monstrosität beschrieben und verhandelt wurde, nicht in den Blick genommen werden, so werden die Grenzziehungen und Gegenstandsbereiche diskursiver Produktionen reproduziert. Im Umgang mit dem Monströsen, mit dem Tod und mit der Leiche zeigen sich für Macho kulturelle Praktiken, die er von der Antike bis in die Moderne verfolgt. Bis zur Aufklärung sieht Macho im Umgang mit dem Tod einen Verweis auf das Lebendige selbst. Der Tod und die Leiche sind zwar nicht mehr identisch mit dem Leben, aber der Tote ist immer auch an das Leben, welches er nicht mehr hat, gebunden. Damit gibt die Leiche ein Rätsel zur Anschauung, was „sich nicht umstandslos ‚lösen‘ läßt.“38 Weder sei die Leiche ein vom Leben völlig entleertes

vom Leben. Die Perspektive, die Canguilhem im Hinblick auf das Monster einnimmt, kann als ein Verweis auf eine Kritik der zunehmenden Technisierung und Verwissenschaftlichung des Menschen aufgefasst werden. Auch wenn Canguilhem zunächst mit der Monstrosität eine ähnliche Kritik wie Macho formuliert, besteht der wesentliche Unterschied beider Ansätze darin, dass Canguilhem keinen großen Entwurf einer Kritik an der Moderne im Sinne hatte, sondern seine Argumentation anhand von historischen Materialien aufbaut. 37

Vgl. Foucault, Michel: 1997a, 9–23. Foucault erörtert zu Beginn des ersten Bandes von Sexualität und Wahrheit die Repressionshypothese und analysiert diese als einen „Diskurs über die moderne Unterdrückung“ (ebd., 14). Damit ist die Auffassung einer ausschließlich auf Repression und Ausschluss beruhenden Macht des Sexes selbst ein machtvoller Diskurs und damit eine Funktionsweise von Macht.

38

Macho, Thomas: 1998, 28.

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Ding noch sei der Tote identisch mit seinem Vorgänger. Diese unlösbare Differenz habe bis zur Aufklärung die kulturellen Praktiken mit dem Tod bestimmt. Im ‚Projekt der Moderne‘ seien der Tod und die Monstrosität nur noch wissenschaftliche Dinge. Im Ergebnis dieser wissenschaftlichen Verdinglichung hätten nun sowohl das Monstrum als auch der Tod ihren Schrecken verloren. Die Wissenschaften in der Moderne hätten somit auch die konstitutive gesellschaftliche Funktion des Monsters aufgekündigt.39 In der griechischen Antike seien gerade der Erfindungsreichtum fantastischer Visionen und die ungeheure Vielfalt des Monströsen bedeutungsvoll. Diese Schreckensgestalten, die Missgeburten und die Monster der Antike verweisen auf eine lebendige Differenz zwischen den vollkommenen Idealen und den Verfehlungen der Menschen, wie Macho schreibt. In den Schönheitsidealen seien zugleich die konstitutiven Elemente des Monsters angelegt; darin zeige sich, dass die antike Kultur noch auf einer „Hochachtung der lebendigen Individualität“40 beruhe. Das Monströse ist bei Macho Zeichen einer lebendigen Differenz und somit konstitutiv für das Humane und für einen Umgang mit dem Fremden. Kulturen, die ihr Zusammenleben über Bekanntschaft regeln müssen, seien auf eine Differenz zwischen Nachahmung und Ideal nicht angewiesen. In diesen Kulturen brauche man noch keine Monster, weil der Umgang mit dem Fremden nicht an das geglückte Zusammenleben mit anderen Menschen gebunden sei. In einer Kultur, in der das Eigene stets zu einer Begegnung mit dem Fremden aufgefordert werde, entstehe die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Reglung des Umgangs mit dem Anderen oder dem Fremden. In diesem Moment des Übergangs in eine zivile Gesellschaft sei – so Macho – der friedvolle Umgang mit dem Fremden auch Ausdruck einer gelebten Erfahrung mit dem Monströsen. Das Monströse ist als Figur, wie Macho sie versteht, gelebter Ausdruck und Erfahrung von Differenz und zugleich die notwendige Bedingung für die Idee des Humanen. Die Fruchtbarkeitsstatuen der paläolithischen Gesellschaften – wie beispielsweise die Venus von Willendorf – seien „ganz und gar nicht monströs“41. Die Idee des Humanen trete nur dort auf, wo sich Menschen ihrer Zugehörigkeit und den Anforderungen von Idealen versichern müssen. Das Monströse erscheine in verschiedenen Spielarten und verdichte sich dort, wo die Differenz zwischen Nachahmung und

39

Vgl. Macho, Thomas: 1998, 28.

40

Macho, Thomas: 1998, 34.

41

Macho, Thomas: 1998, 35.

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idealem Vorbild noch in ihrem ganzen Spektrum wirksam ist. Die Moderne sei geprägt von dem Verlust des Monströsen, der Krankheit und des Todes. Es ist der Verlust, der sich auch in unseren Selbstverhältnissen niederschlägt, denn wir haben „den Kontakt zu jenen wirklichen Fremden, die uns schockartig mit der Frage nach uns selbst konfrontieren“42, längst verloren. Macho betont, dass die Ideen des Humanen in ihrer Differenz zum Monströsen nur wieder wirksam werden würden, wenn wir uns „als freie Lebewesen: liebenswert und grauenerregend zugleich, – göttlich, tierisch, menschlich und monströs“43 – entwerfen. Das Selbst und das Andere sind konstitutive Kulturtechniken der Fremdwahrnehmung, die in der Argumentation von Macho zugleich auch die Freiheit des Eigenen bedingen. Für Macho ist der Verlust des Monsters mit der totalen Entleerung menschlicher Selbstverhältnisse verknüpft. Monstrositäten sind nur als wissenschaftlich vermittelte Dinge sichtbar. Schrecken, Staunen und Verfehlung sind seit der Aufklärung durch die wissenschaftliche Vereinnahmung des Lebendigen aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil alles wissenschaftlich erklärbar geworden sei. Unter dem Diktat des Immergleichen wird jede Form von Verfehlung und Differenz, die Teil unserer Identität sind, aufgekündigt. Mit der Annahme einer völligen Entzauberung setzt Macho die heutige Kultur mit Wissenschaft gleich und reduziert das, was der Mensch sei, auf die Totalität wissenschaftlichen Wissens. Diese Totalität sei der Sieg wissenschaftlichen Wissens als eine nun alles durchdringende Kraft, die die durch Verfehlung und immer auch monströs bestimmten Selbstverhältnisse in den wissenschaftlichen Räumen gefangen hält.44 Laut Macho macht die Verwissenschaftlichung nicht vor dem Monströsen halt, sondern setzt sich in der Verwissenschaftlichung unserer Selbstverhältnisse fort. Seit der Aufklärung sind die Bedeutungen von Monstrositäten Bestandteil wissenschaftlicher Diskurse, aber diese Bedeutungen werden in ganz unterschiedliche Kontexte verschoben, erweitert und transformiert und lassen sich mithin nicht in einer seit der Antike bis heute kontinuierlich verlaufenden Geschichte veranschaulichen. Wie Hagner dargelegt hat, kam es seit dem 18. Jahrhundert zu einer Verschiebung der Verhandlungen über das Monströse in die wissenschaftlichen Räume. Diese Transformation lässt sich jedoch nicht als ein Prozess be-

42

Macho, Thomas: 1999, 143.

43

Macho, Thomas: 1999, 147.

44

Vgl. Hagner, Michael: 2003, 60.

62 | ZUR GESCHICHTE DER MONSTER UND MONSTROSITÄTEN

schreiben, der sich ausschließlich aus den wissenschaftlichen Praktiken entwickelte. Zwar übernehmen die Wissenschaften seit der Aufklärung eine exklusive Rolle für die Bestimmung von Identitätsverhältnissen, aber zugleich lassen sich zahlreiche Überschneidungen und Verschiebungen beobachten. Hagner schreibt: „Monstrositäten sind in den gelehrten Räumen seit langem zu Hause. Das sollte aber nicht zu der Illusion verleiten, man habe damit ein teuflisches und zauberisches Totenbild ein für alle Mal entzaubert. Diese Vorstellung mag im 18. Jahrhundert ihre Berechtigung gehabt haben, heute wirkt sie unangemessen, weil inzwischen klar ist, dass die Definition von Monstrositäten und der Umgang mit ihnen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen kulturellen Räumen ein feiner Seismograph für historische Entwicklungen und Fehlentwicklungen ist.“45

Die Dominanz der Wissenschaften am Begriff der Monstrosität zu veranschaulichen, ist nur ein Teil der Geschichte. Diese Auffassung der Verwissenschaftlichung sollte eben nicht dazu verführen, dass die Differenzen von Ideal und Verfehlung ein für alle Mal wissenschaftlich festgelegt sind, sondern sie hängen konstitutiv mit dem Entwurf vielfältiger und kontingenter Differenzierungsstrategien des Eigenen und Anderen zusammen. Zwischen dem Ideal und der Verfehlung existiert eine Differenz, die sich historisch unterschiedlich darstellt und immer an Formen von Ein- und Ausschlüssen gebunden ist. Zwar lassen sich die am Monster festgemachten Vorstellungen vom Leben, vom Humanen und von der Natur in wissenschaftlicher Hinsicht aufzeigen, aber sie sind als komplexe Funktion von Wissen und Kultur immer an der Schnittstelle zwischen kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken zu analysieren. Eine Perspektive, die den wissenschaftlichen Raum als unanfechtbar bestehen lässt, ist gleichzusetzen mit dem totalen Verlust von Geschichte, mit einer Geschichtslosigkeit, die die verschiedenen Bedeutungen von Monstrositäten nicht mehr in den Blick bekommt und die kulturellen Veränderungen sowie den Wandel der Bedeutungen unbeachtet lässt. Im 19. Jahrhundert haben die Vorstellungen von Normalität, Identität und Kultur zu einer Vervielfältigung der Bedeutungen von Monstrositäten

45

Hagner, Michael: 2003, 60. Auch wenn Hagner an dieser Stelle nicht explizit auf Macho eingeht, kann dieses Zitat als eine Antwort auf die von Macho formulierte Kritik an der allumfassenden Totalität wissenschaftlicher Diskurse gelesen werden.

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geführt. Im Diskurs der bürgerlichen Identität bzw. der kulturellen Normalität werden die Monster der Moderne erschaffen, wie Sarasin schreibt: Dort, „wo die Identität des weißen Mannes beschrieben werden soll, tauchen Monster auf, ja sie wachsen aus der Brust der weißen Männer – furchterregende Deformationen des Körpers, die Fratze eines monströsen Anderen“46. Sarasin betont die historische Konvergenz des Monsters mit den modernen Identitätsbehauptungen des 19. Jahrhunderts, die mit Kategorisierungen von Geschlecht, Nationalität und Ethnie verknüpft werden. Sie sind zentraler Bestandteil einer neuen Epistemologie des Körpers und Teil kultureller Identitätsdiskurse. An dieser Schnittstelle werden im 19. Jahrhundert die Bedeutungen von Monstrositäten verhandelt, erzeugt und als Gegenstände des Wissens entworfen. Die Wissenschaften haben keineswegs zu einem Verschwinden des Monströsen geführt, sondern am Monster werden naturalisierte und biologisch begründete Argumentationen des Andersseins festgemacht, die als kulturelle Differenzen konstitutiv für Vorstellungen von Geschlecht, Körper und Normalität sind. Gerade die Differenzierungen, die zur Bestimmung und Herstellung des Anderen führten, fanden ihre epistemologisch-dynamische Erweiterung in der Entstehung der modernen Wissenschaften vom Leben. Nicht der Verlust des Monsters sollte beklagt werden, sondern die Vervielfachung der Bedeutungsfelder des Monströsen als Bedrohung, Gefahr und Unwert bedarf in ihrer spezifisch-historischen Konstellation einer Erklärung. „Wir müssen andere einordnen“, schreibt Sander Gilman, „um jene inneren Ängste aufzuheben, die unser Selbstwertgefühl bedrängen. Indem wir diese Ängste an scheinbar greifbar äußeren Eigenschaften festmachen, können wir eine klare Grenze ziehen zwischen uns und denen.“47 In die Differenz des Eigenen und Anderen schiebt sich die Angst als eine affektvolle Aufladung, mit der die Grenzen zwischen dem Eigenen und Anderen an den äußeren Erscheinungen des Körpers gezogen werden. Das Andere erhält somit seine Bedeutung niemals aus sich selbst heraus, es ist weder selbstreferenziell noch ergibt es sich aus der Bedingtheit äußerlicher Eigenschaften, die gewissermaßen als eine verborgene Struktur bestehender Materialität zu verstehen wäre. Auch Monstrositäten sind nicht in einer Geschichtslosigkeit wissenschaftlicher Erklärungen gefangen. Vielmehr kommt es in der Moderne zu einer wissenschaftlichen und populären Dynamisierung. Mit der Verknüpfung

46

Sarasin, Philipp: 2001, 208.

47

Gilmann, Sander L.: 1992, 119.

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von biologischen mit sozialen Konzepten werden individuelle Merkmale, die mal monströs, mal pathologisch oder normal sein können, sozial wie kulturell bedeutsam und ermöglichen machtvolle Selbstbehauptungen. Die Neuordnungen und Klassifizierungen führen zu einer sprunghaften Diskursivierung des Monströsen, weil ihm „eine Beunruhigung des Lebens und eine ständige Bedrohung von Ordnungsmustern“48 anhaftet. Zu einer Gefahr der bürgerlichen Ordnung stilisiert, kam den Monstrositäten eine zentrale Bedeutung für die biologischen und natürlichen Erklärungen des gesellschaftlichen, kulturellen und geschlechtlichen Andersseins zu. Diese historischen Veränderungen lassen sich nicht ausschließlich in einer Perspektive auf die Wissenschaften aufzeigen, sondern spiegeln die kulturellen Wahrnehmungen und Organisationsprinzipien wider. Monstrositäten sind konstitutive Elemente normalitätsstabilisierender Diskurse moderner Gesellschaften. Das Monströse ist nicht per se eine marginale Erscheinung oder eine Grenzfigur, sondern unterliegt in dieser Bedeutung einer diskursiven Produktivität des Definitionsprojektes der Moderne. Weder sind Monstrositäten einfach nur randständige Phänomene, die seit dem 18. Jahrhundert in einem Spezialdiskurs der modernen Humanwissenschaften zusammengefasst werden, noch haben die Aufklärung und die Rationalisierung der Moderne sie zum Verschwinden gebracht. Monster werden unablässig an den dynamischen Zonen wissenschaftlicher Grenzziehungen zwischen dem Humanen und Nichthumanen, der Natur und Kultur, des Weiblichen und Männlichen sowie des Normalen und Anormalen produziert. Das Monster der Moderne ist nicht verschwunden, sondern wird im 19. Jahrhundert als Prinzip der Erkennbarkeit jeglicher Abweichungen wirksam.49

48

Dornhof, Dorothea: 2005, 261.

49

Vgl. Foucault, Michel: 2003, 78.

V OM M ONSTER

ALS

WUNDER

ZU

M ONSTROSITÄTEN

ALS

WISSENSOBJEKTEN

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2.3 VOM M ONSTER ALS WUNDER ZU DEN M ONSTROSITÄTEN ALS WISSENSOBJEKTEN „Ich weiß nicht, haben Sie meine ‚de monstris epistola‘ gelesen oder nicht; inzwischen habe ich darin ohne Bedenken die allgemeine Gleichgültigkeit gegen echte Mißgeburten gerügt und es frei heraus gesagt, wie man Wesen vernachlässigt, die uns am ersten die organischen Baugesetze eben durch ihre Abweichungen gotischer Bauart lehren können – gerade die Weise, wie die Natur zufällige Durchkreuzungen und Aufgaben (z. B. zweier Leiber mit einem Kopfe) doch organisch aufzulösen weiß, dies belehrt.“50

Im Anschluss an die im vorangegangenen Abschnitt dargestellte These, dass Monstrositäten im 19. Jahrhundert eine konstitutive Rolle in kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken spielten, sollen im Folgenden die Verschiebungen und Transformationen dargestellt werden, mit denen Monster Teil der natürlichen Ordnung und Objekte des Wissens wurden. Zunächst wird gezeigt, wie die bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts wirksamen religiösen und wissenschaftlichen Wissensbestände differenziert wurden, um dann mit Ausführungen von Denis Diderot die Funktionen von Monstrositäten für ein Denken über die Ordnung der Natur zu erörtern. Es wird gezeigt, dass es im 18. Jahrhundert zu einer Differenzierung zwischen den moralischen Konnotationen des Monsters im populären Diskurs und den Naturalisierungen von Monstrositäten in den Wissenschaften kam. Aber auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde über Monstrositäten und Monster an den Schnittstellen zwischen moralischer Aufladung und wissenschaftlicher Objektivität geschrieben. In dem Roman Dr. Katzenbergers Badereise lässt Jean Paul seinen Protagonisten die „allgemeine Gleichgültigkeit“51 gegenüber Missgeburten anklagen. Mit dieser Ansicht wird nicht nur ein ungenügendes Interesse an außergewöhnlichen Phänomenen angesprochen, sondern für den Arzt Dr. Katzenberger sind Missgeburten Wissensobjekte, mit denen Aussagen

50

Jean Paul: 1928, 51.

51

Jean Paul: 1928, 51.

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zur Ordnung der Natur und über den Bau der Organe gemacht werden können. Seit der Aufklärung waren Monster Teil der Natur und wurden im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses über den menschlichen Körper verhandelt. Bis zum 18. Jahrhundert gehörten Monster, die sich nicht mit den Auffassungen der göttlichen Schöpfungslehre vereinbaren ließen, einer fremden Ordnung an. Wie Moscoso gezeigt hat, kam es im 18. Jahrhundert zu einem Prozess der Transformation und Verschiebung vom Begriff des Monsters hin zu einer zunehmenden Naturalisierung der Monstrositäten.52 War das Monster bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch mit dem Begriff des Wunders und der Einzigartigkeit verbunden, kündigten die wissenschaftlichen Praktiken seit dem 18. Jahrhundert diese Bedeutungen auf. Im Übergang von der Darstellung von Einzelfällen über die Herstellung der Glaubwürdigkeit hin zur Konstruktion jener Monster, „die nach den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses“53 Bedeutung erlangten, wurden Monster zu Monstrositäten. Sie waren Gegenstände von wissenschaftlichem Interesse.54 Das frühere Monster war ein moralischer Gegenstand, mit dem man sich auf eine außergewöhnliche Geburt,

52

Moscoso, Javier: 2005, 58. Moscoso übernimmt diesen Begriff von Georges Canguilhem (vgl. ebd., 58, Fn. 4 sowie Canguilhem, Georges: 1992, 178).

53

Moscoso, Javier: 2005, 69.

54

Vgl. Lorenz, Maren: 1998, 92. Im 18. Jahrhundert galt das Interesse den seltenen Fehlbildungen, um an ihnen Aussagen über den Normalzustand zu machen. Maren Lorenz hat gezeigt, wie dieses wissenschaftliche Interesse auch zur Einführung neuer Gesetze geführt hat und eine juridische Regelung für Monstrositäten auf staatlicher Ebene bewirkte. So wurden Hebammen angewiesen, Geburten von stark fehlgebildeten Neugeborenen zu melden. Die Embryos sollten zu wissenschaftlichen Zwecken anatomischen Instituten zur Verfügung gestellt werden. Anhand historischer Quellen hat Lorenz gezeigt, wie durch die staatliche Regulierung der gesellschaftliche und wissenschaftliche Umgangs mit Monstrositäten, der allerdings auch zu zahlreichem Widerstand der Bevölkerung führte, miteinander verschränkt wurden. So galt elterliche Fürsorge und Liebe durchaus auch fehlgebildeten oder behinderten Kindern. Zudem bestanden Eltern auf einem Begräbnis ihrer Kinder. Es bedurfte also rechtlicher Paragrafen, mit denen die Meldepflicht und die Abgabe von deformierten Kindern geregelt und unter Androhung von Strafe durchgesetzt wurden. In Russland führte Zar Peter der Große im Jahr 1718 einen sogenannten „Monster-Erlaß“ ein, dem auch Preußen einige Jahre später folgte (vgl. hierzu Hagner, Michael: 2005b, 80).

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auf unzüchtige Umstände der Zeugung oder das ausschweifende Leben der Mutter berief. Es wurde unterschieden zwischen einer natürlichen, gelungenen Geburt, die sich in der wohlgeformten Gestalt des Kindes spiegelte, und der unnatürlichen Geburt. Kranke, abnorme und missgestaltete Kinder waren zugleich auch Zeichen moralischer Verfehlungen, die sich im Antlitz des Kindes manifestierten. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurden mit dem Monster noch natürliche von widernatürlichen Geburten geschieden.55 Die widernatürliche Herkunft des Kindes war eine Verschmelzung heterogener und disparater Körperteile, wie sie in den mittelalterlichen Bildern von Pferdemenschen oder Fischmenschen dargestellt wurden. In dieser Tradition war das Monster ein hybrides Wesen. Im christlichen Erbe war das Monster ein schicksalhaftes und sündiges Zeichen einer dämonischen Macht und stand immer außerhalb natürlicher Ordnungsvorstellungen.56 Wie Ende des 16. Jahrhunderts von dem

55

Vgl. Moscoso, Javier: 2005, 56 ff., 72.

56

Vgl. Dornhof, Dorothea: 2005, 259. Dornhof unterscheidet die natürliche Geburt als Zeichen von Unschuld von der widernatürlichen Geburt als Zeichen von Sünde. In der Aufklärung sei diese Differenzierung durch die Verwissenschaftlichung des Monströsen, die die Faszination am Außergewöhnlichen jedoch kaum trübte, aufgekündigt worden. Mit den moralischen Definitionen des Monsters seien die alten Traditionen des Begriffes – so die Argumentation von Dornhof – aber auch weiterhin aufrechterhalten worden. Dornhof geht es darum, die Prozesse der Stigmatisierung für einen Diskurs über das Geschlecht in den Blick zu bekommen. Auch der wissenschaftliche Umgang mit Monstrositäten habe die moralischen Bedeutungen weiterhin konfiguriert. Allerdings übersieht Dornhof in dieser Argumentation, dass die diskursiven Prozesse der wissenschaftlichen Erfassung von Abweichung und Monstrosität den wissenschaftlichen Gegenstand erst hervorgebracht haben, an dem dann die machtvollen Zäsuren der Stigmatisierung greifen konnten. Eine Analyse von Stigmatisierungen muss somit jene Diskurse untersuchen, in denen die Materialität des Monströsen erst hervorgebracht wird. So unterliegt Dornhof mit dieser Argumentation der Gefahr, das Monströse per se als Bedrohung zu stilisieren und die vielfältigen Materialisierungsstrategien nicht in den Blick zu bekommen. Dornhof schreibt, dass gerade diese Stigmatisierungen zu einer neuen Figuration „naturdämonischer Existenzen führen konnte, die den Platz der alten bedrohlichen Monster wieder einnehmen“ (ebd., 262). Insofern knüpft sie hier an die alten Figurationen des Monsters an. Es gelingt ihr daher nicht, die konstitutive Funktion von Monstrositäten

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französischen Chirurgen Ambroise Paré beschrieben, wurden Monster als Zufälle und Krankheiten verstanden, die wie ein plötzliches Ereignis in den Körper eindringen konnten. „Monsters are things that appear outside the course of Nature (and are usually signs of some forthcoming misfortunes) such as a child who is born with one arm, another who will have two heads, and additional members over and above the ordinary. Marvels are things which happen that are completely against Nature as when a woman will give birth to a serpent, or to a dog, or some other thing that is totally against nature.“57

Bei Paré ist das Monster eine ungewöhnliche Erscheinung außerhalb einer natürlichen Ordnung. Das Wunder hingegen stellt sich gegen die Natur und ist keine Erscheinung, sondern ein Ereignis. Im Vorwort seines Werkes über Wunder und Monster führt Ambroise Paré zahlreiche Beschreibungen und Beispiele an. In den Abbildungen von Paré sind Monster als hybride Gestalten dargestellt, an denen sich Vogelfüße und Nixenschwänze statt menschlicher Füße oder Beine zeigen. Paré, der die Kenntnisse über und die Darstellungen von Monstern seiner Zeit zusammengefasst hat, berichtet aber auch von anatomischen Fehlbildungen, die als körperliche Deformationen durchaus keine Fantasieprodukte waren. Vertraut mit den antiken Schriften von Aristoteles, Galen oder Plinius, trug Paré alle verfügbaren Berichte und Quellen in einem voluminösen Kompendium zusammen. Wunder und Monster, an deren Existenz man nicht zweifelte, wurden nach ihrer äußeren Gestalt unterteilt. Zugleich wurden hier auch immer Erklärungen bereitgestellt, um die Ursachen der Geburt von Monstern zu erkennen. Dreizehn Gründe führt Paré an. Der Zorn und die Allmacht Gottes bilden die schwerwiegendsten Gründe für die Entstehung von Monstern. Aber auch naturwissenschaftliche Erklärungen wurden angeführt, zum Beispiel erbliche Krankheit oder ‚schlechter Samen‘. Sowohl religiöse als auch wissenschaftliche Gründe werden von Paré mithin für die Ursachen der Entstehung von Monstern herangezogen.

für gesellschaftliche und wissenschaftliche Prozesse der Normalisierung historisch zu erfassen. 57

Paré, Ambroise: 1982, 3. Im Folgenden werde ich mich auf die 1984 neu gestaltete und publizierte Ausgabe beziehen. Paré hatte seine Studie Des Monstres et prodiges im Jahr 1573 veröffentlicht.

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Wie der Teratologe Gert-Horst Schumacher in seiner von einer fortschrittsgeleiteten Perspektive bestimmten Kulturgeschichte des Monsters im Jahr 1996 schreibt, seien in dem Werk von Paré „Ansichten der antiken Medizin mit theologischem und abergläubischem Gedankengut vermischt“58 worden. Bemerkenswert hingegen findet Schumacher, dass Paré die Vererbung als ursächlichen Faktor nannte. Das heißt, der Teratologe des 20. Jahrhunderts erkennt in dem Werk von Paré auch die wissenschaftliche Leistung und das Wissen des Chirurgen aus dem 16. Jahrhundert an. In Schumachers Darstellung der zunehmenden Verwissenschaftlichung von Monstern ist Paré noch ein Mediziner, der die Ebene der Realität mit der der Fantasie vermischte: „Neben real erscheinenden Illustrationen menschlicher Fehlbildungen dominieren in dem Buch von Paré tierische und halbtierische Gruselgestalten. Solche Bilder verwundern nicht, war es doch die Zeit, in welcher ein Gelehrter wie Dr. Martin Luther im Teufel eine Realität von Fleisch und Blut zu sehen glaubte.“59

Das Werk von Paré ist somit, folgt man der Wertung Schumachers, von einem Defizit der unvollständigen Wissenschaftlichkeit gekennzeichnet. Wenn Schumacher die ungenügende Sorgfalt moniert, mit der Paré Beispiele von Monstern besprochen hatte, so will er zeigen, dass sich hier noch kein wissenschaftlicher Diskurs durchgesetzt habe, der sich ausschließlich auf die Fakten der körperlichen Fehlbildungen bezieht.60 Die Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Studium kör-

58

Schumacher, Gert-Horst: 1996, 39.

59

Schumacher, Gert-Horst: 1996, 39.

60

Thomas Schlich verweist in seinem Aufsatz auf die Schwierigkeiten des Umgangs mit medizinischem Wissen aus historischer Perspektive und fordert gerade neue Einsichten in die Prozesse der Entstehung von wissenschaftlichen Fakten. Dabei wird der Prozess der Herstellung von Fakten untersucht und die Haltung kritisiert, dass die moderne Medizin sich durch einen „Kern wahren Wissens über die Natur“ auszeichne. Mit dieser Haltung werden die historischen Prozesse vernachlässigt und „der Wissensbestand der modernen Medizin sogar als historische, nicht hinterfragbare Basis zur Betrachtung und Beurteilung der Medizin der Vergangenheit verwendet“ (Schlich, Thomas: 1998, 107). Auch das Wissen der Naturwissenschaften bedarf seiner soziologischen Verbindungen, das heißt, dass für die Beurteilung der Inhalte von Wissensbeständen die wahren Aussagen und die „aus

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perlicher Fehlbildungen und der kulturellen Bedeutung von Monstern war im 17. Jahrhundert jedoch noch nicht wirksam. Das Nebeneinander von religiösen und naturwissenschaftlichen Tatbeständen war noch möglich und verhinderte gerade nicht, dass durchaus auch wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgebracht wurden. Dass Paré auch die Vererbung als Grund für die Entstehung von Monstern angibt, ist daher als Wissen an sich weniger bemerkenswert. Dieser Befund Parés zeigt vielmehr, dass hier religiöses und naturwissenschaftliches Wissen noch einen gemeinsamen Ort hatte. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurden seltene Fehlbildungen als Wundergeburten oder Wunderwesen in Flugblättern beschrieben und ausgestellt. Als Zeichen religiöser Verkündungen, teuflischer Besessenheit oder aufkommender Naturkatastrophen wurden sie zu furchterregenden Monstern oder galten als seltenes Beispiel für den spielerischen Reichtum der Natur. Angesiedelt an den Randzonen der Welt, nährte das Monster die Vorstellungen über wilde Menschen und Tiere. In der langen Tradition der populären Schriften wurden die religiösen Theorien über Monster öffentlich vorgetragen. Als Ursache für die Entstehung hatte man lange Zeit die Einbildungskräfte der Mutter angenommen.61 Allein die

heutiger Perspektive falschen Wissensinhalte“ gleichwertig behandelt werden müssen (ebd., 111). 61

Vgl. Lorenz, Maren: 1998. Lorenz hat anhand historischer Quellen gezeigt, dass die Frage nach dem Umgang mit Monstern und Menschen und der in akademischen Kreisen herrschenden Lehrmeinung der Imaginationslehre als Ursache für die Geburt eines Monsters bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vertreten wurde. Sie verdeutlicht allerdings auch, dass die subjektiven Erlebniswelten der Mütter von den Ärzten wissenschaftlich nicht erfasst werden konnten. Im Falle einer ‚Missgeburt‘ wurden die Frauen häufig durch Ärzte befragt, doch sie widersetzten sich den Befragungen häufig. Aus Angst, die Kinder an anatomische Theater oder für Zwecke öffentlicher Sektionen übergeben zu müssen, versuchte man, die Geburt solcher Kinder zu verheimlichen, um ihnen wenigstens die christlichen Rituale der Taufe oder Beerdigung zuteilwerden zu lassen. Enke hat gezeigt, dass die „magische Vorstellung von der Auswirkung des Versehens auf die Frucht“ nicht nur in der Bevölkerung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wirksam war. Vielmehr lassen sich auch in der medizinischen Literatur noch zahlreiche Beispiele für diese Auffassung finden (Enke, Ulrike: 2000, 33). Virchow berichtet von einem Fall, in dem mitgeteilt wurde, dass ein Unfall während der Schwangerschaft „der

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Aufmerksamkeit für bestimmte Objekte während der Schwangerschaft konnte durch intensive Einbildung auf den Fötus so einwirken, dass diese Erlebnisse sich auf seine Gestalt übertrugen.62 Moral und Geburt waren die wirksamen Parameter für die Beschreibungen von Monstern, mit denen seit dem Mittelalter die Aufmerksamkeit auf die Bedeutungen der „Wundergeburt“ gelenkt wurde. Die Veränderungen, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichneten, waren geprägt von dem sich wandelnden Naturverständnis. Die zunehmende Verwissenschaftlichung und Naturalisierung des Monsters seit dieser Zeit führte auch zu einem Ausschluss moralischer Figuren. Das moralische Monster wurde damit zu einer fiktionalen Figur, während in den wissenschaftlichen Diskursen der Begriff des Monsters durch den der Monstrosität ersetzt wurde. Das von mythischen und moralischen Verfehlungen gezeichnete Monster war nicht mehr Gegenstand der Wissenschaften. Die populären und die naturwissenschaftlichen Erklärungen bezogen sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf getrennte Wissensformationen. Mit der Aufklärung wurden Monstrositäten im Rahmen eines neuen Naturverständnisses beurteilt. In dem Abschnitt D’Alemberts Traum referiert Denis Diderot die neue wissenschaftliche Auffassung von Monstrositäten. In einer fiktiven Unterhaltung mit Diderot fragt d’Alembert nach dem Unterschied zwischen einem Menschen und einer Statue. Was also ist das trennende Merkmal zwischen empfindsamer und nicht empfindsamer Materie, zwischen belebter und unbelebter Natur ? Im Mittelpunkt des Gespräches steht der organische Aufbau des menschlichen Körpers,

Grund der späteren Zwillingsgeburt gewesen sei“. Hier handelt es sich also um einen Zufall, der der Schwangeren zugestoßen sei und der als Grund für die Entstehung einer „Doppelmissbildung“ anerkannt wurde (vgl. Virchow, Rudolf: 1870, 4). Hintzsche berichtet, dass bis spät ins 20. Jahrhundert die Einbildung als „Missbildungsursache“ genannt wurde (vgl. Hintzsche, Erich: 1972, 56). Auch Ernst Schwalbe fügt seiner Allgemeinen Missbildungslehre aus dem Jahr 1906 noch einen gesonderten Abschnitt über das Versehen der Schwangeren bei. Darin beklagt sich Schwalbe, dass er auch „von sehr intelligenten Kollegen die Meinung gehört habe, daß am Versehen ‚doch wohl etwas daran sei‘“ (Schwalbe, Ernst: 1906, 178). 62

Vgl. Porter, Roy 2005, 115 f. Porter verdeutlicht, dass die mütterliche Einbildung während der Zeugung und Schwangerschaft auch als Verweis auf geistige Vorgänge diente und damit eine Verbindung zwischen Monster und geistiger Verfassung historisch schon sehr früh wirksam war.

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der „wesensverschieden von der Materie und doch eins mit ihr ist“63. In seinem Gespräch mit d’Alembert, das bald als Dialog, bald als Traum verfasst ist, legt Diderot seine naturwissenschaftlichen Auffassungen dar. Diderot, der die Idee eines präexistenten Keims widerlegt, schreibt: „Die Frage, ob das Ei vor der Henne oder die Henne vor dem Ei dagewesen sei, bringt Sie nur deshalb in Verlegenheit, weil Sie annehmen, daß die Tiere ursprünglich so gewesen seien, wie sie gegenwärtig sind. Welche Torheit.“64

Mit seinen polemischen Ausführungen richtet sich Diderot hier gegen die von Haller vertretene Präformationstheorie, die von der Annahme ausgeht, der erwachsene Mensch sei als Miniaturform bereits im embryonalen Zustand vollständig vorgebildet. Mit der von Haller vertretenen These über die Entstehung menschlichen Lebens könne, so Diderot, die Veränderung der Arten nicht erklärt werden. Die genaue Beobachtung der Natur, führt Diderot weiter aus, verdeutliche, dass solche Keime überhaupt nicht aufzufinden seien. Die Vernunft zeige, dass die „Teilbarkeit der Natur eine Grenze hat.“ Sowohl die Erfahrung als auch die Vernunft sind für die Beobachtung der Natur die entscheidenden Instanzen. Das Leben ist nicht durch einen göttlichen Schöpfungsplan festgelegt, sondern es entwickelt sich innerhalb einer natürlichen Abfolge. Mit diesem Entwicklungsgedanken – der Epigenesis – wird der menschliche Körper nicht mehr in einem statischen und unveränderlichen Modell gedacht, sondern sein jetziger Bau wird als Ergebnis einer unendlichen Reihe generativer Entwicklungen angesehen. Der Mensch entspringt den natürlichen Ordnungsprinzipien allen Lebens. Im Mittelpunkt des Dialogs zwischen Diderot und d’Alembert steht der empfindsame menschliche Körper. Es sei ratsam, so lässt Diderot den französischen Arzt Bordeu referieren, den Körper in seiner zeitlichen Dimension zu denken und als Resultat einer Entwicklung zu betrachten. Die Entwicklung der Organe beginne in der Anordnung von Keimfasern. Diese können sich ständig verändern, der Mensch und das Ungeheuer seien daher das Ergebnis einer natürlichen (Un-)Regelmäßigkeit:

63

Diderot, Denis: 1989, 69.

64

Diderot, Denis: 1989, 73.

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„Der Mensch ist nur ein gewöhnlicher Effekt, das Ungeheuer ein außergewöhnlicher; beide sind gleich natürlich, gleich notwendig, beide auf gleiche Weise in die allgemeine Weltordnung hineingestellt.“65

Im Differenzierungsprozess von den einzelnen Keimfasern bis zum organischen Bau des Lebewesens wird die Missbildung in die Zeitlichkeit der Entstehung menschlichen Lebens eingebettet. Die Missbildung sei kein göttliches Unglück, kein moralischer Fehler, keine unnatürliche Geburt, sondern gehöre der gleichen Ordnung an. Für die Erkenntnis des organischen Aufbaus solle man – wie Bordeu fordert – das menschliche Leben in seiner ersten Entwicklungsstufe untersuchen: „Man muß bis zu seinen ersten Ansätzen zurückgehen. Es ist also ratsam, vom gegenwärtigen organischen Bau abzusehen und sich in einen Zeitpunkt zurückzuversetzen, in dem man nur eine weiche faserige, formlose, wurmähnliche Substanz war, die eher der Knolle und Wurzel einer Pflanze glich als einem Tier.“66

Die Frage nach der Entstehung von Missbildungen und der geforderte Beweis für die Ausbildung von Organen bleiben hier ein Gedankenspiel. Um die Ursachen von Abweichungen zu erforschen, müsse man sezieren und die Keimfasern untersuchen, so der Arzt Bordeu.67 Das Monster ist im Verhältnis zum Betrachter ein Gegenstand der Reaktion, die Monstrosität ist ein Gegenstand des Wissens. Während das Monster die Blicke auf sich zieht, ist die Monstrosität etwas, von dem man sich wissenschaftlich noch immer abwendet. Doch die Monstrosität erfordert einen forschenden Blick. Von nun an schaut man mit forschendem Interesse auf die Missbildung. Bei Diderot zeichnen sich somit drei verschiedene Ebenen des seit dem 18. Jahrhundert herrschenden Naturverständnisses ab: Ordnung, Entwicklung und Erkennbarkeit. Missbildungen gehören der gleichen Ordnung an wie der normale organische Bau des Körpers. Sie sind das

65

Diderot, Denis: 1989, 97.

66

Diderot, Denis: 1989, 105.

67

Auf die Frage, ob der Kyklop „recht gut kein Fabelwesen“ sei und wer die Ursachen dieser Abweichung kenne, antwortet Bordeu: „Derjenige, der diese Mißbildung seziert hat und dabei nur ein Sehstrang fand […]. Man seziert noch nicht genug, und die Ideen über seine [des Kyklopen; Anm. d. Verf.] Entwicklung sind noch weit entfernt von der Wahrheit“ (Diderot, Denis: 1989, 105 f.).

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Ergebnis einer natürlichen Entwicklung und sie sind erkennbar. Innerhalb einer Ordnung der Natur wird die Monstrosität als Ergebnis eines organischen Aufbaus betrachtet. Die Relativität der Monstrositäten löst die Einzigartigkeit des Monsters ab. Wie Diderot an anderer Stelle schreibt, erscheint ihm so die „ganze Welt nur als eine Anhäufung von mißgestalteten Wesen“. In Bezug auf die Veränderlichkeit der allgemeinen Ordnung sei auch der Mensch nur eine dauerhafte Missbildung, die „entsteht und vergeht“68. Missbildungen sind somit kein seltenes, ungewöhnliches Phänomen, sondern das Ergebnis einer fehlerhaften Entwicklung. Diderots Verhandlungen über das Monströse und die Missbildung verbleiben noch im Feld spekulativer Annahmen und mangelnder wissenschaftlich-methodischer Zugänge. Der Text kann als Beispiel dafür gelesen werden, dass hier, wie Hagner schreibt, „die epistemischen Brüche des späten 18. Jahrhunderts in nuce enthalten sind“69. Diderot referiert seine Überlegungen nicht in einem wissenschaftlichen Text. Obwohl als Abhandlung Über die Natur veröffentlicht, vermischen sich hier Traum und Realität, Täuschung und wissenschaftliche Überprüfbarkeit. Es scheint, als bestehe kein Unterschied zwischen einem „wachenden Arzt und einem träumenden Philosophen“70. Diese narrativen Mittel, derer sich Diderot in seinem Text bedient, durchkreuzen diese Ebenen und verstärken die Forderung nach einer genauen Beobachtung.71

68

Diderot, Denis: 1961, 752.

69

Hagner, Michael: 2005b, 106.

70

Diderot, Denis: 1961, 88.

71

Zürcher erörtert den diderotschen Text im Umfeld der Entstehung der Teratologie und zeigt die historischen Konstellationen auf, in denen am Ende des 18. Jahrhunderts mit Theorien von bspw. Caspar Friedrich Wolff der Grundstein für ein eigenständiges Konzept in der Lehre der Missbildungen gelegt wurde, das sich bis zum Ende des 19. Jahrhundert zwar immer wieder veränderte, aber die Eigenständigkeit der teratologischen Disziplin bis dahin aufrechterhielt (vgl. Zürcher, Urs: 2004, 41). Der Text von Diderot dient Zürcher als Beispiel für einen epistemologischen Bruch in der Geschichte der Körperbilder zum Ende des 18. Jahrhunderts. Weil hier immer wieder neue Möglichkeiten von Körperbildern besprochen wurden, seien „Zähmung und Züchtung der Körper […] diskursiv in vielerlei Hinsicht eng mit der Missbildungslehre verknüpft“ (ebd., 48). Insofern knüpft Zürcher hier an Foucaults Ordnung der Dinge und Lepenies’ Ende der Naturgeschichte an, in denen gezeigt wurde, wie in dieser Zeit die Vorstellungen der Unverän-

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Im Traum werden die falschen Annahmen und Täuschungen aufgegriffen. Die von d’Alembert träumerisch verfassten Ideen werden von Frau von Lespinasse aufgezeichnet und in einem Gespräch dem Arzt Bordeu vorgetragen. Der Traum wird zu einem erzähltechnischen Mittel.72 Aber zugleich werden hier die Funktionsfähigkeiten und Möglichkeiten wissenschaftlicher Aussagen auf die Probe gestellt, verkehrt und entworfen. Somit eröffnet der Traum einen visionären Raum des Denkens, der es erlaubt mit anderen Gegenständen des Wissens zu experimentieren. Das stete Fließen zwischen Traum und Realität kann als ein subtiler Hinweis auf die Dynamiken wissenschaftlicher Aussagen gelesen werden. Auf der Ebene der Fantasie scheint es möglich, ein Wissen zu erzeugen. Erkenntnis und Traum, Fantasie und Wissen bilden bei Diderot ein Zu-

derlichkeit immer mehr von einer Temporalisierung der Natur verdrängt wurde. Mit Diderot zeigt Zürcher die Anfänge der Verzeitlichung von Natur auf. Inwieweit diese Körperbilder an neue Vorstellungen von Geschlecht gebunden werden, wird von Zürcher nicht weiterverfolgt. Auch Hagner, der anhand des diderotschen Texts ähnlich wie Zürcher einen epistemologischen Bruch des 18. Jahrhunderts aufzeigt, reißt diese Thematik nur kurz an (vgl. Hagner, Michael: 2005b, 95 f.). Dornhof bezieht sich in ihrer Studie an einer Stelle auf Diderot, um zu zeigen, dass „er den Monstern einen zentralen Ort für eine neue Ordnung des Denkens zuweist“ (Dornhof, Dorothea: 2005, 260). Claudia Honegger zeigt u. a. mit Diderot, wie die Anfänge einer weiblichen Sonderanthropologie gelegt wurden (vgl. Honegger, Claudia: 1991, 126 ff.). Während Honegger den Geschlechterdiskurs in der Moderne aus wissenschaftlicher Perspektive untersucht und ihre Analyse ausschließlich auf der Kategorie Gender aufbaut, bricht Dornhof diese Engführung der Kategorisierungen auf. Im Abschnitt 3.2 Geschlechterdiskurs: Zur Konvergenz von Geschlecht und Monstrosität wird darauf näher eingegangen. 72

D’Alembert wird in seinem nächtlichen Fieberwahn von Frau von Lespinasse bewacht, die das nächtliche Gerede aus Sorge um den Fiebernden aufschreibt. Ihr schien das „Gerede“ zunächst sehr verwirrt zu sein, sie entschloss sich daher, die Fantasien von d’Alembert aufzuschreiben und ihre Aufzeichnungen später dem Arzt vorzulegen. Auf die Frage, ob der Arzt darin einen Sinn entdecke, antwortet er: „Sehr viel“ und bestätigt: „Nun, glauben Sie mir, dieser Traum ist großartig, und Sie haben gut daran getan, ihn aufzuschreiben.“ Bordeu findet an den Aufzeichnungen nichts Verrücktes, greift die Gedanken auf und kann an ihnen wissenschaftliche Argumentationsweisen erkennen (Diderot, Denis: 1989, 87).

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sammenspiel zwar unterschiedlicher, aber sich gegenseitig bedingender Ebenen für Erkenntnis. Zu Recht verweist Zürcher auf die Dekonturierung von Wissen: „Der Traum als erzähltechnisches Mittel ermöglicht es Diderot, seine Naturphilosophie losgelöst vom wissenschaftlichen Korsett darzustellen und überdies einen subtilen Hinweis zu geben auf die Unmöglichkeit, Spekulation, Träumerei und wissenschaftliche Sachlichkeit voneinander abzugrenzen.“73

In D’Alemberts Traum wird eine Kritik der traditionellen Begrenzung wissenschaftlicher Forschung formuliert. Die Überlegungen zu Monstrositäten werden nicht nur in einer neuen Ordnung des Denkens präsentiert, sondern zugleich auch im Modus von Wissen und Anreiz formuliert. Im diderotschen Denken dienen sie als Modelle für eine Verteidigung des freiheitlichen Denkens. Indem Monstrositäten die Funktion des Gedankenspiels erhalten, lassen sich darin bereits die wissenschaftlichen Veränderungen ablesen: Monstrositäten werden zu einem Gegenstand der Erkenntnis der neuen Ordnungen des Lebens. Die Möglichkeit eines neuen Wissens wird an Visionen gebunden, die die Rede über Monstrositäten ermöglichen. Mit der Entstehung der Teratologie im 18. Jahrhundert organisierten sich neue Wissenschaften um den Begriff der Missbildung. Die Konstruktion eines wissenschaftlichen Gegenstandes erforderte verschiedene Strategien, die zunächst für den Prozess der Verwissenschaftlichung notwendig waren. Die Trennung zwischen fiktionalen Monstern und realen Monstrositäten war nur ein erster Schritt. Es ging, wie Moscoso herausstellt, zunächst darum, Monstrositäten eine wissenschaftliche Faktizität zu verleihen, damit sie als Teil von regelmäßigen und gesetzmäßigen Entwicklungen gelten konnten.74 Als wissenschaftliches Objekt wurden Missbildungen seit dem 19. Jahrhundert allmählich in das Feld der Lebenswissenschaften integriert. Sie „erzählen von der normalen Natur, nicht mehr von esoterischen Großmächten. Sie deuten nichts mehr an, das jenseits der Ordnung liegt, sondern bergen ein großes Wissen von der Natur, vom Menschen. Sie sind menschlich geworden.“75 Als wissenschaftlicher Gegenstand wurden sie vermessen, seziert und ge-

73

Zürcher, Urs: 2004, 43.

74

Vgl. Moscoso, Javier: 2005, 71.

75

Zürcher, Urs: 2004, 12.

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sammelt. Der monströse Körper wurde wissenschaftlich interessant und die Ergebnisse der Untersuchungen an ihm in zahlreichen Kompendien, Zeitschriften, Vorträgen und Monografien veröffentlicht. Die Integration außergewöhnlicher Phänomene in den Wissensprozess beruhte nicht nur auf der institutionellen Organisation der Wissenschaften und auf den damit verbundenen Forschungspraktiken, sondern sie stellten eine exponierte Position für die Erforschung des Lebens dar. Monstrositäten erzeugten andere Ordnungen von Wissen und zugleich unterlagen sie als Wissensobjekte den Regeln und Begriffen des wissenschaftlichen Diskurses. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden Monstrositäten zu Gegenständen des Wissens und führten zu einem besonderen Zugewinn an Wissen. Die Monster hingegen sind im 19. Jahrhundert fiktionale Wesen. Sie dienen als Literaturvorlagen für Romane wie Frankenstein76 oder Die Insel des Dr. Moreau77 und liefern das Futter für das Unheimliche in den Erzählungen. Hier werden die wissenschaftlichen und kulturellen Visionen zukünftiger Menschenbilder literarisch durchgespielt. Diese narrative Ästhetik des Monströsen ist zugleich auch ein Ort, an dem wissenschaftliches Wissen bis heute aufgegriffen, kulturell gespiegelt und transformiert wird.78 Frankenstein ist wohl eine der bekanntesten Romanvorlagen für das Monster in der Moderne, in dem die kulturellen Vorstellungen von Wissenschaft literarisch inszeniert werden. Das Unheimliche, die Bedrohung und die moralischen Verwerfungen werden hier mittels der Figur des Monsters dargestellt, wobei gerade das Überschreiten der Grenzen die eigentliche Bedrohung darstellt. Das Leitmotiv des Romans ist die wissenschaftliche Bemächtigung des Lebens durch den Forscher Viktor Frankenstein, der es schafft, in monatelanger Arbeit tote Materie zu beleben, und damit in der Lage ist, einen neuen Menschen zu kreieren: ein hässliches (männliches) Monster. Der Protagonist Dr. Frankenstein möchte die Prinzipien des Lebens erkennen. Er arbeitet an Leichenteilen, um

76

Shelley, Mary: 2004 [orig. 1818].

77

Wells, H. G.: 1996 [orig. 1896].

78

Vgl. Brittnacher, Hans-Richard: 1994. Das Monstrum, so stellt Brittnacher heraus, ist gekennzeichnet „durch das Rätsel seines Daseins“ (ebd., 191). Und zugleich komme der literarischen Ästhetik des Monsters die Aufgabe zu, in der Inszenierung einer überschießenden Vitalität „das eigene Vitalitätsdefizit“ der bürgerlichen Kultur lesbar zu machen (ebd., 221). Brittnacher hat zudem in einem detaillierten Überblick auch die Literatur des Horrors zusammengefasst.

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der kühnsten Fragestellung auf den Grund zu gehen: Woher stammt wohl das Prinzip des Lebens ? Und es ist die Physiologie, mit der diese Frage zu beantworten sein wird. Frankenstein berichtet, wie er sein innerliches Begehren nach Erkenntnissen und Ergebnissen umzusetzen bereit war. „Diese Gedanken also gingen mir im Kopf herum, und ich beschloß endlich, mich ganz speziell jenen Gebieten der Naturwissenschaft zu widmen, die sich mit der Physiologie befassen.“

Nicht nur das Sezieren, das Vermessen der einzelnen Organe ist von Bedeutung, sondern seine Forschung nimmt ihren Ausgangspunkt beim Phänomen des Todes: „Um nämlich die Ursprünge des Lebens zu erforschen, muß man zunächst das Tote studieren.“79 Keine noch so grausame Arbeit kann Dr. Frankenstein aus dem Gleichgewicht bringen. Nächtliche Friedhöfe seien keine Orte des Grauens für ihn, sondern würden ihm die kalte Möglichkeit der instrumentellen Bemächtigung des toten Materials eröffnen. Grüfte und Leichenhäuser zwingen Frankenstein, den Blick auf die Objekte zu werfen, die „dem menschlichen Fühlen höchst unerträglich scheinen.“80 Es sind Objekte, die hier angeschaut werden, deren Unerforschtheit auf die emotionale Überforderung älterer Generationen zurückzuführen ist. Endlich gelingt es Dr. Frankenstein, seine Gefühle zurückzunehmen und sich nicht von übernatürlichen Schreckensvorstellungen einschüchtern zu lassen. Die wissenschaftliche Arbeit erfordert ein Verdrängen der eigenen moralischen und persönlichen Vorbehalte. Sie sind ein moralisches Bedrängnis und müssen vom Moment der Wissensproduktion ausgeschlossen werden. Im Laufe der Handlung wird das Ausgeschlossene durch andere Ereignisse wieder auf Viktor zurückkommen: In den Grenzüberschreitungen entsteht die eigentliche Bedrohung, denn das Objekt wird zum Menschen und der Mensch zum

79

Shelley, Mary: 2004, 70. Frankenstein vermittelt – wie Shelley in der Vorbemerkung schreibt – „einen weit zwingenderen und eindringlicheren Aspekt von der Tiefe der menschlichen Leidenschaften, als es die natürliche Ordnung der Dinge je vermöchte“ (ebd., 7). Frankenstein ist damit ein Beispiel menschlicher Gedankenspiele. Es ist letztlich das Hässliche, das als Unterscheidungsmerkmal zwischen Monster und Mensch fungiert. Das Böse, der Hass und das Hässliche sind die Kriterien des literarischen Monsterbegriffes im 19. Jahrhundert.

80

Shelley, Mary: 2004, 71.

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Monster. Während das Monster menschliche Züge anzunehmen beginnt, wird Frankenstein zum Monster wissenschaftlichen Eifers. Das dichotome Schema der Unterscheidung von Fiktion und Realität, Mensch und Maschine, Humanem und Nichthumanem erfordert eine klare Trennung, mit der die Wissenschaften ihre Geltungsbereiche festlegen. Im Roman werden diese Dichotomien stetig unterlaufen, in den Grenzbereichen erscheint das Monster. Die Herstellung des wissenschaftlichen Wertes von Monstrositäten erfordert eine semantische und analytische Differenzierung, um sich von der Bedeutung des Monsters als Zeichen der Sünde und des Dämonischen zu befreien. Wie Dornhof schreibt, verweist die begriffliche Unschärfe auf eine „Schwierigkeit der Klassifikation, die auch in der Wissenschaft der Teratologie nicht aufgehoben ist“81. Eingebettet in ein dichotomes Schema der Unterscheidungen zwischen Aberglaube und Logik, Wissenschaft und Mythos oder Imagination und Realität wurde somit ein wissenschaftlicher Gegenstand konstituiert.82 Dass die wissenschaftliche Erklärung der Monstrositäten zu keiner befriedigenden, rationalen Erklärung geführt habe, zeige – wie Hagner herausstellt –, dass mit diesem dichotomen Schema der Unterscheidung für eine Geschichte der Monstrositäten überhaupt kein „brauchbares historiographisches Unterscheidungsinstrument an die Hand gegeben ist“83. Vielmehr setzte das rationalistische Programm der Teratologie und der medizinischen Anthropologie dieses dichotome Schema ein, um sich als wissenschaftliche Disziplin zu konstituieren und die lange Tradition abergläubischer Volksvorstellungen zu überwinden. Begriffe wie Seltenheit, Wunder oder Einzigartigkeit wurden auch weiterhin in den wissenschaftlichen Diskursen verwendet. Doch als Monstrositäten mussten die damit bezeichneten Phänomene in die Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlicher Forschung integriert werden. Nur eine wissenschaftliche Methode, wie Virchow schreibt, könne der Aufgabe der Herstellung eines Wissens gerecht werden. Es sei, so betont er, die Aufgabe der Wissenschaften, zwischen Wissen und Nichtwissen zu unterscheiden.84 Monstrositäten als Teil von Körperdiskursen waren seit dem 19. Jahrhundert ein fest etablierter Wissensbereich. Dennoch kam es

81

Dornhof, Dorothea: 2005, 259.

82

Vgl. Hagner, Michael: 2005a, 9.

83

Hagner, Michael: 2005a, 9.

84

Vgl. Virchow, Rudolf: 1862a, 4.

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nicht zu einer vollständigen Überwindung des alten Begriffes, mit der die unheimlichen, abergläubischen, irrationalen Konnotationen hätten aufgekündigt werden können. Es scheint, als hätte man auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Kampf um die beiden Bereiche des Wissens und des Nichtwissens geführt.85 Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurde beklagt, dass der Aberglaube und das „heimliche Geschäft der Wahrsager und Sternendeuter“ eine „lächerliche Renaissance“86 erlebe. Der Mediziner Eugen Holländer wertete die „Fliegenden Blätter“ seit dem 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aus. In den Kupferstichen und Flugblättern jener Zeit erkannte Holländer, „daß das medizinische Sujet in ihnen besonders bedeutsam ist“87. Die Sichtung der historischen Materialien erfolgte zunächst aus rein medizinischem Interesse, erst im Laufe seiner Arbeit stellte Holländer fest, „daß das kulturgeschichtliche Interesse das medizinhistorische bei weitem überragte“88.. Für den Mediziner war die Faszination, die die Flugblätter bis heute auf das Publikum ausüben, Zeichen eines kulturellen Tiefstandes, der auch im 20. Jahrhundert noch seine Wirkung zeige. Mit der engen Verbindung von moralischen Kriterien und der auch weiterhin stattfindenden Ausstellungspraxis bediente sich der Autor eines Interpretationsschemas, mit dem eine scharfe und stabile Differenz zwischen Aberglauben und Wissenschaft beansprucht werden konnte. Gerade hinsichtlich der Moderne diagnostizierte Holländer einen neuen Tiefstand kultureller und moralischer Wertvorstellungen. „Man hört wieder die alten Schlagworte, man liest von gleichen abenteuerlichen Unternehmungen; aus den Tiefen kriecht wieder Mystizismus, Wunderglaube und armloser Fatalismus hervor.“89

Trotz des wissenschaftlichen Fortschritts, so Holländer, seien in den kulturellen Vorstellungen weiterhin die alten Traditionen des Wunderglaubens wirksam. Zwar hätten die Wissenschaften die alten Glaubensvorstellungen über Monster aufgekündigt, doch noch immer gehe vom Monster ein Moment der Beunruhigung aus. In den mythischen Vorstellungsbildern

85

Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 81.

86

Holländer, Eugen:1921, VII.

87

Holländer, Eugen: 1921, IX.

88

Holländer, Eugen: 1921, IX.

89

Holländer, Eugen: 1921, V.

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erkennt er Momente der irrationalen Beunruhigung, die nur wissenschaftlich zur Ruhe gebracht werden können. Motiviert, eine Geschichte der Teratologie zu schreiben, musste Holländer nun feststellen, dass seine Aufgabe eher darin bestand, gegen Aberglaube und Dummgläubigkeit vorzugehen. Das Volk müsse aus „diesem Wirrsal von krankhaften Vorstellungen“90 befreit werden. Holländer fordert einen geschützten Raum für die Untersuchung der Missbildungen und verurteilt die öffentlichen Zurschaustellungen. Die Anziehungskraft des Außergewöhnlichen beruhe auf einem Nichtwissen. Eine Kultur, die diese Öffentlichkeiten herstelle und die Verhandlungen über das Monster den inhumanen Ausstellungspraktiken vor einem Laienpublikum überlasse, kanalisiere weiterhin moralische Affekte der Wundergläubigkeit und Dummheit. Anscheinend sei es auch nach nahezu 200 Jahren der wissenschaftlichen Vereinnahmung des Seltenen nicht gelungen, das Monster vollständig in den wissenschaftlichen Raum zu integrieren und als ein Objekt des rationalisierten Wissens von den moralischen und kulturellen Affekten zu befreien. Dennoch kapituliert Holländer vor seinen eigenen Forschungsfragen. Die Frage nach dem Umgang mit der Faszination am Seltenen, die vom Monster ausgeht, verschiebt er in den Verantwortungsbereich kultureller Praktiken. Was übrig bleibt, ist ein kulturhistorischer Gegenstand, der den Bereich der Medizin entweder schon verlassen hat oder noch gar nicht in diesem angekommen ist. Eine medizinische Analyse der Forschungsfrage kann nicht gelingen. Beseelt von der Fortschrittsideologie unternimmt Holländer noch im 20. Jahrhundert den Versuch, gegen das Nichtwissen anzutreten. Die Geschichte der wissenschaftlichen Teratologie ist vom Fortschrittsgedanken geprägt. Die inhumanen Praktiken der Ausstellungen und die Präsentationen eines dämonischen Wissens durch Kleriker und Laien sind Praktiken der Vergangenheit. Nur mithilfe wissenschaftlicher Ansätze könnten die alten Praktiken der öffentlichen Zurschaustellung und des Wunderglaubens überwunden werden und zu einer Neugestaltung der Gesellschaft beitragen. Das Wunder gehört in die sicheren Wissensräume der Medizin und Anthropologie. Dennoch hält Holländer am Begriff des Wunders fest: In seiner Geschichte der populären Faszination bezieht auch er sich auf die Einzigartigkeit und Seltenheit der Monstrositäten, um eine Kritik an der Schaulust des Volkes zu formulieren. Das „Wirrsal krankhafter Vorstellungen“ ist nicht nur

90

Holländer, Eugen: 1921, VII.

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eine Verwirrung des immer noch staunenden Betrachters, sondern scheint vom Monster selbst auszugehen. In der Gegenüberstellung von Wissen und Nichtwissen sollen die Ausstellungspraktiken durch Wissen abgelöst werden. Die moralischen Verirrungen, die Holländer mit dem Begriff des Monsters zusammenbringt, manifestieren sich am Ort der populären Ausstellungen und können nur durch eine vollständige Übertragung der Beschäftigung mit Missbildungen in den wissenschaftlichen Bereich aufgelöst werden. In dieser Argumentation werden die beiden Seiten der Unterscheidung von wahrem und falschem Wissen unterschiedlichen Wissensbeständen zugeordnet: Das medizinische Wissen wird als wahres Wissen dargestellt, demgegenüber würden die populären Interessen von falschen Vorstellungen getragen. Wissenschaftliche Objekte werden damit einem von sozialen und politischen Interessen losgelösten Kontext zugeordnet. Wie Schlich schreibt, wird damit die „privilegierte Stellung naturwissenschaftlicher Fakten“91 keiner weiteren historischen Reflexion unterzogen und die Denkinhalte werden beharrlich von den sozialen Kontexten abgeteilt. Das Problem des kontextgebundenen Wissens ist für die Medizingeschichte bis heute präsent und eröffnet immer wieder neue Debatten über die Bewertung wissenschaftlicher Fakten. Erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts widmet sich die Medizingeschichte der Frage, „wie es zu bestimmten wissenschaftlichen Aussagen kommt“92. Ihre Kritik zielt nicht auf die falschen Wissensbestände, die Zeichen ungenügender Rationalität und Erkenntnisse aufweisen. Wahre und falsche Aussagen unterliegen jedoch denselben Regeln von Diskursen und erfordern damit die gleichen soziologischen Erklärungsansätze. Die Wahrheit erschließt sich nicht „durch die Natur oder die Logik und Irrtümer durch die sozialen

91

Schlich, Thomas: 1998, 107 f.

92

Schlich, Thomas: 1998, 110. Das Problem, das Schlich hier für die Medizingeschichte benennt, steht nur als ein Beispiel für die Debatte in der Geschichtsschreibung, wie sie seit den 1980er Jahren geführt wird. In dieser Debatte geht es darum, die Kategorien und damit auch das, was wissenschaftlich wahr ist, historisch zu fassen. Letztlich wird der Streit durch die Frage entfacht, wie Fakten für die Geschichte bewertet werden können. Während sich gerade die neuere Kulturgeschichte dieser Problematik zuwendet, beharren die Sozialhistoriker auf einer quellenhistorischen Forschungspraxis und einer festgelegten kategorialen Perspektive (vgl. Evans, Richard: 1998; Brieler, Ulrich: 1998; Wehler, Hans-Ulrich: 1998).

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Vorurteile“93. Insofern ist eine Unterscheidung, die das wahre Wissen den Naturwissenschaften und den Rationalitäten, das falsche Wissen aber den populären Irrationalitäten zuordnet, eine machtvolle Differenzierung, mit der die Praktiken der Wissensproduktion nicht in den Blick genommen werden können. Zurückgewiesenes, falsches Wissen besitzt ebenso wie wahres Wissen eine konstitutive Funktion für die Wahrheitsansprüche und die Anerkennung von Wissensbeständen. Insofern muss sich eine Geschichte moderner Monstrositäten beiden Bereichen, dem des Wissens und dem des Nichtwissens, zuwenden. Daher werden im folgenden Kapitel zunächst die Prozesse untersucht, durch die die Monstrositäten zu Objekten des Wissens wurden. Im Anschluss daran werden dann die Orte analysiert, an denen die wissenschaftliche Rede über Monstrositäten wirksam wurde.

93

Schlich, Thomas: 1998, 111. Schlich nennt in diesem Zusammenhang den Wissenssoziologen David Bloor und stellt dessen Kritik an der Medizingeschichte dar, die darauf abzielt, die Voreingenommenheit gegenüber naturwissenschaftlichen Wissensbeständen aufzubrechen. Die von Schlich erörterten Forderungen von Bloor greifen auch die Frage des verworfenen oder zurückgewiesenen Wissens auf, die gerade bei Canguilhem im Begriff des Irrtums zur Sprache gebracht wird (vgl. Canguilhem, Georges: 1974). In diesem Zusammenhang wird in der aktuellen Wissenschaftsgeschichte zunehmend auch der Fokus auf die Funktionen und Politisierungen von Nichtwissen gerichtet (vgl. Wehling, Peter: 2004). Im Abschnitt 3.5 Canguilhem: Monstrositäten, das Pathologische und das Normale werde ich auf diese Problematik eingehen.

3

Zur Wissenschaftsgeschichte der Monstrositäten

3.1

WISSENSCHAFTLICHE D ISKURSE: P HYSIOLOGIEN DES KÖRPERS IM 19. JAHRHUNDERT

Damit Monstrositäten zu Objekten des Wissens werden konnten, mussten sie zunächst eine wissenschaftliche Faktizität erhalten. Das heißt, die Frage nach den Ursachen und das Wissen um den monströsen Körper wurden in ein wissenschaftlich aussagefähiges System integriert. Dazu bedurfte es im 19. Jahrhundert der Etablierung eines passenden Untersuchungsrahmens, mit dem ein monströses Objekt in ein analytisches Verhältnis zu anderen Objekten gesetzt werden konnte. Diese Aufgabe übernahm die Medizin: Die Bedeutungen von Monstrositäten wurden in Kategorien aus der Anatomie und Anthropologie hervorgebracht. Zugleich verbinden sich mit dem monströsen Wissensobjekt Beherrschbarkeitsstrategien, mit denen die Gefahren methodisch gefasst werden konnten, die im Leben potenziell enthalten sind. Dies ist als eine Regulierung und Begrenzung zu verstehen, in der durch Ausschlüsse und Normsetzungen wissenschaftliche Aussagen ihre Funktionsfähigkeit erhielten. Im folgenden Kapitel wird das Material immer wieder im Hinblick auf die folgenden drei Fragen untersucht: Erstens: Wie wurden Monstrositäten zu einer wissenschaftlichen Tatsache ? Zweitens: Welche Rolle spielen sie im Prozess der Wissenspraktiken? Drittens: Wie können diese Praktiken als produktiv für weitere Differenzen analysiert werden ? Die wissenschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts haben die zunehmend wichtiger werdenden Aspekte des Körpers materialisiert und biologisch fundiert. Dabei wurden unterschiedliche Konzepte historisch wirksam, deren Definitionsmacht wesentlich von den anatomischen und physiologischen Diskursen bestimmt war. Nicht zufällig richtet sich seit

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einiger Zeit das Forschungsinteresse auf jene historischen Prozesse, mit denen das Fundament für die Stellung des Menschen in einer medizinisch-wissenschaftlichen Kultur gelegt wurde.1 Im 19. Jahrhundert wurde der philosophische Status des Menschen wesentlich vom medizinischen Denken bestimmt.2 Die Bedeutung und die Sinngenese dessen, was menschliches Leben sei, waren seit dieser Zeit eng mit den medizinischen Diskursen verbunden. Die Wissenschaften haben eine exklusive Rolle bei der Diagnose der gesellschaftlichen Leiden der Industrialisierung in Anspruch genommen und konzentrieren sich daher darauf, für ihre Bekämpfung entsprechende Therapien bereitzustellen. Mit den Prozessen der Verwissenschaftlichung wurde der Fokus besonders auf den weiblichen Körper gerichtet, der nicht nur wissenschaftlich erfasst wurde, sondern als anatomisches Kompendium für einen Kulturkrisendiskurs und als Folie für gesellschaftliche Debatten über soziale Gefahren diente. Damit lagen das „öffentliche Wohl und der allgemeine Fortschritt des Menschengeschlechts in den Händen der Medizin“3. Die Debatten über den allgemeinen Fortschritt und das öffentliche Wohl sind Teil einer Identitätspolitik, die wegen des grundsätzlichen Scheiterns jeder Identitätsbehauptungen nötig ist.4

1

Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 4. Insgesamt kann festgestellt werden, dass in aktuellen Arbeiten eine erweiterte historische Perspektive gefordert wird, mit der die Medizingeschichte interdisziplinäre Forschungsfragen aufnimmt. Einen guten Überblick über diese Entwicklung leistet die von Jütte und Ekart kürzlich veröffentlichte Einführung, in der die unterschiedlichen Ansätze der Medizingeschichte und der historischen Methodik kritisch beleuchtet werden (vgl. Ekart, Wolfgang Uwe/Jütte, Robert: 2007).

2

Vgl. Foucault, Michel: 1996, 209.

3

Bührmann, Andrea Dorothea: 1998, 86.

4

Sarasin zeigt, dass in diesem Zusammenhang der Subjektbegriff von Jacques Lacan für eine Politik des Realen entscheidend ist. Er bezieht sich für seine Argumentation auf einen Text von Slavoj Žižek und betont, dass die „tiefe Nichtidentität des Subjektes, die Tatsache seiner Gespaltenheit als Sprachwesen“ einen phantasmatischen Rest erzeugt, der nicht symbolisiert werden kann (vgl. Sarasin, Philipp: 2001, 209). Žižek greift den Begriff der Monstrosität bei Lacan wieder auf, um eine Kritik an der Gesellschaft, die dem Subjekt ihr Modell von Identität aufdrängt, zu formulieren. Damit wird ein Subjektbegriff eingeführt, der immer auf einen unauflösbaren und ambivalenten inneren Kern verweist (vgl. Žižek, Slavoj: 2008, 59–84). Diese

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Für eine Geschichte der Monstrositäten sind deshalb zwei Ebenen von Bedeutung: Zunächst werden die Veränderungen innerhalb der physiologischen und anatomischen Diskurse untersucht, mit denen wissenschaftliches Wissen die Bedeutungen von Monstrositäten organisiert, geregelt und strukturiert hat. Im Anschluss daran sind die Zusammenhänge zwischen politisch-sozialen und medizinisch-wissenschaftlichen Wissenspraktiken nachzuzeichnen. Die Definitionen und Bedeutungen von Monstrositäten wurden zwar im 19. Jahrhundert in eine wissenschaftliche Disziplin verschoben und lassen eine spezifisch epistemologische Funktion des Begriffes erkennen. Das epistemologisch-naturalisierte Monster eröffnet aber nicht nur eine Perspektive auf wissenschaftliche Praktiken, sondern das, was als Monstrosität verhandelt wurde, hing zugleich auch von den politischen und sozialen Diskursstrategien und -positionen ab. Die Definitionen des Monströsen deckten sich nicht vollständig mit den medizinischen und teratologischen Kategorien des 19. Jahrhunderts, und doch wurden sie in diesen Bereich verlagert, der von einer wissenschaftlichen Methodik der Beherrschbarkeit und Bestimmbarkeit des Lebens gezeichnet ist. Trotzdem stellten sie auch weiterhin eine Störung der Ordnungen des Wissens dar. In dem Spannungsverhältnis zwischen analytischer Kategorie und nicht vollständig identifizierbaren Wissensbeständen soll der These nachgegangen werden, wie diese methodisch unerfassten oder unerfassbaren Zonen gesellschaftliche Relevanz erhielten. Monstrositäten werden zwar in wissenschaftlichen Strukturen verortet, doch auch weiterhin werden Herrschaftsansprüche und Herausforderungen an jene Kategorien gestellt, „die nach Wiederaneignung dessen streben, was der Ordnung des Wissens zu entgleiten droht“5. Das heißt nicht, dass kein inhärenter Wissensimpuls vom Monströsen ausgeht und es grundsätzlich nicht in den wissenschaftlichen Diskursen angesiedelt werden kann; ebenso wenig dürfen die Kategorisierungen als ein verzweifelter Kampf gegen das Nichtwissen verstanden werden,6

Perspektive auf einen Begriff des Monsters kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. 5

Dederich, Markus: 2007, 91.

6

Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001. Schmidt zeigt, dass die Mediziner über eine „bloße Beschreibung ihrer Objekte nicht hinauskommen“ (ebd., 81). Das ist insofern richtig, als Schmidt hier von einer Verstärkung des Rätsels spricht, mit der den Monstrositäten nach wie vor Seltenheitswert und ein Potenzial für Sensationslust zugeschrieben wurde. Monstrositäten stehen

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vielmehr entsprach das Monströse nicht den Regeln diskursiver Aussagen. Somit kann das, was als monströs bezeichnet wurde, kaum radikal genug als ein Effekt wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse betrachtet werden. Zugleich kam Monstrositäten im 19. Jahrhundert eine Schlüsselfunktion zu, die für die Diskussionen um Normalität und Abweichung entscheidend war. Im 19. Jahrhundert bildete sich eine institutionell gestützte und praxisorientierte wissenschaftliche Forschung zum Körper heraus. Sie zielte vor allem darauf, die den Körper bedrohenden Krankheiten, Seuchen und die mangelnde Hygiene zu bekämpfen. Damit wurden das Leben und die Lebensführung des Individuums in den Mittelpunkt institutioneller, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Interessen gerückt. Was das Leben sei und was es heiße, als Mensch einen Körper zu haben, unterlag höchst unterschiedlichen Auffassungen. Die mechanistischen, reduktionistischen oder vitalistischen Denkweisen erzeugten die historischen und kulturellen Körperbilder. Der Körper wurde zu einem Wissensobjekt, an dem die physiologischen und gesellschaftlichen Konzepte des Normalen und Pathologischen wirksam wurden. Wie Sarasin zeigt, wurden die physiologischen Leitbegriffe auch außerhalb der Universitäten und in nichtmedizinischen Bereichen aufgegriffen.7 Die wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse führten unbestreitbar zu einer Verbesserung des Lebensstandards, jedoch sind diese Fortschritte zugleich im Kontext von gesellschaftlicher Normalisierung zu untersuchen.8 Die disziplinären Entwicklungen fanden im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungen statt. Disziplinäre Normierung des Lebens und gesellschaftliche Normalisierung haben vielfältige historische Effekte erzeugt: Mit diesen Prozes-

damit immer noch außerhalb wissenschaftlicher Ordnungen und scheinen wissenschaftlich nicht fassbar zu sein. Allerdings geht Schmidt hier nicht weit genug, diese Zuschreibungen als Effekte diskursiver Praktiken aufzuschlüsseln, und tendiert damit zu einer Ontologisierung des Monströsen. Wenn er etwa schreibt, dass das Monster auch das Unerklärliche ist, was „sich dem Erkenntniszugang verschließt“, so scheint es, als wäre dieses Ungreifbare dem Monströsen schon von jeher eingeschrieben (ebd., 84). 7 8

Vgl. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 30. Im Abschnitt 3.5.1 Normalität als diskursives Ereignis wird mit der Arbeit von Jürgen Link auf den Begriff des Normalismus eingegangen und die Rolle der Monstrositäten für eine Geschichte der Normalisierungspraktiken diskutiert.

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sen bildete sich eine auf das Leben gerichtete Machttechnologie heraus und „das Leben [wurde] zum Gegenstand politischer Kämpfe“9. Die Physiologie, die nun „ihr forschungsgeleitetes Paradigma von den exakten naturwissenschaftlichen Disziplinen“ übernahm, avancierte damit von einer „Hilfswissenschaft der Anatomie“10 zu einer Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts. In einem System machtpolitischer und sozialer Interessen entstand hier ein neuer Raum, in dem der Körper in einem kulturund epochenspezifischen Denken hervorgebracht wurde. Die Visionen der völligen – Zufall, Kontingenz oder Unbestimmtheit ausschließenden – Beherrschbarkeit der Natur resultierten aus dem im 19. Jahrhundert mächtigen Fortschrittsgedanken. In den modernen Gesellschaften ist der Gegensatz zwischen dem Pathologischen und Normalen entscheidend für die Konzepte und die Vorstellungen vom normalen und anormalen Körper. Zugleich sind die institutionellen Regulierungen und Interventionen eng verknüpft mit disziplinären und gesellschaftlichen Normalisierungspraktiken. Die Bedeutung der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leitdifferenz des Normalen und Pathologischen hat Foucault wie folgt zusammengefasst: „Jede Gesellschaft etabliert eine Reihe von Oppositionssystemen – zwischen Gut und Böse, Erlaubt und Verboten, Kriminell und Nichtkriminell usw. Alle diese Gegensätze, die für jede Gesellschaft konstitutiv sind, reduzieren sich heute in Europa auf den einfachen Gegensatz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen.“11

In modernen Gesellschaften ist die Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen ein konstitutives Oppositionssystem, welches historisch im 19. Jahrhundert entstanden ist. Diese Differenz bringt Unterscheidungen zwischen dem Pathologischen auf der einen und dem Normalen auf der anderen Seite hervor und strukturiert damit auch die moralischen Differenzen von gut und böse wie auch von Gesundheit und Krankheit. Dabei stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich

9

Foucault, Michel: 1997a, 173.

10

Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob 1998a, 24. Sarasin und Tanner beschreiben hier vor allem den Umbau und die Neustrukturierung des Wissenschaftsbetriebes und verdeutlichen, wie die Physiologie in ein Netzwerk von politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Interessen integriert wurde.

11

Foucault, Michel: 1996a, 11.

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der Begriff der Monstrosität den Regeln eines Diskurses fügt, der das Pathologische im Zusammenhang mit der Normalität entwickelt. Wenn der Normalismus die Leitidee der physiologischen Diskurse im 19. Jahrhundert darstellt, dann wird das, was als normaler oder gesunder Körper verstanden wurde, in einem Denken der Differenz hervorgebracht: Im Hinblick auf diese Differenzierung fällt das Monströse auf die Seite des Pathologischen. In dieser Perspektive ist der monströse Körper die andere Seite des Normalen, des richtigen oder gesunden Körpers. Monstrositäten stehen für das Andere. Das Verhältnis dieser beiden Begriffe ist jedoch kein statisches, sondern unterliegt einem Wandlungsprozess. An den Begriff des Monströsen werden also Ansprüche gestellt, die auf bestimmten Wissens- und Machtstrukturen beruhen und Gegensätze konstituieren. Diese Strukturen werden dabei von einem institutionellen Netz getragen, das sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Sie zielen auf den Körper ab. Diskurse besitzen eine Produktivität und bilden einen konstitutiven Prozess moderner Macht. Die Realität des Körpers, die scheinbar natürliche Faktizität des Anderen ist nur mittels einer Analyse der spezifisch-historischen Diskurse zu befragen. Der Körper ist diesen machtvollen Beschreibungen nicht vorgängig, deshalb müssen die diskursiven Praktiken untersucht werden, mit denen der Körper materialisiert und naturalisiert wird bzw. mit denen der natürliche Körper erzeugt wird und gegebenenfalls als außergewöhnliches Phänomen seine Selbstverständlichkeit erlangt. Mit dem methodischen Verfahren einer Diskursanalyse12 wird „das Natürliche selbst in Frage gestellt: es erscheint aus diskursanalytischer Perspektive als Machteffekt des kulturell Konstruierten und technologisch Hergestellten“13. Es ist die List der Macht, diese Eigenschaften des Körpers als unhintergehbare Tatsache zu erzeugen, und sie ist dort wirksam, wo sie die natürliche Materialität des Körpers hergestellt hat.14

12

Im 3. Kapitel unternehme ich keine Diskursanalyse, sondern beschäftige mich systematisch mit den diskursanalytischen Ergebnissen von Michael Hagner, Jürgen Link, Georges Canguilhem und Michel Foucault. Im 4. Kapitel werde ich anhand historischer Quellen exemplarische Analysen durchführen.

13

Bublitz, Hannelore: 2003a, 10.

14

Foucault schreibt, dass Diskurse keineswegs immateriell, sondern immer „auf der Ebene der Materialität wirksam“ sind. Das diskursive Ereignis hat seinen Ort und „besteht in der Beziehung, der Koexistenz, der Streuung,

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Das, was als monströser Körper definiert wird, unterliegt damit den historischen Bedingungen, in denen seine Bedeutungen hervorgebracht werden. Insofern lassen sich die historischen Veränderungen als eine Verschiebung von Differenzen verstehen. Sie sorgen dafür, dass das dichotome Verhältnis zwischen dem kranken und gesunden Körper abgelöst wird: Die Bedeutungen des Körpers werden nun „in einem Feld konstituiert, das vom Gegensatz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen bestimmt“15 und von Prozessen der Wahrheitsproduktion durchzogen ist. Die Differenz von Normalem und Pathologischem ist – wie mit Foucault eingangs dargestellt – konstitutiv für die moderne Gesellschaft: Nun gehören die heterogenen Bereiche des anderen und des eigenen Körpers zusammen. Als ein kultureller Code bildet diese konstitutive Differenz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen eine übergeordnete Struktur wissenschaftlicher Aussagen. Bublitz schreibt: „Die Geschichte ‚des Anderen‘ und ‚des Gleichen‘ fällt jetzt nicht mehr auseinander, sondern sie wird durch den Diskurs oder die diskursiven Ereignisse als Verhältnis ‚des Gleichen‘ integriert.“16

Die Physiologie des 19. Jahrhunderts, die sich als Leitwissenschaft mit der Differenz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen konstituiert hat, war auch entscheidend für die Konstruktion des Anderen.

der Überschneidung, der Anhäufung, der Selektion materieller Elemente; es ist weder der Akt noch die Eigenschaft des Körpers“ (Foucault, Michel: 1997, 37). Foucaults Denken schreibt nicht nur dem Körper eine unerbittliche Historizität zu, es zielt vielmehr auf eine radikale Diskursivität des Materiellen. Für Foucault ist jede Differenz zwischen Leib und Körper selbst Postulat machtvoller Konstellation. An anderer Stelle schreibt er über den Diskurs des Körpers: „Die ‚wirkliche‘ Historie stützt sich im Gegensatz zu der der Historiker auf keine Konstanz: nichts am Menschen – auch nicht sein Leib – ist so fest, um auch die anderen Menschen verstehen und sich in ihnen wieder erkennen zu können. Alles, woran man sich anlehnt […], muss zerbrochen werden“ (Foucault, Michel: 1998, 57). So schließt Foucault letztlich auch eine Perspektive auf die Möglichkeit aus, die Erfassung und Historisierung des Körpers als materielle und diskursive Praktiken zu betrachten. 15

Foucault, Michel: 1996, 53.

16

Bublitz, Hannelore: 2003a, 47.

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Hier wurden „wissenschaftliche Kriterien für die Ausgrenzung des Fremden“17 bestimmt und konstruiert. Diskurse haben somit eine ausschließende und eine einschließende Funktion. Sie sind ein „Effekt der Ausschließungsmaßnahmen“18, mit denen die Gegenstände und Objekte kategorisiert, diszipliniert und schließlich normalisiert werden. Die Faktizität und Naturalisierung des Körpers ist das Ergebnis wissenschaftlicher und kultureller Praktiken.

3.2 G ESCHLECHTERDISKURS: Z UR KONVERGENZ G ESCHLECHT UND M ONSTROSITÄT

VON

„Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstockes.“19

Im Folgenden werden zunächst die Diskurse untersucht, in denen über die Monstrositäten und das Geschlecht verhandelt wurde. Dabei zeichnete sich seit dem 18. Jahrhundert eine Veränderung ab. Waren Monstrosität und Geschlecht im 18. Jahrhundert noch auf zwei unterschiedliche Wissensbestände bezogen, bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis zwischen diesen beiden Kategorien heraus, das ausschlaggebend für eine Rede über monströse Körper war. Die modernen Humanwissenschaften haben eine biologisch codierte Geschlechterdifferenz begründet. Dieser Auffassung liegt die Annahme zugrunde, dass die Bedeutungen des Körpers durch Wissens- und Machtstrukturen hergestellt werden. Die sozialen und kulturellen Vorstellungen über den biologisch-anatomischen Geschlechtskörper sind demnach das Ergebnis von historisch spezifischen Konstellationen und wissenschaftlichen Codierungen. Dass Geschlechterdifferenz eine anatomisch-biologische Tatsache wurde, leitet sich nicht aus einer inneren Logik des Körpers ab, sondern ist das Ergebnis von diskursiven Ereignissen.20 Im folgenden Abschnitt werden jene Orte des Wissens untersucht, an denen

17

Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 37.

18

Bublitz, Hannelore: 2003a, 48.

19

Virchow, Rudolf: 2007 [1848], 747.

20

Vgl. Bublitz, Hannelore: 1998, 15 ff.

GESCHLECHTERDISKURS

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seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Geschlecht und Monstrosität in ein wechselvolles Verhältnis gesetzt wurden. In Diderots D’Alemberts Traum aus dem Jahr 1769 gehören die Wissensformationen der Monstrositäten und des Geschlechts noch zwei unterschiedlichen Orten an. „Mir fällt etwas ganz Verrücktes ein“, leitet Frau von Lespinasse ein Gespräch mit dem Arzt Bordeu ein und stellt folgende Vermutung auf: „Vielleicht ist der Mann nur die Missbildung des Weibes oder das Weib nur die Missbildung des Mannes.“ Und Bordeu antwortet: „Diese Idee wäre Ihnen wohl schon früher gekommen, wenn Sie gewusst hätten, daß die Frau alle Körperteile des Mannes hat und daß der einzige Unterschied darin besteht, dass ein Beutel das eine Mal nach außen heraushängt und das andere Mal nach innen gestülpt ist.“21

Bordeu vertritt mit dieser Annahme ein Modell der Geschlechteranalogie22, das bis ins 18. Jahrhundert hinein wissenschaftlich wirksam war. Hier zeichnet sich noch ein Gleiten zwischen den Geschlechterpositionen ab, mit dem der weibliche und der männliche Körper in einem Diskurs der Identität gedacht wurden. Mann oder Frau können jeweils als Missbildungen des anderen erscheinen. Das, was Diderot als Missbil-

21

Diderot, Denis: 1989, 108.

22

Vgl. Laquer, Thomas: 1996. Laquer hat in seiner Studie Auf den Leib geschrieben anhand historischer Quellen aus der Anatomie und Medizin gezeigt, dass bis zum 18. Jahrhundert ein Ein-Geschlechter-Modell (im Orig. „One-Sex-Model“) vertreten wurde. Damit ist aber nicht gemeint, dass mit der Geschlechteranalogie auch eine Gleichheit der Geschlechter im sozialen Raum vertreten wurde. Vielmehr wurde bis ins 18. Jahrhundert der Unterschied zwischen den Geschlechtern (gender) noch nicht mit dem biologischen Geschlecht (sex) begründet. Wie weiter unten ausgeführt wird, ist die Erkenntnis, dass es einen biologischen Geschlechterunterschied gebe, nicht als Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts, sondern der biologischen Fundierungen des Geschlechterunterschiedes zu betrachten; sie stellt mithin eine epistemologische und politische Entwicklung dar. Darauf werde ich weiter unten im Abschnitt Heterogene Aussagen und kanonisiertes Wissen eingehen.

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dung anspricht, wird mit dem Begriff der Monstrosität weitergeführt.23 Zwischen Geschlecht und Monstrositäten besteht noch ein offenes und wechselseitiges Verhältnis des Austauschs.24 Wie Hagner schreibt, seien im diderotschen Denken die „Parameter für die Geschlechterdifferenz“25 noch nicht wirksam, mit denen nur wenige Jahrzehnte später mit der Dichotomie von Normalität und Anormalität die sexuelle Differenz festgeschrieben wurde. Inwieweit verbinden sich bei Diderot sexuelle Differenz, Geschlechterdiskurs und teratologisches Denken ? Geschlecht und Monstrosität sind bei Diderot noch nicht in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang gedacht und stellen insofern nur programmatisch die Parameter einer neuen Körperpolitik dar. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Geschlecht und Monstrosität so weit synthetisiert, dass vom monströsen weiblichen Geschlechtskörper gesprochen werden konnte. Im diderotschen Text wurden die Definitionen des Geschlechts noch im Rahmen eines morphologischen Gesamtkonzepts gedacht – erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entsteht ein Blick auf die einzelnen Körperteile. Der Organismus steht noch im Blickfeld einer morphologischen Gesamtheit.26 Für eine Ordnung der Geschlechter wird der Begriff der Monstrosität bei Diderot nicht herangezogen. Die Möglichkeit, Erkenntnisse über die organische Entwicklung und über das Leben zu gewinnen, ist hier noch als Gedankenspiel formuliert. Die Monstrosität erhält bei Diderot eine Funktion für ein Denken der Möglichkeiten natürlicher Bildungen und Fehlbildungen. Wie Zürcher betont, wird hier das Monströse in Form eines theoretischen Experiments verhandelt:

23

Eine Übertragung des Begriffes der Missbildung im diderotschen Text in den der Monstrosität wurde auch an anderer Stelle vollzogen. So etwa Hagner, Michael: 2005b, 105 f.

24

In den Arbeiten von Schiebinger und Duden wurde gezeigt, dass Geschlechterverhältnisse immer hierarchisch gedacht wurden (vgl. Schiebinger, Londa: 1999; Duden, Barbara: 1987).

25

Hagner, Michael: 2005b, 106.

26

Der geteilte und fragmentierte Körper war von jeher von Interesse für wissenschaftliche Interventionen. Jedoch zeichnet sich erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein Prozess der zunehmenden Körperfragmentierung ab, der sich „in der zunehmenden Spezialisierung der Medizin auf einzelne Körperteile“ manifestiert (Eckart, Wolfgang Uwe/Jütte, Robert: 2007, 212). Für weitere Ausführungen zum fragmentierten Körper vgl. Benthien, Claudia/ Wolf, Christoph: 2001.

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„Das Monströse besitzt die Eigenschaft eines faszinierenden Zerr- oder Zauberspiegels, der das Potenzial menschlicher Körper aufschimmern lässt und zugleich als Projektionsfläche essenzieller Fragen dient.“27

Damit beschreibt Zürcher das Neue im teratologischen Denken, das in dem Text von Diderot schon implizit enthalten ist. Experiment, Möglichkeit und Vielfältigkeit sind die erstaunlichen Elemente des Textes, der einen visionären Ort der zukünftigen Humanwissenschaften entwirft. Während Diderot Geschlecht und Monstrosität unterschiedlichen Wissensbereichen zuordnete, wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts beide Bereiche miteinander verbunden. Die Praktiken der Sammlung und der Aufzeichnung reichen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr aus, um wissenschaftliche Aussagen zu machen. Aussagen über Kasuistik, Verlauf, Entstehung und Ursachen haben die Monstrosität als morphologisches Resultat im dynamischen Denken wissenschaftlich uninteressant werden lassen. Nicht die Frage, was die Monstrosität ist, sondern das Interesse daran, wie diese entstanden ist, zeichnet im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Haltung gegenüber den Objekten des Wissens aus. Die Monstrosität war nun das Resultat einer Entwicklung, die es zu beschreiben galt, und sie wurde wissenschaftlich in Analogie zum weiblichen Körper gesetzt.28 Deshalb richtete sich der Blick auf die Entstehung des

27 28

Zürcher, Urs: 2004, 48. Monstrositäten wurden damit zu Indizien einer falschen Entwicklung. Im vierten Kapitel werde ich auf das Paradigma der Indizien weiter eingehen und argumentieren, dass damit vor allem der weibliche Körper im Fokus wissenschaftlicher Forschung stand. Carlo Ginzburg hat gezeigt, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts „stillschweigend eine neue Vorgehensweise aufgetaucht ist: ein epistemologisches Modell (oder wenn man will, ein Paradigma), dem bislang noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wurde“ (Ginzburg, Carlo: 2002, 7). Ginzburg geht es um die entscheidenden historischen Konstellationen, im Rahmen derer die mathematische Methode in die Humanwissenschaften aufgenommen und zugleich auch für die Bewertung gesellschaftlicher Prozesse herangezogen wurde (ebd., 39). Mit dem Indizienparadigma haben die Humanwissenschaften begonnen, „Urteile über den Menschen und die Gesellschaft auf der Basis von Indizien und Symptomen“ zu formulieren (ebd., 48). Letztlich sei aber zu fragen, ob sich mathematische Regeln dafür eignen, „ausgesprochen oder formalisiert zu werden“ (ebd., 49). Das Indizienparadigma des 19. Jahrhundert wird auch

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weiblichen Körpers und auf die Prozesse, die in diesem verortet wurden. Der wissenschaftliche Blick verlagerte das Monströse immer weiter in den Körper hinein und führte es zugleich aus dem Körper heraus.29 Diese Entwicklung hängt aufs Engste mit der Anordnung der Dinge im wissenschaftlichen Denken zusammen. Die Bedeutungen des monströsen Körpers wurden in eine serielle Anordnung gebracht. Mit dem Entwicklungsgedanken wurden die Bedeutungsfelder auf einer räumlich und zeitlich erweiterten Achse angeordnet.30 In dieser seriellen Anordnung der Dinge musste der einzigartige, individuelle Fall einem quantifizierenden Erkenntnisinteresse genügen. Das, was an Monstrositäten interessant wurde, war die Bestimmung des Zeitpunktes, an dem Unregelmäßigkeiten bzw. Abweichungen von der normalen Entwicklung entstanden. Der Blick richtete sich nicht mehr nur auf das Monströse, sondern auf die vielfältigen Unregelmäßigkeiten. Jede kleine Abweichung konnte damit im Prinzip ein Indiz für eine monströse Entwicklung werden. Es wurde ein enormer wissenschaftlicher Aufwand betrieben, um die zahlreichen Abweichungen in einen Vergleich mit Monstrositäten zu bringen und zugleich die Monstrositäten auf ihren Ursprung zurückzuführen. Diese Dynamik des Suchens, des Vergewisserns und des stetigen Vergleichs stellt eine neue Vorgehensweise im Umgang mit Monstrositäten dar. Die zahlreichen wissenschaftlichen Verhandlungen über das „Neue“, den „Einzelfall“ oder das „Rätsel“ veranschaulichen, dass Monstrositäten im wissenschaftlichen Denken als Störfälle auftauchen. Dennoch geht die Faszination nicht dem wissenschaftlichen Diskurs voran. Vielmehr zeigt sich im wissenschaftlichen Zugriff auf den monströsen Körper, wie in den Rekonstruktionsprozessen, mit denen der wissenschaftliche

bei Dornhof wieder aufgenommen und dient hier als Argumentationsfigur für den in den Naturwissenschaften produzierten „Rest“, also den verborgenen Bereich und damit auch die verworfene Zone der wissenschaftlichen Bestimmung und Erfassung des Körpers. Anhand der Matrix des Sichtbaren und Verborgenen widmet sich Dornhof den „Orten des Wissens im Verborgenen“, wie der Titel ihrer Studie lautet. Sowohl die Kriminologie als auch die Medizin entwickeln im ausgehenden 19. Jahrhundert ihre Erkenntnisse in einem Netz von Zeichen am verhüllten Patienten wie auch am Kriminellen: „Bei beiden handelt es sich um produzierte Geheimnisse, um etwas Verborgenes“ (Dornhof, Dorothea: 2005, 255). 29

Vgl. Zürcher, Urs: 2004, 234.

30

Vgl. Hagner, Michael: 2007, 187.

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Gegenstand hervorgebracht wird, Geschlecht und Monstrosität konvergieren. Hier werden die Zonen des Unbestimmten und Rätselhaften31 geschaffen, die die Medizin und Anthropologie des 19. Jahrhunderts dazu veranlassen werden, sich speziell dem weiblichen Körper zuzuwenden. Zugleich zeigt sich daran auch, dass sich die Bedeutungen von Monstrositäten nicht ausschließlich in einem Feld wissenschaftlicher Praktiken erschöpfen.32 Ende des 19. Jahrhundert wurde nicht die Frage verhandelt, was eine Monstrosität ist. Das Interesse richtete sich vielmehr darauf, welche Entwicklungen und Ursachen untersucht werden mussten, um die morphologischen Phänomene als Resultate einer Fehlentwicklung beschreiben zu können. Am Anfang einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Monstrositäten stand nicht die Faszination, stattdessen wurden sie als Resultat einer Entwicklung verstanden, die hergeleitet werden musste. In einem Diskurs der Prävention und Intervention wurden Monstrositäten zur Sprache gebracht. Aus der Taxonomie des Monsters entwickelte sich ein Aufzeichnungssystem von prozessualer Entwicklung, Prävention und

31

Auch Freud entwirft die weibliche Psyche und das weibliche Geschlecht als Rätsel: „Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie“ (Freud, Sigmund: 1948a, 241: Hervorh. im Orig.; vgl. auch Freud, Sigmund: 1948). Linde Salber hat diese Spannung im freudschen Werk nachgezeichnet: Wenngleich das Weibliche als ein „Dunkler Kontinent“ gedacht wird, kommt ihm eine große Bedeutung für das Denken und Forschen von Freud zu (vgl. Salber, Linde: 2006).

32

Dornhof zeigt zwar auf, wie diese wissenschaftlichen Konstruktionen des Monströsen immer entlang des weiblichen Körpers ausgehandelt wurden, aber sie betont, dass hier ein dämonischer Austragungsort entstanden sei. In dieser Argumentation bedient sie sich weiterhin eines ontologisierten Begriffes des Monsters (vgl. Dornhof, Dorothea: 2005, 253). Auch Hagner verweist in diesem Zusammenhang auf eine neue Feindschaft zwischen Monstrosität und der Ordnung der Dinge, die eine erneute Instrumentalisierung im Geschlechterdiskurs markiere (vgl. Hagner, Michael: 2005b, 107). Aber letztlich entwickeln beide Autoren ausschließlich eine Perspektive auf die epistemologisch-naturalisierte Monstrosität und reduzieren damit die Bedeutungen von Monstrositäten auf repressive Prozesse der wissenschaftlichen Unfassbarkeit.

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neuen Interventionen. Monstrositäten wurden wie auch das Geschlecht im Modus der wissenschaftlichen Bewertung als Wissensobjekte sowohl identifiziert als auch destabilisiert. Sowohl Monstrositäten als auch der weibliche Körper wurden bevorzugte Objekte wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und Neugier; diese Tatsache verlangt, das Wissen über den Körper in einem größeren historischen Zusammenhang zu betrachten. Monstrositäten sind nicht geschlechtsneutral und wissenschaftliche Erkenntnisinteressen am weiblichen Körper sind nicht ohne Rekurs auf kulturelle Praktiken zu analysieren. Die zahlreichen Verfahren zur Bestimmung des monströsen Körpers, die räumliche Anordnung der Dinge und die Erfassung körperlicher Prozesse sind an eine politische Anatomie des Körpers gebunden.33 Über den monströsen Geschlechtskörper hinweg wurden soziale und politische Fragestellungen erörtert. Zahlreiche Studien über die Verwissenschaftlichung des weiblichen Körpers haben gezeigt, dass die biologisch-anatomisch begründete Geschlechterdifferenz auf einem einschneidenden Wandel der wissenschaftlichen Praktiken beruht und historisch zu fassen ist.34 Es ist die Geschichte der zunehmenden Fragmentierung des weiblichen Körpers, mit der sich der Geschlechterdiskurs der Differenz und Inkommensurabilität des Männlichen und Weiblichen herausbildete. Auch die modernen Formatierungen von Monstrositäten sind in einem Prozess der Fragmentierung des Körpers entstanden, und zwar dort, wo diese Bruchstücke mit Kategorien des Geschlechts verknüpft wurden. So ist im wissenschaftlichen Diskurs der Geschlechterdifferenz auch das Monströse nicht mehr geschlechtsneutral zu denken, seitdem am Ende des 19. Jahrhunderts der weiblich-monströse Geschlechtskörper konstituiert wurde. Sowohl der weibliche Körper als auch die Monstrosität wurden zu Wissensobjekten. Um diese beiden bisher nicht zusammengeführten Praktiken in ihrer historischen Entwicklung zu analysieren, werden im Folgenden zunächst die wissenschaftlichen Praktiken erörtert, mit denen der weibliche Körper

33

Vgl. Foucault, Michel: 2003, 258.

34

Im deutschsprachigen Raum einschlägige Werke stammen von Honegger, Claudia: 1991; Duden, Barbara: 1987, 1991. Eine dezidiert wissenschaftsfeministische Perspektive auf die Naturwissenschaften hat Londa Schiebinger in ihren Arbeiten eingenommen (vgl. Schiebinger, Londa: 1993, 1995). Eine Einführung in die Körpergeschichte mit einem detaillierten Verzeichnis einschlägiger Werke hat Maren Lorenz vorgelegt (vgl. Lorenz, Maren: 2000).

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zu einem Wissensobjekt wurde. In einem weiteren Schritt werden dann die Schnittstellen und Spannungen zwischen den Definitionen des monströsen Objektes und dem Geschlechterdiskurs aufgezeigt. Bis zum 18. Jahrhundert war Geschlecht eine Oberflächenerscheinung, die Organe wurden in Strukturen des Austausches und der wechselseitigen Perspektive gedacht. Die Schlüsselbegriffe für eine Unterscheidung der Geschlechter waren Hitze, Fettschicht und Feuchtigkeit. Bis dahin führte man die Kategorisierungen auf das Vorhandensein von inneren oder äußeren Geschlechtsorganen zurück. „Das Desinteresse der frühmodernen Anatomen an der Frage des Geschlechterunterschiedes“ ist nicht ausschließlich – wie Londa Schiebinger schreibt – auf „eine Unkenntnis des weiblichen Geschlechtskörpers zurückzuführen.“35 Bereits im Mittelalter wurden Sektionen am geöffneten Leib vorgenommen und es bestand durchaus auch in dieser Zeit ein Wissen über die weibliche Anatomie. Wie Schiebinger an den Darstellungen und Zeichnungen der Anatomen nachgewiesen hat, wurden diese Unterschiede jedoch nicht auf weitere Regionen des Körpers ausgeweitet, auch wenn den medizinischen Illustrationen des weiblichen Körpers zusätzliche Geschlechtsmerkmale wie Kleidung oder Haare hinzugefügt wurden.36 Erst seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich eine biologisch begründete Divergenz zwischen den Geschlechtern, in der Folge wurden zunehmend alle Regionen des Körpers geschlechtsspezifisch besetzt. Schiebinger schreibt über diesen grundsätzlichen Wandel der Geschlechterpolitik: „Der radikale Wandel in der Anschauungsweise des Sexus, der im 18. Jahrhundert stattfand, beschränkte Geschlechtlichkeit nicht mehr auf die Fortpflanzungsorgane; von nun an galt, sie durchdringe den ganzen menschlichen Körper. Diese erneute Sexualisierung des Körpers warf für die Wissenschaft unzählige Fragen […] auf. Darunter vornehmlich auch die, ob es, abgesehen von den Genitalien, noch weitere signifikante Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern gebe. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts entwickelten die europäischen Anatomen die Vorstellung eines männlichen und eines weiblichen Körpers, von denen beide ihr spezifisches Telos hatten.“37

35

Schiebinger, Londa: 1993, 260.

36

Vgl. Schiebinger, Londa: 1993, 262.

37

Schiebinger, Londa: 1993, 270.

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Die Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen erforderte einen Blick, der tiefer ging, zugleich waren wissenschaftliche Kriterien erforderlich, mit denen das Telos des weiblichen Körpers in den sozialen Bereich übersetzt werden konnte. Das anatomische Blickdispositiv der modernen Anatomie begründete die biologische Fundierung einer Kultur der sexuellen Differenz. Wie Honegger gezeigt hat, bildete sich Mitte des 18. Jahrhunderts eine ‚Sonderanthropologie des Weibes‘ heraus. Mit dem Paradigma der Klassifikation wurden Geschlechter nicht nur differenziert, sondern auch hierarchisiert. Letztlich wurde zwar in wissenschaftlicher Perspektive die Sonderstellung der Frau verabschiedet, die „Disziplinierung der Differenz“38 hat jedoch – weit über die Wissenschaften hinaus – im sozialen Bereich ihre Wirkung entfaltet. Mit der Disziplinierung der Differenz wurden die gesellschaftspolitischen Hierarchien abgesichert.39 Vor allem mit den neuen Wissenschaften der Gynäkologie und der Embryologie konnte die Inkommensurabilität der Geschlechter festgeschrieben werden. Diese hat bis heute „tiefe Furchen in den kognitiven Grundarrangements der Humanwissenschaften wie in den alltäglichen handlungsrelevanten Deutungsmustern hinterlassen“40. Die Herausbildung einer eigenständigen Wissenschaft von der Frau hat das gesamte 18. und das frühe 19. Jahrhundert beschäftigt und zugleich den weiblichen Körper in seiner sozialen Bedeutung begründet. Mit dieser Entwicklung bildete sich ein komplexer Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Praktiken wie der Gynäkologie und der Stellung der Frau im sozialen Bereich heraus. Die moderne Geschlechtertheorie war von Anfang an verbunden mit der Frage nach dem Leben und den modernen Selbstverhältnissen. Der historische Begründer der modernen Gynäkologie Gustav Carus hatte in seinen Schriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits

38

Honegger, Claudia: 1991, 213.

39

Natürlich gab es auch zuvor unhintergehbare gesellschaftliche Hierarchien der Geschlechter, aber sie wurden nicht von den kleinsten wissenschaftlichen (z. B. biologischen) Fragmentierungen ausgehend in den soziokulturellen Raum übersetzt. Diese Regeln waren starre Fixierungen, denen der epigenetische Diskurs des Lebendigen, der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Geschlechterdifferenz noch nicht eingeschrieben war. Schiebinger argumentiert, dass durchaus auch das durch Galen geprägte wissenschaftliche Bild Hierarchien zwischen den Geschlechtern erlaubt habe (vgl. Schiebinger, Londa: 1993, 229–254).

40

Honegger, Claudia: 1991, 212.

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Ansätze für eine Wissenschaft „vom Weibe“ entwickelt. Wie Honegger schreibt, beschränkte sich zuvor das Forschungsinteresse noch auf Darstellungen ungewöhnlicher Phänomene; man versuchte auf recht unsystematische Weise, sich den Absonderlichkeiten und Seltenheiten zuzuwenden. Mit den von Carus veröffentlichten Schriften wurden diese isolierten Seltenheiten und Erfindungen in eine neue Wissenschaft integriert. Honegger konstatiert, dass diese Arbeit „entscheidend dazu beitrug, diesem ‚Gegenstandsbereich‘ zu einer lang andauernden wissenschaftlichen Eigenwürde zu verhelfen“. Spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts begannen nun die Mediziner, sich mit „Inbrunst des ganzen Weibes anzunehmen“41. Die Humanwissenschaften schufen also nicht nur das diskursive Arrangement einer Wissenschaft vom Menschen, sondern auch das einer Wissenschaft des „Weibes“. Als das biologisch Andere wurde das Weibliche zum Prinzip des Unvollendeten. Im epigenetischen Diskurs des Lebens entfaltete die Geschlechterdifferenz ihre kulturelle und politische Wirksamkeit: Das Paradigma der Entwicklung wurde eine entscheidende Argumentationsfigur für die Stellung der Frau. Wie Honegger anhand medizinischer Schriften des 19. Jahrhunderts nachwies, findet sich als eines der wissenschaftlichen Kriterien für die körperliche Organisation des Geschlechts das Prinzip des weiblich Unvollendeten.42 Das medizinische Blickdispositiv setzte sich allmählich von einem organismischen Denken ab und leitete Geschlecht von Parametern der Hormone, der Lust und der Triebrichtung her.43 Im Zusammenspiel phy-

41

Honegger, Claudia: 1991, 203 f.

42

Die Untersuchungen zu der diskursiven Figur der „Unvollständigkeit des Weibes“ haben dazu beigetragen, dass der verschärft induktive Blick der neuen Frauenforschung unendlich in die „Interdependenzen zur sozialen Organisation hin verlängert werden“ konnte (vgl. Honegger, Claudia: 1991, 206). Der Körper wurde für die Bedeutungen weiblicher Funktionszusammenhänge sowohl in biologischer als auch in sozialer Hinsicht beschrieben. Der sexualisierte Blick stellt einen – wie Duden schreibt – vielschichtigen Text des anatomisierten Körpers her. Sie betont damit die Bedeutung der Kategorie des Geschlechts für die Zusammenhänge zwischen kulturellen Vorstellungen und wissenschaftlichen Praktiken (vgl. Duden, Barbara: 1987, 44).

43

Vgl. Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927. Ploss und Bartels betonen die Instabilität und Dynamik ehemals starrer Fixierungen der Differenzen von

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sischer und psychischer Kriterien wurde die moderne Wissenschaft vom ‚Weibe‘ abgelöst, die sich noch auf eine wissenschaftliche Systematik organischer Differenzen bezog. Honegger schreibt dazu: „Mit dem Aufstieg der Ovarien in der sinnkonstituierenden Hierarchie des weiblichen Leibes und mit der Begründung der Zellularpathologie durch Rudolf Virchow verliert das für die moderne Codierung der beiden Geschlechter so zentrale Dual Irritabilität versus Sensibilität in der modernen Medizin allmählich an Bedeutung, um dafür etwa in der Soziologie wieder aufzutauchen.“44

Geschlecht. Die Differenz der Geschlechter wird nun mit Merkmalen innerer Sektion (Hormone, Drüsen, Leitungsorgane) und des richtigen Geschlechtstriebs begründet. Die Erkenntnisse werden zudem mit Experimenten unterfüttert, in denen man bspw. bei Tieren Hoden entfernte und wieder einnähte (vgl. ebd., 10). Diese Transformationen werden im Abschnitt 4.4 Der weibliche Körper als Gegenstand medizinisch-ethnologischer Aussagen mit den Arbeiten von Ploss und Bartels ausführlich diskutiert. 44

Honegger, Claudia: 1991, 212. Die Sensibilität wurde dem weiblichen und die Irritabilität dem männlichen Körper zugeordnet. Über diese wissenschaftlichen Ordnungen konnten dann Aussagen über den weiblichen Körper auf das weibliche Verhalten übertragen werden. Der Begriff der Irritabilität wurde im 17. Jahrhundert von Francis Glisson geprägt und von Albrecht von Haller (1708–1777) weitergeführt. Im Kontext der Reiztheorie grenzte Haller die Irritabilität der Muskeln (bei Reiz zieht sich der Muskel zusammen) von der Sensibilität der Nerven (Schmerz, Gefühl) ab. Honegger knüpft in ihrer Studie an einen wissenschaftshistorischen Diskurs des 18. Jahrhunderts in der Anatomie und Biologie an und widmet sich einem bis dahin kaum untersuchten Bereich für die Konstruktion der biologischen Zweigeschlechtlichkeit, um die historischen Verbindungen zwischen Wissenschaft und Kultur aufzuzeigen, die zu einer ‚weiblichen Sonderanthropologie‘ geführt haben. Im Anschluss an Albrecht von Hallers Studien zur Bewegung des menschlichen Körpers zeigt sie, wie hier wissenschaftliche Aussagen über Phänomene des Lebendigen von Anfang an mit Fragen des Geschlechts verknüpft waren. Haller hatte einen grundsätzlichen Unterschied für die Bewegungsreize des menschlichen Körpers postuliert und zwischen der Irritabilität der Muskelfasern und der Sensibilität der Nervenfasern differenziert, in denen sich jeweils verschiedene Ort der Erregbarkeit aufzeigen lassen sollten: Er formulierte das Postulat zweier Grundkräfte des Körpers, das auch dann noch seine Wirksamkeit entwickelte, als es in der Medizin schon längst zur

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Die moderne Geschlechtertheorie war bestimmt von den wissenschaftlichen Normierungen und Erkenntnissen und entwickelte im sozialen Bereich eine eigenständige Dynamik. Insofern kann die Biologie und die Kultur der Geschlechter als ein vielschichtiger Prozess der gegenseitigen Wechselwirkung betrachtet werden, in dem wissenschaftliches Wissen in den soziokulturellen Bereich verschoben wird und hier seine Wirksamkeit entwickelt.45 Die Bipolarität der Geschlechter wurde damit zu einem

Unterordnung der Irritabilität unter die Sensibilität gekommen war. „[D]ie innermedizinische Aufwertung von Nervensystem und Sensibilität verlief nicht nur parallel zur kulturellen Mode der Empfindsamkeit, sondern auch zu einer schulübergreifenden Aufteilung der beiden Grundkräfte des lebenden Körpers auf die beiden Geschlechter. Denn daß im weiblichen Organismus die Sensibilität vorherrschte, schien eine nahe liegende Hypothese, die von vielen Physiologen geteilt, von den späteren Psychophysiologen aufs feinste ausgesponnen, und so wissenschaftlich legitimiert ein langes Jahrhundert kulturbedeutsam werden sollte“ (Honegger, Claudia: 1991, 133). In der Medizingeschichte wird der Begriff der Irritabilität näher erläutert, um zu zeigen, wie hiermit verschiedene Konzepte der Unterscheidung von lebendiger und unbelebter Materie historisch zu fassen sind (vgl. Eckart, Wolfgang: 1990). Sarasin zeigt für den Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts, wie die wissenschaftlichen Diskurse der Medizin einen Modus entwickeln, um den Körper denken zu können. Mit Blick auf den Begriff der Irritabilität schreibt er eine Genealogie des hygienischen Diskurses seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Sarasin, Philipp: 2001, 51 ff.). 45

Wie Dornhof im Anschluss an Ludwik Flecks Theorie der Behaarungstendenz schreibt, können hier die impliziten und expliziten Funktionen von Gender für die Wissensproduktion aufgezeigt werden. Wie Dornhof anmerkt, könne die Idee der biologischen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen in ihrer Bedeutung als sozialer Kategorie „als eine unreflektierte wissenschaftliche Tatsache mit großer Beharrungstendenz“ nachgezeichnet werden. Insofern konzentriert sich Dornhof in ihren Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Vernetzung von Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte gerade auf die Bereiche, in denen wissenschaftliches Wissen im soziokulturellen Bereich seine Wirksamkeit entfaltet und somit seine kulturbedingte und historische Verfasstheit zeigt. Sie betont, dass die Bedeutungen der Geschlechterdifferenz in ihrem historischen Verlauf als eine „inverse Strukturierung der kulturellen Moderne“ zu verstehen sind. Im Anschluss an Honeggers Arbeiten schreibt sie, dass die Differenz der Geschlechter ein

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Postulat der Moderne, das bis heute implizit in den Alltagstheorien präsent ist und „eine Dichotomie von männlich und weiblich als natürlich und unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen existierend“46 anerkennt. Die darauf beruhenden Semantiken von Schwäche und Stärke, unvollendet und vollendet, primitiv und zivilisiert, tiefer und höher, Besonderem und Allgemeinem sind soziokulturelle und wissenschaftliche Codierungen weiblicher und männlicher Organisationsformen. Mit ihnen konstituierten diese Wissenschaften einen ahistorischen weiblichen Körper, der zugleich singularisiert, dynamisiert und pathologisiert werden konnte.47 In den Ansätzen der Body History in den 1980er Jahren wurden die Gegenstandsbereiche von Geschichte radikal erweitert. Wissenschaftliche Objekte wurden historisiert. Die Kritik richtete sich gegen jene Denktraditionen, „in denen Körperlichkeit als etwas Unhistorisches dem geschichtlichen Feld gegenübergestellt wird“48. Hierin zeigen sich die vielfältigen Zusammenhänge wissenschaftlicher und sozialer Definitionen, mittels derer sich ein gemeinsamer Bezug zwischen Körper und Gesellschaft herausbildete. Mit der Entstehung der modernen Geschlechtertheorie ist zugleich eine Naturalisierung von vielfältigen Differenzen verbunden, die als ein unabgeschlossener und offener Prozess zu betrachten ist. Mit einer Fo-

konstitutives Deutungsschema der Moderne und „als epistemologische Basis in die Objektivitäts- und Universalitätsansprüche moderner Wissenskulturen eingelagert“ ist (Dornhof, Dorothea: 2007, 312). 46

Dornhof, Dorothea: 2007, 317.

47

Anne Balsamo zeigt, dass diese Vorstellungen über den weiblichen Körper bis heute prägend sind. In ihrer Analyse chirurgisch-kosmetischer Eingriffe schreibt sie: „Der Blick diszipliniert den widerspenstigen weiblichen Körper, indem er zuerst in isolierte Teile zerlegt – Gesicht, Haare, Beine, Brüste – und diese dann als von Haus aus fehlerhaft und pathologisch definiert. Wenn Frauen das Bild eines fragmentierten Körpers verinnerlichen und dessen Fehlerhaftigkeit akzeptieren, wird jeder Teil des Körpers zu einem Schauplatz des ‚Korrigierens‘ von physischer Anormalität“ (Balsamo, Anne: 2007, 281). Balsamo untersucht nicht nur die wissenschaftlichen Praktiken der Schönheitsoperationen, sondern zeigt, wie gerade der weibliche Körper weiterhin das privilegierte Objekt eines normativen Blickes ist. Somit zeigt sie, dass an Kategorisierungen von Geschlecht auch unterschiedliche Strategien der Normalisierung gebunden sind.

48

Duden, Barbara: 1987, 9.

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kussierung auf die geschlechtliche Differenz werden moderne Subjektverhältnisse auf die Kategorie des Geschlechts reduziert. Es bedarf einer Perspektive auf die verschiedenen Achsen der Subjektivierung, um die mannigfaltigen Identitätsgrundlagen zusammenfassen zu können. Es geht indes nicht darum, den Status von marginalisierten Subjekten sichtbar zu machen oder zu glorifizieren, wie Braidotti schreibt. Vielmehr kann man mit der Figur des Monströsen den aktuellen Forderungen nach Intersektionalität gerecht werden. Daraus ergibt sich eine Erweiterung des methodologischen Instrumentariums, um zu zeigen, dass „alle Achsen der Differenzierung nach Rassenvorurteilen, Sexualisierung und Naturalisierung auf komplexe Weise in sich selbst differenziert sind.“49 Eine Geschichte der Monstrositäten und des Geschlechts veranschaulicht die mannigfaltigen Differenzierungen, mit denen die geschlechtlichen Codierungen in der Nichteinheitlichkeit von Subjekten begründet liegen. Die Prozesse der biologischen Essenzialisierung haben vielfältige und vielschichtige Differenzierungen und damit in sich widersprüchliche Zugehörigkeiten produziert. Das Anliegen dieser Kritik ist es, die historischen Achsen der Kategorien des Weiblichen aufzubrechen und zu erweitern. Es war nicht das Ziel dieser hier aufgeführten Arbeiten, eine Geschichte der Monstrositäten zu schreiben. Es ist jedoch auffällig, dass – historisch gesehen – die Verwissenschaftlichung des weiblichen Körper mit einem tiefgreifenden Wandel der Definitionen von Monstrositäten zusammenfällt. Die Verwissenschaftlichung des weiblichen Körpers und die damit verbundene Herausbildung der biologisch begründeten Geschlechterdifferenz verlaufen parallel zur Verwissenschaftlichung monströser Körperobjekte. In den wissenschaftlichen Praktiken haben Monstrositäten und der weibliche Körper einen gemeinsamen Raum erhalten. Die Schnittstellen, an denen das Monströse und das Weibliche synthetisiert und vervielfältigt wurden, dienten der Aufrechterhaltung und Verteidigung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungen. Die kulturellen Geschlechternormen konnten nicht nur debattiert werden, weil eine fundamentale Differenz der Geschlechter entwickelt wurde, sondern auch, weil man über die normale und monströse Frau sprach. Die Wissenschaften vom Leben haben das Weibliche konstituiert und damit die Kriterien geschaffen, mit denen Geschlechterordnungen für eine Differenz sowohl zwischen den Geschlechtern als auch innerhalb der jeweiligen Geschlechter verteidigt werden konnten. Der Körper

49

Braidotti, Rosi: 2008, 26.

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wurde nicht nur sexualisiert, fragmentiert und naturalisiert, sondern auch normalisiert und anormalisiert. Die Verwissenschaftlichung des Körpers und des Monströsen machten damit den weiblichen Körper zu einem speziellen Austragungsort, an dem am Ende des 19. Jahrhunderts die Parameter Geschlecht und Monstrosität – wie Dornhof schreibt – in einem anatomischen Kompendium sozialer Gefahren figuriert wurden.50 Nur weil das Weibliche als solches monströs wurde, konnten Markierungen von Gefahr und Bedrohung am weiblichen Körper operationalisierbar und sichtbar gemacht werden. Der weibliche Körper und die Monstrositäten wurden im 19. Jahrhundert als fragmentierte Objekte zu Gegenständen spezialisierter Wissensdiskurse. In ihnen manifestierten sich Bedrohung und Gefahr, Abweichung und Devianz, Risiko und Vermeidung, Hierarchie und Überlegenheit und sie wurden in wissenschaftliche und kulturelle Aussagesysteme integriert. Der von den unsystematisierten Singularitäten stimulierte wissenschaftliche Eifer wurde damit auf den weiblichen Körper im Allgemeinen verschoben. Das Rätsel, das Noch-nicht-Gewusste, die Faszination und die Herausforderung dienten der Legitimation wissenschaftlicher Forschungen. Die wissenschaftliche Konstruktion des weiblichen Körpers hatte ihren Ursprung in der Enträtselung des Geschlechts. Die singuläre, extreme Abweichung diente zur Herstellung eines allgemeinen Grundsatzes für das Weiblich-Besondere. Honegger beschreibt, wie der Gynäkologe Karl Ernst von Baer das „Daseyns-Rätsel“ der menschlichen Erkenntnis als ein Rätsel der Geschlechter entwirft.51 Dass das Geschlecht seit den Anfängen der Wissenschaft „einer der zentralen Gegenstände der wissenschaftlichen Neugierde“52 war, betont Dornhof und unterstreicht damit die konstitutive Funktion der Kategorie des Geschlechts für die wissenschaftliche Praxis. Auch die Veränderungen in der Teratologie haben zu einer Konvergenz des Denkens über Geschlecht und Monstrosität beigetragen. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der teratologische Diskurs in andere diskursive Komplexe vervielfältigt. Auf diesen Prozess hat Zürcher hingewiesen; er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sozialisierung der Teratologie“. Er betont dabei die Bedeutung des sexualisierten Diskurses: „Die teratologische Diskussion über die Missbildungen

50

Vgl. Dornhof, Dorothea: 2005, 253.

51

Vgl. Honegger, Claudia: 1991, 210.

52

Dornhof, Dorothea: 2007, 314.

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der (weiblichen) Genitalien wird unausweichlich zur hygienisch-moralischen Frage“53. Dem ist hinzuzufügen, dass die im teratologischen Diskurs entwickelten wissenschaftlichen Beschreibungen weiblicher Genitalien als monströs weiblicher Körper im Umfeld der „Rassenanthropologie“ wieder aufgegriffen und zu Fragen erweitert wurden, mit denen man über die soziale Stellung der Frau im Allgemeinen und über die rassifizierte Frau im Besonderen referierte. Die wissenschaftlichen Bestimmungen weiblicher Genitalien erzeugten zugleich auch Zonen des Unbestimmten.54 Wie Zürcher schreibt, hat sich aus der Teratologie ein diskursiver Komplex entwickelt, der über die disziplinären Grenzen der Wissenschaft hinausging und alltägliche Elemente aufgriff.55 Die Herausbildung diskursiver Komplexe von Medizin und Anthropologie, Ethnologie und Teratologie haben zu einer Konvergenz von Monstrosität und Geschlecht geführt. Allerdings ging diese Konvergenz nicht nur aus den Texten von Medizinern und Anatomen hervor, sondern wurde auch von den alltäglichen Vorstellungen über kulturelle und geschlechtliche Differenzen generiert. Bei Diderot waren die Monstrosität und das Geschlecht noch unterschiedlichen Wissensbeständen zugeordnet. Im taxonomischen Modell des Wissens wurden Monster und Geschlecht noch an unterschiedlichen Orten verhandelt. Im Text von Diderot waren bereits Merkmale der neuen Ordnung des Denkens enthalten, „mit der einen Ausnahme allerdings, daß Missbildungen je vom Standpunkt des Geschlechts aus definiert werden konnten. Diese Offenheit ging in der Embryologie ab 1800 verloren“56. Nicht mehr die disziplinierenden klassifikatorischen Taxonomien von Ausschluss und Fremdheit lagen den wissenschaftlichen Konstruktionen von Geschlecht und Monstrosität zugrunde, sondern ihre Verankerung im evolutionistischen Paradigma des Lebensbegriffes führte zu ihrer unauflöslichen Verschmelzung. Erst durch die wissenschaftliche Fragmentierung des weiblichen Körpers und des Monsters und durch die

53

Zürcher, Urs: 2004, 208.

54

Im Abschnitt 4.3.3 Wissensproduktion am Tod werden diese Prozesse dargestellt und erörtert, wie mit den wissenschaftlichen Bestimmungen stetig neue Zonen des Unbestimmten erzeugt werden (vgl. Zürcher, Urs: 2004, 222). Auch Canguilhem betont, dass die Wissenschaften bestrebt seien, das Unbestimmte zu verwerfen (vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 69).

55

Vgl. Zürcher, Urs: 2004, 209.

56

Hagner, Michael: 2005b, 106.

108 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

disziplinäre Verankerung der spezifisch weiblichen Anatomie als eigenständigem Wissensobjekt entstand ein Diskurs, der sich nicht mehr am Substanzbegriff des Monsters abarbeitete, sondern die Prozesse der normalen und anormalen Entwicklung entlang des weiblichen Körpers und der kulturellen Differenz aufspürte. Insofern ist es von Interesse, auch die Fragmentierungen des monströsen Körpers zu kleinen Wissensobjekten, die sich partiell im Körper entfalteten, darzustellen. Die Verwissenschaftlichung der Monstrositäten und des Geschlechts ermöglichte am Ende des 19. Jahrhunderts einen nicht mehr ausschließlich auf den disziplinären Normierungen der Medizin oder Anthropologie beruhenden Diskurs über den monströsen Geschlechtskörper, der die kleinen Anomalien des Lebens in die sozialen Gefahrenzonen und in die kulturellen (männlichen) Überlegenheitsbehauptungen verlagerte. In den folgenden Abschnitten des dritten Kapitels wird an ausgewählten Beispielen die epistemologische Funktion von Monstrositäten im wissenschaftlichen Diskurs dargestellt, um dann ihre konstitutive Rolle in wissenschaftlichen und kulturellen Normalisierungsprozessen zu erörtern. Zunächst wird im folgenden Abschnitt dargestellt, dass der wissenschaftliche Zugriff auf Monstrositäten Prozesse der Zergliederung, Fragmentierung und Rekonstruktion erforderte, mit denen Bedeutungsfelder von Monstrositäten im Inneren des Körpers konfiguriert werden konnten. Die gleitende Positionierung des Monströsen, seine Nähe zum Normalen beansprucht eine Fixierung. Diese Prozesse bleiben unberücksichtigt und können nicht erfasst werden, wenn – wie im Folgenden gezeigt wird – die Geschichte der Monstrositäten weiterhin aus der traditionellen Perspektive der Medizingeschichte geschrieben wird.

3.3 D IE M EDIZIN ALS L EITWISSENSCHAFT DER M ONSTROSITÄTEN: ZWEI B ETRACHTUNGEN Am Beispiel eines Textes aus dem Jahr 1889 soll im Folgenden das medizinische Forschungsinteresse an den Monstrositäten sichtbar gemacht werden. Im Übergang vom taxonomischen Modell der Sammlungen hin zum diachronen Interesse an Entwicklungszusammenhängen kann gezeigt werden, wie die Rolle von Monstrositäten neu konfiguriert wurde. Dabei geht es erstens um eine stabile Differenzierung zwischen Abweichung und Norm und zweitens um die Möglichkeiten eines verbesserten technologischen Forschungszuganges. Dem historischen Text aus dem 19. Jahrhundert wird dann ein Text aus den 1980er Jahren gegenüber-

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gestellt, in dem die Entwicklung der Teratologie aus der disziplinären Perspektive der Medizin erörtert wird. Mit dem Fokus auf den verbesserten Möglichkeiten technischer Untersuchungsrahmen wird in diesem Text im Sinne einer Fortschrittshypothese eine Geschichte über Mythen, Monster, Missing Links bis heute erzählt.57 Die traditionelle Geschichtsschreibung über Monster und Monstrositäten ist geprägt von der zunehmenden Scheidung imaginärer Monster von den realen Fehlbildungen, mit der die Voraussetzung für eine disziplinäre Verortung der Teratologie geschaffen wurde. Diese wirkmächtige Differenzierung wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Codierungen schließt in die Geschichte der Monstrositäten nur einen partiellen Teil der Phänomene ein, mit dem die Faktizität der Fehlbildungen scheinbar keiner weiteren geschichtlichen Reflexion bedürfte. Mit einem ausschließlich auf das Leiden, die Krankheit oder die biologische Abweichung fokussierten Interesse läuft man aber Gefahr, die gesellschaftlichen und kulturellen Einstellungen als ahistorische Erfahrungen festzuschreiben und die historischen Veränderungen aus dem Blick zu verlieren.58 Im Folgenden wird der Umgang mit einem medizinhistorischen Text um eine Perspektive erweitert, mit der zum einen die fortschrittsorientierten Geschichtsbilder aufgelöst und zum anderen die kulturellen und sozialen Kontexte analysiert werden können. Dabei geht es nicht darum, den falschen Annahmen, die den populären Vorstellungen zugrunde liegen, ein „richtiges“ wissenschaftliches Wissen gegenüberzustellen. Stattdessen wird darauf gezielt, die Achsen und Konstellationen zu untersuchen, die es ermöglichten, dass das medizinische Wissen und die wissenschaftlichen Begriffe räumlich und zeitlich angeordnet werden konnten. Am Ende des 19. Jahrhundert beklagte Louis Jean Duvinage die fehlende Systematik von Missbildungen und legitimierte sein Forschungsinteresse an der Beschreibung von Missbildungen mit der Möglichkeit

57

Der Text, auf den weiter unten eingegangen wird, stammt von Irmgard Nippert und ist im Jahr 1987 in der Zeitschrift Medizin, Mensch, Gesellschaft publiziert worden (vgl. Nippert, Irmgard: 1987).

58

Vgl. Eckart, Wolfgang Uwe/Jütte, Robert: 2007, 27 ff. In dieser – erstmals 1949 publizierten – kritischen Einführung in die Medizingeschichte widmen sich die Autoren dem wachsenden interdisziplinären Interesse und den aktuellen Forderungen nach einer Abkehr von den bis heute wirkmächtigen „traditionell gebundenen Sehweisen, romantisch verklärten oder fortschrittsorientierten Geschichtsbildern“ (ebd., 10).

110 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

des Erkenntnisgewinns. Im Anschluss an die systematischen Darstellungen der Missbildungslehre von Friedrich Ahlfeld und August Förster konstatierte Duvinage: „Aber die Wissenschaft der Missgeburten ist mit diesen grossen Werken noch nicht abgeschlossen, sondern dieselben stellen nur eine Aufzählung des schon Dagewesenen dar, und, so sehr sich auch jeder neue Fall in die Rubriken der beobachteten einfügen lässt, etwas Abweichendes und Neues bietet er wohl stets.“59

Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit zielt auch zu dieser Zeit noch auf eine systematische Einordnung von Monstrositäten, von der erwartet wurde, dass sie für einen besonderen Wissenszuwachs sorgt. Gleichzeitig beklagt Duvinage, dass die Beschreibungen von Fällen nur Aufzählungen seien, und fordert eine umfassende Systematisierung von körperlichen Abweichungen und Missbildungen. Das eigentliche Problem stellt das Neue dar, was jeder Abweichung anhaftet, weil es nicht in die bereits vorhandenen, aus Beobachtungen hervorgegangenen Systematiken eingefügt werden könne. Duvinage verfolgt in seinem Artikel einen deskriptiven Ansatz, mit dem er einen empirischen Wissenszuwachs beansprucht. Die Vermehrung von Beschreibungen und empirischen Erhebungen war das Anliegen des Autors. Seine Darstellung zielt weder auf eine neue Systematisierung noch stellt sie sich gegen die damals gültigen Klassifikationen. Es ging um die spezifischen Herausforderungen der Monstrositäten für die Wissensordnungen, denen sich Duvinage mittels neuer technischer Untersuchungsrahmen stellt: Die gleitende Positionierung des Monströsen, seine zunehmende Nähe zum Normalen beansprucht eine Fixierung. Diese Fixierung ist mittels einer Sektion zu erreichen. Sie ist das methodische Instrument zur Erfassung und genauen Lokalisierung des Monströsen. Die wissenschaftliche Systematik von Monstrositäten erforderte seit dem 19. Jahrhundert ein Wissen über das Leben und den Tod. Wie Elisabeth Bronfen zeigt, wurden mit dem epistemischen Wandel seit Ende des 18. Jahrhunderts Erkenntnis, Leben und Tod, die in einem neuen Raum-Zeit-Modell angeordnet waren, zur Triade der Wahrheit. Seit dieser Zeit setzte also die Überzeugung ein, dass das Wissen über

59

Duvinage, Louis Jean: 1889, 5. Duvinage bezieht sich mit seiner Bemerkung auf die von Ahlfeld und Förster herausgegebenen Studien zu den „menschlichen Missbildungen“ (vgl. Ahlfeld, Friedrich: 1880; Förster, August: 1861).

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das Leben mit Erkenntnissen über den Tod möglich werde.60 Der Tod wird „in ein technisches und begriffliches Instrumentarium integriert, in welchem er seine spezifischen Eigenschaften und seinen fundamentalen Erfahrungswert gewinnt“61. In drei Fällen beschreibt Duvinage nichtüberlebensfähige Fehlbildungen, die in einem doppelten Akt des Zugangs zum Wissensobjekt von ihm aufgeschnitten, vermessen und beschrieben werden. Duvinage bedient sich bereits präparierter medizinischer Objekte. Er erhält aus der gynäkologischen Abteilung der Universitätsfrauenklinik in Berlin drei in Formalin eingelegte Embryos, die kurz nach oder während der Geburt gestorben waren. Duvinage zerschneidet die Objekte und setzt sie auf ganz neue Weise wieder zusammen. Der Text von Duvinage ist insofern von Interesse, als er sich offensichtlich in die innere Logik medizinwissenschaftlicher Forschung einfügen lässt. Das in Spiritus ausgestellte Objekt reicht nicht aus, um darüber wissenschaftliche Aussagen zu machen. Der unsezierte Körper ist in seiner Gesamtmorphologie als Wissensobjekt uninteressant. Die Bezüge und Verbindungen seiner Forschungsinteressen legt der Autor offen dar, indem er sich an bereits vorgelegte Studien zu Fehlbildungen, die in dieser Zeit entstanden waren, anlehnt. Das Erkenntnisinteresse zielt auf den aus jeder Darstellung resultierenden Wissenszuwachs. Obwohl es sich um tote Körper handelt, entwickelt Duvinage den Versuch, den Körper in seinen Funktionszusammenhängen zu erforschen. Die Fehlbildungen werden bei Duvinage nicht an den Achsen eines statischen Körpers lokalisiert, sondern „nach komplexen, allein […] mathematisch rekonstruierbaren Mustern“62 untersucht. In der Beschreibung „seiner Fälle“ von Fehlbildungen taucht nun eine andere Semantik auf, die für das 19. Jahrhundert kennzeichnend ist. Duvinage beschreibt drei „Missgeburten“: zum einen ein siamesisches Zwillingspaar (Thoracopagus), wobei es sich hier um einen parasitären Zwilling (Janus parasiticus) handelte, der aus dem Brustkorb des Autositen mit einer Größe von ca. 10 Zentimetern herausgewachsen war. Das Zwillingspaar hatte einen gemeinsamen Kopf, wobei das Gesicht eine janusförmige Bildung aufwies. Bei den beiden anderen Fällen menschlicher „Missbildungen“ handelt es sich zum anderen um die Geburten

60

Vgl. Bronfen, Elisabeth: 1994, 114. Bei Bronfen wird die ästhetische Re-

61

Foucault, Michel: 1996, 160.

62

Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 27.

präsentation des Todes im Zusammenhang des Weiblichen untersucht.

112 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

von Kindern ohne Herz (Acardiacus). Ziel der morphologisch exakten Beschreibung ist es, die Missbildung genau zu lokalisieren. Die in Folge von Sektionen gewonnenen Erkenntnisse beschreiben die genaue Lage der Fehlbildungen. Diese werden im Gegensatz zu den „normal“ gebildeten Regionen des Körpers erörtert und von ihnen differenziert. So ist das „Becken des Autositen normal entwickelt“ und die Wirbelsäule „aus den normalen Angaben von Wirbeln geradlinig zusammengesetzt“63. Duvinage betont, dass an den oberen Extremitäten „äusserlich nichts abnormes zu bemerken“ sei und der „Autosit mit Bezug auf seine äussere Gestalt keine Abweichungen“64 zeige. Auch der Geburtsverlauf und das anschließende Wochenbett werden von ihm beschrieben und in den Verlauf einer Krankengeschichte eingebettet, mit der eine Erklärung zu den Ursachen geleistet und Einsichten in die zeitliche Entwicklung der Fehlbildung gewonnen werden sollen. Die schweren Fehlbildungen, die sich durch Sektionen und Einschnitte in den Körper eindeutig lokalisieren lassen, werden mit dem Gegensatzpaar der Abweichung und des Normalen beschrieben. In der Gegenüberstellung zu den schwer fehlgebildeten Körperregionen werden andere körperliche Bildungen als völlig normal entwickelt dargestellt. Obwohl die Körper schwerste Schädigungen aufwiesen, waren andere Regionen von dieser Fehlbildung nicht betroffen. Es ist also nicht mehr der gesamte Körper, der die Grundlage der Monstrosität bildet, sondern die Abweichung ist bereits in einzelnen Bereichen lokalisiert worden, für die in der Darstellung jeweils noch der Verlauf des Geburtsprozesses und die spezifische Geschichte hinzugefügt wird. Die Lokalisierungen werden nicht in scharfer Differenz zu einem anderen Körper – dem normalen Körper – beschrieben, sondern werden direkt auf den untersuchten Körper bezogen. Die Abweichung und das Normale sind im wissenschaftlichen Objekt selbst enthalten und bestimmen die Grenzen wissenschaftlicher Gegenstände auf ganz neue Weise. Die Abweichung tritt sowohl in einem System der Differenz als auch in einem System der Identität auf. Für die Beschreibung der außergewöhnlichen Phänomene bedient sich Duvinage des methodischen Verfahrens der Sektion. Der wissenschaftliche Umgang erfordert eine Zerlegung in beschreibbare Teile. Duvinage schreibt:

63

Duvinage, Louis Jean: 1889, 10.

64

Duvinage, Louis Jean: 1889, 8.

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„Im Oktober des Jahres 1888 sind mir mit gütiger Erlaubnis des Herrn Geheimen Medizinalrates Ohlshausen in der Berliner Universitäts-Frauenklinik drei Missgeburten zur Präparation und Veröffentlichung übergeben worden.“65

Die Objekte seiner Forschung waren zu dem Zeitpunkt bereits präpariert und wurden dem Mediziner für weitere Untersuchungen übergeben. Duvinage gibt an, seit Mitte März habe „das Object in Spiritus auf der pathologischen Station der Frauenklinik“66 gelegen. Das Wissen über die Missbildungen orientiert sich nicht an dem Objekt als Ganzem. Um Erkenntnisse gewinnen zu können, muss das Objekt seziert und veröffentlicht werden. Diese Synthese von Text und Objekt wird in ein standardisierbares und reproduzierbares Wissen übersetzt.67 Es kommt zu einer doppelten Transformation: Das Objekt wird in die diskursive Ordnung der anatomisch aussagefähigen Systeme überführt und zugleich auf eine neue Anordnung beschreibbarer Teile hin zerlegt. Der Anatom blickt nicht einfach auf einen statischen Körper der Abweichung, wie im Falle des in Spiritus präparierten Objektes, sondern das Wissen wird in einem doppelten Akt der Wissensherstellung erzeugt. Zunächst ist das Objekt deshalb von Interesse, weil es bereits als anatomisch interessante Tatsache identifiziert wurde. Die Präparation des Objektes war bereits abgeschlossen. Es wurde seiner Seltenheit wegen ausgestellt bzw. festgestellt, aus dem Prozess seines Verfalls herausgelöst. Im Moment der Wissensproduktion ist der konservierte Körper jedoch eine unzureichende wissenschaftliche Tatsache. Das Interesse stützt sich auf den Seltenheitswert, der allerdings erst durch die Sektion zur wissenschaftlichen Aussage werden kann. In diesem zweiten Schritt erst findet das methodische Instrumentarium der Vermessung und Fragmentierung des Körpers Verwendung, um das Wissen zu verifizieren und zu erweitern.

65

Duvinage, Louis Jean: 1889, 5.

66

Duvinage, Louis Jean: 1889, 6.

67

In seiner Interpretation des von dem deutschen Anatomen Johannes Müller erstellten Textes über die Sektion einer afrikanischen Frauenleiche zeigt Zürcher anschaulich, wie hier die Natur in ein „Zeichensystem von Wissenschaft“ übersetzt wird und somit die anatomischen Tatsachen „im eigentlichen Sinn wissbar“ gemacht werden (Zürcher, Urs: 2004, 189). Im Abschnitt 4.3.3 Wissensproduktion am Tod werden diese wissenschaftlichen Rekonstruktionen ausführlich analysiert.

114 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

Duvinage verfügt somit über einen verbesserten wissenschaftlichen Zugang. Die rasanten Dynamisierungsprozesse des Wissens haben auch auf dem Gebiet der Teratologie zu zahlreichen Fortschritten geführt. Duvinage kann sich also nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden Gegenständen zufriedengeben. In einem Modus der „doppelten Bewertung“ dient die Sektion der Leichenteile der Herstellung wissenschaftlicher Tatsachen.68 Irmgard Nippert hält in ihrem Essay Monster, Mythen, Missing Links aus dem Jahr 1987, der aus einer kulturhistorisch-medizinischen Perspektive die Entwicklung der Teratologie in den Blick nimmt, noch an einer Vorstellung der zunehmenden Verifikation von Monstrositäten fest. Die Unterscheidung tatsächlicher Fehlbildungen von imaginären Monstern sei der eigentliche Impuls für die Erforschung der Ursachen körperlicher Abweichungen gewesen. Sie bezieht sich hier auf ein Beispiel, von dem der Mediziner Eugen Holländer zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet. Holländer habe die Fälschung eines Meerweibchens erhalten. Das gefälschte Präparat war aus den Teilen verschiedener Tiere zusammengesetzt und machte auf ihn einen „durchaus organisch-einheitlich gewachsenen Eindruck“. Zunächst dem faszinierenden Schwindel aufgesessen, betont der Mediziner, dass er erst durch die Methode des Röntgens festgestellt habe, „dass auch wir hereingefallen waren, und das Ganze ein geschicktes Kunstprodukt war“69. Das tierische Hybridwesen konnte erst mithilfe der technischen Apparatur als Fälschung entlarvt werden und wurde so zu einem für die wissenschaftliche Forschung wertlosen Objekt. Nippert bezieht sich auf diesen Fall, um zu zeigen, dass erst mittels verbesserter technischer Zugänge die Wissenschaftlichkeit von Monstrositäten verifiziert werden konnte. Ein semantischer Schnitt geht damit durch den Begriff des Monsters, der das Imaginäre, das Fiktionale von den realen körperlichen Fehlbildungen wissenschaftlich differenziert. Die Wissenschaftlichkeit von Aussagen wird auf die Feststellung von Fakten bezogen. Schließlich bediente sich Duvinage der wissenschaftlichen Methoden und der methodisch-technischen Instrumentarien seiner Zeit, um ein besseres Verständnis zu erlangen und zu Möglichkeiten eines wissenschaftlich fundierten Wissens über Monstrositäten zu kommen. Wie Nippert betont, wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein imaginäre und

68

Der Körper wird nicht einfach nur abgebildet, sondern begrifflich strukturiert. Weiter unten wird der Begriff der „doppelten Bewertung“ erörtert.

69

Holländer, Eugen, zitiert nach Nippert, Irmgard: 1987, 310.

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reale Fehlbildungen miteinander vermischt. Die Gründe dafür liegen, wie Nippert meint, in den kaum nachprüfbaren und mangelhaft reproduzierbaren wissenschaftlichen Differenzierungskriterien.70 Während Nippert den zunehmenden wissenschaftlichen Umgang mit Monstern betont, übersieht sie jedoch, dass die Prozesse der Übersetzung und Transformation des Wissens weit mehr sind als eine Abbildung morphologisch vorfindbarer Strukturen. In Nipperts Geschichte der Teratologie werden diese Prozesse nicht in den Blick genommen. Bei ihr bleibt die biologische Abweichung als empirischer Gegenstand bestehen, während sich allenfalls die methodischen Zugänge zum Objekt verbessern. Eine solche Erklärung fokussiert ausschließlich auf die methodischen Zugänge, während die Gegenstände des Wissens davon unberührt bleiben. Hingegen wurde mit Duvinage gezeigt, dass biologische Abweichungen im Gestus verbesserter methodischer Zugänge abgebildet und somit als Dinge in eine spezifische Ordnung des Wissens gebracht werden. Interessant ist, dass im Text von Duvinage auch Ende des 19. Jahrhunderts ein Unbehagen mit dem damaligen Stand des wissenschaftlichen Umgangs anklingt, wenn er auf die unzureichende Systematisierung und die wissenschaftlichen Leerstellen verweist. Duvinage, dessen Forschungsinteresse auf die Möglichkeit der Beschreibung zielt, fügt seinen Text in bereits zuvor festgelegte Strukturen ein: Dass die anatomischen Tatsachen überhaupt als interessant und forschungswürdig angesehen werden, ist von den wissenschaftlichen Rahmenbedingungen bereits vorgegeben. Obwohl Duvinage seine Fälle ohne moralischen und subjektiven Einfluss darstellt, ist sein Text nicht ohne Bezug auf die zeithistorischen Parameter zu interpretieren. Der Text bildet unter Zuhilfenahme disziplinärer Methoden die „natürlichen Tatsachen“ objektiv ab, indem er sich der mathematisch-rekonstruierbaren Mittel der genaueren Lokalisierung und der Zerlegung der Missbildung bedient. Das Präparat der Abweichung ist nicht mehr das statische Objekt, auf das der Mediziner schaut. Das in Formalin eingelegte Objekt muss vielmehr auseinandergenommen, aus dem Repräsentationsmodus herausgelöst und in die semantisch-medizinischen Ordnungen eingefügt werden. Die komplexen Bedeutungen körperlicher Systeme und Phänomene müssen freigelegt werden. Die Regionen des Monströsen zeichnen sich an den Schnittstellen im Inneren des Körpers ab. Das heißt, das zuvor präparierte Objekt, das Duvinage übergeben wurde, war zunächst

70

Vgl. Nippert, Irmgard: 1987, 310 f.

116 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

in seiner körperlichen Andersheit präsent und wird erst im Zuge der Untersuchungen und Forschungen des Mediziners zerlegt, fragmentiert und als Missbildung bestätigt. Der Körper wird in seiner Abweichung in die sprachlichen Strukturen der Medizin integriert, um dann wieder in die naturalisierte Ordnung zurückübersetzt zu werden. Diese doppelte Transformation erfolgt auf der Basis der Matrix des Normalen und Anormalen. Durchaus schon als Monstrosität und interessantes Objekt identifiziert, geht es mit der Sektion darum, hinter die Monstrosität zu schauen und im Inneren des Körpers nach signifikanten Abweichungen zu suchen. Zugleich rückt die Monstrosität damit auch in ein neues Verhältnis zum Normalen. Betrachtet man den Fall Duvinage im Hinblick auf die technische Erweiterung der Untersuchung des monströsen Körpers, lässt sich durchaus eine Verbesserung der Methoden der Erfassbarkeit des empirischen Gehalts konstatieren. Duvinage gelingt es, eine genauere Beschreibung der fehlgebildeten Teile zu geben. Doch zugleich betont er, dass das Neue, das Unvorhersehbare eine Herausforderung für die Systematik wissenschaftlicher Aussagen darstellt. Die Differenz zwischen Einzelfall und Systematik erzeugt auch noch Ende des 19. Jahrhunderts ein medizinisches Unbehagen. Dieses Unbehagen speist sich aus der Unmöglichkeit der Herstellung eines reproduzierbaren Wissens, das den Fehlbildungen den Schrecken des Neuen nehmen würde. Denn zum einen muss das Neue durch eine Systematik der Wissensstruktur wissbar gemacht werden und zum anderen kann sich der Mediziner nicht der Faszination dessen verweigern, was die Neugierde bereits als außergewöhnlichen Gegenstand identifiziert hat und was sich den Bemühungen der vollständigen Überführung in ein Wissensobjekt entzieht.

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3.4 D ER MEDIZINISCHE D ISKURS ÜBER DAS PATHOLOGISCHE UND DAS N ORMALE „In jedem Augenblick sind in uns weit mehr physiologische Möglichkeiten angelegt, als die Physiologie fassen kann. Aber erst in der Krankheit werden sie offenbar.“ 71

Medizinisches Wissen steht in einem Zusammenhang mit den politischen und sozialen Diskursen. Die Herausbildung der wissenschaftlichen Medizin vollzieht sich nicht einem Prozess des Überganges von einer magisch religiösen Praxis hin zu einer fortschreitenden Beseitigung des Mythischen. Wie Foucault gezeigt hat, sind die medizinischen Wissensformationen nicht „von der in derselben Epoche erfolgenden Organisation einer Gesundheitspolitik und einer Berücksichtigung von Krankheiten als einem politischen und ökonomischen Problem“72 zu trennen. Die Medizin findet nicht im Sinne einer fortschreitenden Wissensakkumulation in einem abgeschlossenen wissenschaftlichen Raum statt, sondern entfaltet ihre Begriffe in einem gesellschaftlichen Bereich, in dem im 19. Jahrhundert die medizinischen Differenzierungen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen ausgeweitet werden.73 Die Verhandlungen über Monstrositäten erfolgten in dieser Zeit nicht anhand der Gegenüberstellung von Gesundheit und Krankheit, sondern anhand des Gegensatzes zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Monstrositäten sind keine Krankheiten, sondern radikale Pathologien, denen etwas Unvorhersehbares und wissenschaftlich Unerfassbares anhaftet. Der Begriff der Gesundheit wurde seit dem 19. Jahrhundert allmählich durch den der Normalität ersetzt. Die Medizin orientierte sich am richtigen und normalen Körper. Die historischen Verschiebungen, die seit dem 18. Jahrhundert im medizinischen Denken stattfanden, brachten den Begriff der Normalität erst hervor. In einem Diskurs des kontinuierlichen Übergangs brachte man die Bedeutungen des Normalen und Pathologischen in ein wechselvolles Verhältnis. Auch Monstrositäten wurden in ein Verhältnis zur Normalität gebracht. Obwohl das Verhältnis von Anomalie und Normalität von einem Denken des allmählichen Übergangs bestimmt

71

Leriche, René, zitiert nach Canguilhem, Georges: 1974, 68.

72

Foucault, Michel: 2003a, 20.

73

Vgl. Foucault, Michel: 1996, 53.

118 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

war, konnten die Definitionen und Bestimmungen von Monstrositäten nicht vollständig in einem Kontinuum hervorgebracht werden. Mit der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung verloren Monstrositäten ihre Bedeutung als substanzielle Seltenheit und wurden in ein spezifisches und analytisches Verhältnis zum Normalen gesetzt. Dem missgebildeten, kranken Körper wurde ein physiologisch normales Pendant gegenübergestellt. Es war Aufgabe der Wissenschaften vom Leben, diese Beziehung anhand der umfangreichen Abhandlungen und Kasuistiken statistisch zu erfassen, zu untersuchen und zu ordnen. Die verschiedenen Weisen der Annäherung rückten dabei manchmal den Begriff des Normalen, manchmal den Begriff des Pathologischen in den Mittelpunkt. Sie dienten als wissenschaftliche Grundlage für Aussagen über die Phänomene menschlichen Lebens. Inwieweit sind diese Wissenshaltungen an einen diskursiven Prozess der Herstellung von Bedeutungen gebunden, mit denen das, was als normaler bzw. als monströser Körper galt, konstruiert und festgelegt wurde ? Lepenies zeigt, dass es im 19. Jahrhundert verschiedene Dogmen der Annäherung an und der Präzisierung von Krankheit gab, die jedoch immer als eine Kritik am ontologischen Status von Krankheit aufgefasst werden können.74 Letztlich – so stellt Georges Canguilhem fest – wurde die allgemeine These vertreten, dass „die pathologischen Phänomene identisch sind mit den entsprechenden normalen Phänomenen und nur quantitativ von ihnen abweichen“75. Mit dieser strukturellen Identität des Normalen und des Pathologischen wurde ein spezifisches Verhältnis angezielt, um den pathologischen die entsprechenden physiologisch richtigen Erscheinungen zuzuordnen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts avanciert das Monströse zum Wissenskörper. Als epistemisches Ding scheint das Monster – wie Zürcher provokativ feststellt – „schon beinahe im Reich der Normalität angekommen“76 zu sein. In dieser Zeit entstand ein Wissen über die natürlichen Möglichkeiten und die Grenzen der Variabilität. Monstrositäten erhielten einen wissenschaftlichen Ort, an dem über sie geforscht, verhandelt und publiziert wurde. Ist das Anormale oder das Pathologische allerdings identisch mit dem Normalen und als eine bloß quantitative, graduelle Abweichung zu verstehen, kann die Monstrosität nicht mehr als eine Singularität in

74

Vgl. Lepenies, Wolf: 1978, 182.

75

Canguilhem, Georges: 1974, 16.

76

Zürcher, Urs: 2004, 75.

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einem Diskurs der Identität und Variabilität verortet werden. In ihrer analytischen Differenz zum Normalen ist die Monstrosität nur noch eine Anomalie. Die Missbildungen und das Pathologische hatten im 19. Jahrhundert nicht mehr den Status des Seltenen, sondern wurden rationalisiert.77 Mit der Aufkündigung einer ihr eigenen Weise der Existenz weckte die Monstrosität nun das Interesse der Medizin für allgemeine Aussagen über das Leben. Im 18. Jahrhundert waren Physiologie und Pathologie noch zwei getrennte Bereiche. Ihre Zusammenführung erfolgte mit dem Prinzip der pathologiae physiologiam informantis durch den französischen Arzt François Broussais. Die Ansicht, dass Krankheiten kein eigenes Wesen haben, manifestiert sich zunächst in der „optimistischen Überzeugung der Rationalisten, dass das Übel keine eigene Realität besitzt“78. Krankheit wird zu einer quantifizierbaren, messbaren Abweichung von der Gesundheit. Das quantitative Verhältnis zwischen dem Normalen und dem Pathologischen betont die grundsätzliche Identität beider Zustände und sucht nach den Formen und den bestimmenden Kriterien der graduellen

77

Dornhof betont, dass die Praktiken der Vermessung und des Vergleichs sowie die neue Sichtbarkeit den monströsen Körpern ihre Kuriosität und Einmaligkeit genommen haben, dass aber dennoch vom Monströsen weiterhin eine „Beunruhigung des Lebens“ ausgeht (Dornhof, Dorothea: 2005, 261). Sie folgt damit auch den Ausführungen von Schmidt, der das Beunruhigende des Monströsen ebenso betont (vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 87). Beiden Argumentationsweisen unterliegt ein Konzept des Ausschlusses, mit dem die konstitutive Funktion des Ausschlusses unterminiert und letztlich nur auf eine moralische Ebene hin erweitert werden kann. Dornhof schreibt, dass die „Verortung der Monstrositäten im Diskurs des Lebendigen […] zur Figuration naturdämonischer Existenzen führen konnte, die den Platz der alten bedrohlichen Monster wieder einnehmen“ (Dornhof, Dorothea: 2005, 262). Den eingeschlossenen Bereichen die Orte des Ausgeschlossenen gegenüberzustellen, läuft jedoch letztlich auf eine ahistorische und damit biologisierende Argumentationsweise hinaus, mit der weder die Verfahrensweisen der diskursiven Produktivität analysiert noch die konstitutive Beziehung zwischen Ausgeschlossenem und Eingeschlossenem auf ihre historisch spezifischen Konstellationen hin befragt werden kann. Im Abschnitt 3.6 Die politische Dimension des Monsters nach Foucault wird unter Rückgriff auf die Arbeiten Foucaults auf die diskursive Produktivität näher eingegangen.

78

Canguilhem, Georges: 1974, 66.

120 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

Abweichung: Dem Pathologischen wird eine grundsätzliche „Absage an die Wahrheit des Übels“79 erteilt. Die quantitative Differenz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen kann aber nicht bedeuten, dass Krankheit sich nicht vom Normalzustand unterscheidet. Mit der Bestimmung eines analytischen Verhältnisses zwischen dem Normalen und dem Pathologischen ging es um die Bedeutung des therapeutischen und präventiven Paradigmas der Medizin. Wie Durkheim zu Beginn seiner Untersuchung über die Regeln zur Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen herausstellt, dränge sich die Frage auf, ob die „Wissenschaft über Mittel verfügt, diese Scheidung vorzunehmen“80. Insbesondere ist es für die Wissenschaften vom Menschen von entscheidender Bedeutung, diese Problematik aufzuwerfen, denn „wozu soll man sich abmühen, die Wirklichkeit zu erkennen, wenn die Erkenntnis, die wir von ihr gewinnen, uns im Leben nichts nützen kann?“81 Durkheim, der die wissenschaftliche Methodik am Maßstab soziologischer Modelle für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft misst, betont die unterschiedlichen Wertauffassungen von Krankheit und Gesundheit für die Normierung der Gesellschaft.82 Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach der Stellung und Bedeutung der (Natur-)Wissenschaften in der Gesellschaft. Damit wissenschaftliche Erklärungen eine Durchschlagskraft für die Alltagspraxis bekommen, müsse von der Annahme ausgegangen werden, dass es in den Erscheinungen ein objektives, immanentes Kriterium gibt; nur so können Möglichkeiten der Aufklärung für soziologische Modelle erarbeitet werden. Für Durkheim ist hier ein ideologisches Moment zu erkennen, das jenen Auffassungen anhaftet, die versuchen, „zum Wesen der Erscheinung vordringen zu wollen.“83 Mit einer Perspektive auf die engen Verbindungen von wissenschaftlichen Erklärungen und sozialen Analysen rüttelt Durkheim am Selbstverständnis der Humanwissenschaften mit ihren rationalistischen und wissenschaftlichen Auffassungen vom Leben und entwickelt diese Haltung für eine Analyse der gesellschaftlichen Stellung des Menschen weiter. Dass die Natur in den Funktionen des gesunden und kranken Körpers die gleichen Pläne verfolge und damit Krankheit nichts dem Organis-

79

Canguilhem, Georges: 1974, 66

80

Durkheim, Emile: 1984, 141.

81

Durkheim, Emile: 1984, 142.

82

Vgl. Durkheim, Emile: 1984, 141.

83

Durkheim, Emile: 1984, 147.

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mus Fremdes, sondern „lediglich eine Funktionsstörung“ sei, lässt sich auf einen im 19. Jahrhundert herrschenden Diskurs in der Medizin und auf Vorstellungen von der Beherrschbarkeit der Natur zurückführen.84 Erst diese Auffassung ermöglichte im 19. Jahrhundert die „prinzipielle Gleichheit physiologischer und pathologischer Phänomene“85. Damit erhielten die pathologischen Phänomene eine bedeutende Stellung für die Wissenschaften vom Leben und eine spezifische, das Normale erhellende Aussagekraft. François Broussais war Mediziner und seine Lehren waren seinerzeit äußerst umstritten. Krankheiten waren seiner Auffassung zufolge nicht nur auf eine spezifische Art der Funktionsstörung, sondern immer auch auf eine universelle Krankheit, die Gastroenteritis, zurückzuführen. Die daraus folgenden Formen eines therapeutischen Monismus, der die Therapie ausschließlich auf den überreizten Magen und mittels Diäten und Aderlässen auf die Verdauung fokussierte, führte zu durchaus heftigen Debatten.86 Auch in der Literatur wurden die Therapien Broussais’ fiktional verhandelt, so beispielsweise in dem Roman La Peau de Chagrin von Balzac.87 Lepenies betont, dass der Text von Balzac wohl weniger einer modernen Karikatur entspricht, als vielmehr Zeugnis darüber ablegt, wie „nie zuvor Medizin und Literatur in so enger Verbindung miteinander standen; Sainte-Beuve konnte geradezu von der ‚medecins-littéraires‘ sprechen.“88 Der Einfluss Broussais’ zeigt sich vor allem in der Vielzahl und massenhaften Anwendung der von ihm propagierten therapeutischen Methoden. Als Auguste Comte im Jahr 1828 die Arbeiten von Broussais liest, übernimmt er die Ansichten des Mediziners und vertritt die These, dass das „Broussais’sche Prinzip“, mit dem eine Identität zwischen der Gesundheit und der Krankheit angenommen wurde, nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Soziologie und Psychologie gelten müsse. Comte hat entscheidend dazu beigetragen, dass medizinische Modelle in den alltäglichen sozialen Raum übertragen wurden.89 Jürgen Link weist darauf hin, dass weder Broussais noch Comte mit der Auffassung der Identität des Pathologischen mit dem Normalen gemeint

84

Vgl. Lepenies, Wolf: 1978, 175.

85

Lepenies, Wolf: 1978, 190.

86

Vgl. Link, Jürgen: 1997, 206 ff.

87

Vgl. Balzac, Honoré de: 1997.

88

Lepenies, Wolf: 1978, 178, Hervorh. im Orig.

89

Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 25–38.

122 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

hätten, Krankheit sei nun identisch mit Gesundheit. Vielmehr betont Link die „synergetischen Quereffekte“90 medizinischer und soziologischer Theorien. Damit weist er auf die Bedeutung von Normalitätskonzepten seit dem 19. Jahrhundert hin und zeigt, wie Normalität zum dominanten Dispositiv interdisziplinärer Diskurse wurde. Die damit verbundenen Begriffe der Regulierung und Beherrschung sind für eine gesellschaftliche und soziale Ver-Sicherung des normativ Normalen historisch verfasst.91 Comte vertritt im Anschluss an Broussais die Auffassung, dass pathologische Phänomene keine eigene Identität besitzen und als ein kontinuierlicher Übergang vom Normalen zu verstehen sind. Die Erkenntnis des Normalzustandes ist demzufolge eng verbunden mit der Erforschung des Pathologischen. Comte schreibt dazu: „Bis dahin hat man angenommen, der pathologische Zustand werde von gänzlich anderen Gesetzen beherrscht als der Normalzustand; folglich war mit der Erforschung des einen nichts über den anderen ausgemacht. Broussais wies nun nach, dass die Krankheitsphänomene substanziell mit denen der Gesundheit identisch und lediglich der Intensität nach von ihnen unterschieden sind. Dieses einleuchtende Prinzip wurde zur systematischen Grundlage der Pathologie.“92

Das Pathologische unterliegt den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie das Gesunde. Es wird aus einem eigenständigen Substanzbegriff herausgelöst und in ein Verhältnis des Überganges gesetzt. Das Pathologische zu erforschen verspricht daher auch einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich

90

Link, Jürgen: 1997, 215.

91

Es würde den Rahmen der Studie sprengen, hierauf näher einzugehen. Dass mit Broussais diese Praktiken über zwanzig Jahre hinweg die französische Medizin geprägt haben, zeigen – wie Lepenies erörtert – die Zahlen: Im Jahr 1820 importierte Frankreich noch über eine Million Blutegel. 1834 importierte das Land dagegen fast zweiundzwanzig Millionen Blutegel (vgl. Lepenies, Wolf: 1978, 176). Entscheidender als die Popularität dieser von Broussais propagierten Methode der Aderlässe ist jedoch, dass diese Art der Therapie zugleich auch auf einen gesellschaftlichen Nährboden gestoßen war. Canguilhem berichtet, dass Audin-Rouviére als ein großer Verächter Broussais’ beklagte, dass es bald keine Blutegel mehr geben würde: „Unsere Teiche und Sümpfe vermochten kaum, die erforderliche Menge für diese Raserei beizuschaffen“ (Canguilhem, Georges: 1979c, 131, Fn. 8).

92

Comte, Auguste, zitiert nach Canguilhem, Georges: 1974, 26.

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des Normalen. Dass sich Auguste Comte medizinischer Erklärungen für soziologische Fragestellungen annahm, zeigt, welche Schlagkraft sie für gesellschaftliche Problemkonstellationen hatten. Zwar wurden Broussais’ Therapien mehrfach kritisiert, aber der Einfluss auf seine Zeitgenossen, besonders auf Comte oder später auch auf Charcot und auf Virchow, ist nicht zu leugnen.93 In seinem Cours de philosophie positive rühmt Comte im Jahr 1830 das Verdienst Broussais’, denn dieser habe zur endgültigen Unterordnung der Pathologie unter die Biologie beigetragen.94 Die Verknüpfung von Physiologie und Pathologie im 19. Jahrhundert, wie sie Lepenies beschreibt, führte vor allem dazu, dass die Pathologien des Körpers in ein Raster eingeordnet wurden, dessen Geltungsbereich die Variationen und Abweichungen vom Normalen umfasste. Das Pathologische war keine substanzielle Singularität, sondern wurde integraler Bestandteil der Wissenschaften vom Leben. Wenn Physiologie und Pathologie mit Broussais in ein Verhältnis gesetzt wurden, in dem Krankheiten und Funktionsstörungen nicht mehr zu isolierende Phänomene waren und damit zu graduellen Formen der Abweichung von Normalzuständen wurden, lassen sich Anomalien als Pathologien des Normalen verstehen und stellen lediglich ein Zuviel oder Zuwenig des Normalzustandes dar. Anomalien des Organismus geben demnach sowohl über den Normalzustand als auch über die physiologischen Möglichkeiten Auskunft und werden damit zum Modellobjekt physiologisch-wissenschaftlicher Aussagen. Lepenies schreibt: „Die ‚Anomalien‘ des Organismus, die lange Zeit nur das Objekt einer sterilen Neugier gewesen waren, wurden nun zu einem wichtigen und unerläßlichen Studienobjekt der Wissenschaften vom Menschen.“95

Die Bedeutung der Anomalien und Fehlbildungen im 19. Jahrhundert lässt auf einen zunächst angestrebten epistemologischen Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit schließen, mit dem pathologische und physiologische Phänomene einer gleichrangigen Einschätzung unterlagen und „die Kluft von Normalen und Krankhaften durch den

93

Lepenies spricht hier im Anschluss an Pagel von der „Einheit des Normalen und Pathischen“ und betont auch den Einfluss Broussais’ auf Virchow (Lepenies, Wolf: 1978, 194).

94

Vgl. Lepenies, Wolf: 1978, 179.

95

Lepenies, Wolf: 1978, 182.

124 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

gemeinsamen Oberbegriff des Lebens und der Variationsbreite der Lebensbedingungen“96 beseitigt werden sollte. Trotzdem wurden pathologische Zustände als Erkenntnis generierende Phänomene bewertet, weil anhand von Anomalien Aussagen zum Normalzustand gemacht werden konnten. Die besondere Funktion, die dem Pathologischen zugesprochen wurde, zeigt sich in seiner Stellung für die Bewertung von Lebensphänomenen: „[Z]wischen einer Krebsgeschwulst oder einer Monstrosität und einer unregelmäßigen Kristallbildung“ gebe es „für die philosophische Betrachtung“97 keinen Unterschied. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschende Auffassung, dass Gesundheit und Krankheit, Normalität und Anormalität nur quantitativ unterschieden werden können, kann als ein Ergebnis der zunehmenden Rationalisierung des Anomalen verstanden werden. Allerdings war dieses Verhältnis keineswegs so homogen und einheitlich, wie es die vom Positivismus Comtes begründete Vorstellung eines quantitativen Übergangs nahelegen könnte.98 Wenn es ein Kontinuum zwischen dem Normalen und dem Pathologischen gibt, dann wird die Frage nach dem Monströsen umso dringlicher. In der quantitativen Unterscheidung zwischen dem Pathologischen und dem Normalen fallen die Monstrosität und das Pathologische nicht zusammen. Als Anomalie lässt sich die Monstrosität einem Normalzustand zuordnen und in die wissenschaftliche Systematik integrieren. Das Problem entsteht dort, wo die Variationsbreite von Lebensphänomenen sich quantitativ und analytisch nicht mehr einholen lässt. Das Pathologische unterliegt den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses, mit denen die Bereiche des Normalen erfasst werden können. Beide

96

Lepenies, Wolf: 1978, 194. Lepenies verweist an dieser Stelle auf bedeutende Pathologen des 19. Jahrhunderts, insbesondere auf Virchow. Es wurde immer wieder betont – wie Lepenies weiter ausführt –, dass die Pathologie für die Erkenntnisse des Leben von größter Bedeutung sei und deshalb als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin betrachtet werden müsse (vgl. ebd., 194).

97

Du Bois-Reymond, zitiert nach Lepenies, Wolf: 1978, 194.

98

Die Annahme einer Nichteinheitlichkeit der pathologischen und physiologischen Phänomene brachte im 19. Jahrhundert eine Inkonsistenz wissenschaftlicher Argumentationsweisen hervor und führte vielfach zur Kritik an der Annahme eines gemeinsamen Untersuchungsrahmens. Auf diese Problematik wird im Abschnitt 3.5.2 Vom taxonomischen Klassifikationssystem zum historizistischen Denkmodell eingegangen.

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Bereiche stecken die Grenzen fest, innerhalb derer wahre und falsche Aussagen vollzogen werden.99 Das Pathologische ist nicht per se das Falsche; als Gegenstandsbereich erfüllt es die Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses. Insofern kann über das Normale und das Pathologische gesprochen werden. Die Monstrosität erfüllt die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses hingegen nicht. Die Monstrosität ist deswegen monströs, weil sie außerhalb dieser diskursiven Regeln steht. In wissenschaftlichen Diskursen des Normalen und Pathologischen kann eine Rede über Monstrositäten nicht vollständig mit wissenschaftlichen Regeln in Deckung gebracht werden. Trotzdem nimmt die Monstrosität eine zentrale Stellung für die Aufrechterhaltung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Normalisierungspraktiken ein. Die Monstrosität hat keine biologische Faktizität, sondern ist eine durch festgelegte diskursive Regeln produzierte Störung wissenschaftlicher Aussagesysteme. Sie ist zuallererst mit einer Lebendigkeit verbunden, die auf eine fundamentale Instabilität wissenschaftlicher Aussagen verweist. Somit ist das Monströse etwas vom Diskurs Verworfenes und eine konstitutive „Zone der Unbewohnbarkeit“100. Was wird produziert, wenn dieser Diskurs so wirkmächtig ist, und wie ist das Verhältnis zwischen dem Verworfenen, der Kraft und dem, was unterhalb der Diskurse seine Dynamik entwickelt ? Die Zurückweisung, die unbewohnbare Zone ist zugleich auch konstitutiv für die Aufrechterhaltung und die stetige Erzeugung von Differenz und Identität. Das Monströse ist nicht einfach

99

Wenn das Monströse nicht die internen Bedingungen der Möglichkeit des wissenschaftlichen Diskurses erfüllt und damit Wahrheit und Falschheit auf der einen und das Monströse auf der anderen Seite steht, dann ist der Unterschied zwischen Bullshit und Monstrosität nur in seinem Bezug zum Gegenstand auszumachen. Frankfurt stellt in seinem Essay die Frage, wie das, was als Bullshit so auffällig in unserer Kultur vorkommt, analysiert werden kann: „Der Bullshitter ist außen vor: Er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen.“ (Frankfurt, Harry: 2006, 63) Und weiter schreibt Frankfurt: „Der Lügner und der der Wahrheit verpflichtete Mensch beteiligen sich gleichsam am selben Spiel, wenn auch auf verschiedenen Seiten. Beide orientieren sich an den Tatsachen, nur dass der eine sich dabei von der Autorität der Wahrheit leiten lässt, während der andere diese Autorität zurückweist und ablehnt, ihren Anforderungen zu entsprechen. Der Bullshiter hingegen ignoriert diese Anforderung in toto“ (ebd., 67 f.).

100 Butler, Judith: 1997, 23.

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verstummt, sondern es kann im Diskurs der Variabilität und der Identität des Normalen und des Pathologischen nicht zur Sprache gebracht werden. Wenn in den medizinischen Diskursen des 19. Jahrhunderts über das Monströse nichts zu sagen ist, dann entwickelt es in anderen Bereichen seine Wirkmächtigkeit. Im Hinblick auf die epistemologische Funktion des Monströsen können zunächst zwei Punkte festgehalten werden: Erstens kann mit dem Begriff der Monstrosität die Anspruchshaltung, mit der die Medizin des 19. Jahrhunderts auf die Bestimmung des Normalzustandes abzielte, und der historisch spezifische Untersuchungsrahmen von wissenschaftlichen Diskursen aufgezeigt werden. Zweitens können mit einem medizinisch verfassten Begriff der Monstrosität die Spannungen aufgezeigt werden, die im wissenschaftlichen Zugriff auf das Monster innerhalb disziplinärer Normierungen erzeugt werden. In der stetigen Bestimmung des Normalen, des Lebens und des Körpers verweist das Monströse auf die von Normalisierungsprozessen erfassten und nicht erfassten Bereiche und ist an historisch spezifische Konstellationen von Diskursen über das Normale gebunden, mit denen diese Gegenstände hervorgebracht werden. Die wissenschaftliche Bestimmung des Normalen und des Pathologischen ist somit an Prozesse von Normierungen gebunden, die in einem historischen Feld zu situieren sind und nicht auf biologische Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden können. Im folgenden Abschnitt wird mit den Arbeiten von Canguilhem die Spannung zwischen den wissenschaftlichen Bestimmungen des Normalen und dessen historischer Verfasstheit herausgearbeitet. Während die Wissenschaften das Normale als wissenschaftlichen Gegenstand erzeugen, stellt sich die Erfahrung des Lebens mit normalen und pathologischen Phänomenen den wissenschaftlichen Bestimmungen entgegen und ist dennoch konstitutiv für eine Wissenschaft vom Leben. Mit einer Analyse der von Canguilhem aufgeworfenen Problematik soll die reduktionistische Perspektive auf die wissenschaftliche Verfasstheit des Monsters kritisiert und aufgebrochen und für eine Diskussion historischer Normalisierungspraktiken auf gesellschaftlicher Ebene geöffnet werden. Georges Canguilhem legte mit seinen Arbeiten keine Geschichte der Medizin oder Biologie vor. Obgleich er sich mit den historischen Veränderungen biologischer oder medizinischer Erkenntnisse beschäftigte, ging es ihm darum, die Erkenntnisse und die Geschichte von Erkenntnissen in ein spezifisches Verhältnis zu setzen, das immer in einer gesellschaftlichen oder kulturellen Situation artikuliert wird. Letztlich setzt Canguilhem damit das Wissen und die Methoden der Wissensgenerierung

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in ein historisches Feld. Die Problematik, der Canguilhem sich annimmt, weist über die Geschichte disziplinärer Erkenntnisse hinaus und betrifft philosophische Fragen nach Vorstellungsbildern des Humanen und der Gesellschaft.

3.5 CANGUILHEM: M ONSTROSITÄTEN , DAS PATHOLOGISCHE UND DAS N ORMALE „Doch ganz allmählich bekam ich einen Begriff von Normalität. Normalität war nicht normal. Das ging gar nicht. Wenn Normalität normal wäre, dann könnte jeder damit leben. Jeder könnte sich zurücklehnen und darauf warten, dass sich Normalität manifestiert. Doch die Menschen – und vor allem die Ärzte – hatten in Bezug auf Normalität ihre Zweifel. Sie waren sich nicht sicher, ob die Normalität ihrer Aufgabe gewachsen war. Und daher halfen sie ihr ein wenig nach.“101

3.5.1 Philosophische Interventionen in die Wissenschaften vom Leben Was geschieht mit dem Menschen in einer medizinisch-wissenschaftlichen Kultur, fragt Gunnar Schmidt und fordert die Kulturwissenschaften auf, die wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Körper und vom Menschen zu ihrem Gegenstand zu machen.102 Was sollten also die Kulturwissenschaften über den Körper aussagen können ? Schmidt betont, dass sie nichts über den Körper wissen könnten.103 In dieser provokanten Zuspitzung eröffnet er den Raum für eine kulturwissenschaftliche Analyse historischer Inszenierungen und Repräsentationen von Körperbildern an der Schnittstelle von Fotografie und Medizin. Schmidt widmet sich einer historischen Analyse von neuen Visualisierungspraktiken anamor-

101 Eugenides, Jeffrey: 2005, 621. 102 Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 245. 103 Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 245.

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photischer Körper.104 Der Körper wird dabei nicht einfach nur abgebildet, sondern die Bilder des Körpers sind immer an Überzeugungen, Praktiken und Anschauungen gebunden. Eine Geschichte der Körperwissenschaften als kulturellen Praktiken beschäftigt sich nicht mit den Prozessen der Popularisierung medizinischen Wissens, sondern sie fokussiert auf die historischen Ereignisse und epistemologischen Situationen in kulturellen Kontexten. Die Verbindungen von Körperbildern mit dem Körperobjekt als Gegenstand medizinischer und anthropologischer Disziplinen liefern Einblicke in die Anschauungen und in die Konzepte von Wissenschaft und Kultur. Der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen muss in ein kommunizierbares Objekt transformiert werden, weil der Körper „sich nicht selber auszudrücken vermag“105. Wie Ludwig Fleck schreibt, ist eine medizinisch-wissenschaftliche Tatsache so selbstverständlich geworden, dass wir „nicht mehr unsere Aktivität bei diesem Erkenntnisakt, nur unsere vollständige Passivität gegenüber einer von uns unabhängigen Macht, die wir ‚Existenz‘ oder ‚Realität‘ nennen“106, erfassen. Mit der Historisierung von Körperkon-

104 Bei Schmidt heißt es: „In der Anamorphose wird eine Gegenstand verzerrt, er wird deformiert. Die Umwandlung geschieht dabei nach bestimmten Regeln. Kein willkürliches, wildes Zerdehnen, sondern kontrollierte Perspektivenverschiebung. Die Anamorphose ist eine Mißgestalt. […] Man muß nach dem richtigen Standpunkt oder nach dem entzerrten Anamorphot, dem rechtbrechenden Spiegel suchen, durch den das Objekt (wieder-) erkennbar wird. Die Anamorphose ist Widerspiegelung und Entstellung in einem“ (Schmidt, Gunnar: 2001, 3). An der Schnittstelle von Wissenschaft und Ästhetik untersucht Schmidt die Bedeutungen anamorphotischer Körper. Schmidt zeigt, dass in der Medizin des 19. Jahrhunderts eine neue Beziehung zum Bild entstanden ist: Diese ikonografische Situation führte dazu, dass man sich den pathologischen Phänomenen in ihrem Extremzustand auf ganz neue Weise widmete. 105 Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 20. Entgegen dem kulturphilosophischen Körperkonzept zeigt Schiebinger, wie Anatomen im 18. Jahrhundert gerade ihre „unparteyische“ Haltung darin bestätigt fanden, dass der Körper für sich selbst spreche. Es war ein Appell an die Wissenschaftler, „dass sie keinen moralischen oder politischen Standpunkt beziehen durften“ (Schiebinger, Londa: 1995, 246). 106 Fleck, Ludwig: 1980, 1.

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zepten wird die Annahme einer ‚Realität‘ des Körpers aufgebrochen. Auch als wissenschaftlicher Gegenstand steht der Körper nicht außerhalb kultureller und historischer Prozesse. Ein wissenschaftlicher Gegenstand unterliegt den disziplinären Regeln und Normierungen. Im Hinblick auf diese disziplinären Normierungen der Medizin ist der Körper kein klassischer Gegenstand der Kulturphilosophie. Mit Blick auf die historischen Materialisierungs- und Naturalisierungspraktiken werden mit einer kulturphilosophischen Perspektive die praktischen Diskurse und Repräsentationen untersucht, mit denen die Bedeutungen des Körpers hergestellt werden. Insofern ergibt sich eine Spannung zwischen den wissenschaftlichen Aussagen zum Körper und einer kulturphilosophischen Analyse von Körperbildern. Georges Canguilhem hatte bereits in den 1940er Jahren begonnen, „einige Methoden und Erkenntnisse der Medizin in die philosophische Spekulation einzubringen“107. Für die Medizin gilt, dass sie eine Tätigkeit bzw. ein Tun ist, das darauf zielt, die Umwelt nach spezifischen Werten zu organisieren und zu strukturieren. Die Medizin ist eine Weise, Begriffe zu bilden und damit die Umwelt zu strukturieren. Als Wissenschaft hält die Medizin allerdings an einem „festgelegten Blick auf die Umwelt“ fest. Foucault schreibt, „Begriffe zu bilden, ist eine Weise zu leben“108. Weil die Medizin in ihrer besonderen Stellung als Wissenschaft Begriffe des Lebens bildet, gibt sie auch Weisen des Lebens vor. Im Hinblick auf die eingangs erörterte Fragestellung verspricht eine Beschäftigung mit der Medizin somit Einblicke „in konkrete menschli-

107 Canguilhem, Georges: 1974, 16. 108 Foucault, Michel: 1988, 68. Welche Problematik an wissenschaftlichen Konzepten des Lebens zu erschließen ist, wird weiter unten anhand der Arbeiten von Canguilhem diskutiert. Als wissenschaftlicher Gegenstand ist das Leben zu einem entmaterialisierten, enthistorisierten und entvitalisierten Ding geworden. Mit der experimentellen Erzeugung wissenschaftlicher Gegenstände in der Physik und Biotechnologie wurde „die Materie in gewisser Weise entmaterialisiert“; die Biologen wiederum konnten „das Leben [nur] erklären, indem sie es entvitalisierten“ (Canguilhem, Georges: 1979d, 153). Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Lebenswissenschaften sollte nicht nur die Verletzbarkeit und die Geschichtlichkeit des Wissens vom Leben „bewusst halten“, sondern die Kulturwissenschaften sollten es sich zur Aufgabe machen, aktiv an der Begriffsbildung des Lebens teilzunehmen (vgl. Deuber-Mankowsy, Astrid/Holzney, Christoph: 2009, 16).

130 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

che Probleme“109. Canguilhem betont deshalb, dass eine Beschäftigung mit der Medizin aus philosophischer Perspektive nicht bedeute, eine privilegierte Haltung gegenüber der Medizin einzunehmen. Er unterstreicht, dass sich die Philosophie nicht anmaßen könne, „irgendeine Lehre zu erteilen bzw. über die Tätigkeit des Arztes ein normatives Urteil zu fällen“110. Eine Analyse wissenschaftlich-medizinischer Praktiken bestehe nicht im fortschreitenden Aufdecken der Wahrheit.111 Mit einer Analyse der medizinischen Diskurse verlässt er die vertrauten Gegenstände der Philosophie, um dort die Selbstverständlichkeiten in den Blick zu nehmen, wo sie am wenigsten hinterfragt werden.112 Canguilhems Arbeit wird als ein Denken sichtbar, das nicht auf die Ausarbeitung eines vollständigen Theoriegebäudes zielt, sondern vielmehr darauf, wissenschaftliche Erkenntnisse zu relativieren und in eine historische Perspektive zu setzen: „Sein Denken teilt sich vor allem über zeitlich und räumlich gebundene Interventionen mit: Es kommt in sorgfältig abgegrenzten Untersuchungen zum Ausdruck, die aus gegebenen Anlaß traditionelle, scheinbar feststehende Urteile revidieren oder, umgekehrt, die behauptete Aktualität von Erkenntnissen relativieren.“113

109 Canguilhem, Georges: 1974, 7. 110 Canguilhem, Georges: 1974, 16. 111 Vgl. Foucault, Michel: 1988, 61. An dieser Stelle beziehe ich mich auf einen Aufsatz, in dem Foucault die Bedeutung Canguilhems für die Philosophie und die Wissenschaftsgeschichte erörtert. Auch in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Jahr 1970 dankt Foucault ausdrücklich Georges Canguilhem. Er verdanke ihm – so Foucault –, „dass ich verstanden habe, […] daß man die Geschichte der Wissenschaft als die Geschichte eines zugleich kohärenten und transformierbaren Ganzen aus theoretischen Modellen und begrifflichen Instrumenten schreiben kann“ (Foucault, Michel: 1997, 43). 112 Vgl. Foucault, Michel: 1988, 60. 113 Borck, Cornelius/Hess, Volker/Schmidgen, Henning: 2005a, 9. Die Autoren bemängelten vor einigen Jahren, dass vor allem im deutschsprachigen Raum eine umfassende Rezeption des Werks von Canguilhem ausgeblieben sei. Nicht nur für eine Betrachtung des Zusammenhangs zwischen dem foucaultschen und canguilhemschen Denken scheint mir dies eine fruchtbare Aufgabe zu sein, sondern auch im Hinblick auf die gegenwärtige Konjunktur

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Die Schwierigkeiten mit Canguilhems Texten liegen darin begründet, dass in ihnen ein ungeheures Wissen über die Naturgeschichte zutage tritt, das sich aus einer kulturphilosophischen Perspektive nicht einfach erschließen lässt. Er habe in einer wissenschaftshistorischen Perspektive die Philosophie auf Gebiete geführt „und mit Fragen verbunden, die den philosophischen Gewohnheiten ferner stehen“114. Canguilhem unternimmt philosophische Interventionen in die Wissenschaften vom Leben und zeigt historische Zusammenhänge dort auf, wo sich ihre Spuren verwischt haben, weil sie zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Insofern ist Canguilhems Denken eine Arbeit an den verworfenen Zonen des Normalen und des Pathologischen. Er verlässt den gewohnten Pfad naturwissenschaftlicher und kulturphilosophischer Trennungen und setzt die wissenschaftlichen Aussagen in ein bestimmtes Verhältnis zum Wissen und zur Geschichte. Die Philosophie – so formuliert Canguilhem deshalb – kann es sich nicht zur Aufgabe machen, neue Gegenstände zu erforschen, sondern ihr müsse grundsätzlich „jeder Gegenstand fremd sein“115. Es ist die Geschichte, mit der er das philosophische Denken um eine Perspektive des Offenen und des Geschlossenen, der Vertrautheit und des Befremdens, des Gegebenen und des Verworfenen erweitert. Er rüttelt nicht nur an den Selbstverständlichkeiten des Wissens; indem er die gesellschaftlichen Konsequenzen von Wissen aufzeigt, schließt er auch die klaffende Lücke zweier Kulturen: der Kultur der Geisteswissenschaft auf der einen und der der Naturwissenschaft auf der anderen Seite.116

der Lebenswissenschaften. In den philosophischen und kulturwissenschaftlichen Debatten im deutschsprachigen Raum setzt man sich aktuell auf ganz neue Weise nicht nur mit Foucaults Begriff der Biopolitik, sondern auch mit den Arbeiten von Canguilhem auseinander (vgl. Muhle, Maria: 2008; Deuber-Mankowsy, Astrid/Holzney, Christoph: 2009). 114 Foucault, Michel: 1988, 60. 115 Canguilhem, Georges: 1974, 15. 116 Der Begriff der „Zwei Kulturen“ wurden von C. P. Snow geprägt. Den Ausgangspunkt von Snows Überlegungen stellen die aus der Technik und den Naturwissenschaften resultierenden gesellschaftlichen Herausforderungen dar. Snow kritisiert die Ignoranz und einen sich immer weiter verschärfenden Gegensatz zwischen der literarischen und der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz (vgl. Snow, C. P.: 1969, 11–25). Diese Debatte, die bis heute wohl nicht an Brisanz eingebüßt hat, lässt sich auch in den aktuellen Diskussionen beobachten. Michael Hagner konstatiert beispielsweise, dass

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Auseinandersetzungen mit Wissenspraktiken bilden „Brennpunkte wichtiger philosophischer Arbeiten“117. Foucault betont den Zusammenhang zwischen dem canguilhemschen Denken und der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Wissenschaften und die Technik haben seit dem 19. Jahrhundert eine konstitutive Rolle für gesellschaftliche Vorstellungen und politische Entscheidungen erhalten. Damit werden Fragen nach den Universalitätsansprüchen und Rationalitäten von Wissenschaft aufgeworfen, weil sich in ihnen auch politische Herrschaft und Hegemonie begründen. Die Philosophie – so fasst es Foucault zusammen – müsse die Möglichkeiten und Grenzen von Freiheit über eine Kritik der instrumentellen Vernunft beleuchten. Foucault schreibt über Canguilhem: „Wundern wir uns nicht, daß die Wissenschaftsgeschichte, besonders in der Form, die ihr G. Canguilhem gegeben hat, in den zeitgenössischen Debatten in Frankreich einen so zentralen Platz einnehmen konnte.“118

Die Philosophie sei eine Wissenschaft der ungelösten Probleme – wie Canguilhem im Anschluss an Léon Brunschvig schreibt – und müsse es sich zur Aufgabe machen, die wissenschaftlichen Fest-Stellungen zu reflektieren und zu historisieren.119 Wissenschaften beanspruchen immer

die Erfolgsgeschichte der Kybernetik vielleicht sogar auf dem Versprechen einer Versöhnung beider Seiten – also von techne und episteme – beruhe (vgl. Hagner, Michael: 2008, 42–50). In Bezug auf den technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert wird immer wieder ein Dialog der beiden Seiten eingefordert. Nicht nur die Einzelwissenschaften sind aufgefordert, neue Forschungsansätze für gesellschaftliche Reflexionen zu erarbeiten. Vielmehr müssten gerade an der Schnittstelle von Kultur und Technik die unterschiedlichen Perspektiven von Disziplinen eingeführt werden. Es gehe darum, nicht nur das Selbstverständnis von Wissenschaft und Disziplin, sondern auch Fragen zu diskutieren, die sich auf die Gesellschaft und die Zukunft des Menschen beziehen. Vgl. hierzu auch die Sammelbände von Rusterholz, Peter/Moser, Rupert: 2002; Halfmann, Jost/Rohbeck, Johannes: 2007. 117 Foucault, Michel: 1988, 57. 118 Foucault, Michel: 1988, 59. 119 Canguilhem schreibt: „Desgleichen lag uns ausdrücklich daran, unsere eigenen Vorstellungen im Zusammenhang mit der kritischen Prüfung einer im 19. Jahrhundert allgemeinen These über die Beziehung zwischen dem Normalen und Pathologischen darzulegen; jener These nämlich, nach der

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eine wissenschaftliche Objektivität: „Jede Wissenschaft zielt also ab auf messbare Bestimmungen, und zwar durch die Ermittlung von Konstanten oder Invarianten.“120 Diese Haltung wissenschaftlichen Forschens hat durchaus ihre Berechtigung, wusste Canguilhem doch selbst von den technischen und medizinischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Dennoch konfrontiert er die Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis mit den historischen Bedingungen und mit dem Problem der Wahrheitssuche, die nicht nur eine schöpferische, sondern auch eine wertende Tätigkeit ist.121 Wissenschaftliche Forschung, die den Menschen zum Gegenstand von Erkenntnis nimmt, um das Wesen menschlichen Lebens und des menschlichen Körpers zu bestimmen, habe es mit einem höchst ambivalenten Objekt zu tun. Mit einer Analyse des Verhältnisses zwischen dem Normalen und dem Pathologischen geht es Canguilhem um eine Kritik an der wissenschaftlichen Auffassung des Lebens. Deshalb befasst er sich mit der Herstellung der historischen Beziehungen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Als wissenschaftliches Objekt unterliegt das Normale den wissenschaftlichen Bestimmungen. Im Leben ist das Normale jedoch weit mehr als ein wissenschaftliches Ding, denn es ist an die spezifischen Normen des Lebens und somit an Weisen des Lebens gebunden. In dieser Spannung widmet sich Canguilhem einer historischen Epistemologie des Normalen und des Pathologischen.122 Eine Wissenschaftsgeschichte der Medizin beschäftigt sich mit den Ereignissen in der Kultur und geht von der Erkenntnis aus, „daß die Medizin aufs engste verknüpft ist mit der allgemeinen Kultur, daß jede Wandlung im medizinischen Denken bedingt ist durch die Wandlungen in der Weltanschauung ihrer Zeit“123. Kultur ist als ein System von Codes, Informationen und Differenzen zu verstehen. Die Konstituenten dieses

die pathologischen Phänomene identisch sind mit den entsprechenden normalen Phänomenen und nur quantitativ von ihnen abweichen. Mit diesem Verfahren glauben wir jener Aufgabe gerecht zu werden, die darin besteht, die Probleme immer wieder aufzuwerfen, anstatt sie ad acta zu legen. Lèon Brunschvig hat einmal von der Philosophie gesagt, sie sei die Wissenschaft von den ungelösten Problemen“ (Canguilhem, Georges: 1974, 16). 120 Canguilhem Georges: 1974, 150. 121 Vgl. Borck, Cornelius/Hess, Volker/Schmidgen, Henning: 2005a, 8. 122 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 72. 123 Sigerist, H.-E., zitiert nach: Canguilhem, Georges: 1974, 66.

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Codes sind die Sprache, die Wahrnehmung und das praktische Handeln.124 Der Code funktioniert wie ein Netz, das den Ordnungen der menschlichen Erfahrung vorausgeht und das Wissen einer bestimmten Epoche oder Kultur strukturiert. Canguilhem geht es nicht nur darum, die fehlende Kenntnis dieses Codes zu kritisieren, weil sie zu „gravierenden wie hartnäckigen Fehlurteilen“125 führen kann. Vielmehr steht das Verhältnis von Mensch, Erkenntnis und Technik auf dem Prüfstein philosophischer Reflexionen. Die historischen Veränderungen von Bezugssystemen und Ereignissen werden in den jeweiligen Organisationsformen und kulturellen Netzen strukturiert und bringen das hervor, was unter menschlicher Erfahrung, dem Normalen oder dem Leben zu verstehen ist. Es gibt immer schon eine begriffliche Strukturierung des Lebens, mit der das Wissen gegliedert ist, denn der Mensch lebt in einer „begrifflich gebauten Umwelt“126. Die wissenschaftliche Bemächtigung des Lebens durch die Technik ist zwar der Ausgangspunkt der canguilhemschen Kritik, letztlich geht es aber um die Frage, „wie es um den Begriff im Leben steht“127. Diese Auseinandersetzung stellt eine andere Annäherung an die

124 Vgl. Canguilhem, Georges: 1988, 25. Canguilhem bezieht sich in diesem Text auf das 1966 erschienene Buch Les mots et les choses von Michel Foucault. Foucault hatte damit eine heftige Debatte angestoßen, die letztlich zu einer Auseinandersetzung mit der Philosophie Sartres durch die im Umfeld des Strukturalismus vertretenen Positionen führte. Canguilhems Referenz besteht vor allem darin, zu einer Philosophie des Begriffes Stellung zu nehmen, indem er für eine Philosophie der begrifflichen Ereignisse plädiert. Gerade weil Foucault im Kreise der Existenzialisten heftig kritisiert und ihm vorgeworfen wurde, die Geschichte abzulehnen, wie es Sartre formulierte, stellt der Aufsatz von Canguilhem nicht nur eine Verteidigung des foucaultschen Denkens dar, sondern lässt sich als Erläuterung seines eigenen Werkes lesen. Zur Auseinandersetzung zwischen Sartre und Foucault vgl. Rödig, Andrea: 1996. Die unter der Bezeichnung „Antihumanismus“ vertretenen Positionen werden mit einer dezidiert historischen Perspektive in dem Band von Luc Ferry und Alain Renaut dargestellt (vgl. Ferry, Luc/Renaut, Alain: 1987). Die positive Stellungnahme und die Verteidigung des foucaultschen Denkens durch Georges Canguilhem ist in diesem Zusammenhang meines Erachtens nie aufgearbeitet worden. 125 Canguilhem, Georges: 1988, 26. 126 Foucault, Michel: 1988, 68. 127 Foucault, Michel: 1988, 68.

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Idee des Lebens dar, als es durch die Medizin und Biologie erfolgt ist. Mit dieser Fragestellung geht es um eine Geschichte des Lebens und um eine Geschichte des Wissens vom Leben. Es ist – um noch einmal Foucault zu zitieren – „eine Erhellung des Wissens über das Leben und der Begriffe, die dieses Wissen gliedern“128. Und weiter heißt es bei Foucault: „Dieser Philosophie des Sinns, des Subjektes und des Erlebnisses hat G. Canguilhem eine Philosophie des Irrtums, des Begriffes des Lebewesens als eine andere Annäherung an die Idee des Lebens entgegengesetzt.“129

Die Philosophie des Begriffes, des Irrtums und des Lebewesens wirft die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen des Wissens auf. Eine Auseinandersetzung mit den Lebenswissenschaften zeigt zugleich das Dilemma zwischen strenger Wissenschaft mit einem hohen Grad an Formalisierungen und dem Leben, das immer auch den Irrtum in sich trägt. Foucault betont die Bedeutung des Irrtums in Canguilhems Denken, denn dieser „Begriff gestattet es ihm [Canguilhem; Anm. d. Verf.], das Verhältnis zwischen dem Leben und der Erkenntnis des Lebens zu markieren und darin wie einem roten Faden der Gegenwart des Wertes und der Norm nachzuspüren“130. In dem Moment, als die modernen Wissenschaften den Menschen als Objekt der Erkenntnis über sein Wesen zugleich zum Gegenstand seines eigenen Wissens gemacht haben, werden neue Ansätze zu einer Lösung des Dilemmas erforderlich.131 Canguilhem zeigt keine Lösung des Dilemmas auf, sondern eröffnet einen Blick auf die Konsequenzen und auf die Ambivalenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse. Denn diese Ambivalenz entsteht dann, wenn sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf das Leben richten.

128 Foucault, Michel: 1988, 68. Nicht zufällig beschreibt Foucault das Denken Canguilhems in aufklärerischen Metaphern von Licht und Dunkel, Erhellung und Verdunkelung. Denn würde man außerhalb Frankreichs nach einem Denken suchen, das dem Canguilhems entspricht, so „würde man es bei der Frankfurter Schule finden“ (Foucault, Michel: 1988, 58 f.). Mit Rationalität und Vernunft können sowohl Despotismus als auch Freiheit begründet werden. Die Reflexion auf die ambivalente Stellung von Rationalität durchzieht das gesamte Werk von Foucault. 129 Foucault, Michel: 1988, 71 f. 130 Foucault, Michel: 1988, 70. 131 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 150.

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Zwischen einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Lebens und der Erfahrung des Lebens besteht demnach ein Verhältnis einer unentwegten Unstimmigkeit. Diese Unstimmigkeit bezieht sich nicht allein auf die Frage, was mit dem Menschen in der medizinisch-wissenschaftlichen Kultur geschieht, sondern sie betrifft auch den Boden für das erkenntnistheoretische Interesse an der wissenschaftlichen Bestimmung des vom Leben durchdrungenen Lebewesens.132 Dass das Leben zum wissenschaftlichen Gegenstand geworden ist, unterminiert die Tatsache, dass die Erkenntnisse von lebendigen Menschen gemacht werden, die sowohl Subjekt als auch Objekt einer Wissenschaft sind.133 Indem sich Canguilhem dem wissenschaftlich bestimmten Verhältnis des Normalen und Pathologischen zuwendet, zeigt er, dass die Spezifität des Lebens nicht umstandslos in einer Theorie gefasst werden kann. Die Wissenschaften vom Leben haben die Fragen nach dem Leben nur behandeln können, indem sie die Phänomene von Krankheit und Gesundheit in die einzelnen Teile des Körpers verlegt haben, ohne zu berücksichtigen, dass die „Krankheit eines Lebewesens ganz und gar nicht in den Teilen eines Organismus steckt“. Krankheit sei immer mehr. Sie sei „ein in Abwehr und Reaktion gegenüber der Umwelt befindlicher Organismus. In der Tat stellt sich hier das Problem der Individualität“134. In diesem Sinne bringt die wissenschaftliche Bestimmung des Normalen und des Lebens einen vom Leben entleerten Begriff hervor, der seinen Gegenstand nur fassen kann, weil er ihn „zu einem von jeder Subjektivität entleerten Stoff macht“135. Der Zufall, die Krankheit und die Monstrosität werden somit als „eine Störung im Informationssystem“136 betrachtet und nicht mehr als ein im Leben selbst enthaltener Irrtum.

3.5.2 Die Relativität des Normalen zu seiner Umwelt Die wissenschaftliche Medizin sei eine Tätigkeit, die von Vorstellungen der Beherrschbarkeit der Umwelt geprägt werde und darauf ziele, die Umwelt nach spezifischen Werten zu strukturieren und zu organi-

132 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 151. 133 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 150. 134 Canguilhem, Georges: 1974, 152. 135 Canguilhem, Georges: 1974, 156. 136 Foucault, Michel: 1988, 69.

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sieren. Mit dieser Auffassung widmet sich Canguilhem der Frage, was Wissenschaften tun, wenn sie ihre Erkenntnisinteressen auf das Leben richten, und rückt die Wissenschaften vom Leben somit in eine historisch-epistemologische Perspektive, um ihre Besonderheit gegenüber anderen Wissenschaften zu erörtern. Canguilhem schreibt: „Das Leben wird zum Gegenstand der Wissenschaft – oder genauer: es ist historisch erst dazu geworden und es keineswegs immer schon gewesen.“137 Für die Wissenschaften vom Leben galt es, einen wissenschaftlichen Bezugsrahmen aufzustellen, in dem die analytische Unterscheidung zwischen Normalem und Pathologischem ihre Wirksamkeit entfalten konnte. Canguilhem untersucht die konkreten und komplexen Verhältnisse beider Begriffe. Die Annahme der grundlegenden Identität des Normalen und des Pathologischen war zunächst die Bedingung für die Konstitution der eigenständigen Disziplinen der Pathologie und der Physiologie. Die Begriffe des Normalen und der Anomalie werden damit zu einer wissenschaftlichen Tatsache. Das „Normale ist [jedoch] kein Seinsbegriff“138, ebenso wenig ist es ein objektiver Maßstab. Der Normalzustand, der das Ziel der medizinischen Intervention und Therapie darstellt, bezieht sich immer auf Normen. Mit statistischen und empirischen Bestimmungen des Normalen ist immer eine bestimmte Auffassung des Lebens verbunden. Für Canguilhem muss diese Spannung zwischen dem Leben und einer bestimmten Auffassung des Lebens in dem Verhältnis von Normalem und Pathologischem berücksichtigt werden. Sie bedarf einer philosophischen Klärung. Die Polarität zwischen dem Leben und der Erkenntnis des Lebens arbeitet Canguilhem mit einer näheren Betrachtung des Normalen heraus. Gerade weil dieser Begriff in der Medizin eine solche Bedeutung erlangt hat, könne eine solche Analyse auch für die „Medizin sehr instruktiv sein“139. Die Medizin könne sich dieser Aufgabe nicht stellen.140 In der modernen Medizin sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse eng mit den technischen Möglichkeiten verflochten. Als Wissenschaft, die Objektivitätsansprüchen wie der Bestimmung von Stabilitäten und

137 Canguilhem, Georges: 1974, 150. 138 Canguilhem, Georges: 1974, 136. 139 Canguilhem, Georges: 1974, 85. 140 Vgl. Foucault, Michel: 1988, 65. Foucault vertritt mit Canguilhem die Auffassung, dass für die Wissenschaften vom Leben etwas anderes gilt als bspw. für die Physik.

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Konstanten unterliegt, gilt jedoch für sie etwas anderes als für die Physik oder Chemie. Foucault, der diesen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Lebenswissenschaften erörtert, betont, dass eine Abweichung, eine Mutation oder eine Störung für den Biologen nicht mehr und nicht weniger ist als die Ersetzung einer Nukleinsäure durch eine andere. Für die Wissenschaften vom Leben gilt hingegen, dass an diesen Unterschied ein spezifischer Objekttypus gebunden ist, dem der Wissenschaftler „selber angehört, denn er lebt und er manifestiert, er vollzieht diese Natur des Lebenden“141. Die Physik kenne nur – wie Canguilhem referiert – die Bewegung des Körpers, es gibt keine Pathologien physikalischer Bewegungen. Die Phänomene des Lebens dagegen zeugen von den spontanen Bestrebungen des Lebens, „den Bedingungen gegenüber, unter denen es möglich ist, nicht indifferent“142 zu bleiben. Leben bedeute auswählen und verwerfen.143 Das Leben als eine wissenschaftliche Tatsache zu betrachten, unterschlägt die Interdependenzen von Leben und Umwelt. Die wissenschaftliche Bestimmung des Lebens, wie sie in der Unterscheidung von Normalem und Pathologischem zur Anwendung kommt, reduziert das Leben auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Festlegungen. Einem solchen Reduktionismus hält Canguilhem den Begriff der Normativität des Lebens entgegen. Biologische Lebensnormen sind immer auch artikulierte Normen innerhalb einer bestimmten Umwelt, sodass auch „die physiologischen Merkmale des Menschen mit seinem Tun zusammenhängen“144. Canguilhem erkennt darin einen falsch verstandenen Objektivitätsanspruch einer Wissenschaft, mit dem die Bedingungen des Lebens unterschlagen werden, um sich als Wissenschaft zu etablieren: Zwar könne die Physiologie, so Canguilhem, aufgrund ihrer Methoden auch eine Wissenschaft sein, aber als eine Wissenschaft vom Leben würde sie sich im streng Objektiven der Geschichte annähern.145 Dieser Objektivitätsanspruch hat Konsequenzen sowohl für den Begriff des Normalen als auch für den des Pathologischen. Die Pathologie und die Physiologie konstituieren einen wissenschaftlichen Begriff des Normalen über die Bestimmung der statistischen Häufigkeit. Canguilhem schreibt:

141 Foucault, Michel: 1988, 67. 142 Canguilhem, Georges: 1974, 82. 143 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 89 f. 144 Canguilhem, Georges: 1974, 117. 145 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 150.

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„Die Physiologie – so scheint uns – hat Besseres zu tun, als einer objektiven Definition des Normalen nachzujagen; vielmehr hätte sie die spezifische Normativität des Lebens zu erkennen.“146

Damit problematisiert Canguilhem die ambivalente Stellung von Physiologie und Pathologie innerhalb der Naturwissenschaften, die darauf zurückzuführen ist, dass sie auf wissenschaftlichen Aufstellungen messbarer und statistischer Bestimmungen beruhen. Das Normale ist kein statistischer Wert, denn die biologischen Funktionen würden unverständlich bleiben, „wenn sie lediglich die verschiedenen Zustände einer gegenüber den Umweltveränderungen passiven Materie wiedergeben“147. Als statistischer Wert betrachtet, werde der Unterschied zwischen dem Leben und der Materie eingeebnet. Zwar zeige sich das Normale in den Bestrebungen, es wissenschaftlich zu bestimmen, als passive Entität, aber im Leben sei es angesichts der Umweltbedingungen und der ihnen zugrunde liegenden Normen keineswegs als passive oder indifferente Entität aufzufassen. Das Normale und das Pathologische sind keine statischen Gebilde. Stattdessen unterliegen sie in ihrer spezifischen Anwendung von Normen einer Dynamik: „Wenn also das Normale nicht die Starre eines kollektiven Zwanges, sondern die Elastizität einer Norm besitzt, die sich den individuellen Bedingungen entsprechend verändert, so verwischt sich natürlich auch die Grenze zwischen Normalem und Pathologischem.“148 Selbst wenn sich die statistischen Bestimmungen nicht verändern, könne das Normale unter bestimmten Bedingungen durchaus zum Pathologischen werden. Das Pathologische ist kein absoluter Wert, sondern kann nur „im Verhältnis zu einer bestimmten Situation anormal genannt werden“149. Die Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Patho-

146 Canguilhem, Georges: 1974, 120. 147 Canguilhem, Georges: 1974, 121. 148 Dass die Grenzen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen unbestimmt sind, heißt nicht, dass Canguilhem damit wieder zu einer qualitativen Unterscheidung beider Terme zurückkehren will, vielmehr impliziert diese Aussage, dass sich die Differenzen erst im Zusammenspiel mit der Umwelt ergeben (vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 122). An dieser Stelle führt er das Beispiel eines zu niedrigen Blutdruckes an, der dann zu einer Störung wird, wenn er unter veränderten Umweltbedingungen, wie zum Beispiel in den Bergen, die Ausübung von Tätigkeiten verhindert. 149 Canguilhem, Georges: 1974, 132.

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logischen in wissenschaftlicher Hinsicht berücksichtige nicht die vom Individuum aufgestellten Normen. In diesem Sinne ist das Normale nicht unabhängig von der Umwelt und von individuellen Erfahrungen zu bestimmen. Das Normale ist nicht auf Naturgesetze bezogen. Die Aufstellung von Normen schließt immer auch einen Raum für andere Möglichkeiten ein, denn eine Anomalie ist nicht per se pathologisch. Anomalien stellen auch andere mögliche Lebensnormen dar.150 „Form und Funktion des menschlichen Körpers sind nicht bloß Ausdruck der dem Leben von der Umwelt vorgegebenen Bedingungen, sondern der gesellschaftlich angenommenen Lebensweisen in einer bestimmten Umwelt. In unserem Versuch konnten wir auf Beobachtungen hinweisen, die zu der Annahme berechtigen, daß Natur und Kultur […] bei der Bestimmung organischer Normen des Menschen wahrscheinlich eng verquickt sind.“151

Organische Normen sind mehr als nur eine biologische Anpassungsleistung; sie werden in gesellschaftlichen Bedingungen hervorgebracht. Natur und Kultur sind durchaus eng verknüpft bei der Bestimmung organischer Normen.152

150 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 96 und 149. 151 Canguilhem, Georges: 1974, 188. 152 Die Bedeutungen von Norm und normal beziehen sich nicht ausschließlich auf die Humanwissenschaften, sondern sie berühren „letzten Endes die Frage nach dem Verhältnis von Normalität und Allgemeinheit“ (Canguilhem, Georges: 1974, 160 f.). Canguilhem stellt einen historischen Zusammenhang zwischen Normalität und Allgemeinheit sowie den politischen und gesellschaftlichen Normalisierungsbestrebungen her. Mit einer historischen Perspektive auf politische Entwicklungen untersucht er die normativen Bestrebungen in der Gesellschaft, die sich „ein und derselben Ursache verdanke[n], nämlich der Französischen Revolution“ (ebd., 162). Die politische Macht, die das Bürgertum nun ausübte, basierte auf anderen Funktionen und Regeln von Macht. Wie Lepenies in diesem Zusammenhang erörtert, seien an die Herrschaft des Bürgertums auch Veränderungen von Machtverhältnissen gebunden. Die politische Machtausübung beruhe auf einer Definitionsmacht sozialer Normen. Wenn Canguilhem von der normativen Intention einer Gesellschaft spricht, dann geht es hier um „einen Bezugsrahmen für alle Normalisierungsbestrebungen, ob in Medizin, Gesetzgebung oder selbst Technologie“. Letztlich werden „Normalität und

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„Normieren und normalisieren, das bedeutet: einem Daseienden, Gegebenen eine Forderung aufzwingen, von der aus sich Vielfalt und Disparatheit dieses Gegebenen als ein nicht bloß fremdes, sondern feindliches Unbestimmtes darstellen. Polemisch ist der Begriff gerade darin, daß er den der eigenen Geltung nicht unterworfenen Bereich des Gegebenen negativ qualifiziert und doch auf seiner Einbeziehung beruht.“153

Das Normale ist kein neutraler Begriff, sondern beansprucht immer einen Wert. Wenn Canguilhem von einem polemischen Begriff der Norm spricht, so unterstreicht er, dass Normierung immer auch eine Qualifizierung des Gegebenen bedeutet. Wissenschaftliche Objekte werden nicht einfach erfasst, beschrieben, vermessen; sondern Objektivität erfordert auch immer ein normatives Urteil. Das Setzen einer Differenz, wie sie sich in der Unterscheidung von normal und pathologisch realisiert, ist demnach ein dynamischer Prozess, der sowohl in der Abwertung eines Ausschlusses als auch in der Einbeziehung von Normen seinen Geltungsbereich konstituiert und festlegt. Normierung ist für Canguilhem eine spezifisch anthropologische und historische Praxis. Die Verwendung der Begriffe der Norm oder des Normalen ist im „Wesen des Verhältnisses von ‚normal‘ und ‚anormal‘ begründet“154. Eine polemische und dynamische Bedeutung des Norma-

Allgemeinheit dadurch miteinander identisch“, so Lepenies, indem „sie eine Norm durch ihre statistische Häufigkeit definiert“ (Lepenies, Wolf: 1978, 195). Lepenies betont in dem Aufsatz Normalität und Anormalität den begrenzten historischen Zeitraum, in dem im 19. Jahrhundert eine Identität von Krankheit und Gesundheit behauptet wurde, denn im Hinblick auf die Entwicklungen in der Medizin zu Beginn des 20. Jahrhunderts (zum Beispiel die Erkenntnisse über Stoffwechselerkrankungen) konnte man der Krankheit „nicht einfach ein physiologisches Pendant“ zuordnen (ebd., 196). Die Entwicklung habe in der Medizin dazu geführt, „zur ‚ontologischen‘ Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit zurückzukehren“ (ebd., 195). Lepenies übersieht, dass Canguilhem eine solche Rückkehr gar nicht im Sinn hatte, vielmehr ging es ihm um die kulturellen und sozialen Implikationen wissenschaftlicher Haltungen. Canguilhem ging es nicht darum, die quantitativen Bestimmungen von Gesundheit und Krankheit mit einer Ontologie des Krankheitsbegriffes auszuspielen. 153 Canguilhem, Georges: 1974, 163. 154 Canguilhem, Georges: 1974, 163.

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len ergibt sich aus dem durch den Normierungsprozess hervorgerufenen Anspruch: Normierung ist in ihrer Funktion eine kollektive Forderung, die zeigt, „auf welche Weise eine gegebene historische Gesellschaft ihre Struktur oder vielleicht auch ihre Strukturen auf das bezieht, was sie für das ihr eigene Wohl hält“155. Die Funktion einer Norm als Ausschluss und Einbeziehung erhält ihre Bedeutung durch die immanenten wissenschaftlichen und sozialen Forderungen. Der Geltungsbereich des Normalen ist nicht nur – im Sinne eines Widerspruches oder einer Äußerlichkeit – durch das Ausgeschlossene zu bestimmen, sondern eine „Norm erhält ihren Sinn, ihre Funktion und ihren Wert daraus, dass es außerhalb ihrer etwas gibt, was dem Anspruch nicht genügt, dem sie selber dient“156. Als gesellschaftlicher Prozess stellt die Normierung einen Bezug zu biologischen Normen her. Am Ende dieses allgemeinen Prozesses der Normierung steht die Aufstellung morphologischer Normen oder von Lebensnormen. Die anthropologische Erfahrung zeige, dass eine Norm kein „Erstes“ ist. Spezifische Lebensweisen erfordern Regeln, die an Techniken der Normierung gebunden sind. Nur die mythischen Bilder des Paradieses verweisen auf einen Zustand jenseits der Kultur, auf eine nicht kultivierte, unbeanspruchte, ungezwungene, unkorrigierte Natur. Sie seien aber „negative Formulierungen einer Erfahrung, die der Norm entspricht“157. Eine Übereinstimmung mit der Regel kann nur dann bestehen, wenn sie zugleich deren Übertretung ist. Canguilhem schreibt: „Diese negative Formulierung einer Erfahrung, die der Norm entspricht, ohne daß diese in ihrer Funktion und durch sie sich hätte erweisen müssen; dieser im eigentlichen Wortsinn naive Traum von Regelhaftigkeit ohne Regel bedeutet im Grunde, daß der Begriff des Normalen selber normativ ist, daß er sogar die Welt des mythischen Diskurses normiert, welcher vom Fehlen der Norm erzählt.“158

Das Anormale bezieht seine Differenz zur Norm nicht aus einer in sich selbst existierenden Entität oder Qualität. Erst die historische Entwicklung lässt das Anormale durch die Erkenntnisinteressen, die sich auf das Normale richten, als dessen Negation erscheinen. Die Bestimmung des

155 Canguilhem, Georges: 1974, 163. 156 Canguilhem, Georges: 1974, 16. 157 Canguilhem, Georges: 1974, 165. 158 Canguilhem, Georges: 1974, 165.

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Normalen bringt das Anormale nicht nur als dessen Negation hervor. Als logische Negation folgt das A-normale „auf die Definition des Normalen“. Dann könnte man meinen, dass die Definition des Normalen das Anormale hervorbringe. Die Stellung des Anormalen folge zwar logisch aus der Definition des Normalen, aber tatsächlich sei das Anormale ein Erstes.159 Es könne keine Wissenschaft vom Normalen geben, eine Physiologie ohne Pathologie sei nicht möglich. Canguilhem nennt dies ein berufsspezifisches Vergessen des Mediziners, der die Krankheit unter Rückgriff auf seine Kenntnis des Normalzustandes zu erklären versuche, ohne dabei die Individualität des Normalen zu beachten. „Ist dieses Vergessen erst einmal beseitigt, so ist nicht mehr von der Hand zu weisen, daß allererst die Erfahrung eines Hindernisses, vom konkreten Menschen zunächst als Krankheit erlebt, die Pathologie ins Leben gerufen hat, und zwar in ihrer doppelten Gestalt: als klinische Semiologie und als physiologische Interpretation der Symptome.“160

Die Interpretation der Symptome des pathologischen Zustandes bedarf im klinischen Verfahren einer Bestimmung, aber dieses spezifische Verhältnis lässt sich nicht umstandslos als eine wissenschaftliche Tatsache auf das Leben erweitern.161 Die Rationalitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts stellen den Symptomen und Krankheiten stets einen Begriff des

159 Canguilhem, Georges: 1974, 167. 160 Canguilhem, Georges: 1974, 141. An anderer Stelle schreibt Canguilhem: „Und so sind denn auch Physiologisches und Pathologisches nicht deshalb unterschieden, weil ihnen eine andere objektive, nämlich physikalisch-chemische Realität, sondern ein anderer biologischer Wert zukommt“ (ebd., 149). Die dynamische Polarität zwischen Pathologischem und Normalem mache es notwendig, sich „bei der Aufstellung […] [von Normen; Anm. d. Verf.] stets auf das Individuum“ zu beziehen (ebd., 121). 161 Der Unterschied zwischen Krankheitswert und analytischem Krankheitsbegriff stellt für die Aufstellung gesicherter Verfahren der modernen Medizin einen ungeheuren Zugewinn dar, mit dem „die klinische Praxis überprüfbar, kontrollierbar und damit sicherer“ wurde (Paul, Norbert: 2006, 136). Canguilhem hat die Forschritte der Medizin durchaus im Sinn. Jedoch geht es ihm darum, die Einstellungen und wissenschaftlichen Haltungen zu untersuchen, mit denen die Trennung von Krankheit und Gesundheit in den erweiterten Rahmen von Normalität gestellt wurde.

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Normalen gegenüber, doch diese Haltung unterschlägt die Tatsache, dass Krankheiten zuallererst von Menschen artikuliert werden und nicht per se einen Durchschnittswert darstellen. Nur im Vollzug des Lebens wird aus einer Anomalie der Zustand einer Krankheit. Die Auffassung, dass Symptome aus dem Normalzustand ableitbar wären, wodurch jede Pathologie identisch mit dem Normalen ist, zeige die Dominanz einer Idee, durch die das Wissen – wenn auch verzerrt – im kulturellen Raum erst seine Bedeutung entfaltet.162 Wenn Canguilhem hier also von der These der Identität des Normalen und Pathologischen spricht, so betont er, dass deren Gehalt und Tragweite zwar bestimmt werden kann, diese aber „nicht eigens von uns erfunden wurde“163. Wissenschaftliche Aussagen über das Normale zu betrachten, heißt eben nicht, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sondern die Voraussetzungen und Annahmen zu analysieren, die diesen Aussagen zugrunde liegen. Es ist, wie Canguilhem betont, nicht das Objekt selbst, der Gegenstand oder das Daseiende, das dem Normalen und Pathologischen seinen Wert zufügt. Das Normale wird nur durch das Leben zu einem Wertbegriff. „Das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil macht aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff, der mehr als eine bloße statistische Wirklichkeit bezeichnet.“164

162 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 24. In einer weiteren Ausarbeitung seiner These, die Canguilhem zwanzig Jahre später dem ersten Teil hinzufügt hat, betont er, dass es durchaus Krankheiten geben kann, die sich nicht aus dem Gesundheitszustand ableiten lassen. Er sieht daher seine Haltung bestätigt, dass wir es beispielsweise bei der Alkaptonurie (seltene Störung des Eiweißstoffwechsels, die zu Gelenkentzündungen, Schwarzfärbung des Auges oder Verkalkung der Aorta führen kann) durchaus mit einer Erkrankung zu tun haben, „deren Symptome keinesfalls aus dem Normalzustand ableitbar“ seien und „keinen quantitativen Zusammenhang mit dem normalen Ablauf“ haben (ebd., 192). In diesem Fall sind kausale Zusammenhänge für eine Interpretation der Krankheit wesentlich komplexer zu rekonstruieren, als es die Idee eines quantitativen Zusammenhangs oder der Identität des Pathologischen und des Normalen vor allem epistemologisch nahelegt (vgl. ebd., 192). 163 Canguilhem, Georges: 1974, 24. 164 Canguilhem, Georges: 1974, 87.

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Nicht der Mediziner kann den Normalzustand bestimmen und anhand diesem die Pathologien festlegen. Dass überhaupt die Pathologie und die Physiologie in ein Verhältnis gegenseitiger Bestimmung gesetzt werden, ist Ausdruck einer wissenschaftlichen Haltung. Diese Haltung ist so mächtig, „daß der Krankheitsbegriff sich vollständig zu verflüchtigen droht“165. Foucault greift diesen Zusammenhang wieder auf und schreibt, dass „zwischen einer Physiologie der Phänomene des Lebens und einer Pathologie der Krankheiten das gemeinsame Element hätte gefunden werden können“166. Die Erkenntnis des Lebens ist nicht auf ein physikalisch-chemisches Wissen zu reduzieren. „Doch gibt es in der Erkenntnis des Lebens Phänomene, die es von allem physikalisch-chemischen Wissen absetzen. Denn sie hat das Prinzip ihrer Entfaltung erst in der Befragung der pathologischen Phänomene gewonnen. Es war unmöglich, eine Wissenschaft vom Leben zu konstituieren, ohne die Möglichkeit der Krankheit, des Todes, der Monstrosität, der Anomalie, des Irrtums als für ihren Gegenstand wesentlich in Rechnung zu stellen. Zwar kann man die [physikalischen; Änd. d. Verf.] und chemischen Mechanismen, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, immer genauer erkennen; aber ihren Platz finden sie nur in einer Besonderheit, die die Wissenschaften vom Leben einbeziehen müssen, wollen sie nicht ihren spezifischen Gegenstandsbereich eliminieren.“167

Die Monstrosität hat damit eine konstitutive Funktion für die Erkenntnis des Lebens und zugleich eine Funktion für die Lebendigkeit des Lebens, die im wissenschaftlichen Diskurs nicht eingeholt wird. Wie Link schreibt, gehe es Canguilhem um die Widerlegung des Prinzips, mit dem im 19. Jahrhundert Krankheit als kontinuierliche Verlängerung des Normalzustandes aufgefasst wurde. Dieses Interesse an der Widerlegung habe Canguilhem „daran gehindert, die fundamentale strukturelle Bedeutung des ‚Prinzips‘ für normalistisches Denken allgemein und insbesondere seinen ‚technischen‘ Modellcharakter für die Entwicklung von Normalitäts-Dispositiven in den Mittelpunkt zu rücken“168. Canguilhems Studien können aber keineswegs darauf reduziert werden. Seine Darstellungen zum sich wandelnden Verhältnis zwischen

165 Canguilhem, Georges: 1974, 22. 166 Foucault, Michel: 1988, 65. 167 Foucault, Michel: 1988, 65 f. 168 Link, Jürgen: 2006, 200.

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dem Normalen und Anormalen zielen nicht darauf ab, die Annahme der Identität des Anormalen und Normalen zu widerlegen, denn das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass es eine Differenz zwischen beiden Termen gibt. Stattdessen geht es um die Interpretation von Ideen, die jeder wissenschaftlichen Tätigkeit zugrunde liegen.169 Weil Canguilhem der Erkenntnis des Lebens das vitale Bedürfnis gegenüberstellt, beziehe er sich nicht auf eine bestimmte Auffassung von Natur, meint Link in seiner Kritik am Normalitätskonzept von Canguilhem.170 Canguilhems Werk sei – so Link – wissenschaftlich inkonsequent: Obwohl er sich gegen eine Auffassung fixer Normen gerichtet habe, formuliere er eine implizit „protonormalistische Theorie der Normalität“171. Zu Recht ist an anderer Stelle darauf hingewiesen worden, dass diese Unterscheidung zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus, die Link für eine Theorie des Normalismus beansprucht, für Canguilhem gar nicht von Interesse gewesen sein konnte. Canguilhem ist weder „Normalisierungstheoretiker“ noch „Medizinhistoriker“ und er ist auch nicht an einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Begriffen von Normalisierung interessiert. Ihm geht es vielmehr um die „Verwerfungen eines ‚Interdiskurses‘“, wie sie sich „am historischen Material aufweisen lassen“172. Das vitale Bedürfnis und die dynamische Polarität des Lebens sind keine biologischen Qualitäten. Vielmehr zeigt Canguilhem, wie das Prinzip der Komplexität und Identität beider Terme überhaupt zu einer bestimmten Auffassung und Herstellung von wissenschaftlichen Tatsachen beigetragen hat. Die dynamische Polarität impliziert kein statisches Verständnis der Natur oder des gesetzmäßigen Aufbaus organischen Lebens. Vitalität basiert für Canguilhem nicht auf dem Konzept einer frei schwebenden, von allen Beziehungen losgelösten Entität. Insofern ging es Canguilhem darum, auf die komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Auffassungen und wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen hinzuweisen. Mit der wissenschaftlichen Auffassung der Identität des Normalen und Pathologischen entsteht ein Riss zwischen dem Wissen der Humanwissenschaften und den menschlichen Erfahrungen normaler und pathologischer Lebensphänomene. Die Wissenschaften vom Leben – betont Foucault im Anschluss an Canguilhem – müssen die Monstrositäten ver-

169 Vgl. Lepenies, Wolf: 1978, 196. 170 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 115. 171 Link, Jürgen: 1997, 130. 172 Borck, Cornelius/Hess, Volker/Schmidgen, Henning: 2005a, 36.

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leugnen. Zugleich seien sie in die Ideen des Wissens eingeschrieben, die die Erkenntnisse über das Leben strukturieren. Denn wissenschaftliche Erkenntnis vom Menschen nimmt ihren Ausgangspunkt an den Erfahrungen des Monströsen des Todes, des Leidens und der Krankheit. In der wissenschaftlichen Bestimmung des Pathologischen und des Normalen als berechenbaren Größen, mit der das Normale und das Pathologische physikalischen oder chemischen Gesetzen unterworfen wird, werden letztlich die Besonderheiten des Lebens aufgekündigt.173 Indem hier der Begriff des Lebens in einem Feld des Normalen und Pathologischen entwickelt wird, haben die Wissenschaften vom Leben eine normative Rolle für die Bestimmung des gesunden Menschen übernommen, den „sie stillschweigend als Norm voraussetzen.“174 Die Medizin nimmt somit Definitionen des normalen Menschen vor und beansprucht, das Normale an der Schnittstelle zwischen individueller und kollektiver Erfahrung des Menschen wissenschaftlich zu bestimmen. Obwohl die Erfahrungen des Menschen der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnisse sind, führte die wissenschaftliche Auffassung vom Menschen im 19. Jahrhundert dazu, dass dieser besondere Gegenstandsbereich aus den Wissenschaften vom Leben ausgeschlossen wurde und man sich somit letztlich immer weiter vom Menschen selbst entfernte.

3.5.3 Monstrositäten als lebendiges Phänomen und als verworfene Zone Im wissenschaftlichen medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wurden Monstrositäten als Kontinuum gedacht, da sie als Veränderung des Normalzustandes galten. Die Verschiebung des Monströsen von der sin-

173 Canguilhem betont, dass es durchaus möglich ist, eine Unterscheidung zwischen pathologischen und normalen Phänomenen auf naturwissenschaftlichen Gesetzen zu fundieren. Er greift hier verschiedene Haltungen auf, die darauf zielen, Fragen der Bewertung von Pathologien völlig der Philosophie zu überlassen. Das Ergebnis einer solchen „Arbeitsteilung“ wäre, „dass man die Medizin zur reinen Spekulation verdammte“ (Canguilhem, Georges: 1974, 148). Vielmehr geht es Canguilhem darum, die Spannungen zwischen Physiologie und dem Leben aufrechtzuerhalten und eine widersprüchliche Bewegung beider Seiten anzuerkennen (vgl. ebd., 150). 174 Foucault, Michel: 1996, 53.

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gulären Erscheinung zu einem Verhältnis der Identität mit dem Normalen beschreibt damit die Umwandlung des Bedeutungsgehaltes. Wie an anderer Stelle von Muhle erörtert wurde, vertritt Canguilhem die Annahme eines „klassischen Bruchs zwischen naturalistische[m] und ontologischem Verständnis der Figur des Monsters“175. Canguilhem ist es zwar an keiner Stelle um die Beziehung des Monströsen zur Ordnung des Lebens gegangen.176 Das Interesse an Monstrositäten führte ihn jedoch zu einer Kritik an den wissenschaftlichen Prinzipien zur Bewertung des Lebens.177 Als während des 18. Jahrhunderts die Forschungen unter dem „allgemeinen Imperativ der Klassifizierung und Skalierung“178 standen, gehörte das Einzigartige noch einer anderen Wissensordnung an. Erst mit dem Prinzip der Analogien und Variabilitäten kam man im 19. Jahrhundert zu einer Vereinheitlichung des Wissens. Die epistemologische Funktion des Einzigartigen – so Canguilhem – habe sich seit dieser Zeit verändert und es fließe in die Wissenssysteme ein. Das Einzigartige verlor seine trennende Funktion, auch war es nicht mehr isoliert und erschien nun in einer kontinuierlichen Reihe. Somit erhielt „jede Einzigartigkeit ihren Platz als Abstufung, Übergang oder Mittelwert“179. Nicht die wissenschaftliche Vereinnahmung des Monströsen löste das Einzigartige auf, sondern der Analogisierung des Singulären lag eine wissenschaftliche Sichtweise zugrunde, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzte. Das heißt, dass das Verhältnis des Einzigartigen – und wenn man das weiter ausführt, auch des Monströsen – zum Normalen in ein Verhältnis der Analogie und Identität gesetzt wird. Diese Veränderung ist Ausdruck der Vorstellung einer rationalen Beherrschbarkeit des Lebens. Canguilhem schreibt: „Die Analogie, die der tierischen Mechanik zugrunde lag, reduzierte das Wunderbare, leugnete die Spontaneität des Lebendigen und garantierte den Anspruch einer rationalen Beherrschung des menschlichen Lebens.“180

175 Muhle, Maria: 2008, 186. 176 Aus wissenschaftshistorischer Perspektive kann – wie beispielsweise Hagner betont – die Naturalisierung des Monsters „nur eine erste Annäherung an das Thema darstellen“ (Hagner, Michael: 2005b, 74). 177 Vgl. Canguilhem, Georges: 1979a, 67. 178 Canguilhem, Georges: 1979a, 59. 179 Canguilhem, Georges: 1979a, 68. 180 Canguilhem, Georges: 1979a, 70.

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Die Monstrosität ist die Spontaneität des Lebendigen, denn sie verweist auf die konstitutive Lebendigkeit.181 Das Spektakuläre des Monströsen verblasst in den Analogien der Abstufungen und in den Integrationsbestrebungen, die das Singuläre in den Prozess der wissenschaftlichen Bestimmung des Lebens stellen. Diese Auffassung erörtert Canguilhem an der Praxis der Erzeugung von Fehlbildungen, wie sie beispielsweise von Saint-Hilaire konzipiert wurde. Mit seinem Projekt der Monstrenbildung entwickelte Saint-Hilaire eine Technik der Brutkästen. Die Ergebnisse der experimentellen Erzeugung von Missbildungen dienten dem teratologischen Forschungsinteresse. Hinsichtlich der Monstrositäten vertrat Saint-Hilaire eine Theorie der Analogien. Er interessierte sich weniger für das Monströse und das Absonderliche, „sondern war vielmehr auf der Suche nach ursprünglichen Gesetzen und anatomischen Formen, die sich in einer frühen embryologischen Phase zeigen, bevor die morphologische Ausdifferenzierung beginnt.“182 Es ging ihm um eine statistische Annäherung an die Anomalie. Inwieweit können die Anomalie und die Monstrosität voneinander unterschieden werden ? Mit Blick auf die Differenzierung der Begriffe Anomalie und anormal zeigt Canguilhem, wie in der französischen Begriffsgeschichte die Verwendung eines deskriptiven Terminus zu einem „heimlichen Austausch der Bedeutungen von Anomalie und anormal geführt“183 habe. Auch Saint-Hilaire, der den Begriff der Anomalie zu definieren versucht, folgt der falschen Etymologie beider Begriffe. Anomalie und anormal haben unterschiedliche Bedeutungen: Anormal stammt vom lateinischen Wort norma (= Gesetz, Regel) ab. Der Begriff der Anomalie leitet sich von dem griechischen Wort anomalia her und bedeutet Unebenheit oder Ungleichheit. Die begriffliche Verwirrung zeigt sich an der Zweideutigkeit von deskriptiven und normativen Zuschreibungen. Ihrer Bedeutung nach ist die Anomalie eine Tatsache und damit „ein deskriptiver Terminus; demgegenüber enthält anormal den Bezug auf einen Wert, es ist ein Terminus des Beurteilens, ein normativer Ausdruck.“184 Saint-Hilaire versteht unter der Anomalie ein biologisches Faktum, für das er einen „rein deskriptiven und theoretischen Sinn zu erhalten“185 versucht. In dieser

181 Vgl. Muhle, Maria: 2008, 193–199. 182 Zürcher, Urs: 2004, 157. 183 Canguilhem, Georges: 1974, 86. 184 Canguilhem, Georges: 1974, 86. 185 Canguilhem, Georges: 1974, 86.

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Hinsicht erschließt sich die Bedeutung von Monstrositäten in einem rein statistischen Wert. Monstrositäten treten demnach nur im Zusammenhang einer sehr komplexen und schwerwiegenden Funktionsstörung auf. In dieser allgemeinen Definition wird Canguilhem zufolge aber das Prinzip der Gefährlichkeit dem der Komplexität untergeordnet. Für Canguilhem spielen Probleme der Teratologie nur eine untergeordnete Rolle.186 Die Geschichte der Monstrositäten könne aber als ein Beispiel dafür dienen, dass das „Eigentümliche des vorwissenschaftlichen Geistes darin besteht, lieber Besonderheiten aufzusuchen“. Auch im 19. Jahrhundert richtet sich der Blick auf die Monstrositäten und nach wie vor werden sie „beschrieben und zur Schau gestellt“187, aber letztlich müssen sie dem Prinzip der Kontinuität untergeordnet werden.188 Die Naturalisierungen und Rationalisierungen haben zwar die Monstrositäten in die modernen Humanwissenschaften integriert, jedoch lässt sich mit Canguilhem zeigen, welche Strategien des Wissens wirksam werden mussten, damit die epistemologische Funktion des Monströsen in der Wissenschaft vom Leben aufrechterhalten werden konnte. Dazu musste bereits eine Identität der Terme des Pathologischen und des Normalen vorausgesetzt werden. Der ontologische Krankheitsbegriff wurde von einer Auffassung therapeutischer Eingriffe und Bedürfnisse verdrängt und musste dem Anspruch der Gründung einer wissenschaftlichen Disziplin des Normalen und des Pathologischen untergeordnet werden. Das vitale Bedürfnis, wie es sich als „konkretes Gefühl“ des Lebens äußert, wird im Diskurs der Rationalisierung und der statistischen Erfassung des Normalen und Pathologischen zu einem wissenschaftlichen Objekt, das ein eigenartiges Verstummen des Monströsen hinterlässt. Canguilhem hatte argumentiert, dass die wissenschaftlichen Diskurse der Rationalität zu einer Vereinnahmung und Reduzierung des Lebensbegriffes geführt haben. Dieser Reduktion hält er den Begriff des Monsters als lebendiges Phänomen entgegen, um damit die Vielfalt des Lebens wiederzugewinnen, denn es sei eine „verschwiegene und oft verkannte Tatsache, dass das Leben Monstrositäten duldet“189. Als wissenschaftlicher Gegenstand der Humanwissenschaften wird das Monströse an wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und Stabilitäten gemessen. Die Materialisierungen

186 Vgl. Canguilhem, Georges: 1979a, 59 ff. 187 Canguilhem, Georges: 1979a, 67. 188 Vgl. Canguilhem, Georges: 1979a, 67. 189 Canguilhem, Georges: 2007, 199.

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und Naturalisierungen des Monströsen konnten jedoch erst dann greifen, als es bereits als wissenschaftlicher Gegenstand konstituiert war.190 Das Monströse kann als eine quantitative Veränderung des Normalen nur in einem wechselseitigen Verhältnis zu diesem gedacht werden und ist damit eine Anomalie. Die Geltungsbereiche von monströsen Objekten konnten mit der wissenschaftlichen Systematik der humanwissenschaftlichen Diskurse methodisch nicht hervorgebracht werden. Wenn Canguilhem schreibt, „dass man Normen immer nur an ihren Abweichungen zu erkennen vermag“191, dann sind auch nur jene Abweichungen methodisch zu erfassen, die sich in ein Verhältnis zur Norm setzen lassen. Die Vorstellung, dass die „pathologischen Phänomene als eine rein quantitative Veränderung von Normalzuständen“ aufzufassen seien, hat ihre Wirksamkeit nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Soziologie entfaltet, „wobei alle Versuche scheiterten, das Pathologische als bloße Variante des Normalen zu begreifen“192. Dass diese Versuche scheiterten, liege in dem eigenen Machtanspruch einer Disziplin begründet, die nach Beherrschung und Organisation der Umwelt und Natur strebt.193 Die Medizin des 19. Jahrhunderts habe den Mensch zum Gegenstand des Wissens gemacht und sich dabei Lebensnormen bedient, mit denen das Normale und Pathologische wissenschaftlich bestimmt werden konnte. Dieses Scheitern ist kein Noch-nicht-Erkanntes, sondern ein Scheitern, in dem das, was unter menschlichem Leben zu verstehen ist, durch Normierungen wissenschaftlicher Praktiken erzeugt wurde. Die Abweichung ist kein Phänomen, dessen Ursachen so aufgedeckt werden müssten, als wären sie der Natur zugehörig. Canguilhem schreibt, dass es „keinen Unterschied zwischen dem Irrtum des Lebens und dem

190 Vgl. Davidson, Arnold I.: 2003, 198. Davidson erörtert, dass Foucault und Canguilhem durchaus gleiche Positionen vertreten, Foucault habe jedoch einen allumfassenden Begriff von Wissen konzipiert. Canguilhem hingegen untersuche die internen Regeln einzelner Disziplinen. Beide vertreten die Ansicht, dass die Konstitution von wissenschaftlichen Objekten immer an bestimmte Normen gebunden ist. Diese Geltungsbereiche wissenschaftlicher Normen untersuche Canguilhem im Hinblick auf die einzelnen Disziplinen, während Foucault „auf anderen Ebenen nach anderen Arten von Normen suchte“ (ebd., 197). 191 Canguilhem, Georges: 1974, 190. 192 Canguilhem Georges: 1974, Vorbemerkung der Herausgeber, 1. 193 Vgl. Canguilhem Georges: 1974, Vorbemerkung der Herausgeber, 1.

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des Denkens“194 gibt. Für das 19. Jahrhundert haben die Humanwissenschaften die Normalitätsvorstellungen geprägt. Abweichungen, Störungen oder Anomalien waren nur im Zusammenhang mit ihrer Umwelt sichtbar, sie waren geprägt von einer Beziehung der Abhängigkeit des Organismus von seiner Umwelt. Dabei geht es nicht ausschließlich um eine Perspektive der Unangepasstheit, so, als wäre Anormalität auf das Unvermögen zur sozialen Anpassung zurückzuführen. Vielmehr ist die Umwelt als ein System von Zwängen und Vereinheitlichungen zu denken. Wenn gerade Normalität als eine bestimmte gesellschaftliche Vorstellung zu betrachten ist, ist auch das Pathologische an kulturelle und gesellschaftliche Normen gebunden. Beide Phänomene, die seit dem 19. Jahrhundert durch ein wissenschaftliches System der Vereinheitlichung ihre soziale Wirkung entfalten, sind an eine Relativität ihrer Geltung gebunden. Der wissenschaftliche Zugriff auf den Körper unterliegt immer den Normen und Regeln, mit denen das Wissen hervorgebracht wird. Insofern kann der Begriff der Monstrosität nur dort Bestand haben, wo er sich den diskursiven Regeln fügt, mit denen die Gegenstandsbereiche wissenschaftlicher Aussagen festgelegt werden; zugleich werden dadurch die Bereiche konstituiert, in denen diese Regeln und Normen verletzt werden können sowie die Kohärenz von Wahrheit und Falschheit außer Kraft gesetzt werden kann. Diese Regeln und Normen wissenschaftlicher Diskurse sind jedoch nicht stabil oder universell, sondern unterliegen einem Prozess der Veränderung. Insofern ist das, was als Monstrosität begriffen wurde, auch das Resultat wissenschaftlicher Praktiken. Monstrositäten sind demnach an das gebunden, was wissenschaftlich feststellbar und nicht feststellbar ist. In der stetigen wissenschaftlichen Festlegung von Normalität und Anormalität, des Pathologischen und Normalen zeigt sich die Unsicherheit und die Instabilität von Differenzen. Die Identität des Normalen und Pathologischen, die als herrschende Vorstellung die Funktionsweisen der humanwissenschaftlichen Diskurse absicherte, diente der Aufrechterhaltung von Ordnungsprinzipien, Normen und Regeln. Zugleich entstanden im Feld der Identität und Abgrenzung jene Abspaltungen, die auf ein grundsätzliches Scheitern verweisen. Monstrositäten erscheinen an den Rändern und doch können hier die durch Normsetzungen unsichtbar gewordenen Zonen aufgezeigt werden. Wissenschaftliche Normierungen erzeugen die Zonen, an deren Rändern die Abspaltungen

194 Canguilhem, Georges: 1974, 194.

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und Andersartigkeiten stetig mitproduziert werden. Monstrositäten sind nichts ‚Verdrängtes‘, sondern sie entstehen im Zentrum humanwissenschaftlicher Diskurse.195 Es gibt also eine historisch und kulturell einflussreiche Beziehung zwischen dem Normalen, dem Anormalen und den Monstrositäten, die zeigt, dass das Wissen weit mehr ist, als das, was eine Wissenschaft hervorbringt. Auch wenn sich mit dem Monströsen die Neugier, die Verfehlung und die Faszination vermischen, die wohl auch noch im 19. Jahrhundert den vorwissenschaftlichen Geist auf der Suche nach den Besonderheiten prägen, dürfe man nicht – wie Canguilhem betont – das „Auftreten eines Problems mit der Ausarbeitung seiner Lösung“196 verwechseln. Ohne in Pathos oder in den Modus der Anklage zu verfallen, verweist Canguilhem mit seinen Studien letztlich auch auf die fundamentale Instabilität des medizinischen Diskurses im 19. Jahrhundert, die im Prozess einer wissenschaftlichen Normierung mitproduziert wird. Wie gezeigt wurde, ging es Canguilhem mit der Monstrosität um eine Kritik an der wissenschaftlichen Auffassung vom Leben. Die wissenschaftlichen Praktiken haben begriffliche und theoretische Bestimmungen des Lebens hervorgebracht und sind daher an der Herausbildung von Normalisierungspraktiken beteiligt. Während Canguilhem die diskursiven Normen einer spezifischen Wissenschaft untersucht, die die Begriffe und Theorien implizit strukturieren, sollen im Folgenden Diskurspraktiken analysiert werden, die sich nicht mehr auf einzelne Disziplinen richten, sondern als kulturelle Techniken der Normalisierung zu verstehen sind.

195 Vgl. Sarasin, Philipp: 2001, 207 ff. Sarasin hat gezeigt, wie der Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts im Umfeld der Humanwissenschaften zu einer Verschärfung von Identitätsbehauptungen geführt hat. Die Monster entstehen dort, wo Identitätsdiskurse an die Herstellung von scharfen Differenzen gebunden sind. Dabei bildet sich ein antagonistisches Feld, in dem die „tiefe Nichtidentität des Subjektes“ einen Rest erzeugt, „der nicht symbolisiert werden kann“ (ebd., 209). An anderer Stelle haben Sarasin und Tanner betont, dass – da die Identität am Körper repräsentiert werden muss und diese Aufgabe nun von den Humanwissenschaften übernommen wird – damit auch ein „empirisch produktiver Riß“ zwischen der wissenschaftlichen Sprache und den Vorstellungsbildern entsteht, der als ein „ungelöster Rest des wissenschaftlichen Problems präsent blieb“ (Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 19). 196 Canguilhem, Georges: 1979a, 66.

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Im folgenden Abschnitt werden mit den Arbeiten von Jürgen Link diese Normalisierungsprozesse als kulturelle Techniken in ihrer historischen Konstellation analysiert und als Praktiken der Herausbildung moderner Selbstverhältnisse erörtert. Normalisierungspraktiken sind – wie mit Link ausgeführt wird – an historische Entwicklungen gebunden. In einer Gesellschaft, die den Normalismus zu einem interdiskursiven Komplex vielfältiger Strategien entwickelt, stellt sich dann die Frage, welche Funktion die Monstrosität hat, wenn es hier um die Praktiken der Bestimmung von Normaleinheiten und homogenen Feldern des Normalen geht. An der Schnittstelle wissenschaftlicher Spezialdiskurse und kultureller Techniken der Normalisierung wird gezeigt und erörtert, dass dem Monströses zugleich eine konstitutive Funktion für die Selbstnormalisierung von Subjekten zukommt.

3.6 N ORMALISIERUNGSPRAKTIKEN UND ZWEIDEUTIGKEIT DES A NORMALEN

DIE

3.6.1 Normalität als diskursives Ereignis Normalität ist in den westlichen Kulturen ein Gradmesser für die Bestimmung des Sozialen, Alltäglichen und Gesellschaftlichen: Ob als juristische Norm, als technische Normierung im Produktionsprozess oder als Verfahren einer Beschreibung des sozial oder kulturell richtigen Verhaltens – was natürlich, stabil und unhintergehbar ist, gilt als normal. Normal zu sein heißt demnach, sich richtig zu verhalten, dem Konsens bzw. den Normen entsprechend zu handeln. Normalität ist in der Moderne – wie Link schreibt – zu einem selbstverständlichen Orientierungsmaßstab okzidentaler Subjekte geworden, denn „sie fragen routinemäßig, ob etwas (noch) normal ist oder nicht und adjustieren danach ihr Verhalten und Handeln“197. Normalität ist nach Link ein Orientierungsmaßstab für individuelle Subjektverhältnisse und in der Moderne ein „kulturelles Gesamtphänomen“198 einer okzidentalen Kollektivsymbolik. Gerade weil das Normale eine solche Selbstverständlichkeit gewonnen habe, verkomme es zu einer „bedeutungsleeren Sprachblase ohne Bezug zu einer psychologisch

197 Link, Jürgen: 2006, 20. 198 Link, Jürgen: 2006, 20.

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oder soziologisch greifbaren praktischen Realität“199. Link zielt in seiner umfassenden Studie zum Normalismus auf eine historische und kulturelle Systematisierung alltäglicher und wissenschaftlicher Normalitätsdiskurse. Er stellt zunächst die Frage, ob Normalität ein historisches Phänomen oder aber eine anthropologische Konstante ist: „[H]andelt es sich um spezifisch moderne oder um sozusagen ewige Erfahrungen?“200 Links These ist, dass Normalität ein historisches Phänomen ist und dass das Auftauchen des Normalen auf die Entstehung bestimmter Diskurse zurückgeführt werden kann. Tatsächlich taucht – so Link – das Normale „zuerst im Zusammenhang mit moderner Massenproduktion und moderner Erhebung von Massendaten sowie der statistischen Analyse solcher Massendaten seit dem 18. Jahrhundert und verstärkt seit dem frühen 19. Jahrhundert auf“201. Link unterscheidet zwischen einem historischen Spezialdiskurs des Normalen und dem alltäglichen Gebrauch des Begriffes. Spezialdiskurse stellen ein spezifisches Wissen zur Verfügung. Sie sind zwar getrennt von Alltagsdiskursen, weisen aber auch spezifische Verbindungen zu lebenspraktischen und alltäglichen Vorstellungen auf. Der Normalismus ist zu einem umfassenden Konzept für die Gesellschaft und die Individuen geworden. Historisch ist er an die Erfahrung der Moderne geknüpft. Wie stellt sich das Verhältnis von Spezialdiskursen und alltäglichen Vorstellungen von Normalität dar ? Wissenschaftliche Diskurse können nicht einfach aus dem soziokulturellen Raum abgeleitet werden; ebenso wenig lässt sich das Soziale ausschließlich von den wissenschaftlichen Diskursen aus erklären. Dennoch ist ersichtlich, dass beide Bereiche die gesellschaftlichen Vorstellungen und die individuellen Selbstverhältnisse strukturieren. Auf diesen Zusammenhang weist Marcus Krause in seinem Aufsatz über die Normalisierung in der Machtanalytik Foucaults hin und stellt die Schlüsselfunktion der Medizin und der von dieser angestoßenen Institutionalisierungen für Normalisierungsdiskurse heraus: „Insbesondere die Medizin und die an sie angeschlossenen Institutionen wie Psychiatrie, Klinik oder Gesundheitsverwaltung verknüpfen die Norm mit der Normalität, den Körper des Individuums mit dem Bevölkerungskörper, also dis-

199 Link, Jürgen: 2006, 17. 200 Link, Jürgen: 2006, 19. 201 Link, Jürgen: 2006: 20.

156 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN ziplinierende mit regulierenden Maßnahmen und gründen diese Verknüpfungen in der Wahrheit der Wissenschaft.“202

An der Schnittstelle zwischen individuellen Selbstverhältnissen und der Herstellung eines gesellschaftlichen Bevölkerungskörpers muss das Wissen einer wissenschaftlichen Disziplin auf seine Funktionsweisen und diskursiven Regulierungen hin analysiert werden. Mit diesen diskursiven Praktiken konstituiert das wissenschaftliche Wissen gesellschaftliche Wissensformen, denen eine regulierende und disziplinierende Funktion für die Ausübung moderner Machtverhältnisse zukommt. Insofern ergibt sich die Frage, welche Bedeutung Spezialdiskurse für die Konstitution gesellschaftlicher Normalität haben. Die Effekte humanwissenschaftlichen Wissens entfalten sich auch im sozialen und politischen Raum. Die diskursiven Formationen sind mehr als nur das Wissen wissenschaftlicher Disziplinen. Sie unterliegen – wie Foucault schreibt – „anderen Begriffen, anderen Normen, anderen Formationsregeln“203. Das humanwissenschaftliche Wissen wird also weder von einer autoritären Macht der Wissenschaft (etwa der Medizin) noch durch disziplinäre Normierung der Gesellschaft aufgezwungen, sondern die Begriffe und Normen werden in regelgeleitete gesellschaftliche Wissensformationen transformiert. Die Wissensordnungen werden über Normalisierungspraktiken stabilisiert. Die Macht der Normalisierung entwickelt sich historisch aus den Abweichungen, insofern werden die Begriffe in einem Feld der Abstufung vom Normalen zum Anormalen hervorgebracht.204 Der Geltungsbereich von Normalität ist im 19. Jahrhundert eng verknüpft mit den jeweiligen soziokulturellen Vorstellungen über das Andere. Es lassen sich historische Transformationsprozesse beobachten, mit denen „am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente“205 werden konnte. Dieser Durchbruch der Macht der Norm, wie ihn Foucault beschreibt, lässt sich auf einen

202 Krause, Marcus: 2007, 74. Er diskutiert die zentrale Rolle der Humanwissenschaften in Normalisierungsprozessen an den Schnittpunkten der disziplinären Normativität und der gesellschaftlichen Regulierung von Verwaltung und Staat. 203 Foucault, Michel: 2003, 61. 204 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 61. 205 Foucault, Michel: 1995, 237.

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fundamentalen epistemologischen Bruch in der Moderne beziehen.206 Ausgehend zunächst von der Aufstellung pädagogischer, militärischer, industrieller und gesundheitlicher Normen entwickelte sich das Normale zu einem allgemeinen Erklärungsprinzip gesellschaftlicher Ordnungen. Foucault spricht von einem „allgemeinen Prozess sozialer, politischer und technischer Normalisierung“207, der sich im 18. Jahrhundert entfaltete. An die Stelle früherer Standeszugehörigkeiten und Privilegien tritt nun ein System von Normalisierungsgraden. Die Macht der Norm führe, so Foucault, zu neuen Grenzziehungen, mit denen die Zugehörigkeit der Individuen zu einem Bevölkerungskörper mittels eines operativen Normalitätsdispositivs angezeigt wird, das sie zugleich „im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert“208. Das System der Differenzierung und Regulierung, das die Individuen quantifiziert und anhand von Werten hierarchisiert, werde, wie Foucault weiter schreibt, schließlich von einer äußeren Grenze zu allen anderen Unterschieden umschlossen: Diese äußere Grenze steckt den Geltungsbereich des Normalen in all seinen Abstufungen ab und ist an die Produktivität von Machttechnologien gebunden.209 Diskurse über das Normale sind eng verknüpft mit dem, was in den sozialen und kulturellen Zusammenhängen als allge-

206 Vgl. Foucault, Michel: 1995, 237. Die Auseinandersetzung mit diesem fundamentalen epistemologischen Bruch, der sich dann in der Konstitution der Humanwissenschaften niederschlägt, durchzieht – so die These der Verfasserin – das gesamte Werk von Foucault. Explizit entfaltet er diese Thematik in Überwachen und Strafen und in Sexualität und Wahrheit (vgl. Foucault, Michel: 1995, 1997a). In seiner Untersuchung über den Normalismus beschreibt Link diesen Bruch als einen Wechsel von einem taxonomischen zu einem historizistischen Denkmodell: Während das taxonomische Denkmodell vor allem auf einer methodologischen Charakterologie basiert, werden im historizistischen Denkmodell die Phänomene auf einer temporalen Verlaufskurve angeordnet, wie sie im Evolutionskontinuum zum Tragen kommt. Man könnte zwar davon ausgehen, dass das taxonomische Modell (das auch dem linnéschen System zugrunde liegt) im Laufe des 19. Jahrhunderts – vor allem durch die darwinistischen Ansätze – von einem historizistischen abgelöst wurde. Link zeigt jedoch, dass beide Denkmodelle bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam sind (vgl. Link, Jürgen: 2006, 186). 207 Foucault, Michel 2003, 71. 208 Foucault, Michel 1995, 236. 209 Vgl. Foucault, Michel: 1995, 236.

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meine Matrix von Norm und Abweichung intelligibel gemacht wurde. Damit ist Normalität kein neutraler Ort. Das Normale hat im Hinblick auf die Regelmäßigkeit und Konformität die Elemente innerhalb dieses Feldes so stabilisiert, dass die äußeren Prozesse, die zur Konstitution des Normalen beitragen, naturalisiert werden. Die jeweiligen diskursiven Praktiken können einerseits den Geltungsbereich der jeweiligen Normalitätszonen festlegen, andererseits aber auch deren Grenzen verschieben.210 Link spricht von zwei Taktiken der Normalisierung: Der flexible Normalismus verschiebt und transformiert die Geltungsbereiche des Normalen permanent, während der protonormalistische Diskurs die Grenzen des Normalen fixiert.211 Die protonormalistischen Diskurse zielten zunächst auf solche Gegenstände (zum Beispiel in der Biologie oder der Medizin), die relativ dauerhaft stabil und statistisch abzusichern waren.212 Die Fixierung und Komprimierung von Normalitätsgrenzen, die sich bei den protonormalistischen Strategien in der Bildung von Normalfeldern widerspiegelt, gewann historisch insbesondere durch „die symbolische Anlehnung an Industrienormen“213 an Plausibilität. Zugleich führten diese historischen Strategien der Normalisierung auch zur Entstehung neuer Selbstverhältnisse. Wie Link ausführt, ergibt sich aus dem Konzept der protonormalistischen Normalisierung die Notwendigkeit, die Individuen „in einem ‚autoritären‘ Sinne von außen und oben zu ‚normalisieren‘“214. In diesem Sinne führe die protonormalistische

210 Die beiden Taktiken der Normalisierung sind, wie Link betont, idealtypische Konstruktionen, die als heuristisches Instrumentarium dienen. Beide Strategien funktionieren nicht in gegensätzlichen Systemen, sondern operieren in historischen Feldern des Normalismus als spezial- und interdiskursive Komplexe (vgl. Link, Jürgen: 2006, 55 f.; an dieser Stelle hat Link Beispiele des Protonormalismus und des Flexibilitätsnormalismus in einer Tabelle systematisch aufgelistet und die Bildung von Normalfeldern, den Status der Normalitätsgrenzen und die Strukturen den unterschiedlichen normalistischen Strategien zugeordnet). 211 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 51 ff. 212 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 53. 213 Link, Jürgen: 2006, 54. 214 Link, Jürgen: 2006, 54. Wie Link im Anschluss an Foucault ausführt, funktioniere diese Normalisierung der Individuen auch im Sinne der Dressur. Foucault gehe es mit seinen Ausführungen, so Link, um eine „protonormalistische Dressur“, daher konzentriere sich seine Analyse auf die fixen und

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Normalisierung zu einer „Fassaden-Normalität“, mit der dem Subjekt ein Doppelleben aufgebürdet werde: „Der Öffentlichkeit gegenüber geben sich viele Subjekte symbolisch als ‚normal‘, während sie heimlich ‚anormalen‘ Praktiken […] frönen.“215 Als Verfahren der Selbstnormalisierung ist die protonormalistische Strategie immer an Taktiken des Geständnisses und des „Coming-outs“ gebunden. Diese Außenlenkung der Subjekte wird mit dem flexiblen Normalismus aufgekündigt, denn dieser verspricht nun den „Subjekten gleichzeitig das Glück eines ‚authentischen‘ Lebens, mit dem sie sich ‚offen bekennen‘ können“216. In dieser Bestimmung erhält die flexibilitätsnormalistische Taktik des Normalismus als defensive Strategie eine besondere Rolle für die Herausbildung moderner Subjektverhältnisse. Zwar gehe die flexibel normalistische Strategie historisch aus dem Protonormalismus hervor, aber dieser verbleibe als offensive Strategie den Spezialdiskursen der Medizin oder Biologie vorbehalten und spiele für die Herausbildung moderner Subjektverhältnisse nur eine untergeordnete Rolle.217 Trotzdem gibt es historische Entwicklungen, die auf ein besonderes Verhältnis von Spezialdiskursen und Interdiskursen im Feld der Normalisierung verweisen und von beiden Strategien des Normalismus bestimmt werden. Normalität wird hergestellt und ist sowohl an spezifisch disziplinäre als auch an interdisziplinäre Normierungen gebunden. Die historischen Bedeutungen des Normalen sind damit an das Auftreten spezifischer Diskurse wie der Medizin, Psychiatrie oder des Rechts geknüpft. Es sind Verfahren der Ausweitung von Dispositiven, die seit dem 19. Jahrhundert die soziale Normierung bestimmen und damit zu einer dominanten Struktur kultureller und sozialer Ordnungsprinzipien werden.

stabilen Taktiken der Normalisierung, denen immer flexibel ausgerichtete Normalisierungstaktiken zugrunde liegen (vgl. Link, Jürgen: 2006, 124 f.). 215 Link, Jürgen: 2006, 55. 216 Link, Jürgen: 2006, 55. 217 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 57 f. Link betont, dass das Problem der Selbstnormalisierung „möglicherweise den wichtigsten Punkt der Auseinandersetzung zwischen protonormalistischen und flexibel-normalistischen Strategien darstellt“ (ebd., 53). Somit werden zwar beide Strategien des Normalismus für die individuellen Selbstverhältnisse unterschiedlich gewichtet, aber eine Auseinandersetzung damit als einer der wichtigsten Punkte in der Analyse von Normalisierungsprozessen angesehen.

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Die konstruierte Stabilität des Normalen tritt dann zutage, wenn Normalitäten als kulturelle Techniken verstanden werden. Normalisierungspraktiken sind Vergesellschaftungspraktiken, mit denen die Heterogenität und Dynamik sozialer Wirklichkeiten „ontologisiert“ und stabile Ordnungsmuster für soziale Ordnung hergestellt werden.218 Normalität als diskursives Ereignis zu analysieren heißt, die im Feld der Normalität entgegengesetzten Bereiche zu untersuchen und die Mechanismen zu bestimmen, die die Grenzen zwischen dem Normalen und Anormalen konstituieren und in den jeweiligen historischen Diskursen als spezifisch kulturelle Praktiken verortet werden. Wie Link schreibt, ist die Bestimmung der Anormalität und der Normalitätsgrenze von fundamentaler Bedeutung für die modernen Selbstverhältnisse.219 In diesem Sinne lässt sich unter dem Anormalen nicht das dem Normalen sekundäre Phänomen verstehen. Eine Untersuchung des Normalen muss daher zugleich die Zonen der Abweichung und der Anormalität in ihrer Orientierungsfunktion für moderne Selbstverhältnisse analysieren. Nur weil die Bestimmung des Normalen zu einer regulativen kulturellen und institutionellen Praxis wurde, konnten zugleich auch die von der Norm verworfenen Bereiche des Anormalen entstehen. Das Abweichende wird erst im Zusammenspiel mit Normen hervorgebracht und ist nicht auf ein Wesen zurückzuführen. Zugleich waren die Strategien des Normalismus besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts – wie Link schreibt – noch von der Suche nach dem „natürlich“ Normalen bestimmt, für die paradigmatisch die humanbiologischen und medizinischen Diskurse stehen: „Was ‚normal‘ ist, sucht daher auch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter vor allem dem Bios abzulesen.“220 In die Normalisierungsstrategien werden

218 Bublitz, Hannelore: 2003, 153. 219 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 34. Link macht in seiner Bestimmung auf die etymologische Vermischung zwischen der Anormalität und der Anomalie aufmerksam. Obwohl die Anomalie zu einem anderen Wortstamm gehört (i. S. von „Unebenheit“), wird diese Trennung nicht konsequent durchgehalten. Meistens wird Anormalität mit Anomalie synonym benutzt. Link macht zwar auf diese Trennung aufmerksam, aber folgt der synonymen Verwendung beider Terme (ebd., 34, Fn. 9). Weitere Ausführungen zur Etymologie beider Begriffe hat Henning Ritter im Eintrag „Normal/Normalität“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie zusammengetragen (vgl. Ritter, Henning: 1984). 220 Link, Jürgen: 2006, 231.

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nun zunehmend Vorstellungen von Entartung oder Abweichung aufgenommen, die dann dem Normaltypus gegenübergestellt werden. Wie Link in diesem Zusammenhang erörtert, habe das Denken in zeitlichen Kurven die Dichotomie von Normalität und Anormalität aufgelöst, sodass auch die Idee irreversibler Regressionskurven für Selbstverhältnisse an Bedeutung gewann. Damit lösten sich die substanziellen Bestimmungen der Abweichungen, die noch in den protonormalistischen Strategien dominant waren, allmählich auf und die flexiblen Normalisierungsstrategien fokussierten auf die Bestimmung des Zeitpunktes der ersten Abweichung, von dem aus stets das Schlimmere hergeleitet wurde. Dennoch verschwand die substanzielle Bestimmung der Anormalität nicht völlig aus den Normalisierungsstrategien. In einem Wechselspiel von zeitlicher Regression und substanziell biologisch codierter Normalität wurden die Abgrenzungen homogener Normalitätsfelder von der Anormalität stetig unterlaufen oder verschoben. In diesem Prozess der stetigen Übertretung und der gleichzeitigen Fixierung von Grenzen wurde auch das Monströse in seiner Bedrohung entschärft, gewissermaßen normalisiert. Zugleich entwickelte sich innerhalb des Prozesses der Naturalisierung des Monströsen eine zeitliche Vorstellung von Regression und Ursprung. Der wissenschaftliche Zugriff auf die Zone der Anormalität ist somit von zwei Aspekten bestimmt: von einem natürlichen, biologischen Substanzialismus und einer Vorstellung der zeitlichen Regression der substanziellen Entleerung. In diesem Spannungsfeld wird die Anormalität konstitutiv für die Bestätigung kultureller Normalität, der „allerdings symbolisch pränormalistische Fremdkörper-Vorstellungen“221 gegenübergestellt werden. Als Wissensobjekte wurden die Monstrositäten einerseits substanzialisiert, indem in den Humanwissenschaften auf biologische Vorstellungen von Natur zurückgegriffen wurde, andererseits hat die zeitliche Komponente im evolutionistischen Denken der Regression die protonormalistische Strategie des Normalen abgelöst und das Monströse entmaterialisiert. Im Anschluss an Foucault bezeichnet Link diesen Prozess, der immer auf eine Fixierung der Grenzen zwischen Normalität und Anormalität angewiesen sei, die normalistischen Praktiken stets erweitere und auf andere Felder übertrage und somit für eine Ausweitung der Normalitätsdispositive sorge, als fundamentales Paradox der Normalisierungsgesellschaft.222

221 Link, Jürgen: 2006, 232. 222 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 123.

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Wie Link betont, haben die flexibel normalistischen Strategien, die vor allem die humanwissenschaftlichen Praktiken gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestimmten und von einem Denken verzweigter Regressionskurven getragen wurden, streng genommen den Normalismus verlassen, der bis dahin von einem dualistischen Konzept der starren Fixierung der Anormalität geprägt war. Auch wenn Link diese Argumentation letztlich nicht weiter für eine Analyse der Normalisierungsstrategien und wissenschaftlichen Praktiken verfolgt, die auf die Anormalität zielen, betont er, dass von nun an die Anormalität an die „Denormalisierungsangst vor einem unmerklichen Hinübergleiten in die Anormalität“223 gekoppelt werde. Dort, wo die Anormalität an die Normalität gebunden war, kam es zu einer Kopplung von Denormalisierungsangst und Anormalität, mit der zumindest auf der symbolischen Ebene der fremde Körper und das Andere in ein feindlich bestimmtes Verhältnis zum Eigenen gesetzt wurden. Es wäre also zu fragen, inwieweit diese Konvergenzen und Synthesen auch auf die Monstrosität zutreffen, die nicht in die Ursprungserklärungen und in ein Denken von Regressionskurven eingeschrieben werden kann. Damit ist ein zentrales Problem für die Stellung der Monstrositäten in ihrem Verhältnis zum Normalen herausgestellt: Inwieweit lassen sich hier Zuschreibungen phantasmatischer und ethischer Vorstellungen über das Fremde festmachen ? Welche Unterschiede lassen sich herausarbeiten, wenn es um die Bedeutung von Monstrositäten geht, die zwar den Raum für jene Zuschreibungen bieten, zugleich aber in einem anderen Verhältnis zur Normalisierung stehen als die Anormalität, da sie sich der vollständigen Deckung mit dem Normalen teilweise entziehen und Störungen des analytischen Verhältnisses zum Normalen darstellen? Welche Kopplungen von Anormalität bzw. Monstrosität mit der Denormalisierungsangst lassen sich historisch aufzeigen ? Gerade in einer Zeit, in der die Wissenschaften begonnen hatten, die Frage nach dem Leben zu stellen, wurden die Anormalität und die Monstrosität als ein epistemologisch verfasstes Objekt codiert. Die Rationalisierung und wissenschaftliche Vereinnahmung des Anderen basiert keineswegs auf einem objektiven Blick auf das scheinbar positiv Abweichende. Das Abweichende stellt sich in seiner Existenz bereits als das Deviante dar, es scheint die Denormalisierungsangst in der Moderne zu mehren. Wie Link schreibt, nährt sich die Angst, nicht normal zu sein, „zum einen von dem fieberhaften ‚Vergleichen‘ des Individuums

223 Link, Jürgen: 2006, 232.

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mit den anderen Individuen im homogenen Normalfeld“224 und zum anderen von der Angst, dass die Anormalität entdeckt werden oder auffallen könnte. Das heißt, die Differenz von Normalität und Anormalität hat sich in der Moderne als entscheidendes Orientierungsraster des Individuums durchgesetzt. Die Identifikationsmuster moderner Selbstverhältnisse sind von Normalisierungsstrategien bestimmt. Normalisierung wird zu einem „narrativen Arrangement“ diskursiver Konstellationen im Spannungsfeld individueller Ängste und gesellschaftlicher Bedrohung.225 Welche Funktion erhält in diesem Kontext die Monstrosität ? Zunächst lässt sich festhalten, dass in einer auf Normalisierungsprozesse fokussierten Perspektive die Bedeutung von Monstrositäten im kulturellen Raum an Selbstverhältnisse gebunden ist. An der Schnittstelle zwischen den regulativen Techniken des Körpers und den modernen Selbstverhältnissen nehmen die humanwissenschaftlichen Praktiken für die kulturellen und sozialen Diskurse eine zentrale Stellung ein. Das Andere wird in einer biologischen Version entworfen und erzeugt, um als selbstständige Existenz zu erscheinen.226

224 Link, Jürgen: 2006, 247. 225 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 250. 226 Vgl. Foucault, Michel: 2005, 160. Bei Foucault heißt es, dass es beim Wahnsinn darum geht, „ihn in seiner selbstständigen Existenz zu bezeichnen“. Eine Analyse des Wahnsinns, wie Foucault sie vorgelegt hat, lässt sich natürlich nicht einfach auf das Monströse übertragen. Aber die Zäsuren, durch die der Wahnsinn von der Vernunft und das Monster von dem Normalen getrennt wurden, sind an historische Ereignisse gebunden; aus ihnen gehen Prozesse der Naturalisierung und Verwissenschaftlichung hervor. Man könnte dann für den von Foucault in den Blick genommenen Begriff des Wahnsinns systematisch den Begriff des Monströsen einsetzen. Ein solches Vorgehen basiert auf der strukturellen Unterscheidung, die Foucault für den Wahnsinn methodisch benutzt, wenn er beschreibt, dass die Thematisierung des Wahnsinns nur vor dem Hintergrund möglich ist, dass man sich bewusst ist, nicht wahnsinnig zu sein (vgl. ebd., 161). Um diese Differenz soll es im Folgenden gehen, wenn nach der Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Anormalen gefragt wird. Es handelt sich dabei nicht um eine objektive Differenz, die auf der neutralen Zuordnung physiologischer Unterschiede beruht, sondern die Konstitution dieser Begriffe und ihrer Differenz ist immer an bestimmte Formen des Wissens und der Macht gekoppelt. Auch Canguilhem verweist auf strukturelle Ähnlichkeiten dieser

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Um die Problematik des Verhältnisses zwischen Normalität und Anormalität im Hinblick auf die Bedeutung von Monstrositäten zu beleuchten, ist es zunächst von Interesse, auf die historischen Wechselbeziehungen von Spezialdiskursen und gesellschaftlichen Vorstellungen des Anderen einzugehen. Der wissenschaftliche Spezialdiskurs, der auf die Monstrositäten zielt, ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Teratologie. Link spricht in diesem Zusammenhang von einem Spezialdiskurs der Medizin. Anhand des Normalismuskonzepts von Comte zeigt Link, dass das Denken über das Soziale auf der Übertragung physiologischer Konzepte beruhte: „Nach der gleichen Analogie mit der Physiologie ist auch die soziale Normalität gedacht: sie besteht aus einzelnen sektoriellen homöostatischen Normalitäten (etwa Wirtschaft, Politik, Religion) sowie aus der organisch-funktionalen Normalität des Ganzen.“227

Dieses Modell der homöostatischen Normalität wurde historisch mit einem Analogieschluss von physiologischen Konzepten der Identität und Kontinuität des Pathologischen und Normalen auf andere Bereiche des Sozialen verschoben. Insofern lässt sich zwischen dem organismischen und dem sozialen Denken eine Verbindung beobachten, die die Frage aufwirft, inwieweit die wissenschaftlichen Diskurse der Teratologie mit den Vorstellungen gesellschaftlicher Normalität verbunden sind. Link schreibt: „Die ‚monstruösen Abweichungen‘ […] bzw. ‚Störungen‘ […] oder ‚Alterationen‘ […] sind dabei ausdrücklich nicht als kontinuierliche mit dem ‚Normaltyp‘ verstanden, sondern als eigener ‚Typ‘ im Sinne einer eigenen, eben ‚monstruösen‘ Para-Gattung. Ein ‚Monstrum‘ ist nach Geoffrey Saint-Hilaire also ein Wesen, in dem zwei diskontinuierliche, völlig wesens- und substanzfremde ‚Ordnungen‘ […] neben- und gegeneinander koexistieren.“228

Bemerkenswert ist vor allem, welche Bedeutung Link der Frage nach der Monstrosität innerhalb wissenschaftlicher Diskurse beimisst. Bei

Begriffe: „Im 19. Jahrhundert ist der Wahnsinnige im Irrenhaus, wo er die Vernunft lehrt, und das Monster im Glasbehälter des Embryologen, wo es die Norm lehrt.“ (Canguilhem, Georges: 2009, 322) 227 Link, Jürgen: 2006, 208. 228 Link, Jürgen: 2006, 182.

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Saint-Hilaire wird die Monstrosität noch als eine diskontinuierliche Gattung gedacht und noch nicht mit dem Normalismus zusammengebracht. Auch wenn die Monstrosität in ein und demselben Lebewesen vorkomme, so Link, werden diese beiden Bereiche bei Saint-Hilaire noch von einer Mauer der Diskontinuität getrennt.229 Es handle sich hierbei noch um einen pränormalistischen Diskurs.230 Erst mit dem ‚Broussais’schen Prinzip‘ beginne der Normalismus zu greifen und nehme sich solcher Gegenstände an, die auch als Kontinuum gedacht und mit denen homogene Vergleichsfelder zur Verdatung und statistischen Erfassung geschaffen werden konnten. In einem Normalfeld könne nur dann die Grenze festgelegt werden, wenn die einzelnen Erscheinungen „als untereinander vergleichbare ‚Normaleinheiten‘ konstituiert werden“231. Mit dieser Auffassung ist offensichtlich, dass es eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Diskursen und anthropologischer Normalität gibt. Die Monstrosität aber fällt aus diesem Vergleichsfeld der Normaleinheiten heraus, da sie nicht als kontinuierliche Abweichung vom Normalen gedacht wird. Die monströse Abweichung muss in eine Kontinuität zum „Normaltyp“ gebracht werden und ist dann nur noch als Abweichung oder Anomalie im Vergleichsfeld zu denken. Link beobachtet, dass die Monstrosität nicht in den wissenschaftlichen Paradigmen der Kontinuität enthalten ist, und kommt angesichts dessen zu dem Schluss, dass sie für die Transformation und Verschiebung von Spezialdiskursen in die gesellschaftliche Normalität uninteressant sei. Insofern spielen dann Monstrositäten für den gesellschaftlichen Normalisierungsprozess bei Link keine Rolle, weil sie nicht als Modellbeispiele für normalistische Konstellationen geeignet seien.232 Diese Argumentation greift Hagner wieder auf und zeigt, dass Link die zentrale Rolle von Monstrositäten im Normalisierungsprozess übersieht. Im Hinblick auf die konstitutive Rolle des Einzigartigen für allgemeine Aussagen diskutiert Hagner die epistemologische Funktion von Monstrositäten für wissenschaftliche Aussagen in ihrem „Verhältnis zwischen einem Teil und einem Ganzen“. Da sich wissenschaftliche Aussagen über „die Gesamt-Normalität eines Organismus“ stets nur bestimmter, für die Gesamtheit der Normalität des Biologischen paradigmatischer Parameter bedienen würden, ergibt sich für Hagner die Frage, inwieweit sich am Be-

229 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 182. 230 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 180. 231 Link, Jürgen: 2006, 51. 232 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 183.

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griff der Monstrosität die Zuverlässigkeit und Stabilität von wissenschaftlichen Aussagen erzeugen lässt.233 Hagner betont, dass Monstrositäten eine Modellfunktion für das organismische und evolutionistische Denken des 19. Jahrhunderts zukomme. Zwar habe Link durchaus Recht, dass seit dieser Zeit Normalität und Abweichung in ein analytisches Verhältnis der Kontinuität gesetzt wurden, jedoch bedeute dies im Umkehrschluss nicht, dass Monstrositäten keine Funktion für Normalismusdiskurse zukäme.234 Hagner verdeutlicht in seiner Argumentation gerade die Rolle der Monstrositäten für gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen: „In wissenschaftlicher Hinsicht noch einflussreicher waren die zahlreichen Bestrebungen, die monströse Regression durch unzählige anthropometrische Untersuchungen quantitativ zu bestimmen und so robuste Parameter für die Kennzeichnung der Abweichung von der Norm zu erhalten. Durch solche Praktiken landeten die Monstrositäten unversehens im Kerngebiet des Normalismus.“235

Im wissenschaftlichen Denken der Kontinuität sind Monstrositäten Anomalien. Als Anomalie ist die Monstrosität dann für die wissenschaftlichen Diskurse entscheidend. Aber wie ist das Verhältnis von Modell und Anomalie zu verstehen, wenn es zum einen um eine quantitative Bestimmung und zum anderen um eine Feststellung robuster Parameter für die qualitative Differenz geht ? Anomalien sind an Verfahren der quantitativen Bestimmung gebunden. Um die Differenz zur Norm zu kennzeichnen, benötigt man qualitative Verfahren zur Feststellung von Differenzen. Demnach werden hier Zäsuren und Unterscheidungskriterien benötigt. Diese Kriterien erhält man jedoch nicht von der Monstrosität. Es muss Prozesse geben, mit dem die Anomalie in ein bestimmtes Verhältnis zur Monstrosität gesetzt wird. Dieses Verhältnis ist sowohl von der Differenz zur als auch von der Identität mit der Norm und somit von einer Ambivalenz gekennzeichnet. Auch wenn Hagner die zentrale Bedeutung von Monstrositäten für den Normalismus betont und aufzeigt, wie hier anthropologische Vorstellungen von Regression und Devianz zu einer Inszenierung der „Monstrositäten als Atavismen“236 führten, so liegt in seiner Argumentation

233 Hagner, Michael: 2007, 181. 234 Vgl. Hagner, Michael: 2007, 183. 235 Hagner, Michael: 2007, 195. 236 Hagner, Michael: 2007, 184.

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ein Widerspruch. Denn zum einen betont Hagner die Modellfunktion von Monstrositäten und zum anderen spricht er von der Produktivität wissenschaftlicher Diskurse für die Stabilisierung und Festlegung anthropologischer Differenzen. Hagner unterstreicht zwar die Rolle von Monstrositäten für den anthropologischen Diskurs der quantitativen Bestimmung, doch die Frage, wie die Quantifizierungen zu qualitativen Ausschlüssen geführt haben, bleibt unbeantwortet. Da die robusten Parameter nicht dadurch erstellt wurden, dass man sich radikaler Abweichungen bediente, muss die Frage gestellt werden, welche diskursiven Mechanismen zum Einsatz kamen, um aus den Anomalien die robusten Parameter erzeugen zu können. Zu Recht weist Hagner darauf hin, dass Link die Rolle der Monstrositäten im Denken der Kontinuität des Normalen und Pathologischen übersieht.237 Hagner scheint mit der Modellhaftigkeit von Monstrositäten auf eine qualitative Bestimmung abzuzielen, mit der sich aber die Frage nach den Prozessen der Transformation von der wissenschaftlichen Anomalie zur gesellschaftlichen Monstrosität nicht beantworten lässt. Die robusten Parameter für atavistische Monstrositäten erforderten eine starre Fixierung von Grenzen und die Feststellung von Differenzen, die nicht immer wissenschaftlich zu legitimieren waren. Für diese Parameter haben sich Anthropologen jedoch nicht an radikalen Abweichungen oder schweren Fehlbildungen abgearbeitet, sondern all jene kleinen Anomalien untersucht, die dann im Diskurs des Anderen als Monstrosität hergestellt wurden. Insofern verwechselt Hagner hier Modellhaftigkeit und diskursive Produktivität. Es könne, schreibt er, gesagt werden, dass „Monstrositäten im Gehäuse der Kultur beheimatet“ sind, aber es sei falsch, „sie darauf zu reduzieren“238. Diese diskursive Produktivität von Differenz und Identität gilt bei Hagner für Monstrositäten eben nicht vollständig. Während also Link die Rolle von Monstrositäten im Normalismusdiskurs nicht beachtet, betont Hagner gerade ihre zentrale Stellung. Beiden Argumentationen liegt ein nahezu biologisch-ontologisches Konzept des Monströsen zugrunde, denn die Radikalität der Abweichung des Monströsen wird entweder – wie bei Link – als nicht konstitutiv für den Normalisierungsprozess betrachtet oder es werden – wie bei Hagner – die Prozesse der diskursiven Erzeugung von Monstrositäten vernachlässigt. Monstrositäten sind keine biologischen Gegenstände, die in

237 Vgl. Hagner, Michael: 2007, 183. 238 Hagner, Michael: 2007, 182.

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wissenschaftlichen Aussagen über Abweichungen einfach mit affektiven Parametern beladen werden. Nicht als organische Modelle der Regression, sondern als intelligible Erklärungsprinzipien von Abweichungen spielen Monstrositäten im Normalismusdiskurs eine zentrale Rolle. Wenn Hagner hier die Rolle der Freakshows des 19. Jahrhunderts aufgreift, in denen die Manager ein „öffentliches Interesse für die Wissenschaft, insbesondere für die Ursprünge des Menschen“239, hergestellt haben, dann scheint es, als hätten monströse Regressionen den gleichen Ort wie die wissenschaftlichen Diskurse. In den Freakshows sind Menschen tatsächlich als regressive Modelle des Monströsen für menschenverachtende Argumentationen zu kulturellen oder biologischen Fehlentwicklungen ausgestellt wurden, aber diese Shows gehören nicht vollends zu einem kulturellen Diskurs der Normalität – und schon gar nicht begründen sich in ihnen moderne Technologien der Machtausübung. Es gibt durchaus die offensichtlichen Fehlbildungen, aber als Monstrositäten sind diese nicht von zentraler Bedeutung für die Normalisierungspraktiken. Vielmehr gibt es eine „Zweideutigkeit des Anormalen“, wie Bublitz im Anschluss an Foucault schreibt: Das Monströse stelle eine Ausnahme dar und werde zugleich zu einem Prinzip, „mit dem alle anderen Abweichungen erklärt werden“240. Es gibt durch die Abweichungen durchaus eine Anreizung zur Produktion von Wissen, aber um als Modelle für gesellschaftliche Normalitätsbehauptungen herangezogen zu werden, bedarf es diskursiver Übertragungen und spezifisch historischer Diskurse, mit denen die wissenschaftlichen Normierungen in eine gesellschaftliche Normalität transformiert werden. Monstrositäten wurden zu Anomalien und gleichzeitig wurden mit dem Verlust von Substanz in einem Diskurs der Regression und Minderwertigkeit Monstrositäten wieder zu einer substanziellen Natur des Anderen aufgeladen. Während also der Rückgriff auf biologisch codierte Vorstellungen des Normalen die Singularität des Monsters im humanwissenschaftlichen Denken aufgelöst hat, erhielt die Monstrosität eine konstitutive Funktion für die Bestätigung der Hegemonie der kulturellen Normalität.

239 Hagner, Michael: 2007, 195. 240 Bublitz, Hannelore: 2003, 155, Fn. 21.

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3.6.2 Vom taxonomischen Klassifikationssystem zum historizistischen Denkmodell „Man muß sich jetzt endgültig klar machen, dass das Potential der Gattung per se monströs ist. Eigentlich ist Anthropologie nur noch als Teildisziplin einer allgemeinen Monstrologie möglich.“ 241

Bevor Monstrositäten zum Gegenstand der medizinischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert wurden, waren sie zunächst ein Problem der Rechtslehre und Politik gewesen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tauchte das Monster „als juristische Kategorie und als politisches Phantasma“242 auf. Das Ziel der Erforschung der menschlichen Fehlbildungen und damit die „spezielle Aufgabe der forensischen Medizin war es, den Gerichten in juristischen und theologischen Fragen über den Status einer Missgeburt als Rechtssubjekt oder beseelter Mensch Klarheit zu verschaffen“243. Der medizinische Streit entflammte an der Frage, ab wann von einer ‚Missgeburt‘ die Rede sein kann und welchen Status menschliches Leben hat. Die vielfältigen Begriffe und die Heterogenität ihrer Verwendung zeigten zudem, wie Ärzte im 18. Jahrhundert noch bezüglich der rechtlichen und religiösen Fragen „keine allgemein verbindlichen Antworten riskierten“244. Es konnte kein einheitliches Klassifikationsschema entwickelt werden, „da sich die vielfältigen Phänomene bislang jeglicher Klassifizierung widersetzten“245. Wie Dederich schreibt, ist die Herausbildung der Teratologie im 18. Jahrhundert auf eine der wichtigsten Methoden wissenschaftlicher Forschung zurückzuführen: die „Klassifizierung und Systematisierung der Natur“246. Die Frage, wie wissenschaftliche Systeme aufzustellen seien,

241 Sloterdijk, Peter/Macho, Thomas: 2003, 396; Hervorh. im Orig. 242 Foucault, Michel: 2003, 145. 243 Lorenz, Maren: 1998, 92. Lorenz führt exemplarisch einen 1791 verfassten Text an, in dem der Verfasser bedauert, dass Missbildungen noch nicht nach „anatomischen, physiologischen und anthropologischen Prinzipien“ bestimmt werden (vgl. ebd., 91 f. und 91, Fn. 2). 244 Lorenz, Maren: 1998, 94. 245 Lorenz, Maren: 1998, 94. 246 Dederich, Markus: 2007, 93.

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war jedoch spätestens seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr mit der Neuordnung taxonomischer Ordnungsprinzipien zu beantworten. Seit dieser Zeit musste das wissenschaftliche Denken dem wachsenden Erfahrungsdruck, der Beschleunigung der Alltagswelt und der Erschließung neuer Räume gerecht werden. Im 18. Jahrhundert ging es noch darum, den geordneten Kosmos abzubilden, denn „die Natur konnte ins Tableau überführt werden, weil sie selbst als Tableau wahrgenommen werden konnte.“247 Die Intensivierung von Erfahrungsdruck und Empirisierungszwang, wie Lepenies den Übergang der Wissenschaften zur Moderne charakterisiert, führte dazu, dass im 19. Jahrhundert neue Methoden und Hilfsmittel entwickelt werden mussten, „mit denen man den Fortschritt des Wissens bewältigen kann“248. Dabei ging es weniger um das Klassifizieren oder um das Aufstellen von Ordnungen. Vielmehr führte der rasante Wissenszuwachs zu einer sich verschärfenden Kritik an den alten Ordnungen wissenschaftlichen Arbeitens und erforderte zugleich eine Dynamisierung des Denkens. Wie Lepenies angemerkt hat, häuften sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Klagen darüber, „daß die Komplexität der vielfältigen Krankheitsformen, ihre ‚verwirrenden Akzidentien‘ kaum noch in eine sinnvolle und überschaubare Ordnung gebracht werden“249 konnte. Die nosologischen Systeme wurden aufgekündigt; an ihre Stelle traten Verzeitlichung, Fluss und Dynamik: Die „neue Geschichte ist nicht mehr Tableau, sondern fortlaufende Erzählung“250. Die Krankheit und das Leben wurden nun in einem neuen Raum-Zeit-Gefüge gedacht und sprachlich materialisiert. Nicht mehr der Moment der Krankheit wurde in den Erkenntnisgewinn eingefügt, sondern es ging darum, „auf der Ebene der Worte eine Geschichte zu rekonstruieren, die das ganze Sein der Krankheit abdeckt“251. Für das medizinische Wissen galt es nun, der Erfahrung des wissenschaftlichen Gegenstandes Rechnung zu tragen. Für das 19. Jahrhundert

247 Schmidt, Gunnar: 2001, 8 248 Lepenies, Wolf: 1978, 24. 249 Lepenies, Wolf: 1978, 80. 250 Lepenies, Wolf: 1978, 26. Lepenies formuliert seine These der Verzeitlichung auch im Anschluss an Foucault, der in der Archäologie des Wissens die Herausbildung der Vorstellung einer chronologischen Dimension der Krankheit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts beschrieben hat (vgl. ebd., 80). 251 Foucault, Michel: 1996, 109.

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konnte man feststellen, „daß eine Erfahrung der Vergänglichkeit des wissenschaftlichen Gegenstandes vorliegt“252. Der wissenschaftliche Ansatz zielte, wie Schmidt beschreibt, darauf, einen Zugang zum Geschehen zu gewinnen: „Die Epoche der Industrialisierung und Maschinisierung wird vom 18. Jahrhundert weder die Haltung zum Objekt noch die Naivität gegenüber der Darstellung einfach übernehmen. Denn nicht nur die kulturelle Welt hat Fahrt aufgenommen, auch die natürliche Welt wird als auf Bewegung gegründet wahrgenommen.“253

Diese enge Verbindung zwischen den zeitlichen Vorstellungen von der Natur und dem wissenschaftlichen Denken führte auch im medizinischen Wissen zu einer Verknüpfung mit historischen Vorstellungen. Der Wechsel von einem taxonomischen zu einem historizistischen Denkmodell254, wie es Foucault für die Humanwissenschaften beschreibt, zeigt, wie eng die Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände mit den sozialen Vorstellungen verbunden ist. Auch die Herausbildung der Teratologie als Lehre von den Missbildungen „vollzieht sich im Zusammenhang einer allgemeinen Differenzierung wissenschaftlichen Wissens“255. Somit ist auch das Monströse eng verbunden mit den spezifischen, historischen Ordnungen des Wissens, denn die „Figur des Monsters ist nicht nur das Resultat einer Wahrnehmung und emotionalen Reaktionen, sondern auch das Produkt eines spezifischen Wissens“256.

252 Schmidt, Gunnar: 2001, 9. 253 Schmidt, Gunnar: 2001, 9. 254 Vgl. Link, Jürgen: 2006, 186. Link unternimmt in seiner Diskursgeschichte des Normalismus den Versuch, das „basale methodologische Instrument“ nachzuzeichnen, und zeigt, wie die taxonomischen Modelle in einem dynamischen System der Kurven synthetisiert wurden und Aspekte der Verzeitlichung für die wissenschaftlichen Episteme zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. 255 Zürcher, Urs: 2004, 18. 256 Dederich, Markus: 2007, 91. Dederich referiert den Zusammenhang zwischen dem Wissen und dem Erscheinen des Monsters unter Rückgriff auf die Arbeiten von Michel Foucault. Im Anschluss an Foucault komme es – wie Dederich ausführt – darauf an, die Differenzierungen zwischen dem Normalen und Monströsen in ihrer historischen Perspektive zu stärken, denn für die Disability Studies sei es von entscheidender Bedeutung zu zeigen, „dass

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Im 18. Jahrhundert wurden die Klassifikationsversuche durch Monstrositäten also immer wieder infrage gestellt; sie konnten in die bestehenden Ordnungsschemata nicht einfach eingefügt werden. Im 19. Jahrhundert wurde der wissenschaftliche Imperativ der Klassifikationen allmählich von einem Interesse an der Geschichte und an Ursachenerklärungen abgelöst. Wie Lepenies schreibt, habe Diderot in seiner Enzyklopädie noch beklagt, „daß man die Ordnung eines Naturalienkabinetts nie lange aufrechterhalten könne; bei jeder Vergrößerung müsse man vielmehr eine neue Ordnung schaffen“257. Die Akkumulation des Wissens seit dem 18. Jahrhundert führte dazu, dass die bekannten Phänomene, aber auch künftige Entwicklungen kaum noch anhand des wissenschaftlichen Prinzips der „räumlich orientierten Klassifikation“258 zu ordnen waren. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Prozesse und Dynamiken erforderte neue Wissenssysteme, die den Vorstellungen von Zeitlichkeit und Verlauf Rechnung trugen. Die genaue Bestimmung und der Verlauf einer Krankheit wurden nun in ein System der dynamisierten Ordnung eingereiht. Für die wissenschaftliche Erfassung des Monströsen und der Krankheit galt es nun, ein Wissen darüber zu gewinnen, „wie sie entstehen, wie sie sich entwickeln und schließlich enden“259. Die Verzeitlichung des Denkens führte aber nicht nur zu einem neuen Interesse an der Krankheitsgeschichte, sondern auch zur Etablierung anderer Systeme, mit denen Krankheiten eingeordnet werden konnten. Sowohl die Perspektive auf die individuelle Krankheit als auch die Klassifikationsordnungen berücksichtigen seit dieser Zeit den historischen Verlauf. Das heißt, die Bestimmung einer Krankheit zielt auf die Feststellung eines Anfangs und eines Endes zum Zwecke therapeutischer Maßnahmen ab und zugleich erfordert sie eine Differenz oder ein Gegenüber zum Begriff der Gesundheit. Ab wann ist von einer Krankheit und ab wann von Gesundheit zu sprechen? Diese Fragen betreffen das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit: Es sind Fragen der Medizin. Die Erkenntnisse über Krankheit, Abweichung und

die Wahrnehmung und Deutung von spezifischen körperlichen Phänomenen als ‚Behinderung‘ untrennbar von variablen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Rahmenbedingungen sind, ja dass diese Bedingungen die ‚Behinderung‘ erst hervorbringen“ (ebd., 11). 257 Lepenies, Wolf:1978, 63. 258 Lepenies, Wolf: 1978, 83. 259 Lepenies, Wolf: 1978, 87.

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Missbildung versprachen letztlich auch Einblicke und Aussagen über den Normalzustand. Monstrositäten, die in die Prozesse der Wissensproduktion und in die Ordnungen des Wissens eingebettet wurden, waren in diesem Zusammenhang eine Herausforderung für wissenschaftliche Ordnungen. Während das Normale und das Pathologische mit dem Paradigma therapeutischer Maßnahmen analytisch in ein Verhältnis gesetzt wurden, stellte sich die Monstrosität nicht nur Wissensordnungen entgegen, sondern widersetzte sich als Resultat einer falschen Entwicklung in der prozesshaft gedachten Natur den therapeutischen Maßnahmen. In den wissenschaftlichen Publikationen dieser Zeit kann beobachtet werden, wie Monstrositäten von den jeweiligen Ordnungen des Wissens hervorgebracht wurden. Zugleich ging von ihnen ein beunruhigendes und verstörendes Moment aus. Da sie mit den Prinzipien der herrschenden Wissensordnungen nicht zu erfassen waren, stellten Monstrositäten einen Wissensanreiz und einen Wissensmangel dar. Die wissenschaftlichen Feststellungen von Anomalien standen im Widerspruch zur Monstrosität. Sie ist wissenschaftlich unfassbar, verweist auf die Zonen des Unbestimmbaren und Unkontrollierbaren. Insofern werden Monstrositäten wissenschaftlich zwar als Anomalien entmaterialisiert, ihre Bedeutungen werden jedoch in einen Raum verlagert, der sowohl die „unauffälligen Auffälligkeiten“260 als auch die Extremformen der Abweichungen von Normalität in sich aufnimmt. Die zunehmende Akkumulation des Wissens seit dem 18. Jahrhundert erforderte eine Integration der Abweichungen und eine Strategie der Differenzierung. Zum einen gab es Integrationsbestrebungen, mit

260 Bublitz, Hannelore: 2003, 157. Das Problem der „Normalitätsgrenze“ erörtert Bublitz im Anschluss an Link. Sie zeigt, wie die Begriffe des Risikos, der Kontingenz und der Gefahr den sozialen Raum strukturieren. Die Herstellung einer sozialen Wirklichkeit, die immer heterogen und plural ist, erfolgt über Leitdifferenzen. Das, was im sozialen Raum als „Normalität“ angesehen wird, wird von Normalisierungsstrategien festgelegt, die einen Schnittpunkt von Gesellschaftskörper und individuellen Selbstverhältnissen bilden. Zugleich können Geltungsbereiche des Normalen niemals abschließend festgelegt werden, da die Grenzen des Normalen stetig durch Abweichungen verschoben werden, die zugleich dazu dienen, das Normale in seiner Differenz zum Anormalen zu konstituieren. Bublitz zeigt damit die Dynamiken von Normalisierungsprozessen auf.

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denen das, „was der Ordnung des Wissens zu entgleiten droht“261, in die wissenschaftlichen Systematiken aufgenommen wurde. Allerdings rückt das Monströse damit in eine gefährliche Nähe zum Normalen. In diesem Prozess haben die „Integrationstendenzen der aufgeklärten Rationalität“ das Schauerliche und Unheimliche des Monströsen gebannt.262 Zum anderen wurde die Monstrosität im 19. Jahrhundert zu einer Gefahr, sie verweist nicht nur auf eine Leerstelle in der wissenschaftlichen Systematik, sondern sie wurde nun zu einer Projektionsfläche des Anderen. Im 19. Jahrhundert haben Monstrositäten keine eigenständige Substanz, sondern sie werden in die natürlichen Entwicklungsprozesse eingebettet, mit dem Normalen vergleichbar gemacht und erhalten eine epistemologische Funktion für die Erklärung von Lebensprozessen. Diese historische Entwicklung führte zu einer Annäherung des Monströsen an das Normale. Die wissenschaftlichen Beschreibungen und die Ausarbeitung neuer Fragestellungen dienten letztlich auch der stabilen Differenzierung zum Normalen. Zürcher beschreibt diesen Prozess als eine Anreizung der wissenschaftliche Produktion von Wissen, mit der ein umfassendes System von Abweichungen erarbeitet werden sollte. „Je mehr Abweichungen entdeckt werden, desto mehr wird die Norm – die imaginäre Enklave – zum Objekt beunruhigter und beunruhigender Blicke und somit operationalisierbar, was wiederum eine Intensivierung der Abweichungsformen nach sich zieht, die eine ungeheure Menge an Abweichungswissen akkumuliert und dieses auf vielfältigste Weise in Normalisierungstechniken transformiert.“263

261 Dederich, Markus: 2007, 91. 262 Hagner, Michael: 2005b, 81. Hagner schreibt, dass sich diese „klassifikatorischen Absichten“ mit den „Integrationstendenzen der aufgeklärten Rationalität“ verbunden haben, „denn die Unterbringung in einem geschlossenen Raum bedeutete auch die Einfügung in ein Ordnungssystem, das das Unheimliche und Schauerliche des Monströsen bannen sollte“ (ebd., 81). Dieser Klassifikationsdrang entsprach zunächst der Sammlung, also dem taxonomischen Modell. Der Integration des Monströsen in das Denken des Lebens ist damit historisch noch nicht vollzogen. Die Sammlung ist nur eine erste Stufe der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Monstrositäten. Hier wurde das Monster naturalisiert und seinen mythologischen Konnotationen entledigt. Um jedoch den vielfältigen Phänomen durch Theorien „Herr zu werden“, bedurfte es noch weiterer Schritte. 263 Zürcher, Urs: 2004, 85.

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Die Abweichung wird einer Normalisierungstechnik untergeordnet und damit normalisiert. Dieser Prozess ist als eine unendliche Zirkulation von Begriffen des Normalen und der Abweichung zu beschreiben. Als inhärente Größe und als konstitutiver Bestandteil des Lebens mussten die wissenschaftlichen Praktiken sowohl der Dynamik als auch den Möglichkeiten der Differenzierung zum Normalen als eine Art sicherer Grenzziehung Rechnung tragen. Je mehr die Abweichungen von der Norm besprochen wurden, desto näher gelangten sie auch an den Grenzbereich des Normalen. Im Übergang von der Taxonomie des Monsters zu einer Dynamisierung der Abweichungen verknüpften sich mit der Monstrosität die unheimlichen Momente der Bedrohung und des Risikos. Die „gefährliche Nähe zur Regel“, die das Monströse und die Abweichung im 19. Jahrhundert in eine neue Beziehung setzen, ist gekennzeichnet von einer Anbindung beider Begriffe an die Normalität.264 Damit ist die Monstrosität nur noch Fragment oder körperlicher Ausschnitt; die großen Bedeutungsfelder des monströsen Anderen werden in kleine, unauffälligere Anomalien zerlegt. Zugleich ist die – auf einer Synthese wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse beruhende – Rede über Monstrositäten „durch ein Mehr-Sehen und Mehr-Sagen“265 gekennzeichnet. Die Monstrosität wird von einer wissenschaftlichen Unvollständigkeit in eine gesellschaftliche Vollständigkeit überführt. Die Anomalien und Abweichungen wurden also in ein wissenschaftliches Denken der Prozessualisierung eingebettet. Inwieweit dienen Monstrositäten der Aufrechterhaltung von Ordnungen und Grenzen zum Normalen ? Für die Wissenschaften vom Leben wurden „Prozessualisierung, Dynamisierung und Tätigkeit […] die zentralen Begriffe“266. Im Übergang von einem taxonomischen zu einem historizistischen Denken setzte im Hinblick auf die humanwissenschaftlichen Praktiken ein Wechsel ein, sodass „physiologisch-dynamische Untersuchungen den Vorrang vor statischen, anatomisch-analytischen Beobachtungen erhalten“267. Auch Monstrositäten sind – wie gezeigt – nicht einfach zu bestimmen, zu klassi-

264 Bublitz, Hannelore: 2003, 155. Im Anschluss an Foucault nutzt Bublitz die Unterscheidung von Normalität und Anormalität für eine Analyse sozialer Ordnungen in modernen Gesellschaften und betont dabei die zentrale Funktion, die Abweichungen im Diskurs der Normalisierung erhalten. 265 Schmidt, Gunnar: 2001, 53. 266 Hagner, Michael: 2001, 96. 267 Hagner, Michael: 2001, 96.

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fizieren, sondern müssen in ein System des Temporären integriert werden. Das heißt, nicht mehr die Feststellung der Monstrosität, sondern der Vergleich mit einer Norm steht nun im Mittelpunkt wissenschaftlichen Arbeitens. Aus der passiven Beobachtung ist eine aktive Untersuchung geworden. Hagner, der diese Veränderung im Hinblick auf die Lebenswissenschaften untersucht, stellt die sich daraus ergebenden forschungspraktischen Probleme für die Pathologie und Physiologie heraus. Die Pathologie und die Physiologie konnten nicht immer vergleichbare Forschungsmethoden nutzen, um die „Untersuchung zur Dynamik und Prozessualität forschungspraktisch“268 zu realisieren. Während die humanphysiologischen Instrumentarien der Experimentalisierung vor allem Aufschlüsse über die Funktionszusammenhänge körperlicher Systeme geben sollten, waren für die Pathologie diese Methoden nicht immer anwendbar. Damit zeigte sich bei der Pathologie als der Lehre von den Krankheiten, Abweichungen und radikalen Anomalien ein methodisches Problem. Die Pathologie konnte sich häufig nur taxonomischer Klassifikationen bedienen. Hagner hat auf das Paradox hingewiesen, dass trotz dieser methodischen Probleme die „Pathologie im Sinne einer Bestimmung der quantitativen Abweichung von einer Norm zum Dreh- und Angelpunkt der medizinischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts wurde“269. Jedoch sei von zahlreichen Kritikern die in manchen Fällen bestehende Unmöglichkeit der Anbindung von pathologischen Phänomenen an physiologische Normierungen beklagt worden. Wie Hagner schreibt, ergab sich hieraus die Problematik der wissenschaftlichen Inkonsistenz zwischen den Aussagen der Physiologie und der Pathologie. „Wenn die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Untersuchungsmethoden so problematisch war, wie konnte man dann zu einem einheitlichen und kohärenten Wissenscorpus gelangen […]. Zudem geschah es auch hier nicht selten, daß die Kombination der Forschungsfelder zu nicht erklärbaren, bisweilen auch widersprüchlichen Ergebnissen führte.“270

Somit standen die Lebenswissenschaften im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vor einem Problem. Die begrifflichen Instrumentarien der Prozessualisierung und Dynamik erzeugten einen heterogenen und

268 Hagner, Michael: 2001, 97. 269 Hagner, Michael: 2001, 97. 270 Hagner, Michael: 2001, 97.

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paradoxen Wissensbestand. Die Problematik unterschiedlicher Untersuchungsmethoden und die Heterogenität des Wissensbestandes konnten auch nicht mit einer dynamischen Ordnung aufgelöst werden. Da das Wissen nicht in einen einheitlichen Korpus eingefügt werden konnte, zeigten sich zwischen verschiedenen Forschungsfeldern Spannungen und Inkohärenzen. Die Aufgabe, diese paradoxen Wissensbestände aufzuzeigen, kam im 19. Jahrhundert den Monstrositäten zu. Insofern haben Monstrositäten eine Sonderrolle: Auch in einer dynamischen Wissensordnung ist die Beschäftigung mit ihnen an einen Substanzbegriff geknüpft. Werden sie in einem prozessualisierten Denken hervorgebracht, kann es sich nicht mehr um eine Monstrosität, sondern nur noch um eine Anomalie handeln. Dass der Entwicklungsgedanke dennoch zum analytischen Instrument einer Verzeitlichung der Definitionen von Monstrositäten wurde, war nur durch das Hinzuziehen anderer Kriterien möglich. Die Veränderungen der wissenschaftlichen Aussagesysteme führten auch zur Entstehung heterogener Wissensordnungen, deren Leistungsfähigkeit nur Bestand haben konnte – so die Argumentation Hagners –, wenn man sich moralischer Argumente zur Aufrechterhaltung der Differenz von Normalität und Anormalität bediente. Somit schließt die Differenzierung von Normalität und Anormalität auch andere Argumentationsweisen ein, mit denen Aussagen über Monstrositäten anderen Funktionsweisen unterliegen. Wenn die medizinisch-wissenschaftlichen Wissensformationen auch moralische Argumentationen aufgenommen haben, so stellt sich die Frage, welche Rolle Abweichungen in ihrer wissenschaftlichen Verfasstheit und welche den Monstrositäten in einem moralisch-politischen Diskurs zukam ? Wie konnten im medizinischen Diskurs Aussagen möglich werden, die eigentlich nicht den disziplinären Normierungen entsprachen ? Die Medizin des 19. Jahrhunderts bediente sich eines moralischen Diskurses, indem beispielsweise physiologische Elemente für eine Inszenierung der Monstrositäten als Atavismen herangezogen wurden, die weder dem klassischen Paradigma der Heilung noch dem der Therapie angehörten. Es gab durchaus eine Menge medizinischer Texte, die sich einer Analyse „monströser“ Gegenstände widmeten, ohne dass es sich in jedem Fall um eine Krankheit oder um eine Pathologie handeln musste. Hier wurden nicht nur die Ergebnisse anatomischer Untersuchungen dargestellt, sondern diese wurden auch auf soziale, politische oder kulturelle Fragen bezogen. Als wissenschaftlicher Gegenstand waren die Monstrositäten in Anomalien zerlegt und konnten wissenschaftlich nur noch als Unregelmäßigkeiten zur Sprache gebracht werden. Als Monstrosität ist die Anomalie jedoch zugleich eine Steigerung der Unregelmäßigkeit.

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Wie kommt es, dass die Beurteilung von etwas als monströs bzw. als minderwertig gerade im 19. Jahrhundert zu einer Flut von wissenschaftlicher Literatur geführt hat, in der sich die gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen von Fremdheit und Andersartigkeit manifestierten ? Wieso wurde der Begriff des Monsters im 19. Jahrhundert weiterhin verwendet, obwohl er wissenschaftlich nicht greifbar war und sich rationalen Bewertungen entzog ? Im folgenden Abschnitt werden mit Foucaults Analyse der „Anormalen“ die Bedeutungen und Funktionsweisen des Monsters als Figuration untersucht. Die Figur des Monsters schließt sowohl an die traditionellen Bedeutungen von Singularität und extremer Abweichung als auch an die Bedeutungen von Anomalie, Unregelmäßigkeit und Vielfalt an. Die wissenschaftlichen Codierungen des Monsters sind keineswegs nur auf eine wissenschaftliche Verfasstheit zu reduzieren. Insofern werden das Monster und die Anomalie im Folgenden in ein historisch spezifisches Verhältnis gesetzt, mit dem die Ebenen gesellschaftlicher Normalisierungsprozesse und -praktiken untersucht werden können.

3.7 D IE POLITISCHE D IMENSION DES M ONSTERS NACH FOUCAULT „[…] wie die Texte, die ich ihnen vorhin vorgelesen habe, im wahrsten Sinne grotesk sind. […] Ubuesker Terror, groteske Souveränität oder, strenger gesagt, die Maximierung von Machteffekten auf der Basis der Disqualifikation dessen, der sie produziert: Dies wäre, denke ich, nicht als Unfall in der Geschichte der Macht oder als Fehler des Apparates zu verstehen. Es scheint mir eines der Räderwerke zu sein, die innerer Bestandteil der Machtmechanismen sind.“271

3.7.1 Juridische Teratologie: eine Geschichte des Monsters und der Monstrosität Ende des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche medizinische und anthropologische Texte, die vielfältige und heterogene Kategorisierungen

271 Foucault, Michel: 2003, 27 f.

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des Monsters vornahmen. Trotz der lächerlichen Tragik, die diese Texte mitunter offenbaren, sind sie nicht einfach als ein „Unfall in der Geschichte der Macht oder als Fehler des Apparates“ aufzufassen. In seinem Vorlesungszyklus Die Anormalen definiert Foucault eine Kategorie historisch-politischer Analyse, „die die Kategorie des Grotesken […] wäre“. Die wissenschaftlichen Aussagen über das Monster stehen in einem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Normalisierungsprozessen und disziplinären Normierungen. Diese Aussagen stellen keine Überspitzung einer durch die Macht veranlassten Verunglimpfung dar. Sie sind vielmehr „eines der Räderwerke, die innerer Bestandteil der Machtmechanismen sind“272. Foucault beginnt seine Analyse mit einer Genealogie der Normalisierungsmacht. Während des 19. Jahrhunderts komme es zu einer programmatischen Verschiebung von der Monstrosität zur Figur des Anormalen.273 Bei Foucault geht es nicht um biologische Abweichungen, sondern um die Figurationen des Monsters. Mit dem Monster werden die durch Normierungsprozesse unsichtbar gemachten Bereiche aufgezeigt. Diese Zonen werden mithin in ein konstitutives Verhältnis zu Praktiken der Normierung und Normalisierung gesetzt. Das moderne Monster ist eine Ausnahme und ermöglicht zugleich politische Interventionen und die Anwendung normalisierender Techniken. Die Figur des Monsters eröffnet somit eine Perspektive auf die Prozesse diskursiver Produktivität, mit denen die Gegenstände, von denen man spricht, hergestellt werden.274 Normalisierungspraktiken sind historisch situiert. Sie entwickelten sich

272 Foucault, Michel: 2003, 28. 273 Der Begriff der Figur wird in sehr unterschiedlichen Kontexten verwendet. In der Rhetorik ist die Figur eine Abweichung von gebräuchlichen Sprachmustern (vgl. White, Hayden: 1986). Butler führt im Anschluss an White den Begriff der Figur ein, um ihn für eine Analyse von Macht und Subjekt fruchtbar zu machen (vgl. Butler, Judith: 2001, 10, Fn. 2). Sie schreibt, dass die Form der Macht „unablässig durch eine Figur der Wendung gezeichnet“ ist. Bezüglich der Subjektbildung, die Butler als Prozess der Unterwerfung und des Werdens konzipiert, schreibt sie: „Die Figur, auf die wir uns beziehen, ist noch gar nicht existent und ist kein Teil einer verifizierbaren Erklärung, und dennoch ist die Rede von dieser Figur nicht ganz sinnlos. Das Paradox der Unterwerfung impliziert ein Paradox der Referentialität: daß wir uns nämlich auf etwas beziehen, was noch gar nicht existiert“ (ebd., 9 f.). 274 Vgl. Bublitz, Hannelore: 1998, 10.

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aus den Abweichungen, „die einem normalisierenden Expertenwissen und der Korrektur durch spezifische Interventionstechniken unterstellt werden“275. Es gibt bei Foucault zunächst zwei unterschiedliche Traditionslinien des Monsterbegriffes: das Monster der natürlichen Ordnung und das Monster der Rechtsordnung. Während das Monster vor dem 18. Jahrhundert als eine Überschreitung der religiösen oder natürlichen Ordnungen verstanden wurde, wird es seit dem 18. Jahrhundert zu einem Problem der Rechtsordnung. In dieser Tradition ist das Monster im Kern Gegenstand einer „juridischen Teratologie“276. Als Beispiel einer juridischen Teratologie führt Foucault den Fall eines siamesischen Zwillingspaares an, das wegen eines Verbrechens angeklagt werden sollte, und zeigt, dass das Problem der Bestrafung darin bestand, dass man nicht feststellen konnte, ob nun beide oder einer hinzurichten sind.277 Ein weiteres Beispiel einer juridischen Teratologie ist der von Mark Twain in The Extraordinary Twins aufgegriffene Fall des Rechtsverstoßes eines anderen siamesischen Zwillingspaares. Die Zwillinge, die zwei Köpfe und nur zwei Beine besitzen, sollen angeklagt werden, weil einer der beiden während der Versammlung der „Sons of Liberty“ einen Teilnehmer von der Bühne gestoßen und dabei verletzt hatte. Die Zwillinge werden angeklagt. Während der Gerichtsverhandlung werden die Zeugen zum Hergang der Tat befragt. Mark Twain baut die Verwirrtheit des Richters auf mehreren Seiten auf, die Befragung kann keine Beweisführung liefern. Auf die Frage, wer denn nun getreten habe, antwortet einer der Zeugen: „Your honour, the question is an irrelevant triviality. Necessarily they both kicked him, for they have but one pair of legs, and both are responsible for them.“278 Der Richter kann diese Aussage aber nicht bewerten, weil seine Analyse auf die Bestrafung von einem der beiden abzielen muss. Deshalb bittet er

275 Bublitz, Hannelore: 2003, 154. 276 Foucault, Michel: 2003, 90. Das Monster ist zunächst nur eine Unordnung der Natur, aber seit dem 18. Jahrhundert wird zunehmend auch die rechtliche Regulierung des Monsters dringlicher. Foucault führt hier zahlreiche Fälle an, u. a. die Geburt eines deformierten Kindes, die der Rechtsprechung Probleme bereiteten: „Wenn ein Monster mit zwei Leibern oder zwei Köpfen auf die Welt kommt, muß man ihm dann eine oder zwei Taufen angedeihen lassen ?“ (Ebd., 89) 277 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 90. 278 Twain, Mark: 2002, 218.

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den Zeugen bei den Fakten zu bleiben. In dieser grotesken Beschreibung eines Rechtsfalles stellt das rechtlich-natürliche Monster „eine Vergewaltigung und Verlegenheit des Gesetzes“279 dar. Da, wo das Monster erscheint, muss das Recht verstummen: „Man kann sagen, daß die Kraft und die beunruhigende Fähigkeit des Monsters darin gründet, daß es das Gesetz, obwohl es dieses verletzt, verstummen läßt“280. Es geht nicht um kodifizierte Gesetze, sondern um einen Verstoß gegen Normen, die erst im Zusammenhang mit dem Monster sichtbar werden.281 Das Monster ist eine Verletzung der Ordnung, aber es steht zugleich auch für die Unmöglichkeit der Beherrschbarkeit, da die normativen Grundlagen von Interventionen am Monster nicht greifen. Das Monster der Rechtsordnung ist eine Verletzung des Gesetzes, aber das Gesetz kann auf die Verletzung nicht antworten.282 Demgegenüber gibt es in der wissenschaftlichen Tradition einen Begriff des Monsters der natürlichen Ordnung. Als biologisch codierter Begriff ist die Monstrosität Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse und bezieht sich auf Wissensformationen und Bedeutungen, die von anatomischen und biologischen Kategorien organisiert wurden. Gehörte das Monster bis ins 18. Jahrhundert einer außernatürlichen Ordnung an und war etwas, „was von Natur aus getrennt gehörte“, so ist das naturalisierte Monster eine Monstrosität innerhalb der natürlichen Ordnung. Im Prinzip der Variabilität ist die Monstrosität „lediglich eine Unregelmäßigkeit, eine leichte Abweichung“283. Als Anomalie wissenschaftlich festgestellt, wird das naturalisierte Monster wissenschaftlich fassbar, es wird aus

279 Foucault, Michel: 2003, 91. 280 Foucault, Michel: 2003, 77. 281 Vgl. Dederich, Markus: 2003, 90. Dederich betont, dass es sich hier deswegen nicht um kodifizierte Normen handelt, weil diese als so stabil gelten, dass sie – selbst wenn sie nicht festgelegt werden – das Denken über die „Ordnung der Natur bestimmen“ (ebd.). 282 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 77. 283 Foucault, Michel: 2003, 103. Foucault macht deutlich, dass es bis zum 18. Jahrhundert noch unterschiedliche Geltungsbereiche des Monster gab, die je nach Epoche an Dominanz gewannen. Letztlich betont er, dass die Unterscheidung zwischen einem rechtlichen Monster und einer medizinischen Monstrosität auf der Trennung der Wissensformationen beruht, in denen diese Begriffe verhandelt wurden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „bestehen die Wissensinstanzen, auf die sie sich beziehen, getrennt voneinander“ (ebd., 84).

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seiner natürlichen Verkehrtheit herausgenommen und in die natürliche Ordnung integriert: Es wird beherrschbar. Obwohl als Unregelmäßigkeit in den wissenschaftlichen Wissensformationen verhandelt, verschwindet die Figur des Monsters nicht aus dem Vokabular des 19. Jahrhunderts. Vielmehr werden in den medizinischen und anatomischen Beschreibungen die körperlichen Phänomene, die nur noch als Anomalien wissenschaftlich greifbar waren, immer noch in Form einer Rede über das Monster gefasst. Wenngleich nur als „eine Unregelmäßigkeit, eine leichte Abweichung gedacht, ermöglicht die Anomalie eine Rede über das, was tatsächlich monströs sein wird, eine Monstrosität der Natur“284. Die rechtliche und die medizinische Wissensformation – die beide auf unterschiedlichen Traditionen beruhen und zugleich den historischen Bedingungen unterliegen, die bestimmten, wie das Monster zuvor begrifflich strukturiert war – werden im 19. Jahrhundert synthetisiert. Denn in dieser Zeit wurde „die Justizmacht des Arztes oder die medizinische Macht des Richters mit immer mehr Dringlichkeit gefordert“285. Dieser Prozess ist auf eine Verschiebung bzw. auf eine Konstruktion von Objektbereichen zurückzuführen. In den rechtlichen und medizinischen Diskursen wird mit dem monströsen Verbrecher oder der monströsen Frau weiterhin die Bedeutung des singularisierten Monsters aufrechterhalten, wobei die Singularität des Falls die Möglichkeiten der Intervention nicht mehr verschließt, sondern nun vielmehr als Grundlage und Legitimation für kulturelle und politische Normalisierungspraktiken dient.286 Die Monstrosität ist nicht mehr eine Verletzung der Natur oder des Rechts. Stattdessen werden hinsichtlich des Monsters nun Handlungsweisen und Selbstverhältnisse sichtbar, denn „auf der Grundlage dessen, was nur eine Unvollkommenheit oder Abweichung ist […], kommt es zur Zuschreibung einer Monstrosität“287. Diese Verschiebung bringt im 19. Jahrhundert einen Diskurs hervor, der sich mit politischen Fragen verbindet, in einer neuen kulturellen Praxis der Normalisierung resultiert und eine neue Konfiguration des Monsters ermöglicht.

284 Foucault, Michel: 2003, 103. 285 Foucault, Michel: 2003, 57. 286 Foucault geht es um die Genealogie des kriminalisierten Monsters. Die Frage, inwieweit diese Prozesse auch das Denken über Geschlecht hervorgebracht haben, bleibt in seinen Analysen folglich unbeantwortet. Im vierten Kapitel wird diese Frage anhand von historischem Material erörtert. 287 Foucault, Michel: 2003, 104.

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„Die Figur des monströsen Kriminellen, die Figur des Sittenmonsters, schießt plötzlich gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Urgewalt aus dem Boden.“288

Dieser Diskurs über das Sittenmonster wird im 19. Jahrhundert dringlich.289 Bereits in der Begrifflichkeit des „Sittenmonsters“ verbirgt sich eine Kluft. Der wissenschaftliche Diskurs über das Monströse wird von einer Zweideutigkeit bestimmt: Das Monster wird als Einzelfall konstruiert und zugleich einem allgemeinen Erklärungsprinzip untergeordnet. Daher kann nur von einem Monster die Rede sein, wenn es in Bezug zu einer Norm gesetzt wird. Das Monster in ein Verhältnis zur Norm zu bringen, ist zugleich ein Prozess oder eine Verfahrensweise, mit der die Norm und das Monster überhaupt erst konstituiert werden. Wenngleich die Monstrosität wissenschaftlich keine Wesenheit ist, wurde sie dennoch weiterhin als Grenzverletzung einer natürlichen moralischen Ordnung gedacht: In dieser Paradoxie ist die Figur des Monsters sowohl eine singuläre Totalität als auch eine mannigfaltige Unregelmäßigkeit. Mit der Figur des Anormalen werden sowohl die Zufallsereignisse der biologischen Vielfalt als auch die individuelle Einzigartigkeit in ein konstitutives Verhältnis gesetzt. Die Ausnahme des Monsters und die Unauffälligkeit der alltäglichen Abweichungen werden im 19. Jahrhundert zu einem allgemeinen Prinzip: „[D]ieses fast universelle Prinzip, das man praktisch bei jedermann findet, […] [wird] damit zugleich zum Erklärungsprinzip für jede pathologische Singularität.“290 Im 19. Jahrhundert kommt es damit zu einer Veränderung des Blicks auf die Unregelmäßigkeiten und den Zufall, die als eine Umkehrung gelesen werden kann: Der Blick richtet sich nicht mehr dorthin, wo die Abweichungen zur Monstrosität geworden sind, sondern seit dieser Zeit schaut man auf all die Anomalien, hintern

288 Foucault, Michel: 2003, 106. 289 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 57. Foucault geht es um das kriminalisierte Monster, das jedoch auf einen Wandel der Bedeutungen der Monstrosität verweist: „[D]ie Monstrosität war noch nicht das, was später aus ihr wurde, nämlich eine im Endeffekt kriminelle Veranlagung“ (ebd., 106). In der vorliegenden Studie wird dieser Wandel insbesondere im Hinblick auf die unterschiedlichen Interventionsfelder und die Machttechnologien untersucht, weniger interessiert hier die konkrete moralisch codierte Monstrosität des ‚Sittenmonsters‘. 290 Foucault, Michel: 2003, 82.

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denen das Monster erscheint. Hinter den kleinen Unregelmäßigkeiten muss nun der „wahre Grund für die Monstrosität“291 gesucht werden. Diese Suche sei zu einem Problem des 19. Jahrhunderts geworden.292 Im 19. Jahrhundert dient die allgemeine Theorie der Degeneration als Bezugsrahmen „für all die Techniken der Zurechnung, Klassifizierung und der Intervention bei den Anormalen“293. Dieser Prozess führt zur „Ausgestaltung eines komplexen institutionellen Netzes, das an den äußersten Grenzen von Medizin und Justiz zugleich als ‚Aufnahmestruktur‘ für die Anormalen und als Instrument zur ‚Verteidigung‘ der Gesellschaft dient.“294 Die Bedeutungen des Monsters sind mit den Phänomenen des Lebens und der Devianz verbunden. An diesen Phänomenen setzen spezifische Normalisierungspraktiken an, die auf der Grundlage der Matrix von Anormalität und Normalität Verknüpfungen zwischen der gesellschaftlichen Regulierung und den individuellen

291 Foucault, Michel: 2003, 78. 292 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 78. 293 Foucault, Michel: 2003, 428 f. Foucault bezieht sich an dieser Stelle auf ein Buch von B. A. Morel. Die Theorie der Degeneration, wie sie von Morel erarbeitet wurde, basierte „auf dem Prinzip der Übertragbarkeit des ‚erblich‘ genannten Makels“. Diese Theorie beeinflusste nicht nur die Medizin, sondern auch die Kriminologie und die Anthropologie und „war der Kern des medizinischen Wissens über Wahnsinn und Anormalität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Foucault, Michel: 1999, 291). An anderer Stelle schreibt Foucault, dass die Sexualität einerseits ein „Herd individueller Krankheiten und andererseits der Kern der Degeneration ist“ und damit „genau diesen Verbindungspunkt des Disziplinären und Regulatorischen, des Körpers und der Bevölkerung“ repräsentiert (ebd., 292). Auch Canguilhem bezieht sich auf das Thema der Vererbung im 19. Jahrhundert und schreibt: „Vererbung ist der moderne Name der Substanz. […] Warum also sollte man nicht von einer Jagd auf heterodoxe Gene, von einer genetischen Inquisition träumen ? […] An seinem Ende allerdings steht die Polizei der Gene, die beschirmt ist von der Wissenschaft der Genetiker“ (Canguilhem, Georges: 1974, 196). Canguilhem geht es an dieser Stelle um den Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft, die die Angst vor angeborener Anormalität auszurotten versucht. Letztlich hat diese Entwicklung aber im 19. Jahrhundert ihren Ursprung. 294 Foucault, Michel: 2003, 428.

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Selbstverhältnissen herstellen.295 Das alte Monster, über das bis zum 18. Jahrhundert noch in der großen Figur des Menschenmonsters diskutiert wurde, wird im Zuge der Entstehung der modernen Humanwissenschaften zerteilt, fragmentiert und zergliedert und letztlich in eine Vielzahl kleiner Anomalien zerlegt.296 Die Monstrosität wird damit in die Nähe zum Normalen gebracht und als Anomalie zu einer vertrauten, alltäglichen Erscheinung. Zugleich werden alle möglichen Pathologien

295 Vgl. Bublitz, Hannelore: 2003. 296 Canguilhem teilt mit Foucault die Auffassung, dass mit der Entstehung der Humanwissenschaften ein tiefgreifender Wandel in der Geschichte der Erkenntnis einhergeht, den Foucault als epistemologischen Bruch bezeichnet. Dieser Bruch ist gekennzeichnet von einem neuen Typus des Wissens, mit dem der „Mensch in seinen empirischen Teilen zum Gegenstand“ des Wissens wurde (Foucault, Michel: 1999a, 413). An anderer Stelle legen Canguilhem und Foucault ihre Bezüge offen dar. Canguilhem schreibt über Foucault: „Und nun kommt da einer und spricht von ‚wesentlichen Brüchen‘, ist beunruhigt […]. Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert […] entdeckt der Archäologe des Wissens eine ‚rätselhafte Diskontinuität‘“ (Canguilhem, Georges: 1988, 23). Das beunruhigende Moment dieser Geschichte, die geprägt ist von unvorhersehbaren Abfolgen, ist die Absage an eine Idee des Fortschritts (vgl. ebd., 25). Foucault bezieht sich mit Canguilhem auf das Thema der Diskontinuitäten, mit dem die Idee des Fortschritts der Wissenschaften aufgekündigt wurde. Er schreibt: „Zunächst hat er [Canguilhem; Anm. d. Verf.] das Thema der ‚Diskontinuitäten‘ aufgegriffen. […] Dieses Thema von Koyré und Bachelard übernehmend, betont Canguilhem, dass die Auffindung der Diskontinuitäten für ihn weder ein Postulat noch ein Resultat ist: sondern eine Vorgangsweise, die mit der Wissenschaftsgeschichte eins ist, da sie von deren Gegenstand verlangt wird. Die Geschichte der Wissenschaften ist nicht die Geschichte des Wahren“ (Foucault, Michel: 1988, 60 f.). Aus dieser Perspektive ist eine genealogische Untersuchung des Lebensbegriffes bei Canguilhem und Foucault sehr aufschlussreich. Dass dies bis vor Kurzem nicht geschehen ist, verweist auf die lange Zeit ausgebliebene deutschsprachige Rezeption von Canguilhems Denken. Erst kürzlich hat Maria Muhle in ihrer beeindruckenden Studie Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem diese Lücke für den akademischen Kontext in Deutschland geschlossen (vgl. Muhle, Maria: 2008, 196 ff.).

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auf eine sexuelle Ursache als eine „extreme Beschädigung der Natur“297 zurückgeführt. Die Bedeutungen des Monsters werden sowohl in Prozessen der Fragmentierung als auch der Rekonstruktion hervorgebracht. Insofern werden hinsichtlich der Figur des Anormalen sowohl die wissenschaftlichen Zugriffe der Fragmentierung als auch Verfahrensweisen der Rekonstruktion aufgenommen. Dieser Prozess geht über die Frage nach der allmählichen Naturalisierung des Monsters hinaus. Foucault zeigt, dass aus der „großen Transformation des Monsters“298 die Figur des Anomalen hervorgegangen ist, die mit Macht- und Normierungstechniken zusammenhängt, mit denen das Verhalten von Menschen nicht mehr in Anbetracht einzelner Taten beurteilt wird, sondern Handlungen vorab hinsichtlich ihrer Eventualitäten bewertet werden. Insofern ist die wissenschaftliche Verfasstheit moderner Monstrositäten nur ein Teil ihrer Bedeutung. Das Monster der Moderne ist eine Figur, mit der sich die einzelnen disziplinären Wissensformationen beschäftigen und die in Prozessen der Vervielfältigung in räumlichen und zeitlichen Interventionen von Normalisierungen konstituiert wird. Denn rund um die Anomalien entstehen in dieser Zeit zahlreiche Techniken der Normalisierung. Die Abweichungen und Pathologien zeichnen sich zum einen dadurch aus, dass an ihnen die herkömmlichen Prozeduren und Techniken der Normalisierung versagen, zum anderen stimulieren sie die Entwicklung von immer neuen Interventionstechniken, die über die üblichen Maßnahmen hinausgehen.299 Die Normalisierungspraktiken entwerfen damit ihre Instrumentarien an den Abweichungen, an denen die Techniken der Normalisierung vollzogen werden, und an den Monstrositäten, mit denen die Interventionsfelder konstituiert und legitimiert sowie mit politischen und sozialen Themen verbunden werden. Insofern entwickelt Foucault eine Genealogie der politischen Dimension des Monsters.300 Seine Analyse

297 Bublitz, Hannelore: 2003, 156. 298 Foucault, Michel: 2003, 144. 299 Vgl. Bublitz, Hannelore: 2003, 155. 300 Vgl. Muhle, Maria: 2008, 199. Muhle erarbeitet diesen Zusammenhang in einer genauen Lektüre beider Positionen heraus, um die von Foucault beschriebenen, auf den Anormalen zielenden Technologien für die Entwicklung der modernen Psychiatrie zu analysieren. Insofern folgt sie hier der Analyse Foucaults, der den Aufstieg der Psychiatrie im 19. Jahrhundert untersucht und zeigt, wie aus den drei Figuren des Menschenmonsters, des masturbierenden Kindes und des zu bessernden Individuums das Feld des

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widmet sich nicht allein der Frage, wie in den Wissenschaften Monstrositäten als Objekte des Wissens gefasst wurden. Auf die Figur des Anormalen zielen beide Bereiche: die wissenschaftlichen Normierungen und die politischen Normalisierungen. Somit zeigt sich an einer Analyse der Figur des Anormalen auch, dass die Funktionsweisen der Machttechniken in modernen Gesellschaften an der Schnittstelle von Gesellschaftskörper und Individuum analysiert werden müssen.301 Das moderne Monster ist das Unmögliche sowie das Verbotene und zugleich wird am Monster ein Prinzip der Erkennbarkeit sichtbar. Foucault schreibt: „Und dennoch ist dieses Prinzip der Erkennbarkeit ein eigentlich tautologisches Prinzip, da die Eigenschaft des Monsters eben darin besteht, sich als Monster zu behaupten, aus sich heraus alle Abweichungen zu erklären, die von ihm ausgehen können, aber an sich unerkennbar zu sein. Diese tautologische Erkennbarkeit, dieses Erklärungsprinzip, das sich nur auf sich selbst bezieht, wird man am Grunde der Analysen der Anomalie finden.“302

In dieser Widersprüchlichkeit wird das Monster in der Figur des Anormalen zu einem konstitutiven Bestandteil gesellschaftlicher Normalität. Erst mit der Transformation vom Monster zum Anormalen werden die Bedingungen dafür geschaffen, dass man über das reden konnte, worüber man zuvor schweigen musste: Nämlich über die Monster, die zwar etwas gesellschaftlich oder moralisch Verbotenes darstellen, sich aber den Möglichkeiten der politischen oder rechtlichen Machtausübung entgegenstellen. Foucault erweitert die Perspektive auf die wissenschaftliche Verfasstheit des Monsters um eine Analyse gesellschaftlicher Normalisierungsprozesse, sodass die Wissenschaften vom Leben in einen engen Zusammenhang mit der Herausbildung moderner Selbstverhältnisse gebracht werden. Die Figur des Anormalen dient der Analyse moderner

Anormalen historisch hervorging, in dem die Psychiatrie ihre Gegenstände für psychiatrische Interventionen erzeugt hat. Muhle spricht in diesem Zusammenhang von der sozialen Verfasstheit des Monsters (vgl. ebd., 197). Im Gegensatz zu Muhle allerdings, die die biologische Normierung des Lebens im Feld der Psychiatrie vor allem mit Foucaults Begriff des Triebes untersucht, dient die in dieser Studie durchgeführte Analyse der Präzisierung eines anthropologisch-geschlechtlichen Begriffs des Monsters. 301 Vgl. Bublitz, Hannelore: 2003, 157. 302 Foucault, Michel: 2003, 78.

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Machtverhältnisse, die nicht ausschließlich auf den Funktionsweisen der Unterdrückung und Repression beruhen, sondern in ihrer subtilen Wirkungsweise die Gegenstände erst hervorbringen, an denen sie ihre eigene Macht entfalten.

3.7.2 Die biopolitische Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen Die Thematik der wissenschaftlichen Normierungen des Lebens wird von Foucault um Fragen der sozialen und politischen Normalisierung erweitert. Auf der Ebene der Disziplinen werden biologische Normen aufgestellt, die zugleich auch eine Praxis der politischen Normalisierung sind. Die politische Normativität des Lebens ist in einen allgemeinen Prozess der Normalisierung eingebettet, der als ein Übergang von der disziplinären Normierung zur biopolitischen Norm zu verstehen ist.303 Aus den Normalisierungspraktiken geht eine Form der Produktivität hervor, die Foucault als Normalisierungseffekt bezeichnet. Diese Normalisierungseffekte entfalten und vervielfältigen seit dem 19. Jahrhundert ihre Wirkungen innerhalb verschiedener Institutionen. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich ein „allgemeiner Prozess der sozialen, politischen und technischen Normalisierung“304. In seiner Abhandlung über die Verfahren der Bestrafung schreibt Foucault, dass sich eine Analyse des Verhältnisses von Recht und Mensch in der Moderne nicht nur auf die Einbeziehung humanistischer Ideen oder auf die Rationalisierung der Strukturen konzentrieren dürfe. In den Disziplinen kommt es seit dem 18. Jahrhundert zu einem Durchbruch der Norm und das „Normale etabliert sich als Zwangsprinzip“305. Insofern sind Normierungen als Funktionsweisen von Macht zu analysieren. „Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente. An die Stelle der

303 Vgl. Muhle, Maria: 2008, 218. Muhle schreibt hier: „Die Normalisierung, die als Funktionsweise der disziplinären Normen eingeführt wurde, wird jetzt den biopolitischen Normen vorbehalten, während die disziplinäre Norm nun der Normierung zugeordnet wird.“ 304 Foucault, Michel: 2003, 71. 305 Foucault, Michel: 1995, 237.

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Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machten, tritt mehr und mehr ein System von Normalisierungsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt.“306

Normalisierung ist eine Funktionsweise der Macht, die Individuen untereinander differenziert, Ausschlüsse erzeugt sowie Vergleichsfelder und Differenzierungsräume schafft.307 „Hand in Hand mit dieser ‚wertenden‘ Messung geht der Zwang zur Konformität“, der dann wiederum gleichzeitig die Feststellung der „äußeren Grenze gegenüber dem Anormalen“308 bewirkt. Der Prozess der allgemeinen Normalisierung ist nicht ausschließlich an ein Verfahren des Ausschlusses, sondern auch an ein Prinzip der Bewertung und der Regulierung gebunden. Normalisierung ist ein Prozess der Homogenisierung und bewirkt Konstruktionen von Identität und Differenz. Die Identität manifestiert sich unter anderem in der Herausbildung eines Gesellschafts- oder Gruppenkörpers wie der Nation oder der Kultur, dem das Andere gegenübergestellt wird. In Überwachen und Strafen untersucht Foucault die Normalisierungspraktiken des Überwachungsdispositivs. In diesem Dispositiv werden die Zonen und Ereignisse festgelegt, die darauf abzielen, die Individuen ein- und aufzuteilen.309 Nicht mehr das Zwangsprinzip der institutionellen und disziplinären Normierung wird untersucht, sondern Foucault erweitert seine Analyse im Hinblick auf die Frage, worauf die seit dem 19. Jahrhundert zunehmende Gründung neuer Institutionen und die Ausdifferenzierung von Wissensformationen beruhen.310 Nicht mehr nur die institutionellen Normierungen werden in den Blick genommen, sondern es geht um die dem Wissen vorgelagerten Strukturen und Regeln. Foucault schreibt: „Das Auftauchen dieser Normalisierungsmacht, die Art und Weise, wie sie sich formiert und installiert, ohne sich jemals auf eine einzige Institution zu stützen,

306 Foucault, Michel: 1995, 237. 307 Vgl. Bublitz, Hannelore: 2003, 152. 308 Foucault, Michel: 1995, 236. 309 Vgl. Muhle, Maria: 2008, 218. 310 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 50 f.

190 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN sondern dank des Spiels, das sie zwischen den verschiedenen Institutionen betreibt, hat ihre Souveränität in der Gesellschaft.“311

Dieser allgemeine Prozess der Normalisierung bezieht sich auf Normen. Von Canguilhem übernimmt Foucault, dass Normen „keineswegs als Naturgesetz“312 definiert werden können. Vielmehr sind Normen sowohl der Effekt als auch die Bedingung für Normalisierungspraktiken. Das Normale etabliert sich sowohl als Zwangsprinzip wie auch als „Element, von dem aus ein bestimmter Machtanspruch begründet und legitimiert werden kann.“313 Die Funktionsweise von Macht ist nicht nur Ausschließung oder Zwang, denn „die Norm besteht nicht darin, auszuschließen oder zurückzuweisen. Sie ist im Gegenteil immer an eine positive Technik“314 gebunden. Im Gegensatz zum Überwachungsdispositiv, mit dem institutionell-disziplinäre Grenzziehungen und individuelle Ausschlüsse legitimiert wurden, treten nun Techniken der Normalisierung als Bestimmungen serieller Anordnungen in den Vordergrund, mit denen moralische und biologische Normen aufgestellt werden. Diese Transformation der Diskurse und der institutionellen Beziehungen hat Foucault auch im Hinblick auf die moderne Psychiatrie untersucht. Für die Fragestellung der Studie wird jedoch dieser Aspekt nicht weiter auszuführen sein. Indem die Genese psychopathologischer Diskurse ausgeklammert wird, zielt die Analyse auf die Frage, wie das „deviante (abweichende) Monster […] [von] einer Schlüsselfigur in der wissenschaftlichen Normalität“315 zu einem Erklärungsprinzip jener Anomalien wurde, die sowohl normal als auch nichtnormal sein konnten. Letztlich geht es um die Frage, wo die Figur des Monsters in modernen Gesellschaften verortet werden kann. Zunächst ist festzuhalten, dass die wissenschaftlichen Praktiken der allmählichen Fragmentierung des Körpers das Charakteristische des Monsters von seiner äußerlichen Erscheinung in die vielfältigen inneren Pathologien und Anomalien verlagern. Wie ist dieser Prozess zu

311 Foucault, Michel: 2003, 46. 312 Foucault, Michel: 2003, 71. 313 Foucault, Michel: 2003, 72. 314 Foucault, Michel: 2003, 72. Foucault bezieht sich an dieser Stelle explizit auf Canguilhem. 315 Muhle, Maria: 2008, 194.

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analysieren, mit dem letztlich Anormalität und Normalität kaum mehr zu trennende Bereiche darstellen ?316 Die Wissenschaften beruhen auf historisch sich verändernden Unterteilungen von Wahrheit und Falschheit und sind ein „Bestandteil des regelgeleiteten Bereichs dieser wissenschaftlichen Diskurse“317. In dieser Bestimmung der wissenschaftlichen Aussagen sind die Objektbereiche, bezüglich derer Aussagen getroffen werden, an die Festlegung von Normen gebunden. Diese Festlegungen der diskursiven Unterscheidungen sind aber „weder stabil noch konstant oder absolut“318. Demnach gibt es auf der einen Seite Aussagen, die diesen Unterteilungen von wahren und falschen Aussagen unterliegen, und auf der anderen Seite eine Kategorie monströser Aussagen, die jenseits der Grenzen wahrer und falscher Aussagen zu situieren sind. Foucault bezeichnet diese monströsen Aussagen als eine „ganze Teratologie des Wissens“, die „mehr oder weniger bevölkert [ist] als man glaubt.“319 Wie Davidson im Anschluss an Foucault betont, sind diese Unterteilungen abhängig von historischen Veränderungen und lassen sich nicht innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses erklären. Um diese Veränderungen analysieren zu können, muss die Epistemologie als ein historisch perspektivierter Ansatz verstanden werden, denn Wissen ist – wie Davidson schreibt – eine Form der wissenschaftlichen Wahrheit und diese müsse „Gegenstand historischer Forschung“320 sein. Diese historischen Veränderungen werden von Foucault anhand von Gerichtsgutachten aus dem 18. und 19. Jahrhundert analysiert.321

316 Foucault, Michel: 2003, 144. 317 Davidson, Arnold I.: 2003, 201. 318 Foucault, Michel: 1997, 18. 319 Foucault, Michel: 1997, 24. 320 Davidson, Arnold I.: 2003, 202. 321 Zu Beginn der ersten Vorlesung zitiert Foucault sehr lange Passagen aus zwei psychiatrischen Gutachten zu Straftatbeständen aus den Jahren 1955 und 1974, die die ZuhörerInnen wohl zum Lachen gebracht haben müssen. Foucault beginnt seine Analyse damit, dass die Wahrheitsdiskurse eines Gerichtes, die „töten und zum Lachen bringen […], mitten in unseren Gerichtsinstitutionen sind“ und entsprechend Beachtung verdienen. Die Ausgangsfrage ist die nach der Funktionsweise der gerichtlichen Wahrheitsproduktion, die dann in ihrer historischen Dimension entfaltet wird. Vgl. Foucault, Michel: 2003, 20.

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Im 18. Jahrhundert waren die Bereiche der medizinischen und der juridischen Normalisierung noch voneinander getrennt. Im Hinblick auf die Praxis der Gerichtsgutachten war der Bereich der Medizin noch von dem des Rechts getrennt und die jeweiligen wissenschaftlichen Aussagen wurden je unterschiedlichen Instanzen und Interventionsfeldern zugeordnet. Das strafrechtliche Gutachten des 18. Jahrhunderts hatte die Frage zu klären, ob das Strafsubjekt zur Tat fähig war oder ob eventuell medizinische Krankheiten vorlagen. Es geht in diesem Typus von Gutachten um die Feststellung von Zuständen. Zwar wurde der Angeklagte auch hier genauestens untersucht, aber die medizinischen Aussagen hatten vor allem „das Vorleben anzugeben, das gewissermaßen noch diesseits des Bereichs der Straffälligkeit liegt“322. Foucault zeigt, wie die Verantwortlichkeit des Strafsubjektes hier noch in anderen Prozeduren erfasst wurde. In diesem Verfahren der Bestimmung seien ganz andere Funktionsweisen enthalten, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts auflösten und zu einer Verschiebung führten, mit der dann medizinische und rechtliche Interventionen gleichzeitig greifen konnten. Im medizinischen Gutachten des 18. Jahrhunderts wurde zwar die Frage geklärt, ob sich der Täter zum Zeitpunkt der Tat oder vorher im Zustand der Demenz bzw. des Wahnsinns befand. Das Individuum konnte jedoch nicht bestraft werden, wenn dieser Zustand festgestellt wurde. Damit sind hier noch zwei voneinander getrennte Bereiche des Rechts und der Medizin vorhanden, deren jeweilige Praktiken auf unterschiedlichen Wissensformationen beruhten. Die Praxis der Bestrafung wird noch in einem Entweder-oder-Modell vollzogen, das Foucault als eine Taxonomie des Verbrechens bezeichnet. Diese Taxonomie ist eine „dichotome Unterscheidung zwischen Krankheit und Verantwortung, zwischen pathologischer Kausalität und Freiheit des Rechtssubjektes“. Dieses „Prinzip der Drehtür“323 weist der Medizin einen anderen Objektbereich als dem Recht zu: „Wenn die Pathologie die Bühne betritt, muß die Kriminalität in Begriffen des Gesetzes abtreten.“324 Das gerichtsmedizinische Gutachten des 19. Jahrhunderts stellt demgegenüber eine Praxis der seriellen Rekonstruktion dar und erfordert sowohl medizinische als auch rechtliche Aussagen. Hier wird eine Entstehungsgeschichte des Verbrechens gezeichnet. In einer ganzen Serie von „Fehler[n] ohne Vergehen oder Mängel[n] ohne Gesetzesverstoß“

322 Foucault, Michel: 2003, 37. 323 Foucault, Michel: 2003, 47. 324 Foucault, Michel: 2003, 47.

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geht es darum nachzuweisen, „wie ähnlich das Individuum seinem Verbrechen bereits vor dessen Ausführung gewesen ist“. Foucault schreibt: „Die einfache, wiederholte Verwendung des Adverbs ‚bereits‘ in diesen Analysen ist an sich schon ein Verfahren, auf analogem Weg die gesamte Serie von Abweichungen im Zwischenbereich und von nicht illegalen Inkorrektheiten zusammenzutragen, um sie dem Verbrechen selbst ähnlich werden zu lassen. Die Serie der Fehler nachzeichnen, zeigen, wie das Individuum seinem Verbrechen glich und zugleich, mittels dieser Serie, auf eine Serie verweisen, die man als parapathologisch, einer Krankheit verwandt bezeichnen könnte, einer Krankheit freilich, die keine ist, da sie eine moralische Schwäche ist.“325

Das Individuum wird in dem Verfahren der seriellen Rekonstruktion zu einem Wissensobjekt. Das gerichtsmedizinische Gutachten stellt nun die geistigen oder auch physiologischen Anomalien fest, mit denen die Bereiche von Strafjustiz und Medizin verknüpft werden. Diese Praxis stelle, so Foucault, nicht einfach eine neue Verbindung zwischen medizinischem Wissen und juristischer Rechtsausübung dar, sondern an ihr lasse sich zeigen, wie im 19. Jahrhundert ein bestimmter Diskurs entstand, der zur Festlegung neuer Normen und neuer Objektbereiche führte. Diese Neuorganisation des Wissens sei eine neue Form des Willens zur Wahrheit, der sich nicht auf eine einzelne Institution bezieht.326 Wo es zunächst nur um die Klassifikation von Zuständen ging, konnten verschiedene Institutionen ihre Macht nur getrennt ausüben. Mit den Techniken der Normalisierung werden Reihen, Analogien und Serien von Abweichungen erfasst, mit denen die Trennungen institutioneller Machtausübungen aufgekündigt werden. Es entwickelt sich hier eine Praxis bzw. eine Technik der doppelten Bewertung. Das Verbrechen wird aus vielfältigen biografischen Daten und abweichenden Verhaltensweisen heraus erklärt und die Tat somit in eine zeitliche Ordnung gebracht. Aus den vielfältigen Phänomenen werden Gegenstände der Bestrafung zusammengetragen und in Serien rekonstruiert. Anomalien werden so zu Ursachen des Verbrechens, obwohl sie im eigentlichen Sinne keine strafrechtlichen Begriffe sind. Die einzelnen Aussagen werden um das Verbrechen herum angesiedelt und führen dazu, dass die medizinischen

325 Foucault, Michel: 2003, 38. 326 Vgl. Davidson, Arnold I.: 2003, 202.

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Begriffe in der Justiz als eine „Art medizinisch-rechtliches Kontinuum“327 greifen können. Stellten Abweichungen im 18. Jahrhundert noch einen von strafrechtlichen Praktiken getrennten Bereich dar, so wurden sie im 19. Jahrhundert in die strafrechtlichen Praktiken aufgenommen und zur Instanz medizinisch-rechtlicher Interventionen. Mit dem rechtlich-medizinischen Kontinuum wird das Verbrechen auf ganz andere Ebenen gehoben und diese Transformation führt ebenso zu neuen Fragestellungen: „Ist das Individuum gefährlich ? Ist es strafrechtlichen Sanktionen zugänglich ? Ist es heilbar und wiedereingliederbar?“328 Die institutionellen Einrichtungen reichen von nun an nicht mehr aus, um die Praktiken der Bestrafung durchzuführen. Es geht nicht mehr um die Verantwortung des Subjektes, sondern um die Frage, wie gefährlich das Individuum bereits ist: Das Problem der „Zuschreibung von Verantwortung“329 ist zu einem Problem der Technik der Normalisierung geworden. Inwieweit können die Anomalien des Verbrechers in Beziehung zu seiner Tat gesetzt werden ? Im Laufe des 19. Jahrhunderts werden sowohl im rechtlichen als auch im medizinischen Bereich neue Interventionsräume geschaffen. Aus dem Strafsubjekt des medizinischen Gutachtens wurde nun ein Wissensobjekt des rechtlich-medizinischen Gutachtens. Die wissenschaftlichen und disziplinären Bewertungen zielten zunächst auf die Feststellung der Anomalien. Daraus geht ein analytisch-dynamisches Verfahren der Bewertungen hervor, mit dem eine Kohärenz zwischen den körperlichen und psychischen Strukturen der Abweichungen hergestellt wurde. Wie Bublitz schreibt, wird mit der Leitdifferenz von Norm und Abweichung das „Feld der Abweichungen an einer – dynamisch-flexiblen – Norm“330 ausgerichtet. Die einzelnen Elemente sind an sich keine Ursachen für das Verbrechen, sondern müssen nun wissenschaftlich synthetisiert werden. Die Gutachten waren – wie Foucault anhand historischer Quellen zeigt – von Begriffen wie Infantilität, Hässlichkeit und Misserfolg geprägt. Sie sind entscheidende Fragmente der Erfassung serieller Phänomene. Die ganze Serie von Abweichungen wurde zusammengetragen, um sie dem Verbrechen „selbst ähnlich werden zu lassen“331. Durch die Rekonstruk-

327 Foucault, Michel: 2003, 48. 328 Foucault, Michel: 2003, 45. 329 Foucault, Michel: 2003, 45. 330 Bublitz, Hannelore: 2003, 152. 331 Foucault, Michel: 2003, 38.

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tion der einzelnen Elemente werden die Ursachen für das Verbrechen synthetisiert und medizinische Aussagesysteme geschaffen. Damit werden zum Beispiel in der Medizin Aussagen möglich, die weit über Fragen von Krankheit und Gesundheit hinausreichen und die zugleich von anderen Diskursen genutzt werden, um das Verbrechen in den Blick zu nehmen. „Denn schließlich ist die Serie der Beweis für ein Verhalten, eine Haltung, einen Charakter, die moralisch gesehen Mängel sind, ohne Krankheiten im pathologischen noch Vergehen im gesetzlichen Sinne zu sein.“332

Ohne Krankheit zu sein, eröffnet sich hier ein medizinisches Interventionsfeld. Die physiologischen und psychologischen Bestimmungen liefern für sich genommen keinen Beweis für ein Verbrechen und doch ergeben sich nun Möglichkeiten rechtlicher und medizinischer Interventionen. Dieses medizinisch-rechtliche Kontinuum führt zu einer neuen Organisation und zu einem Funktionswandel von wissenschaftlichen Aussagen, die sich im Kontext der historischen und politischen Zusammenhänge des 19. Jahrhunderts herausbilden. In diesem Feld werden für wissenschaftliche Aussagen weiterhin disziplinäre Regeln angewendet, jedoch werden die Objektbereiche erweitert. Diese Erweiterung führt zu neuen Festlegungen von Theorien bzw. Normen und eröffnet die Möglichkeit, wissenschaftliche Aussagen zu Gegenständen zu machen, die zuvor durch die disziplinären Grenzziehungen sehr viel enger gefasst waren. Diese Veränderungen in der Struktur des Wissens sind an die historischen Bedingungen gebunden: Die gerichtsmedizinischen Gutachten verwiesen laut Foucault auf neue, dringliche gesellschaftliche Fragen des 19. Jahrhunderts. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Institutionen, die sowohl rechtliche als auch medizinische Gegenstände in sich aufnahmen. Foucault hat dies am Beispiel der Psychiatrie deutlich gemacht. Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche psychiatrische Institutionen gegründet, die zur Ausweitung der Interventionsmöglichkeiten beitrugen. Während bei Foucault die rechtlichen und medizinischen Diskurse untersucht wurden, wäre zu fragen, inwieweit die ethnologischen und medizinischen Diskurse an der Konstitution neuer bzw. an der Verschiebung alter Objektbereiche beteiligt waren.

332 Foucault, Michel: 2003, 38.

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Den Prozess der Vervielfältigung der Interventionsmöglichkeiten bezeichnet Foucault als einen Übergang von der Souveränitätsmacht zur Macht über das Leben. Die souveräne Macht ist gekennzeichnet durch eine Macht über Leben und Tod. Dieser Typ der Machtausübung entspringt nicht der Willkür, vielmehr ist er an eine Funktionsweise von Macht gebunden, die ihren Anfang aufseiten des Todes nimmt. Foucault schreibt: „Die souveräne Macht auf das Leben ist erst von dem Moment an ausübbar, da der Souverän töten kann. Es ist letztlich das Recht zu töten, das tatsächlich die Essenz dieses Rechts auf Leben und Tod in sich trägt: Ab dem Moment, da der Souverän töten kann, übt er sein Recht auf das Leben aus.“333

Nur über den Tod kann der Souverän überhaupt seine Funktion der Machtausübung erhalten. Diese Machtausübung ist zuallererst über den Tod bestimmt. Das Leben steht damit in gewisser Weise außerhalb einer souveränen Macht. Am Übergang zum 19. Jahrhundert wird das binäre System von Leben und Tod, über die die souveräne Macht verfügt, aufgekündigt und es etabliert sich eine regulierende Technik der Normalisierung, die „eine Vereinnahmung des Lebens durch die Macht“334 ist. Die Biopolitik ist eine Form der Macht, die darauf zielt, zugunsten „des Lebens zu intervenieren und auf die Art des Lebens und das ‚Wie‘ des Lebens einzuwirken“335. Das Leben wird zum Gegenstand von Normalisierungspraktiken, die immer mehr in das Leben eingreifen. Diese Techniken der Macht kontrollieren auf neue Weise die Wahrscheinlichkeiten und vielfältigen Phänomen des Lebens, die zuvor aus dem „Bereich der politischen Macht herausfielen“.336 Während die souveräne Macht im Wesentlichen auf den individuellen Körper gerichtet war, wird der erste Machtzugriff auf den individuellen Körper um einen „zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend“337, erweitert. Seit dem 19. Jahrhundert zielen die Machttechniken auf den Körper ab, ein Zugriff, der aber nicht mehr (ausschließlich !) im Modus der Klassifizierung, sondern im globalen Zusammenhang mit dem Gesellschafts-

333 Foucault, Michel: 1999, 277. 334 Foucault, Michel: 1999, 276. 335 Foucault, Michel: 1999, 286. 336 Foucault, Michel: 1999, 277. 337 Foucault, Michel: 1999, 280.

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körper erfolgt. Wie Foucault ausführlich darstellt, löst die Biomacht die (ausschließliche !) Disziplinierung des Körpers ab. „Es geht absolut nicht darum, sich auf einen individuellen Körper zu richten, wie es die Disziplin tut. Das Individuum soll folglich keineswegs auf der Ebene des Details, vielmehr durch globale Mechanismen gepackt werden; man soll so handeln, daß globale Gleichgewichtszustände und Regelmäßigkeiten erzielt werden, kurz gesagt geht es also darum, das Leben und die biologischen Prozesse zu erfassen und nicht deren Disziplinierung, sondern deren Regulierung sicherzustellen.“338

Die Macht über das Leben besteht in einer räumlichen Ausweitung ihrer Funktionsweisen. In modernen Gesellschaften besteht eine ökonomische und politische Notwendigkeit der lückenlosen Erfassung des Lebens. Die Feststellung der Geburtenrate, der Sterblichkeitsrate, der Unfälle und die statistische Erfassung der Gesamtbevölkerung erfordern nun die Erfassung der Lebensdauer und die Analyse von Prozessen des Lebens. Zugleich wird der homogene Gesellschaftskörper gegen die ihn bedrohenden Gefahren abgesichert. Im Begriff der statistischen Erfassung des Lebens werden die Faktoren der Ausdehnung, der Dauer und der Intensität zusammengefasst. Die Macht des Souveräns zielte noch auf die Disziplinierung des individuellen Körpers, um die Regierbarkeit von Vielfalt maßgeblich über Bestrafung, Überwachung und Dressur des Körpers zu regeln. Die Biomacht stellt dem individuellen Körper einen Gesellschaftskörper gegenüber und es entsteht eine neues Konzept von Bevölkerung. Die Zufälligkeiten des Lebens sind als individuelle Phänomene unvorhersehbar und willkürlich, doch auf der Ebene des Gesellschaftskörpers werden sie als allgemeine Formen der Degeneration, der Minderwertigkeit oder der Schwäche zu einem kollektiven Phänomen. Als kollektive Phänomene weisen sie konstante Merkmale auf und stellen die Gründe dar, mit denen eine politische Macht in die Zufälligkeiten des Lebens eingreifen kann. „Es handelt sich um eine Technologie, die nicht durch individuelle Dressur, sondern durch globales Gleichgewicht auf etwas wie Homöostase zielt: auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren.“339

338 Foucault, Michel: 1999, 285. 339 Foucault, Michel: 1999, 288.

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Wie kann aber eine Macht, deren Funktion es ist, „das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen, Unfälle fernzuhalten“, zugleich auch eine Macht der Abwertung des Lebens sein ?340 Der Rassismus ist wie die Anormalität ein Mittel, um in den durch Normalisierungspraktiken konstituierten Bereich eine Zäsur einzuführen, denn die Funktion von Rassismus und Anormalität besteht darin, „zu fragmentieren und Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen“341. Mit der biopolitischen Normierung wird das Leben als biologisches Kontinuum gedacht. Um Gleichgewichtszustände erfassen und innere Gefahren, auf die die Interventionen der Macht ausgerichtet sind, beherrschen zu können, werden Zäsuren notwendig. An der Schnittstelle von regulierenden Technologien und fragmentierenden Strategien eröffnet sich ein Feld der Normalisierung, das von den Möglichkeiten der Klassifizierung, aber auch von Zwängen und Regulierungen bestimmt ist.342 Die Ausübung der Biomacht ist somit gebunden an eine fragmentierende Zäsur, mit der das biologische Kontinuum aufgebrochen und zugleich abgestützt wird. Die ebenso fragmentierende wie auch totalisierende Biopolitik bedient sich einer Kategorie des Anormalen, die eine konstitutive und legitimierende Funktion für die Ausübung der biopolitischen Normalisierungspraktiken erhält. Das biopolitische Kontinuum erfordert nun das Aufsuchen von Ursprüngen, Verfahren der Rekonstruktion und der seriellen Anordnung des Lebensbegriffes. In dieser Bestimmung von Biomacht zielt die Frage nach dem Ursprung auf das Thema der Vererbung, mit dem die Abweichungen und die Anomalien als Resultate einer Entwicklung aufgefasst werden. Zugleich zeigt sich in der Figur des Anormalen auch die Unmög-

340 Foucault, Michel: 1999, 294. Foucault entwickelt die Frage nach den historischen Konstellationen des Rassismus aus einer genealogischen Perspektive im Vorlesungszyklus In Verteidigung der Gesellschaft (orig. 1976) und die nach der diskursiven Herstellung der Anormalen in den Vorlesungen über Die Anormalen (orig. 1975). Die zeitliche Nähe beider Vorlesungszyklen zeigt, dass Foucault über die Anormalen zur Biopolitik kam und von dieser wieder zurück zu den Anormalen gelangte; zugleich wäre es sehr fruchtbar, die thematischen Verflechtungen beider Vorlesungszyklen zu untersuchen, auch wenn Foucault in Die Anormalen nicht explizit auf die biopolitische Normalisierung zu sprechen kommt. 341 Foucault, Michel: 1999, 295. 342 Vgl. Bublitz, Hannelore: 2003, 153.

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lichkeit der Korrektur. Muhle schreibt, dass „die Anomalien von einem medizinischen Paradigma, dessen Aufgabe die Heilung des Individuums ist, in ein biologisch-normatives Paradigma versetzt“ werden, das letztlich zu einem „sozialen Umgang mit Anomalien“343 führt. In diesem Zusammenhang betont Muhle im Anschluss an Foucault, dass an der Figur des Anormalen die Verteidigungsstrategien der Gesellschaft ansetzen. Das klassische Monster wird nicht innerhalb eines Wissensparadigmas situiert, sondern mit der Bestimmung seiner sozialen Verfasstheit wird das naturalisierte epistemologische Verständnis des Monsters kritisiert und die Funktionsweise von Anormalität auf soziale und politische Ebenen erweitert. So wird mit dem biologisch-normativen Paradigma der Anormalität das Dispositiv der Heilung aufgekündigt und die Interventionsfelder der Disziplinen erweitert. Mit dem biologischen Kontinuum ist es möglich, Aussagen, die zuvor nicht dem medizinischen Paradigma oder der disziplinären Normativität entsprachen, nun als wissenschaftlich zu betrachten. Angesichts dessen dürfen bei einer historischen Analyse der Bedeutungen des Monströsen nicht nur die Prozesse untersucht werden, in denen Monstrositäten klassifiziert und naturalisiert wurden, sondern auch diejenigen, bei denen im sozialen Umgang Anomalien zu Monstrositäten umgedeutet wurden. Die Bedeutungen einer somatischen und natürlichen Verkehrtheit des Monsters werden im 19. Jahrhundert in andere Bereiche verschoben.344 Wie Muhle feststellt, wird mit dieser biologischen Norm eine Beziehung zwischen der Figur des Anormalen und der sozialen Norm konstituiert.345 Im biologischen Kontinuum etabliert sich eine biopolitische Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen.346 Während im wissenschaftlichen Zugriff Monstrositäten naturalisiert, fragmentiert und normalisiert werden, entsteht im Umfeld der

343 Muhle, Maria: 2008, 217. 344 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 105. 345 Vgl. Muhle, Maria: 2008, 217. 346 Foucault zeigt im Hinblick auf den Rassismus, dass seine erste Funktion die Fragmentierung und seine zweite die Herstellung einer kriegerischen Beziehung im Inneren der Gesellschaft ist: „[J]e mehr du leben willst, muß der andere sterben“. Diese Funktionen werden weder vom Staat noch vom Rassismus selbst erfüllt, sondern begründen sich in einer „Beziehung biologischen Typs“, die letztlich auf einer allgemeinen Theorie der Degeneration beruht. Foucault schreibt dazu: „[J]e mehr anormale Individuen vernichtet werden, desto weniger Degenerierte gibt es.“ (Foucault, Michel: 1999, 296)

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Normalisierungsmacht zugleich eine Problematik der Anormalen, denn das Monster wird „das Modell aller kleinen Abweichungen“347. Damit verweist die Monstrosität auf ein konstitutives Verhältnis zwischen häufiger und beherrschbarer Anomalie und dem seltenen und unbeherrschbaren Monster. Diese Veränderung bezeichnet Davidson als Herausbildung eines neuen Denkstils, der im „neunzehnten Jahrhundert psychiatrische Aussagen über sexuelle Perversion ermöglichte, die vorher nicht im geringsten als wissenschaftlich angesehen wurden“348. Es gibt demnach eine Ausweitung der wissenschaftlichen Praktiken rund um die Anomalien. Auch am Beispiel der Medizin lässt sich diese Verschiebung der Objektbereiche konstatieren. Am deutlichsten wird dies in der Entwicklung und Bestimmung von Wissensobjekten, die auf einer räumlichen und zeitlichen Achse neu angeordnet und erweitert wurden. Zugleich führt diese Entwicklung zu einer Veränderung des medizinisch-therapeutischen Paradigmas, mit dem in der Medizin des 19. Jahrhunderts neue Handlungsmöglichkeiten für die Bestimmung und Untersuchung von Gegenständen geschaffen wurden. Beispielsweise ermöglichte diese Transformation Aussagen über weibliche Genitalien, die weder pathologische Züge aufwiesen noch therapeutische Maßnahmen erforderten, aber dennoch als monströs und andersartig bezeichnet wurden. Hiermit findet eine Verfremdung der disziplinären Normativität statt. Die medizinischen Wissenschaften nehmen sich zunehmend solcher Gegenstände an. Die Krankheiten, die Geburtenrate und die Feststellung der Fruchtbarkeit etablieren ein neues Wissenssystem; der weibliche Körper als Wissensgegenstand machte eine Neuorganisation von Institutionen und ganzen Wissensfeldern notwendig. Durch die Gründung der Gynäkologie, der Embryologie und der experimentellen Wissenschaften entstehen wissenschaftliche Praktiken, die sich speziell einer Biologie und Medizin des weiblichen Körpers widmen und auf die Verminderung des Leidens, die Verbesserung der Gesundheit und die Erweiterung therapeutischer Maßnahmen zielen. Diese Maßnahmen führen zu einer Senkung der Sterblichkeitsrate von Neugeborenen, verbesserten Heilungsmöglichkeiten bei Frauenkrankheiten und neuen Erkenntnissen der Funktionszusammenhänge von Krankheit und Gesundheit des weiblichen Körpers. Kurzum,

347 Foucault, Michel: 2003, 78. 348 Davidson, Arnold I.: 2003, 203.

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die technologischen und wissenschaftlichen Erneuerungen bewirken eine Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung. Dennoch wird in diesem Diskurs der allgemeinen Verbesserung des Lebens die Figur des Monsters immer wieder in den Blick genommen. Ob in Lombrosos kriminalanthropologischen Bestimmungen des weiblichen Verbrechers, den ethnologischen Untersuchungen nichtwestlicher Frauen oder in den von Medizinern verfassten Texten über das „Weib“, es tauchen immer wieder Begriffe wie „atavistische Monstrosität“ oder „monströse Genitalien“ auf. In welchem Zusammenhang stehen die zahlreichen anthropologischen und medizinischen Aussagen zum Monster mit den gesellschaftlichen Herausforderungen? Das biologische Kontinuum wird einem Prozess der Fragmentierung ausgesetzt, der sich auf die wissenschaftliche Bestimmung all der kleinen Anomalien und Unregelmäßigkeiten richtet und zur Entfaltung von wissenschaftlichen Theorien und Tatsachen über monströse Zustände führt. Fragmentierung und Rekonstruktion sind die wesentlichen Methoden für die Erfassung des biologischen Kontinuums, welches jedoch zugleich eine regulative Technologie des Eingreifens darstellt. Wieso konnten in medizinischen und anthropologischen Aussagen weiterhin wissenschaftliche Tatsachen über das Monster konfiguriert werden ? Es scheint, als würden die wissenschaftlichen Aussagen von den Momenten der Faszination überlagert. Aufgrund der Faszination am Außergewöhnlichen wäre es demnach unmöglich, wissenschaftliche Tatsachen zu konstruieren, und die Besprechung der Monstrositäten wäre dann nichts anderes als ein Scheitern der wissenschaftlichen Erfassung des Einzigartigen. Zugleich jedoch bediente man sich für wissenschaftliche Aussagen über den weiblichen Körper den humanwissenschaftlichen Prinzipien von Variabilität, Normalität und Anormalität. Die Aussagen wurden entlang des Kontinuums von Normalität und Abweichung entfaltet. Sie richteten sich nicht mehr nur auf die Klassifikation oder den Ausschluss, sondern wurden im Zusammenhang mit einem immer tiefer in den Körper eindringenden Blick formuliert. Alltägliche Anomalien und extreme Monstrositäten werden somit in ein Verhältnis der gegenseitigen Bedingtheit gebracht, an dem regulierende und normalisierende Praktiken greifen können. Denn in diesem Diskurs der Normalität werden rassistische Zäsuren und geschlechtsspezifische Aussagen zu Wissensordnungen geformt, die sich an einem medizinisch-ethnologischen Paradigma ausrichten, das den nichtkorrigierbaren Wilden und das pathologisch Weibliche miteinander verschränkt. Die politische Dimension des weiblichen Monsters entwickelt sich in Bezug auf die Matrix von Geschlecht, „Rasse“ und Körper. In dem sexualisierten Diskurs werden das Dynamische des biologischen Kontinuums und die

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Singularität des monströsen weiblichen Körpers für die soziale Definition der Geschlechterdifferenz festgestellt und in humanwissenschaftlichen Praktiken entfaltet sowie politisch reguliert und kontrolliert. Auch wenn Foucault sich nicht der Frage widmet, wie die Figur des Anormalen mit einem Denken über Geschlecht zusammenhängt, so betont er, dass diese oft lächerlich anmutenden Texte insofern eine weitreichende gesellschaftliche Wirkung entfalteten, als sie zu institutionellen Erweiterungen und zur Transformation disziplinärer Organisationsstrukturen der Gesellschaft führten. Die Verschiebungen des Monströsen seit dem 19. Jahrhundert finden in einem „durchgängigen Netz von Wissen“349 und kulturellen Normalisierungspraktiken statt. Die Verbindungen von Wissen und Macht, die die Figur des Monsters in seiner historisch spezifischen Bedeutung hervorbringen, zeugen von dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Anderen in kulturellen und sozialen Kontexten. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert zeichnet sich eine epistemologische Veränderung ab. Das Andere wird in den Zeichen der Degeneration bis in seine anatomischen und psychischen Strukturen hinein verfolgt und im Inneren der Gesellschaft als ein bedrohlicher Gegenstand konfiguriert. Die Funktionsweisen normalisierender Diskurse verändern sich nun dahin gehend, dass stetig versucht wird, anhand des Anderen Erkenntnisse über den normalen Körper zu gewinnen.350 Ist im 18. Jahrhundert das Monster noch in einer morphologischen Gesamtkonzeption als eine natürliche Übertretung der Norm präsent, wird dieser Bezugsrahmen immer enger gesetzt und die Beziehung zwischen Monster und Natur in die Bereiche der Familie, des Körpers und der Sexualität verlagert.351 „Auf diese Weise wird die Organisation der Anomalienkontrollen als Machtund Wissenstechnik des 19. Jahrhunderts die Instanzen des Wissens und der Macht, die im 18. Jahrhundert noch unkoordiniert funktionierten, organisieren, kodieren und zueinander ins Verhältnis setzen.“352

Die Reorganisation der Machtinstanzen und Wissensfelder eröffnete auch ein neues Vergleichsfeld, mittels dessen alle möglichen Abweichungen mit sexuellen Ursachen begründet und die Normalisierung vor allem in

349 Foucault, Michel: 2003; 83. 350 Vgl. Lemke, Thomas: 2008, 117. 351 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 81. 352 Foucault, Michel: 2003, 84.

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Bereichen der Sexualität praktiziert werden konnten.353 Wie Bublitz im Anschluss an Foucault betont, werden am „Ende des 19. Jahrhunderts […] alle möglichen Pathologien zurückgeführt auf diese sexuelle Ursache“354. Die Figur, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die pathologischen Diskurse bestimmte, ist „die des sexuellen Monsters.“ Die „Figur des monströsen Individuums [wird; Änd. d. Verf.] mit jener des sexuellen Abweichlers“355 verbunden. An der Spannungslinie von unkorrigierbarer Abweichung und regulatorischer Praxis entsteht damit ein Feld, in dem sowohl die extremen als auch die unauffälligen sexuellen Abweichungen aufgenommen werden. Das sich in dieser Praxis manifestierende Prinzip der Universalität der sexuellen Abweichung zielt auf eine „neue politische Anatomie des Körpers“, mit der die Sexualität zu einem Verbindungspunkt zwischen dem individuellen Körper und dem allgemeinem Bevölkerungskörper wird.356 Bis ins 18. Jahrhundert hinein unterlag das medizinische Wissen über die weiblichen Geschlechtsorgane nur einem allgemeinen Aussagesystem; Foucault konstatiert in diesem Zusammenhang, dass man bis ins 18. Jahrhundert hinein „von den Geschlechtsorganen der Frau [normalerweise] nicht sprechen konnte“357. Seit dem Ende des 19. und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts findet man sowohl in medizinischen als auch in anthropologischen bzw. kriminalanthropologischen Texten zahlreiche Abhandlungen über das Weibliche. Es handelt sich dabei um eine groteske Ansammlung von Bildern und Zeichnungen, auf denen gespreizte, anomale Genitalien neben geschlechtsunspezifischen Phänomenen abgebildet und weibliche Körperteile als anthropologische Objekte zur Schau gestellt und besprochen werden, um hierüber zum Wesen der Frau vorzudringen.358 Während man im 18. Jahrhundert in wissenschaftlichen Aussagen angesichts von Monstrositäten verstummen musste und die singulären Pathologien sowie die Einzigartigkeit der anatomischen Strukturen ein Moment des Scheiterns erzeugten, wurden diese Unregelmäßigkeiten nun zu Zeichen eines monströsen, rassifizierten Geschlechtskörpers. Hinter diesen

353 Vgl. Foucault, Michel: 2003, 75. 354 Bublitz, Hannelore: 2003, 156. 355 Foucault, Michel: 2003, 83. 356 Foucault, Michel: 2003, 258; ders.: 1999, 291 f. 357 Foucault, Michel: 2003, 97. 358 Vgl. Lombroso, Cesare/G. Ferrero: 1894; Ploss, Heinrich/Bartels, Paul: 1927.

204 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

Unregelmäßigkeiten, Zufällen und Abweichungen wird das Monster, das aus „Zufallsereignisse[n] einer biologischen Vielfalt“ entsteht, zu einem intelligiblen Prinzip für die Konstitution und Herstellung der Norm. In dem Feld des individuellen Körpers und des allgemeinen Bevölkerungskörpers werden nun regulierende und materialisierende Strategien der Normalisierung angewendet. Die Techniken der Normalisierung decken die gesamte Oberfläche „vom Körper zur Bevölkerung dank des doppelten Spiels der Disziplinartechnologien einerseits, der Regulierungstechnologien andererseits“359 ab. Das Monster ist daher nicht an den Zonen einer körperlichen oder geografischen Andersheit zu situieren. Das Feld der Anomalien sei – wie Foucault schreibt – von den beiden großen Subjekten durchzogen: dem der Ethnologie des 19. und dem der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts, „die über den Bereich der Anomalie wachen und noch nicht eingeschlafen sind“360. Diese beiden großen Monster stellen als die verbotenen Zonen des bürgerlichen Denkens die großen Figuren der Andersheit dar, die „seit dem 18. Jahrhundert durch unsere rechtlichpolitische Innenwelt festgelegt“361 sind. Im Kernbereich der Normalisierung wird das Feld der Anomalien von einem nach außen und einem nach innen gewendeten Blick begrenzt: dem ethnologischen und dem medizinisch-anthropologischen Blick. Im Feld der weiblichen Anomalien werden mit der Ethnologie die Zäsuren geschaffen, die die Koordinaten bereitstellen, hinter denen der monströse und rassifizierte Geschlechtskörper erscheint. Zugleich ergibt sich damit ein Differenzierungsraum von Geschlechternormen, die Ende des 19. Jahrhunderts nicht einfach nur festgestellt, sondern zugleich im Zusammenhang mit politischen Fragen reguliert, strukturiert und stetig erzeugt werden müssen. Auch im 19. Jahrhundert haftet dem Monster noch die Zweideutigkeit von Verfehlung und Andersartigkeit, Wissensgewinn und Wissensmangel, Abschreckung und Faszination an. Doch diese Zweideutigkeit des Monsters nimmt nicht mehr ihren Anfang in psychischen oder physischen Brüchen, sondern die Materialität der Figur des Anormalen ist das Resultat wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Praktiken der Normalisierung. Die biopolitische Normierung des Lebens erzeugt die kleinen Unregelmäßigkeiten, das fragmentierte Monster, zugleich aber erfordert dieser Prozess eine Zäsur, mit der die regulierenden Techniken ihre Legitima-

359 Foucault, Michel: 1999, 293. 360 Foucault, Michel: 2003, 142. 361 Foucault, Michel: 2003, 142.

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tion erhalten und ihre Interventionsmöglichkeiten entfalten können. Wie mit Foucault gezeigt wurde, konnte die Bedeutung der Zweideutigkeit des Monsters als radikale Ausnahme und Anomalie erst mittels einer Verknüpfung von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen hervorgebracht werden. An den Zonen der Beunruhigung, der Gefahr und am weiblichen Geschlecht werden die Ausweitungen der Interventionsmöglichkeiten und die räumlichen und zeitlichen Transformationen der Wissensobjekte begründet. Um dies in den Blick zu bekommen, ist eine Perspektive auf die Prozesse vonnöten, die in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts zur Zirkulation von Begriffen und damit zur Ausbildung wissenschaftlicher Netzwerke sowie disziplinärer Neuorganisationen des Wissens führen und zugleich die Organisationsstrukturen von Gesellschaft transformieren. Die verstreuten und unvollständigen Tatsachen des weiblichen Geschlechts werden zu einer vollständigen wissenschaftlichen Aussage über „das Weib“ entwickelt. Wie Katja Sabisch für die Venerologie des 19. Jahrhunderts schreibt, bedarf die „Entstehung und Entwicklung der wissenschaftlichen Tatsache ‚Weib‘ […] einer entschiedenen Interdisziplinarität.“362 Jedoch werden in diesem Kontext nicht nur Anthropologie, Anatomie und Physiologie zurate gezogen, sondern die disziplinären Aussagen der Ethnologie und der Rassenanthropologie, die im historischen Kontext gesellschaftlicher Praktiken der Normalisierung zu verorten sind, werden zu einer Theorie des allgemein Weiblichen verknüpft. Die wissenschaftlichen Codierungen der Monstrositäten stehen in einem engen Zusammenhang mit den sozialen und politischen Normalisierungspraktiken des 19. Jahrhunderts. Die Praktiken der Rekonstruktion und der Regulation auf der einen und der Fragmentierung und Zäsur auf der anderen Seite eröffnen eine Perspektive auf die politische Dimension des alltäglichen Monsters der Frau.363 Die Prozesse, mit denen die wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Codierungen des weiblichen Körpers und der „Rasse“ einen anthropologisch-geschlechtlichen Begriff der Monstrosität konstituierten, mit dem dann der rassifizierte, monströse Geschlechtskörper zu einem Ort wurde, auf den sich die kulturellen und politischen Diskurse über die soziale Stellung und die biologische Verfasstheit der Frau fokussierten, werden im folgenden

362 Sabisch, Katja: 2007b, 201. 363 Sabisch schreibt, dass das Weib „das alltägliche Monster der Venerologie“ sei (Sabisch, Katja: 2007b, 206).

206 | ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MONSTROSITÄTEN

Kapitel anhand von historischen Quellen aus Medizin, Anthropologie und Ethnologie untersucht.

3.8 ZWISCHENFAZIT Zusammenfassend lassen sich drei Punkte für eine Geschichte der Monstrositäten festhalten. (1) Monstrositäten wurden seit dem 18. Jahrhundert zu Objekten der Wissenschaften. (2) Sie wurden im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erfassung des Lebens und des Normalen zu besonders herausfordernden Objekten des Wissens. (3) Sie stellen an der Schnittstelle zwischen der wissenschaftlichen Erfassung des Lebens und dem Leben selbst auch die vom Diskurs nichterfassten Bereiche dar. Damit wurden Monstrositäten zu einer paradigmatischen Figur für die Instabilität des medizinisch-wissenschaftlichen Diskurses und zu einem wissenschaftlichen Gegenstand, an dem der Wille zum Wissen über das Normale stetig von der Abweichung angereizt wurde. Zugleich wurden auch die Bereiche, in denen wissenschaftliche Aussagen gemacht wurden, stetig erweitert und verschoben. Monstrositäten wurden somit fortwährend aus einer neuen einheitlichen Perspektive wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Aussagen in den Blick genommen. An ihnen wurden scheinbar heterogene Praktiken der wissenschaftlichen Erfassung in einem erweiterten Untersuchungsrahmen zusammengebracht. Damit wurde der Rahmen wissenschaftlicher Aussagen so flexibel, dass gesellschaftliche Vorstellungen in den wissenschaftlichen Diskurs integriert werden konnten. In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, wie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Monstrositäten zunehmend als Objekte des Wissens für ein Denken über die Ordnung der Natur Bedeutung erlangten. Monstrositäten wurden aber auch zu Objekten, an denen die Wissensproduktion angereizt und zugleich stetig neues Wissen für die Bestimmung des Normalen generiert wurde. Des Weiteren wurde deutlich, welche wissenschaftlichen Haltungen und Ansprüche am Begriff der Monstrosität festgemacht wurden. Als Gegenstand medizinisch-wissenschaftlicher Wissenspraktiken wurden Monstrositäten in ein Verhältnis zum Normalen gebracht. Zugleich stellten sie in einem Diskurs des Normalen und Pathologischen auch die von diesem Diskurs nicht erfassten Bereiche dar und wurden als eine produktive Störung von diesem Diskurs immer wieder in den Blick zu nehmen versucht. Die wissenschaftlichen Bestimmungen und Definitionen der Monstrosität konnten nicht vollständig im

Z WISCHENFAZIT

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Paradigma eines Kontinuums des Normalen und Pathologischen erfasst werden. Dass sich der Begriff der Monstrosität nicht vollständig den Regeln eines wissenschaftlichen Diskurses fügt, der das Pathologische im Zusammenhang mit der Normalität entwickelte, wurde mit Foucault gezeigt. Diese methodisch unerfassten Stellen sind nicht auf ihre epistemologisch-naturalisierte Funktion zu reduzieren, sondern fungieren auch als Intelligibilitätsprinzip für die Vorstellungen von Subjekten. Die stetige biopolitische Normalisierung schuf einen Interventionsraum zwischen dem allgemeinen, homogenen Gesellschafts- und dem individuellen, fragmentierten Körper. Insofern hatte die wissenschaftliche Verfasstheit der Monstrosität eine politische Dimension für gesellschaftliche Vorstellungen des Normalen. Da die wissenschaftlichen Praktiken die Interventions- und Erkenntnisräume unablässig weiter in den Körper hineinverlagerten, wurde auch das Monströse in immer kleineren Einzelmerkmalen gefunden. Zugleich haben sich die Felder seines Auftretens fortwährend ausgeweitet und vervielfältigt. Hier setzte ein Prozess der stetigen Abgrenzung und Fixierung des Normalen ein. Die häufige Abweichung und das seltene Monster konnten somit in ein konstitutives Verhältnis gesetzt werden, mittels dessen die vielfältigen Fragmente der Anomalien für die Erzeugung eines allgemeinen, homogenisierten Körpers des Normalen als Ganzes wieder zusammengefügt werden konnten. Der Raum zwischen dem normalen und dem individuellen Körper wird das Ziel neu entstehender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Praktiken, die – wie im folgenden vierten Kapitel erörtert wird – für die Erzeugung politisch-sozialer Normen von Geschlecht und „Rasse“ entscheidend waren. Wie anhand historischer Quellen gezeigt wird, werden am Monströsen vielfältige Kategorisierungen für die Produktion weiterer Differenzen festgemacht. Es wird diskutiert, wie die unterschiedlichen, auf den monströsen Geschlechtskörper abzielenden Normalisierungsstrategien gesellschaftlich wirksam wurden. Sie sind historisch-spezifische Weisen des Wissens, mit denen der Körper in seiner Materialität als Gegenstand wissenschaftlicher Interessen und gesellschaftlicher Strategien hervorgebracht wurde sowie Abweichungen bewertet und hierarchisiert werden konnten. Im Folgenden wird also gezeigt, wie mit wissenschaftlichen Praktiken die Monstrositäten in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht und „Rasse“ gebracht sowie für soziale und politische Fragestellungen der Geschlechternormalisierung gesellschaftlich verteidigt wurden.

4

Das monströse Geschlecht

„Wie bist du, Weib ? Welch große, geheimnisvolle Frage ! Wie und was bist du, du großes Rätsel des Lebens, du Sphinx, du seltsam verhülltes, dämonisches Geschöpf? Du, die du uns geboren, unsere Jugend gehütet, die du uns als Kinder geherzt und geküsst, als Jünglinge begeistert, als Männer entzückt und berauscht hast – wer bist du, Frau ?“1

4.1 M OMENTE DES VERSTUMMENS: UND DAS A USGESCHLOSSENE

DAS

M ONSTRÖSE

Wenn er vor laufender Kamera Mäusen den Kopf abbeißt und diesen dann herunterschluckt, dann will der amerikanische Künstler Joe Coleman uns mit seinen zeitgenössischen Inszenierungen daran erinnern, „dass wir stets von Angst umgeben sind und bleiben werden“2. Coleman versetzt die Zuschauer mit seinen Arbeiten und Videoinstallationen in Angst und Schrecken. Die Bilder ekeln uns an und doch schauen wir hin. Die im Stil der mittelalterlichen Ikonografie gestalteten Bilder verbinden Elemente der sakralen Malerei mit medialen Materialien von Massenmördern, Popikonen und Leichenteilen. Seine Bilder setzen sich aus zahllosen kleinen Geschichten, Schriftzügen und ineinander gesetzten Puzzleteilen zusammen. Coleman greift in seiner Kunst Figuren des Monsters auf. Im Jahre 2007 wurden die Arbeiten von Coleman erstmals in einer Einzelausstellung in den Berliner Kunstwerken der deutschen Öffent-

1

Bauer, Bernhard A.: 1929, 1.

2

Woodward, David: 2007, 26.

210 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

lichkeit vorgestellt.3 Die Ausstellung wurde auf drei Etagen angeordnet: Im unteren Bereich wurden die Bestände aus Colemans Privatsammlung von Materialien aus den Odditorien der Zirkus- und Freakkultur des 19. Jahrhunderts gezeigt. Seine Gemälde, die im mittleren Bereich gezeigt wurden, erinnern an Gestaltungsweisen des Mittelalters. Sie zeigen jedoch keine Heiligen, sondern die Massenmörder des 20. Jahrhunderts. In den Videoinstallationen im oberen Bereich wurden auf zahlreichen Bildschirmen Gewaltszenen der Filmgeschichte präsentiert, angereichert mit Ausschnitten aus seinen eigenen Freakshows. Die Figurationen des Monströsen spannen sich wie ein Netz über sein Werk, dessen Ziel es zu sein scheint, die von kultureller Normalität ausgeschlossenen Bereiche zu beleuchten. Colemans Arbeiten werden angetrieben von der Vision, „dem Unaussprechlichen Ansätze einer Sprache“4 zu verleihen. Seine Arbeiten zeigen Geschichten des Scheiterns: Mit einem detailverliebten Gestus porträtiert Coleman die Gesichter von Massenmördern, stellt in abgedunkelten Räumen Szenen von Vergewaltigungen nach oder präsentiert die in Gläsern konservierten Feuchtpräparate körperlicher Fehlbildungen. In seinen Werken werden die imaginären Vorstellungsbilder des Anderen in der faktischen Realität des Körpers aufgelöst und zum Schluss vereinen sich Realität und Imagination zu einem konturlosen Gemenge aus Fantasie und Faktizität. Coleman lockt den Betrachter in die Zonen des Verdrängten, setzt ihn einer verstörenden Erfahrung mit dem Monströsen aus. Seine Kunst bedient sich all der Facetten monströser Phänomene des 19. und 20. Jahrhunderts – von den Kuriositätenkabinetten bis zum Massenmörder – und konfrontiert das amerikanische Ideal des Strebens nach Glück und Reichtum mit den Ängsten, die es auszuschließen sucht. Die künstlerischen Inszenierungen leuchten in einer virtuosen Suche jede Ecke des kulturell Abseitigen aus. Coleman malt Mörder, als wären sie Heilige, und die blutenden Körper der Popikonen zeigen ihre Verletzbarkeit. Im Angesicht dessen, was aus der „offiziellen Geschichtsschreibung“5 ausgeschlossen wird, lenkt er den erstarrten Blick des Betrachters auf die stummen Unfallopfer, auf die grauenhaften Fratzen westlicher Schönheitsideale und auf die Signaturen kannibalischer Verbrechen. Er bezieht den

3

Im Ausstellungskatalog sind verschiedene Aufsätze zusammengestellt worden, die sich mit dem Werk von Coleman auseinandersetzen (vgl. Pfeffer, Susanne: 2007).

4

Woodward, David: 2007, 26.

5

Müller, Markus: 2007, 67.

M OMENTE

DES

V ERSTUMMENS

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Betrachter in die Geschichten des kulturell Verdrängten und Abseitigen mit ein und wirft ihn im Angesicht all dieser Erfahrungen auf sich selbst zurück.6 Das Monströse wird bei Coleman zum ästhetischen Scharnier einer empathischen Beziehung, die der Zuschauer mit dem Abseitigen und Verdrängten der Geschichte im Anblick seiner Werke einzugehen hat. Das Deviante, das Abseitige und Verdrängte scheinen hier die unsichtbaren Bereiche und zugleich die konstitutiven Strukturen menschlicher Erfahrungen zu sein. Das Monströse, so stellt Zürcher fest, sei etwas Unaussprechliches, über das nicht geschwiegen werden könne: Der Begriff des Monströsen sei „konturlos verflüssigt“7. Obwohl sich mit ihm Momente des Verstummens und der Sprachlosigkeit verbinden, kann doch über das Monströse nicht geschwiegen werden. Während bei Coleman die unsichtbar gemachten Bereiche kultureller Normierungen aufgezeigt werden, wurden im 19. Jahrhundert wissenschaftliche Begriffsbildungen des Monsters unter Berufung auf das Natürliche, auf den Körper und auf das Leben hervorgebracht. Als wissenschaftliches Objekt muss das Monströse zur Sprache gebracht werden, nicht als einfache Abweichung, sondern als radikale Differenz zum Eigenen und Normalen. Monstrositäten entstehen im Zentrum historischer Normalisierungsprozesse und sichern die Geltungsbereiche des Normalen an den äußeren Rändern diskursiver Formationen ab. Doch diese Differenz ist in den Wissenschaften vom Leben im Laufe des 19. Jahrhunderts brüchig geworden. Das Monströse markiert nicht nur die flexiblen Differenzen disziplinärer Normierungen, sondern problematisiert die Grenzziehungen wissenschaftlicher Ordnungen überhaupt.8 Es hat den Anschein, als habe der wissenschaftliche Fortschritt das Wesentliche der Krankheit eliminiert, ihre Einzigartigkeit und Besonderheit gelöscht. In einem wissenschaftlichen Diskurs der Identität der normalen und pathologischen Phänomene des Lebens hätte dann das Monströse keinen Platz mehr und würde in den wissenschaftlichen Analysen des Vergleichs zum Normalen allmählich aufgelöst werden. Monstrositäten werden jedoch weiterhin als Gegenstände

6

Müller schreibt im Ausstellungskatalog, in der Kunst von Colemann werde „das Abseitige ausgestellt, die Verdrängten und Vergessenen von Smith und Warhol, die Zeitzeugen einer anderen Geschichte, treffen sich wieder und werden zum Spiegel unserer selbst“ (Müller, Markus: 2007, 68).

7

Zürcher, Urs: 2004, 9.

8

Vgl. hierzu Abschnitt 3.5.1 Normalität als diskursives Ereignis.

212 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

identifiziert und unterliegen als Objekte des Wissens einem Prozess der diskursiven Produktivität von Differenzen, die stetig stabilisiert und destabilisiert werden.9 Wie lassen sich die Momente einer wissenschaftlichen und sprachlichen Verfasstheit des Monströsen analysieren, wenn diese Momente in den Prozess der Wissensproduktion unweigerlich mit eingeschrieben sind ? Es scheint ein befremdliches Faktum zu sein, betont Gunnar Schmidt, dass die Medizin des 19. Jahrhunderts in ihrem rationalistischen Programm der Aufklärung „noch dem Term des Monsters und der Monstrosität verhaftet geblieben ist, einem sprachlichen Relikt aus einer Zeit, in der die Wunderwesen Ahnungen von Schrecken und Überweltlichkeit gaben“10. Wie zahlreiche Publikationen des 19. Jahrhunderts zeigen, wird weiterhin an wissenschaftlichen Begriffsbildungen der Monstrosität festgehalten.11 Diese Prozesse führen im 19. Jahrhundert zu neuen bildlichen Figurationen des Anderen, zu Vorstellungsbildern des anderen Körpers und des Geschlechts, in denen wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Codierungen des Monströsen erzeugt werden. Wozu also braucht die Medizin des 19. Jahrhunderts den Begriff der Monstrositäten ? Was

9

Christine Hanke hat an historischen Quellen der Anthropologie und Medizin des 19. Jahrhunderts die ‚Vernaturwissenschaftlichung‘ von Rassekonzepten untersucht. Mittels einer umfangreichen Auswertung des historischen Materials anthropologischer Gesellschaften hat Hanke die Verfahren der Vermessung und der exakten Beschreibung physischer Körper untersucht, mit denen am Ende des 19. Jahrhunderts neue Bedingungen von Wissen geschaffen wurden und ihren Niederschlag in einer forschungsgeleiteten Praxis fanden. Dieser ‚positivistische Schub‘ hat gleichzeitig zur Bildung von zahlreichen institutionellen und disziplinären Neugründungen geführt. Hanke betont, dass die wissenschaftlichen Bestimmungen, mit denen die Kategorisierungen von „Rasse“ abgesichert wurden, zugleich auch immer wieder einen Mangel erzeugten. Im Spannungsfeld von Wissensmangel und Wissensanreicherung etablierte sich so ein unabgeschlossener und instabiler Prozess, der dazu diente, immer wieder neue Anreize für weitere Vermessungen zu schaffen (vgl. Hanke, Christine: 2000, 190).

10

Schmidt, Gunnar: 2001, 81.

11

Im Abschnitt 4.3 Sara Baartman als die ‚Venus der Hottentotten‘ wird diese Literatur vorgestellt. In diesem Zusammenhang werden anhand aktueller Arbeiten die Möglichkeiten und Herausforderungen historischer Analysen erörtert.

MOMENTE

DES

VERSTUMMENS

| 213

soll mit dem „Zeigen und Besprechen der Monster de-monstriert werden ?“12 Schmidt bezeichnet diese Demonstrationen und wissenschaftlichen Figurationen des Anderen als einen verzweifelten Kampf gegen das Nichtwissen, als einen hilflosen Versuch der wissenschaftlichen Kategorisierung und Aneignung des Unbestimmten und Uneindeutigen. Die Wissenschaftler des 19. Jahrhundert – so betont Schmidt – scheinen über eine „bloße Beschreibung ihrer Objekte nicht“13 hinauszukommen. Der Versuch der wissenschaftlichen Systematisierung wird von den Einzelfällen immer wieder unterlaufen. Im 19. Jahrhundert wurde das Wissensparadigma der Sammlung und Klassifikation aufgekündigt. Der wissenschaftliche Zugriff auf die Objekte des Wissens erfolgte nun in einem Diskurs zeitlicher und räumlicher Bestimmungen. Damit wurden auch die Objekte in eine zeitliche Anordnung gebracht. Diese Ordnung kündigte die substanzielle Bestimmung monströser Objekte auf. Dennoch wurde das Monströse nicht vollständig im Begriff der zeitlichen Anordnung gefasst und blieb somit einem Substanzbegriff verhaftet. Auch im 19. Jahrhundert noch werden Monstrositäten klassifiziert und systematisiert, weil sie nach wie vor etwas Neues und wissenschaftlich Nichterfasstes darstellen. Insofern werden in den Prozess der wissenschaftlichen Bestimmung auch Momente des Scheiterns aufgenommen. Monstrositäten sind deshalb monströs, weil sie die Bereiche des Nochnicht-Gewussten, des Noch-nicht-Antizipierten und des Nichtbeherrschbaren darstellen. Diese Momente können zwar als ein von Monstrositäten provozierter Ordnungsbruch aufgefasst werden, aber zugleich sind sie auch das Resultat wissenschaftlicher Bestimmungen und Festlegungen. Das Monströse stützt die wissenschaftlichen Ordnungsgefüge ab, indem man an ihnen die Differenzen konstruiert, auf die man sich bezieht. Es hat den Anschein, als würden mit dem Monströsen die wissenschaftlich nichterfassten Bereiche verbunden sein, die jedoch zugleich konstitutiv für eine wissenschaftliche Rede über Anomalien und Abweichungen sind. Über die Abweichungen wird Normalität nicht nur festgestellt, sondern auch reguliert. In der Medizin müssen die Einzelfälle zu Fällen der Überprüfbarkeit werden, die zu vermessen, darzustellen und in ein System des Wissens über Prozesse des Lebens zu überführen sind. „Wissenschaft beginnt dann“, schreibt Schumacher, „wenn Befunde systematisch gesammelt,

12

Schmidt, Gunnar: 2001, 81; Hervorh. im Orig.

13

Schmidt, Gunnar: 2001, 81.

214 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

nach festen Kriterien geordnet und zur Nachnutzung durch andere dokumentiert werden.“14 Es müssen Feststellungen erhoben und genaue Aussagen über Lage und Genese sowie über den Fortgang körperlicher Entwicklungsprozesse und über mögliche Fehlentwicklungen gemacht werden. Erst die wissenschaftliche Analyse habe, so Schumacher, zu einer befriedigenden Erklärung von Fehlbildungen geführt. Schumacher vertritt somit eine Auffassung, die „in der Verwissenschaftlichung der Phänomene ein Allheilmittel“15 sieht. Denn trotz verbesserter Methoden für die Analyse von Lebensprozessen wurden – wie Hagner betont – auch weiterhin „zum Teil im Namen der Wissenschaft die Attribute des Monströsen neu formatiert“16. Die monströsen Phänomene des Lebens werden immer besser beschrieben, wissenschaftlich abgebildet und ihre Ursachen erforscht. In den wissenschaftlichen Praktiken werden die zeitlichen Punkte der (Fehl-)Entwicklung der Phänomene des Lebens bestimmt; sie werden immer weiter in den Körper hinein verlagert und auf die einzelnen Segmente der körperlichen Regionen verteilt. Wie mit Foucault ausgeführt wurde, löst sich in dieser Bestimmung die Figur des großen Monsters in die kleinen Anomalien auf. Die Abweichungen besetzen – wie Foucault schreibt – somit auch die vertrauten Objekte: Das Monströse diffundiert in die kleinen Bereiche körperlicher Abweichungen und wird in die Scharen kleiner Anomalien zerteilt.17 Monstrositäten bergen nicht nur ein epistemisches Potenzial – wie Zürcher schreibt –, sondern sie erhalten im 19. Jahrhundert auch eine narrative Funktion für ein „gigantisches Differenzierungsprojekt der Moderne“18. Die Verwerfungen, die Neubestimmungen und klassifikatorischen Zuordnungsversuche sind nicht nur auf die Versuche der wissenschaftlichen Bestimmung des Anormalen und des Normalen zu reduzieren. Die Bedeutungen von Monstrositäten sind vielmehr in einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu bringen, in dem sie – ob nun als Schauobjekt oder als Objekt des Wissens – die kulturelle Normalität bestätigen

14

Schumacher, Gert-Horst: 1996, 129.

15

Hagner, Michael: 2005a, 9.

16

Hagner, Michael: 2005a, 11.

17

Vgl. Foucault, Michel: 2003, 143. Bei Foucault geht es hauptsächlich um eine Theorie des Triebes als Problem der Psychiatrie. Der Übergang vom „großen Monster zum kleinen Perversen“ konnte sich nur „dank der Anwendung und Funktionalisierung des Triebes im Wissen“ vollziehen (ebd., 174).

18

Zürcher, Urs: 2004, 13.

MOMENTE

DES

VERSTUMMENS

| 215

und verfestigen. In wissenschaftlicher Hinsicht werden Monstrositäten zu Resultaten körperlicher Fehlentwicklungen und geraten in eine gefährliche Nähe zum Normalen. Im wissenschaftlichen Diskurs des Lebens werden sie so zu Zonen der Beunruhigung. Das Unbestimmte und das Beunruhigende des Monströsen werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur „Chiffre der Bedrohung für die Gesellschaft“19. Damit wird die Monstrosität nicht einfach nur in die natürliche Ordnung des Lebens integriert, sondern sie wird zu einer Zone der Beunruhigung und der Bedrohung im Inneren der Gesellschaft. Die wissenschaftlichen Figurationen des Monströsen werden von einem Objekt des Wissens zu Metaphern des Anderen, des Fremden und des Wilden; im Zuge dessen werden sie mit gefährlicher Sexualität oder moralischen Entgleisungen assoziiert. Wie Sarasin im Hinblick auf den sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Hygienediskurs schreibt, sei damit zwar zweifelsfrei eine Verbesserung der Lebensbedingungen verbunden gewesen, dennoch seien im Kontext humanwissenschaftlicher Praktiken auch Vorstellungsbilder des Körpers entstanden, mit denen neue Ausschlüsse erzeugt wurden. Die historischen Entwicklungen sind nicht „frei von jenen Brüchen, Differenzen und Ausschließungen, die die Klasse, das Geschlecht und die ‚Rasse‘ in das Bild des modernen Körpers einschreiben“20. Physiologie und Anatomie sind demnach eng verbunden mit der Produktion kultureller Differenzen und sind Teil von Visualisierungs- und Naturalisierungsstrategien des Anderen. Was beanspruchten die im Diskurs der Rationalisierung und Naturalisierung zu verortenden wissenschaftlichen Besprechungen über Monstrositäten ? Monstrositäten dienen nicht nur der Erfassung des Normalen, sondern sie erhalten eine konstitutive Funktion für wissenschaftliche und kulturelle Regulierungen von Abweichungen. Sie dienen der wissenschaftlichen Produktion und der kulturellen Repräsentation von Körperbildern, durch die das Monströse in der Medizin und im Sozialen zur Sprache gebracht wird. Im 19. Jahrhundert wird – wie Bublitz betont – auch der geschlechtliche Mensch „auf der Basis humanwissenschaftlicher Methoden und Instrumente ‚entworfen‘“21. Daraus ergibt sich die Frage, wie und ob die bildlichen Figurationen und die wissenschaftlichen Definitionen des Monströsen auch ein Denken über das Geschlecht, die Sexualität und das Weibliche hervorbringen. Monster wären dann extre-

19

Hagner, Michael: 2005a, 19.

20

Sarasin, Philipp: 2001, 25.

21

Bublitz, Hannelore: 2000, 26.

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me Abweichungen, die Teil der Erzeugung eines spezifischen Geschlechterwissens sind. Sie stellen nicht nur ein widernatürliches Phänomen dar, sondern an ihnen wird auch ein wissenschaftliches Instrumentarium entworfen, das in sozialen und politischen Argumentationsweisen wieder aufgenommen wird und der Feststellung und Regulierung von Geschlechternormen dient. In diesem Kapitel wird das historische Material auf die Strukturierung und Präsentation von Wissen hin analysiert. Dabei geht es nicht darum, die wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen zu kritisieren, sondern es wird darauf gezielt, die Verfahren der Beschreibung und der Begriffsbildung zu rekonstruieren. Monstrositäten stellen nicht die ausgeschlossenen Bereiche wissenschaftlicher Bestimmungen dar, sondern sie sind auf ihre konstitutive Funktion für die Zonen des Ausgeschlossenen und des Eingeschlossenen hin zu untersuchen. Die wissenschaftlichen Konfigurationen des Monströsen werden entlang der historischen Konzepte des Körpers, der „Rasse“ und des Weiblichen analysiert, mit denen ein spezifisches Wissen über Geschlecht, Pathologie und das Sexuelle verteidigt wurde. Die Unregelmäßigkeiten und kleinen Anomalien wurden in einem Diskurs von „Rasse“ und Geschlecht aufgenommen. Im Folgenden wird im Hinblick auf diese Entwicklung die These erörtert, dass in den Texten – auch wenn die Aussagen mitunter nicht dem disziplinären Standard entsprachen bzw. nur kurzzeitig die Ansprüche von Wissenschaftlichkeit erfüllten – mehr ausgesagt wurde, als wissenschaftlich feststellbar war. Die wissenschaftlichen Aussagen sind aus heutiger Perspektive nicht in einem Raster von Wahrheit und Falschheit, sondern in ihrer Funktion als konstitutiver Bestandteil von historischen Wissensordnungen zu analysieren.22 Während am Ende des 18. Jahrhunderts die

22

Sarasin betont, dass historische Texte diskursanalytisch zu interpretieren sind. Er unterstreicht, dass Foucaults Texte auch unabhängig davon zu lesen sind, „ob seine historische Darstellung jeweils ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist, das erst ermöglicht die Frage nach den theoretischen Implikationen bestimmter historischer Thesen“ (Sarasin, Philipp: 2002, 196). Hans-Ulrich Wehler hat in seinen polemischen Ausführungen gegen Foucault demgegenüber betont, dass den Texten Foucaults die historische Genauigkeit fehle. Wehler schreibt: „Die Grenzen und Unzulänglichkeiten der historischen Analyse Foucaults treten sofort hervor, wo immer sie kontrollierbar sind“ (Wehler, Hans-Ulrich: 1996, 45). Wehler gelingt es mit dieser Kritik allerdings nicht, die theoretischen Implikationen von Foucaults historiografischer Diskurs-

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Bedeutungsfelder des Monströsen noch die ausgeschlossenen Bereiche disziplinärer Normativität darstellen, ist am Ende des 19. Jahrhunderts der weibliche Geschlechtskörper zugleich der Ort und das Rätsel, an dem sich die wissenschaftlichen Aussagen über Anomalien und das Monströse verdichten. Eben an diesem Ort lassen sich die materialisierenden und biologisierenden Effekte von Diskursen auf das Geschlecht beobachten. Am Beispiel von zwei Fallbesprechungen, die sich in zwei, 1870 bzw. 1873 gehaltenen Vorträgen des Mediziners Rudolf Virchow finden, wird im Abschnitt 4.2 zunächst gezeigt, wie in wissenschaftlichen Texten des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Verfahrensweisen für die Begriffsbildung des Monströsen genutzt werden. Im ersten Fall werden weibliche Zwillinge und im zweiten Fall männliche Zwillinge untersucht, die jeweils miteinander verwachsen sind. Virchow, der in beiden Fällen die Ergebnisse seiner Untersuchungen einem wissenschaftlichen Publikum vorträgt, bedient sich jeweils unterschiedlicher Argumentationsweisen für Begriffsbildungen von Monstrositäten: Dem einen Fall nähert er sich mit den Parametern von Geschlecht und weiblicher Anatomie, in dem anderen Fall hingegen werden Alter und Gesundheit genutzt. Im Abschnitt 4.3 werden dann am Beispiel von Sara Baartman die historischen Konstellationen von Geschlecht und Monstrosität untersucht und es wird gezeigt, dass die Prozesse der Wissensbildung vom Spektakulären ausgehen, um Aussagen über die Normalität formulieren zu können. Dabei wird dann auch sichtbar, dass diese Prozesse ein zentraler Bestandteil normalisierender Strategien von Geschlecht sind.23

4.2 PLAUDEREIEN MIT M ONSTROSITÄTEN: R UDOLF VIRCHOW Virchow war einer der bedeutendsten Mediziner und Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. In seiner Abhandlung Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin greift er die Kluft zwischen praktischer und wissenschaftlicher Medizin auf. Die Medizin habe, so das Postulat Virchows, über empirische Einzeluntersuchungen hinauszugehen und

analyse in den Blick zu bekommen. Immerhin hat er mit seinem Aufsatz aber die Debatte über die Grenzen der traditionellen Geschichtsschreibung in Deutschland in Gang gebracht (vgl. Brieler, Ulrich: 1998). 23

Vgl. Pethes, Nicolas: 2007, 178.

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sich als Wissenschaft über einen „rohen Empirismus“ hinwegzusetzen. Virchow fordert eine wissenschaftliche Fundierung der Medizin, denn man dürfe nicht aus „einzelnen Detailuntersuchungen willkürlich allgemeine Schlüsse“24 ziehen. Die Medizin stelle zwar aus klinischer Perspektive immer eine Summierung einzelner Ergebnisse dar, die dann in Erfahrungen zusammengefasst werden, aber als wissenschaftliche Grundlage brauche sie wissenschaftliche Systeme. Ausgangspunkt der praktischen Medizin sei die Therapie, denn „Mediciner kann nur derjenige genannt werden, der als den letzten Zweck seines Strebens das Heilen betrachtet“25. Die Medizin müsse sich von anderen Formen des Heilens absetzen, die nicht wissenschaftlich fundiert werden können. Schließlich habe sich die wissenschaftliche Medizin über Scharlatanerie hinwegzusetzen und sich als rationale, objektive und naturwissenschaftliche Disziplin über traditionelle Formen des Heilens zu stellen. Die Grundlage einer praktischen Medizin sei immer die „wissenschaftliche Medicin selbst“26. Zur Zeit Virchows hat sich die Medizin längst als Wissenschaft etabliert. Aber auch Mitte des 19. Jahrhunderts klafft noch ein Spalt zwischen der praktischen Erfahrung und der wissenschaftlichen Disziplin. Diese Kluft – fordert Virchow – müsse geschlossen werden, damit der Praktiker „weder mit dem Schlendrian, noch mit dem Zufall Götzendienerei treibt“27. Wie Claude Bernard schreibt, müsse die Medizin, damit sie den „Namen einer Wissenschaft verdient“, auf die „Kenntnis der Gesetze gegründet sein, welche die vitalen Funktionen im inneren Milieu des Organismus beherrschen, sei es im Zustand der Gesundheit oder der Krankheit.“28 Die Unregelmäßigkeiten, Zufälle und Unbestimmtheiten sollten von der wissenschaftlichen Medizin in ein System der Funktionszusammenhänge aufgenommen und in ein analytisches Verhältnis eingebettet werden, um wissenschaftliche Aussagen über sie machen zu können. Virchow betont, dass die Medizin des 19. Jahrhunderts erkannt habe, „daß Krankheiten nichts für sich Bestehendes, in sich Abgeschlossenes, keine autonomischen Organismen, keine in den Körper eingedrun-

24

Virchow, Rudolf: 1847, 9.

25

Virchow, Rudolf: 1847, 3.

26

Virchow, Rudolf: 1847, 4.

27

Virchow, Rudolf: 1847, 4.

28

Bernard, Claude: 1865, 276.

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genen Wesen, noch auf ihm wurzelnde Parasiten sind, sondern daß sie nur den Ablauf der Lebenserscheinungen unter veränderten Bedingungen darstellen“29. Da das Akzidentielle der Krankheit aufgekündigt wird, kann diese in den Kenntnisprozess der normalen Lebensbedingungen und -prozesse eingebettet werden. Virchow vertritt wie Bernard die Auffassung, dass Krankheiten „im Grunde genommen nur physiologische Probleme unter neuen Bedingungen, die es zu determinieren gilt“30, sind. Für die wissenschaftliche Medizin fordert Virchow, dass sie auch das Einzigartige und Seltene unter allgemeine Gesetze stelle. Die „wissenschaftliche Medicin“ solle sich, so Virchow, auf die „Erforschung der veränderten Bedingungen“ von Krankheiten und auf die „Feststellung der Abweichung“31 konzentrieren. Im Hinblick auf diese Ausführungen lässt sich fragen, welches Ziel Virchow mit der Untersuchung von siamesischen Zwillingen verfolgt. Sein Blick ist der eines Klinikers und Wissenschaftlers, der das Einzigartige ins Allgemeine zu übersetzen versucht.32 Bei der Untersuchung der siamesischen Zwillinge bedient er sich eines quantifizierenden Verfahrens, das auf allgemeine Aussagen abzielt. Auch wenn hierin Momente des Scheiterns enthalten sind, weil eine Sicherheit der Aussagen nicht erreicht werden kann, wird von Virchow der Versuch unternommen, allgemeine Erklärungen für den individuellen Fall anzubieten. Der Blick auf den Fall ist jedoch durchsetzt von einem beziehungslosen Nebeneinander der Tatsachen, das von der Üppigkeit und Unvorhersehbarkeit des Lebens durchwoben ist. Das, was über den Fall auszusagen ist, übersteigt die wissenschaftliche Fassbarkeit und wird in je unterschiedlichen Richtun-

29

Virchow, Rudolf: 1847, 3.

30

Bernard, Claude: 1847, 276.

31

Virchow, Rudolf: 1847, 4.

32

Wie Pethes schreibt, wurden die Versuche, Aussagen über das Leben und den Menschen wissenschaftlich zu fassen, auch im 19. Jahrhundert durchaus kritisch gesehen. Auch Virchow habe – wie Pethes erörtert – dem Versuch, die „Beobachtungen in der Medizin zu verallgemeinern, das ‚Spezifische‘ jedes einzelnen Organismus“ entgegengehalten. Pethes betont jedoch, dass diese Kritik „auf vitalistischen Überzeugungen, die das 19. Jahrhundert nach wie vor dominieren und die Abstraktion experimenteller Beobachtungen als unangemessen für die Abbildung der Dynamik des Lebens erachten“, fußt (Pethes, Nicolas: 2007, 176). Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Rudolf Virchow Specifiker und Specifisches aus dem Jahre 1854.

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gen wieder einzuholen versucht. Insofern sind nicht nur die Verfahrensweisen der Übersetzung vom Individuellen ins Allgemeine, sondern auch die Prozesse zu untersuchen, mit denen das beziehungslose Nebeneinander der Tatsachen zu einer wissenschaftlichen Aussage geformt wird, die eine Rekonstruktion des Falls ermöglicht. Virchow pflegte einen engen Kontakt zum Showbusiness.33 In akademischen Kreisen des 19. Jahrhunderts war es üblich, sich den einzigartigen ‚Ausstellungsobjekten‘ anzunehmen und ihre außergewöhnlichen Körper einem wissenschaftlichen Publikum zu präsentierten. Sie wurden untersucht, vermessen und besprochen und die Ergebnisse der Untersuchungen in zahlreichen Fachzeitschriften publiziert. In den wissenschaftlichen Debatten der Teratologie, Ethnologie und Anthropologie wurden die populärwissenschaftlichen Bezeichnungen der Freaks wieder aufgenommen. Wie Urs Zürcher schreibt, sei hieran eine Konvergenz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu erkennen, mit der die jeweiligen Interessenlagen wissenschaftlicher und populärer Inszenierungen abgestützt wurden. „Innerhalb des teratologischen Interaktionsraumes bilden sich Räume der gegenseitigen Durchdringung wissenschaftlicher und alltäglich-öffentlicher Denk- und Handlungsweisen. Dabei geht es hier nicht um jenen Prozess, der gemeinhin als Wissenschaftspopularisierung bezeichnet wird, sondern um die Charakterisierung eines einzigartigen Raumes, in dem die Wissenschaft von den Missbildungen auf ganz spezielle Weise geöffnet ist, das heißt konkret: sich mit dem populären Schaugeschäft in einem Verhältnis des permanenten Austausches befindet.“34

Auch Virchow nimmt in seinen Arbeiten die populären Bezeichnungen des Showgeschäfts auf, wenn er bspw. die siamesischen Zwillinge Chris-

33

Die „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ (BGAEU) war Ende des 19. Jahrhunderts eine der wichtigsten Organisationen in Deutschland, die vor allem das anthropologische Denken jener Zeit beeinflusste und spiegelte. Die Mitglieder der Gesellschaft waren sowohl Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen als auch Kolonialbeamte und Vertreter der Völkerschauen. So waren Carl Hagenbeck und die Brüder Castan, die das Berliner Panoptikum führten, Mitglieder der Berliner Gesellschaft (vgl. Benninhoff-Lühl, Sibylle: 1999, 111, Fn. 17).

34

Zürcher, Urs: 2004, 264.

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sie und Millie weiterhin als ‚Zweiköpfige Nachtigall‘ präsentiert. In der Teratologie wurden die aus der Schaumedizin stammenden Begriffe von „verkehrt-perversen Schlangen- und Bartfrauen […] [und] mikrozephalen Idioten“35 zu einem festen Bestandteil der wissenschaftlichen Debatten. Die Wissenschaftler bestätigten den Seltenheitswert der Objekte der kommerziellen Vergnügungskultur, auf den sich die Manager der Freakshows bezogen, um ihren Unternehmungen den Status der Seriosität zu verleihen und somit den kommerziellen Erfolg dieser abzusichern. Zugleich waren Menschen mit außergewöhnlichen Körpern auch Träger von Wissen und Bedeutung, die als Objekte der Wissenschaften ein Versprechen auf Wissenszuwachs aufrechterhielten. Monstrositäten wurden also letztlich – wie Zürcher betont – doppelt ausgestellt bzw. öffentlich präsentiert: im Schaugeschäft und in den Wissenschaften. „Dem Schauobjekt haftete bald etwas Impressionistisches, bald etwas Illuminierendes an, ein Hauch von Varieté drang in die Wissenschaft, während die Körperschauen auf den Plätzen und Hinterzimmern dank wissenschaftlicher Bescheinigungen etwas von ihrer Flüchtigkeit verloren.“36

Zürcher geht es darum, die gemeinsamen Interaktionsräume wissenschaftlicher und kommerzieller Veröffentlichungen in den Blick zu nehmen. In der Forschung zur historischen und kulturellen Bedeutung von Freakshows des 19. Jahrhunderts werden diese Konvergenzen vielfach betont.37 Vor dem Hintergrund kultureller Normalisierungsprozesse wird allerdings im Folgenden gezeigt, dass diese Interaktionsräume eine

35

Zürcher, Urs: 2004, 271.

36

Zürcher, Urs: 2004, 271.

37

Vgl. Adams, Rachel: 2001, 25–59. Adams hat gezeigt, wie wissenschaftliches Wissen in den Freakshows dazu diente, die Faktizität und den Seltenheitswert herauszustellen. Die Ausstellungspraktiken wurden immer durch medizinische und ethnografische Diskurse legitimiert. Adams betont die Konvergenz von Wissenschaft und Populärkultur vor allem, um die Kontexte und Verfahrensweisen zu analysieren und damit die Freakshows in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen zu setzen. Auch Bogdan schreibt, dass naturwissenschaftliches Wissen direkt in die Repräsentationsstrategien der Freakshows eingeflossen ist: „Linking freak exhibits with science made the attractions more interesting, more believable, and less frivolous to Puritanical anti-entertainment sentiments“ (Bogdan, Robert: 1996, 29).

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gesellschaftliche und politische Anspruchshaltung widerspiegeln und der Begriff des Interaktionsraumes die Bedeutungen von Monstrositäten auf eine duale Ebene von falscher Wissenschaft und kommerziellen Interessen reduziert. Insofern werden in Ansätzen wie dem von Urs Zürcher zwar die Schnittmengen von Wissenschaft und Populärkultur offengelegt, aber die Bedeutungen von Monstrositäten werden nur aus zwei Richtungen analysiert, mit denen letztlich wieder biologisierende Argumentationsweisen aufgenommen werden. Einem solchen Ansatz müssen zwei Punkte kritisch entgegengehalten werden: Weder können die Besprechungen von Schauobjekten im Umfeld der Teratologie als unwissenschaftliche Strategien abqualifiziert werden, noch kann gesagt werden, dass in den öffentlichen Zurschaustellungen einfach wissenschaftliches Wissen übertragen wurde. Vielmehr entwickelte sich an der Schnittstelle zwischen der wissenschaftlichen Bestimmung von Anomalien und einem kulturellen Befund zu Monstrositäten ein Diskurs, der ganz unterschiedliche Praktiken des Wissens in sich aufnahm. In den Repräsentationsstrategien wurden die Parameter von Geschlecht, „Rasse“ und Kultur aufgenommen. Diese müssen aber im Hinblick auf die Prozesse kultureller Normalisierungen analysiert werden; ohne diesen Bezug würden die wissenschaftlichen bzw. öffentlichen Praktiken allenfalls als kuriose Schaumedizin und als groteske Ausstellungspraktik erscheinen und somit als unsichtbar gemachte Bereiche wissenschaftlicher Normierungen bestätigt werden. Bei der Untersuchung der Texte von Virchow soll es aber nicht darum gehen, eine moralische Haltung einzunehmen, die die wissenschaftlichen Entgleisungen des 19. Jahrhunderts aufdeckt. Ziel der Analyse ist es vielmehr, gerade nicht die Verantwortung des Autors ins Spiel zu bringen, sondern die Verfahrensweisen der Begriffsbildung sowie die epistemologischen und kulturellen Kontexte zu analysieren, in denen eine wissenschaftliche Rede über Monstrositäten und Abweichungen realisiert wurde.

4.2.1 Die ‚Zweiköpfige Nachtigall‘: Rudolf Virchow und die siamesischen Zwillinge Chrissie und Millie (1873) Am Beispiel zweier, von Virchow in den Jahren 1870 und 1873 veröffentlichter Vorträge wird im Folgenden die Frage erörtert, was mit der Betrachtung und Besprechung außerordentlicher Fälle erreicht werden soll und welche Parameter in den wissenschaftlichen Diskurs der

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Bestimmung des Einzigartigen aufgenommen werden. In beiden Fällen wurden „Objekte der Schaumedizin“ in einem wissenschaftlichen Raum präsentiert. Sowohl im ersten als auch im zweiten Fall werden siamesische Zwillinge untersucht. Im Folgenden soll zunächst der auf einem Vortragstext basierende Aufsatz erörtert werden, den Virchow nach einem Treffen mit den am Rückenmark verwachsenen Schwestern Chrissie (Christine) und Millie veröffentlichte.38 Christine und Millie MacKoy traten im Zirkus Barnum auf und waren wie Eng und Chang Bunker, über die Virchow im zweiten Fall geschrieben hatte, populäre Freaks des 19. Jahrhunderts.39 Die Ergebnisse der Untersuchungen an den „siamesischen Zwillingen“ werden von Virchow einem wissenschaftlichen Publikum vorgetragen und auch in einer Fachzeitschrift publiziert. In dem Aufsatz Über die sogenannte ‚zweiköpfige Nachtigall‘ aus dem Jahr 1873 bedankt sich Virchow zunächst dafür, dass ihm die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Zwillinge Chrissie und Millie – „diese wunderbaren Wesen“40 – zu sehen. Das Wunder sei zwar, wie er an anderer Stelle betont, „nur die einfachste, die unmittelbarste Offenbarung des Gesetzes“, dennoch handle es sich bei den Schwestern um ein „ausserordentlich merkwürdiges Phänomen“41 und ein einzigartiges Beispiel. Tatsächlich seien die siamesischen Zwillinge ein menschliches Wunder, eine lebende Kuriosität. Sie sind eine Monstrosität.

38

Im Folgenden wird zunächst der Aufsatz Über die sogenannte ‚zweiköpfige Nachtigall‘ aus dem Jahre 1873 erörtert und diskutiert. Die Texte werden nicht in ihrer chronologischen Abfolge behandelt, um die diskursiven Formationen und Komplexe herauszuarbeiten. Erst in der Spannung zwischen diskursiven Formationen und vorstrukturierten Erzählmustern kann die kulturelle Verfasstheit des Wissens in ihrer historischen Dimension aufgezeigt werden. Vgl. hierzu auch die Einleitung, Abschnitt 1.4.

39

Im Folgenden beziehe ich mich auf die Vornamen, da auch Virchow an keiner Stelle den vollständigen Namen der Frauen angibt. In der Forschungsliteratur wird zudem auch die Bezeichnung „Chrissie und Millie“ verwendet. Eine kurze Schilderung ihres Lebenslaufs findet man im Internet unter folgender Adresse: http://photobibliothek.ch/seite003d1.html (letzter Zugriff: 30.08.2010).

40

Virchow, Rudolf: 1873, 97.

41

Virchow, Rudolf: 1862a, 22.

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Ziel der Untersuchung von Virchow ist es, dem wissenschaftlichen Standard gerecht zu werden, um sich der Wissenschaftlichkeit der Aussagen zu versichern. Für die Untersuchungsmethode führt Virchow verschiedene Ebenen der Erklärung ein. Virchow, der die Zwillinge nicht untersuchen, sondern nur ein Gespräch mit ihnen führen konnte, bündelt hier die Ergebnisse seiner eigenen Befragung, die bereits publizierten Erkenntnisse über die Anatomie sowie die Informationen, die er von den Zwillingen und anderen Begleitpersonen erhielt, zu einer wissenschaftlichen Aussage. Im Text kritisiert er die unzureichende Glaubwürdigkeit und Wissenschaftlichkeit vorangegangener Beschreibungen, die von verschiedenen Ärzten seit dem Kindesalter der Zwillinge immer wieder angefertigt wurden. Abb. 1 „Chrissie und Millie“

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Die Situation des Treffens verhindert es allerdings, die Kategorisierungen abzusichern und methodisch zu bestätigen. Virchow beklagt zunächst, dass es die „überaus zurückhaltende und decente Art der jungen Damen“ unmöglich mache, dem Publikum „aus eigener Wissenschaft eine Mittheilung zu“42 geben. Es ist eine Situation des Mangels, die nicht nur durch die unzureichende Übereinstimmung der Ergebnisse früherer Untersuchungen evoziert wird, sondern auch in der Aktualität eines arrangierten Treffens liegt, das die Durchführung eigener Untersuchungen nicht möglich macht. Diese Ausgangslage scheint sich durch die große Aufmerksamkeit zu verschärfen, mit der sich Virchow dem Fall widmet. Er betont: „[I]ch kann wohl sagen, dass wenige lebende Objecte existieren, welche ein so großes Interesse darbieten.“43 Es ist eine ambivalente Spannung von Wissen und Nichtwissen. Zum einen erörtert Virchow die Vorzüge einer Betrachtung des lebenden Objektes, denn das Zusammentreffen mit den Zwillingen habe ihm einen „großen Genuss“44 bereitet. Zum anderen kann keine wissenschaftliche Methode zur Anwendung kommen, mit der das, was Virchow bereits zu wissen scheint, auch zuverlässig bestätigt werden könnte. Was also erblickt Virchow in der Betrachtung der Zwillinge und, vor allem, was soll untersucht werden ? Auf alle Fälle scheint es sich bei seinem Objekt um eine Monstrosität zu handeln. Dieser Begriff taucht im Zusammenhang mit der kurzen Darstellung über die Ursachen der Verwachsungen auf. Virchow debattiert am Beispiel der Zwillinge die Theorie der Keimentwicklung. Wie entstehen also siamesische Zwillinge ? Wird die Verwachsung durch die Spaltung eines Keims oder durch das nachträgliche Zusammenwachsen zweier Keime verursacht ? Das war die wissenschaftliche Frage, mit der das Erkenntnisinteresse seinen Gegenstand hervorbrachte. Virchow betont, dass es sich bei der Annahme einer nachträglichen Verwachsung um einen Irrtum handelt. Im Bemühen um eine wissenschaftliche Erklärung der Genese gelingt es ihm jedoch nur, Vermutungen und Spekulationen aufzustellen.

42

Virchow, Rudolf: 1873, 97.

43

Virchow, Rudolf: 1873, 97.

44

Virchow, Rudolf: 1873, 97.

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Abb. 2 „Querschnitte der Schenkel von Chrissie und Millie, dazwischen die beiden Vaginae“45

Des Weiteren versucht Virchow, die genaue Lage der Verwachsung zu ermitteln und die anatomischen Verhältnisse abzubilden. Virchow fertigt eine Zeichnung aus seinen Vorstellungen heraus an, indem er sich einen Querschnitt „zwischen den Schenkeln von unten her betrachtet“ denkt. So fügt er dem Text eine simplifizierende Skizze der Verwachsungen des Beckens bei. Anhand dieser Skizze diskutiert Virchow die Verwachsungen im Zusammenhang mit den sensorischen Empfindungsweisen. Er geht davon aus, dass „durch die äussere Betrachtung eine gewisse Correspondenz zwischen dem anatomischen und dem physiologischen Verhalten der Mädchen gegeben ist“46. Offensichtlich ist die Einordnung des Falles in ein System des Wissens problematisch. Über eine bloße Beschreibung des Phänomens scheint er nicht hinauszukommen. Trotzdem wird im Text weit über das hinausgegangen, was wissenschaftlich über den Fall auszusagen ist. Mit einem sexualisierten Diskurs über die Geschlechtsorgane des monströsen Objektes wird dieser Mangel ausgefüllt. Zugleich wird damit ein Widerspruch zwischen dem Gesehenen und dem Gesagten konstituiert. Das Betrachten der Zwillinge führt zu einem erheblichen Mangel in der wissenschaftlichen Beherrschbarkeit. Parallel dazu wird in einem sprachlichen Überschuss in Form von Spekulationen versucht, sich der wissenschaftlichen Legitimation des Falles

45

Virchow, Rudolf: 1873, 98.

46

Virchow, Rudolf: 1873, 97.

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anzunehmen.47 Zunächst fällt auf, dass die Korrespondenz zwischen der an der Oberfläche offensichtlichen Missbildung mit den anatomischphysiologischen Strukturen nicht vervollständigt und bestätigt werden kann. Denn das Objekt scheint sich der Kontrolle eines Blickes zu entziehen, der hinter der Oberfläche die tatsächlichen Ursachen der Seltenheit bestätigen muss. Virchow beklagt: „Alle diese Angaben liessen sich durch physiologische Beobachtungen controllieren, wenn man in der Lage wäre, dieselben anzustellen.“48 Das eigentliche Problem ist die Anatomie der Genitalien. Virchows Interesse ist es, die Beschaffenheit der Sexualorgane und die sensorischen Empfindungen an den Genitalien zu untersuchen. Das heißt, die Besonderheit der Genitalien muss in einen Funktionszusammenhang mit dem Nervenapparat gebracht werden. Obwohl die Genitalien von „gemeinsamen Labien umschlossen“ sind, ist die Anzahl der inneren nicht in Übereinstimmung mit derjenigen der äußeren Geschlechtsorgane zu bringen.49 In älteren Berichten sei angegeben worden, dass die Zwillinge eine Vagina besäßen. Jedoch betont Virchow, „dass es auch nicht ganz unerfahrenen Ärzten geschieht, dass sie eine doppelte Vagina übersehen“50. Virchow kann an keiner Stelle die Aussagen anhand eigener anatomischer Untersuchungen belegen. In dem Versuch der sprachlichwissenschaftlichen Strukturierung des individuellen Falles „scheint sich das Rätselhafte zu verstärken“51, wie Schmidt betont. Virchow begegnet nur den bekleideten Zwillingen und es gelingt ihm nicht, sie zu untersuchen. In Bezug auf seine Vermutungen muss er sich auf das Gehörte verlassen. Er ist auch hier wieder „auf die Angaben der begleitenden Damen angewiesen“, die ihm „aus zweiter Hand zugegangen“ sind. Diese Informationen werden hier zu einer wissenschaftlichen Aussage geformt. Für die Bestätigung der Annahme zweier Geschlechtsorgane bedient sich Virchow der Aussagen anderer. Sowohl ein Arzt als auch die Gouvernante der Zwillinge haben gesehen, „dass

47

Schmidt betont, dass der Ausschnitt oder das Fragment immer „zur Ergänzung durch eine Mehr-Sehen und Mehr-Sagen“ auffordere (Schmidt, Gunnar: 2001, 53).

48

Virchow, Rudolf: 1873, 98.

49

Virchow, Rudolf: 1873, 98.

50

Virchow, Rudolf: 1873, 98.

51

Schmidt, Gunnar: 2001, 83.

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die Kinder aus zwei Harnröhren Harn gelassen haben“52. Das Interesse Virchows gilt der Bestätigung funktionaler Zusammenhänge zwischen dem Nervenapparat und den Genitalien. Die gemeinsamen oder unterschiedlichen Gefühlsempfindungen der Frauen sollen an den Genitalien erforscht werden. Eine gynäkologische Untersuchung konnte Virchow aber aus moralischen und methodischen Gründen nicht vornehmen. Schließlich trifft Virchow aus eigener Neugier heraus die Zwillinge und darin lässt sich kein Arzt-Patienten-Verhältnis begründen. In seinen Ausführungen kann er sich somit nur auf Aussagen und Angaben Anderer beziehen. So wurde bereits zuvor von einem anderen Arzt betont, dass kein „gemeinschaftliches Gefühl“ an den Genitalien vorhanden sei. Mittels medizinischer Untersuchungen kam dieser Arzt zu dem Ergebnis, dass Berührungen der „äusseren Genitalien“ nur von dem „Mädchen wahrgenommen“ werden, dem dieser Bereich körperlich zuzuordnen wäre.53 Dieser Aussage kann Virchow jedoch nicht glauben. Er geht davon aus, dass beide Mädchen Berührungen an den Genitalien wahrnehmen würden. Er betont, dass er sich durchaus „eine wirkliche Verbindung vorstellen“54 könne. Das monströse Phänomen wird hier an den Abweichungen der Geschlechtsorgane identifiziert und zugleich als Rätsel konfiguriert. Als Anomalie müsste das Wissensobjekt in einen analytischen Untersuchungsrahmen zu bringen sein. Durch seine Konstruktion als ein sexualisiertes Objekt entfaltet sich jedoch die Einzigartigkeit des Phänomens, das die Neugierde und das wissenschaftliche Interesse auf sich zieht und so die Produktion weiteren Wissens stimuliert. Zugleich stellt sich die Situation eher als ein Plaudern dar als eine dem Erkenntnisinteresse dienende wissenschaftliche Analyse. Virchow trifft auf zwei junge Damen, die einen vitalen und sehr interessierten Eindruck machen. Er berichtet über sie: „Sie sprangen mit grösster Leichtigkeit auf, als sie plötzlich Militairmusik von der Strasse herauf hörten und eilten mit ihren 4 Beinen zum Fenster.“55 Das Ziel einer anatomischen Bestimmung und systematischen Einordnung der Abweichungen wird durch den Dialog mit dem Zwillingspaar unerreichbar. Wie Schmidt in seiner Interpretation des virchowschen Aufsatzes betont, seien hier zwei Ebenen im Text vorhanden: Erstens habe der methodische Ansatz der

52

Virchow, Rudolf: 1873, 98.

53

Virchow, Rudolf: 1873, 99.

54

Virchow, Rudolf: 1873, 99.

55

Virchow, Rudolf: 1873, 99.

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anatomischen Erfassung Momente des Scheiterns hervorgebracht und damit das monströse Phänomen in seiner Differenz verstärkt und zweitens komme es zu einer stetigen Destabilisierung dieser Differenzen im kommunikativen Diskurs.56 Das Objekt des Wissens entwickelt sich zu einem sympathischen, lebendigen Subjekt. Die Zwillinge sind „geistig sehr entwickelt, lebhaft und gesprächig“57. Obwohl als Monstrosität vorgestellt, als seltener Fall beschrieben, zeigt sich für Schmidt hier ein „humanes Wesen“, mit dem die Differenz zwischen dem Monströsen und dem Normalen entschärft wird.58 Schmidt geht davon aus, dass gerade in der Begegnung zwischen Virchow und seinem „lebenden Objekt“ der imaginär-anatomische vom kommunikativen Diskurs überlagert wird. Diskursive Produktivität und kommunikative Destabilisierung werden hier den jeweiligen Ebenen von Sprache und Imagination zugeordnet.59 Tatsächlich treffen diese für den Fall der Begegnung zu. Virchow berichtet über die sich im Verlauf des Gespräches einstellende Empathie und Zuneigung, die er den Zwillingen gegenüber entwickelt. In dem Diskurs über die Genitalien der Frauen nimmt Virchow jedoch wieder die Rolle der wissenschaftlichen Autorität ein, um das Phänomen in seiner wissenschaftlichen Fassbarkeit sprachlich wieder einzuholen. Denn Virchow will zugleich auch die Ergebnisse seiner Untersuchungen veröffentlichen und konfiguriert auf dieser Ebene die Bedeutungen des monströsen Phänomens erneut. Insofern gibt es drei Ebenen des Textes: Zusätzlich zu den beiden Ebenen eines imaginär-anatomischen und eines kommunikativen Diskurses – wie Schmidt sie analysiert hat – lässt sich noch ein wissenschaftlicher Diskurs über die Genitalien beobachten, mit dem aus der Kommunikation und der Imagination eine wissenschaftliche Tatsache geformt wird. Die anfängliche Feststellung eines bereits als monströs identifizierten Objektes stellt in der Differenz zum Normalen die Einzigartigkeit des Falles heraus. Zugleich wird im kommunikativen Austausch zwischen Virchow und den Zwillingen diese Differenz wieder normalisiert und damit destabilisiert. In den Verfahrensweisen der begrifflichen Strukturierung wird im Zuge der Veröffentlichung die wissenschaftliche Fassbarkeit jedoch wieder hergestellt. Am Anfang der Untersuchung stehen zunächst das Rätsel, das Wunder und die Vermutung. Die Faszi-

56

Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 91.

57

Virchow, Rudolf: 1873, 99.

58

Schmidt, Gunnar: 2001, 94.

59

Vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 91.

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nation für das monströse Phänomen strukturiert die wissenschaftliche Aufmerksamkeit und das systematische Interesse. Die methodische und analytische Herangehensweise wird durch das Gespräch unterlaufen und kann daher nicht greifen. Zum einen wird die Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen herausgefordert und auf die Probe gestellt, denn für den Vortrag müssen die Kriterien disziplinärer Normativität erfüllt werden. Zum anderen zeigt sich, dass, wenngleich Virchow zunächst von einer Monstrosität, einem Wunder spricht, die Singularität im Dialog aufgelöst wird. Die Konstellation des wissenschaftlichen Subjektes und des monströsen Objektes scheitert. Die Singularität wird in bereits antizipierte Erkenntnisse eingefügt. Gerade dort, wo Virchow die Ursachen der Verwachsungen durch die „Trennung eines ursprünglich einfachen Keimes zu erklären“ weiß, haftet dem Fall überhaupt nichts Spekulatives an. Das anatomische Phänomen steht vielmehr an den „extremen Enden einer langen Reihe“60. Hier geht das Spektakuläre völlig – zumindest als extreme Variabilität – im Prinzip der Analogie auf und wird im auf die Ursprünge und die Genese fokussierten Erkenntnisprozess aufgekündigt. Am Ende bleibt trotzdem noch ein Moment des Scheiterns und des Schweigens. Virchow kann die allgemeinen Gesetze des Wunderbaren nicht benennen. Er verstummt im Moment der Begegnung, er wird zum Zuhörer. Dennoch wird diese Position im Diskurs über die Genitalien wieder umgekehrt. Im Sprechen über die anatomische Morphologie der Sexualorgane, deren Pathologie sich in der Struktur einer doppelten Vagina zuspitzt, scheint Virchow seine Sprache wiederzufinden. Der Moment des Verstummens wird von einem Mehr der Sprache überlagert. Dieser sprachliche Überschuss setzt sich aus den verschiedenen Ebenen der Beobachtung und Erfahrung zusammen. Dennoch zweifelt Virchow an keiner Stelle an seinen eigenen Vorstellungen. Diese setzen sich aus dem Gehörten und einem imaginären Diskurs zusammen, der das weit übersteigt, was wissenschaftlich belegt werden kann. Genau an diesem Punkt muss das „lebende Objekt“ verstummen. Die fundamentale Differenz zum Normalen konstituiert sich entlang einer Pathologie des genitalisierten Objektes. Auch wenn die Begegnung Virchows mit dem siamesischen Zwillingspaar zu keiner allgemeinen Aussage führt, offenbart sich in der Imagination eines sexualisierten Diskurses letztlich doch das Monströse. Trotz mangelnder pathologischer Befunde gewinnt das Monströse in der genitalen Differenz an Substanz. Weder sind die Zwillinge krank noch

60

Virchow, Rudolf: 1873, 100.

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bedurften sie einer Therapie. Der Untersuchungsrahmen des Arzt-Patienten-Verhältnisses beruht zwar nicht auf dem Paradigma der Therapie und Virchow kann eigentlich nichts über den Fall aussagen, dennoch bedient er sich anderer Parameter, um die Wissenschaftlichkeit seiner Aussagen zu garantieren. Im Spannungsfeld von Kuriosität, Seltenheit und Wunder konfigurieren die Parameter von Geschlecht und Pathologie die wissenschaftliche Aussage über das Monströse. Erst im Vergleich zu dem einige Jahre zuvor von Virchow publizierten Fall über „Doppelmonstrositäten“ bei Eng und Chang Bunker kann hier gezeigt werden, wie die Begriffsbildungen von Monstrosität anhand der Matrix von Weiblichkeit, Geschlecht und Rätsel vollzogen werden.61 Im Gegensatz zu dem sexualisierten Diskurs monströser weiblicher Genitalien findet Virchow im Fall der männlichen Zwillinge zu einem ganz anderen Bild des Monströsen.

4.2.2 Eng und Chang Bunker und die Kuriosität eines langen Lebens „Es sollte noch einige Zeit dauern, bis Professor Dumat, so etwas wie ein Experte auf dem Gebiet der ‚monstres et prodiges‘, uns erklärte, dass wir etymologisch gesehen, eher grotesk als angsteinflößend waren, dass Missgeburten der Natur wie wir ihre Abstammung auf einen einzigen glucksenden Vorfahren zurückführen könnten. Wir und unseresgleichen, sagte er und hielt dann inne, um sich einen Schluck Wein zu genehmigen, waren ein ‚iocus naturae‘ – ein Witz der Natur. Er lächelte.“62

Im Jahr 1870 hält Virchow einen Vortrag über die siamesischen Zwillinge Eng und Chang Bunker, die zum Zeitpunkt der Befragung 59 Jahre

61

Virchow, Rudolf: 1870, 4.

62

Slouka, Mark: 2003, 144. Die Lebensgeschichte von Eng und Chang Bunker ist in einigen Romanen literarisch umgesetzt worden (vgl. auch Strauss, Darin: 2002). Slouka entwirft in dem Roman Eine Laune Gottes die Geschichte rivalisierender Brüder, deren Verhältnis von Neid und Missgunst, Eifersucht und Hass gezeichnet ist. Die Brüder haben in den letzten Jahren

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alt waren. Sie hatten sich in den USA mit ihren Familien als Farmer niedergelassen und wurden nur noch gelegentlich auf Freakshows ausgestellt. Die aus dem Siam – dem heutigen Thailand – stammenden Männer haben im 19. Jahrhundert eine ungeheure Popularität erlangt; auf sie wird die Bezeichnung für zusammengewachsene Körper zurückgeführt.63 Die Begegnung mit den Zwillingen findet wie im Falle von Chrissie und Millie nur im Rahmen einer Befragung statt. In seinem daraus hervorgegangenen Aufsatz widmet sich Virchow zwei Problemstellungen: Erstens werden auch hier wieder die Ursachen der Verwachsungen und zweitens die Möglichkeiten einer operativen Trennung diskutiert. Bei der Untersuchung solcher Fälle habe sich immer die Frage gestellt, wie diese Doppel-Monstrositäten entstehen.64 Mit dem Ziel, ein empirisch

kaum noch miteinander gesprochen, ihren je eigenen Lebensstil als Ehemänner und Väter geführt und sich gegenseitig im Umfeld des Anderen zum Schweigen verurteilt. Insofern wird in dem Roman eine literarische Figuration des Monsters inszeniert, deren Funktion es ist, unsere Vorstellung von Identität und Selbstverhältnissen zu verletzen. Grosz hat diese Figuration im Hinblick auf die Freakshows aufgegriffen und die Funktionsweisen untersucht, mit denen beim Publikum Affekte der Faszination und des Staunens erzeugt werden. Sie betont, dass die Ausstellungspraktiken in ihrer Funktion als eine Art und Weise der Reaktion des Zuschauers zu betrachten sind. Hier werden unsere Vorstellungen von sexueller Identität und Praktikabilität herausgefordert und destabilisiert: „People think to themselves: ‚How do they do it ?‘ What kinds of sex lives are available to Siamese twins […]. Freaks traverse the very boundaries that secure the ‚normal‘ subject in its given identity and sexuality“ (Grozs, Elizabeth: 1996, 64; Hervorh. im Orig.). Insofern versucht Grozs hier, die Uneindeutigkeit von Freaks als anormale Identitäten an die instabilen Grundlagen normalisierender Selbstbehauptungen zu binden. Es ist jedoch fraglich, inwieweit hier nicht doch wieder Kategorisierungen festgeschrieben werden, die gerade auf der ahistorischen Gegenüberstellung von Instabilität versus Stabilität, Uneindeutigkeit versus Eindeutigkeit beruhen. 63

Die siamesischen Zwillinge bereisten zweimal Europa. Bereits bei ihrem ersten Besuch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden sie in Frankreich von Isidore Geoffrey Saint-Hilaire untersucht (vgl. Zürcher, Urs: 2004, 264 f.).

64

Vgl. Virchow, Rudolf: 1870, 4.

PLAUDEREIEN

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gesichertes Wissen zu erlangen, werden die Ergebnisse mit bereits vorhandenen Erkenntnissen abzustimmen versucht. Abb. 3 „Chang und Eng Bunker“

Durch Beobachtungen an und Experimente mit Fischen könne die Theorie der Keimspaltung wissenschaftlich belegt werden. Hier kann sich Virchow auf experimentelle Ergebnisse berufen, denn die Entstehung einer Doppelbildung sei „wirklich und unmittelbar an dem Ei beobachtet worden; man hat es geradezu gesehen, nicht bloss berechnet oder wahrscheinlich gemacht“. Nur die Teilung eines einfachen Keimes führe zur Bildung einer „Doppelmonstrosität“65. Die Theorie der nachträglichen

65

Virchow, Rudolf: 1870, 7.

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Verwachsung ist demnach nur eine Hypothese, während die von Virchow vertretene Spaltungstheorie über eine bloße Behauptung hinausgeht, weil mit dieser die Entstehung der Doppelbildung in die „Gesetze der Naturvorgänge“66 eingeordnet werden kann. Die Gesetze der Natur werden mit dem Experiment nicht nur beobachtet oder beschrieben, sondern es zeichnet sich hierbei eine Beherrschbarkeitsstrategie ab. Der Wunsch, in den Ablauf natürlicher Prozesse eingreifen zu können, wird gerade am Beispiel der Monstrosität sichtbar. Wenngleich die Beschreibung Virchows weit davon entfernt ist, therapeutisch umgesetzt werden zu können, scheint sich hier etwas anzukündigen, was bereits von Claude Bernard als die Aufgabe der wissenschaftlichen Medizin angesehen wurde. Die wissenschaftliche Medizin müsse über die Beobachtung hinausgelangen. Ziel sei es, als Experimentalwissenschaft Erkenntnisse über die Gesetze der Naturvorgänge zu gewinnen und damit die Natur „nach belieben zu lenken und Herr über sie zu werden“67. Bei Virchow scheint sich dieses Einlenken zumindest auf der experimentellen Ebene der tierischen Doppelbildungen anzukündigen. Hier findet die Beschreibung mit zuvor gewonnenen Erkenntnissen statt, die auch einen Bezug auf die Erforschung der Ursachen menschlicher Fehlbildungen zulassen. Die Einzigartigkeit des Falles wird zwar nicht durch therapeutische Angebote aufgekündigt, doch indem hier Ursprungserklärungen in wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen, wird die Rätselhaftigkeit des Phänomens abgeschwächt.68 Um die zweite Problemstellung zu erörtern, widmet sich Virchow zahlreicher bereits publizierter Fälle. Es wird eine „ganze Serie der Doppelmissbildungen von der vollständigen Ausbildung beider Körper bis zu höchst defekten Zuständen des einen oder beider“69 rekonstruiert. Obwohl es sich bei Eng und Chang Bunker um den gleichen Fall von Fehlbildung wie bei Millie und Chrissie handelt, wird in der Beschreibung weniger auf der Ebene der Differenz argumentiert. Virchow gelingt es, die Einzigartigkeit des Falles zumindest als äußeren Rand einer langen Kette zu rekonstruieren, die auf der Matrix der Analogie des Normalen und des Pathologischen aufgezogen wird. Das Monströse wird zwar in seinem

66

Bernard, Claude: 1865, 275.

67

Bernard, Claude: 1865, 275.

68

Schmidt betont, dass die Unmöglichkeit, Aussagen über die Ursachen von Fehlbildungen zu machen, das Rätselhafte verstärkt (vgl. Schmidt, Gunnar: 2001, 83).

69

Virchow, Rudolf: 1870, 10.

PLAUDEREIEN

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eigentlichen Wortsinn als solches erwähnt, aber in bereits antizipiertes Wissen eingeordnet. Eine Monstrosität ist deswegen monströs, „weil keine Antizipation möglich war oder bereit stand, um diese Gestalt zu identifizieren“70. Als medizinischer Fall oftmals dokumentiert, kann Virchow sich jedoch auf eine ganze Tradition von wissenschaftlichen Berichten beziehen. Das Monströse verliert in der stetigen Wiederholung wissenschaftlicher Beschreibungen seine spektakuläre Funktion und wird normalisiert. Die Antizipation von Wissen und die Möglichkeit des Vergleichs setzen eine „Bewegung der Gewöhnung, aber auch der Legitimation und folglich der Normalisierung in Gang“71. Die wissenschaftliche Erfassung des Einzigartigen ist demnach immer mit Prozessen der Gewöhnung und der Normalisierung verbunden. Durch die Besprechung monströser Körperobjekte werden aber auch disziplinäre Normierungen und wissenschaftliche Ansprüche an die Geltungsbereiche von Normen sichtbar. Virchow berichtet von einer ganzen Serie und von zahlreichen ähnlichen Fällen. Es scheint, als hätte sich die Medizin hier bereits an das „Gezeigte“ gewöhnt. In dieser Wiederholung wird ein Prozess der Normalisierung angestoßen. Die Ebenen, die die Verhandlungen über das Monströse strukturieren, entschärfen die Differenzen und ergeben eine Sortierung nach dem Grad des pathologischen Befundes. Die verschiedenen Phänomene, auf die Virchow immer wieder zurückgreift, wurden bereits in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen aufgegriffen und beschrieben. Die Darstellungen reichen vom 17. Jahrhundert bis in die Zeit Virchows. In der zeitlichen Spanne von über 200 Jahren werden die außerordentlichen Fälle in eine zeitliche Kontinuität der wissenschaftlichen Rezeption eingefügt. Die Einzigartigkeit wird auch hier dargestellt, jedoch mit anderen Parametern konfiguriert. Das eigentlich Verwunderliche sei die enorme Gesundheit der beiden Männer. Es sei „kein einziger Fall bekannt, in welchem eine so lange Lebensdauer beobachtet wäre, wie die Siamesen sie in fast ungestörter Gesundheit hinter sich gelegt haben“72. Die Gesundheit und das hohe Alter von 59 Jahren lassen zunächst keinen Befund zu. Zugleich legitimiert die Verwachsung auch ein Arzt-Patienten-Verhältnis,

70

Derrida, Jacques/Weber, Elisabeth: 1990, 66.

71

Derrida, Jacques/Weber, Elisabeth: 1990, 66.

72

Virchow, Rudolf: 1870, 3.

236 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

denn es stellt sich die Frage, ob „ein solcher Fall zu operiren“73 sei. Virchow spricht sich gegen eine operative Trennung aus, denn „es wird wohl jeder dem Rathschlage zustimmen, welcher erst neulich von Simpson gegeben ist, dass von einer Operation so lange als möglich abzusehen sei“74. Die Reichweite der Medizin wird beschränkt. Die angeborene Missbildung entzieht sich als etwas Untherapierbares „der heilenden Kraft dieser Wissenschaft“75. Die Klassifikationen könnten – wie Volker Oldenburg schreibt – dem Monströsen den Schrecken nehmen. Monstrositäten treten in dieser Definition erst dann in Erscheinung, wenn sie das therapeutische Paradigma aufkündigen. Insofern sei – mit Oldenburg gesprochen – das Monströse deshalb eine Bedrohung, weil es die disziplinären Handlungsunfähigkeiten vorführe. Ohne Zweifel handelt es sich bei der Fehlbildung

73

Virchow, Rudolf: 1870, 9. Es wurde spekuliert, ob der eigentliche Grund der Reise nach Europa darin bestand, dass sich Eng und Chang Bunker über Möglichkeiten einer operativen Trennung informieren wollten. An dieser Stelle unterstellt Virchow ein rein wissenschaftliches Interesse an der Reise, obwohl die Zwillinge eigentlich nach Europa kamen, um hier in den Vergnügungszentren von Wien und Berlin ausgestellt zu werden. Strauss hat in seinem Roman die operative Trennung der Zwillinge als literarisches Leitmotiv gewählt. In der Spannung zwischen Hoffnung und Enttäuschung entwirft er eine fiktive Biografie von Eng und Chang Bunker. Die tragische Lebenssituation der beiden besteht darin, dass sie immer wieder darauf hoffen, dass der medizinische Fortschritt auch eine Trennung ihrer verwachsenen Körper ermöglichen könnte. Doch dies war im Roman auch zu dem Zeitpunkt noch nicht möglich, als Chang Bunker verstarb, während Eng noch am Leben war. Wenige Stunden nach dem Tod seines Bruders verstarb auch Eng Bunker an den Folgen einer Vergiftung (vgl. Strauss, Darin: 2002).

74

Virchow, Rudolf: 1870, 12.

75

Oldenburg, Volker: 1996, 60. Die Monster sind deshalb monströs, so betont Oldenburg, weil sie von der wissenschaftlichen Methodik, den wissenschaftlichen Klassifikationen und von therapeutischen Möglichkeiten nicht erfasst werden können. In dieser sehr weit reichenden Bestimmung ist letztlich alles monströs, was aus den wissenschaftlichen Bestimmungen herausfällt. Dabei übersieht Oldenburg jedoch, dass gerade die wissenschaftlichen Diskurse die Bereiche des Monströsen als unerfasste Zonen hervorbringen und die erfassten und nichterfassten Bereiche immer in einem konstitutiven Verhältnis zum Normalen stehen. Letztlich holt Oldenburg mit seiner Argumentation wieder eine biologisierende Auffassung des Monsters herein.

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nicht um eine Krankheit. Die Kuriosität und Seltenheit besteht vielmehr in der erfolgreichen Lebensführung. Erst in dem Moment, in dem sich zwischen das Leben und den Körper des Objektes der Ansatz einer Therapie einschiebt, wird die Un-Möglichkeit, das Monströse sichtbar. Das heißt, sofern therapeutischen Zwecken unterworfen, kann nicht von einer Monstrosität die Rede sein. Die Monstrosität setzt – um als solche zu erscheinen – diese Beziehung zeitweise aus und muss in einer substanziellen Bestimmbarkeit zur Sprache gebracht werden. Bei Virchow wird die Monstrosität in den Bildungsgedanken und somit in eine zeitliche Anordnung gebracht. Der Körper von Eng und Chang Bunker wird zum Resultat einer im fötalen Stadium verursachten Fehlentwicklung. Vergleicht man die wissenschaftlichen Beschreibungen der beiden einzigartigen Fällen, die die gleichen Fehlbildungen aufweisen, zeigt sich, wie unterschiedlich die Verfahrensweisen der Rekonstruktion und der Festlegung von Differenzen sind, die jeweils genutzt werden. Obwohl die Beobachtungen in beiden Fällen lediglich auf den bekleideten Körper bezogen sind, zeugen die wissenschaftlichen Aussagen von jeweils anderen Kriterien der wissenschaftlich Figuration des Monströsen. Im Fall der Zwillinge Chrissie und Millie zeigt sich eine Dominanz des spekulativen und sexualisierten Diskurses, der es erlaubt, die Vorstellungsbilder des Monströsen an einem genitalisierten, sexualisierten Objekt zu entfalten. Bei Eng und Chang Bunker hingegen bezieht sich Virchow an keiner Stelle auf eine Anatomie der Geschlechtsorgane. Eine Möglichkeit der Erklärung liegt in den jeweiligen Lokalisierungen der Verwachsungen begründet. Im Unterschied zu der am Becken befindlichen Verwachsung von Chrissie und Millie sind die männlichen Zwillinge durch ein ‚Band‘ in der Rumpfgegend miteinander verwachsen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass sich Virchow bei Eng und Chang Bunker auf eine serielle Anordnung der pathologischen Phänomene bezieht, indem er den Zeitpunkt der Verwachsung in die embryonale Phase verlegt. Die zeitliche Bestimmung der Abweichung bei Eng und Chang Bunker wird hier zum bestimmenden Faktor für eine wissenschaftliche Aussage. Bei den weiblichen Zwillingen spielt hingegen die räumlich-anatomische Verteilung am monströsen Phänomen selbst eine Rolle.76

76

Canguilhem unterscheidet zwischen der Anomalie in räumlicher Vielfalt sowie der Krankheit in zeitlicher Abfolge und plädiert für eine Unterscheidung beider Begriffe. Krankheit ist somit ein individuelles Ereignis, denn „krank ist man also nicht allein in Bezug auf andere, sondern auch im Verhältnis zu

238 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

In beiden Fällen werden die Untersuchungen zur wissenschaftlichen Bestimmung nur als Befragung durchgeführt. Im ersten Fall werden die Untersuchungsmethoden mit zahlreichen Vermutungen angehäuft. Es wird eine Mangelsituation, ein Wissensdefizit erzeugt, mit dem der weibliche Körper als Rätsel entworfen wird. Diese Mangelsituation entsteht jedoch aus der methodischen Systematik heraus. Das monströse Phänomen ist weder anatomisch noch physiognomisch fassbar. Die Beschreibung des Falles scheitert zudem an den kulturellen Sitten. Weder sind die Zwillinge Chrissie und Millie krank noch handelt es sich um stumme Objekte, an denen geforscht oder seziert werden kann. Die anthropologische Objekthaftigkeit des Gegenstands wird von dem kommunikativen Diskurs und einer von kulturellen Normen durchzogenen Untersuchungssituation unterlaufen. Virchow gelingt es nicht, Aussagen über die anatomischen Strukturen der Fehlbildung zu machen: weder im Falle der männlichen Zwillinge, weil die Untersuchung der embryonalen Entwicklung gar nicht gelingen kann, noch bei Chrissie und Millie, die keinen Blick auf das Areal der Verwachsung zulassen. Und doch handelt es sich in beiden Fällen nicht um die gleichen Bedeutungsfelder des Monströsen. Im Fall der männlichen Zwillinge entsteht die Monstrosität dort, wo die Identität des Normalen und des Pathologischen aufgekündigt wird, weil keine Therapie greifen kann, um den Normalzustand herzustellen. Die Abweichung wird in dem Moment, in dem sie als Einzigartigkeit aus der wissenschaftlichen Methodik hervorgeht, als Monstrosität entworfen. Diese Monstrosität ist eine Überschreitung der Grenzen der disziplinären Normativität. Bei den weiblichen Zwillingen ist der Mangel, die Lücke der Erkenntnis offensichtlich. Hier wird das Monströse im Zusammenspiel von Wissensdefizit und geschlechtlicher Differenz konfiguriert. Erst mit der geschlechtlichen Codierung werden die Bedeutungen des Monströsen erzeugt. Eigentlich kann über den Fall der weiblichen Zwillinge nicht gesprochen werden. Die Rede über die Monstrosität erfordert einen Diskurs, der die Kategorie des Geschlechts in sich aufnimmt. Erst durch diese Verschiebung des kategorialen Rasters kann Virchow über etwas sprechen, was eigentlich keine wissenschaftliche Aussage darstellt,

sich selbst“. Eine Anomalie ist hingegen der Gegensatz zu einer Lebensnorm und stellt somit eine bestimmte Differenz zu einem Typus dar. Deshalb ist – wie er betont – eine Anomalie „für sich genommen keine Krankheit“ (Canguilhem, Georges: 1974, 93 f.).

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aber trotzdem erlaubt, von dem zu sprechen, was im wissenschaftlichen Diskurs als Gegenstand konstruiert wird: das monströse, genitalisierte Wissensobjekt. Da die Gegenstandsbereiche nicht in einen physiologischanatomischen Rahmen eingefügt werden können, erfüllen hier die imaginären Vorstellungsbilder eine epistemologische Funktion und sorgen für einen Zuwachs des Wissens. Während in diesem Abschnitt erörtert wurde, wie Virchow einen singulären Fall in ein wissenschaftliches System einzuordnen versuchte, sollen im Folgenden am Beispiel der populären und wissenschaftlichen Diskurse über Sara Baartman die Zuschreibungen des weiblichen Körpers als Rätsel und Abweichung in den Begriffsbildungen des Monströsen untersucht werden. Wie bei den von Virchow in den Blick genommenen siamesischen Zwillingen handelte es sich auch bei Sara Baartman, der sogenannten Hottentottenvenus, um eine in populären Ausstellungen und wissenschaftlichen Abhandlungen präsentierte Monstrosität.

4.3 SARA BAARTMAN ALS DIE ‚VENUS DER H OTTENTOTTEN‘ 4.3.1 Geschichte einer afrikanischen Frau, die zur Ikone wurde In den letzten Jahren sind zahlreiche Aufsätze erschienen, die sich mit der Geschichte von Sara Baartman aus einer ganz neuen Perspektive befassen.77 Von je unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und Fragestellungen ausgehend, wurden an diesem Beispiel vielfältige Strategien und Argumentationsfiguren der Wissenschaft im 19. Jahrhundert freigelegt. Mit unterschiedlichen Sichtweisen beziehen sich diese Arbeiten auf das historische Material, um an diesem die wissenschaftlichen Praktiken in ihrer gesellschaftlichen Verankerung zu erörtern. An der Geschichte von Sara Baartman werden die Funktionsweisen des wissenschaftlichen Determinismus, der physischen Anthropologie, der Geschlechtergeschichte in der europäischen Wissenschaftskultur oder die auf dem Konzept der „Rasse“ beruhende Sexualisierung des Anderen in kulturellen Vorstellungsbildern von Prostitution und weiblich-afrikanischer Sexualität

77

Vgl. Gould, Stephen Jay: 1995, 229–240; Gilman, Sander: 1992, 119–154; Schiebinger, Londa: 1995, 207–259.

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aufgezeigt. Trotz der unterschiedlichen Forschungsansätze haben diese Arbeiten die Übertragung von historischen Konzepten der Anatomie in gesellschaftliche Diskurse über Normalität und Abweichung untersucht. Allerdings wurden – so ist trotz der aufschlussreichen Befunde, die in diesen Studien erarbeitet wurden, zu kritisieren – die Gegenstände, an denen die Diskurse über Geschlecht und Normalität ihre Wirkung entfalteten, entweder anhand wissenschaftshistorischer oder kultureller Fragestellungen untersucht. Im Folgenden werden diese beiden Perspektiven miteinander verschränkt, indem die wissenschaftlichen und populären Repräsentationsstrategien des Monströsen und des Weiblichen am Beispiel der Diskurse über Sara Baartman untersucht werden. In den Blick genommen werden insbesondere die Prozesse der wissenschaftlichen Erfassung von Normalität und Abweichung an der Schnittstelle von Körper, Geschlecht und „Rasse“ sowie die Effekte und Herstellungsweisen von Normalität und Abweichung in ihren kulturkonstitutiven Funktionen. Es wird dabei gezeigt, wie sich im Zusammenspiel von Wissenschaft und Kultur die Bedeutungen von Monstrositäten am weiblichen Körper verdichtet haben. Auf diese Weise lassen sich zugleich auch die Funktionsweisen des Geschlechterdiskurses am Ende des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Sara Baartman wurde in der allgemeinen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts als ein populäres Spektakel und unter den Naturforschern als ein Wissensobjekt berühmt. In den Wissenschaften dieser Zeit wurden zahlreiche Abhandlungen über sie verfasst, Wachs- und Gipsabdrücke angefertigt und „jedes Detail ihrer Anatomie, tot und lebendig, unter die Lupe“78 genommen. Die Geschichte von Sara Baartman zeige – so betont Stuart Hall –, wie Strategien des Fetischismus zum Tragen kommen. Mit diesen Strategien werde „das tabuisierte, gefährliche und verbotene Objekt des Vergnügens und des Begehrens gleichzeitig“79 repräsentiert und nicht repräsentiert. Das Objekt des Fetischismus wird somit aus der realen Ordnung ausgeschlossen und in den Vorstellungsbildern der Fantasie erzeugt. Das reale Objekt muss für die Repräsentation eines Fetischs funktionalisiert werden. Der Blick auf die Genitalien habe sich – wie Hall schreibt – nur dort manifestiert, wo die Betrachter „die sexuelle Natur ihres Blickes verleugnen“80 konnten. Zugleich diene dieser voyeuristi-

78

Hall, Stuart: 2004, 152.

79

Hall, Stuart: 2004, 156.

80

Hall, Stuart: 2004, 156.

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ALS DIE

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sche Blick der Stabilisierung des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen. Bei Hall wird nicht an der Schnittstelle zwischen dem analysierenden Subjekt und dem erzeugten Objekt argumentiert, sondern der Blick auf das Objekt ist bereits an einen Gewaltakt des Betrachters gebunden. Die Geschichte von Sara Baartman dient Hall dazu, die Naturalisierungen von Differenzen aufzuzeigen und zugleich die wissenschaftlichen Orte als Instanzen zu analysieren, die diese Prozesse zu verantworten haben. Entgegen der These von Hall, dass der Fetischismus „einen unregulierten Voyeurismus“ erlaube, wird im Folgenden nicht ausschließlich nach der Verantwortung des Autors und nach den Momenten der Verleugnung gefragt, die sicherlich in einzelnen Fällen aufzuzeigen wären. Vielmehr werden die Prozesse analysiert, mit denen der weibliche Körper in kulturelle Zeichen des Andersseins übersetzt wurde.81 Wie Bronfen schreibt, gelte der weibliche Körper als Synonym für Spaltung und Störung, diene aber gleichwohl der Herstellung eines Wissens, mit dem man „Ordnung schaffen und sich dennoch ganz der Faszination des Beunruhigenden hingeben“82 könne. Aus dem Mangel, der Störung und dem Beunruhigenden wird damit ein Wissen geformt, mit dem das Weibliche in spezifischen Wissensordnungen definiert wird. Als im Jahr 1810 die aus Südafrika stammende Sara Baartman Europa erreichte, war der Mythos um die weiblich-afrikanische Sexualität längst im europäischen Bewusstsein verankert: Auf der untersten Stufe der menschlichen Evolution verortet, verkörperten die „Hottentottinnen“ das Sinnbild ungezügelter afrikanischer Sexualität, das als Gegenbild zum europäischen Weiblichkeitsideal der sexuellen Enthaltsamkeit und Sittsamkeit gezeichnet wurde. Sara Baartman, die als Sklavin in den südafrikanischen Kolonien lebte, wurde zunächst in London und einige Jahre später in Paris wegen ihres ungewöhnlichen Körperbaus ausgestellt. Sie war ein Objekt: Sie wurde in einem Käfig gehalten und in engen Kostümen den Blicken eines neugierigen und zahlungswilligen Publikums ausgeliefert. Als wissenschaftliches Objekt wurde sie bereits zu Lebzeiten untersucht; nach ihrem Tod wurden die Ergebnisse der Sektion, der Vermessung und des Vergleichs ihres Körpers in einer umfangreichen Literatur veröffentlicht. Die detaillierten Analysen zu ihrem Körper dienten Diskussionen über anatomische Merkmale von Prostitution und pathologischer Weiblichkeit sowie über die Nichteinheitlichkeit von „Rassen“.

81

Hall, Stuart: 2004, 157.

82

Bronfen, Elisabeth: 1994, 10.

242 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

Die Geschichte von Sara Baartman zeigt die Naturalisierungs- und Materialisierungsstrategien kultureller Andersartigkeit und weiblicher Fremdheit in den jeweiligen historischen Kontexten. Fremdheit, das Andere und das Weibliche wurden mit Natur und damit über die Anatomie begründet. Wie Sander Gilman schreibt, erhält im 19. Jahrhundert die „Beziehung zwischen [der] Sexualität der schwarzen Frau und der sexualisierten weißen Frau […] eine neue Dimension, wenn man den wissenschaftlichen Diskurs über die Natur schwarzer weiblicher Sexualität untersucht“83. Insofern gibt es historische Prozesse, in denen die Bereiche von „Rasse“ und Sexualität für die wissenschaftlichen Konstruktionen des Anderen zusammenfallen. Zugleich werden im 19. Jahrhundert in den populären Strategien des Zurschaustellens Menschen aus anderen Kulturen gezeigt, mit denen die individuellen Merkmale zu Pathologien des kulturellen Andersseins verdichtet und die Faszination für das Andere mit Rückgriffen auf eine primitive Natur und unvollendete Geschichte begründet wurden. Was sahen die Wissenschaftler und die Zuschauer im 19. Jahrhundert, wenn sie Sara Baartman betrachteten ? Sie war ein Monster, „ein anomales Wesen, eine Verirrung der Natur“84. Sara Baartman war zuallererst schwarz, fremd, exotisch und anders. Sie war das „Objekt der Neugierde“85. Das, was Sara Baartman auszeichnete und zu Lebzeiten populär gemacht hatte, war das schon seit Jahrzehnten in Reiseberichten sich zeigende Interesse an der sogenannten Hottentottenschürze, eine – wie selbst Gérard Badou noch im Jahr 2006 nicht zögert zu schreiben – „Anomalie der weiblichen Geschlechtsteile“. In seinem populärwissenschaftlichen Buch über Die schwarze Venus gibt Badou folgende Beschreibung: „Diese [inneren Schamlippen; Anm. d. Verf.] können in bestimmten Fällen länger als die großen Schamlippen werden und ungefähr zehn oder mehr Zentimeter auf die Oberschenkel herabhängen. Diese Tatsache beflügelte natürlich die Phantasien, denn ein sehr stark ausgeprägtes Geschlechtsteil galt als Zeichen von gesteigerter Sexualität.“86

83

Gilman, Sander: 1992, 123.

84

Badou, Gérard: 2001, 13 f.

85

Badou, Gérard: 2001, 15.

86

Badou, Gérard: 2001, 39.

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Abb. 4 „Die Ekstase der Neugierigen oder die Schnürsenkel“, französischer Druck von 1812

Zu Sara Baartmans Lebzeiten richteten sich die Repräsentationsstrategien auf ihr Gesäß, denn sie wurde nicht ausgestellt, „um ihre Genitalien zu zeigen, sondern um dem europäischen Publikum eine andere Anomalie vorzuführen, die sowohl dieses Publikum als auch die Pathologen wie Blainville und Cuvier fesselte: die Steatopygie“87. Auf einem französischen Druck aus dem Jahr 1812 wird der Gestus der europäischen Zuschauer satirisch dargestellt. Stephen Jay Gould hat diesen Druck Anfang der 1990er Jahre in einem Antiquariat erworben und reproduziert ihn in seinem Buch im Sinne eines Kommentars zur Geschichte über Sara Baartman, „die wir zu ignorieren nicht wagen sollten“88. Ziel seiner Analyse ist es, einen „unmittelbaren und erschreckenden Einblick in die Mentalität und Geschichte des Rassismus im 19. Jahrhundert“ zu liefern. Indem die Praktiken der Vermessung als Schlüssel für eine objektive Wissenschaft untersucht werden, dient Gould die Geschichte von Sara Baartman als Beispiel für Argumentationsweisen eines biologischen Determinismus: Die anatomischen Merkmale wurden für die Erklärung von sozialen, öko-

87

Gilman, Sander: 1992, 126. Steatopygie bezeichnet ein vorstehendes Gesäß.

88

Gould, Stephen Jay: 1995, 239.

244 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

nomischen und politischen Unterschieden herangezogen, mit denen die Gesellschaft als ein Spiegelbild der Biologie aufgefasst wurde.89 Gould erörtert anhand des Druckes, dass sich die Zuschauer „ausschließlich auf die Sexualmerkmale der Venus der Hottentotten“90 konzentrieren, und zeigt, wie hier an anatomischen Merkmalen die Zeichen von Minderwertigkeit festgemacht werden. Das Gesäß wird nahezu nackt gezeigt. Ein Betrachter versucht, mit erhobener Hand das Objekt zu berühren.91 Die anderen Zuschauer bemühen sich, einen Blick unter den die Scham bedeckenden Stoff zu erhaschen. Hinter dem voyeuristischen Blick des Publikums blitzt ihre eigene Intimität hervor. Auch wir sind – schreibt Gould dazu – „unter unserer ganz anderen Kleidung ein Gegenstand biologischen Interesses“92. Im Gegensatz zur Geschäftigkeit der Anwesenden, die sich bemühen, einen Blick auf die Sexualorgane zu erhaschen, strahlt Sara Baartman eine eigenartige Ruhe aus. Während die Zuschauer ihre Körper verrenken, um auf das Objekt des Interesses blicken zu können, richtet sie, in einer überhöhten Stellung auf einem Hocker stehend, den Blick aus dem Bild heraus. Zwischen Faszination und Geschäftigkeit, Gelassenheit und Ruhe wird in dem Druck der Körper einer Frau betrachtet, der erst im Zusammenspiel von Zuschauer und Objekt als eine Merkwürdigkeit der Natur entworfen wird. Wie Gilman schreibt, betrachtete man im 19. Jahrhundert eine schwarze Frau „im Hinblick auf ihr Gesäß, und repräsentiert

89

Gould, Stephen Jay: 1998, 14. Gould schreibt, dass er nicht zeigen wolle, „daß die biologischen Deterministen schlechte Wissenschaftler seien oder gar, daß sie sich immer geirrt hätten. Vielmehr glaube ich, daß die Wissenschaft als gesellschaftliches Phänomen begriffen werden muss, als ein anspruchsvolles Unterfangen, und nicht als die Arbeit von Robotern, die darauf programmiert sind, reine Informationen zu sammeln“ (ebd., 16).

90

Gould, Stephen Jay: 1995, 239; Hervorh. im Orig.

91

Bronfen schreibt in Bezug auf die Darstellungen der weiblichen Leiche im 19. Jahrhundert, dass sich hier ein Wechsel von der körperlichen Berührung zum Blickkontakt vollzieht. Obwohl der Tod eigentlich die Unmöglichkeit des Kontaktes darstellt, wird die Leiche gänzlich zu einem Ort der Verfügbarkeit durch andere und das Sehen zum Akt der physischen Aneignung. Das tote Objekt offenbart damit eine ambivalente Stellung zwischen Begehren und Unmöglichkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Verfügbarkeit und Verfall (vgl. Bronfen, Elisabeth: 1994, 142 ff.).

92

Gould, Stephen Jay: 1995, 239.

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durch das Gesäß sah […] [man] all die Anomalien ihrer Genitalien.“93 Das, was der Betrachter sieht, ist damit weit mehr, als gezeigt werden kann. Die Fantasie der Zuschauer wurde von den Vorstellungen beflügelt, die später das Interesse medizinischer Untersuchungen legitimierten. Reduzierte sich das Gezeigte auf das Gesäß von Sara Baartman, so bezog sich das Interesse der Wissenschaft nach ihrem Tod einzig und allein auf ihre Geschlechtsorgane. In beiden Strategien wurden jedoch die individuellen Merkmale zu Zeichen anormaler weiblicher Sexualität umgedeutet. Die Größe des Gesäßes und der Geschlechtsorgane war im 19. Jahrhundert das wahrhafte Zeichen animalischer Sexualität, wie Gould schreibt. Zivilisierte Menschen seien sexuell zurückhaltend, Tiere hingegen „offenkundig sexuell aktiver und verrieten so ihren primitiven Charakter. Demnach bewiesen Saartjies [Sara; Anm. d. Verf.] überdeutlich ausgeprägte Sexualorgane ihre Animalität.“94 Bestärkt wurde diese Ansicht durch Reiseberichte von Missionaren und Ethnologen. Wie Schiebinger schreibt, haben die kolonialen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts die europäischen Projektionen „der sexualisierten, fruchtbaren Afrikanerin“95 gestützt. Seit dem 17. Jahrhundert wurde über die animalische Sexualität geschrieben, mit dem Unterschied allerdings, dass sich das Interesse der Ethnografen hier noch auf das männliche und weibliche Geschlecht gerichtet habe. Im 19. Jahrhundert wurde dieses offene Verhältnis zwischen den Geschlechtern dann aber allmählich aufgelöst und die sexuelle Promiskuität auf den Körper von Afrikanerinnen projiziert. Schiebinger betont allerdings in diesem Zusammenhang, dass die Tradition der Beschreibung von anatomischen Merkmalen bei Afrikanerinnen, mit der die eigenen europäischen Normen bestätigt wurden, viel weiter zurückreiche. Als Peter Kolb seine Aufzeichnungen Unter Hottentotten Anfang des 18. Jahrhunderts in Europa veröffentlicht, berichtet er von der „Extirpa-

93

Gilman, Sander: 1992, 130.

94

Gould, Stephen Jay: 1995, 237. Dieses Argument – so schreibt Gould – war hier „für den Arsch“, denn Menschen sind sexuell aktiver als Tiere und haben auch die größten Sexualorgane. In dieser Hinsicht spitzt Gould die Argumentation zu und zeigt, dass „eine in sexueller Hinsicht mehr als durchschnittlich ausgestattete Person auf jeden Fall mehr Mensch“ sei (ebd., 237).

95

Schiebinger, Londa: 1995, 230.

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tion“ der Hoden.96 Bei diesem Brauch wird dem heranwachsenden Mann ein Hoden entfernt, die Wunde mit Kräutern und Fett gestopft und mit der Sehne eines Ochsen wieder verschlossen. Kolb berichtet, er habe in keinem anderen Land ein ähnliches Ritual gesehen. So ungewöhnlich ihm diese rituelle Praxis auch erschien, so hätten doch die „Hottentottinnen“ viel eher eine Beschneidung nötig, denn ihnen würde damit „ein Übelstand und schändlicher Lappen weggeschnitten, der sie bisher verstellt, und sie dann den anderen Weibern in Europa gleich machen würde“97. Für

96

Vgl. hierin Kolbs 6. Brief Von den Opfern der Hottentotten oder, wie sie es zu nennen pflegen, vom Andersmachen, besonders auch von der Extirpation der Hoden (Kolb, Peter: 1979, 72–89).

97

Kolb, Peter: 1979, 76. Kolb veröffentlichte seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1705–1713. Er hielt sich mehrere Jahre am Kap von Südafrika auf und sandte seine Briefe regelmäßig seinem Mäzen Baron von Krosigk zu, der seine Studien zu meteorologischen und astronomischen Zwecken finanzierte. Kolb wurde als Ethnograf besonders deshalb bekannt, weil seine Studien als einfühlsame und erste Völkerkunde über die „Hottentotten“ Bedeutung erlangten, denn es zeige sich an Kolbs Berichten eine „gewisse Tendenz zur Idealisierung der Hottentotten“ (vgl. die Einleitung von Werner Jopp in: ebd., 21). Kolb beklagt, dass über die „Hottentotten“ viele Unwahrheiten geschrieben wurden, denn in Wahrheit seien sie in ihrer „Art klug genug und wissen ebenso wie ein anderer Mensch, ihren Verstand zu gebrauchen“ (ebd., 37). Während Kolb hier ganz auf der Ebene der Vernunft argumentiert, wird in den missionarischen Berichten der fehlende christliche Glaube als Indiz für Zuschreibungen von Dummheit und Hässlichkeit benutzt. In einem in einer missionarischen Zeitschrift erschienenen Text mit dem Titel Den lieben Kindern erzählt ein Missionar im Jahr 1890 über das „Hottentottenmädchen Antje“, das durch die Bekehrung zum richtigen Glauben erst menschliche Züge und weibliche Schönheit angenommen habe. Zu Beginn berichtet der Missionar, dass sie „hässlich von Angesicht und schief von Gestalt“ sei. Später dann wird aus dem „geistesschwache[n], fast blödsinnige[n] Krüppel“ durch Gottes Gnade ein freundliches Wesen (Schmidt, o. A.: 1890, 1). Animalität, Heidentum und Sprachlosigkeit werden hier Freundlichkeit, Sprachfähigkeit und Schönheit gegenübergestellt: „Der frühere tierische Blick mit den wild rollenden Augen war verschwunden, und ruhig und beinahe sanft sah sie uns an.“ Somit sei dann auch die „stotternde Zunge, die sonst die Sprache zerhackte oder einen wilden Strom hervorstieß“, geschmeidiger geworden (ebd., 15).

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Kolb ist es ein angewachsenes Stück Fell, eine Kuriosität, die er gegen ein paar Stückchen Tabak sehen durfte. Die Frauen zeigten es gerne und ohne Scham. Kolb schreibt: „[W]as die Ursache ist, weiß ich nicht. Ich habe nicht gelesen, dass man es bei europäischen Frauen gefunden hat.“98 Auch John Barrow berichtet im 18. Jahrhundert über die bereits bekannte Tatsache, „daß die Hottentottischen Frauenzimmer ein ungewöhnliches Anhängsel an den Theilen haben, die das Auge selten zu sehen bekommt“99. Barrow habe es dennoch keine Mühen gekostet, seine Neugierde ohne die „geringste Beleidigung der Anständigkeit zu befriedigen“100. Die zahlreichen Berichte zeichnen seit dem 18. Jahrhundert das Bild der animalischen Sexualität der afrikanischen Frau. Dieses Bild verkörpert den Gegensatz der europäischen Vorstellungen und Normen bezüglich der (weiblichen) Sexualität. Als aussagekräftiges Beispiel für diesen Gegensatz wird Sara Baartman Anfang des 19. Jahrhunderts nach Europa gebracht, wo „die Weißen ganz anders seien, weil sie ja dafür bezahlen würden, um sie zu bewundern“101. Sara Baartman sollte aber nicht nur bewundert, sondern in allererster Linie verkauft werden. Nachdem der in Südafrika lebende Holländer Hendrick Caezar die bei seinem Bruder als Sklavin lebende Sara Baartman ‚erworben‘ hatte, brachte er sie nach Europa. In London angekommen, mietete er in der Nähe des Piccadilly Circus ein Zimmer und veröffentlichte in einer Londoner Tageszeitung am 20. September 1810 folgende Anzeige: „Die Hottentotten-Venus ist gerade angekommen. Sie kann zwischen 1 Uhr und 5 Uhr nachmittags in Piccadilly, Nummer 225, besichtigt werden. Sie kommt von den Ufern des Flusses ‚Gamtoos‘, der an der Grenze zum Kaffernland im Inneren von Südafrika liegt. Sie ist eines der vollendetsten Exemplare dieses Volkes. Dank dieses erstaunlichen Naturphänomens hat das Publikum die Gelegenheit, zu beurteilen, in welchem Maße sie alle Beschreibungen von Historikern bezüglich dieses Stammes der menschlichen Rasse übertrifft. Sie trägt die Kleidung ihres Landes und den Schmuck, den ihr Volk gewöhnlich trägt. Die

98

Kolb, Peter: 1979, 77.

99

Barrow, John: 1801, 341.

100 Barrow, John: 1801, 341. Dorothy Bleek schreibt im Jahre 1911 hingegen, dass es keineswegs einfach sei, eine Fotografie einer Khoisan, einer Frau ohne Kleidung, zu machen. Die „Eingeborenen“ wurden damit zu einem unfreiwilligen Subjekt der Untersuchungen (vgl. Qureshi, Sadiah: 2004, 247). 101 Badou, Gérard: 2001, 65.

248 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT wichtigsten gebildeten Leute dieser Stadt haben sie bereits gesehen. Alle waren über den Anblick eines so vortrefflichen Exemplars der menschlichen Rasse sehr in Erstaunen versetzt.“102

Kaum in Europa angekommen, wurden die wissenschaftlichen Autoritäten jener Zeit berufen, um die unerhörte Seltenheit wissenschaftlich zu legitimieren und so die Resonanz der Ausstellungen zu verstärken. Sie würden vom Körperbau Sara Baartmans fasziniert werden, wenn sie einen Blick auf ihr Objekt werfen würden. Ob dies tatsächlich geschehen ist, kann nicht nachgewiesen werden. Fest steht nur, dass medizinischwissenschaftliche Abhandlungen erst später entstehen sollten. Die Ausstellung in London rief zunächst eine Protestwelle hervor und führte zu einem Gerichtsverfahren. Im Ergebnis der Verhandlungen kam es zu einem Verbot der Show und Sara Baartman sowie ihr Manager mussten London verlassen. Nur kurze Zeit später erreichten sie Paris. Am 16. Februar 1814 schrieb der Naturforscher und Teratologe Saint-Hilaire dann folgenden Brief an den Leiter der ersten Abteilung der Pariser Polizei: „Monsieur, wir würden gern von dem Umstand profitieren, den uns die Anwesenheit einer Buschfrau in Paris gibt, um noch genauer, als bisher geschehen, die Unterscheidungsmerkmale dieser eigenartigen Rasse festzuhalten. Zu diesem Zwecke haben wir uns an den Herrn dieser Frau gewandt, die in der Öffentlichkeit unter dem Namen Hottentotten-Venus vorgeführt wird, aber er hat unserem Wunsch die Verpflichtung entgegengehalten, die er gegenüber Ihrer Behörde eingegangen ist. Da Monsieur Reaux Ihre Erlaubnis benötigt, um seine Hottentottin in den Jardin du Roi zu bringen, bitten wir Sie, so gütig zu sein, sie ihm zu erteilen.“103

Einige Tage später wurde Sara Baartman ins Musée de l’Homme eingeladen und sollte dort drei Tage verbringen. Doch sie habe sich nicht entkleidet und habe ihre ‚Schürze‘ sorgfältig verdeckt gehalten.104 Im Winter 1815 stirbt Sara Baartman an den Folgen einer Lungenentzündung. Nun beginnt ihre eigentliche Odyssee. Einige Tage nach ihrem Tod übernimmt George Cuvier die Sektion der Leiche. Er entfernt die Vulva sowie den

102 Zitiert nach Badou, Gérard: 2001, 85. 103 Zitiert nach Badou, Gérard: 2001, 132. 104 Vgl. Badou, Gérard: 2001, 136.

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Anus und der Leichnam wird der Akademie für Medizin übergeben.105 Wenige Tage später fasste Cuvier die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammen und beschrieb Sara Baartman wie folgt: „Ihre Bewegungen hatten etwas Abruptes und Unberechenbares an sich und erinnerten an die eines Affen. Sie hatte vor allem eine Art, ihre Lippen vorzustülpen, wie wir es beim Orang-Utan beobachtet haben.“106

Wenn auch in einer Sprache, die mit rüden Ausdrücken aufwartet, verfasst, wurde die Abhandlung von Cuvier doch zu einer viel zitierten und berühmten Schrift des 19. Jahrhunderts. Hier wurde – wie Schiebinger schreibt – Sara Baartman sowohl „hinsichtlich ihres Geschlechts als auch ihrer Rasse […] auf die Sphäre schierer Fleischlichkeit reduziert“107. Ihr Körper wurde zerstückelt und in Teilen konserviert. Ihn ereilte – wie Schiebinger betont – „dasselbe Schicksal wie Affen, deren Skelett und Haut an naturhistorische Museen gingen“108. Laut Schiebinger zeige sich an der Geschichte von Sara Baartman „das Wechselspiel von Rasse und Geschlecht in der Wissenschaft um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert“109. Doch noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war der Körper von Sara Baartman in der Sammlung vergleichender Anatomie des Musée de l’Homme zwischen anderen kuriosen Objekten zu sehen. In zahlreichen Abhandlungen, die sich der Frage nach den Rassenunterscheidungsmerkmalen, nach der Prostitution oder nach den Ursachen

105 Während Badou von einem Verschwinden der Körperteile schreibt, berichtet Gould, er habe vor einigen Jahren im Pariser Musée de l’homme in einem Magazin die sezierten Genitalien Sara Baartmans entdeckt. Bei einem Rundgang durch das Museum habe er einen Einblick in den im 19. Jahrhundert vermittelten Rassismus bekommen (vgl. Gould, Stephen Jay: 1995, 230). Gilman schreibt, dass im 19. Jahrhundert zwar auch männliche Afrikaner seziert wurden, doch in den damals verfassten Sektionsberichten überrasche „das Fehlen jeglicher Diskussion der männlichen Genitalien“ in Bezug auf „Rasse“ (Gilman, Sander: 1995, 128 f.). Insofern sei es der weibliche Körper, auf den die ‚Great Chain of Being‘ bezogen und damit das Andere sexualisiert wurde (vgl. ebd., 129). 106 Cuvier, Georges zitiert nach Badou, Gérard: 2001, 135. 107 Schiebinger, Londa: 1995, 245. 108 Schiebinger, Londa: 1995, 245. 109 Schiebinger, Londa: 1995, 245.

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von sogenannten Genitalanomalien widmeten, diente ihr Körper als Negativfolie bzw. als Indikator, der zeigen sollte, wie weit es der westlichen Kultur gelungen ist, Kontrolle über die Natur und die Welt zu gewinnen.110 Sara Baartman als Mensch bleibt unbekannt. Als wissenschaftliches Objekt erlangte sie allerdings eine traurige Popularität: Die Bezeichnung „Hottentottenvenus“ tritt wie ein Gespenst in den anthropologischen und medizinischen Abhandlungen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts immer wieder auf.111 Im Jahr 1995 wurde eine Kampagne ins Leben gerufen, die unter dem Namen „Bring back the Hottentot Venus“ eine Diskussion über die

110 Vgl. Gilman, Sander: 1992, 136. 111 Ein jüngeres Beispiel hierfür ist eine 1987 publizierte Dissertation mit dem Titel Die Khoisaniden. Anthropologische und Physisch-Anthropogeographische Untersuchungen über die Buschmänner und Hottentotten. Der Autor widmet sich in dieser Monografie dem „Khoisanidenproblem“ und weist bereits im Vorwort darauf hin, dass „beide Populationen, die sich in ihrer Merkmalsausdifferenzierung keiner der drei rezenten Großrassen zuordnen lassen“, schon immer Anlass zu den „verschiedensten Hypothesen und Spekulationen bezüglich ihrer Herkunft, Zugehörigkeit und Stellung im Rassenklassifikationssystem“ gaben (Ernst, Michael: 1987, Vorwort o. S.). Der Autor leitet die Schwierigkeiten bei der Erstellung von „Rassenklassifikationssystemen“ von den „augenscheinlich körperlichen Besonderheiten“ ab (ebd., 2) und argumentiert, dass die natürlichen Verhältnisse der Kalahari „offensichtlich Somatotypen selektiert“ habe (ebd., 261). Obwohl er seiner Arbeit – ganz im Gestus der Rassenanthropologie des 19. Jahrhunderts – zahlreiche Tabellen und Vermessungsergebnisse beigefügt hat, schreibt er am Ende seiner Untersuchung: „Diese These muß jedoch an anderen noch unter natürlichen Bedingungen lebenden Populationen überprüft werden, bevor eine eindeutige Aussage darüber zu machen ist, welcher Stellenwert einer solchen Interpretation bei den Buschleuten zukommt“ (ebd., 262). In einem gesonderten Abschnitt widmet er sich auch den Geschlechtsorganen und diskutiert die Funktion jener „Sonderbildung“, die er als die „zweifellos sonderbarsten Merkmale der Khoisaniden-Anatomie“ bezeichnet (vgl. ebd., 128–153). Er bezieht sich auf die zahlreichen Forschungen im 19. Jahrhundert, die dazu beigetragen hätten, die Tatsachen herauszustellen, mit denen letztlich auch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die anatomischen Merkmale zu einer „Rasseneigentümlichkeit“ erklärt werden (ebd., 142).

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westliche Tradition der Ausstellungen von Menschen in Museen in Gang brachte. Der südafrikanische Präsident Nelson Mandela setzte sich im Zuge dieser Kampagne persönlich für die Rückführung der sterblichen Überreste von Sara Baartman ein; daraufhin kam es zu langjährigen Verhandlungen zwischen der französischen und der südafrikanischen Regierung.112 Erst im Jahr 2002, nach einer nahezu zweihundert Jahre andauernden Odyssee, wurden die Reste des Leichnams von Sara Baartman in ihrer Heimat am Flusse Gamtoos beerdigt. In den letzten Jahren sind zahlreiche Aufsätze zum ‚Mythos‘ von Sara Baartman veröffentlicht worden. Dabei werden die engen Verbindungen von Sexualität und „Rasse“ herausgestellt, die für den machtvollen Entwurf eines geschichtslosen Anderen und die daran ansetzenden Stigmatisierungsprozesse ausgesprochen bedeutsam waren. In diesen Arbeiten wird anhand der europäischen Vorstellungsbilder über ‚die schwarze Frau‘ gezeigt, dass Sexismus und Rassismus wesentliche Funktionen des Andersmachens sind: „[R]acism and sexism developed together and not separately“113. Anhand der Konstruktionsweisen von anatomischer Kuriosität und politischer Karikatur werden die Prozesse untersucht, mit denen die scharfen Differenzen zwischen dem (kolonisierten) Anderen und dem (kolonisierendem) Eigenen hergestellt wurden.114 Die Geschichte der Repräsentation anthropologischer Objekte führte im 19. Jahrhundert zu Stigmatisierungsprozessen, die auf der Verschränkung der Kategorien „Rasse“, Geschlecht und Minderwertigkeit beruhten. Sara Baartmans scheinbare „anatomische Besonderheit wirkte wie eine Initialzündung, sich intensiver mit den weiblichen Geschlechtsteilen zu befassen“115. Der sexualisierte weibliche Körper wurde nicht nur zu einem gefährlichen Ort individueller Anomalien, sondern diente der Diskussion über gesellschaftliche Pathologien. Der monströse Körper wurde nicht einfach

112 Vgl. Qureshi, Sadiah: 2004, 233. 113 Abrahams, Yvette: 1998, 223. Vgl. auch Mielke, Andreas: 1997; FaustoSterling, Anne: 1995. 114 Westermann zitiert einen Text, in dem die Öffentlichkeit ihr Entsetzen über die Ausstellung der Leiche eines Schwarzafrikaners in einem spanischen Museum zum Ausdruck bringt: „Man müsse El Negro als ein ‚Artefakt europäischer Kultur‘ betrachten, eine Gestalt, ‚die uns nichts über Afrika und seine Bewohner erzählt, aber umso mehr über uns selbst‘“ (Westermann, Frank: 2005, 180). 115 Hagner, Michael: 2005c, 180.

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nur abgebildet oder repräsentiert, sondern an ihm setzte ein durchaus komplexer Prozess an, der zum einen mit immer feiner justierten Methoden, verbesserten technischen Möglichkeiten und neuen Systematiken die Bestimmungen des Monströsen als Ganzes auflöste, zum anderen aber immer einen vollständigen natürlichen Körper als unhintergehbare Faktizität von extremer Abweichung hervorbrachte. In den aktuellen Debatten der Postcolonial Studies werden die westlichen Ikonografien in Bezug auf Sara Baartman als historische Prozesse nachgezeichnet. Dabei wird der schauerliche Objektstatus, den Sara Baartman über zwei Jahrhunderte in der westlichen Wissenschaftskultur innehatte, mit einer Geschichte biografischer Bezüge konfrontiert, um hinter all den wissenschaftlichen Beschreibungen der Person Sara Baartman nachzuspüren.116 Auf die Schwierigkeiten einer Rekonstruktion – die

116 Abrahams schreibt, dass in aktuellen Arbeiten über Sara Baartman, bspw. den Studien von Bernth Lindfors oder Robert Altick, die imperialen Begriffe unreflektiert weitergeführt werden; der Objektstatus von Sara Baartman werde so nach wie vor festgeschrieben. Weil man sich in diesen Arbeiten weiterhin der Ikonografie des 19. Jahrhunderts bediene, stellen sie bis heute keinen Bezug zur realen Person her (vgl. Abrahams, Yvette: 1998, 224). Katja Sabisch greift in ihrer Studie zu medizinischen Menschenexperimenten im 19. Jahrhundert diese Perspektive auf und betont, dass es angesichts der entmenschlichten experimentellen Praktiken des 19. Jahrhunderts mehr als unangemessen scheint, eine „Geschichte der Versuchsperson als eine Geschichte der Dinge zu schreiben“. Mit einer Rekonstruktion der Praktiken der Entpersonalisierung in ihrer epistemologischen Situiertheit könne aber eine Perspektive auf die „anstößige Dingheit“ der Versuchspersonen gewonnen werden, die zur „Sichtbarwerdung des experimentalisierten Menschen“, der als Person hinter den Experimenten steht, beitrage (Sabisch, Katja: 2007a, 23). Insofern müsse man sich zunächst den Praktiken widmen, die diese Entpersonalisierung hervorbringen, sowie jene Begriffe und Theorien untersuchen, hinter denen dann die Person aufgespürt werden könne. Gefragt werden muss allerdings, ob ein immanent ethischer Ansatz, der darauf zielt, die Opfer in die Geschichte der Biowissenschaften einzuschreiben, nicht letztlich doch eine privilegierte Haltung impliziert, mit der eine historische Überlegenheitsvorstellung reproduziert wird. Im Anschluss an die Debatten der letzten Jahre in der feministischen Wissenschaftstheorie wurde aufgezeigt, dass es vielmehr darum gehen muss, die Komplexität dieser Argumente zu berücksichtigen und sich nicht auf eine den kulturellen und politischen

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insbesondere darauf zurückzuführen sind, dass es zu wenige Dokumente über das Leben von Sara Baartman gibt – wird dabei hinlänglich hingewiesen.117 Sadiah Qureshi meint jedoch: „Crucially, enough is known about Baartman to individualize her.“118 Heute sei Sara Baartman zum Symbol des europäischen Imperialismus und der Unterdrückung afrikanischer Frauen geworden. Sara Baartman ist – wie Yvette Abraham postuliert – „a victim of British Imperialism.“119 Eine solche Position der Symbolisierung von Baartman als Opferfigur führe aber – wie Qureshi entgegenhält – erneut eine ahistorische Argumentationsweise ein.120 Mit Blick auf Arbeiten von Gilman und Schiebinger schreibt sie, dass in solchen Ansätzen zwar die Prozesse der Materialisierungen des Anderen untersucht, jedoch die Komplexität von „Rasse“ und Geschlecht nicht genügend berücksichtigt würden: „However, the most problematic feature of the current literature is its treatment of race as an historically timeless concept.“121 Da diese Arbeiten, die sich mal den Naturwissenschaften und Reiseberichten, mal den voyeuristischen Strategien in den Wissenschaften widmen, ausschließlich die wissenschaftlichen Konstruktionsweisen des frühen 19. Jahrhunderts untersuchen, bleibt die Biografie und das Schicksal von Sara Baartman als ein beziehungsloses Stückchen Geschichte westlicher Kultur stehen. Es gibt bis heute eine Auseinandersetzung darüber, wie die Geschichte von Sara Baartman in die aktuellen Debatten über Rassismus oder Sexismus einzubinden ist. Wie auch immer diese Einbindung konzipiert wird, die Geschichte von Sara Baartman müsse – wie Qureshi fordert – immer in einem erweiterten kulturellen Kontext betrachtet werden, um das komplexe Zusammenspiel von Konzepten wie „Rasse“, Geschlecht und Kultur als Materialisierungs- und Naturalisierungspraktiken zu analysieren. Somit müssen die materialisierenden Prozesse untersucht werden, mit denen in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts ein Zusammenhang zwischen den Kategorien des

Zugriffen vorgelagerte Ebene zurückzuziehen. Im Kontext der feministischpoststrukturalistischen Theorien haben Seyla Benhabib und Judith Butler die theoretischen Implikation dieser Haltungen debattiert und jeweils ihre Position dargelegt (vgl. Benhabib, Seyla/Butler, Judith u. a.: 1993). 117 Vgl. Abrahams, Yvette: 1998, 224. 118 Qureshi, Sadiah: 2004, 249. 119 Abrahams, Yvette: 1998, 225. 120 Vgl. Qureshi, Sadiah: 2004, 251. 121 Qureshi, Sadiah: 2004, 234.

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Weiblichen bzw. der Natur und Konzepten von „Rasse“ hergestellt wurde. Es soll dabei verdeutlicht werden, dass das Monströse keine biologische Gegebenheit ist, sondern erst im Prozess der wissenschaftlichen und kulturellen Wissensproduktion als bedeutungsschwere Kategorie des Ausschlusses und der Stigmatisierung hervorgebracht und erzeugt wird. Dass das Monströse als Ort der kulturellen Fremdheit konzipiert wurde, soll im nächsten Abschnitt am Beispiel der Konstruktion des Weiblichen und des Monströsen im Kontext der ethnografischen Literatur des 18. Jahrhundert in den Blick genommen werden.

4.3.2 Das Fremde als singuläres Ereignis: Die Zeichnung einer Hottentottin von François LeVaillant (1789) Im 18. Jahrhundert dominierten die Reisenden und Ethnografen die Diskussion über den fremden außergewöhnlichen Körper. Anhand einer Reisebeschreibung von François LeVaillant aus dem 18. Jahrhundert sollen im Folgenden die Repräsentationsstrategien von Geschlecht und Kultur untersucht werden. In einem weiteren Schritt wird dann gezeigt, wie im 19. Jahrhundert die Beschreibungen monströser Phänomene als Feststellung physiologischer Charakteristika im medizinischen Diskurs verhandelt werden. Die ethnografische Bestandsaufnahme des 18. Jahrhunderts wird im 19. Jahrhundert von einer medizinischen Analyse des Körpers und des Menschen abgelöst. Im Zuge dieser Entwicklung werden zugleich die Begriffsbildungen des Monströsen wirkungsvoll auf andere Objekte übertragen. Es entstehen neue wissenschaftliche Gegenstandsbereiche und anatomische Merkmale, an denen die Strategien der Normalisierung von Geschlecht und „Rasse“ ansetzen konnten. Als Beispiel für diese Transformation wird ein Sektionsbericht des Anatomen Johannes Müller aus dem Jahr 1834 herangezogen. Die enge Verschränkung von wissenschaftlicher Bestimmung und der stetigen Erzeugung des Unbestimmten wird in einem letzten Schritt anhand einer Publikation aus dem Jahr 1928 dargestellt, in der zoologische und anthropologische Ergebnisse präsentiert werden, die im Rahmen einer Forschungsreise entstanden. In einer berühmten Abhandlung berichtete François LeVaillant über seine Erfahrungen mit den ‚Eingeborenen‘ Südafrikas, den sogenannten ‚Hottentotten‘, denen er während seiner ersten Reise in das Innere von Afrika in den Jahren 1780–1782 begegnete. Einer seiner besten Leute habe den anderen Mitreisenden von einer merkwürdigen Entdeckung

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berichtet, „über die sie um so mehr lachten, je mehr sie dadurch in Verwunderung gesetzt wurden, und je mehr sie dieselbe für ein zum Scherz erdachtes Märchen ansahen“122. LeVaillant notierte, „daß eine von den Hottentottinnen jener Horde die besondere Bildung habe“. Obgleich er die besondere Bildung noch nie zu Gesicht bekommen habe, habe er sich durch Hörensagen, durch Nachforschungen und Erkundigungen bereits ein Wissen über die Bildung weiblicher Geschlechtsteile bei den ‚Hottentottinen‘ angeeignet.123 Seitdem im 17. Jahrhundert das erste Mal von der „Hottentottenschürze“ berichtet worden war, wurde sie als Missbildung verstanden.124 Wie Schiebinger schreibt, habe auch Voltaire sie als so ungewöhnlich erachtet, dass er „diese Frauen [für] Angehörige[.] einer besonderen Menschenart hielt“125. Die zahlreichen Berichte, die bereits vor den Arbeiten von LeVaillant in Europa veröffentlicht wurden, enthielten zwar zahlreiche Beschreibungen der „Hottentottenschürze“, doch bis dahin gab es unterschiedliche Meinungen darüber, ob sie tatsächlich existiere. Obwohl LeVaillant die zahlreichen Berichte zunächst nur als ‚Märchen‘ ansah, war es das Ziel seiner Arbeit, eine detailgetreue Abbildung des Körpers der ‚Hottentottinnen‘ zu erstellen. Er setzte seine ganzen Überredungskünste ein – und es bedurfte, wie er schreibt, langer Verhandlungen –, um seine Neugier an den nackten Tatsachen einer Frau zu befriedigen. Die im Verborgenen liegende Tatsache sollte sich keineswegs so einfach aufdecken lassen. LeVaillant wunderte sich zunächst über die „wilden Weiber“, denn sie seien im Gegensatz zu den Frauen, die in den Kolonien als Sklavinnen lebten, nicht ohne Weiteres bereit gewesen,

122 LeVaillant, François: 1790, 396. 123 Bereits im 17. Jahrhundert wurden zahlreiche Schriften veröffentlicht, die sich wissenschaftlich mit der Existenz und dem Ursprung der „Hottentottenschürze“ auseinandersetzten. Der Genitallappen wurde zu einem Charakteristikum erklärt und es wurde versucht, ihn mit ähnlichen Bildungen bei Affen zu vergleichen. Ob die „Hottentottenschürze“ künstlich erzeugt oder angeboren sei, war Gegenstand langjähriger wissenschaftlicher Debatten (vgl. Schiebinger, Londa: 1995, 234 ff.). Interessant ist in diesem Kontext, dass auch Gilman die Auffassung vertritt, die Makronymphie werde durch „die Manipulation der Genitalien verursacht“ (Gilman, Sander: 1991, 125). Für meine Argumentation spielt es jedoch keine Rolle, auf welche Ursache die Verlängerung genitaler Hautpartien zurückzuführen ist. 124 Schiebinger, Londa: 1995, 235. 125 Schiebinger, Londa: 1995, 235.

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sich den Blicken eines Fremden auszuliefern. Die Sklavinnen seien „immer gar zu bereitwillig […], die schändlichen Begierden der Weißen zu befriedigen und ihnen sogar zuvorzukommen“. Allerdings würden „die Weiber der Wilden fast allemal der Neugierde das versagen, was sie der Liebe bewilligen“126. Nach langen Verhandlungen gab die Frau endlich den für „Naturhistorie und Geschichte so wichtigen Punkt“ dem europäischen Auge preis: „[B]estürzt, verlegen und zitternd bedeckte sie sich endlich mit beiden Händen das Gesicht, ließ ihre Schürze wegnehmen, und erlaubte mir ruhig, das zu betrachten, was der Leser in meiner getreuen Zeichnung auf der beiliegenden Kupfertafel sehen wird.“127 Abb. 5 „Eine Hottentottin“

126 LeVaillant, François: 1790, 397. 127 LeVaillant, François: 1790, 398.

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LeVaillant versichert dann auch seinen Lesern, dass er die Abbildung nach dem Leben gezeichnet habe. Johann Förster, ein zu dieser Zeit tätiger Professor aus Halle, übersetzte den Reisebericht, der nur ein Jahr später in Berlin veröffentlicht wurde. Im Vorwort bekräftigt er den bedeutenden Beitrag, den LeVaillant mit seinem Werk für die Zoologie und die „Kenntnis von verschiedenen Afrikanischen Völkerschaften“ geleistet habe. Er schreibt: „Die Kupfer sind den bei dem Originale befindlichen getreu nachgestochen; und dies war Alles, was sich thun ließ. Die Zeichnungen könnten wohl besser sein; indeß scheint es doch, als wären die Physiognomien der darauf abgebildeten Personen nicht erfunden, sondern wahr.“128

Was ist, so ließe sich fragen, nun die Wahrheit dieser physiologischen Seltenheit. Zur Einschätzung und Bestimmung der anatomischen Merkmale nehmen Johann Förster und LeVaillant zwar unterschiedliche Positionen ein, ihre Interpretationen unterscheiden sich jedoch entscheidend von den Schriften der Mediziner und Anthropologen des 19. Jahrhunderts. LeVaillant hatte seinem Werk zwar eine naturgetreue Abbildung beigefügt, allerdings bemühte er sich nicht um eine medizinische Erklärung der „Hottentottenschürze“. Für ihn waren diese anatomischen Merkmale durchaus eine eigentümliche Tatsache, aber er sah sie nicht als ein natürliches Merkmal von „Rasse“ an. Vielmehr hielt LeVaillant sie für eine Laune der Mode, die nur noch teilweise praktiziert wurde. Förster wendete sich gegen die Auffassung von LeVaillant. Dieser habe übersehen, dass die kulturellen Praktiken nicht „von jeher eine Art von Mode gewesen sind, und sich jetzt nur noch hier und da an einzelnen Personen finden, welche die Mode beibehalten wollten“129. Die „verlängerten Schamlefzen“ seien auf die heißen klimatischen Verhältnisse in den afrikanischen Gebieten zurückzuführen. Die Hitze führe durch permanentes Eindringen in den Körper zu einer „körperlichen Abspannung“ und sorge so für die ungewöhnlichen Vergrößerungen bestimmter Hautpartien, vor allem im Genitalbereich.130 Diese „Abspannung“ erkläre auch die afrikanische Tradition der Beschneidung weiblicher und männlicher Geschlechtsorgane. Während LeVaillant eine Bestandsaufnahme

128 Johann Förster in LeVaillant, François: 1790, XI. 129 Johann Förster in LeVaillant, François: 1790, 400. 130 Johann Förster in LeVaillant, François: 1790, 400.

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des Einzelfalles gibt, unternimmt Förster den Versuch, den Unterschied zum europäischen Ideal herauszuarbeiten, der sich jedoch noch nicht auf eine Differenz zwischen den Geschlechtern bezieht. Die Differenz wurde mit spezifischen klimatischen Verhältnissen begründet und bezog sich daher noch auf beide Geschlechter. Bei Förster wird die „eigentümliche Bildung“ noch nicht auf eine weiblichen Genitalanomalie bezogen. Sie sei in den besonderen klimatischen Verhältnissen begründet und könne nicht auf Praktiken zeremonieller Verlängerungsrituale bestimmter Hautpartien zurückgeführt werden. Die Schürze – und darin sind sich Förster und LeVaillant einig – spiegele allerdings die Besonderheit außereuropäischer Schönheitsideale und fremder ästhetischer Empfindungsweisen wider. Während die individuellen Merkmale des weiblichen Körpers LeVaillant amüsierten, versuchte Förster die Ursachen durch die klimatischen Bedingungen zu erklären. Gilman hat argumentiert, dass in den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts die Verfahrensweisen, mit denen die Unterschiede zwischen Menschen herausgearbeitet wurden, noch einem monogenetischen Weltbild unterlagen.131 LeVaillant begründet die körperlichen Differenzen mit den unterschiedlichen kulturellen Praktiken. Das Interesse seiner Studien beruht einzig auf den Möglichkeiten der Sammlung und Darstellung der Seltenheit. Die Unterschiede zwischen den Menschen wurden noch nicht mit biologischen Argumenten und Normen begründet. Das Fremde wurde noch auf der Basis unterschiedlicher kultureller Praktiken erklärt. Im 19. Jahrhundert hat sich dieses Bild der Natur des Menschen jedoch entscheidend verändert.132 Die ethnografischen Berichte des 18. Jahrhunderts konnten durch die Möglichkeiten der Verbreitung von Texten einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Den kolonialen Erschließungen folgten die Berichte über europäische zivilisatorische Interventionen, die das europäische Bild Afrikas fortan prägen sollten. In den Reiseberichten ging es um die Zuverlässigkeit der ethnografischen Bilder. Der Einfluss, den François LeVaillant auf europäische Vorstel-

131 Vgl. Gilman, Sander: 1992, 128. 132 Vgl. Gilman, Sander: 1992, 128. Gilman zeigt hier anhand eines Berichtes über die Sektion einer „Hottentottenfrau“, den der Arzt Flower im Jahr 1867 im Journal of Anatomy and Physiology publizierte, wie die polygenetischen Argumente geschaffen wurden, die mit medizinischen Daten und offensichtlichen Hinweisen auf anatomische Merkmale das begründen sollten, was im Ziel der Untersuchung schon vorher angelegt war.

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lungen von Weiblichkeit und „Rasse“ ausübte, beruhte vor allem auf der Tatsache, dass LeVaillant für einige Jahre in das Innere von Afrika gereist war und sich dort selbst ein Bild machen konnte. Dadurch waren der Wahrheitsgehalt und die Glaubwürdigkeit der Beschreibungen sowie die Seriosität der Daten gegeben. Auch in anderen Reiseberichten, beispielsweise dem von Peter Kolb, wiesen die Autoren im Vorwort immer wieder darauf hin, dass sie sich selbst von den Tatsachen überzeugt und alles wahrheitsgetreu niedergeschrieben und zeichnerisch abgebildet hätten. Bei LeVaillant sind die Bedeutungen des Monströsen noch nicht in die einzelnen Fragmente zergliedert wurden. Das Andere konstituiert sich im passiven Anblick, seine radikale Fremdheit wurde mit zeichnerischen Abbildungen des Monsters verifiziert. Die Besonderheit ist noch als Singularität auf der Oberfläche des Körpers angeordnet, als monströses Objekt wird der Körper in den Illustrationen festgehalten und für Prozesse der Wissensbildung bereitgestellt.

4.3.3 Wissensproduktion am Tod: der Sektionsbericht von Johannes Müller (1834) Der monströse Körper erhält – wie Katharina Sykora schreibt – in „seinen Ausprägungen des Häßlichen und Grotesken seit dem 18. Jahrhundert eine neue Bedeutung“133. Seit dieser Zeit werde das Weibliche und das Monströse mit dem ethnisch Fremden verkoppelt und erhalte in dieser Synthese als biologische Abweichung eine unhintergehbare Faktizität für die Herstellung einer männlichen, europäischen Norm. Die Figur der körperlich monströsen Wilden diene der Stabilisierung eines „offenbar prekär gewordenen klassischen europäischen Weiblichkeitsideals“. Vor allem werde – so betont Sykora – die Figuration des Weiblichen und Monströsen „nun im engsten Sinne ethnisiert und genitalisiert“134. Dieser Wechsel, mit dem aus dem monströsen Körper ein geschlechtlich monströses Objekt medizinisch-anthropologischer Diskurse wurde, fand im 19. Jahrhundert statt. Im 19. Jahrhundert haben sich die Darstellungen und Konstruktionen von Monstrositäten entscheidend verändert. Im Folgenden sollen zum einen die Verschiebungen von Gegenstandsbereichen aufgezeigt

133 Sykora, Katharina: 1997, 133. 134 Sykora, Katharina: 1997, 144.

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werden, mit denen die jeweiligen Bedeutungsfelder von Monstrositäten nicht mehr mit ethnografischen Berichten zusammenfallen, sondern von humanwissenschaftlichen und kulturellen Praktiken des 19. Jahrhunderts nun neu konfiguriert werden. Zum anderen soll untersucht werden, inwieweit die an der Schnittstelle von Faszination, Wissensdefizit und Wissenszuwachs zu verortenden Konstruktionen des genitalisierten und rassifizierten Anderen für Debatten über kulturelle und geschlechtliche Normen genutzt wurden. Die Konvergenz von Weiblichkeit und „Rasse“ wurde in den Diskursen über gesellschaftliche Pathologien mit sozialen und politischen Bedeutungen aufgeladen. In einem weiteren Schritt wird gezeigt, dass Monstrositäten gerade im Geschlechterdiskurs auch weiterhin zur Sprache gebracht wurden, während sie in der Medizin und Anthropologie am Ende des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich keine Rolle mehr spielten. Trotz der Heterogenität wissenschaftlicher Aussagen hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Kanon über Natur und Weiblichkeit im Zusammenhang mit extremer Abweichung herausgebildet. Mit der genitalisierten und rassifizierten Frau wurde ein Monster der Naturwissenschaften in seiner biologischen Verfasstheit konfiguriert, hinsichtlich dessen die Interventionsfelder wissenschaftlicher Praktiken entworfen und erweitert wurden; Praktiken, die sich auch in den kulturellen Vorstellungsbildern des Anderen niederschlugen. Die Normalisierungsprozesse von Geschlecht nahmen ihren Ausgang von den Kategorien des Abweichenden, Anormalen oder Extremen, mit denen in wissenschaftlichen und populären Diskursen die normale und die monströse Frau zur Sprache gebracht wurden.135 Die wissenschaftlichen Darstellungen des weiblich-monströsen Körpers dienten nun der Herstellung eines spezifischen Geschlechterwissens und der Feststellung der Rassenunterschiede. Monstrositäten wurden zu pathologisierten morphologischen Gegenständen, die immer weiter zer-

135 Vgl. Pethes, Nicolas: 2007. Pethes schreibt, dass die Strategien der Normalisierung auf Versuchen an Abweichungen beruhen. Sie richteten sich vor allem auf die Anormalen, weil „die Betroffenen innerhalb der jeweiligen anthropologischen Diskurse der Zeit nicht als vollgültige Menschen gelten“ (ebd., 178). Die hier von Pethes vorgestellten Thesen werden in einer Einleitung – Pathologien des Experiments – zu den Arbeiten von Hagner, Sabisch und Krause zusammengefasst. Im Folgenden geht es darum, die Analyse der Strategien der Normalisierung um die Kategorie der „Rasse“ zu erweitern.

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legt und für ein Denken der Differenz angeordnet wurden. Im 19. Jahrhundert wurden monströse Phänomene nicht mehr gesammelt, dargestellt oder verifiziert, sondern bereits als monströse Objekte identifiziert. Anfang des 19. Jahrhunderts seien, wie Gilman betont, die Ansichten über Sexualität und Natur im Rahmen eines medizinischen Diskurses zusammengefasst worden.136 Die Medizin habe begonnen, das Interesse auf die Genitalien afrikanischer Frauen zu richten: „Konnte man zeigen, dass ihre Geschlechtsteile wesentlich anders waren, so reichte das als Hinweis“137, um „Rasse“ und Geschlecht anatomisch zu fassen und so das Wesen des rassifizierten und sexualisierten Anderen zu begründen. Die Untersuchungen, Vermessungen und Klassifikationen am toten oder lebendigen Körper dienten einerseits der Feststellung genitaler Differenzen im Speziellen, andererseits der Konstruktion rassistischer und kultureller Merkmale im Allgemeinen. Im Folgenden soll einer der zahlreichen Autopsieberichte, die seit dieser Zeit veröffentlicht wurden, im Hinblick auf diese Veränderungen analysiert werden. Für Gilman sind medizinisch-biologische Argumentationen die ideologische Basis „für all die Autopsien dieser Frauen“138. Es kann jedoch bei der Analyse nicht darum gehen, die Medizin unter Ideologieverdacht zu stellen. Stattdessen müssen die Prozesse des Wissens als gesellschaftliche Tätigkeit aufgefasst und jeder Anspruch auf Objektivität kritisch hinterfragt werden. Gerade weil die Wissenschaften im 19. Jahrhundert auf ganz neue Weise einen Zusammenhang zwischen Leben und Tod geknüpft haben, sollen diese Veränderungen im Hinblick auf diese Problemstellungen erörtert werden. Am Beispiel eines Sektionsberichtes von Johannes Müller aus dem Jahr 1834 soll der Zusammenhang zwischen den Funktionen und Begriffsbildungen des Monströsen und dem weiblichen Genital erörtert werden, um hieran die Brüche und historischen Veränderungen zu dem im vorangegangenen Abschnitt exemplarisch vorgestellten Text von LeVaillant aufzuzeigen.

136 Vgl. Gilman, Sander: 1991, 125. Gilman zeigt hier, dass die These, dass die Beziehungen zwischen Physiologie und Verhalten in der Struktur der Genitalien begründet sei, erstmals in einem zu Beginn des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Standardwerk von J. J. Virey auftaucht. 137 Gilman, Sander: 1991, 128. 138 Gilman, Sander: 1991, 128. Allerdings scheint es fraglich, ob bereits das Fehlen dieser Argumentation als hinreichendes Kriterium für die Abwesenheit rassistischen Denkens aufgefasst werden kann.

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Johannes Müller zählte im 19. Jahrhundert zu den führenden Anatomen und Physiologen Deutschlands und gilt als Begründer der wissenschaftlichen Physiologie. Mit seinen Arbeiten hat Müller zu zahlreichen neuen Erkenntnissen auf den Gebieten der Embryologie und Anatomie beigetragen.139 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1834, der im Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin erschienen ist, hat Müller die Ergebnisse einer Untersuchung an einer weiblichen afrikanischen Leiche veröffentlicht. Er schreibt, dass ein in Südafrika lebender Arzt dem anatomischen Museum in Berlin die Leiche einer Buschmännin übergeben habe:140 „Obgleich schlecht conservirt und an mehreren Stellen des Körpers in anfangende Fäulnis übergegangen, war sie doch durch ihre äussere Bildung schon in vieler Hinsicht interessant, namentlich durch die noch mögliche Untersuchung der sogenannten Schürze, durch den Mangel des sonst bei Buschmänninen und Hottentottinnen vorkommenden Fettpolsters.“141 Die Leiche sollte Müller dazu dienen, mit seinen eigenen Untersuchungen die im Vorfeld gesammelten vorhandenen Erkenntnisse über weibliche Genitalien schwarzer Frauen zu ergänzen. Ziel seiner Arbeit war es, der Frage nachzugehen, ob es sich hier um ein rassenspezifisches Merkmal handele und, wenn ja, ihr Vorhandensein von anderen Formen anomalischer Genitalien abzugrenzen.142 Wie Urs Zürcher schreibt, sei die Leiche für Müller aus drei Gründen interessant gewesen: „[W]eil sie erstens etwas zu viel hat (die Schürze), zweitens etwas zu wenig (das Fettpolster) und sie drittens noch sezierfähig ist.“ Damit benennt Zürcher drei zentrale Bezugsachsen, mit denen

139 Vgl. Gágyor, Ildikó: 2008; Hagner, Michael/Wahrig, Bettina: 1992. 140 Zürcher betont, dass in dieser Zeit ein Leichenmangel herrschte. Im anatomischen Museum in Berlin haben zur damaligen Zeit 150–200 Studenten an ungefähr zwanzig Leichen Sezierübungen durchgeführt. Johannes Müller habe die Arbeiten an Leichen nur delegiert. Zudem seien mit der Möglichkeit, an einer afrikanischen Leiche zu arbeiten, sehr hohe Anschaffungskosten verbunden gewesen (vgl. Zürcher, Urs: 2004, 178 f.). 141 Müller, Johannes: 1834, 319. 142 Müller betont, dass die „Verlängerung der grossen oder kleinen Schamlippen […] von jeder Art mechanischen Einflusses unabhängig sey“ (Müller, Johannes: 1834, 321). Er grenzt die Verlängerung der Schamlippen der „Hottentottinen“ deutlich von der „Hypertrophie der Clitoris unter den Europäischen Weibern“ ab, die als krankhafte Erscheinung „etwas ziemlich Häufiges darstell[t]“ (ebd., 362).

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die wissenschaftlichen Untersuchungen legitimiert werden: „Fäulnis, Afrikanerin, missgebildetes Genital. Damit ist die Tradition erschlossen, in die Müller sich einfügt: der wissenschaftliche Diskurs des devianten, weiblichen afrikanischen Genitals.“143 Müller griff den wissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts auf und grenzte seine Arbeit zugleich von ethnografischen Studien der damaligen Zeit ab. Das monströse weibliche Genital wird nun in Begriffen der Anatomie als Zeichen von Minderwertigkeit codiert. Zunächst ging Müller davon aus, dass François LeVaillant sich geirrt habe, als er behauptete, dass die „Schürze bei den Hottentottinnen“ nicht allgemein, sondern nur selten vorkommt.144 Den Grund für diese falsche Behauptung sieht Müller darin, dass den älteren Berichterstattern die „anatomischen Kenntnisse fremd waren“145. In seinem Aufsatz setzt er sich mit verschiedenen Erklärungsansätzen – von der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts über Sektionsberichte bis hin zu „mündlich mitgetheilten Bemerkungen“146 – auseinander. Dass in der traditionellen Reiseliteratur das rassenspezifische Auftreten der „Hottentottenschürze“ bestritten wurde, führe dazu, dass „sich unwillkührlich Irrthümer fortgepflanzt“ hätten. Der Anatom beabsichtigt, durch die Sektion einer Leiche und den privilegierten disziplinären Zugang der Medizin diese Irrtümer auszuräumen. Müller bekräftigt die Erkenntnis, dass die individuellen Merkmale eindeutig wesenhafte und rassenspezifische Charakteristika seien. Unzweifelhaft – so Müller – werde die „Hottentottenschürze“ nicht „durch Ziehen künstlich hervorgebracht“, sondern sie entwickle

143 Zürcher, Urs: 2004, 179; Hervorh. im Orig. 144 Müller ging es darum nachzuweisen, dass es sich bei der von Cuvier – der die Sektion von Sara Baartman leitete – sezierten Leiche nicht, wie von diesem vermutet, um eine „Buschmännin“, sondern um eine „Hottentottin“ handelte. Dieser Rassensystematisierung werde ich im Folgenden nicht weiter nachgehen, weil sie für mein Thema keine Relevanz besitzt und eine unkritische Herangehensweise an diese Problematik nach sich ziehen würde. 145 Müller, Johannes: 1834, 338. 146 Die mündlichen Aussagen erhalten bei Müller ein besonderes Gewicht: „Man sieht, dass die Aussagen der Hrn. Lichtenstein als fungirenden Arztes in diesem Punkt von ganz besonderem Gewicht seyn müssen“ (Müller, Johannes: 1834, 340).

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sich von Jugend an und sei ein „Rassemerkmal“ der „Hottentotten“147. Diese Erkenntnis kann er jedoch nicht mittels der Sektion einer schon allmählich in Verwesung übergehenden Leiche gewinnen. Mit den bedeutenden Bezugsachsen, die Zürcher nennt, sind also noch weitere Ebenen des Erkenntnisgewinns eingeführt: Bei der Sektion werden die traditionellen Darstellungen mit den aktuellen Erkenntnissen, die an einer Leiche gewonnen werden können, in Beziehung gesetzt und vervollständigt. Wie Sarasin schreibt, seien die Wissenschaften vom Menschen und vom menschlichen Körper unweigerlich an die Produktion von Bildern – ob als Abbildung, Text oder Inszenierung – gebunden, die wir vom Körper haben. Die wissenschaftlichen Texte und Abhandlungen zeichnen immer ein Bild des öffentlich sichtbaren Körpers, der als ein „phantasmatischer Ort, an dem mehr ‚gesehen‘ wird, als das, was die empirische Beobachtung den Anatomen oder Physiologen enthüllt“148, fungiert. An der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen Forschungsinteressen und Vorstellungsbildern des Körpers werden nun Fragen von Geschlecht und „Rasse“ entwickelt. Obwohl sich Müller bei der Untersuchung der Genitalien auf die „vorgefundenen Thatsachen“149 stützt, wird zugleich mehr ausgesagt, als im Prozess der Wissensbildung zur Sprache zu bringen ist. Die Aneignung des Wissens vollzieht sich mittels eines ethnografisch-medizinischen Blickes. Zürcher beobachtet, dass im Text von Müller feine, „fast unscheinbare semantische Auffälligkeiten, dünne Risse im Textfluss“150 enthalten sind, die auf die Befindlichkeiten des Wissenschaftlers jenseits der gegenständlichen wissenschaftlichen Aneignung verweisen. Zürcher hat hier die engen Verflechtungen von affektiver Aneignung und wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten aufgezeigt. Die wissenschaftliche Aneignung des Objektes erfolge im Modus der gefassten Distanz, um Aussagen über natürliche Gesetzmäßigkeiten treffen zu können. Zugleich konstruiere Müller aber auch aus unterschiedlichen Ebenen der Imagination von Vorstellungsbildern und „seiner realen Afrikanerin“151 die vorgefundenen Tatsachen, die dann wissenschaftlich angeeignet werden können. Die verstreuten Teile werden zu einem Ganzen zusammengefügt.

147 Vgl. Müller, Johannes: 1834, 343. 148 Sarasin, Philipp: 1998, 422. 149 Müller, Johannes: 1834, 319. 150 Zürcher, Urs: 2004, 182. 151 Zürcher, Urs: 2004, 187.

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Es entstehe „aus Mangelhaftem ein Phantasma“152. Zürcher arbeitet die den wissenschaftlichen Text strukturierenden Affekte und Interessenlagen heraus. Gegenüber dieser Interpretation von Zürcher kann allerdings eingewendet werden, dass nicht ausschließlich die Affekte des wissenschaftlichen Interesses herauszuarbeiten sind, sondern dass dargelegt werden kann, wie bei Müller das tote Objekt in ein spezifisches Verhältnis zu Vorstellungsbildern gesetzt wird. Müller bezieht sich auf den von Cuvier erstellten Sektionsbericht über Sara Baartman, weil er eine vortreffliche Beschreibung geliefert und damit „ein sehr anschauliches Bild der Formenverhältnisse dieses Weibes“153 entworfen habe. Müller konnte sich bereits ein Bild des Körpers einer Afrikanerin machen. Dieses Bild setzt sich aus verschiedenen Ebenen zusammen, auf denen das Monströse als ein Phänomen beschrieben wird. Müller referiert in Bezug auf Cuvier, dass die „Konturen des Körpers“ der „Venus hottentott“ keineswegs unförmig seien. Ihre körperlichen Merkmale werden als „dünn, reizend und […] sehr artig“154 beschrieben. Demgegenüber stehen die Zeichen monströser Landschaften, die hier in ihrer Lebendigkeit bedrohlich wirken. Müller beschreibt das Gesicht als „zum Theil das des Negers, […] zum Theil das des Mongolen“155. Die Augen seien „schwarz und lebendig, ihre Lippen ein wenig schwärzlich, monströs angeschwollen, ihr Teint sehr schwarzbraun. Ihr Ohr hatte Ähnlichkeit mit dem mehrerer Affen durch seine Kleinheit, der Schwäche des Tragus, den fast gänzlichen Mangel des hinteren Theils des äusseren Randes.“156 Das

152 Vgl. Zürcher, Urs: 2004, 184. Zürcher widmet sich dem Text Müllers im Hinblick auf die Affekte der Wissensaneignung und analysiert die Verschiebungen und Destabilisierungen, die sich in ihm zeigen. Obwohl Zürcher hier in beeindruckender Weise die impliziten und expliziten Funktionen von Wissen analysiert, geht er letztlich nicht eindringlich auf die kulturellen Materialisierungs- und Repräsentationsstrategien ein, die den Text letztlich strukturieren. Nicht der Anatom ist der Autor oder das Subjekt jener Affekte, sondern die Vorstellungen kultureller Normalisierung sind ein anonymer Diskurs, der jenseits der Ebene des Subjektes oder des Urhebers einer wissenschaftlichen Rede über Monstrositäten zu verorten ist. 153 Müller, Johannes: 1834, 322. 154 Vgl. Müller, Johannes: 1834, 323. 155 Zürcher, Urs: 2004, 184. 156 Müller, Johannes: 1834, 323.

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Monströse als lebendiges Phänomen wird hier in einen Zusammenhang mit dem toten Körper gebracht. Die Leiche ist erstarrt, die Zeichen aber, die sie offenbart, müssen in Schrift umgesetzt werden, denn sie fungiert – wie Bronfen schreibt – als „Vermittlungspunkt zwischen Rezeption und Reproduktion“. Die Leiche ist der Ort, wo eine Transformation stattfindet, „wo ein bestimmter Bereich in einen anderen übersetzt wird, eine andere, neue Form erhält, zu einem Text wird“157. Der Körper wird geschnitten, getrennt, zergliedert und zerlegt. Zugleich werden die einzelnen Elemente wieder als ein Ganzes zusammengesetzt. Im Prozess der Übersetzung wird das Monströse, das Vorstellungsbild zunächst negiert, damit sich das wissenschaftliche Objekt der inneren Logik anatomischer und physiologischer Untersuchungen fügt. Die einzelnen Segmente des fremden, toten Körpers werden auf die räumlichen Koordinaten naturwissenschaftlicher Systeme übertragen. Diese Transformation findet aber nicht in einem neutralen Modus statt. Die technologisch-medizinische Methode zur Erfassung und Bestimmung des Körpers steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Erkenntnisinteressen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Das Monströse lag schon vor der medizinischen Abbildung in seiner Bedeutung vor und legitimierte die Sektion einer Leiche. Müller kann sich auf ein Bild beziehen, das an der Leiche vervollständigt werden soll, das aber zugleich auch nicht ausschließlich an dieser Leiche festgestellt werden kann. In Bezug auf die wissenschaftlichen Texte von Cuvier und Otto referiert Müller den unbestimmten Charakter des Objekts: Es fehle an Beschreibungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen, um die Frage, was die „Hottentottenschürze“ denn nun sei, beantworten zu können.158 Das Monströse ist aber unzweifelhaft als lebendiges Phänomen identifiziert, es muss nun an der Leiche reproduziert und wissenschaftlich repräsentiert werden. Es ist zunächst die Fremdheit des Objektes, die als Legitimation für die wissenschaftliche Annäherung dient. Die Leiche wird zu einem Ort der doppelten Fremdheit: als etwas dem Leben Fremdes und als etwas den eigenen kulturellen Normen Fremdes. Die Leiche ist nicht nur der Ort der Fremdheit, sondern als wissenschaftliches Objekt muss sie erfasst werden, auch wenn die Leiche in eine Phase der Instabilität eingetreten ist.159 Die Untersuchungen halten die Tatsachen des körperlichen Objektes

157 Bronfen, Elisabeth: 1994, 18. 158 Vgl. Müller, Johannes: 1834, 21. 159 Vgl. Bronfen, Elisabeth: 1994, 154.

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fest, während sich das Objekt stetig verflüchtigt. Die Wissensproduktion muss der Dynamik des zeitlichen Verfalls einen Ort der Stabilität entgegenhalten. Die Sektion wird zu einem Ort der doppelten Absicherung, indem das Objekt naturalisiert wird. Was als reale oder natürliche Bedeutung vorliegt, muss in einen größeren Zusammenhang eingefügt werden, damit es als körperliche, biologische Tatsache bestimmbar wird. Wenn Zürcher schreibt, dass das Objekt naturalisiert wird, so erscheint das Monströse nicht als Ausgangspunkt – gewissermaßen am Anfang einer durch die Natur vorgegebenen Tatsache –, sondern wird erst im Ergebnis und in Berufung auf natürliche Tatsachen als Resultat wissenschaftlicher Aneignungssysteme entworfen.160 Die Konstruktion einer „naturalisierten Natur“ macht das Monströse zu einer biologischen Faktizität, wobei der Körper und das Monströse in eine Beziehung der natürlichen Referenz gebracht werden, mit der die dem Objekt inhärente Wahrheit aufgedeckt werden kann. Wie Zürcher gezeigt hat, verbinden sich hier Bild und Text in einem „System identischer Referenten: Wir sehen, wovon gesprochen wird“161. Das Sichtbare eines Objektes wird in eine sprachliche Struktur transformiert und zugleich muss sich dieser Blick der epistemischen Struktur fügen. Die Synthese von Blick und Schrift ist mehr als eine bloße Übertragung der körperlichen Tatsachen in Text. Müllers Interesse an der Leiche wurde durch das, was der Anatom bereits wusste, in ein wissenschaftliches System überführt. Die Koordinaten dieses Wissens fügen das Monströse, das Weibliche, das Bedrohliche und das Unbestimmte zusammen. Das Ziel, diese Unterschiede, die Wesenheiten sicher zu bestimmen, kann nur erreicht werden, wenn die „Differenzen zwischen dem Konstituierten und Konstituierendem“162 eliminiert werden und das Wissen auf der Wahrheit beruht; nur unter diesen Voraussetzungen kann der Gegenstand adäquat wissenschaftlich dargestellt werden. Die Wissenschaft verwirft das Unbestimmte, wie Georges Canguilhem schreibt.163 Jedoch werden in diesem Prozess immer wieder neue Zonen des Unbestimmten produziert.164 Wenn Sarasin und Tanner von einem

160 Vgl. Zürcher, Urs: 2004, 189. 161 Zürcher, Urs: 2004, 189. 162 Zürcher, Urs: 2004, 190. 163 Vgl. Canguilhem, Georges: 1974, 69. 164 Zürcher, Urs: 2004, 222. Zürcher betont, dass das „unaufhörliche Fortfließen“ der Wissensproduktion immer wieder neue „epistemische Grenzgebiete“

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ungelösten Rest des wissenschaftlichen Problems sprechen, so ist dies nicht als ein Noch-nicht-Erkanntes der wissenschaftlichen Praktiken zu verstehen, sondern es ist der Verweis auf die im methodischen Ansatz der Physiologie enthaltenen Ansprüche: Das Regime der Sichtbarkeit orientiert sich an den Offensichtlichkeiten eines scheinbar natürlichen Körpers. Damit ergibt sich jedoch ein „produktiver Riss“ zwischen dem, was technologisch sichtbar gemacht werden kann, und dem, was sprachlich artikuliert wird.165 Die bereits in Verwesung übergegangene Leiche bietet zwar noch Möglichkeiten der Bestimmung, konfrontiert jedoch den Betrachter mit seiner eigenen Zeitlichkeit und Vergänglichkeit. Durch die Zerstückelung der Leiche entstehen die einzelnen Segmente, die zur Herausbildung des Wissens notwendig sind. Diese Fragmente werden gezeichnet, konserviert, beschrieben und im Moment des drohenden Verlustes festgehalten, um die einzelnen Segmente in ein System des Wissens zu transformieren. Die Herausforderung für Müller besteht in der Bestimmung wesenhafter Eigenschaften der von ihm untersuchten körperlichen Tatsachen. Die einzelnen Segmente müssen wieder zusammengefügt werden – im Modus der wissenschaftlichen Aneignung müssen die Teile wieder als Ganzes erscheinen. Die Abweichungen des Objektes werden in eine Differenz zum Normalen gebracht und somit stabilisiert. In diesem Transformationsprozess, der das Erblickte, das

erzeugt und sich im Inneren des Systems der Abweichungen kontingente Regionen herausbilden. Gerade weil die Wissenschaften darauf abzielen, Unbestimmtes zu bestimmen, und die Abweichungen als Zonen des Unbestimmten erscheinen, werden in einem diskursiven Prozess „fortwährend neue Zonen des Unbestimmten“ erzeugt (ebd., 222). Auf den ersten Blick ähnelt Zürchers Argumentation der von Thomas Lemke, der den von Agamben geprägten Begriff der „Zone des Unbestimmten“ aufgreift. Bei einem genaueren Blick zeigen sich aber deutliche Unterschiede zwischen den Begriffen. Agamben formuliert unter Rückgriff auf diesen Begriff eine Kritik am Prozess der zunehmenden Politisierung des Lebens. Dieser führe letztlich dazu, dass die Unterscheidung zwischen Leben und Tod allmählich eingeebnet und durch die dynamische Identität von Leben und Politik ersetzt werde. Jedoch habe Agamben – wie Lemke betont – in seiner Kritik an der Ununterscheidbarkeit von Leben und Tod „zentrale Aspekte der Biopolitik systematisch“ ausgeblendet (vgl. Lemke, Thomas: 2008, 98; Agamben, Giorgio: 2002, 130 und 157). 165 Vg. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob: 1998a, 19.

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Sichtbare in die textliche Struktur überführt, werden der drohende Verfall, das Abnorme und das Flüchtige des Objektes in die Stabilität natürlicher Zeichen übersetzt.166 Die wissenschaftliche Figuration des Monströsen und des Weiblichen erfordert einen Transformationsprozess, an dessen Anfang ein instabiles, bedrohliches Teilobjekt steht, welches in ein Objekt des allgemeinen Wissens übersetzt werden muss. Die Visualisierungspraktiken und die Herstellung eines Textes konstituieren das Monströse erst im Moment der Produktion von Wissen. Die Naturalisierungspraktiken erzeugen die wissenschaftlichen Tatsachen des anderen, abnormen Körpers, der dann als Ort der Wissensproduktion fungieren kann. Der andere, tote Körper wird in eine epistemische Beziehung gesetzt und im wissenschaftlichen Zugang der Zergliederung materialisiert und stabilisiert. Wie Bronfen schreibt, manifestiere sich an der vergänglichen Leiche der unmöglich zu realisierende Wunsch, den Punkt des Todes zu materialisieren und den Tod als Prozess rückgängig zu machen.167 Die Ambivalenz von Erkenntnisprozessen resultiert aus der Spannung zwischen der Flüchtigkeit des Objektes und der Vervollständigung sowie Vereinheitlichung des Wissens. Das Monströse als lebendiges Phänomen ist das entkörperlichte Vorstellungsbild, das in Beziehung zum monströsen Körper gebracht wird. Die Erkenntnisse, die der Anatom im wissenschaftlichen Zugang der Sektion an einer afrikanischen Frauenleiche gewinnt, werden an der Schnittstelle von Vorstellungsbildern und körperlichen Tatsachen konstituiert. Hier werden Wahrheiten produziert, die sich zwar auf Beschreibungen des Körpers stützen, jedoch immer kultur- und kontextabhängig sind. Es werden hier Begriffe von Degeneration, Abweichung und Monstrosität hervorgebracht, die schon lange in eine Analyse des Normalen und Pathologischen eingebunden sind. Eingebettet in dieses System des Denkens, wird der Körper einer afrikanischen Leiche zu dem Ort, an dem kulturelle Normen von Geschlecht und „Rasse“ festgeschrieben werden. Das Monströse ist bereits als lebendiges Phänomen beschrieben, es hat als Vorstellungsbild bereits das Erkenntnisinteresse legitimiert. Wenn sich Müller auf die von Cuvier gelieferten Beschreibungen des Körpers von Sara Baartman bezieht, war das Monströse bereits als lebendiges Phänomen entworfen. Das Leben und der Tod werden somit in eine epistemologische Beziehung gesetzt. Als leben-

166 Vgl. Bronfen, Elisabeth: 1994, 19. 167 Vgl. Bronfen, Elisabeth: 1994, 153.

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diges Phänomen des Monströsen identifiziert, wird das Monströse mit einer afrikanischen Frauenleiche in einen konstitutiven Zusammenhang gebracht, der in dieser Verkopplung die Produktion weiterer Differenzen erlaubt. Denn unabhängig von den eigenen Forschungsergebnissen wird mit den individuellen Merkmalen, die sich an der Leiche ablesen lassen, das Bild des Anderen zusammengefügt, mit dem eine Rede über Minderwertigkeit, Regression oder Degeneration ihren Anfang nimmt. Die weiblichen Genitalien dienen hier als Zeichen für allgemeine Differenzen. Müller kann sich daher am Schluss seiner Abhandlung den Ausführungen Cuviers anschließen: Das Fettpolster auf dem Kreuz und dem Gesäß der Buschmänninen und Hottentottinen könne nämlich „mit ähnlichen Anschwellungen bei den Weibchen einiger Mandrills, Paviane und anderer Affen verglichen“168 werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich – wie Hagner betont – „eine einflussreiche und fatale Rede von Entartung, Degeneration, Regression und Atavismus“169, mit der Monstrositäten letztlich als Atavismen inszeniert wurden. Dieser Prozess ist aber nicht nur auf eine Instrumentalisierung von extremen Abweichungen zurückzuführen, sondern erfordert eine dezidierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Ausgrenzung und der Produktivität von Differenzen, die besondere Pathologien und allgemeine Anomalien in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorstellungen bringen. Der rassisch-biologische Diskurs des 19. Jahrhunderts hat im Zusammenhang mit der zunehmenden Dominanz medizinisch-anthropologischer Definitionen für politischethische Zusammenhänge zu einer Rekonfiguration des Anderen geführt. Hier wurden heterogene, unzusammenhängende Sachverhalte unter eine neue, einheitliche Perspektive gebracht.170

Exkurs: Heterogene Aussagen und kanonisiertes Wissen Die Wissenschaften vom Menschen beanspruchen wie jede Wissenschaft einen Kanon für eine kohärente und forschungsgeleitete Praxis und einen einheitlichen Wissenskorpus. In dieser Perspektive knüpfen die Wis-

168 Müller, Johannes: 1834, 343. 169 Hagner, Michael: 2007, 184. 170 Vgl. Lemke, Thomas: 2008, 113.

HETEROGENE AUSSAGEN

UND KANONISIERTES

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senschaften „zwischen dem Allgemeinen und dem Speziellen eine feste Verbindung“171, mit der der Wert und die Einheitlichkeit von wissenschaftlichen Aussagen abgesichert werden. Wie Hagner und Laubichler betonen, entwickelte sich das Allgemeine seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem wissenschaftlichen Prinzip, das auf spezifisch systematischen Funktionen und historischen Entwicklungen von Wissenschaft und Wissen beruht.172 Das Besondere und die Vielfalt mussten abgegrenzt bzw. ausgeschieden werden, um den Anforderungen der Einheitlichkeit und Generalisierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen gerecht zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt richtet sich in der aktuellen Wissenschaftsgeschichte das Interesse erneut auf die wissenschaftlichen Praktiken des 19. Jahrhunderts. Zum einen waren im Zuge der zunehmenden Ausdifferenzierung von Wissenschaft die Disziplinen in dieser Zeit an fachspezifische, disziplininterne Aussagen gebunden und zum anderen mussten sie sich „im Allgemeinen selber […] bestimmen“173. Unter dieser Perspektive ergeben sich für die aktuelle Wissenschaftsgeschichte drei Herausforderungen: Es sind erstens die historischen Entwicklungen von Wissenspraktiken aufzuzeigen, zweitens die besonderen Verfahren als historisch-spezifische Darstellungsweisen von Wissen in den Blick zu nehmen und drittens die den wissenschaftlichen Praktiken inhärenten Haltungen und Forderungen herauszuarbeiten. Weil sich der „Wert des Wissens“ – wie Hagner und Laubichler betonen – immer aus dem „Wechselspiel von Stabilität und Dynamik“174 ergibt, zielt das Wissen der Wissenschaft auf stabile Aussagen, die aber zugleich auf sich verändernden

171 Hagner, Michael/Laubichler, Manfred D.: 2006, 7. 172 Die Autoren betonen, dass das Allgemeine als Ideal jeder Wissenschaft dient. Es erhielt jedoch seit dem 19. Jahrhundert eine besondere Funktion für die Geschichte und Philosophie. Seit dieser Zeit wurde sich besonders mit der Frage auseinandergesetzt, „ob es bei aller Kontingenz der historischen Ereignisse so etwas gibt wie eine allgemeine Entwicklung oder allgemeine Charakteristika“ (Hagner, Michael/Laubichler, Manfred D.: 2006, 13). Bereits im Titel zahlreicher Abhandlungen dieser Zeit ging es um allgemeine Erklärungen der Geschichte, des Weibes oder der Missbildungen. Wie Hagner und Laubichler erörtern, handelt es sich hier nicht um bloße semantische Konventionen, sondern um einen neuen historischen Umgang mit dem Allgemeinen (vgl. ebd., 8). 173 Hagner, Michael/Laubichler, Manfred D.: 2006, 10. 174 Hagner, Michael/Laubichler, Manfred D.: 2006, 11.

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Darstellungsweisen von Wissen in sozialen und kulturellen Kontexten beruhen. Das Allgemeine und das Besondere sind „epistemische und kulturelle Ordnungs- und Systematisierungsfaktoren“ von Wissen in seiner spezifisch historischen Situiertheit.175 Mit einer Perspektive auf das spezifische Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen kann im Hinblick auf die epistemologische Funktion des Monströsen ein Spannungsverhältnis beider Seiten herausgearbeitet werden; sichtbar wird auf diese Weise, dass sie stets in einem unstimmigen und nicht deckungsgleichen Verhältnis zueinander stehen. Dass das Allgemeine und Besondere für die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen haben, ist nicht auf einen Fortschritt der erkenntnistheoretischen Grundlagen zurückzuführen, sondern zeigt den besonderen Umgang mit Wissen. Die jeweils spezifische Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen kann damit als eine wissenschaftliche Praxis verstanden werden, die mittels Dualismen Wissensordnungen erzeugt und stetig stabilisiert. Die Regeln von Wissensordnungen unterliegen den Prozessen der Herstellung und sind nicht „in einer vorgängigen Ordnung der Dinge selbst begründet“176. Wie Haraway betont, sind Dualismen – wie Ganzes und Teil – als Ordnungsweisen von Wissen ein systematischer Bestandteil der Logiken von Wissenschaften, mit denen immer auch Herrschaft legitimiert wird.177 Herrschaft ist eine Form des Ausschlie-

175 Hagner, Michael/Laubichler, Manfred D.: 2006, 12. Diese Perspektive dient dazu, die Spannungen zwischen beiden Seiten zu betonen, die keineswegs – wie Hagner und Laubichler betonen – deckungsgleich sind, sondern helfen, der „Überbewertung bestimmter Wissensbestandteile“ entgegenzuwirken. Wissen dürfe nicht in einem ausschließlich erkenntnistheoretischen Zusammenhang erörtert werden, sondern müsse als Praxis verstanden werden, die im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft zu verorten ist. 176 Bublitz, Hannelore: 2000, 55. 177 Vgl. Haraway, Donna: 2007, 271. Haraway geht es darum, die historischen Brüche und Verschiebungen der Geltungsbereiche von Dualismen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnissen zu analysieren. Ihr Anliegen ist es, die Möglichkeiten neuer Einheiten und die brüchig gewordenen Unterscheidungen aufzuzeigen, die für Formen von Unterdrückung und Ausgrenzung maßgeblich waren. Monster stehen bei Haraway für ein Versprechen, weil sich an ihnen das sich verändernde Verhältnis von Körper, Natur und Technik ablesen lässt. Mit dem Monster

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ßens und der Unterdrückung, die maßgeblich für soziale Hierarchien und Subjektzuweisungen verantwortlich ist. Wissenschaftliches Wissen und politische Interessen greifen in dieser Bestimmung ineinander und sind nicht zu trennen. Wissen ist an Anschauungsweisen gebunden, in denen machtvolle Forderungen zum Tragen kommen: Es wird eine in den Dingen oder in der Natur selbst angelegte Wahrheit unterstellt. Diese Haltung zu kritisieren, erfordert eine Perspektive auf die den Wissensordnungen zugrunde liegende Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit.178 Daston und Park haben dies im Hinblick auf die historischen Bedeutungen von Monstrositäten im 18. Jahrhundert herausgearbeitet und den historischen Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Aussagen und den zugrunde liegenden Ordnungen betont. Sie schreiben: „Nicht eine kohärente und neuartige Bewegung mit dem Ziel, Monstren und andere Wunderzeichen zu naturalisieren, sondern diese neue Einstimmigkeit unter Eliten verlangt nach einer Erklärung.“179

Daston und Park machen sichtbar, dass die Prozesse der Verwissenschaftlichung und Naturalisierung auf einem historisch verfassten Wissen beruhen. Damit werden die am Monster festgemachten wissenschaftlichen Haltungen einem wissenschaftshistorischen Blick ausgesetzt. Im 19. Jahrhundert ist das Monströse als Gegenstand medizinisch-anthropologischer Diskurse an den geschlechtlichen Körper gebunden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer räumlichen und zeitlichen Verteilung von Wissenspraktiken, mit der die Bedeutungen von Monstro-

könnten – so Haraway – neue Möglichkeiten für eine feministische Politik gesucht werden. Haraways Cyborgpolitik ist demnach ein theoretischer und praktischer Kampf, mit dem alle Ansprüche aufgehoben werden, die sich auf einen organischen oder natürlichen Standpunkt beziehen (vgl. ebd., 248 f.). Das Monströse des Cyborgs besteht in der Partialität, in der Widersprüchlichkeit und im Ungewissen. Damit können Grundlagen für eine Politik geschaffen werden, ohne umfassende oder totalitäre Identitätsansprüche zu formulieren: „Die Cyborg-Monster […] definieren politische Möglichkeiten und Grenzen, die sich stark von den profanen Identifikationen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ unterscheiden“ (ebd., 274). 178 Vgl. Foucault, Michel: 1988, 61. 179 Daston, Lorraine/Park, Katharine: 2002, 209.

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sitäten auf einer synchronen und diachronen Achse angeordnet werden. Nicht mehr das Individuelle des Monsters steht im Vordergrund, sondern es geht um die allgemeinen Regeln, hinsichtlich derer das Monster als Phänomen des Mangels in den Blick kommt. Die Heterogenität der Aussagen führte zu einer Dynamisierung der Forschungspraxis und zugleich zu disziplinären Verschiebungen und Interdependenzen. Monströse Objekte gehören nun auch zum Gegenstandsbereich der Anthropologie, Embryologie und experimentellen Teratologie oder später der Kriminalanthropologie. Dieser Prozess führte zur Konstruktion stetig neuer Bezüge und Zusammenhänge zwischen dem weiblichen Körper, der Monstrosität und der Pathologie. Zugleich wurde die mangelhafte Forschungslage bezüglich des weiblichen Körpers beklagt. Die Naturalisierung und die Rationalisierung von Monstrositäten war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng verknüpft mit den Wissenschaften vom Leben. Die von anderen Disziplinen aufgenommenen Bedeutungen von Monstrosität und Geschlecht führten zu einer zeitlichen und räumlichen Ausweitung der Definition. Aufgrund dieser räumlich-zeitlichen Ausweitung kam es zu einer Vervielfältigung der Untersuchungsrahmen. Die extreme Abweichung wird nicht mehr in ihrer Offensichtlichkeit erkannt, sondern immer weiter in den Körper hineinverlagert und mit der Frage nach den menschlichen Lebensprozessen verkoppelt. Zugleich konnten die zahlreichen Besprechungen von Monstrosität, „Rasse“ und Geschlecht keinen einheitlichen Wissensbestand hervorbringen. Vor dem Hintergrund der Heterogenität wissenschaftlicher Aussagen zeigt sich in der unhinterfragten Annahme eines monströsen Charakters der „Hottentottenschürze“ ein machtvoller Anspruch von Wissenschaft. Was beanspruchten die Wissenschaften mit der Annahme einer vollständigen Deckung zwischen dem Wissen und dem monströsen Objekt ? An welchen Orten wurden die Einordnungen von Monstrosität, Geschlecht und dem Normalen abgesichert bzw. welche disziplinären Zuständigkeiten wurden berufen ? Mit der Forderung nach einer wissenschaftlichen Untersuchung der als anthropologische Objekte entworfenen Monstrositäten entstanden im 19. Jahrhundert „immer wieder neue Probleme und Wissengebiete, so dass eigentlich gar nichts abgeschlossen wurde“180. Als wissenschaftliche Tatsache bezeichnet, kann aber vom Gegebenen „hier überhaupt nicht gesprochen werden“181. Insofern handelt

180 Fleck, Ludwik: 1980, 29. 181 Fleck, Ludwik: 1980, 33.

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es sich bei Monstrositäten nicht um etwas Gegebenes, sondern um Forderungen und wissenschaftliche Herausforderungen für die Herstellung von Wissen. Nicht, was gewusst wird, ist dabei von Interesse, sondern in welcher Form hier ein gesichertes Wissen beansprucht und welche Funktion diesem Wissen zugeschrieben wird. Diesen Prozess ausfindig zu machen, ist so, als würde man an einem „Gespräch, wo mehrere Personen gleichzeitig miteinander und durcheinander“ sprechen, einen gemeinsamen Bezugspunkt herausstellen können, sodass sich eine „idealisierte Hauptlinie“182 erkennen lässt. Die Kanonisierung des Wissens muss als ein „Wille zur Wahrheit“ sichtbar gemacht werden. Wenn sich – wie Foucault schreibt – die Prozesse der Eliminierung sowie der Selektion von Aussagen, Theorien und Gegenständen in jedem Augenblick „aufgrund einer bestimmten Norm“183 vollziehen, so sind im Hinblick auf die eingangs erörterte historische Konstellation von wissenschaftlichen Aussagen die Bestimmungen von Monstrositäten auch als normierende Prozesse von Geschlecht und „Rasse“ zu verstehen. Was machte die individuellen Merkmale einer afrikanischen Frau im 19. Jahrhundert zur Monstrosität und wie bildete sich in dieser Zeit ein wissenschaftlicher Kanon darüber heraus ? Die unterschiedlichen, immer wieder neuen Aussagen zeigen, dass der Versuch, ein stabiles und einheitliches Wissen zu gewinnen, auf Widerstände stieß: Widersprüche mussten beseitigt und disziplinäre Verschiebungen berücksichtigt werden. So bleibt der monströse weibliche Körper auch angesichts heterogener, sich teilweise widersprechender Aussagen Gegenstand wissenschaftlicher Praktiken. Die Forderungen nach seiner weiteren Erforschung werden dabei nicht nur ausschließlich an den Rändern der Wissenschaft erhoben. Wie Christine Hanke in ihrer Analyse wissenschaftlicher Praktiken zur Erfassung der Kategorie von „Rasse“ um 1900 schreibt, habe die physiologische Anthropologie den wissenschaftlichen Gegenstand „Rasse“ immer im Problemfeld eines ungenügenden und mangelhaften Forschungsstandes situiert. Die Bestimmung der Evidenz von „Rasse“ habe zu immer weiteren Fragmentierungen des Körpers geführt, sodass sich das Wissensobjekt klaren Identifizierungen und Kategorisierungen entzog. Doch angesichts des „enorme[n] wissenschaftliche[n] Aufwand[s]“184, der betrieben wurde, konnte der Gegenstand „Rasse“ weder als Wissensobjekt

182 Fleck, Ludwik: 1980, 23. 183 Foucault, Michel: 1988, 63. 184 Vgl. Hanke, Christine: 2000, 187.

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aufgegeben noch konnten die Prozesse der Bestimmung abgeschlossen werden. Hanke betont: „Die Unabgeschlossenheit der Erfassung der Kategorie ‚Rasse‘ erscheint in dieser Perspektive als konstitutiv.“185 Das heißt, es gibt ein konstitutives Verhältnis von Mangel und Substanz für die Dynamik der Wissensproduktion. Die wissenschaftliche Erfassung des Normalen erzeugte immer wieder einen Mangel, der den Prozess der Wissensbildung vorangetrieben hat. Und zugleich zielten die Bestimmungen auf eine Evidenz bzw. eine Substanz des Körpers, sodass die wissenschaftlichen Praktiken zur Vervollständigung von Bildern des Anderen beitrugen. Wie Hanke schreibt, seien gerade die Unabgeschlossenheit der Erfassung von Kategorien und das Interesse an einer im naturwissenschaftlichen Feld situierten substanziellen Körperlichkeit konstitutiv für wissenschaftliche Praktiken. Angesichts dieser Befunde soll im Folgenden das Verhältnis von Dynamik und Substanz bei der Analyse von Anomalien und Monstrositäten erörtert werden. Dabei soll insbesondere seine konstitutive Funktion für wissenschaftliche Kategorisierungen von Geschlecht und „Rasse“ in den Blick genommen werden. Die Bestimmungen einer anatomisch begründeten Geschlechterdifferenz setzen an den extremen Abweichungen an, mit denen das Verhältnis zwischen substanzieller, singulärer Monstrosität und vielfältiger, häufiger Anomalie in einen erkenntnistheoretischen Rahmen gebracht wird. Dieses Verhältnis konstituiert einen instabilen Gegenstand wissenschaftlicher Aussagen, mit dem gerade im Geschlechterdiskurs weitere Anreize für wissenschaftliche Bestimmungen von Geschlecht und „Rasse“ geschaffen und legitimiert wurden. Die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts fordern zunehmend eine vollständige Erfassung der Kategorie Geschlecht; zugleich ergibt sich aus dieser Forderung immer wieder eine neue Situation der Unvollständigkeit und des Mangels.186 Vor dem Hintergrund des heterogenen und unvollständigen wissenschaftlichen Wissens über den weiblichen Körper – ein Zustand, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beklagt wird – werden immer weitere Prozesse für die Herausbildung eines wissenschaftlichen

185 Hanke, Christine: 2000, 189. 186 Sabisch hat die wissenschaftlichen Praktiken der Experimentalisierung im Umfeld der Venerologie des 19. Jahrhunderts analysiert und gezeigt, wie hier das „Weib“ als wissenschaftliche Tatsache in seiner Unvollständigkeit entworfen wurde, die wiederum Anreiz für zahlreiche Forschungen war (vgl. Sabisch, Katja: 2007a, 201).

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Kanons hinsichtlich des anatomischen Geschlechts, der Variabilität und der Differenz in Gang gesetzt. Diese Prozesse sind an die spezifischen Weisen des Wissens gebunden, in denen in den unterschiedlichen disziplinären Feldern Geschlecht und Monstrosität hervorgebracht werden. Die Generierung des Wissens über Monstrositäten wird dabei als eine situierte, heterogene und dynamische Praxis verstanden, die in der Aushandlung konkurrierender wissenschaftlicher Wahrheiten besteht.187 Wie Thomas Laqueur in seiner Studie gezeigt hat, sind die historischen Interpretationen von Geschlecht nicht nur mit dem wissenschaftlichen Fortschritt zu begründen. Im 19. Jahrhundert wurde die Differenz von Geschlecht zunehmend anatomisch ausgelegt. Dass das Geschlecht als eine naturwissenschaftliche Kategorie gedeutet wird, sei jedoch weniger das Resultat eines Zuwachses an wissenschaftlichen Erkenntnissen,188 denn schon im 17. oder 18. Jahrhundert seien Annahmen über zwei unterschiedliche Geschlechter etabliert gewesen.189 Demnach sind anatomische Unterschiede zwischen Mann und Frau auch „weitgehend unabhängig von den tatsächlichen Strukturen dieser Organe oder von dem, was man über sie wusste. Die Ideologie, nicht die Genauigkeit der Beobachtung, entschied darüber, wie man sie sah und auf welche Unterschiede es ankam.“190 Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist an die historischen Praktiken einer Biologie des Geschlechterunter-

187 Die Situiertheit des Wissens, wie sie von Donna Haraway herausgearbeitet wurde, wird in der Geschichte der Wissenschaften insbesondere dann hervorgehoben, wenn es um die historischen Interpretationen von Objektivität, Materialität und Subjektivität geht (vgl. hierzu auch: Wahrig, Bettina/Höhler, Sabine: 2006; Harding, Sandra: 1990; Haraway, Donna: 1995a). 188 Laqueur, Thomas: 1996, 23. 189 Laqueur bezieht sich an dieser Stelle auf Arbeiten von Fausto-Sterling, die gezeigt haben, dass über die zahlreichen Befunde, die „keinen regulären Unterschied zwischen den weiblichen und männlichen Körpern aufweisen, ganz einfach nicht berichtet“ wurde (Laqueur, Thomas: 1996, 22). Allerdings hält Laqueur an der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen empirischer Forschung und politischen Strategien, mit denen der weibliche Körper als wissenschaftliche Tatsache beansprucht wird, weiterhin fest. 190 Laqueur, Thomas: 1996, 106. Laqueur betont, dass die Entdeckung von anatomisch einleuchtenden Wahrheiten wie beispielsweise der, dass „Eierstockarterie nicht, wie Galen meinte, die weibliche Version des vas deferens ist, von vergleichsweise minderer Bedeutung“ seien.

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schiedes gekoppelt, die immer in kulturellen Kontexten verankert sind, in denen Hierarchisierungen und Abwertungen begründet wurden.191 Die Erkenntnisse über den Körper und das Geschlecht im 19. Jahrhundert sind nur im Zusammenhang von Biologie und Politik zu erklären. An der Nahtstelle von Macht und Anatomie seien – wie Laqueur betont – die Vorstellungen über den Körper „das Ergebnis von zwei umfassenderen, zwar analytisch, aber nicht historisch unterschiedlichen Entwicklungen: einer epistemologischen und einer politischen“192. Laqueur hat in seinen Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers gezeigt, dass die Anschauungen von Wissenschaften immer auf die Geschichtlichkeit des Wissens verweisen und zugleich auch mit politischen Haltungen verwoben sind. Kanonisiertes Wissen ist somit immer an machtvolle Forderungen gebunden, in ihm kommen wissenschaftliche Praktiken und gesellschaftliche Strategien zum Tragen. Im Hinblick auf die historisch unterschiedlich wirksamen Interpretationen von Monstrositäten sollen diese Ergebnisse im Folgenden vertieft werden. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Funktion den allgemeinen Aussagen im Zusammenhang mit Geschlecht und Anatomie zukommt. Das Interesse richtet sich also nicht ausschließlich auf den Blick, der immer tiefer in den weiblichen Körper eindringt, um dessen anatomische Strukturen zu erfassen, sondern es geht um die Frage, wieso und unter welchen Bedingungen sich der wissenschaftliche Blick auf den weiblichen Körper richtete. In den unterschiedlichen Argumenten des 19. Jahrhunderts wurden Genitalien von Afrikanerinnen in vielfältige Bezugsachsen wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisinteressen gesetzt. Die Heterogenität in den medizinischen Berichten, die sich seit dem 19. Jahrhundert nachzeichnen lässt, hat zugleich zu einer Verschiebung der Zuständigkeitsbereiche von der physiologischen Anatomie hin zur Ethnologie, Anthropologie und Embryologie geführt. Dieser Diskurs, der zwischen den einzelnen Disziplinen an Dynamik gewann, schob sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weiter in den Vordergrund. Die divergierenden wissenschaftlichen Praktiken haben immer weitere Gegenstandsbereiche hervorgebracht, die von den Objekten selbst in Momenten der klaren „Identifizierung[.] immer wieder unterlaufen werden“193. Mit den

191 Laqueur, Thomas: 1996, 33. 192 Laqueur, Thomas: 1996, 23. 193 Hanke, Christine: 2006, 219.

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Versuchen der wissenschaftlichen Bestimmung des Körpers anhand der Genitalien wird ein problematischer, instabiler weiblicher Körper entworfen, der dann zu weiteren Forschungen anreizt. Die weiblichen Geschlechtsorgane werden dabei als unvollständige wissenschaftliche Tatsache identifiziert. In diesem Zusammenhang dient das Monströse einem Wissen über das Geschlecht, mit dem der instabil gewordene weibliche Körper in seiner Variationsbreite erfasst und zugleich in seiner stabilen Differenz festgeschrieben werden konnte. Monströse Körperobjekte werden nicht mehr ausschließlich im Bezugsrahmen des Todes oder eines stummen Wissens identifiziert, sondern mit dem wissenschaftlichen Paradigma der Entwicklung gewinnen die Bedeutungen von Monstrositäten einerseits dramatisch an Dynamik und andererseits erfordern sie einen stabilen Untersuchungsrahmen, mit dem das Leben wissenschaftlich erfasst werden kann. Den heterogenen wissenschaftlichen Diskursen, die sich auf das Monströse beziehen, liegt damit ein doppelter Prozess der Bewertung zugrunde: eine kulturelle und eine geschlechtliche Bestimmung. Mit dem Paradigma der Entwicklung verflüchtigt sich die Materialität des monströsen Körperobjektes, es bedarf aber für Strategien der Unterscheidung vom Normalen einer Möglichkeit der substanziellen Bestimmung. Mit der Matrix des Normalen und des Pathologischen wird das monströse Körperobjekt im Zusammenhang mit Geschlechternormen interessant und in einem stetigen Prozess der Aneignung und des Widerstandes, der Festschreibung und der Auflösung, der Vereinnahmung und des Entzugs von Wissen situiert. Die Divergenz des wissenschaftlichen Prozesses wird dort sichtbar, wo sich der Blick von der offensichtlichen, körperlichen Materialität auf die Funktionen im Inneren des Körpers verlagert. Für die Teratologie und die Embryologie wird nun die Kasuistik und Ursachenforschung, die vermehrt experimentell praktiziert wird, zunehmend interessant. Wenn es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um die Entstehung von Monstrositäten geht, richtet sich das wissenschaftliche Interesse und die entsprechenden methodischen Instrumentarien zunehmend auf die Abweichungen im Zusammenhang mit dem weiblichen und rassifiziert-weiblichen Geschlechtskörper. Der weibliche Körper wird sowohl auf zeitliche als auch auf räumliche Achsen bezogen. Durch den Verzeitlichungsprozess wird Geschlecht als Ergebnis einer Entwicklung gedacht. Der geschlechtliche Körper ist nicht mehr in starren anatomischen Strukturen zu fassen, sondern er wird als Resultat des normalen oder pathologischen Geschlechtstriebes interessant und wird in anthropologischen, ethnologischen und embryologischen Wissensformationen verortet.

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4.4.1 Die Medizin: Ploss und Bartels über „Das Weib“ (1927) Als eine dem Körper inhärente Struktur sind die weiblichen Genitalien ein schwer fassbares Phänomen, das sich der wissenschaftlich-methodischen Bestimmung widersetzt. Wie Ploss und Bartels 1927 in ihrem umfassenden Kompendium über Das Weib betonen, unterscheiden sich Mann und Frau „in einer Reihe von Merkmalen voneinander“. Seit mehr als hundert Jahren sei eine Unterscheidung anhand der primären und sekundären Geschlechtsorgane vorherrschend gewesen. Dies habe sich nun entscheidend verändert: „Mit der wachsenden Erkenntnis des Wesens des Sexuellen erwies sich aber die Ungenügendheit dieser Einteilung, und als dann die Wechselwirkung von innerer Sekretion und Sexualapparat unsern Blick überraschend erweiterte, mußte sie fallen.“194 Geschlecht wird nun nicht mehr ausschließlich von anatomischen Kriterien, sondern auch von Triebstärke und -hemmung, innerer Sekretion und Entwicklungsprozessen hergeleitet, die im embryonalen Stadium über Geschlecht entscheiden und deren Variationsbreite sich in kulturellen Situationen manifestiert. Wie entstehen also Geschlechter ? Dies sei eine entscheidende Frage wissenschaftlicher Untersuchungen. Geschlechter entstehen durch Vererbung, so Ploss und Bartels.195 Nicht nur morphologisch gesehen würden „beide Geschlechter durch eine Reihe von Zwischenstufen ineinander“ übergehen können, sondern es könne aufgrund falscher Entwicklungsprozesse auch dazu kommen, dass „in einem Menschen neben der einen Entwicklung Reste der anderen fortbestehen bleiben“196. Die ungeheure Variationsbreite von Geschlecht, die Ploss und Bartels mit zahlreichen Fotografien, Zeichnungen und schematischen Darstellungen von Transvestiten, von normalen oder anomalen weiblichen Genitalien von europäischen und nichteuropäischen Frauen belegen, müsse nun systematisiert werden. Wie Ploss und Bartels schreiben, sei es noch völlig unklar, „von wann ab man von einer Trennung der Geschlechter sprechen

194 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 2. 195 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 35. 196 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 42.

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darf“197. Eine scharfe Differenz der Geschlechter sei anatomisch nicht belegbar, wie die Autoren betonen, Geschlecht werde stattdessen erst in einem Denken des Prozesses und des allmählichen Übergangs bestimmbar. Es müsse die Frage beantwortet werden, wie „wir zu einer richtigen Beurteilung des normalen sowohl als des krankhaften Geschlechtstriebes gelangen“198, das heißt, es geht darum, sichere Parameter aufzustellen. Ploss und Bartels plädieren letztlich allerdings doch dafür, dass die Bestimmung des weiblichen Geschlechts im Hinblick auf die anatomischen Strukturen erfolgt, denn hier finde man die „wesentlichsten Charakteristika des weiblichen Organismus“199. Die weiblichen Geschlechtsorgane werden als äußere Sexualorgane sowohl in ethnologischer Perspektive als auch im Allgemeinen erfasst. An ihnen seien mehr Vergleichspunkte zu finden, als „allein der Kopf und das Gesicht bieten“ würden. Gegenüber den Anthropologen, die sich mit „großem Eifer mit den kraniologischen und physiologischen Eigentümlichkeiten der Menschenrassen beschäftigt“ haben, sind Ploss und Bartels der Ansicht, dass bedeutendere „ethnische Vergleichspunkte […] bei den weiblichen Geschlechtsteilen mit allem, was dazu gehört, zu finden“200 seien. Nur wenn man eine anthropologische und ethnologische Perspektive einnehme, könne man letztlich auch den „großen Gefahren, welche selbst durch die geringen Grade der Frauenemanzipation dem weiblichen Nervensysteme gebracht werden“201, etwas entgegenstellen – Ploss und Bartels formulieren diese Position vor allem im Hinblick auf Frauenrechtlerinnen, die „zum Beleg für die Möglichkeit ihrer Weltauffassung immer primitivere Kulturen heranziehen, oder absterbende Völker, ohne zu bedenken, daß sie damit gerade den besten Gegenbeweis liefern“202. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern bleibe der bedeutende „Grundpfeiler alles Menschseins“203. Eine Gleichstellung der Geschlechter verbiete „sich schon durch die spezifischen physiologischen Funktionen, welche das weibliche Geschlecht insbesondere bezüglich seiner sexuellen Aufgaben der Empfängnis, der Schwangerschaft, der Geburt, des Wochenbettes,

197 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 35. 198 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 137. 199 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 306. 200 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 310. 201 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 132; Hervorh. im Orig. 202 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 132; Hervorh. im Orig. 203 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 132.

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des Säugens und der Kinderpflege von der Natur übernommen“204 habe. Aus dem auf der Natur beruhenden Geschlechterunterschied ergibt sich dann aufgrund der kulturellen Entwicklung eine signifikante Differenz zwischen der pathologisierten westlichen und der monströsen wilden Frau. Ploss und Bartels schreiben: „Alle jene Perioden, welche als Entwicklungsphasen des weiblichen Geschlechts auftreten, geben mehr oder weniger Anlaß zu nervöser Erkrankung; […] [und] haben namentlich bei unseren kultivierten Lebensverhältnissen die verschiedensten Störungen im Bereiche des Nervensystems im Gefolge, während die Frauen der wilden Völker, wie es den Anschein hat, viel weniger solchen nervösen Leiden sowie auch den mannigfachen Erkrankungen der Geschlechtsorgane ausgesetzt sind.“205

All diese Bestimmungen dienen letztlich dazu, das „Wesen des krankhaften Sexuallebens, dessen Erscheinungen uns im ganzen Buche da und dort entgegentreten, zu verstehen“206. Diese Wesenhaftigkeit ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen dem normalen und dem pathologischen Geschlechtstrieb. Als normal bestimmen die Autoren einen Geschlechtstrieb, „der sich auf einer Linie bewegt, die zur Zeugung führen kann. […] Daraus geht hervor, daß ein Geschlechtstrieb als normal zu fassen ist, der nach der Reife einsetzt, heterosexuell, d. h. auf das andere Geschlecht gerichtet ist.“207 Was in der eigenen Kultur als von emanzipatorischen Interessen, Bildung oder falscher Moral hervorgerufene Störung, Pathologie oder Anomalie erscheint, droht zugleich den biologischen Geschlechterunterschied zu unterlaufen. Im Hinblick auf andere Kulturen aber werden diese Zeichen als rassenspezifische Merkmale des weiblichen Körpers konfiguriert. Denn mit dem Postulat der unterschiedlichen Stufen der kulturellen Entwicklung und den auf diese bezogenen Hierarchien eröffnet sich am weiblichen Körper ein Interventionsraum, in dem die nicht korrigierbaren Anomalien rassenspezifischer Merkmale und die als Symptom zu bessernden Anomalien des Weiblichen in ein konstitutives Verhältnis gesetzt werden, an dem Strategien der Normalisierung ansetzen können. In diesem Interventionsraum wird somit das Biologische mit sozialen,

204 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 134. 205 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 135. 206 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 143. 207 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 142; Hervorh. im Orig.

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politischen und kulturellen Argumentationen für Geschlechternormen verkoppelt. Die ausschließlich auf dem Körper von Afrikanerinnen beruhenden ethnografischen und medizinischen Bestimmungen zeichneten jedoch ein heterogenes Bild weiblicher Genitalanomalien, das stetig zwischen dem Modell der Krankheit und der angeborenen, rassenspezifischen Anomalie schwankte. Im Jahr 1861 konstatiert der Mediziner Robert Hartmann angesichts der Ergebnisse seiner Untersuchungen an weiblichen Sexualorganen, dass eine rassenspezifische Unterscheidung auf der Basis der Erkenntnisse über weibliche Genitalien nicht möglich sei: „Die Hottentottenschürze braucht man nicht bloß in Südafrika zu suchen, man findet sie durch den ganzen Kontinent, sogar in Europa noch häufig genug ! Jeder Stubenethnolog würde erstaunen, wenn ich ihm ein Glas voll sogenannter Hottentottenschürzen, aus dem Präpariersaal der Haupt- und Weltstadt Berlin stammend, fein säuberlich in Alkohol aufbewahrt vorweisen würde. Facta loquuntur ! Nach unserer eigenen geburtshilflichen Beobachtung können wir allerdings bestätigen, daß ähnliche Bildungen bei unseren deutschen Frauen nicht so selten sind, wie man früher wohl meinte. Allein für die Ethnologie handelt es sich doch darum, festzustellen erstens, welche durchschnittlichen Größenverhältnisse die betreffenden Teile hier wie dort zeigen, zweitens, welche Minima und Maxima hier wie dort vorkommen. Für jetzt mangelt es noch an genügend Material.“208

Die Verwirrung darüber, was die Schürze denn nun eigentlich sei, war groß. Bereits im Jahr 1835 erwähnt der Anatom Wilhelm Otto eine ganze Reihe von Missverständnissen. Hatte Müller noch gezeigt, dass diese Anomalien afrikanischer Genitalien keine Krankheit waren, stellte sich nun die Frage, was sie dann waren: ein rassenspezifisches Merkmal ? Wilhelm Otto, der in Breslau die konservierten Geschlechtsteile einer Afrikanerin untersuchen konnte, verteidigte in seinem Bericht die Annahme, dass es sich hierbei um ein Faktum und nicht um ein „blosses Märchen“209 handele. Während Johann Friedrich Blumenbach die Bildung noch für eine Erdichtung, für eine „Ventrale Hottentottarum fictitium“ halten konnte, gab es für Otto angesichts der verschiedenen Berichte keinen Zweifel mehr daran, dass die Genitalien von Afrikanerin-

208 Robert Hartmann zitiert nach Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 364 f. 209 Otto, Adolph Wilhelm: 1835, 190.

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nen im Allgemeinen ganz andere Strukturen aufwiesen. Ausgehend von dieser Annahme galt es, verschiedene Fragen zu klären: Handelt es sich dabei um eine krankhafte Anomalie oder um eine ursprüngliche Bildung, die auf keine Erkrankung des Gewebes hinweist? In seinen Bemerkungen versichert Otto, „daß die von mir beschriebenen Geschlechtstheile der Negerin nicht krank, sondern ganz gesund sind“210. Weder eine Anomalie noch eine Krankheit liefern hier Modelle für wissenschaftliche Erklärungen. Vielmehr werden durch die zahlreichen Berichte immer weitere Variabilitäten aufgezeigt und das Feld der Variationen stetig erweitert, verschoben und Differenzen destabilisiert. Otto hatte seine Aussagen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mit anatomischen Präparaten belegt. Da diese nun nicht mehr als zuverlässig galten, mussten die Annahmen mit Untersuchungen am lebenden Körper verifiziert werden. Wie die verschiedenen Forderungen zeigen, die im Hinblick auf die Untersuchungen weiblicher Genitalien formuliert wurden, kam es hier zu einer Verschiebung der Praktiken der Sichtbarmachung: Nicht mehr der tote individuelle Körper stand – wie noch bei Müller – im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Untersuchungen sollten am lebenden Körper durchgeführt werden. Der tote Körper verweise nur auf das Leben, der lebendige Körper sei das Leben selbst. Der lebendige Körper unterläuft aber immer die Möglichkeit, sichere Erkenntnisse zu gewinnen, die am toten Objekt – wenngleich, wie bei der Besprechung der Untersuchung Müllers gezeigt wurde, mit Einschränkungen – gegeben ist. Zudem steht hier nicht mehr die Individualität des monströsen Objektes im Fokus der Wissenschaft vom „Weibe“, sondern die Signifikanz der ethnischen Geschlechtermorphologie. In dem 1927 veröffentlichten Buch über Das Weib in der Natur- und Völkerkunde stellten Ploss und Bartels fest, dass über „die durch ihre starke Verlängerung auffallenden kleinen Geschlechtslippen der Hottentottenund Buschmann-Frauen […] außerordentlich viel verhandelt worden“211 sei. Diese Feststellung steht jedoch im Widerspruch zur wissenschaftlichen Forschungslage des 19. Jahrhunderts.212 Die Autoren beklagen noch Anfang des 20. Jahrhunderts, dass trotz des wissenschaftlichen

210 Otto, Adolph Wilhelm: 1835, 192. 211 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 360. 212 1798 bezieht sich bereits Blumenbach auf Linné und beklagt dessen Abscheu vor Untersuchungen der Geschlechtsteile. Trotzdem habe Linné eine ausführliche Beschreibung der „Venusmuschel“ geliefert, „welche er in einer

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Fortschritts die Medizin kaum wissenschaftliche Erkenntnisse zu weiblichen Sexualorganen hervorgebracht habe. Zwar sei der medizinische Forschritt in nahezu alle Regionen des Körpers vorgedrungen, dies gelte jedoch nicht für die weiblichen Genitalien: „Es kann leider nicht abgeleugnet werden, daß selbst solche Regionen des menschlichen Körpers, die der Untersuchung durch die Ärzte vielfach unterliegen, sogar bei den europäischen Völkern in anthropologischer Beziehung noch lange nicht hinreichend erforscht worden sind. Hierzu gehören auch die weiblichen Sexualorgane.“213

Somit ergibt sich eine Spannung zwischen dem wissenschaftlichen Fortschritt der Medizin, der dazu führte, dass nahezu alle Regionen des Körpers und zahlreiche Prozesse im Körper wissenschaftlich erklärt werden konnten, und den Möglichkeiten, die weiblichen Genitalien wissenschaftlich zur Sprache zu bringen. Die bislang vorliegenden Untersuchungen zum „Weib“ werden von Ploss und Bartels in einen – wie bereits der Titel ihres groß angelegten Werkes ankündigt – medizinisch-anthropologischen Rahmen eingebettet. In den anthropologischen Studien wurde die enorme Variationsbreite der „Formbildung dieser Organe“ festgestellt. Es sei jedoch – wie Ploss und Bartels schreiben – unbestreitbar, dass „uns bei genauerer Erkenntnis wertvolle Fingerzeige für die Deutung dieser Verschiedenheiten gegeben sein würden“214. Die Besonderheiten eines als monströs identifizierten Objektes werden in einen Zusammenhang mit dem allgemeinen weiblichen Körper gebracht und in eine Anthropologie der Entwicklungsgeschichte des individuellen und gattungsspezifischen Menschen verschoben. Das Monströse zeigt sich in der Unvollständigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse über weibliche Geschlechtsorgane. In dem konstitutiven Verhältnis von „Rasse“, Geschlecht, Mangel und wissenschaftlichem Wert wird somit ein Zusammenhang zu einem geschlechtlich codierten Bevölkerungskörper hergestellt. Das Monströse der morphologischen Strukturen und der weiblichen Geschlechtsorgane wird als wissenschaftliche Tatsache konstituiert und in einen medizinisch-anthropologischen Un-

in der That sehr schlüpfrigen metaphorischen Sprache beschrieben“ habe (vgl. Blumenbach, Johann Friedrich: 2001 [1798], 172). 213 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 342. 214 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 350.

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tersuchungsrahmen gesetzt. Eine Kenntnis der weiblichen Sexualorgane solle demnach gerade für die Anthropologie von großer Bedeutung sein, da sie die Grundlage liefere, „von der aus etwaige als Besonderheiten bei Angehörigen fremder Rassen beschriebene Eigenschaften bewertet werden müssen.“215 Es geht also um die Beschreibung von Abweichungen und um eine Kenntnis des „Weibes“, von der aus weitere Differenzen festgestellt und verteidigt werden können. Angesichts dessen, dass man im Hinblick auf die zahlreichen vorliegenden Arbeiten und anhand unterschiedlicher Quellen vor allem eine enorme „Variationsbreite einiger Bestandteile der äußeren Geschlechtsorgane“ dargelegt habe, fordern Ploss und Bartels nun die Systematisierung der Variabilitäten, damit die „Rassenunterschiede“216 exakt analysiert werden können. Die in dieser Arbeit genutzte Ausgabe von 1927 ist die elfte Auflage der Publikation von Ploss und Bartels. Sie ist hier insofern von Interesse, als die Mediziner in dieser Auflage ihre früheren Annahmen zu widerlegen versuchen. In einem gesonderten Kapitel über die „Hottentottenschürze“ berichtigen sie nun ihre Ansichten „über diesen interessanten und auffallenden Gegenstand“217. Bartels vertrat in älteren Auflagen noch die Ansicht, dass die Vergrößerung der Schamlippen auf ein Ritual der künstlichen Verlängerung in jenen Kulturen zurückzuführen sei. Aufgrund der Untersuchungen an vier anatomischen Objekten, die ihm aus Südafrika zugesandt wurden, verwirft Bartels jedoch seine ältere Auffassung und teilt nun mit, „dass die wahre Hottentottenschürze angeboren vorkomme“218. Das an vier Leichen gewonnene Material wird mit Fotografien verglichen, die Bartels ebenfalls vorlagen. Die Abbildung der Geschlechtsorgane eines zehnjährigen Mädchens veranlasste Bartels zu der Annahme, dass die Vergrößerung der Geschlechtsorgane auf eine von Geburt an vorhandene, rassenspezifische Anomalie verweise. Diese Behauptung wird auch nicht von der Aufnahme eines Präparates von einem Kind untergraben, welches keine Vergrößerungsmerkmale aufwies, weil es sich hierbei um ein „Buschmannmädchen“ handele.219 Es ist ersichtlich, welche Anstrengungen die Autoren auf sich genommen haben müssen, um am Schluss des Kapitels dennoch den Begriff

215 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 343. 216 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 351. 217 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 361. 218 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 368. 219 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 368.

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der „Rasseneigentümlichkeit“ zur Beschreibung der weiblichen Morphologien einführen zu können. Eine vergleichende anatomische Studie müsse auch die Frage klären, welche Bedeutung eine „solche Bildung“ habe. Ploss schreibt: „Handelt es sich hier um eine Theromorphie, und sollen wir in dem Vorkommen einer derartigen Anlage eine Art von Atavismus, ein Zeichen niederer Formenbildung erkennen ?“220 Der monströse Körper hat sich zu einem monströsen Geschlechtskörper entwickelt. Die substanzielle Bestimmung einer seltenen Morphologie, wie sie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts beansprucht wurde, wird nun zur Bewertung menschlicher und kultureller Entwicklungsstadien herangezogen. Am Ende des Abschnitts über die „Hottentottenschürze“ halten Ploss und Bartels an unterschiedlichen Bewertungen über die Entwicklung und Feststellung weiblicher Genitalanomalien fest. Zum einen wird die Besonderheit der Genitalien von Afrikanerinnen für rassenspezifische Argumentationen genutzt und somit stabilisiert. Zum anderen kann in dieser Differenzierungsstrategie der anomale Geschlechtskörper von Europäerinnen mit seinen pathologischen Symptomen auf einen fehlgeleiteten Geschlechtstrieb zurückgeführt werden. Die Autoren Ploss und Bartels halten der Beschreibung von Hartmann, der zuvor eine rassenspezifische Unterscheidung dementierte, zahlreiche Gründe für eine rassenspezifische Entstehung entgegen. Während also bei den „Hottentottinnen“ auf der einen Seite rassenspezifische Merkmale postuliert werden, führe bei europäischen Frauen die „einfache manuelle Reizung der Geschlechtsteile“ zu dieser so „bedeutenden Ausbildung“. Wenn gerade auch in „unseren Gegenden“ ähnliche Merkmale gefunden würden, so seien hierbei „die Ursachen in masturbatorischer Reizung zu suchen“221. Ploss und Bartels fordern, dass sich die Anthropologen nicht dem Druck einer heuchlerischen Moral unterwerfen sollten, wenn es darum ginge, aus Rücksicht auf ihre „Objekte“ auf genitale Untersuchungen zu verzichten. Diese Untersuchungen hätten „nur der Wahrheit zu dienen“222. Sowohl Mediziner als auch Anthropologen sollten sich der Erforschung weiblicher Sexualorgane widmen. Dabei ging es jedoch nicht ausschließlich um medizinische Forschungen, sondern um die Konstituierung von Differenzen anhand der Matrix von Geschlecht und „Rasse“. Der wissenschaftlich-methodische Zugriff auf den Körper erfolge, wie Ploss und

220 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 369. 221 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 364. 222 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 343.

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Bartels postulieren, in Praktiken der Vermessung, des Vergleichs und der Anhäufung von Daten, die in einem ethnologisch-anthropologischen Untersuchungsrahmen erstellt werden müssen. Zugleich sind die medizinischen Ergebnisse niemals ausreichend, um die den Forschungspraktiken zugrunde liegenden Fragen zu klären. Ploss und Bartels fordern daher einen interdisziplinären Untersuchungsrahmen. Die Monstrosität oszilliert zwischen den Disziplinen und wird zu einem komplexen Gegenstand, der die Wissensaneignung legitimiert. Zugleich stellt sie sowohl einen Antrieb für weiteres Wissen als auch ein Zeichen des Widerstandes dar, denn eine eindeutige Identifizierung des wissenschaftlichen Gegenstandes scheint nicht zu gelingen. Wie Ploss und Bartels herausstellen, müsse immer noch die Frage geklärt werden, welche „vergleichend-anatomische Bedeutung einer solchen Bildung“223 zukäme. Vermutet wird bezüglich der „Hottentottenschürze“ eine Anlage zu einer Art Atavismus. Ploss und Bartels formulieren diese Annahme in Bezug auf Blanchard, der hundert Jahre zuvor den „Buschmann-Weibern die niederste Stufe auf der Skala der menschlichen Entwicklung“224 zugewiesen hatte. Die Autoren bezweifeln diese Hypothese zwar nicht, aber sie weisen auf die Unzulänglichkeiten der von Blanchard genutzten Methode der empirischen Vermessung der Größenverhältnisse hin: „Aber so einfach ist die Vergleichung nicht, daß man nur den Gesamteindruck der Größenentwicklung zu berücksichtigen brauchte: hier kommt es auf sehr genaue Berücksichtigung vieler Einzelheiten an.“225

Trotz der Variabilitäten geht es um das Singuläre, das gleichzeitig als störender Faktor und als Parameter der Absicherung fungiert. Die Möglichkeiten der Erklärung von Einzelheiten hatte bereits Virchow bezweifelt. Die Sammlung der Besonderheiten sei zwar möglich, aber es bleibe immer ein Rest, der für Virchow ein Mysterium zu sein scheint. Auch wenn sich anhand empirisch gewonnener Daten – so Virchow – einiges über die Krankheit oder das Besondere aussagen lässt, können mit ihrer Hilfe doch nicht in jedem Fall die Ursachen oder Gründe benannt wer-

223 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 369. 224 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 369. 225 Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 369.

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den: „Unter diesem Gesichtspunkte haben wir zu aller Zeit das Mysterium der Individualität betrachtet.“226 Es geht nicht um die Darstellung des Monströsen, sondern um die Konstitution einer epistemologischen Tatsache: Aus der Singularität der Abweichung wird nun ein epistemisches Ding, das weder eine Moral wissenschaftlicher Praktiken noch die Persönlichkeit des zu untersuchenden Menschen erfordert. Wissen kann nur dann entstehen, wenn bei gezielten Untersuchungen und bei der Erhebung von Daten diese beiden Bereiche ausgeschlossen werden. In den spezifischen Wissensräumen muss die Dinghaftigkeit der Objekte mittels wissenschaftlicher Praktiken konstituiert werden.227 Die Verbesserung des Wissensstandes kann nicht allein darin bestehen, dass Datenmaterial aus anthropologischer Perspektive angehäuft wird, sondern es geht vor allem um einen wissenschaftlichen Prozess der Formulierung allgemeiner Aussagen über das „Weib“. Es lassen sich mithin zwei Entwicklungen erkennen, in denen Monstrositäten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich angeeignet werden: die Verbesserung der Untersuchungsmethodik und die zunehmende Bedeutung der vergleichenden Anatomie. Hier zeichnet sich ein Wechsel ab: Monstrositäten sind nicht mehr nur eine Herausforderung, sondern sie dienen auch der Absicherung der Erkenntnisse über das Normale. Damit wird ein Wissen über Anomalien, Regressionen und Variabilitäten im Zusammenhang mit weiblichen Geschlechtsorganen produziert. In den Untersuchungen der Mediziner geht es um weit mehr als nur um die äußeren Geschlechtsorgane. Es geht vor allem um ein Vordringen in die inneren Bereiche des Körpers, wie Ploss und Bartels es so vehement forderten. Auch die Visualisierungspraktiken, die der Darstellung der körperlichen Wahrheit dienen, werden so justiert, dass sie auf die einzelnen epistemischen Segmente zielen. Die Fotografien im umfangreichen Werk von Ploss und Bartels zeigen Vergrößerungen der Geschlechtsorgane in gespreizten Positionen – nicht selten sind die Hände des Mediziners noch zu erkennen. Der untersuchte Gegenstand ist zu einem Ding geworden, zu einem Objekt, was jeder Moral und Menschlichkeit entbehrt. Der weibliche Körper wurde fragmentiert, seine einzelnen Teile wurden isoliert; und zugleich werden an diesen Teilen

226 Virchow, Rudolf: 1854, 26; Hervorh. im Orig. 227 Zum Begriff der Repräsentationsräume vgl. Rheinberger, Hans-Jörg u. a.: 1997.

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allgemeine Aussagen über das „Weib“ formuliert.228 Dabei werden die Besonderheiten des individuellen Körpers einem generalisierenden Blick auf den weiblichen Körper untergeordnet. Der weibliche Körper wird auf seine Genitalien reduziert, denen immer etwas Monströses anzuhaften scheint. Der wissenschaftliche Blick richtet sich auf die körperlichen Segmente und isolierten Ausschnitte, die in den wissenschaftlichen Systemen dann wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden.

4.4.2 Die Ethnologie: Schultze Jenas rassenanthropologische Vermessungen (1928) Während die starren, toten Objekte der Klassifizierung in der Medizin allmählich an Bedeutung verloren, wurden lebende Objekte in anthropologischen Untersuchungen genutzt, um die wissenschaftlichen Tatsachen dort zu bestätigen, wo die heterogenen wissenschaftlichen Aussagen über geschlechtliche Objekte die anatomisch begründete Geschlechterdifferenz instabil gemacht hatten. Das wissenschaftliche Interesse galt sowohl den toten Objekten als auch den Untersuchungen am Leben. Das Leben und der Tod werden damit in einen Bezugsrahmen gesetzt, um die Erkenntnisse über die weiblichen Geschlechtsorgane erweitern, vervollständigen und ergänzen zu können. Der systematisch-methodische Zugriff auf den Körper erfolgt in Praktiken der quantitativen Bestimmung und der detaillierten Vermessung. Die Anhäufung von Datenmaterial aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten konnte die wissenschaftlichen Differenzierungsstrategien von Geschlecht und Kultur absichern. Am weiblichen Körper wird das ganze Spektrum pathologischer, atavistischer und monströser Phänomene entworfen und damit ein Möglichkeitsraum für Hierarchisierungen und Bewertungen des Geschlechts erschlossen. Es war die Aufgabe der Anthropologie, sichere Parameter für Unterscheidungen und Differenzierungen zu finden, mit denen der weibliche Körper in einem System kultureller Kontrolle und wissenschaftlicher Intervention räumlich und zeitlich eingeordnet werden konnte. Die Feststellung

228 Kathan betont die Ablösung des sozialen Körpers vom Patienten. Diese Ablösung sei ein Prozess, in dem kulturelle Tabus und Verbote überschritten werden. Sie könne daher nur funktionieren, weil die tatsächliche Person zum Verschwinden gebracht werde und zu einem wissenschaftlichen Ding geworden ist (vgl. Kathan, Bernard: 1999, 15–66).

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und Produktion von Differenzen erfolgte in einem anthropologischethnologischen Untersuchungsrahmen. Die Aufgabe der Anthropologie sei es – wie Ernst Schwalbe in seiner Allgemeinen Missbildungslehre betont –, die „Variationsbreite der menschlichen Beschaffenheit festzustellen“; die Teratologie hingegen habe mithilfe der Abweichungen das Normale festzulegen, um dann „mit Sicherheit von den Anomalien reden zu können“229. Schwalbe geht es nicht um Geschlechterdifferenzen, liest man aber seine Ausführungen, wird klar, dass die wissenschaftliche Erfassung des Normalen manchmal auf Monstrositäten, manchmal auf den weiblichen Körper abzielt. Einen Beitrag zur vergleichenden Anatomie , die auf ethnologisch-medizinischen Fragestellungen beruhte, hatte auch der Marburger Anthropologe Leonhard Schultze Jena im Jahr 1928 vorgelegt. Die während einer Forschungsreise in das westliche und zentrale Südafrika gewonnenen Ergebnisse seiner anthropologischen Untersuchungen wurden von ihm in einem Buch mit dem Titel Zur Kenntnis des Körpers der Hottentotten und Buschmänner im Jahre 1928 vorgelegt. Ziel der Arbeit war es, einzelne, verstreute Beobachtungen und die zahlreichen Ergebnisse der körperlichen Vermessung zusammenzutragen, um anhand dieser ein Bild der Ureinwohner Südafrikas zu zeichnen: „Um diesen dunklen Punkt kommt keine Forschung herum, die sich an das Rätsel des Ursprungs der gelbhäutigen Eingeborenen Südafrikas herantasten will.“ Das Rätsel seien die „Absonderungen ihrer körperlichen Eigenart wie ihres Sprachgutes“230. Zum Schluss der Untersuchung wird Schultze Jena, der das „Bild der Ureinwohner“ mit Begriffen der Rassenanthropologie diskutiert, postulieren, dass auch bei seinen Untersuchungen die unzureichende Datenmenge keinen Anhalt biete, „dem Rätsel näher zu kommen.“231 Im Hinblick auf den weiblichen Körper kommt Schultze Jena jedoch zu einem ganz anderen Urteil. Die Spannung zwischen der – trotz zahlreicher Tabellen – unvollständigen Datenmenge und den – trotz kleinster Datenmengen – allgemeinen Aussagen über rassenspezifische Merkmale soll im Folgenden erörtert werden. Die Methode der Anthropologie sei – wie Schultze Jena betont – die Datenerhebung, denn eine „Analyse der Rasse kann nicht anders als Merkmal um Merkmal in seinem Wechsel durch die Reihe der Personen

229 Schwalbe, Ernst: 1906, 23. 230 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 148. 231 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 212.

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zu verfolgen.“232 Die Messungen werden „ausschließlich am lebenden nackten Körper vorgenommen, die Messpunkte mittels Abtasten der Knochen durch die Weichteile gefunden, und ihre Lage auf der unverschobenen Haut mit Fettstift gezeichnet“233. Zu Beginn seiner Ausführungen postuliert Schultze Jena, dass er sich von der älteren pseudowissenschaftlichen Tradition abgrenzen möchte. Er schreibt, dass die Anthropologen bei den Untersuchungen, die zuvor in Berlin, Leipzig und Paris „an Wandertruppen“ ausgeführt wurden, „in der Frage, ob ein Hottentott oder ein Buschmann vor der Messstange stand, auf die Angaben der Unternehmer angewiesen“234 waren. Das Interesse der Anthropologen an den Ausstellungsobjekten der europäischen Unternehmer wird nicht im Hinblick auf die Vermarktungsstrategien einer voyeuristischen Schaulust oder Kommerzialisierung kritisiert, sondern den älteren anthropologischen Studien wird ein fehlendes Interesse an Rassensystematiken vorgeworfen. Nun geht es Schultze Jena darum, anhand körperlicher Merkmale ein vollständiges wissenschaftliches Bild der „Hottentotten“ und „Buschmänner“ zu entwickeln; um dies zu bewerkstelligen, müsse wenigstens die Einheitlichkeit des Materials, der Technik und der Verarbeitung in einem abgeschlossenen Forschungsrahmen garantiert werden.235 Schultze Jenas besonderes Interesse gilt dem weiblichen Körper und den Geschlechtsorganen, die nicht zum Prüfstein einer Differenzierungsstrategie zwischen „Hottentotten“ und „Buschmännern“ erhoben, sondern als methodisches Instrumentarium entworfen werden, mit dem das Denken über die kulturellen Differenzen des Geschlechts im Allgemeinen und im Speziellen begründet werden kann. Hier knüpft er – im Gegensatz zu dem der Studie vorangestellten Postulat – an die Tradition der wissenschaftlich-anatomischen Beschreibungen der letzten einhundert Jahre an. Am weiblichen Körper werden andere Erkenntnisinteressen festgemacht, die sich ausschließlich auf das Geschlecht und die monströsen Phänomene richten. Er schreibt: „Im übrigen ist der weibliche Körper nicht in der Richtung eines Vergleiches mit dem männlichen Gegenstand meiner Aufmerksamkeit gewesen. Vielmehr

232 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 153. 233 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 150. 234 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 186. 235 Vgl. Schultze Jena, Leonhard: 1928, 4.

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achtete ich auf die zwei Eigentümlichkeiten des Hottentottenweibes, die als der Fettsteiß und die ‚Schürze‘ frühzeitig erwähnt werden.“236

Obwohl Schultze Jena durchaus auch auf eine beim männlichen Geschlecht notwendige anatomische Klärung für eine Rassenspezifik abhebt, wird hier die Differenzierungsstrategie zwischen den „Hottentotten“ und „Buschmännern“ aufgekündigt und die weibliche Morphologie einer epistemologischen Verortung von Anatomie, kultureller Überlegenheit, Atavismus und Geschlechterdifferenz untergeordnet. Der Text ist von einer grundsätzlichen Spannung durchzogen: Zum einen zeigt sich das Defizit der unzureichenden Datenmenge, die der Autor auch am Ende seiner Studie beklagt. In einer vorab festgelegten Struktur hat er über 51 Messpunkte des Körpers konstruiert, an denen die anatomischen Merkmale der „Rasse“ und des Körpers abgelesen werden könnten. Seine Messungen sollen einen eigenen Forschungsansatz darstellen und nicht mit den Untersuchungen älterer anthropologischer Arbeiten verquickt werden.237 Zum anderen werden die Ergebnisse der nur an fünf Frauen durchgeführten genitalen Vermessungen – was Schultze Jena aber nicht an der Aussagefähigkeit der Daten zweifeln lässt – mit den zuvor von Anatomen und Ethnografen erstellten älteren Ansichten verknüpft. Die Singularität der weiblichen Morphologie steht zunächst außer Frage. Der weibliche Körper wird untersucht, vermessen und fotografiert und in einem System von Aussagen angeordnet. Die Erfassung der genitalisierten Objekte soll zudem über den lebenden Körper hinausgehen und mit anatomischen Sektionsberichten – wie bspw. dem von Johannes Müller aus dem Jahr 1834 – verknüpft werden. Seitdem sei das Vorhandensein der Schürze „nur an Lebenden immer wieder festgestellt worden“238, wie Schultze Jena betont. Hier greift er den anatomischpathologischen Diskurs wieder auf: Die eigenen Vermessungen dienen der Vervollständigung des Bildes des genitalisierten, monströsen Geschlechtskörpers. Die fotografischen Abbildungen, die Schultze Jena seinen Untersuchungen am Ende als Bildtafeln beifügt, sind vorwiegend der „Schürze“ gewidmet. Die Schamlippen werden „auseinandergelegt“, „ungedehnt“ und „gestrafft“ abgebildet. Doch im Moment der Aufnahme entzieht sich das Objekt der Kontrolle des Anthropologen,

236 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 184. 237 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 148. 238 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 209.

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denn „das Weib, das sich nur schwer zur Photographie entschloß, versteckte, ohne daß ich es eher als auf der Platte bemerkte, die Schamlippen so gut es ging in die Leistenbeugfalte des Oberschenkels“239, wie Schultze Jena bedauert. Die bildliche Konfiguration des wissenschaftlichen Objektes erfolgt zwar in seiner Dinglichkeit, um es als stummen Gegenstand zu präsentieren, doch im Moment der Abbildung entzieht sich das Objekt einer vollständigen Erfassung. Die Stille der Daten wird von einer Bewegung des Lebens durchbrochen; damit kommt es am autoritären Ort der Wissensproduktion zu einer Störung des Erkenntnisprozesses. Dieses Ereignis zeigt die Instabilität eines dynamischen Prozesses der Wissensbildung: Die Dinglichkeit des Objektes wird plötzlich vom lebenden Subjekt unterbrochen. Die lebenden Objekte sind störanfällig – auch wenn dafür gesorgt wird, dass sie nicht kommunikativ sind, denn Schultze Jena besitzt die methodische und wissenschaftliche Autorität, die das Objekt verstummen lässt –, die instrumentelle Untersuchung scheint nicht zu ihrem Ende gelangen zu können. Der weibliche Körper wird in einer rassifizierten und atavistischen Charakteristik als genitales Fragment hergestellt. Im Gegensatz zu einer sicheren Unterscheidung ethnischer Differenzen bedient sich der Anthropologe der Diskurse der monströsen Körperlandschaften, die die wissenschaftlichen Interventionen strukturieren. Das Monströse ist in die radikale Bestimmung der „Rasse“ eingegangen. An dieser Entwicklung zeigt sich, wie der wissenschaftliche Diskurs die Geschlechtsorgane und die am weiblichen Körper festgemachten außergewöhnlichen Phänomene mit kulturellen Stereotypisierungen verknüpft. In diesem Zusammenhang strukturieren die kulturellen Vorstellungen als Subtext schon im Vorhinein die wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen. Zwar könne Schultze Jena über die „Schürze“ und den „Fettsteiß“ nur „vage Vermutungen“ aufstellen, aber der Feststellung, dass sie ein „erbliches Rassenmerkmal“ seien, wird nichts entgegengesetzt. Nicht mehr die Kuriosität oder Seltenheit eines Objekt sorgt dafür, dass diesem die Aufmerksamkeit der Wissenschaft zuteil wird, sondern das Interesse gilt nun anthropologischen Reihen, um den weiblichen Geschlechtskörper als „atavistische Regel“ oder als „atavistische Seltenheit“ zu hierarchisieren. Schultze Jena leitet aus den jeweiligen Phänomenen kulturelle Überlegenheitsvorstellungen ab; er fasst zusammen: „Beide Bildungen [Schürze und Fettsteiß; Anm. d. Verf.] finden sich bei anthropoiden Affen. Das Erbteil scheint bei

239 Schultze Jena, Leonhard, Tafelerläuterung XV, o. A.

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den Hottentotten und Buschleuten […] als Regel, bei anderen Rassen als atavistische Seltenheit sich erhalten zu haben.“240 Während einige Jahre zuvor die Heterogenität der wissenschaftlichen Aussagen dazu führte, dass die geschlechtlich codierten Monstrositäten klassifiziert, genitalisiert und eingeordnet wurden, haben sich diese Aussagen nun in einem anthropologisch-ethnologischen Untersuchungsrahmen zu einem rassistischen Einheitsbild verdichtet: einer atavistischen Seltenheit auf der einen und einer Regelhaftigkeit auf der anderen Seite. Die Geschlechtsorgane sind hier gekennzeichnet von einer „derben Beschaffenheit“, sie weisen eine „runzelige, schlaff herabhängende“ Haut auf und besitzen eine „trüb-braune Farbe“. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeitet sich die Wissenschaft am Rätselhaften des weiblichen Körpers ab. Die Dynamik einer lebendigen Monstrosität entfaltet sich in einem Diskurs über Kultur und Geschlecht. Der weibliche Körper wird damit in kulturelle Zeichen des Andersseins übersetzt und zum Austragungsort kultureller Prozesse der Normalisierung. Aus dem Mangel, der Störung und dem Beunruhigenden wird damit ein Wissen über den Körper geformt. Der Begründer der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso hatte das „Weib“ als wissenschaftlichen Gegenstand anthropologischer und medizinischer Untersuchungen klassifiziert und aus anatomischen Bestimmungen abgeleitet, dass „das Weib dem Manne gegenüber infantil bleibt“241. Mithilfe der Matrix des Normalen und Pathologischen werden

240 Schultze Jena, Leonhard: 1928, 185. 241 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: 2008 [1894], 47. Lombrosos Theorie der „weiblichen Devianz“ kann hier nur stichwortartig zusammengefasst werden. In letzter Zeit sind zahlreiche Arbeiten dazu entstanden. In diesen wird gezeigt, wie der Geschlechterunterschied durch das medizinische Denken naturalisiert wurde und wie das Geschlecht zugleich auch die Theoriebildung der Medizin strukturiert hat (vgl. Schmersahl, Katrin: 1998). Diese Erkenntnisse werden auch in Analysen der kriminalbiologischen Traditionen und ihren historischen Zusammenhängen vertieft (vgl. Ritter, Sabine: 2005). Zudem wird hier gezeigt, wie sich in der bürgerlichen Gesellschaft, deren Wertmaßstab der Stabilisierung einer männlichen Norm galt, im 19. Jahrhundert zunehmend eine – nicht zuletzt auch durch die gesellschaftlichen Entwicklungen herbeigeführte – verstärkte Wahrnehmung von Devianz herausbildete. So war es Aufgabe der zu dieser Zeit neu entstandenen Kriminalanthropologie, das Verbrechen mittels wissenschaftlicher Kriterien zu erkennen und Zeichen von Devianz am Körper zu erfassen (vgl. Gadebusch

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bei Lombroso rassistische und soziale Bewertungen der „Anderen“ von der Anatomie des weiblichen Körpers bis ins Innere der Gesellschaft verlagert. Der von Lombroso initiierte Paradigmenwechsel vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht ging mit einer detaillierten Geschlechterund Rassentypologie einher, an deren unterster Stelle die „atavistischen Monstrositäten“242 standen. Kriminalität – vor allem weibliche Kriminalität – wurde damit in ein Erkenntnisraster anthropologischer Studien und medizinischer Untersuchungen eingeordnet. Nicht nur wurde die weibliche Verbrecherin in eine scharfe Differenz zum männlichen Verbrechertypus gebracht, sondern mit Lombrosos Atavismus-Theorie konnte die postulierte Minderwertigkeit der Frau festgestellt und politische und soziale Interventionen am biologischen Körper legitimiert werden. Wie bei den ethnologisch-medizinischen Untersuchungen von Schultze Jena und von Ploss und Bartels vermischten sich hier die Klage über unzureichende Datenmengen mit massenhaften Anhäufungen von Zahlen und Vermessungen. Lombroso beklagt gleich zu Beginn seines Werkes, dass er nicht immer der Aufgabe einer „strikten Beschränkung auf die Thatsachen“ gerecht werden konnte. Trotzdem die Ergebnisse von Einzeluntersuchungen immer in einem „Widerspruch zu einander“ standen, übertrug Lombroso die anatomisch-wissenschaftlichen Aussagen in ein System sozialer und politischer Aussagen.243 Ziel seiner Untersuchungen war es, den kriminellen Typus der weiblichen Verbrecherin zu identifizieren. Die weibliche Verbrecherin – so die These von Lombroso – unterscheidet sich signifikant vom männlichen Typus.244 Wie Sabine Ritter schreibt, werden die „qualitativ so unterschiedlichen Ausprägungen

Bondio, Mariacarla: 1998). Für weitere Ausführungen dazu vgl. Strasser, Peter: 2005. 242 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: 2008 [1894], 47. 243 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: 2008 [1894], III. 244 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: 2008 [1894], 449. Lombroso unterscheidet zwischen der geborenen Verbrecherin und der Gelegenheitsverbrecherin; letztere stelle die „Majorität des weiblichen Verbrecherthums“ dar (ebd., 449). An anderer Stelle heißt es, dass „die echte angeborene Verbrechernatur und damit der Verbrechertypus beim Weibe seltener ist; in der weiblichen Kriminalität herrscht die Gelegenheitsverbrecherin vor“ (ebd., 350).

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angeborenen Böseseins […] vor dem Hintergrund des Siegeszuges des Zwei-Geschlechter-Modells nachvollziehbar“245. An den Anzeichen der Degeneration, für deren Festlegung sich Lombroso der anthropologischen Vermessungen bediente, liest er ab, dass die Prostituierte das atavistische weibliche Gegenstück zum männlichen Verbrecher sei. Die zahlreichen Vermessungen des weiblichen Körpers – besonders auch der Geschlechtsteile – sollten das Bild über die Minderwertigkeit der Frau im Allgemeinen und der rassifizierten Anderen im Speziellen abstützen. Wie Lombroso schreibt, würden aber auch hier die statistischen Erhebungen nicht ausreichen, um „eine klare Vorstellung von der weiblichen Form des Verbrechertypus zu geben, vielmehr bedarf es einer synthetischen Darstellung der Einzelheiten.“246 Seine Rekonstruktion ergibt am Ende – nach der Diskussion der zahlreichen anatomischen Bezugspunkte und nach den von schematischen Zeichnungen bis hin zu Fotografien reichenden Darstellungen – letztlich das Bild der geborenen Verbrecherin und der Prostituierten. An dieser Stelle knüpft Lombroso an die medizinhistorischen und anthropologisch-ethnologischen Diskurse über die monströsen Geschlechtsorgane der „Hottentottinen“ an. Die weibliche Verbrecherin stellt sich – so postuliert Lombroso am Ende seiner Studie – in ihrer Naturanlage anders dar als der männliche Verbrecher. Während das männliche Verbrechen einen angeborenen Rückfall in eine atavistische Natur darstelle, sei das weibliche Verbrechen die Prostitution: Die „eigentliche Degeneration des Weibes“ sei nicht die angeborene Neigung zur Kriminalität. Die geborene Verbrecherin sei „eine seltene und monströse“ Ausnahme. Lombroso unterscheidet somit zwischen einer atavistischen Monstrosität, die – unabhängig vom Verhalten – die rassifizierte Frau in einer nicht besserungsfähigen bzw. nicht korrigierbaren, biologisch determinierten Weiblichkeit entwirft, und der pathologisierten, degenerierten Frau in der eigenen Kultur, die eine für Interventionen zugängliche, aber zugleich auch biologisch determinierte Vorstellung des Weiblichen darstellt. Die geborene Verbrecherin in der eigenen Kultur ist also eine doppelte Ausnahme und eine „sporadische Monstrosität“247. Im Jahr 1949 schrieb Simone de Beauvoir über Lombroso: „Niemand glaubt heute mehr an Lombrosos Theorie, die Prostitution und Kriminelle

245 Ritter, Sabine: 2005, 44. 246 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: 2008 [1894], 345. 247 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: 2008 [1894], 590.

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in einen Topf warf und beide für degeneriert hielt.“248 Im 19. Jahrhundert aber haben die medizinisch-anthropologischen Studien mit ihrem organismisch-funktionalistischen Ansatz, der monströse Genitalität und pathologische Geschlechteridentität miteinander verkoppelte, immer weiter die moralische und geistige Verfasstheit des weiblichen Körpers fundiert. Wie Kerstin Palm schreibt, habe die Biologie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine psycho-physiologische Differenz zwischen den Geschlechtern begründet, „in der die bürgerliche Geschlechterordnung gespiegelt war und sich damit zugleich eine naturalistische Legitimation verschaffte“249. Das miteinander verbundene rassenanthropologische, medizinische und biologische Denken des Geschlechtlichen und Sexuellen sorgte mit seinen wissenschaftlichen Formatierungen des Monströsen mithin dafür, dass sich spezifische Strategien der Normalisierung entwickeln konnten. Der monströse Geschlechtskörper diente dabei als Legitimationsfolie, mit der die wesentlichen und unveränderlichen Vorstellungen von Geschlecht, Körper und Identität festgeschrieben werden konnten. Aus den Abweichungen wurden also nicht nur wissenschaftliche Aussagen über den Normalzustand des Körpers abgeleitet, sondern dieses Wissen wurde im 19. Jahrhundert in einen Zusammenhang mit rassenanthropologischen Konzepten und mit der Kategorie des Geschlechts gebracht. So eröffneten sich über die wissenschaftliche Erfassung der extremen Abweichung zahlreiche Denk- und Handlungsräume für wissenschaftliche und kulturelle Repräsentationsstrategien des monströsen weiblichen Geschlechtskörpers. Die Kategorie Geschlecht erhält somit nicht nur eine strukturbildende Funktion für wissenschaftliche Theorien, sondern wissenschaftliche Praktiken spielen zugleich auch eine zentrale Rolle für naturalisierende und biologisierende Vorstellungen über das Geschlecht.250 Im Rahmen dieser Wechselwirkung von Gesellschaft und Wissenschaft waren die humanwissenschaftlichen Praktiken an der Herausbildung allgemeiner Modelle des Geschlechtlichen und der „Rasse“ beteiligt. Im letzten Abschnitt der Studie soll gezeigt werden, dass im wissenschaftlichen Paradigma der Experimentalisierung und Entwicklung diese Einheit von Körper und Monstrosität in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-

248 Beauvoir, Simone de: 1994, 701. 249 Palm, Kerstin: 2005, 188. 250 Schmersahl hat die Funktion und Rolle von Geschlecht für die Theoriebildung in der Medizin untersucht und damit einen bis dahin kaum beachteten Aspekt beleuchtet (vgl. Schmersahl, Katrin: 1998, 12 ff.).

EXPERIMENT

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hunderts allmählich an Bedeutung verlor und dass sich die Materialität und Substanz des Monströsen verflüchtigte. In der Teratologie, um die es im Folgenden gehen wird, ergibt sich nämlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ganz anderes Bild des Monströsen, als es – wie gezeigt – in der Rassenanthropologie und Ethnologie bis weit ins 20. Jahrhundert der Fall war.

4.5 E XPERIMENT UND TERATOLOGIE: VOM E NDE DER M ONSTROSITÄTEN IN DER M EDIZIN 4.5.1 Die experimentelle Forschung und die Monstrositäten: August Rauber und die „excessiven Monstra“ (1877) Wie Zürcher schreibt, habe die Teratologie bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Interesse am Singulären verloren. Monstrositäten wurden nun in Serien und Reihen angeordnet.251

251 Im Folgenden werde ich die Veränderungen der wissenschaftlichen Erfassung von Monstrositäten nur kurz umreißen und stichwortartig darstellen. Urs Zürcher hat die historischen Zusammenhänge von Teratologie und Wissenschaft ausführlich erörtert (vgl. Zürcher, Urs: 2004, 235–263, 283 ff.) Für weitere Ausführungen zu wissenschaftlichen Praktiken der Experimentalisierung vgl. Rheinberger, Hans-Jörg/Hagner, Michael: 1993. Dass eine Geschichte der experimentellen Wissenschaften Einblicke in die epistemologischen Strukturen von Wissen vermittelt, betont Nicolas Pethes und zeigt, dass hier auf besondere Weise nach den Kontexten und Brüchen funktionalistischer Schemata für soziale Implikationen und anthropologische Interpretationen zu fragen ist (vgl. Pethes, Nicolas: 2008, 18–23). Dass experimentelle Praktiken zugleich auch geschlechtlich strukturierte Theoriebildungen nach sich zogen, hat Katja Sabisch sehr anschaulich für den Venerologie-Diskurs des 19. Jahrhunderts gezeigt, der implizit zur Pathologisierung des weiblichen Körpers beitrug, in dieser Festschreibung aber zugleich auch konstitutiv für Praktiken war, mit denen die moralischen Implikationen von Versuchen ausgeblendet werden konnten (vgl. Sabisch, Katja: 2007, 2007b). Zur Experimentalisierung in der Medizin vgl. Canguilhem, Georges: 1974, Bernard, Claude: 1961 [1865].

300 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT „Die Wissenschaft der Missbildungen verlor das Interesse am Singulären und orientierte sich an der Serie. Das Zufällige und Fragmentarische der präparierten Körper hatte im beginnenden 19. Jahrhundert keine Bedeutung mehr.“252

Monstrositäten sind für die Wissenschaften kein statisches Objekt, sondern werden in seriellen Pathologien angeordnet. Die Wissenschaft wendet sich vom starren Objekt der Beobachtung ab und konzentriert sich zunehmend auf Prozesse der Entwicklung. Zugleich ergibt sich hier ein Unterschied zwischen einem wissenschaftlichen Umgang mit Monstrositäten und einer Anthropologie vom ‚Weibe‘. Während sich die Materialität von Monstrositäten in der Teratologie allmählich verflüchtigt und sich eine experimentelle Darstellung ankündigt, werden die monströsen Objekte im Geschlechterdiskurs bis weit ins 20. Jahrhundert weiter materialisiert und in ihrer Offensichtlichkeit beschrieben. Im Jahr 1877 schrieb August Rauber einen Artikel über Die Theorien der excessiven Monstra253. Darin unterteilt er die Morphologie in zwei Bereiche, die sich in ihren Wissensbeständen noch deutlich voneinander unterscheiden. Die Morphologie des Normalen und des Pathologischen werden „ihrem Wesen nach entwicklungsgeschichtlichen Disziplinen“254 zugeordnet. Während die Wissenschaft der normalen Gestaltung „in allen ihren Zweigen erwacht“ sei, liege die pathologische Wissenschaft als „Lehre von den Monstrositäten“ noch immer im Reich der Dunkelheit. Monstrositäten seien noch immer etwas Fremdes und nur zu einem Teil wissenschaftlich fassbar. In aufklärerischen Metaphern wird hier die Teratologie von den anderen wissenschaftlichen Disziplinen getrennt: Dunkelheit versus Licht, Dynamik versus Starrheit, Erkenntnis versus Unwissenheit. Zwar könne mit der Fülle der wissenschaftlichen Literatur seit dem 18. Jahrhundert gezeigt werden, dass Monstrositäten „die

252 Zürcher, Urs: 2004, 137. 253 Rauber, August: 1877. 254 Rauber, August: 1877, 133. Hier wird deutlich, dass Rauber die „Missbildungslehre“ deshalb noch als Teilgebiet der Morphologie auffasst, weil die wissenschaftliche Erfassung der Fehlbildungen auf den Körper und seine Gestalt abzielte. Mit diesem Ansatz war die Missbildungslehre noch eine rein beschreibende Tätigkeit und bezog sich auf Störungen der Form. Erst durch die experimentellen und embryologischen Forschungsansätze kam es zu der wissenschaftlichen Auffassung, dass die Fehlbildung auf einer funktionalen Störung beruht (vgl. Hintzsche, Ernst: 1972).

EXPERIMENT

UND

TERATOLOGIE

| 301

Forschung lebhaft“ beschäftigt haben und dass von ihnen ein besonderer Reiz ausgehe, jedoch habe das noch immer bestehende Wissensdefizit diesen „Gegenstand phantastisch umspielt“255. Rauber betont, dass Monstrositäten in „natürlichen Reihen“ auftreten. Die größte Anziehungskraft gehe von den „Mehrfachbildungen“ aus. Indem Rauber die wissenschaftliche Literatur zusammenfasst, erörtert er die unterschiedlichen Theorien über die Entstehung der Doppelmonstrositäten, die Versuche darstellen, „ihr Wesen zu erklären“256. Um das Wesen der Entstehung zu erklären, seien zunächst die Verfügbarkeit des Materials und die Möglichkeit, den Zeitpunkt der Entstehung zurückzuverfolgen, von großer Bedeutung. Beide Bedingungen konnte die ältere Forschung nicht erfüllen: „Diese Grundlagen sind schwer zu gewinnen. Das thatsächliche Material lässt sich nicht mit derselben Leichtigkeit beschaffen, wie es hinsichtlich des normalen Materials so oft der Fall ist.“257 Dass Möglichkeiten gegeben sind, sich Material zu beschaffen, sei eine „erste Bedingung einer gesicherten Grundlage“258. Den Beobachtern aus früherer Zeit – so betont Rauber – stand nur „ein dürftiges, was frühe Entwicklungsstufen betrifft nahezu gänzlich fehlendes Material“259 zur Verfügung. Zwar haben auch die früheren Forschungen einen ganz erheblichen Beitrag geleistet – denn diese haben sich den „höchsten Fragen“ und zugleich auch den „letzten Gründen“260 zugewendet –, aber die Problematik geht weiter vom Gegenstand aus. Die Theorien werden aus einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive zusammengefasst, sollen aber nun auch um eine experimentelle Ebene erweitert werden. Zum einen werden Monstrositäten als Fehlbildungen der „Formen der embryonalen Entwickelung“ gedeutet. Zum anderen werden an ihnen die Möglichkeiten ihrer experimentellen Herstellung erörtert. Das Material stellt sich nicht mehr als äußerliche Natur dar, sondern wird zum immanenten Faktor der Forschungsinteressen und der gegenständlichen Erzeugung. Einige Jahre später verkündet Rauber: „Die Nebel beginnen sich allmählich in erfreulicher Weise zu zerstreuen, welche noch vor wenigen Jahren über das Gebiet der mit mehrfachen Leibern aus-

255 Rauber, August: 1877, 134. 256 Rauber, August: 1877, 134. 257 Rauber, August: 1877, 134. 258 Rauber, August: 1877, 135. 259 Rauber, August: 1877, 150. 260 Rauber, August: 1877, 150.

302 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT gestatteten Monstra in dichten Massen gelagert waren. Die Methoden der älteren teratologischen Forschung hatten sich erschöpft mit vergeblichen Bestrebungen, Klarheit zu gewinnen. Es schien, als ob unüberwindliche Schwierigkeiten sich entgegenstellten und als ob der Widerstand des Stoffes in demselben Maasse zunehme, als die Erklärungsversuche nachdrücklicher wurden. Fremdartig und grauenerweckend, unverstanden und endlich gemieden lag das Gebiet abseits der embryologischen Forschung.“261

Die Teratologie wird nun mit der embryologischen Forschung verknüpft. Dieser Übergang führt zu einer Neuordnung der epistemischen Räume des Wissens. Die Zufälligkeit der Natur wird von einer Regelmäßigkeit des Experiments abgelöst. Die von Saint-Hilaire und Dareste durchgeführten Versuche an Hühnereiern hatten die Vision der Reproduktion von Monstrositäten erlaubt.262 Rauber spricht sich nun für eine Vielfalt der Forschungsobjekte aus: Das Hühnchen sei nicht mehr das „Alpha und Omega der Entwicklungsgeschichte“, sondern es stehe nun in einer „ungeheuren Reihe gleichberechtigter Objecte“ wie den Vögeln, Knochenfischen und Amphibien. Hier werden mit teratogenen Faktoren wie Licht, Kälte und Hitze gezielt Fehlbildungen erzeugt, die dann häufig zu Doppelbildungen führen. Mit der Herstellung monströser Objekte beginne „allmählich ein besseres Verständnis derselben sich anzubahnen“263. Monstrositäten sind Missbildungen und als „excessive Monstra“ eine Übersteigerung des Anormalen. Das heißt, sie liegen zwar außerhalb des Gewohnten, sind aber letztlich noch innerhalb von Variationsbreiten angesiedelt. Von Versuchen an menschlichen Embryonen ist zu dieser Zeit

261 Rauber, August: 1883, 564. 262 Die Versuche an Hühnereiern von Dareste, die einer künstlichen Erzeugung von Fehlbildungen dienten, können als der Beginn der experimentellen Forschung angesehen werden. Auch Schwalbe betont hier die Rolle von Dareste für die wissenschaftliche Fundierung der Teratologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Forschungsansätze der traditionellen Teratologie stellten zwar bereits Erklärungsmodelle für die Entstehung von Missbildungen dar, sie seien letztlich jedoch nur „kritiklose Sammelwerke“ (Schwalbe, Ernst: 1906, 13). Allerdings sei – wie Schwalbe betont – die vergleichende Anatomie weiterhin von großer Bedeutung für die Teratologie. Für weitere Ausführungen zur experimentellen Teratologie vgl. Zürcher, Urs: 2004, 238–249. 263 Rauber, August: 1883, 564.

EXPERIMENT

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TERATOLOGIE

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noch nicht die Rede, aber in den experimentellen Forschungen scheint sich die Vision des Menschenversuches anzukündigen. Das, was künstlich erzeugt werden kann, ist zugleich auch Objekt der Forschung und wird als wissenschaftlicher Gegenstand entworfen. Rauber betont die Bedeutungen dieses Gegenstandes, denn keine der Monstra seien „von einem so geheimnisvollen Dunkel umgeben“ wie die Mehrfachbildungen. Das epistemische Objekt wird von den methodischen und technischen Möglichkeiten als interessanter Gegenstand hervorgebracht. Der epistemische Raum wird außerhalb des Körpers angeordnet. Diese Verlagerung lässt den Körper als einen Ort unter anderen erscheinen, „in denen das Monströse zum Ausdruck“264 kommen kann, wie Zürcher schreibt. Zugleich wird die Wissensproduktion an Monstrositäten auf eine zeitliche Anordnung hin erweitert. Rauber betont im Anschluss an den Gynäkologen Karl Ernst von Baer, dass man sich bei Untersuchungen der Entwicklungsvorgänge „kein Moment der geschehenden Veränderungen entgehen“265 lassen dürfe. Die Erkenntnisse werden somit nicht nur „abseits des Körpers“266 gewonnen. Die Monstrositäten werden von der Oberfläche in die unsichtbaren Bereiche des Körpers verlagert. Wie Zürcher betont, haben diese Veränderungen zu einer Entmaterialisierung des Monströsen geführt.267 Mit dieser Verlagerung wird nicht mehr nur die Natur zu einem Schauplatz des Monströsen, sondern durch die Experimentalisierung als „eine[r] bestimmte[n] Produktion von Natur“268 kann das Monster auch künstlich hervorgebracht werden. Hier entstehen Monstrositäten, die es als wissenschaftliche Dinge ermöglichen, die Szenarien des Normalen durchzuspielen: eine Monstrosität, die in ihrer anormalen Natur erst durch Kultur entstanden ist. Wenn die Wissenschaften hier „alternative Systeme und Räume der Repräsentation hervorbringen“269, werden sie damit auch die Konvergenz zwischen Körper, Oberfläche und Monstrosität aufkündigen. In der gleichzeitigen „Ausweitung und Unsichtbarmachung des Monströsen“270 offenbart sich das schwierig gewordene Verhältnis zwischen dem Mons-

264 Zürcher, Urs: 2004, 257. 265 Rauber, August: 1883, 564. 266 Zürcher, Urs: 2004, 257. 267 Vgl. Zürcher, Urs: 2004, 235. 268 Haraway, Donna: 1995, 14. 269 Rheinberger, Hans-Jörg: 2006, 139. 270 Zürcher, Urs: 2004, 236.

304 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

trösen und dem Körper. In diesem besonderen Verhältnis wird das Monströse in seiner Verbindung zum Geschlecht sowohl im Verborgenen als auch im Zerstreuten angeordnet. Wie Nicolas Pethes schreibt, habe der Versuch am lebenden Menschen seinen Einzug in die Wissenschaft über diejenigen erhalten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die wissenschaftliche „Bühne“ gestellt worden, um an ihnen Erkenntnisse zu gewinnen: „Bevor das Experiment zur Routine wird, untersuchen die Ärzte Freaks.“271 Während also hier die Offensichtlichkeit des Monströsen für die Legitimation wissenschaftlicher Praktiken sorgte, werden diese Offensichtlichkeiten in die unsichtbaren Bereiche des Körpers verlagert und erst über den wissenschaftlichen Zugriff mittels experimenteller Herstellungsweisen zu konstruierten Sichtbarkeiten. Das Experiment wird zum methodischen Prüfstein für die Erkenntnisse des Normalen, indem es nun selbst die Produktionsweisen des Monströsen nachahmt. Die experimentellen Anordnungen des Monströsen schreiben sich von nun an in die Wissenschaften des Lebens ein. Für die Erforschung der Entstehung von Fehlbildungen werden nun die experimentellen Ergebnisse herangezogen. Wie Schwalbe schreibt, unterscheide die Teratologie die „fertigen Missbildungen“272 von den inneren Ursachen. Da sie zum Ergebnis geworden sind, verliert die Medizin ihr Interesse an Monstrositäten. Als Resultat festgelegt, setzt der medizinische Blick nun vorzeitig ein: Am embryologischen Gegenstand werden die Prozesse ausfindig gemacht, die im Körper ablaufen, bevor er seine endgültige Gestalt bekommt. Während es zuvor die Natur war, die die Monstrositäten hervorgebracht hatte, übernimmt nun die Medizin diese Rolle; sie produziert mit den wissenschaftlichen Praktiken des Versuches und des Experimentes unablässig monströse Dinge.

4.5.2 Von der Teratologie zur Teratogenese: Ernst Schwalbes Allgemeine Missbildungslehre (1906) Einen letzten Versuch der Formulierung einer ‚Allgemeinen Missbildungslehre‘ stellte das im Jahr 1906 von Ernst Schwalbe veröffentliche

271 Pethes, Nicolas: 2007, 177. 272 Schwalbe, Ernst: 1906, 26.

EXPERIMENT

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TERATOLOGIE

| 305

Buch Eine Einführung in das Studium der abnormen Entwicklung273 dar. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Monstrositäten sollte hier noch einmal auf „entwicklungsgeschichtlicher und experimenteller Basis“274 weitergeführt werden. In der Medizin ging es um Ursachenforschung, um die Therapie und die Heilung. Missbildungen waren demnach ein nicht hinzunehmendes Ergebnis einer Entwicklung, die die Grenzen des medizinischen Wissens sichtbar macht. Gleichzeitig müssen sich an ihnen auch die Möglichkeiten medizinischer Interventionen messen lassen. Missbildungen werden bei Schwalbe nun zu einer Störung im embryonalen Entwicklungsstadium.275 Was waren also Missbildungen im Gegensatz zu den Monstrositäten im medizinischen Wissen ? Schwalbe schreibt, dass eine Unterscheidung zwischen Monstrosität und Missbildung nicht möglich sei. Ein Unterschied zwischen dem Monströsen und der Missbildung nach dem Grad der Abweichung sei „nicht feststellbar“. Im Bemühen um eine wissenschaftliche Festlegung der Grenzen zwischen dem Normalen und dem Anormalen dient allerdings die Missbildung zur Bestimmung dessen, „was wir als normal bezeichnen“276. Was macht am Ende des 19. Jahrhunderts die Fehlbildung zur Monstrosität ? Schwalbe formuliert eine Definition der Missbildung: Das Normale sei die innerhalb der Konstanz einer Art noch hinzunehmende Variabilität, während die Missbildungen „außerhalb der ‚Variationsbreite‘ liegen“277 müssten. Eine Abgrenzung der beiden Terme kann nur auf der Basis der Kenntnis der Variationsbreite entwickelt werden; diese ist jedoch

273 Schwalbe, Ernst: 1906. Zürcher betont, dass das Wissen von den Missbildungen sich am Ende des 19. Jahrhunderts erschöpft habe, und bezeichnet Schwalbes Buch als einen „letzten Versuch das teratologische Wissen im Stil des 19. Jahrhunderts zu sammeln und darzustellen“ (Zürcher, Urs: 2004, 280). 274 Schwalbe, Ernst: 1906, 13. 275 Schwalbe bezieht sich hier auf Harvey, der als Entdecker des Blutkreislaufes und als früher Begründer der Embryologie bereits 1651 Missbildungen auf Störungen der normalen Entwicklung zurückgeführt hatte. Schwalbe schreibt dazu, dass Harvey mit seiner Erkenntnis dem wissenschaftlichen Stand um fast zwei Jahrhunderte vorausgeeilt sei, denn zu dieser Zeit hatte die Ansicht des Versehens der Schwangeren durchaus noch einen wissenschaftlichen Erklärungsgehalt (vgl. Schwalbe, Ernst: 1906, 10). 276 Schwalbe, Ernst: 1906, 3. 277 Schwalbe, Ernst: 1906, 2.

306 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

wissenschaftlich kaum fassbar. Weder im Begriff der Funktionsstörung noch im Moment der Lebensführung lassen sich die Definitionen von Missbildungen festmachen. Dennoch braucht die Teratologie als Wissenschaft der Missbildungen einen spezifischen Gegenstandsbereich. Daher postuliert Schwalbe letztlich: „Eine Missbildung muss angeboren sein.“278 Embryonales Leben und Missbildungen werden in einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang gebracht. Nicht mehr die rein „anatomische Beschreibung einer Missgeburt“279 ist von Interesse, sondern die Erkenntnisse zielen auf die Entstehungsweisen. Das Material kann durch Interventionen verfügbar gemacht werden, denn man „kann versuchen durch irgendwelche Eingriffe an einem sich entwickelnden Embryo eine Missbildung zu erzeugen“280. Mit dem Paradigma der embryonalen Entwicklung sind Missbildungen das Resultat eines vorgeburtlichen Lebens. An der Grenze zwischen vorgeburtlicher Entwicklung und der Lebensfähigkeit oder -unfähigkeit werden auch die Grenzen zwischen dem Tod und dem Leben neu bestimmt. Den Ausgangspunkt für die physiologischen Vorgänge bilden die Erkenntnisse am Pathologischen und am Normalen. Schwalbe betont, dass durch die Missbildungen die „physiologischen Tatsachen in besonders anschaulicher Weise dargetan“281 werden. Schwalbe führt hier verschiedene Studien an, in denen Ergebnisse experimenteller Untersuchungen an Embryos vorgestellt werden. An einem neugeborenen Kind mit hochgradigen zerebralen Missbildungen wurden während seiner dreitägigen Lebensdauer anatomische Untersuchungen durchgeführt sowie die Reaktionen des Körpers auf mechanische und elektrische Reizversuche am Gehirn gemessen.282 Diese Versuche haben gezeigt, dass die Missbildungen für den Physiologen von hochgradigem Erkenntnisinter-

278 Schwalbe, Ernst: 1906, 1. 279 Schwalbe, Ernst: 1906, 25. 280 Schwalbe, Ernst: 1906, 25. Schwalbe stand der experimentellen Forschung keineswegs euphorisch gegenüber. Seine Haltung begründet sich aber nicht aus moralischen Bedenken, sondern es ging bei ihm um die noch fehlende Forschungsmethodik, denn „[l]eider ist nur für eine ganz geringe Anzahl von Missbildungen die experimentelle Erzeugung möglich, für die meisten steht eine solche Untersuchung noch aus“ (ebd., 25). Zur Geschichte der Menschenversuche vgl. Pethes, Nicolas u. a.: 2008. 281 Schwalbe, Ernst: 1906, 123. 282 Vgl. Schwalbe, Ernst: 1906, 128.

EXPERIMENT

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TERATOLOGIE

| 307

esse sind und „wir auf die normalen Funktionen häufig Rückschlüsse machen können“283. Die Erkenntnisse an Fehlbildungen werden somit in erweiterten Interventionsräumen gewonnen, denn sowohl das intrauterine als auch das extrauterine Leben werden nun in ein erkenntnistheoretisches Verhältnis gesetzt. Das heißt, nicht mehr der Blick, sondern das Experiment konstituiert das Normale, und zwar im Bezugsrahmen des Lebens und des Todes, wobei hier die experimentelle Teratologie und die Embryologie eine neue wissenschaftliche Fundierung der Missbildungslehre darstellen. Nicht mehr die Gestalt des außerordentlichen Körpers wird systematisiert, sondern dieser spielt nur noch insofern eine Rolle, als sich damit ein besonderer Modus seiner Repräsentation beanspruchen lässt. Die Monstrosität als körperliches Phänomen ist damit nur ein mögliches Modell für die Erfassung des Normalen. Und so konstatiert Schwalbe: „Diese Frage lässt mit der vorher aufgeworfenen nach der Physiologie der Missbildungen im fötalen und extrauterinen Leben die engsten Beziehungen erkennen.“284 Es ist zugleich auch ein Verhältnis, mit dem die medizinischen Interventionen erweitert werden und an ganz anderen zeitlichen Bezugspunkten ansetzen können. Die Missbildung ist bei Schwalbe als angeborene Fehlbildung Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Um also als solche erscheinen und betrachtet werden zu können, muss sie bereits als Resultat einer ins Leben gerufenen Missbildung existieren. Damit sie aber als wissenschaftlicher Gegenstand einen Wert bekommt, muss im Prozess der Entwicklung und Entstehung der Zeitpunkt vor der Geburt bestimmt und auf ganz andere Weise sichtbar gemacht werden. Nicht mehr das Monströse zeigt auf anschauliche Weise die Experimente der Natur, sondern das Experiment reproduziert in der Monstrosität auf anschauliche Weise die anormalen Verhältnisse für die Wissensproduktion des Normalen. Am Ende des 19. Jahrhunderts verliert die Teratologie als Lehre von den Missbildungen an Bedeutung. Mit dem wissenschaftlichen Paradigma der Festschreibung von Körper und Fehlbildung konnte die Teratologie angesichts des sich nun verändernden, auf Dynamik und Zeitlichkeit beruhenden wissenschaftlichen Zugriffs auf den Körper keine neuen Bedeutungsfelder entwickeln. Wie Zürcher dargestellt hat, nahmen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die wissenschaftlichen Publikationen auf dem Gebiet der Teratologie vor allem deswegen dramatisch ab, weil die

283 Schwalbe, Ernst: 1906, 124. 284 Schwalbe, Ernst: 1906, 125.

308 | DAS MONSTRÖSE GESCHLECHT

experimentellen Wissenschaften einen größeren Erkenntniswert bereitstellten als die Teratologie mit ihren Besprechungen von Fehlbildungen. „Missgebildete Natur braucht nicht mehr in dieser Weise angesammelt zu werden, damit über ihre inneren, bis zur Zeugung zurückreichenden Entwicklungen Aussagen gemacht werden können, weil das Experiment mit seinen flüchtigen materiellen Effekten in vielerlei Hinsicht epistemisch vielversprechender ist. Während die experimentellen Wissenschaften, allen voran die Physiologie, den lebendigen Organismus in statu nascendi beobachten und manipulieren, verharrt die Teratologie auf ihrem statischen und toten Körper.“285

Mit ihrem Paradigma der wissenschaftlichen Klassifikation des Körpers konnte die Teratologie keinen Anschluss an die Wissenschaften vom Leben finden. Monstrositäten waren keine Fehlbildungen, sondern Anomalien. Als körperliche Phänomene waren Monstrositäten damit Ende des 19. Jahrhunderts – wie Hagner schreibt – „in bestimmter Hinsicht wissenschaftlich zur Ruhe gekommen“286. Dies galt aber nicht für den Geschlechterdiskurs. Während sich die Teratologie als Teilgebiet der Morphologie noch auf den statischen Körper und auf die Abweichungen der Gestalt bezog, strukturierte gerade der organismisch-funktionalistische Ansatz die Theoriebildungen auf der Grundlage einer biologischen Geschlechterdualität, mit der die Hierarchie der Geschlechter naturalisiert und bis ins Innere der Gesellschaft verteidigt werden konnte.

285 Zürcher, Urs: 2004, 262. 286 Hagner, Michael: 2005b, 107.

5

Schlussbetrachtung

5.1 FREAKS , M ONSTER UND DER G ESCHLECHTERDISKURS IM 19. JAHRHUNDERT Ausgangspunkt der Studie war die Frage, inwiefern Freaks und Monstrositäten zusammen zu denken bzw. zu unterscheiden sind. In den wissenschaftshistorischen Analysen konnte gezeigt werden, dass Monstrositäten als Objekte der Wissenschaften zur Erfassung und Konstruktion des Normalen dienen. Weiter wurden sie am Körper identifiziert und konnten als Einzelteile betrachtet werden. Es geht hierbei aber nicht nur um den wissenschaftlichen Zugriff auf das Normale und die Monstrositäten, sondern Monstrositäten wurden Bestandteil der gesellschaftlichen Normalisierung. Im Diskurs der Normalisierung haben sie nicht nur die wissenschaftlichen Aussagen und Erkenntnisse zur Erfassung der normalen Funktionen des Organismus abgesichert, sondern sie sind auch an den Weisen der Herstellung eines allgemeinen Gesellschaftskörpers beteiligt gewesen. Mit Foucault wurde verdeutlicht, wie der individuelle Körper und der allgemeine Gesellschaftskörper für die biopolitische Machtausübung zusammengebracht wurden. Bemerkenswert ist hierbei einerseits eine Vervielfältigung der Monstrositäten – indem man nach vielfältigen Abweichungen am individuellen Körper suchte, wurde stetig neues Wissen produziert. Andererseits erfolgte darüber eine Hierarchisierung dieser vielfältigen Abweichungen – indem zwischen tolerierbaren und tolerablen Abweichungen unterschieden wurde, konnten diese Grenzen bestimmt werden. Gleichzeitig wurde darüber auch festgelegt, wo Interventionen am Körper legitim waren und wie sie normiert wurden. Diese Ergebnisse der wissenschaftshistorischen Analysen konnten mit einer Untersuchung des Geschlechterdiskurses im 19. Jahrhundert verbunden werden. Hier wurden Quellen vom Ende des 18. Jahrhunderts

310 | SCHLUSSBETRACHTUNG

(wie die Arbeiten von François LeVaillant) bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts (die zahlreichen in der Studie angeführten medizinischanthropologischen und ethnologischen Studien) ausgewertet. An diesen Quellen wurde gezeigt, dass der Geschlechterdiskurs und die vielfältigen Wissensanreize des Monströsen in einem engen Zusammenhang stehen und dass die Begriffsbildungen von Monstrositäten mit der Genitalisierung der Geschlechterdifferenz parallel verlaufen. Damit war dasjenige, was unter das Monströse fällt, genitalisiert. Am Beispiel von Sara Baartman wurde sichtbar, wie Monstrosität und „Rasse“ sowie der wissenschaftliche Diskurs über weibliche Genitalien zusammengebracht wurden. Zur Erfassung des Normalen hatte man im 19. Jahrhundert die vielfältigen Abweichungen und Variabilitäten wissenschaftlich beschrieben. Dieser Prozess führte zu einer Verunsicherung der auf biologischen Erkenntnissen basierenden Theorie der Geschlechterdifferenz. Jetzt sezierte man Leichen aus Afrika, um hier die gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht am Einzelding zu stabilisieren. An Ploss und Bartels wurde deutlich, wie dieser Diskurs bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirksam war. Damit wurden die anatomisch-individuellen und uneindeutigen Merkmale bis in den politischen Raum hinein verlängert. Hier setzt eine rassenspezifische Einteilung am Monströsen ein. Die angeborenen Rassenmerkmale waren für diese Autoren nun dasjenige, was die Toleranzgrenzen von Geschlecht überschritt. Das gleiche Merkmal, das in der eigenen Gesellschaft als „irrer Geschlechtstrieb“ erscheint, ist in der anderen Kultur Zeichen einer minderwertigen „Rasse“. Diese nun atavistischen und geschlechtlich-genitalisierten Monstrositäten wurden in politischen Aussagen über Degeneration, Prostitution und Geschlechterrollenverteilung wieder aufgegriffen. Letztendlich dienten die Bezugnahmen auf Monstrositäten der Herstellung eines einheitlich-allgemeinen, aber immer minderwertigen weiblichen Geschlechtskörpers. Zwischen den Konstruktionen des pathologisierten Weiblichen und der rassenspezifischen Monstrosität wurde der weibliche Körper mit Aussagen über Reproduktion und spezifisch weibliche Funktionen wieder stabilisiert. In den Freakshows des 19. und 20. Jahrhunderts wurden die verbotenen Bereiche der gesellschaftlichen Normalität am Körper inszeniert. In den Repräsentationsstrategien wurden diese Körper ganz auf ihre Natur zurückgeworfen und somit den Geltungsbereichen kultureller Vorstellungen von Normalität unter Rückgriff auf biologische Argumentationsweisen wieder entzogen. Der nun auf seine unkorrigierbare Natur festgelegte andere Körper diente der Stabilisierung der auf wissenschaftlichen Praktiken beruhenden instabilen Grenzen zwischen Normalem

DIE G EBURTSSTUNDE

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M ONSTER

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| 311

und Pathologischem. Während die Wissenschaften den Körper zerlegten, fragmentierten und die Grenzen von männlich und weiblich, Kultur und Natur, Korrigierbarem und Unkorrigierbarem destabilisierten und dematerialisierten, wurden in den populären Inszenierungen die Freaks als die Verkörperung des Anderen öffentlich sichtbar gemacht. Beide Praktiken fanden im Inneren einer bürgerlichen Kultur statt. In Käfigen und hinter den Zirkuszelten wurden die Freaks von der Unterhaltungsindustrie präsentiert, um sie hier als eingeschlossene Objekte wieder ausschließen zu können. In einer Zeit, in der die Verwissenschaftlichung des Körpers zu einer Entleerung seiner Substanz und Materialität führte, konnte mittels des kulturellen Blicks auf Freaks das, was wissenschaftlich, kulturell und sozial brüchig wurde, am Körper in seiner biologischen Unhintergehbarkeit wieder festgemacht werden.

5.2 AUSBLICK: D IE G EBURTSSTUNDE M ONSTER IM 20. JAHRHUNDERT

NEUER

In ihren Studien über „das Weib“ haben Ploss und Bartels die Legitimität politischer Fragen nach der Geschlechterrollenverteilung mit spezifischen Naturanlagen des weiblichen Körpers verteidigt.1 Stellen wir uns vor, es würde der Reproduktionsmedizin in absehbarer Zeit gelingen, die spezifischen Funktionen des weiblichen Körpers auf den männlichen Körper zu übertragen, sodass Männer nun u. a. in der Lage wären zu stillen. In ihrem Roman Woman in the Edge of the World entwarf Margy Piercy im Jahr 1976 ein solches Szenarium. Nina Lykke greift diese Erzählung wieder auf und diskutiert im Kontext der Feminist Science Studies die Möglichkeiten feministischer Utopien in Anbetracht der technischen Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie fragt, ob die Popularität des Romans von Margy Piercy vielleicht darauf beruhe, dass hier eine „non-sexist, non-racist, and non-classist high-tech utopia“2 entworfen wurde. In einem Dialog mit der Technik begann die feministische Theorie spätestens seit Donna Haraways Manifest für Cyborgs, nach den Möglichkeiten, Gefahren und Chancen wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Vorstellungen von Geschlecht und Körper zu fragen. Die zunehmende Partialisierung und Partikularisierung

1

Ploss, Heinrich/Bartels, Max: 1927, 134.

2

Lykke, Nina: 1996, 2.

312 | SCHLUSSBETRACHTUNG

des Körpers stand damit im Fokus vielfältiger feministischer und wissenschaftshistorischer Debatten. Lykke fasst diese Debatten zusammen und unterteilt das sich in ihnen manifestierende Denken in „science/ technology-as-liberating-potential arguments“ und „science/technologyas-threat arguments“. Die biotechnologischen Interventionen tragen zur Ummodellierung des natürlichen Körpers bei, indem hier die scheinbar natürlichen Grenzen von Natur und Kultur verschoben oder vielleicht sogar aufgekündigt werden. Somit verlagert der technologische Zugriff die Bedeutungen und Codierungen des physischen Körpers immer mehr von einer natürlichen in eine kulturell-technische Ordnung. Im Umfeld dieser Debatten wurden im 20. Jahrhundert neue Monster geboren. Indem die Natur nun als technisch vermittelt konzipiert wird, wird das Monster zu einer paradigmatischen Figur für instabile Identitäten; es ist damit keine Bedrohung mehr, sondern wird als Lösungsversprechen neu formatiert.3 Das Monster wird nicht mehr auf seine Natur zurückgeworfen, sondern erscheint nun als Cyborg. Ein Cyborg – der Begriff verbindet Kybernetik mit Organismus – impliziert nach Haraway ein monströses Versprechen. Sie plädiert dafür, Cyborgs als etwas anzusehen, das einen Bezug zu gesellschaftlichen und gelebten Erfahrungen herstellt. Cyborgs seien als imaginäre Ressourcen für Reformulierungen neuer Subjektverhältnisse zu betrachten. Feministinnen sollten Haraway zufolge die Herausforderungen neuer Technologien annehmen und hier nach neuen Möglichkeiten für eine feministische Politik suchen.4 Das Monströse des Cyborgs bestehe in der Partialität, dem Uneindeutigen sowie der Widersprüchlichkeit. Zugleich lassen sich hier neue Einheiten denken, die den biologischen Diskurs über den Körper, der die naturwissenschaftliche Legitimation für bürgerliche Geschlechterordnungen war, allmählich ablösen. Damit entwickelt sich ein Denken, dass den organischen Körper in technisch-biologischen Begriffen neu konfiguriert bzw. definiert. Mit dem Monster richten feministische Ansätze also ihren Fokus nun auf

3

Volkart kritisiert die These eines subversiven Potenzials des Monsters und betont mit Rekurs auf Haraway, dass die Produktivitäten des Monströsen eng verbunden sind mit dem globalen Kapitalismus, der durch eine „umfassende[.] visuelle[.] und kulturelle[.] Kontrolle […] noch das Deviante einverleibt“ (Volkart, Yvonne: 2006, 74).

4

Die Cyborgpolitik ist demnach ein theoretischer und praktischer Kampf, mit dem die Ansprüche aufgehoben werden, die sich auf einen organischen oder natürlichen Standpunkt beziehen (vgl. Haraway, Donna: 2008, 248 f.).

D IE GEBURTSSTUNDE

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| 313

die Frage nach einer fundamentalen Transformation der Homogenisierung, Fragmentierung und Rekombination des Biologischen. Monster stehen für Instabilität, Heterogenität und Chaos. Monster unterlaufen die machtvollen Konstruktionen des Normalen. Unter der Annahme, dass die Ausübung von Macht in modernen Gesellschaften an das Biologische gekoppelt ist, wurden – spätestens seit Michel Foucaults Konzept der Biomacht – wissenschaftliche Praktiken für eine Analyse der Funktionsweisen von Machttechniken in den Mittelpunkt zahlreicher kritischer Ansätze gerückt. Die Biomacht schließt sowohl die Disziplinierung des Individualkörpers als auch die Regulierung des Bevölkerungskörpers ein. Diese beiden Bereiche werden im politischen Diskurs in einer umfassenden Weise für die Herausbildung und Legitimation sozialer, politischer und wissenschaftlicher Organisations- und Ordnungsstrukturen miteinander verbunden. Das Individuelle und der allgemeine Bevölkerungskörper sind zwei Seiten einer Medaille, zwei Seiten einer Macht. Die biologischen Zufallsereignisse wurden seit dem 19. Jahrhundert zu einer inneren Gefahrenzone der Gesellschaft und bedurften einer stetigen Reinigung. Sie sind somit eine grundlegende Dimension der gesellschaftlichen Regulierung von Normalität. Diese Biologisierung des Politischen und Politisierung des Biologischen wurde für das 19. Jahrhundert mit der Figur des Monsters untersucht, die als Gegenstand, der machtvolle Zäsuren ermöglicht, auf diesem Diskurs des Biologischen beruht. Die Produktion des normalen Körpers hat immer wieder ein Wissen über den Körper generiert und angereizt. Wie Thomas Lemke im Anschluss an Foucaults Konzept der Biomacht betont, beruht dieses auf der Idee eines einheitlich-integralen, in sich geschlossenen und abgrenzbaren Körpers. Wenn die Annahme eines relativ stabilen Körpers „angesichts neuer politischer Technologien zu modifizieren“ sei, dann wären hier auch die Grenzen des foucaultschen Konzepts der Biomacht erreicht. Lemke schreibt: „Die aktuellen Technologien der Macht intensivieren und verfeinern den Zugriff auf den Körper, indem sie das Körperinnere als neuen Interventionsraum unterhalb der klassischen biopolitischen Pole Individuum und Bevölkerung erschließen.“5

5

Lemke, Thomas: 2008, 115.

314 | SCHLUSSBETRACHTUNG

Die nun bis ins Innerste des Körpers durchgreifenden machtvollen wissenschaftlichen Praktiken bringen ein neues Material zutage, auf das auch die politischen Machttechnologien auf ganz andere Weise zugreifen. An diesem Material – isolierte, abgelöste Dinge – eröffnen sich neue Bedeutungsfelder und Interventionsräume des Politischen. Diese Körperteile werden – wie Lemke betont – zum „Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung, ökonomischer Profitstrategien und politischer Regulierung“6, aber wohl auch zu Gegenständen, an denen die Fragen nach Technik und Biologie in ihrer Verbindung zu Geschlecht, Leben und Gesellschaft auf ganz neue Weise gestellt werden müssten. Wie Haraway bemerkt, habe diese technische Einheit des Körpers seit den 1950er Jahren den biologischen Diskurs über den Körper infrage gestellt.7 Während die einheitlich-organismischen Vorstellungen über den Körper immer auch mit rassistisch-sexistischen Vorstellungen verkoppelt waren, sei eine technische Einheit des Körpers „weniger anfällig für Rassismus und Sexismus.“8 Balsamo greift an dieser Stelle die Argumentation der poststrukturalistischen feministischen Theorie auf und unterstreicht, dass es notwendig sei, den Körper nicht als Substanz oder natürliche Materialität, sondern als Resultat eines Abgrenzungsprozesses zu begreifen.9 Butler hat gezeigt, dass das biologische Geschlecht nicht als passive Oberfläche vorausgesetzt werden darf, sondern die Materialität von Geschlecht als eine Wirkung von Macht neu zu denken ist.10 Der Körper ist – wie sie an anderer Stelle betont – unzusammenhängend und unterteilt; dieses „unterteilte Körperfeld ist daher die Voraussetzung für jeden Bezug zu einem seiner Teile“11. Der Körper ist – und er war dies schon immer – in seinen Teilen die Voraussetzung für machtvolle Interventionen, daher muss er immer als Ergebnis von Materialisierungsstrategien gedacht werden. Ob die neuen Monster des 21. Jahrhunderts

6

Lemke, Thomas: 2008, 115.

7

Vgl. Haraway, Donna: 1995b, 175. Haraway schreibt: „Ideologien der sexuellen Reproduktion können sich nicht mehr umstandslos auf die Begriffe eines unproblematischen Sex oder geschlechtlichen Rollenverhaltens als organische Aspekte ‚gesunder‘ natürlicher Objekte wie Organismus und Familien berufen. Ähnliches trifft auf das Konzept der Rasse zu“ (ebd., 175).

8

Galison, Peter: 2001, 468.

9

Vgl. Balsamo, Anne: 2007, 280.

10

Vgl. Butler, Judith: 1997, 22.

11

Butler, Judith: 2009, 52.

D IE GEBURTSSTUNDE

NEUER

M ONSTER

IM

20. J AHRHUNDERT

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tatsächlich als Versprechen gelten können und Möglichkeiten neuer Einheiten darstellen, wäre dann wohl nicht mehr die Frage. Letztlich ist nur in Rekurs auf eine historische Analyse zu klären, welche Veränderungen und Transformationen sich in der gegenwärtigen Entwicklung und technologischen Neuausrichtung unserer Gesellschaft für Vorstellungen über den Menschen und über das Leben abzeichnen. Diese zu unternehmen, ist wohl die Herausforderung für kulturwissenschaftliche Analysen der Lebenswissenschaften im 21. Jahrhundert. Und sie sind auch eine Herausforderung für die feministische Theorie. Ob mit einer paradigmatischen Figur des Monsters als Zeichen von Vielfalt, Uneindeutigkeit und Instabilität den lebenswissenschaftlichen Ausrichtungen unserer Gesellschaft etwas entgegenzustellen ist, bleibt fraglich; denn schließlich konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass Monstrositäten nicht die verworfenen Zonen eines gesellschaftlichen Diskurses des Normalen und Pathologischen darstellen, sondern ihnen eine konstitutive Funktion für die Aufrechterhaltung dieses Diskurses zukommt. Letztlich ist es der Mensch selbst, der in diesem System des Denkens als Störung entworfen wird und nicht irgendwelche Monster, die zufällig ein paar Teile zu viel oder zu wenig haben. Auch wenn mit einer Geschichte der „modernen Monstrositäten“ ein Diskurs über den Körper und das Geschlecht im 19. Jahrhundert in den Blick genommen wurde, während eine Geschichte „postmoderner Monster“ wohl auf die Kybernetik, die Biotechnologien und die Lebenswissenschaften fokussieren müsste, so spiegeln sich hier immer gesellschaftliche Vorstellungen des Humanen wider, in denen auf je unterschiedliche Weise auch der geschlechtliche Mensch entworfen wird. In ihren historischen Zusammenhängen und Brüchen sind diese Geschichten noch nicht zusammengebracht worden.

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A BBILDUNGEN

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6.2 Abbildungen Abb. 1 aus Scheugl, Hans (1978): Show-Freaks und Monster: Sammlung Felix Adanos. Köln: Dumont, S. 112. Abb. 2 aus Virchow, Rudolf (1873): Über die sogenannte „Zweiköpfige Nachtigall“. In: Berliner klinische Wochenschrift. Organ für practische Aertze, Heft 16, S. 98. Abb. 3 aus Fiedler, Leslie (1978): Freaks. Myths and Images of the Secret Self. New York: Touchstone, S. 204. Abb. 4 aus Le Vaillant, François (1790): Le Vaillant’s erste Reise in das Innere von Afrika, während der Jahre 1780–1782. Mit Anmerkungen von Johann Reinhold Förster. Berlin: Voß und Sohn, S. 389, Bildtafel VII. Abb. 5 aus Gould, Stephen Jay (1995): Das Lächeln des Flamingos. Betrachtungen zur Naturgeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 240.

Science Studies Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hg.) Arzneimittel des 20. Jahrhunderts Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1125-0

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie März 2011, ca. 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

Florian Hoof, Eva-Maria Jung, Ulrich Salaschek (Hg.) Jenseits des Labors Transformationen von Wissen zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext Juli 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1603-3

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Science Studies Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.) Frosch und Frankenstein Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft 2009, 462 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-892-6

Christian Kehrt, Peter Schüssler, Marc-Denis Weitze (Hg.) Neue Technologien in der Gesellschaft Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen März 2011, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1573-9

Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz, Peter Gendolla (Hg.) Akteur-Medien-Theorie Juni 2011, ca. 800 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8

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Science Studies Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Hessler, Jochen Hennig Datenbilder Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften 2009, 224 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1041-3

Viola Balz Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950-1980 2010, 580 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1452-7

Christopher Coenen, Stefan Gammel, Reinhard Heil, Andreas Woyke (Hg.) Die Debatte über »Human Enhancement« Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen 2010, 334 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1290-5

Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften 2009, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1184-7

Johannes Feichtinger Wissenschaft als reflexives Projekt Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938 2010, 636 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1523-4

Enrique Fernández Darraz, Gero Lenhardt, Robert D. Reisz, Manfred Stock Hochschulprivatisierung und akademische Freiheit Jenseits von Markt und Staat: Hochschulen in der Weltgesellschaft 2010, 200 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1612-5

Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers 2010, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2

Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen 2009, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1

Thomas Kailer Vermessung des Verbrechers Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945 2010, 440 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1614-9

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