Modernität und Bürgerlichkeit: Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau [1 ed.] 9783428493159, 9783428093151

Mit »Modernität und Bürgerlichkeit« legt Martin Hecht eine für die internationale Max-Weber-Forschung ungewöhnliche Schr

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Modernität und Bürgerlichkeit: Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau [1 ed.]
 9783428493159, 9783428093151

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MARTIN HECHT

Modernität und Bürgerlichkeit

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 103

Modernität und Bürgerlichkeit Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau

Von Martin Hecht

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Hecht, Martin: Modernität und Bürgerlichkeit : Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau I von Martin Hecht. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. 103) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-428-09315-1

Alle Rechte vorbehalten 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

©

ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09315-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 0

Vorwort Meine Beschäftigung mit Max Weber und seiner Wissenschaft geht auf ein Hauptseminar "Max Weber. Wissenschaft als Beruf' zurück, das mein Doktorvater, Prof. Dr. Wilhelm Hennis, im Wintersemester 1989/90 am politikwissenschaftlichen Institut der Universität Freiburg abgehalten hat. Über die Jahre hinweg ist meine Faszination fllr diesen großen Denker der europäischen Geistesgeschichte ungebrochen geblieben und nun eingemündet in diese Dissertation. Am Ende der Arbeit steht das Gefiihl des Vorläufigen, die angenehme Aufgabe aber auch, denen zu danken, die die Abhandlung begleitet und gefördert haben. An erster Stelle gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Wilhelm Hennis, der die Arbeit betreut hat. Seine wohlwollende und stets kritische Unterstützung war mir vor allem beim Entwurf, aber auch während der Abfassung eine wertvolle Hilfe. Herrn Prof. Dr. Ernst Schulin bin ich dafür verbunden, daß er das Korreferat übernommen hat. Herrn Dr. Max Weber-Schäfer, Konstanz, danke ich dafür, daß er mir Einsicht in das Max-Weber-Nachlaßdeponat der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek München gewährt hat. Er ermöglichte mir dadurch die Archivarbeit an noch unveröffentlichem Material, das an einigen Stellen Eingang in die Arbeit gefunden hat. Frau Birgit Rudhard und Herrn Dr. Manfred Schön bin ich dafür verbunden, daß Sie die von mir entdeckten Webersehen Marginalien in den einleitend erwähnten Tocqueville-Bänden kompetent gegengeprüft und sie damit als aus der Feder Max Webers stammend abzusichern geholfen haben. Dr. Christoph Braun sei für Hinweise und Anregungen zum Thema gedankt. Ebenfalls danken möchte ich der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, die mich am I. September 1995 als Promotionsstipendiat aufgenommen und damit das Zustandekommen dieser Dissertation ganz wesentlich ermöglicht hat. Die vorliegende Dissertation lag im Wintersemester 1996/97 dem Gemeinsamen Ausschuß der Philosophischen Fakultäten der Albert-LudwigsUniversität Freiburg im Breisgau vor. Das Rigorosum fand im Juni 1997 statt. Freiburg, im Januar 1998

Martin Hecht

Inhaltsverzeichnis Einleitung ......... ............... ...... .. .. .. .... .......................................................... ..........

II

A. Krise von Kultur und Politik .......... .................. ................................... ........

17

I.

Die moderne Zeit - "eine bittere Satire·'.....................................................

17

II. Die "Kulturbedeutung" von Kapitalismus und Bürokratismus (Weber), der Demokratie (Tocqueville) und des Rationalismus (Rousseau).............

31

111. Webers, Tocquevilles und Rousseaus Kulturtheorien der Modeme: Die Kollision von Vernunft und Ethik..............................................................

43

IV. "Zerrissene Bande": Rationalistische Antinomien in der modernen Ge-

sellschaft.....................................................................................................

59

V. "Das Leben einer Kartoffel" - Rationalistische Antinomien und der Habitus des modernen Menschen ........... .......... ... ... ........ ............ .................... 84 I. Die "freudenarme Sinnlosigkeit" des Kapitalismus und die Flucht in den Hedonismus.... ...................................................................... 84 2. Privatistischer Individualismus und Vereinzelung.......................... 99 3. Das Ende des politischen Enthusiasmus.......................................... 107 VI. Leben im Käfig: Die Knechtschaft der Seele im modernen Zeitalter........ 122

Exkurs: Das politische "Problem" in Max Webers Wissenschaft..................... 135 8. Formen der Freiheit in der Moderne ............................................................ 139

I.

Widerstand gegen die Knechtschaft: Die Suche nach der Freiheit im eisernen Zeitalter............................................................................................... 139

II. Orte freiheitlicher Lebensftihrung: Die Schweizer Kantonalrepubliken und die neuenglischen Staaten Nordamerikas ................................................... 149 II I. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif' ............ .... ... ... .... ... ..... 166

IV. Freiheit als ethische Qualifikation............................................................. 181 V. Die freiheitlichen Verbandstypen der puritanischen Sekte und des amerikanischen Klubs (Weber), der amerikanischen Assoziation (Tocqueville) und des Bemer "Äußeren Standes" (Rousseau) ................................................ 199

8

Inhaltsverzeichnis I. Freiheitliche Lebensführung (Weber), Sitten und Gewohnheiten (Tocqueville und Rousseau) ............................................................ 212 2. Bewährung, Selbstbehauptung, Tatkraft.......................................... 219 3. Charisma und Leidenschaft............................................................. 227 VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit........................................ 235 Schluß ....................................... ................................................................ ........... 251 Literaturverzeichnis.. ......... ........ ............................ ........................ ...... .. ............. 259

I. Max Weber....................... ........................................................................... 259 II. Alexis de Tocqueville ................................................................................. 268 111. Jean-Jacques Rousseau ............................................................................... 273 Personenregister.. ..................... ................................. .......................................... 277

Abkürzungsverzeichnis AfSuS

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

AüdpolÖk

Abhandlung über die politische Ökonomie (Rousseau)

es

Contrat Social (Rousseau)

DaSudR

Der alte Staat und die Revolution (Tocqueville)

DD

Deuxieme Discours (Rousseau)

GARS

Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (Weber)

GASS

Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (Weber)

GASW

Gesammelte Aufsätze zur Sozial- & Wirtschaftsgeschichte (Weber)

GAWL

Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Weber)

GPS

Gesammelte politische Schriften (Weber)

Lebensbild

Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989

MWG

Max-Weber-Gesamtausgabe

PD

Premier Discours (Rousseau)

PE I

Die Protestantische Ethik I (Weber)

PE II

Die Protestantische Ethik II (Weber)

ÜdDiA

Über die Demokratie in Amerika (Tocqueville)

WuG

Wirtschaft und Gesellschaft (Weber)

Einleitung Die Geschichte der Rezeption des Werkes von Max Weber ist bis heute eine Geschichte des Bemühens geblieben, Weber im Kontext seiner Zeit und deren Wissenschaften zu lesen. Bis heute auch gilt Weber dabei dem überwiegenden Teil seiner Exegeten als Soziologe, wenn nicht sogar als Gründerfigur der Soziologie. Weil diese jedoch eine noch vergleichbar junge akademische Disziplin ist, reichen auch die mannigfachen Versuche der textlichen Einordnung des Webersehen Werkes kaum einmal hinter die Gründungsdaten dieses Faches zurück.1 Das aber gilt genauso rur den politischen Weber. Wo er bislang Gegenstand der Untersuchung wurde, galt er als liberaler Denker und Publizist allenfalls der wilhelminischen Epoche. 2 Die vorliegende Studie versucht, diesen Fragehorizont zu übersteigen und Weber in einen umfassenderen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu verorten. Max Weber hat sich nicht vorrangig als Soziologe verstanden. Er war zunächst Nationalökonom und als solcher ein exzellenter Kenner der Wissenschaftsgeschichte der älteren nationalökonomischen Schule3; genauso war ihm die Geschichte der politischen Theorie vertraut. Es ist daher gerechtfertigt, Weber in die Tradition der politischen Denker des Abendlandes hineinzustellen und ihn als praktischen Wissenschaftler verständlich zu machen, der aus diesem Kontext herauswächst. 4 Von dieser Überlegung ausgehend, untersucht die vor-

1 Vgl. Wolfgang J Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen und Zürich 1988; vgl. Harvey S. Goldman, Max Weber and Thomas Mann, Calling and the Shaping ofthe Self, Berkeley, LosAngelesund London 1988. oder auch Helmuth Kiesel, Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Visionen der Modeme, Max Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1994. Zur Disziplingeschichte der Soziologie vgl. Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt am Main 1996. 2 Vgl. W. J Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, 2. Auflage, Tübingen 1974, und ders., Max Weber, Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt am Main 1974 und David Beetham, Max Weber and the Theory of Modem Politics, London 1974. 3 Vgl. Wilhe/m Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987. 4 Vgl. Peter Breiner, Max Weberand Democratic Politics, lthaca and London 1996, S. 2. P. Breiner versteht Weber ebenfalls als "theorist of practical and political judgement or prudence". Ebenso John Patrick Diggins, Max Weber, Politics and the spirit of tragedy, New York 1996.

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Einleitung

liegende Arbeit die Freiheitslehre5 Max Webers, indem sie diese mit den Ideen zweier politischer Denker vergleichend in Beziehung setzt, deren großes wissenschaftliches Thema, nämlich "Modernität und Bürgerlichkeit", dasselbe war wie noch dasjenige Max Webers: Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau. Ein solcher Vergleich birgt etliche Risiken. Tocqueville wird von Weber in seinem gesamten Werk nicht ein einziges Mal erwähnt. Und auch was die zugänglichen Briefe und Schriften Webers anbelangt - der Name Tocquevilles, von Webers Hand geschrieben, fehlt. 6 Rousseau hingegen hat zwar Eingang in

5 Der Titel ist in Anlehnung an Otto Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, Göttingen 1963, gewählt. 6 Die Frage, ob der knapp sechzig Jahre jüngere Max Weber Alexis de Tocqueville überhaupt rezipiert hat, hat Jacob P. Mayer schon 1954 an Marianne Weber gerichtet. "Daß Max Weber Tocquevilles Schriften gekannt hat, scheint mir zweifellos, obwohl ich keinerlei Beweise daflir habe...", war ihre Antwort gewesen (vgl. Jacob P. Mayer, Alexis de Tocqueville, Prophet des Massenzeitalters, Stuttgart 1954, Anmerkung II zu Kapitel IX, S. 183 ). Den Verdacht, daß sich auch keine Exemplare zeitgenössischer Ausgaben Tocquevilles in Webers Privatbibliothek befunden haben, hat die Recherche des Verfassers in der Max-Weber-Arbeitsstelle der Kommission flir Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, bei Max Weber-Schäfer, Konstanz, Birgit Rudhard von der Arbeitsstelle der MWG an der Universität Heidelberg und in der Dahlemer Abteilung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, erhärtet. Ein zwingender Beweis ftlr Webers Kennerschaft des Tocquevilleschen Werkes muß also anderweitig gefunden werden. Es war naheliegend, zunächst über die Weber seinerzeit zugänglichen Heidelberger Universitätsbestände nach Indizien zu suchen, die aufTocqueville verweisen. Dabei war es zunächst vielversprechend, daß zu den Beständen der Alfred-Weber-Bibliothek des sozial- und staatswissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg nicht nur die französische Originalfassung von Tocquevilles "L'Ancien Regime et Ia Revolution" in der 5. Auflage von 1866 zählt, sondern auch die von Arnold Boscowitz besorgte deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1856 (vgl. Tocquevi/le, Das alte Staatswesen und die Revolution, übersetzt von Arnold Boscowitz, Leipzig 1857). Die Seiten der deutschen Ausgabe sind zwar an einigen Stellen mit Bleistift unterstrichen, aber nirgendwo mit irgendwelchen handschriftlichen Marginalien verziert, die sichere Rückschlüsse auf Webers Handschrift zuließen. Ähnlich verhält es sich bei der französischen Ausgabe. In diesem Band finden sich neben zahlreichen Unter- und Anstreichungen zwar auch handschriftliche Randbemerkungen, diese aber stammen eindeutig nicht von Weber. Günstiger allerdings liegt der Fall bei Tocquevilles anderem großen Werk: Ebenfalls in der Alfred-WeberBibliothek stehen drei Folianten der 15. Auflage der französischen Ausgabe von "De Ia Democratie en Amerique" von 1868, zum anderen zwei Bände der 17. Auflage ebenfalls in französischer Sprache aus dem Jahr 1888 (vgl. Tocquevi/le, De Ia Democratie en Amerique, drei Bände, 15. Auflage, Paris 1868 und ders., De Ia Democratie en Amerique, zwei Bände, 17. Auflage, Paris 1888). Während die beiden Ausgaben von 1888 keinerlei Markierungen vorweisen, zeugen zahlreiche Unterstreichungen mit Bleistift innerhalb der anderen von einer intensiven Auseinandersetzung des Lesers mit dem Stoff. Da zusätzlich an einigen wenigen Stellen im ersten und dritten Band Stichwortbemerkungen an den Rändern nachzuweisen sind. die mit höchster Wahrscheinlichkeit von Weber stammen, kann auf eine Lektüre Webers geschlossen werden (zu dieser gut-

Einleitung

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Webers Werk gefunden, jedoch in einem Umfang, der auf den ersten Blick alles andere als der Rede wert zu sein scheint. Auch hier herrscht der Eindruck eines eigenartig stummen Verhältnisses vor. 7 achterliehen Einschätzung gelangten auch so exzellente Kenner der Webersehen Handschrift wie Birgit Rudhard, Heidelberg, sowie Manfred Schön, Düsseldort). Auf der anderen Seite dürfte jedem Weber-Kenner bekannt sein, daß der Name Tocqueville einmal innerhalb der Kontroverse um die "Protestantische Ethik" flillt. Ernst Troeltsch, Religionswissenschaftler und "Fachmenschen-Freund" (FriedrichWilhelm Graf) Webers, erwähnt Tocquevilles "wunderbares Buch" (vgl. E. Troeltsch, Die Kulturbedeutung des Calvinismus, Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, hrsg. von Paul Hinneberg, 4. Jahrgang, 1910, Sp. 449-468 und 501508, abgedruckt in: Weber, PE II, S. 204). Troeltsch zitiert die "Demokratie in Amerika", weil er in ihr den zu seinen eigenen Schriften kongenialen Gedanken der "besonders starke(n) und eigentümliche(n) Kulturmacht" des Calvinismus "auf dem Grunde religiöser Eigentümlichkeit" thematisiert sieht. Der von H. Karl Fischer und nach ihm von Felix Rachfahl so heftig attackierte Weber hat die Debatte selbstverständlich bis ins Detail verfolgt und die ihn stützende Stellungnahme Troeltschs gelesen. Genauso könnte ins Gewicht fallen, daß Weber James Bryces zweibändige "Studies of History and Jurisprudence" (vgl. James T. Bryce, Studies in History and Jurisprudence, 2 Bände, Aalen 1980) zur Kenntnis genommen hat, eine Aufsatzsammlung aus dem Jahr 1901 -die Weber offenkundig in seine Rechtssoziologie verarbeitet hat, immer wenn es ihm um arnerikanische Verhältnisse ging - befindet sich auch der schon 1887 im Rahmen einer Veröffentlichungsreihe historischer und politischer Studien der John Hopkins University, Baltimore. erschienene Aufsatz "The Predictions of Hamilton and Tocqueville" (vgl. ders. , The Predictions of Hamilton and de Tocqueville, in: Herbert B. Adams (Hrsg.), Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science, 5. Bd., Baltimore, September 1887, S. 5-57. Wieder abgedruckt unter dem Titel "The United States Constitution as seen in the Past, The Predictions of Hamilton and Tocqueville", in: James T. Bryce, Studies in History and Jurisprudence ( 190 I), Band I, Aalen 1980, Kap. 6, S. 381-429). Aufdiese Schrift von Bryce als einflußreich für Max Weber weist auch Peter Lassman hin (vgl. ders., Democracy and Disenchantment, Weber and Tocqueville on the "Road to Servitude", in: Herminio Mariins (Hrsg.), Knowledge and Passion, Essays in Honour of John Rex, London und New York 1993, S. 100). Darin orientiert sich J. T. Bryce noch deutlicher, häufig und über weite Strecken sogar durchgängig an Tocquevilles großem Werk und versucht darin, dessen Kritik an den amerikanischen Zuständen nach Kräften zu entschärfen. Der Nachweis der Webersehen Kennerschaft von Tocqueville auf diesem Wege dürfte also am ehesten über die Verbindungsglieder Ernst Troeltsch und James T. Bryce gelingen. 7 Weber rezipiert den "Emile" - vgl. Brief von Marianne an Max Weber aus dem "abgeschiedenen römischen Winterdasein" des Jahres 1902 (Lebensbild, S. 267). Weber las in diesen Tagen, wie es dort heißt, ein "fabelhaftes Gemisch in sich hinein" - darunter auch Rousseaus Emile- und die "Nouvelle Helorse" (vgl. ders. , Brief an Marianne Weber aus Vevey vom 5. April 1911 , Nachlaß Dahlem), in der Weber "vieles auch noch heute bewunderswert" findet. - aber allem Anschein nach doch im Sinne von nicht mehr als anregender Urlaubs- oder Freizeitlektüre. Die "Confessions" Rousseaus sind ihm geläufig (vgl. Weber, GA WL, S. 246), aber alles in allem bleibt Rousseaus Präsenz in Webers Werk alles andere als eindrucksvoll. Dazu kommt die Beobachtung, daß Rousseau, an den paar Textstellen. an denen er von Weber zitiert wird, keine allzu liebevolle Behandlung widerfahrt. Rousseau wird einmal im Kapitel V. von WuG, der Religionssoziologie,- unter dem Stichwort "Intellektuellenflucht" (ebd., S. 308)- als Vertreter jener Gattung der "Zurück-zur-Natur"-Eskapisten herangezogen, einer Menschen-

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Einleitung

Dennoch ist die Hypothese der vorliegenden Studie, daß trotz der offenkundigen philologischen Vernachlässigung ihrer Werke Webers politischphilosophisches Denken mit dem Tocquevilles und Rousseaus in einem hohen Grad zur Deckung gebracht werden kann. PeterLassman teilte filr das Verhältnis Webers zu Tocqueville diese Sicht und schrieb: "Not influence, but affinity is the key word here." 8 Und das gleiche gilt fiir Max Webers Verhältnis zu JeanJacques Rousseau. Einem Vergleich des Webersehen Werkes mit den Oeuvres der beiden Älteren muß es in der Tat viel mehr um die ideelle Parallelität von Ursprung, Thema und Absicht ihres wissenschaftlichen Fragens, also um ihre gegenseitige geistige Verwandtschaft gehen, deren Nachweis in keinem Fall von der Tatsache einer direkten oder indirekten Webersehen Werkkenntnis abzuhängen braucht. Daß Weber mit Tocqueville "so manche Fragestellung gemeinsam"9 hatte, ist schon früh von Golo Mann erkannt worden. Worin diese Deckungsgleichheiten - und diejenigen mit Rousseau - allerdings bestehen, dies herauszuarbeiten, daran hat sich in einem umfassenden Entwurf jedoch noch niemand versucht. Ein kurzer Aufsatz Dorrit Freunds aus dem Jahr 1974 10, ein gleichfalls nur sehr kursorischer Essay Erich Angennanns von 1988 an schwer zu findender Stelle 11 und Peter Lassmans 1993 erschienener Beitrag 12 über Weber und Tocqueville

gattung also, filr die Weber - ob in Schwabing, Ascona oder auf der Burg Lauenstein bekanntennaßen nicht viel Sympathien hegte. Das andere Mal muß er wiederum als Negativbeispiel herhalten, als Weber innerhalb des IX. Kapitels ebenfalls in WuG ausfUhrt, die "Gewissensfreiheit" als "prinzipiell erste(s), weil weitestgehende(s), die Gelegenheit des ethischen Handeln umfassende(s), eine Freiheit von der Gewalt...verbürgende(s) Menschenrecht" sei ein Begriff, "der in dieser Art dem Altertum und Mittelalter ebenso unbekannt'· gewesen sei "wie etwa der Staatstheorie Rousseaus'' (ebd., S. 725). 8 P. Lassman (1993), S. 99. 9 Vgl. Golo Mann (1964), Max Weber, in: Zeiten und Figuren, Schriften aus vier Jahrzehnten, Frankfurt am Main I 979, S. 160. 10 Vgl. Dorrit Freund, Max Weber und Alexis de Tocqueville, in: Archiv für Kulturgeschichte, 56. Jahrgang, I 974, S. 457-466. 11 Vgl. Erich Angermann, Überlegungen zum Demokratieverständnis Alexis de Tocquevilles und Max Webers, ein historischer Vergleich, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit, Festschrift für Karl Ottmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, I. Halbband, hrsg. von Ralph Melville u.a., Wiesbaden und Stuttgart 1988, S. 49-59. 12 P. Lassmans Essay entspricht zunächst der hier eingeschlagenen Richtung der Interpretation, zumal er sowohl Weber als auch Tocqueville als Theoretiker der modernen Massendemokratie erfasst, deren Diagnose ihres Zeitalters sehr ähnlich ausfiillt. Leider aber bleiben seine Erörterungen an diesem Punkt stehen. Er erfasst nicht, daß die konzeptionelle Ähnlichkeit beider Theorien weit über den analytischen Teil hinaus Bestand hat und auch noch flir die Konzeption einer praktische Freiheitslehre zutriffi. So betrachtet hat P. Lassmans Essay der hier vorgenommenen Untersuchung nur wenig zu sagen. Das gleiche gilt für Erich Angermanns Aufsatz, der ebenfalls über diagnostische Parallelen, die er um die Komplexe Rationalität und Demokratie kreisen läßt, nicht hinauskommt.

Einleitung

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sind bis heute das einzige geblieben, was zur Forschungslage hier aufzuzählen wäre. Für einen Vergleich Webers mit Rousseau schließlich hält die weitverzweigte Forschungsliteratur bis auf J. G. Merquiors "Rousseau and Weber. Two Studies in the Theory of Legitimacy" 13 aus dem Jahr I 980 keinerlei Schrifttum bereit, das in die Arbeit hätte Eingang finden können. Der zweiteilige Aufbau dieser Arbeit folgt den beiden großen thematischen Komplexen, die die Werke Max Webers, Alexis de Tocquevilles und JeanJacques Rousseaus verbinden: Der erste Teil beschäftigt sich mit der kulturkritischen Diagnose der Modeme in der Sicht Webers, Tocquevilles und Rousseaus, der zweite mit den daraus entstehenden Fragen nach der Möglichkeit einer politisch-freiheitlichen Lebensfiihrung vor den Kulissen der modernen Welt. Die Studie versucht die Frage zu beantworten, ob Max Webers Denken von Fragestellungen gelenkt wurde, wie sie bereits der "neuen politischen Wissenschaft" eines Alexis de Tocqueville den Weg gewiesen haben, und auch schon bei JeanJacques Rousseau leitend waren. 14 Läßt sich durch den Vergleich mit dem Gedankengut der "klassischen" politischen Philosophen Tocqueville und Rousseau ein neues Verständnis Max Webers gewinnen? Ein Verständnis, das beweisen könnte, daß seine Art zu fragen eine andere war als die der empirizistischwertfrei vorgehenden Positivisten, daß er tatsächlich genuin politikwissenschaftliche Fragen stellte: nach der modernen "Entwicklung des Menschentums, welches durch das Zusammentreffen religiös und ökonomisch bedingter Komponenten geschaffen wurde" 15, nach der Existenz des Menschen als BOrger eines Gemeinwesens in einer hochkapitalistischen, rationalistischen, eben: modernen Massengesellschaft? 13 Vgl. J. G. Merquior, Rousseau and Weber, Two Studies in the Theory of Legitimacy, London 1980. Da es in der vorliegenden Studie auf eine gemeinsame Grunderfahrung der Moderne und im zweiten Teil um die Konturierung einer beiderseitig ganz ähnlich gelagerten Freiheitsidee geht und nicht, wie bei J. G. Merquior, um die Gegenüberstellung von Legitimitätstheorien des modernen Staates, haben diese Studien der vorliegenden Arbeit nur wenig mitzuteilen. 14 Der hier vorgelegte Vergleich möchte die Deckungsgleichheiten der politischen Theorien seiner Protagonisten vorstellen, jedoch Differenzen, wie sie unzweifelhaft bestehen, nicht leugnen. Wie etwa J. G. Merquior dargelegt hat, folgen die Legitimitätstheorien von Rousseau und Weber grundsätzlich anderen Leitgedanken: Für Rousseau ermangelt die weberianische Legitimität des modernen Staats kraft gesatzter Legalität jenes für ihn unabdingbaren, zugrunde liegenden Vertragsgedankens, der Freiheit und Gleichheit begründet und die "volonte generale" zum Legitimitätsprinzip erhebt. Auch die Demokratiekonzeptionen beider klaffen weit auseinander, worauf zuletzt P. Breiner hingewiesen hat (ebd., S. 217f.). Bei Rousseau fehlt in seiner emphatischen Betonung des Gedankens der Volkssouveränität auch der Blick ft.ir das Problem der "Tyrannei der Mehrheit" , wie es sich einige Jahrzehnte später erstmals Tocqueville gestellt hat. Zwischen Tocqueville und Rousseau gibt es zudem unübersehbare "wissenschaftliche Temperamentsunterschiede": Den nüchterneren Tocqueville hat an Rousseau stets dessen "falsche Empfindsamkeit'· (DaSudR, S. 75) gestört. 15 Weber, Antikritisches Schlußwort zum »Geist des Kapitalismus«, PE II, S. 303.

A. Krise von Kultur und Politik I. Die moderne Zeit - "eine bittere Satire" Zwischen Rousseaus erster Schrift, der "Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat?" 1 aus dem Jahr 1750, und den "Vorbemerkungen" Max Webers zu seinen religionssoziologischen Untersuchungen von 19202 liegt eine Zeitspanne von annähernd 170 Jahren. Weber von Tocqueville, Tocqueville von Rousseau und schließlich Weber von Rousseau trennten gewaltige Zeiträume- und Welten: Von Rousseaus Tagen bis in die Webers hinein vollzog sich der wohl schärfste soziale, ökonomische und kulturelle Umbruch, den die Ge-

1 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat? ( 1750), in: Ders. , Schriften, Band I, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1988, S. 27-60. Hinsichtlich der Zitierweise aus Max Webers Schriften soll gelten: Wann immer Texte Webers herangezogen werden. soll aus den geläufigen "Gesammelten Schriften und Aufsätzen" sowie den traditionellen Editionen zitiert werden. Texte, die neu hinzugekommen sind, werden aus der MWG zitiert. Die PE wird primär aus der Winckelmann-Edition zitiert und nicht aus den GARS, es sei denn, die GARS gehen über die Winckelmann-Texte hinaus. Texte, die keinen Eingang in die "Gesammelten Aufsätze" gefunden haben, werden im Original zitiert. Im Fall Tocquevilles wird aus dem ins Deutsche übersetzten Hauptwerk " Über die Demokratie in Amerika'" verwiesen, zusätzlich auf "Der alte Staat und die Revolution'' von 1856 (vgl. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, übersetzt von Theodor Oelckers, neu bearbeitet von Jacob P. Mayer, München 1978) und Tocquevilles "Souvenirs", die er im November 1850 veröffentlichte (vgl. Tocqueville, Erinnerungen, übersetzt von Dirk Forster, Stuttgart 1954). Weitere Schriften Tocquevilles sind in den noch immer nicht abgeschlossenen und übersetzten "Oeuvres Comph!tes" (kritische Gesamtausgabe, begonnen 1951) verfiigbar, die auch große Teile seines umfangreichen Briefwechsels beinhaltet. Im folgenden werden Tocqueville-Zitate in deutscher Sprache angegeben. Nur dort, wo aus unübersetzten Beständen zitiert wird, wird das originale Französisch beibehalten. Dasselbe gilt für Rousseaus Werk. Die Hauptwerke sind allesamt in deutschen Übersetzungen greifbar (siehe Literaturverzeichnis). die Korrespondenzen fast nur in französischer Sprache (Correspondances completes, 49 Bände mit zwei Registrierbänden, hrsg. von R. A. Leigh. Oxford I 965- I 995), vgl. auch Robert Wok/er. Preparing the definitive edition of the Correspondence of Rousseau, in: Marina Hobson/J. T. A. Leigh/Robert Wokler (Hrsg.), Rousseau and the eighteenth century. Essays in memory of R. A. Leigh, The Voltaire Foundation, Oxford I 992. S. I -22. 2 Vgl. Weber, Vorbemerkung, GARS, Band I. S. 1-16.

2 Hecht

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A. Krise von Kultur und Politik

schichte des Abendlandes seit Ausgang der Antike kennt. Jean-Jacques Rousseau war ein Zeitgenosse des sich zum Ende neigenden Ancien Regime, der sich zwar selbst einen "Republikaner"3 nannte und ein Leben lang dem französischen Monarchen Ludwig XV. kritisch gegenüber stand, jedoch niemals ernstlich die Legitimität der Monarchie selbst angezweifelt hat. 4 Alexis de Tocqueville wiederum lebte bereits im bürgerlichen Zeitalter, das mit solch schwerwiegenden Schlagwörtern wie Entfeudalisierung, Dekorporierung, der Abschaffung intermediärer Gewalten und dem Ende ständischer "Libertäten" und Privilegien beschrieben werden kann. ln der konservativen politischen Literatur war das Ancien Regime noch in greifbarer Nähe, doch der Prozeß des Auseinanderbrechens von Gesellschaft und Staat, der mehr und mehr gesellschaftlich verherrschaftet wurde, war bereits in vollem Gange. Max Weber schließlich war Zeuge einer tiefgreifenden Transformation vom Verfassungs- zum Sozialstaat und eines damit einhergehenden Selbstverständnisses, das die ursprüngliche staatliche Sicherungsaufgabe von Rechten und Freiheiten mehr und mehr zugunsten der Etablierung von Existenz- und Wohlstandsgarantien abgegeben hatte. Die wilhelminische Gesellschaft hatte sich formiert, Industrialisierung und Staatsbürokratisierung hatten sich zugespitzt und verfestigt. Rousseau lernte seine Welt vor dem Hintergrund der spät-absolutistischen Ära Ludwigs XV. kennen, Tocqueville die seine vor bourbonischer Restauration und Juli-Monarchie, und Max Webers Lebensdaten deckten sich nahezu mit denen des Wilhelminischen Kaiserreichs. Der erste Teil der Studie trägt den Titel "Krise von Kultur und Politik" und versucht, die Frage nach der Möglichkeit einer gemeinsamen prinzipiellen Grunderfassung der Modeme von Weber, Tocqueville und Rousseau zu beantworten. Dabei soll nicht eine historisch-soziologische oder historisch-politische, sondern jene kulturell-philosophische Perspektive der drei Interpreten ins Zentrum rücken, die die Konsequenzen des Vernunftzeitalters filr den Menschen beleuchtet hat und aus welcher Weber, Tocqueville und Rousseau ihre Zeit kritisch beobachtet haben. Es soll evident werden, daß auch schon der Älteste,

3 So in einem Brief Rousseaus an seinen Verleger Mare-Michel Rey vom 28. Mai 1762. Vgl. Rousseau, Korrespondenzen, hrsg. von Winfried Schröder, Leipzig 1992, Brief-Nr. 1809, S. 212. 4 Die Monarchie an sich wohlgemerkt, nicht die absolute Ludwigs XIV.. Auf Rousseaus mutige, wie verschlüsselte Kritik dieser entfesselten Ausformung der spätabsolutistischen Königsherrschaft wies Heinrich Meier hin (vgl. ders., Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes, in: Ders., Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Discours sur l'inegalite. Paderbom, München, Zürich 1987, S. XXXVf.). In einem Brief an George Keith, Lord Marshall von Schottland, vom 18. August 1762 läßt sich Rousseau gar zu dem Satz hinreißen: "Als ich in Frankreich lebte, hatte Louis XV. keinen besseren Untertanen als mich ..." (vgl. Rousseau, Korrespondenzen. Brief-Nr. 2086, S. 225).

I. Die moderne Zeit - "eine bittere Satire"

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Rousseau, ein "Sohn der modernen europäischen Kulturwelt"5 war, der "universalgeschichtliche Probleme" von Kulturerscheinungen auf dem "Boden des Okzidents" unter einer, mit derjenigen Tocquevilles und Webers weitestgehend identischen Fragestellung behandelte. Zu den letzten Texten, die Max Weber vor seinem Tod geschrieben hat, zählt die erwähnte "Vorbemerkung" zu den "Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie" von 1920. Dem Namen nach eine Art Vorwort waren diese "Bemerkungen" vielmehr so etwas wie eine vorgerückte Schlußfolgerung, die Weber aus dem immensen Stoffinaterial gezogen hatte, das er dann über drei Bände hinweg entfalten sollte. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stand dabei die Frage, warum sich Kulturerscheinungen wie die rationalistische Wissenschaft, der dazugehörige Typus des "Fachmenschentums" und schließlich "die rational-kapitalistische Organisation von (formell) fteier Arbeit", also der bürgerliche Betriebskapitalismus, wie er von Karl Marx analysiert worden war, nur im neuzeitlichen Okzident hatte entwickeln können. Für Weber hing die Lösung des Problems zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich von der psychologisch-spiritualistischen Eigenart der abendländisch-christlichen Religion ab, die den Geist des Kapitalismus erst aus sich heraus fteizusetzen vermocht hatte. Religionen bzw. religiöse Motive, so stellte er schon in seinen Anfangsabschnitten klar, waren fiir ihn nicht so sehr in ihren Dogmen und Glaubensinhalten wesentlich, sondern in ihrer Eigenschaft als "Systeme der Lebensreglementierung", in ihrer Leistung also, "Orientierungspunkte der Lebensfiihrung" zu liefern.6 Für den okzidentalen Kulturkreis war Weber zu dem Schluß gekommen, daß das, "was ftüher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte" 7, unter dem Druck säkularisierender Rationalisierung aus der modernen Welt genauso entwichen war, wie der religiöse Geist "aus dem stahlharten Gehäuse"8 "rein materieller Sorge", das sich einstmals noch als "dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könne", um die Schultern der Heiligen in Richard Baxters "Saints' everlasting rest" gelegt hatte. Eine ethisch-methodische Lebensfiihrung in seinem Sinne war zu Webers Zeiten kaum mehr möglich. Das Erlöschen des religiösen Geistes, die sich vollziehende Wandlung zu individuellem, "seines religiös-ethischen Sinnes entkleideten Erwerbsstreben"9 und die Geburtsstunde jenes so selbstgenügsamen Zwillingspaares, des "Fachmenschen ohne Geist" und Weber, Vorbemerkung, PE I, S. 9. Vgl. ders., PE I, S. 88. 7 Ders., Wissenschaft als Beruf, GA WL, S. 612. 8 Der Begriff stammt aus John Bunyans puritanischen Erbauungstraktat, dem "Pilgrim's progress" (1678-84, Originaltitel: .,The Pilgrim's Progress from this World, tothat which is to come''), dem flir Weber Schlüsselcharakter hinsichtlich seines Verständnisses der puritanischen Ethik zukommt. Vgl. Weber, PE I, S. 124. 9 Ebd., S. 188. 5

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des "Genußmenschen ohne Herz", waren die Gründe dafiir, daß ihm, der er in seiner Gegenwart eben jenen entscheidenden "Auschnitt daraus erblickt(e)", "der Gang von Menschheitsschicksalen erschütternd an die Brust brandet(e)." 10 Als Alexis de Tocqueville 1835 den ersten Band seines epochemachenden Werkes "De Ia Democratie en Amerique" fertiggestellt hatte, war er ganz ähnlich verfahren wie Weber: Ebenfalls in seine Einleitung ließ er inhaltlich resümierende Passagen einfließen, die genauso weit eher in ein Schlußwort gepaßt hätten, denn in eine Vorbemerkung als Entwurf und Ausgangspunkt weitergehender Erörterung. "In unseren Tagen", schrieb er darin "unter dem Eindruck einer Art religiösen Erschauems" 1\ "bieten die christlichen Völker, wie mir scheint, ein furchterregendes Schauspiel; die Bewegung, von der sie mitgerissen werden, ist schon zu stark, als daß sie aufzuhalten wäre, sie erfolgt aber noch nicht so rasch, daß man die Hoffnung auf ihre Lenkung aufgeben müßte..." 12 Und Rousseau? Sein Urteil über das Zeitalter, dem er angehörte, enthält schon diejenige Schrift, die bis heute als die große Vorbemerkung seiner Wissenschaft gelten kann: sein "Premier Discours" von 1750. Von Montmorency schrieb er am 12. Januar 1762, also gut elf Jahre nach dessen erster Veröffentlichung, an den fiir ihn als Direktor des Buchwesens und Chef der Pariser Zensurbehörde ungemein nützlichen Freund und Protektor Malesherbes 13 über sein in der Literatur oft diskutiertes Illuminationserlebnis 14 von Vincennes, das ihn10 Ders., GARS I, S. 14. Zum kulturellen Krisenbewußtsein der deutschen Gelehrtenwelt um die Jahrhundertwende vgl. K. Lichtblau, dort vor allem Kapitel I, Einleitung, Das Unbehagen an der modernen Kultur, S. 13-76, und Kapitel II, Die Umwertung der Werte, S. 77-177. 11 Vgl. Tocqueville, ÜdDiA I, S. 8. 12 Vgl. ders., ÜdDiA I, S. 9. Zu Tocquevilles "eigentümlich tragischem Geschichtsbild" vgl. Hayden White, Tocqueville: Historischer Realismus als Tragödie, in: Ders., Metahistory, Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 253f 13 Auch Tocqueville hatte Verbindungen eigener Art zu Chretien-Guillaume Lamoignon deMalesherbes (1721-1794), dem Direktor der Bibliothek zu Paris, der am 22. April 1794 in Paris hingerichtet wurde: Malesherbes war nicht nur sein erklärtes Vorbild, sondern auch sein Urgroßvater. 14 Sowohl der erste als auch der zweite "Discours" sind durchdrungen von biblischen Motiven und Zitaten. Rousseau selbst begibt sich in die Rolle des Propheten, als er auf dem Weg nach Vincennes erst durch jenes berühmte Illuminationserlebnis zur Erkenntnis der Wahrheit erleuchtet wird. Das Vorher des Urmenschen und das Nachher des Zivilisationsmenschen, der wie Goethes Faust "alles wissen, haben, können und genießen will", stehen- im zweiten "Discours'· - für den Sündenfall im Garten Eden und der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Henning Ritter hat in seinem Vorwort zu den von ihm herausgegebenen Schriften Rousseaus (Band I und II, Frankfurt am Main 1988) die wohl plausibelste Antwort darauf geliefert, warum Rousseau den Initialmoment seiner Ideen filr die Preisfrage von Dijon stets in solch mystisch-religiös anmutende Bilder gekleidet hat und warum seine beiden "Discourses" im Grunde die biblische Geschichte erzählen: Der "Rückbezug auf die Vision" authentisiere quasi das Werk

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schenkt man seinen eigenen Worten Glauben - auf dem Fußmarsch zum unter Arrest stehenden Denis Diderot im Jahr 1749 ereilt und ihm auf diese Weise erst sein großes schriftstellerisches Lebensthema so nachhaltig vor Augen gerückt hatte. Rousseau hat jenes filr ihn so prägende Erlebnis an mehreren Stellen in seinem Werk als eine quasi religiöse Erleuchtungssituation geschildert, als eine innere Schau des wahrhaftigen Zustandes des Menschen in seiner Zeit und das war ein unter der Macht seiner Zivilisation fortschreitend moralisch korrumpierter Mensch. Rousseau erlebte diesen Moment einer in ihrer Tragweite ebenso gewaltigen wie bedrohlichen Erkenntnis als seine schriftstellerische Initiation, die ihn erst zum Autor radikaler gesellschaftlicher Kritik berufen sollte: "Ein heftiges Herzklopfen beklemmt mich, hebt meine Brust empor", schrieb er, als er den Moment seiner Erkenntnis in Erinnerung rief. Ihm "schwand der Atem", er konnte nicht mehr weitergehen und "benetzte" sich über und über mit Tränen 15 - keine Tränen der Freude, sondern Tränen der Bestürzung und der Erschütterung: Die Erleuchtung von Vincennes war im Grunde genommen das Erschrecken des Jean-Jacques Rousseau vor dem Zustand der Welt seiner Zeit und vor der "bitteren Satire", die sie ihm vorfilhrte. 16 Rousseau hatte erkannt, daß seit dem ,Jugendlichen Weltalter" eine Bewegung in Gang gesetzt worden war, die - bei jedem Schritt, den der zivilisierte Mensch weiter tat - "allem Anschein nach der Vollkommenheit des Individuums fortgeholfen hat, aber ein Schritt näher zur Verderbnis seines Geschlechts gewesen ist" 17: Rousseau verurteilte, was zur gleichen Zeit anderswo als Errungenschaft der Vernunft gefeiert wurde. "Ich tat es", klagte er, "und von diesem Augenblick an war ich verloren. Der ganze Rest meines Lebens und meines Unglücks war die unvermeidliche Wirkung dieses Augenblicks der Verwirrung." 18 "Die lange Kette" 19 seiner Leiden setzte am Tag dieser Erkenntnis ein. Sein Jahrhundert und seine Zeitgenossen waren ihm, wie er später an Malesherbes schrieb,

Rousseaus (natürlich zuvorderst den ersten "Discours") bzw. dessen Wahrhaftigkeit, so H. Ritter (vgl. ders., S. 10). Die Funktion, die Rousseau dem Vincennes-Erlebnis dadurch verlieh, kann "darin gesehen werden, daß es den inneren Wahrheitsanspruch der authentischen Äußerung gleichsam in Sicherheit bringt durch die Garantie einer den Selbstbezug überschreitenden und zur Mitteilung berechtigenden Wahrheit." (ebd., S. 20). Mit anderen Worten: Der Kunstgriff Rousseaus, das Vincennes-Erlebnis zu mythologisieren, es als pseudo-religiöses Ereignis erscheinen zu lassen, läßt den Wahrheitsanspruchder Entdeckungen Rousseaus aus dem nur subjektiven in einen objektiven metaphysischen Erkenntnisbereich hinübertreten. 15 Rousseau, Brief an Malesherbes, Schriften, Band I, S. 483. 16 Ders., Vorrede zu »Narcisse«, Schriften, Band I, S. 164. 17 Ders. , Aufgabe der Akademie zu Dijon: Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt? ( 1755), Schriften, Band I, S. 238. 18 Ders., Erster Briefan Malesherbes, S. 479. 19 Ders., Bekenntnisse. S. 491.

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"verächtlich geworden"20 • Seine von Samuel Richardsons "Pamela" und "Clarissa" so unverkennbar beeinflußte "Julie", jener so moralistische und zugleich sehnsuchtsvolle Roman des idealen Zusammenlebens von Mann und Frau und gleichzeitig der zweier unglücklich Verliebter - neben den "Confessions" Rousseaus zweite Autobiographie21 , begann er denn auch mit den Sätzen: "Ich habe die Sitten meiner Zeit gesehen und diese Briefe herausgegeben. Warum lebte ich doch nicht in einem Jahrhundert, wo ich sie hätte verbrennen müssen!'m Sein Jahrhundert aber verachtete er nicht nur, weil seine persönliche Lebensbilanz bei allem Erfolg im Grunde diejenige eines fortgesetzten sozialen Scheiteros war. Wäre dem so, hätte Rousseau seiner Nachwelt bis heute kaum etwas zu sagen. 23 Dieses 18. Jahrhundert war vielmehr dasjenige unruhige und von Krisen geschüttelte des sterbenden Ancien Regime, dessen politische und soziale Erschütterungen auch lange nach 1789 noch kein Ende finden sollten. Das Erbe des Absolutismus war ein desolater Zustand des Staates und der politischen Kultur überhaupt: Eine drückende Staatsverschuldung und eine sich ständig verschärfende disproportionale Steuerverteilung, die bis in die Tage von Turgots Reformen gar noch weiter eskalieren sollte2\ wurden begleitet von einer fortschreitenden politischen und administrativen Zentralisierung, der immer weiter gehenden Beschneidung der Zu- und Selbständigkeit unabhängiger Provinzialverfassungen und einer kontinuierlichen Parlamentsentmachtung, ftlr die Frankreich sich unter Ludwig XV. eine inkompetente, kurzsichtige Außen- wie auch Innenpolitik eingehandelt hatte. Der Kauf von Ämtern und Adelstitel zur

Vgl. ders., Zweiter Briefan Malesherbes, Schriften, Band I, S. 482. Vgl. Reinhold Wolf, Rousseaus »Neue HeloTse«, Nachwort, in: Rousseau, Julie oder die Neue Helolse, Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, München 1988, S. 803. 22 Rousseau, Julie, S. 5. 23 Die hier vorgelegte Auseinandersetzung will sich entschieden von jenen psychologistischen Arbeiten abwenden, die gerade in den Abgründen der Rousseauschen Psyche die Ursprünge ftir die politischen, kulturkritischen und pädagogischen Schriften erkennen. Daß gerade der eigenwillige, seelisch deformierte Rousseau ein reiches Betätigungsfeld ftir eine historisch verfahrende Psychoanalyse liefert, versteht sich. Die Frage ist nur, was ein solcher Ansatz hilft, Rousseaus politische Anthropologie zu verstehen. Gesteht man dieser eine wissenschaftliche "Zurechnungsfähigkeit" zu, müssen biographisch-psychologische Motivationslagen des Autors in den Hintergrund treten. Daß das Werk nicht durch diese Brille gelesen werden muß, hat im übrigen schon Roger D. Masters (vgl. ders., The Political Philosophy of Rousseau, Princeton 1968, S. viii.) zu Bernhard Groethuysens Überlegungen angemerkt (vgl. ders., Jean-Jacques Rousseau, Paris 1949). 24 Gerade die Zunahme von Steuerprivilegien wurde von Rousseau in seinem Enzyklopädie-Beitrag, der "Abhandlung über die politische Ökonomie", verurteilt. Vgl. Rousseau, Abhandlung über die politische Ökonomie, Sozialphilosophische und politische Schriften, München 1981, S. 227-265. 20 21

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Steuerbefreiung blühte wie selten zuvor, ein beutesüchtiger Adel presste die Landbevölkerung aus und gerade sie - bei völligem Fehlen eines ländlichen Mittelstandes- litt unter einer immer extremere Ausmaße annehmenden Pauperisierung. 25 Im selben 18. Jahrhundert entwickelte der bürgerliche Stand mehr und mehr ein politisch-kulturelles Bewußtsein und im Genre des zeitgenössischen Romans ein Sprachrohr, das allmählich zum untrüglichen Seismographen des öffentlichen FUhlens und Denkens wurde, dieses Zeitalter zunehmend realistischer wiederspiegelte, jedoch auch begann, sich in ansteigenden Auflagen in harscher Kritik damit auseinander zu setzen und das zu konstituieren, was schon bald eine pluralebürgerliche Öffentlichkeit ausmachte. in den Werken der scharfsichtigen moralistischen Charakterzeichner und Sittenmaler Rene Lasage oder Jean de Ia Bruyere26, den Rousseau sehr schätzte, - mehr als La Rochefoucauld27 und der erstmals innerhalb des Genres der Satire unverhüllte Kritik selbst an der über alles erhabenen Person des Königs geäußert hatte, hatte sich jener geistigpolitische Wandel hin zur aufklärerischen Oppositionsliteratur schon früh angekündigt. Beide Schriftsteller markieren einen bedeutenden Stimmungsumschwung in der französischen Literatur: An die Stelle höfisch-panegyrischer Schreibkunst trat - endgültig in den Jahren der Regentschaft des Herzogs von Orleans - mehr und mehr eine bürgerlich-realistische Literatur, deren Zeilen oftmals mit den spitzen Federn beißender Satire geschrieben waren. Montesquieu gehörte dazu. Seine "Lettres persanes"28, verfaßt 1721 und neuaufgelegt 1754, sind ein schönes Beispiel filr unverhohlene Kritik an Monarchie und römischem Katholizismus. Männer wie Massillon, der unerschrockene Abbe de Saint Pierre29 oder nach ihm der filr eine anti-aristokratische Königsrepublik mit 25 Max Weber dürfte diese Verhältnisse vor allem aus Hippolyte Taines erstem Band seiner berühmten "Les Origins de Ia France contemporaine" (sechs Bände, 1875-1894) gekannt haben. Vgl. Lebensbild, S. 267. 26 Vgl. Jean de Ia Bruyere, Les caracteres de Theophraste traduits du grec, avec Ies caracteres ou les moers de ce siecle (1688), in: Ders., Oeuvres completes, hrsg. von J. Benda, Paris 1980 (dt.: Jean de Ia Bruyere, Charaktere, hrsg. von Otto Flake, Wiesbaden 1979). 27 Vgl. Rousseau, Bekenntnisse, S. 177. 28 Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de Ia Brede et de Montesquieu, Lettres persanes ( 1721 ), Obersetzt und hrsg. v.. Peter Schunck, Stuttgart 1991. 29 Vgl. Abbe de Saint-Pierre, Memoire pour l'etablissement de Ia taille proportionelle ( 1717), und ders., Projet pour rendre Ies ducs et pairs utiles ( 1720), vor allem jedoch den von Rousseau bearbeiteten "Discours sur Ia Polysynodie", der von St. Pierre noch unter Ludwig XIV. begonnen worden war. In diesem Pamphlet plädiert St. Pierre filr eine Abkehr von der Ministerherrschaft mit regierenden Staatssekretären, die er unter dem Sonnenkönig als "Halbwesirat" bezeichnet hatte, und wollte stattdessen ein Ratskollegialprinzip etablieren, wobei die Rekrutierung der Räte nicht wie bisher aus dem Adel stattfinden sollte, sondern über leistungsbezogene Auswahlkriterien aus dem Bildungsmilieu, womit einem System der bürgerlich-administrierten anstelle der tradi-

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freien Wahlen in den Provinzialversammlungen eintretende und von Rousseau geradezu verehrte30 Marquis Rene Louis d'Argenson 31 , und schließlich auch der alles überstrahlende und von Rousseau doch so beargwöhnte Voltaire forderten in ihren mutigen Schriften, gottbegnadete KönigswillkUr durch allgemein verbindliche Gesetzgebung zu beschränken und plädierten fiir eine Diffusion der Macht in beratende Ministerconseils oder andere vielgliedrige Kollegialorgane. 32 Es war nur eine Frage der Zeit, bis etwa d' Argenson die Worte fand, sein Land, wie es der Herzog von Orleans seinem Nachfolger übergeben hatte, ein "allgemeines Noth- und Krankenhaus" zu nennen, "ein übertünchtes Grab", dessen äußerer Glanz die innere Fäulnis nur schlecht verdecke33 - und eine Art republikanischer Monarchie forderte. Im Gros der literarischen Interpretation hatte der seine Pfründen sichemde Adel längst die letzten Fürsprecher seiner Sache verloren und wurde in der Mehrheit als eine moralisch und politisch diskreditierte Bevölkerungsgruppe gezeichnet. Der jesuitisch dominierte Klerus mit dem mächtigen Christophe de Beaumont an der Spitze gab im Kulturkampf des 18. Jahrhunderts gegen die katholisch-reformerischen Jansenisten ein weiteres Feindbild ab, gegen das sich die Kritiker zu Wehr setzten. Die Regierung reagierte zwar auf nicht linientreue Literatur und verstärkte ihren repressiven Zensurapparat, doch ließen sich viele freie Geister davon nicht abschrecken, gegen die Kirche und ihre Offenbarungslehre, gegen monarchische Despotie und filr Menschenrechte, Gewissens- und Pressefreiheit einzutreten. Rousseau stellte sich auf die Seite dieser aufklärerischen Oppositionsliteraten, ging es um deren Kritik am absolutistischen Staat und seinen sozialen, politischen und sittlichen Zuständen. Das wird deutlich, wenn er mit warmer Sympathie La Bruyere oder d' Argenson zitiert, wenn er einstimmt in den Chor ihrer Kritik sehr häu-

tionellen absoluten Monarchie der Vorzug g~geben werden sollte. Vgl. auch ders., Projet pour perfectionner le Gouvernement des Etats ( 1733 ). 30 Rousseau, es, Buch 3. Kapitel 8. 31 Vgl. Rene Louis d"Argenson, Traite manuscrit des interets de Ia France avec ses voisins, den Rousseau gleich in seiner ersten Bemerkung im es zitiert (weitere d'Argenson-Zitate im es finden sich aufS. 272, 291, und 312). Vgl. auch dessen Schrift "Jusqu'ou Ia democratie peut-elle etre admise un etat monarchique?" von 1737. Auf Anregung Rousseaus - der zunächst selber für den Autor gehalten wurde - wurde diese Schrift 1764 als "eonsiderations sur le gouvemement ancien et present de Ia France" gedruckt. Rousseau hat sich wohl am meisten flir den Gedanken St. Pierres einer durch bürgerliche Partizipation gesteigerten Einheit der Staatsgewalt interessiert. D' Argenson forderte vor allem das Ende adelig-ständischer Privilegien zugunsten leistungsorientierter bürokratischer Hierarchien und kommunaler Selbstverwaltung auf lokaler Ebene, der er auch das Recht der Steuererhebung zuweisen wollte. Er idealisierte ein Dualsystem von Königtum und Demokratie durch regionale Differenzierung. Bürokratie und Demokratie sollten die privilegierte Vorherrschaft des Adels brechen. 32 Vgl. daneben auch Autoren wie den Abbe Prevost, Jean-Baptiste-Louis Gresset oder auch Pierre earlet de ehamblain de Marivaux. 33 Vgl. R. L. d 'Argenson, eonsiderations, S. 119.

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fig auch im Schulterschluß mit Montesquieu und dessen inbrünstigem Kampf gegen die gesetzeslose Herrschaft des absoluten Monarchen - doch gleichzeitig paßt er so gar nicht in deren Reihen. Augenflillig ist, daß er den Gott, den die aufklärerische Oppositionsbewegung mit ihrem modernen, naturrechtliehen Denken an die Stelle des alten rücken wollte, genauso nachdrücklich bekämpft hat, wie den Geist, der noch das Ancien Regime regiert hatte. Ein eigentümlicher Charakterzug des Jean-Jacques Rousseau kommt hier bei näherer Betrachtung zum Vorschein: Als Oppositionsliterat, so läßt sich sagen, geißelte er den Absolutismus des Ancien Regime 34, als Kulturwissenschaftler gleichzeitig jedoch den Geist, den diese Oppositionsliteratur atmete. Was Rousseau betrieben hat, war, wie Mark Hulliung Rousseaus Verhältnis zur Philosophie seiner Zeit umschrieben hat, "the Autocritique of Enlightenment"35 eines Denkers, der sich entwickelte "from philosophe to exphilosophe to antiphilosophe" 36• Mit dieser Einordnung übereinstimmend sah Reinhart KoseHeck in Rousseau denn auch den ersten, der "seine Kritik nicht nur gegen den bestehenden Staat, sondern mit gleicher Schärfe gegen die den Staat kritisierende Gesellschaft gerichtet hatte" 37, und er ist fiir ihn auch der erste gewesen, der das Wechselverhältnis von Staat und Gesellschaft unter den bislang ungebräuchlichen Begriff der Krise erfaßte und es als solche erkannte. 38 In seiner Kritik sprach Rousseau dem eigentümlich euphemistisch-kritischen Geist der Zeit selbst sein Mißtrauen aus. Denn erst mit dessen Erscheinen konnten jene "Haufen von Milsiggängern, die vom Fett des Volkes bezahlt werden, um sechsmal in der Woche in der Akademie zu plaudern"39, jene "aufgeblasenen Köpfe"40 auf die Bühne treten, über die er sich im "Premier Discours" ausgelassen hatte - ehrgeizig, gefallsüchtig, verdorben - verkörpert im Typus des modisch-aufgeklärten Intellektuellen, wie er Rousseau am hassenswertesten in der Gestalt Voltaires begegnet war. Ihm auch, dem "berühmten Arouet", galt die argwöhnische Frage: "Wieviel männliche und starke Schönheiten habt Ihr unserer falschen Empfindlichkeit aufgeopfert und wieviel große 34 Den die konkreten politischen Zustände der französischen Monarchie kritisierenden Rousseau hat vornehmlich H. Meier interessiert, vgl. Anmerkung 4. 35 Vgl. Mark Hulliung, The Autocritique of Enlightenment, Rousseau and the Philosophes, Cambridge, Massachusetts und London 1994. 36 Ebd., S. 242. 37 Reinhart Kasel/eck, Kritik und Krise, Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 7. Auflage, Frankfurt am Main 1992, S. 133. 38 Vgl. ebd. und auch Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Die Krise des modernen Naturrechts ( 1956), Frankfurt am Main 1977, S. 263ff. Zum Krisenbewußtsein der Moderne bei Max Weber vgl. auch Lothar Waas, Max Weber und die Folgen, Die Krise der Moderne und der moralisch-politische Dualismus des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main und New York 1995. 39 Rousseau, 4. Briefan Malesherbes, Schriften, Band I, S. 491. 40 Ders., PD, Schriften, Band I, S. 40.

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Dinge hat Euch der in kleinen Dingen so furchtbare Geist der Galanterie gekostet?"41 Der alte Staat und die alte Gesellschaft hatten sich überlebt. Ließ Rousseau Augen und Verstand über diese schweifen, so blieb wenig übrig vom hellen Licht, das den Menschen .,aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" hätte herausfUhren können. Stattdessen zeichnete er ein "verhaßtes Gemälde"42 seiner Gegenwart, in der er die Redlichkeit nicht länger einen Abkömmling dieses Zeitalters nannte, sondern vielmehr .,eine Tochter der Unwissenheit"43 . Daß, wer sich weigere, "dem Geist seines Jahrhunderts nachzugeben", "in Armut und Vergessenheit sterben" werde44 , konnte ihn nicht vor diesem Urteil zurUckschrecken. Obwohl fast einhundert Jahre nach Rousseau geboren, kannte Alexis de Tocqueville jene Sitten- und Zeitgemälde der Rousseauschen Ära aus vielerlei Quellen. Niemand anderer als sein eigener Vater, Herve de Tocqueville, war der Verfasser einer "Histoire philosophique du regne de Louis XV"45, ein Buch, das erst zwölf Jahre nach Alexis de Tocquevilles erster eigener Veröffentlichung, dem ersten Band der "Demokratie in Amerika", erschienen ist. Zum anderen war ja die Analyse der politischen Zustände dieser Ära genau auch das Thema seiner eigenen Studien in "L'Ancien Regime et Ia Revolution" gewesen. Tocquevilles These, wonach die Revolution nur zum Abschluß brachte, was ursprUnglich letztendlich selbstzerstörerisches Werk des aufgeklärten spätabsolutistischen Staates vor 1789 gewesen war, war ja zugleich auch eine These, die den desolaten Zustand desjenigen nachrevolutionären Frankreichs begreiflich macht, in dem Tocqueville 1850 sein Buch veröffentlichte. Die Revolution war gescheitert und - nicht nur in Paris, sondern auch überall in Europa - in eine restaurative Despotie zurUckgefallen, die fortan und lebenslang Tocquevilles wissenschaftliches Thema abgeben sollte. Rousseau hatte den rationalistischprojektierenden Geist der Zeit noch als ein politisches Allheilmittel verteufelt, Tocquevilles Kritik galt bereits einem Rationalismus, der sich etwa in der Staatsverwaltung und Rechtsprechung längst verfestigt hatte. Die Grunderfahrung der Modeme kann bei Tocqueville als eine Verlängerung der Analyseergebnisse Rousseaus gesehen werden, auch wenn die äußerlichen Umstände der politischen Lage sich merklich verändert hatten. Seine existentielle Situation empfand Alexis de Tocqueville denn auch vor einem ähnlich düsteren Hintergrund: Sein Leben spielte sich vor ganz ähnlichen gesellschaftlichen und politischen Kulissen ab, vor denen sich auch Stendhals Lucien Leuwen bewegte, der 41 Ebd., S. 50. 42 Ebd., S. 43. 43 Ebd., S. 44. 44 Ebd., S. 50. 45 Vgl. Herve Bonaventure de Tocquevil/e, Histoire philosophique du regne de Louis

XV, Paris 1847.

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Protagonist jenes Romans, der vielleicht wie kein anderer die politische Gesellschaft Frankreichs in der Juli-Monarchie des BUrgerkönigs Louis-Philippe portraitierte. Korruption, Bespitzelung und die Bourgeoisierung der Regierung kennzeichneten ein "verlogenes Zeitalter"46, "das mit der Heuchelei einen Ehekontrakt eingegangen zu sein"47 schien, in dem die Rothschilds "die Minister machten"48, und das vom großen Streit, "der das 19. Jahrhundert trübt(e)", geprägt war: der "Erbitterung des Ranges gegen das Verdienst"49. "Wie schmutzig muß man sein, um in dieser korrupten Welt leben zu können?", fragt sich Leuwen, und wie der junge Unterleutnant und spätere Geheimsekretär im Regiment Louis-Philippes lebte Tocqueville ein bedrohtes Leben in einem ungewissen Übergangszeitalter "zwischen verrUckten Legitimisten, die die Vergangenheit liebten, und verrUckten Republikanern, die die Zukunft liebten".~0 An Henry Reeve schrieb er am 22. März 1837: "L'aristocratie etait deja morte quand j'ai commence a vivre et Ia Democratie n'existait point encore."51 In dieser Zeit "geistiger Heimatlosigkeit"52, in der "man nicht sicher war, ob es zwischen der Einladung und dem Essen zu einer Revolution kommen würde ..." 53 , hatte er, wie schon Madame de Sta~l das Gefllhl, "den Boden unter den Füßen zu verlieren"54, wie Hector Berlioz wurde er von "inneren Stürmen"55, vom "Gefllhl der Leere und der Qual", heimgesucht, wie er dies seinem Freund Gustave de Beaumont und auch dem Bruder Edouard gegenüber ausgesprochen hatte. 56 Genauso litt Max Weber an seiner Zeit, an der "geheimen Qual des modernen Menschen" 57 und hegte dUstere Visionen fllr die Zukunft. Weder ein Schlaraffenland, noch eine "geptlasterte Straße dahin" 58 und auch "nicht das Blühen 46 Vgl. Stendhal ( 1855), Lucien Leuwen, Edition Langen/MUller 1921-24, nachgedruckt, Zürich 1981, S. 292. V gl. auch M. Guerin, Amour et politique dans "Lucien Leuwen", Lendemains, Nr. 45, 1987, S. 71-84. 47 Vgl. Stendhal, Lucien Leuwen, S. 183. 48 Vgl. ebd., S. 376. 49 Vgl. ebd., S. I 80. 50 Stendhal zitiert nach Roger Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville, History of Political Thought, Band II, I 981, S. 499. 51 Tocqueville, Briefan Henry Reeve vom 22. März 1837, OC, Band VI, S. 38. 52 R. Boesche. The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville, lthaca und London 1987, s. 28. 53 Tocqueville, Erinnerungen, S. 68. 54 Vgl. R. Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville ( 1987), S. 3031. 55 Ebd., S. 36. 56 Vgl. Tocqueville, Briefan Gustave de Beaumont vom 5. September 1843, OC, Bd. VIII und Brief an Edouard de Tocqueville vom 2. November I 840, OC, Bd. VI. S. 204. 57 Weber, WuG, S. 348. 58 Vgl. ders., Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins fiir Sozialpolitik, GASS, S. 420.

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des Sommers liegt vor uns", lautete seine prominente Prognose ftir die Zukunft, "sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis."59 Obwohl ein ganz anderer Geist der Zeit durch die Gassen wehte, hegten Weber, Tocqueville und vor ihnen Rousseau die schmerzliche Gewißheit eines tiefgreifenden Verlustes kultureller Werte, der sich bei Rousseau schon in den Anfangspassagen des ersten Discours äußerte, bei Tocqueville gleich zu Anfang seiner "Demokratie in Amerika" in den Sätzen gipfelte: "Wir haben das Gute preisgegeben, das der frühere Zustand bieten mochte, ohne das Brauchbare zu gewinnen, das der jetzige Zustand gewähren könnte; wir haben eine aristokratische Gesellschaft zerstört, und während wir uns selbstzufrieden in den Trümmern des alten Gebäudes aufhalten, scheinen wir filr immer darin verharren zu wollen. Nicht weniger kläglich ist, was in der geistigen Welt vor sich geht."60 Und Max Weber schrieb schon 1892 in seiner Landarbeiterenquete, als er sich auf das Ende der patriarchalischen Arbeitsverfassung in Ostelbien bezieht: "Bedrohlich aber ist die Entwicklung deshalb, weil sie Bestehendes zerstört, ohne Gleichwertiges an die Stelle zu setzen." 61 Zur Charakterisierung seiner Lebenssituation wählte er 1919 ein fiir ihn ungewöhnlich expressionistisches und gleichzeitig dem Tocquevilleschen nah verwandtes Bild, das jedoch genauso gut Charles Baudelaires "Fusees"62, jenem lyrischen Totentanz und Abgesang der modernen Zivilisation, entnommen sein könnte, bei dem Weber allzu häufig gedankliche Anleihen machte: "Riesige Schuttmassen, von zahllosen zertrümmerten Götter- und Götzenbildern; im Bau liegen gebliebene Lebensstraßen und verlassene und verfallene Behausungen, in denen ich Zuflucht suchte und nicht fand - jeder Ausblick vom Horizont versperrt... (Noch) vor das verschüttete Tor... (waren) Riegel gelegt, so daß kein Ausblick und kein - sagen wir: kein eingestandener Wunsch nach jenseits reichte."63 Alle drei, Weber, Tocqueville und Rousseau, sehen unsichtbare Mächte am Werk, die diese Akte der Zerstörung hinterlassen haben. Ihr Anblick legte eine "Dunkelheit über den Geist"64 des modernen Menschen und ließ auch die Züge Webers, Tocquevilles und Rousseaus von einer "Wolke überschatten"65 • Tocqueville spricht von einer unaufhaltsamen "Umwälzung, die seit so vielen Ders., GPS, S. 547. Tocquevi/le, ÜdDiA I, S. 13. 61 Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Leipzig 1892, S. 794. 62 Charles de Baudelaire, Fusees, Oeuvres completes, hrsg. von C. Pichois, Band I, Paris 1975, dt. Übersetzung: Raketen, in: Mein entblößtes Herz, Tagebücher, hrsg. von Friedhelm Kemp, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1995. 63 Notiz Webers vom I. Februar 1919, in: Max Weber, Werk und Person, hrsg. von Eduard Baumgarten, Tübingen 1964, S. 675. 64 Tocqueville, DaSudR, S. 137. 65 Ders., ÜdDiA Jl, S. 153. 59

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Jahrhunderten über alle Hindernisse hinweg voranschreitet und die wir heute inmitten der von ihr selbst verursachten Ruinen vorrücken sehen."66 Sie hat ". ..alles, was ihr im Wege stand, umgeworfen, und was sie nicht zerstörte, zum Wanken gebracht."67 Für Weber ist die Zerstörung ebenso allgegenwärtig. Im Zeitalter der Modeme, lenken die "kalten Skeletthände der Vemunft"68 den "ungeheuren chaotischen Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt"69 hinein "in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur"70, schreibt er. Die "rosige Stimmung der Aufklärung" ist "endgUltig im Verbleichen"71 • Der Strom entwickelt eine gewaltige Kraft72 und überflutet alle Ufer. Tocqueville gebraucht ein ähnliches Bild. Von diesem "rasch fließenden Strom dahingetrieben, bleibt unser Blick hartnäckig an ein paar Trümmerresten haften, die man am Ufer noch sieht, während die Strömung uns mitreißt und uns rücklings dem Abgrund zuträgt."73 Seine Verzweiflung mündet in seiner Sehnsucht nach Ordnung und Stabilität, die ihn vor allem angesichts des nicht enden wollenden politischen Chaos Frankreichs ergreift. Obwohl Tocqueville den unheilvollen Hafen, dem Frankreich entgegenflihrt74 , zu kennen glaubt, schreibt er in seinen "Erinnerungen" filr das Jahr 1830: "Ich bin es müde, immer wieder trügerische Nebel filr das ersehnte Ufer zu halten, und frage mich, ob es denn festen Grund und Boden, den wir so lange suchten, überhaupt gibt, oder ob es nicht eher unser Schicksal ist, ewig auf offenem Meere zu treiben!" 75 Er beschreibt ein apokalyptisches Inferno und appelliert emphatisch an die Zerstörerische Macht die-

Ders., ÜdDiA I, S. 9. Ebd., S. 13. 68 Weber, GARS I, S. 61. 69 Ders., Zur »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, GA WL, S. 241. Die Metapher des reißenden Stromes wird von Weber schon zu Beginn des Objektivitätsaufsatzes gebraucht: "Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung fiir uns erhält, "historisches Individuum" wird." (ebd., S. 184). Dieses Bild ist für Weber neben seiner Eigenschaft als Sinnbild einer kulturwissenschaftlichen Erkenntnissituation auch Symbol einer chaotisch, sich jeglicher Ordnung entziehenden modernen Welt. 70 Ebd., S. 213. 71 Ebd., S. 204. 72 Der alles mitreißende Strom, an dessen Ufern der Mensch als ohnmächtiger Zuschauer steht, diente innerhalb der politischen und philosophischen Literatur des 19. Jahrhunderts häufig als Metapher ftir die Moderne. Vgl. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Paradigma einer Daseinsmetapher, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1993. 73 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 9. Vgl. auch die Ufer-Metaphorik in Rousseaus PD, S. 50. 74 Ders., ÜdDiA I, S. 360. 75 Ders., Erinnerungen, S. 114. 66

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ser Umwälzung: "Bemerkst Du nicht, daß dies die Wasser der Sintflut sind? Siehst Du nicht wie sie durch langsame und unwiderstehliche Anstrengung unaufhaltsam näherkommen? Schon überfluten sie die Felder und Städte, sie überschwemmen die zerstörten Festungsanlagen der Schlösser und umspülen schon die Stufen der Throne. Anstatt machtlose Deiche herbeizuwünschen, laß' uns lieber versuchen, die heilige Arche zu errichten, die die menschliche Art auf diesem endlosen Ozean trägt."76 Max Weber "brandete" dieser "Gang von Menschheitsschicksalen" genauso "erschütternd an die Brust"77 wie Tocqueville. Ihm wie Tocqueville ist der Prozeß der Modeme eine Flutwelle, die alles mit sich reißt. Kulturideale und traditionelle Werte werden zu Ruinen zertrümmert, an deren brUchigem Gestein kein Halt mehr möglich ist. Mit solchem Pathos ist die Stoßrichtung Weberscher, Tocquevillescher und Rousseauscher Grunderfahrung der Moderne gegeben. Max Weber, Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau erlebten die grundstürzende Veränderung ihrer Zeit in apokalyptischen Bildern. In der Analyse aller drei fiillt die "Dialektik der Aufklärung" 78 recht deutlich zuungunsten der Modeme aus, und allesamt akzentuieren viel vehementer deren Nachtseite als die verheißungsvoll-zukunftshoffenden Züge. Für sie, um Goyas ebenso berühmtes wie viel zitiertes Motiv aufzunehmen, erzeugt der Traum der Vernunft, und nicht ihr Schlaf, das Unheilvolle. Der Rezeption erscheinen Weber, Tocqueville und Rousseau - wohl aufgrund solcher Szenarien - als "Unheilsverkünder"79 und Philosophen des Niedergangs. Welche historischen, politischen oder grundsätzlich kulturpsychologischen Erfahrungen stehen jedoch hinter den Analyseergebnissen, wie sie an den erwähnten Textstellen zum Ausdruck kommen? Was ist es, was so heftig an Webers Brust brandete, Tocqueville in einer Art religiösen Erschauems befiel und Rousseau so bestürzt zu Tränen rührte? Welche Strukturmerkmale hat diese Epoche so nachhaltig beeinflußt, ihr düsteres Gesicht verursacht, welche Triebkräfte haben die Modeme in ihrem "So-und-nicht-anders-Gewordensein"30 geprägt?

76 Diese Passage stammt aus einem Konzeptblatt Tocquevilles. Sie ist zitiert nach James T Schleifer, The Making of Tocqueville's Democracy in America, Chapel Hili, North Carolina 1980, S. 264. J. T. Schleifer hatte flir seine Arbeit Zugang zu noch immer unveröffentlichten Tocqueville-Beständen, die sich im Besitz der Yale University befinden. 77 Weber, PE I, S. 23. 78 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufldärung, Frankfurt am Main 1971. 79 Vgl. Dirk Käsler, Politik, diese lebenslange, "heimliche Liebe" Max Webers, in: Politische Vierteljahresschrift, 35. Jahrgang, Heft I, 1994, S. 121. 80 Weber, Die »Objektivität« ... , S. 147.

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II. Die "Kulturbedeutung" von Kapitalismus und Bürokratismus (Weber), der Demokratie (Tocqueville) und des Rationalismus (Rousseau) In Webers sogenannter "Wissenschaftslehre" liegt der erste Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage, genauer im "Objektivitätsaufsatz" von 1904, dem die Thematik des "Geleitworts"81 -verfasst anläßlich des Wechsels der Herausgeberschaft des "Braunschen Archives" von Heinrich Braun an Max Weber, Wemer Sombart und Edgar Jaffe - in "prinzipiellerer Fragestellung" aufnehmenden Textes über die Eigenart der in Webers Sinne "sozialwissenschaftlichen Arbeit überhaupt" 82. Dort hatte Weber seinen Wirklichkeitsbegriff als den eines "sinnlosen, heterogenen Kontinuums" definiert, aus dem seine idiographischverstehende Kulturwissenschaft - "so wie er sie betreiben wollte" - ihren Gegenstand erst nach der notwendigen Voraussetzung der "Wertbeziehung" herauslösen kann. Die Wertbeziehung wiederum, so ftlhrte Weber aus, werde bestimmt durch den Gesichtspunkt der "Kulturbedeutung" einer Wirklichkeitserscheinung. Für sein Wissenschaftsprogramm vorrangig erkannte er nun " ...die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung der sozialökonomischen Strukturen des menschlichen Gemeinschaftslebens und seinen historischen Organisationsformen."83 Im "Geleitwort" aus demselben Jahr hatte der programmatische Charakter dieses kurzen Vorworts Weber noch stärker zur Konkretion gezwungen. Darin hatte er ausgefiihrt, daß er als das Hauptproblem seiner Zeit, dem sich als Untersuchungsgegenstand seine Zeitschrift hauptsächlich zu widmen habe, "die allgemeine Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung (hervorgehoben vom Verf.)"84 erachte. Neben dem fachmäßigen versachlichenden Bürokratismus war Weber diese die "schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens" 85 . Der kapitalistische "»Apparat« so wie er heute ist, und mit den Wirkungen, die er ausübt", habe, so Weber an anderer Stelle, "das geistige Antlitz des Menschengeschlechts fast bis zur Unkenntlichkeit verändert" und werde es weiter verändern. 86

81 Vgl. ders., Geleitwort (1904), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 19. Band, Tübingen 1904, S. 1-VII. 82 Ders., Die »Objektivität« ..., S. 147. 83 Ebd., S. 167. 84 Ders. , Geleitwort, S. 11-111. 85 Ders., Vorbemerkung, GARS I, S. 4. 86 Vgl. ders., Methodologische Einleitung für die Erhebungen des Vereins für Sozi-

alpolitik über Auslese und Anpassung (Berufwahl und Berufschicksal) der Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie, GASS, S. 60.

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Auch wenn es Weber nicht darum gegangen war, eine Theorie der Rationalisierung aufzustellen und zu illustrieren, war auch für ihn die kapitalistische Entwicklung nur eine, wenn auch ganz eigenwillig modifizierte Teilerscheinung der gesamten, in den einzelnen Lebenssphären sich so ambiguos gestaltenden Entzauberung der Welt, die filr ihn ja das eigentliche Schicksal der Zeit war87, wie sie sich in allen Lebensbereichen, auch den spezifisch irrationalen, allerdings in ganz unterschiedlichen Richtungen verlaufend und sich an ganz verschiedenen letzten Gesichtspunkten orientierend, schrittweise durchgesetzt hatte. Dieser Hinweis ist deswegen so wesentlich, weil für Weber die eigentlichen Konsequenzen der Modeme zwar aus Problemkomplexen entstammten, wie er sie so vorrangig anhand der Illustrationsobjekte des Kapitalismus und Bürokratismus vorstellte, er aber genauso gut wußte, daß diese historisch-geistigen Strukturzusammenhänge in ihrer Wurzel zu allererst aus der modernen Revolution des Denkens überhaupt entwachsen waren, wie sie das Ende von theologischer Transzendenz und wissenschaftlicher Metaphysik betrieben hatte. Beide Strukturzusammenhänge erfasste er als Abbilder rationalistischer Entwicklung: den Kapitalismus als ökonomischen Rationalismus, den Bürokratismus als Kulturerscheinung, die sich daraus entfaltete. Die zeitprägende kulturelle Potenz, die in Tocquevilles Analyse die größte Kulturbedeutung in seiner Epoche erreichte und in seinem Denken die Stelle einnahm, die bei Weber mit den rationalistischen Ausläufern des Kapitalismus und Bürokratismus besetzt ist, war die moderne Demokratie oder vielmehr, was er darunter verstand: die Gleichheit. In der Einleitung zur "Demokratie in Amerika" fiihrte er aus: "In dem Maße, wie ich die amerikanische Gesellschaft studierte, erkannte ich daher immer mehr die Gleichheit der Bedingungen als die wirkende Ursache, aus der jede einzelne Tatsache hervorgeht, und ich sah sie ununterbrochen vor mir wie einen Mittelpunkt, in den alle meine Beobachtungen einmtindeten."88 Doch während Max Weber spätestens durch seine Kasuistik von "Wirtschaft und Gesellschaft" keine Bedenken darüber entstehen ließ, was er unter dem Etikett "Kapitalismus" verhandelte89 , hat Alexis de Tocqueville seinem so zentralen Begriff der Demokratie in seinem gesamten Werk nicht einmal eine eindeutige Definition zukommen lassen. Dies hat dazu ge-

Vgl. ebd., S. 61. Tocqueville, ÜdDiA I, S. 5. 89 ... nämlich die auf "friedlichen Erwerbschancen beruhende", "bilanzierende" "rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit". Vgl. Weber, GARS, S. 4-7. "Was den »Kapitalismus« selbst anbelangt, so kann darunter nur ein bestimmtes Wirtschaftssystem, d. h. eine Art des »ökonomischen« Verhaltens zu Menschen und SachgUtem gelten, welches »Verwertung« von »Kapital« ist und welches in seiner Gebarung von uns »pragmatisch«, d. h. durch Feststellung des nach der typisch gegebenen (objektiven) Sachlage »unvermeidlichen« »besten« Mitteln analysiert wird ... " Weber, PE II, S. I 07( 87 88

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filhrt, daß schon George W. Pierson allein sieben oder acht verschiedene Bedeutungen90 in Tocquevilles Demokratiebegriff auszumachen glaubte. 1957 hat Eberhard Fabian versucht, das Rätsel um den Begriff durch eine "Wortgeschichte"91 zu lösen, ein Versuch, der jedoch nicht ilber G .W. Pierson hinauskam, da er im Grunde genommen nur dessen primäre DemokratieÄquivalente - politische, zivile, soziale und ökonomische Gleichheit - wiederholte. James T. Schleifer hat in seiner Tocqueville-Studie die bisher überzeugendste Lösung des Problems vorgelegt: Auch er entwickelte zunächst jenes Blinde! begrifflicher Konnotationen, die bei Tocqueville von Fall zu Fall zu wählen sind, erkannte jedoch gleichzeitig, daß Demokratie filr Tocqueville immer ein Begriff der Gleichheit ist- gedacht nicht im politischen Sinn, sondern als "etat social"92 • In diesem Bedeutungsrahmen hat Tocqueville Begriffe wie "lois politique", "Je peuple", "l'egalite", "Je sentiment de l'egalite", "le mouvement"93 und auch den Begriff "etat social" selbst mit Demokratie gleichgesetzt.94 Die Begriffsverwirrung scheint indessen unverständlich, denn es läßt sich eindeutig erschließen, was Tocqueville gemeint hat. Zunächst ist wesentlich, Demokratie in Gleichheit zu übersetzen, wie dies Tocqueville in seinem allerersten Satz in der "Demokratie in Amerika" selber tut95 - als das diesem Herrschaftstyp einhergehende soziale Konstitutionsprinzip. "Gleichheit" wird jedoch fehlgedeutet, wird sie politisch aufgefaßt. Tocqueville spricht nicht von der politischen Herrschaftsform des Volkes, sondern von der Demokratie als einem Gesellschaftszustand, einem sozialen Zustand eines Volkes in der Gleichheit, und zwar in der "Gleichheit der Bedingungen" (egalite des conditions)96 • Warum aber ist es gerade die Gleichheit, die Tocqueville als demokratisches Urprinzip anderen Merkmalselementen fast durchgehend vorzieht? Die Antwort filhrt in Webersehe Nähe. Es lohnt, auf zwei Begriffsqualitäten von Tocque90 Vgl. George W. Pierson, Tocqueville and Beaumontin America., New York 1938, S. 757 und S. I 58, Anmerkung 2. 91 Vgl. Eberhard Fabian, Alexis de Tocquevilles Amerikabild, Heidelberg 1957. S. I 13. Tocqueville hat mit "Demokratie" nicht einfach die "Revolution" gleichgesetzt, wie lmanuel Geiss zu erkennen glaubte. Tocqueville hat zum einen einen klaren Revolutionsbegriff parallel zum Demokratiebegriff entwickelt, also in der Wortwahl zu differenzieren gewußt, zum anderen verbaut Geiss einseitige "revolutionäre" Stigmatisierung des Demokratiebegriffs jegliche variierende Bedeutung, die der Begriff bei Tocqueville von Fall zu Fall annimmt. Vgl. /. Geiss, Einleitung, in: Tocqueville und das Zeitalter der Revolution, Werk- und Briefauswahl, hrsg. von I. Geiss, München 1972, S. 27 und 28. 92 Vgl. J. T Schleifer, S. 263-274. Zur sozialen Demokratie bei Tocqueville vgl. auch Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 17. 93 So gleich zu Beginn der ÜdDiA I, S. 8. 94 Vgl. J. T Schleifer, S. 273. 95 Vgl. Tocquevil/e, ÜdDiA I, S. 5. 96 Vgl. E. Fabian, S. 30.

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villes moderner Demokratie hinzuweisen, die aus dem Webersehen Fundus stammen könnten und die für Tocquevilles Verständnis essentiell werden. Ob in der "Protestantischen Ethik" oder in "Wirtschaft und Gesellschaft": Für Weber teilte sich die menschliche Herrschaftsgeschichte - idealtypisch betrachtet - bekanntermaßen in die Trias charismatischer, traditionaler und rationaler Abschnitte, die sich historisch vor allem im adäquaten Geist eines "ganzen Menschentums" niederschlugen. Dabei ist die rationale Entwicklung für Weber immer auch eine rationale Durchgestaltung der Lebensführung, die traditionalen Formen entgegensteht, oder, um es strukturalistisch zu wenden: Traditionalismus/Rationalismus nehmen in Webers Denken den Platz einer elementaren "binären Opposition" ein, also eines primär logischen Begriffspaars, über welches die objektive Realität interpretiert wird. Rationalismus ist für Weber daher immer zugleich Antitraditionalismus. 97 Mit diesem Schlagwort und dem des reinen Typs der legal-gesatzten und daher egalitaristischen rationalen Herrschaft ist der Demokratiebegriff Tocquevilles zu greifen 98, der im übrigen von Tocqueville durchgängig fllr die moderne Gesellschaftverfassung schlechthin steht und nicht ftlr einen näher spezifiziertes Einzelbeispiel einer staatlichen Konstitution. Zwar beginnt fiir Weber mit dem Typ der traditionalen Herrschaftsordnung die Phase, in der von jeher geltende Tradition, also gewissermaßen Gewohnheit, als legitimationsstiftender Faktor die Stelle des ursprüngli-

Vgl. Weber, PE I, S. 49f. Weber beschreibt zwar in der PE I (S. 49) in seinem Beispiel des präkapitalistischen Verlegers, daß sich Traditionalismus und Kapitalismus bzw. Rationalismus nicht ausschließen müssen, woraus gefolgert werden könnte, daß beide Begriffe filr ihn keineswegs ein Gegensatzpaar bildeten. Dennoch aber sind sie als in Gegensatz zueinander stehend zu lesen und von Weber auch so gebraucht. Denn aus dem Blickwinkel von Webers und Tocquevilles zentralem Thema des Prozesses der "Entethisierung" der Welt wird das ansonsten die Herrschaftssoziologie dominierende Gegensatzpaar. Charisma und Tradition und Rationalismus, das am Thema der Alltäglichkeit bzw. Außeralltäglichkeit entstand, mindestens ergänzt von demjenigen Begriffspaar, das Weber die Diskrepanz zwischen persönlicher und versachlichter Herrschaftsbeziehung ausdrückt, nämlich demjenigen von Tradition und Rationalismus. Genauso und andererseits ist die Tocquevillesche Demokratie (wie der Webersehe Kapitalismus) auch in Betonung des Moments ihres anti-charismatischen Charakters zu greifen. Zwar ist die moderne, versachlicht-gesalzte kapitalistische Herrschaftform der Massendemokratie extrem "veralltäglicht". Und es ließe sich argumentieren, daß dies schon flir die traditional-patriarchalische Herrschaftsform zutriffi, daß schon diese eine bereits veralltäglichte, auf Gewohnheit beruhende, also anti-charismatische Struktur beschreibt. Dennoch ist über den Charismabegriff bei Tocqueville gerade wegen seines zent~~llen Interesses am Seelenschicksal des modernen Menschen viel zu gewinnen, soll der Ubergang von primär ständisch verfasstem "alten Staat" zum modernen, über seine Legalität legitimiertem Verfassungsstaat erfasst werden. Mit dem Eintritt in den "gesatzten Zustand" der Staatsverfassung, das ist die Tragödie für Weber wie Tocqueville, wird nun das Charisma endgültig und gänzlich eliminiert, während es in der traditionalen aristokratischen Epoche immerhin noch in Residuen, etwa innerhalb der ständischen personalen Beziehungen, zum Vorschein kommt. 97 98

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chen außeralltäglichen Charismas besetzt, doch ist dabei entscheidend, daß die rationale Herrschaftsordnung diese Veralltäglichung in einem Grade fortftlhrt, der das Charisma endgültig zu seinem Ende bringt. Bei beiden, bei Weber und Tocqueville, kommt ein weiteres hinzu: der absolut anti-charismatische Grundzug der legal-gesatzten modernen Herrschaftsordnung. Der jedoch bildet gleichzeitig das andere wichtige Chrakteristikum, welches Webers rationalistischer Kapitalismus- bzw. Bürokratismusbegriff und den der Tocquevilleschen Demokratie verbindet. Wesentlich ist also, die Tocquevillesche Gleichheit zwar als "Ausdruck gesellschaftlicher Beschaffenheit"99 zu erfassen, in erster Linie jedoch im Sinne eines antitraditionalistischen und gleichzeitig anticharismatischen rationalistischen Kontrastbegriffs zur Aristokratie, zu ihrer ständischen Sozial- und Werteordnung und vor allem - und das gilt genauso fiir Weber- zu dem ihr korrespondierenden gesellschaftlich-sittlichen Zustand. Insofern ist er nicht unpräzise oder vieldeutig definiert, sondern als Kontrastbegriff ganz einfach so vielgestaltig, wie es die unterschiedlichen Auswirkungen und subjektiven Erfahrungen der Demokratie sind: fiir die einen ein "schimmernder Traum", fiir die anderen ein Synonym fiir "Umsturz, Anarchie, Raub und Mord". 100 Das erst erklärt, warum Tocqueville sich nicht festgelegt hat: Modeme Demokratie und Gleichheit sind fiir ihn Sammelbegriffe filr all das, was nicht mehr aristokratisch, also traditionalistisch ist, aber genauso fiir das, um in Webers Terminologie zu bleiben, was charismatische Qualitäten vollends eingebüßt hat. Mit der Kennzeichnung von Tocquevilles Demokratie als Webersehern Antitraditionalismus und Anticharismatismus wird schließlich das wichtigste Zentrum der inhaltlichen Verwandtschaft Webers und Tocquevilles evident. Es besteht in der gemeinsamen Sensibilität für jenes universale Thema der kulturellen Problematik des Umbruchs von einem anti-rationalistischen personalen Traditionalismus zu einem rationalistischen, depersonalisierten und anti-charismatischen Antitraditionalismus.1 °1

99 Vgl. Raymond Aron, Die politischen Ideen und die historische Vision Alexis de Tocquevilles, in: Ders., Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Band I, Köln 1965, 300-304. 100 Vgl. Tocquevi/le, Brief an Eugene Stoffels, OC, Band V, S. 427-428, zit. nach Alexis de Tocqueville, Autorität und Freiheit, Schriften, Reden und Briefe, ausgewählt und eingeleitet von Albert Salomon, Zürich 1935, S. 189. 101 Diese Auffassung korreliert mit Tocquevilles Geschichtsperspektive: Die französische Geschichte, so wie er sie in "Der alte Staat und die Revolution" geschrieben hat, ist für ihn die Geschichte des Übergangs von der Aristokratie zur Demokratie. Er zeigt, wie unerheblich die Zäsur des politischen Ereignisses der französischen Revolution selbst war, und beschreibt eine soziale Umwandlung, die bereits, wenn auch mit unterschiedlicher Stoßkraft und Richtung, alle Lebensbereiche des Ancien Regime durchdrungen hatte. Diese Umwandlung des gesamten Lebens wird ihm zum Erscheinungsbild der Demokratie schlechthin. In der Erfassung seiner alles erfassenden Virulenz wird

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Jean-Jacques Rousseau schließlich hat als das folgenreichste und weittragendste Movens der abendländischen Geistesgeschichte ebenfalls das sich rasant entwickelnde und alles durchdringende rationalistische und intellektualistische Denken - gerade im zeitgemäßen Gewand eines fortschrittsfrohen Szientismus102 - gesehen. "Ich habe gefunden, daß so gut wie keine Ungleichheit im Stande der Natur stattfinde", und "daß ihre Kraft so wie ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer Vermögen und aus dem Fortgang des menschlichen Verstandes entspringe ... " 103, schrieb er an prominenter Stelle im zweiten "Discours". Er beendete mit diesem Satz - um Otto Vosslers Metaphorik zu

es Webers Rationalismus-Topos greifbar ähnlich. Auch dieser beschreibt eine historische Entwicklung, die sich universal in allen Lebensbereichen wiederum mit unterschiedlicher Intensität und Richtung durchsetzt. Die Größe von Tocquevilles "Der alte Staat und die Revolution" liegt nicht so sehr, wie vielfach behauptet wurde, in der Herausarbeitung der These, daß die Revolution einen vor 1789 schon weitgehend abgeschlossenen Prozeß nur noch besiegelt hat - eine Beobachtung, die im übrigen Hannah Arendt in ihrer Revolutionstheorie verarbeitet hat (vgl. dies., Über die Revolution, 4. Auflage, München 1994 und dies., Crisis of the Republic, Harmondsworth 1973, S. 116f.). Mindestens genauso wiegt Tocquevilles Meisterschaft, den säkularen Umbruch der Moderne historisch von einer politischen Ereignisgeschichte entkoppelt und ihn in allen gesellschaftlichen und kulturellen Teilbereichen als langfristigen Wandlungsprozeß ausgewiesen zu haben, in dem Rationalisierungen in verschiedenen Richtungen antitraditionalistisch und anti-charismatisch verliefen - ohne dabei in eine demokratische Geschichtsphilosophie zu verfallen. Im übrigen ist der von Erich Angermann aufgestellte Gegensatz der beiden zentralen Themen Tocquevilles und Webers- Gefährdung der Freiheit hier durch vereinzelnde Individualisierung in der modernen Gesellschaft, dort durch einen gesellschaftlich virulent werdenden Rationalismus - nicht zu halten, sondern vielmehr ein im Kern aus derselben Wurzel wachsendes Phänomen. Denn zum einen anerkennt auch Tocqueville in der weltläufig nivellierenden ratio den ursprünglichen Autoren aller sozialer Atomisierung, und zum anderen war Max Weber der Weg von einer puritanischen, Brüderlichkeit stiftenden politischen Ethik hin zum eisenummäntelten materialistischen Individualethos mehr als nur vertraut. 102 Die vielleicht am eindrücklichsten erscheinende Textstelle im Werk Rousseaus, die dessen Kritik am wissenschaftsgläubigen Geist seiner Zeit so schlagend illustriert, findet sich in seinen "Bekenntnissen": 1756 bekommt Rousseau vom Grafen de Saint Pierre den Wunsch angetragen, die Herausgeberschaft verstreuter Manuskripte von dessen Großvater, dem ansonsten von Rousseau sehr geschätzten Abbe de Saint Pierre, zu übernehmen. Enttäuscht muß er bei der Durchsicht feststellen, daß die politischen Pläne des Autors .,unausfllhrbar gemacht waren durch jene dem Verfasser stets unerschütterlich anhaftende Vorstellung, daß sich die Menschen eher von ihrer Einsicht als von ihren Leidenschaften leiten ließen." Und weiter heißt es: "Die hohe Meinung, die er von den neuen Entdeckungen der Wissenschaft gefaßt, hatte ihn jenes falsche Gesetz von der sich immer vervollkommnenden Vernunft annehmen lassen." Die Lehre des Abbes, obwohl er selbst ihm "eine Zierde seines Jahrhunderts'· bleibt - für Rousseau war sie doch "Quelle all seiner politischen Trugschlüsse" (ders., Bekenntnisse, S. 590). Schon drei Jahre zuvor, in seiner "Vorrede zu »Narcisse«" spricht Rousseau von den "Vorurteilen meines Jahrhunderts", durch die auch er einst ,.verfuhrt·' war (vgl. ebd., S. 150). 103 Ders., DD, S. 265.

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übernehmen -"Protest und Zerstörung" 104, bevor er sich an den "Neuaufbau" 105 machte. Die Entwicklung der menschlichen Vernunft war es, die fiir ihn die große und folgenreichste geistesgeschichtliche Prägekraft auf dem Weg zur illegitimen zivilisatorischen Ungleichheit abgab. Und schon in jenen berühmten ersten Zeilen des "Premier Discours", in denen Rousseau im Stil einer captatio benevolentiae gegenüber den Herren der Akademie von Dijon von jenem großen und würdigen "Schauspiel" sprach, "den Menschen zu sehen, wie er sich Uber sich selbst erhebt; sich mit dem Geiste bis in die Himmelsgegenden schwingt und gleich der Sonne mit Riesenschritten den unermeßlichen Raum des Weltalls durchwandert und, was noch größer und schwerer ist, in sich zurückkehrt, um daselbst den Menschen kennenzulernen und seine Natur, seine Pflichten und seine Bestimmung zu untersuchen ..." 106, wurde dies deutlich, denn er nannte auch hier - trotz aller schmeichelnder Rhetorik - beim Namen, was er als großen, die Zeit bewegenden Faktor der menschlichen Zivilisation seit der Renaissance und dem Ausgang des Mittelalters erfasst hatte, als Europa "in die Barbarei der ersten Zeit zurUckgefallen" 107 war: "das Licht seiner Vernunft", durch welches der Mensch die Finsternisse zerteile, "mit welchen er von Natur umgeben". Im Verlauf der Entfaltung seiner Thematik wird bei Rousseau ersichtlich, daß er im Unterschied zu Weber und Tocqueville das Phänomen weitaus weniger an den auch schon zu seiner Zeit deutlich identifizierbaren Strukturen in Politik und Wirtschaft oder Gesellschaft problematisierte - also etwa am merkantilistischen Wirtschaftssystem, an der wuchernden Bürokratisierung des vorrevolutionären französischen Staatsapparats oder dem schleichenden Entzug ständischer Privilegien, wie sie ihm vor allen Dingen eine stetig steigende fiskalische Besteuerung den Weg geebnet hatte- sondern glaubte, erstmals und in der Geistesgeschichte der Aufklärung geradezu revolutionär, "bis zur Wurzel graben zu mUssen" 108 : Sein Fragen galt radikal der gesamten anthropologischen Entwicklung des Menschen aus seiner Natur heraus, wie sie sich unter dem Diktat einer alles durchdringenden ratio vollzogen hatte. 109 Die Darstellung der menschlichen Zivilisation als eines Prozesses an Zugewinn rationaler HandVgl. 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 50-97. Vgl. ebd., S. 98fT. 106 Rousseau, PD, S. 33. 107 Ebd. Dennis Porter hat zurecht gesehen, daß das Genre des "Premier Discours", dessen sich Rousseau bediente, das einer "genealogy•· oder "critical counterhistory" war, einer Gattung also, wie sie sich ihrer erst Friedrich Nietzsche wieder befleißigen sollte. Vgl. ders., Rousseau's Legacy, New York und Oxford 1995, S. 35f. 108 Rousseau, DD, S. 225f. 109 Vgl. dazu Werner Krauss, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung, hrsg.von Hans Korturn und Christa Gohrisch, Frankfurt am Main und Berlin 1987. 104 105

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lungskompetenz, wie er ihn im zweiten "Discours" entworfen hatte, lieferte ihm die Handhabe, erstmals innerhalb der Geschichte der Aufklärung "die Krise der Gesellschaft als ganzer zu konstatieren". "Die Zivilisation selbst und die Gesellschaft wurden in seinem Werk als ganze zum Gegenstand der Kritik" 110, schreibt Henning Ritter, und zwar ohne, daß Rousseau dabei einen Schuldigen benennen wollte, noch es überhaupt konnte. 111 Die Vernunft, die Rousseau als die prägende Kraft seiner Zeit am Werk sah, war nicht diejenige aristotelische, verantwortungsvolle des politisch-praktischen Handelns, sondern eine lineare, projektierende, instrumentell-funktionalistische und einseitig nutzorientierte, wie sie sich Francis Bacon schon 1627 filr seinen utopischen Staat "Nova Atlantlis" gewünscht hatte und wie sie in einer der meist gewählten Metaphern des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens der Zeit, der "Maschine", immer wieder - selbst in Rousseaus eigenen Texten! - zu ihrem prägnanten Ausdruck gelangte. "Der größte Fehler unseres Zeitalters ist die nackte Vernunft" 112, schrieb er im Emile. Es ist dies eine Vernunft, noch keine Spur "transversal" 113 , peristatisch, synthetisch oder selbstreflexiv, sondern übermütig-überheblich geworden durch ihren durchschlagenden Erfolg, den sie unzweifelhaft im Kampf gegen den Animismus und die Mythen der alten theologischen Wissenssysteme davongetragen hatte, eine Vernunft auch, die Rousseau als schädlich deswegen brandmarkte, weil sie in seinen Tagen längst die gedanklichen Gebäude ihrer Konstrukteure verlassen hatte und sich anschickte, die faktische politische und soziale Welt zu verändern. Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville und Max Weber erfassten die Erscheinungskomplexe von Rationalismus, Demokratie und Kapitalismus bzw. Bürokratismus nicht gerade mit warmer Sympathie 114, aber es läßt sich behaupten, daß alle drei-trotzmanch gehegter Ressentiments- "Vernunftmodernisten" waren 115, auf keinen Fall aber grundsätzliche Gegner der neuen Zeit, die in romantisch-restaurativer Attitude den Blick nur verklärend und "modernitätsVgl. H. Ritter, S. 13. Vgl. ebd., S. 15. M. Hulliung hat zuletzt darauf hingewiesen, wie entscheidend für Rousseaus historisch-zivilisatorische Untersuchungen die Vorarbeiten waren, die gerade Naturforscher wie Georges Louis de Buffon oder sensualistische Philosophen wie Etienne Bonnot de Condillac leisteten. Vgl. M. Hulliung, S. 156f. 112 Vgl. Rousseau, Emile oder über die Erziehung, hrsg. von Martin Rang, Stuttgart 1990, s. 653. 113 Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 3. durchgesehene Auflage, Weinheim 1991, S. 295. 114 Vgl. A. Salomon, Autorität und Freiheit, Einleitung, S. 15. 115 Tocqueville schreibt in einem nicht näher datierten "Memorial": "Ich habe flir demokratische Institutionen eine Neigung aus Verstand, aber ich bin Aristokrat aus Instinkt." (zit. nach Kar! Pisa, Alexis de Tocqueville, Prophet des Massenzeitalters, Eine Biographie, Stuttgart 1984, S. I 00). 110

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müde" (Jacob Burckhardt) rückwärts zu richten vermochten. 116 Dieser Vernunftmodemismus entspringt der von allen geteilten Einsicht, daß die rationalistischen Entwicklungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft allesamt nicht mehr aufzuhalten sind und allenfalls ihre Lenkung durch den Menschen noch zu beeintlußen ist. Wer sich dieser Einsicht verschließt, so hätte ihr Urteil lauten können, verspiele die Möglichkeiten, auf eine prinzipielle Frage nach den Chancen der Freiheit in der Modeme überhaupt noch eine Antwort geben zu können. In seiner zivilisatorischen Entwicklungsgeschichte des Menschen hin zur gegenwärtigen sittlich-moralischen Verderbnis hat Rousseau deshalb davon gesprochen und es dem klugen Staatslenker anheim getragen, lediglich auf die Verlangsamung des unabwendbaren Verfalls hinzuwirken. Ein Zustand, der eine zurückliegende Epoche bezeichnet, ist ihm unwiederbringlich dahin, eine reaktionäre Kehrtwende unmöglich. Das hat fiir die Gedankenwelt Rousseau die Konsequenz, daß die soziale, auch die politische Entwicklung irreversibel ist, die Welt der frühen "hommes naturelles" weit entrückt, der Weg, den die Vernunft beschritten hat, nicht umzukehren ist. Auch Tocqueville hat akzeptiert, daß die "Welt von gestern", wie Weber es an einer Stelle ausdrückt, unwiederbringlich dahin ist. In einem Brief an Louis de Kergorlay aus Calwell bei New York 1831 hat er das schon klar vor Augen. "Wir selbst, mein Freund, gehen einer unbegrenzten Demokratie entgegen. Ich sage nicht, daß dies ein guter Weg sei; im Gegenteil, was ich hier in diesem Land sehe, Oberzeugt mich, daß Frankreich schlecht damit fertig werden wird. Aber wir werden auf diesem Weg von einer unwiderstehlichen Gewalt vorwärtsgetrieben. Alle Anstrengungen, diese Bewegung zum Stehen zu bringen, werden höchstens Pausen verschaffen. (...) Die Weigerung, diese Konsequenz anzuerkennen, scheint mir eine Schwäche, und ich kann nicht umhin, daraus zu folgern, daß die Bourbonen, statt ihres Versuches, das sterbende aristokratische Prinzip bei uns eindeutig zu stärken, lieber mit allen Kräften daran hätten arbeiten sollen, ihr Interesse an Ordnung und Stabilität der Demokratie zu widmen."117 Die Demokratie ist ftlr Tocqueville so "unentrinnbar" und "unaufhaltsam" 118, weil sie ein "Werk der Vorsehung" 119, weil sie "Gottes Wil116 "Modernistisch" ist ein auch von Fritz K. Ringer gebrauchtes Attribut, das Weber vom großen Teil der deutschen Bildungs-"Mandarine'· des Kaiserreichs unterschieden hat, "Orthodoxe" zwischen Reaktion und Romantik im entfesselten lndustriezeitalter, die den Traum einer Restitution der ständisch-aristokratischen, vom "Volksgeist" durchtränkten Volksgemeinschaft noch nicht aufgegeben hatten (vgl. F. K. Ringer, Die Gelehrten, Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, München 1987, S. 120-133). 117 Tocquevi/le, Brief an Louis de Kergorlay, Ende Juni oder Anfang Juli 1831, in: Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, Eine Auswahl von Werken und Briefen, übersetzt und hrsg. von Siegfried Landshut 2. Auflage. Köln und Opladen 1967, S. 247. 118 Ders., ÜdDiA I, Vorwort zur 12. Auflage. S. 3.

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le" ist. Sie aufhalten zu wollen, "hieße ... gegen Gott selbst zu kämpfen" 120• Vielmehr gelte es, "sich mit dem gesellschaftlichen Zustand abzufinden, den die Vorsehung auferlegt." 121 Tocquevilles Losung flillt erbittert, aber nicht hoffnungslos aus: "Geben wir uns also jener heilsamen Furcht vor der Zukunft hin, die uns wachsen und kämpfen heißt", schreibt er, "und nicht jener weichlichen und untätigen Angst, die die Herzen bedrückt und sie betrübt." 122 Webers Einschätzung fällt ganz ähnlich aus. 123 Auch fiir ihn sind die kulturbestimmenden modernen Mächte mißliebige Umstände, unter denen es dennoch zu leben gilt. Für ihn ist die "moderne Schicksalsmacht des Kapitalismus" jener "mächtige(n) Kosmos der modernen, an die technische Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung(...), der heute den Lebensstil aller Einzelnen- nicht nur der ökonomisch direkt Erwerbstätigen - mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist (vom Verf. hervorgehoben)." 124 Der moderne Kapitalismus stellt ihm ein "nicht mehr aus der Welt zu schaffendes, also schlechthin hinzunehmendes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung (... ) dar, hinter das zurück, zu den patriarchalen Grundlagen der alten Gesellschaft, heute kein Weg mehr fiihrt." 125 Wenn ein Fabrikant den "Normen dieses wirtschaftlichen Handelns" dauernd entgegenhandelt, so Weber, dann wird er "ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Ar-

11 9 120 121

Ders., ÜdDiA I, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd.

Ders., ÜdDiA II, S. 354. Daß der Komplex der Webersehen Wahrnehmung der "Schicksalhaftigkeit" seiner Zeit auch auf andere seiner Lebenskonstellationen anwendbar ist, darauf weist Bryan S. Turner hin. Er macht darauf aufmerksam, daß Webers Zeitinterpretation der Schicksalhaftigkeit auch vor dem Hintergrund einer Vakuumsituation der politischen Führung in der Ara nach Bismarck ab 1890 - also politisch-gouvernemental - Gültigkeit findet, als kein politisches Milieu die Macht der alten Junker herausfordern konnte (vgl. ders., Max Weber, From History to Modernity, London 1992, S. 199). Eine weitere Facette der Schicksalhaftigkeit in Webers Zeitwahrnehmung ermittelte F. K. Ringer. Er bezog sich auf die politische Ohnmacht des Bildungsbilrgertums, besonders der "Mandarine" im wilhelminischen Kaiserreich. Wiederum ganz eigene Bedeutungsebenen der Schicksalhaftigkeit bei Weber hat Eduard Baumgarten erkannt (vgl. ders., Max Weber, Werk und Person, S. 582, vor allem aber S. 658f.). Daß daneben als fundamentale Schicksalhaftigkeit von Webers Zeit jener "haltlose'· Zustand des "Endes aller Werte" steht, die "furchtbare" Konsequenz einer entzauberten Welt, die den Menschen zur ethischen Wahl seines .,Dämons'· zwang, versteht sich. Was heute unter der Lyotardschen Titulierung "end of all metanarratives" als ideologische Befreiung willkommen geheißen wird, erlebten Weber und seine Generation - in einer Zeit des "Epigonentums'·- als existentielle Sinnkrise und schwere Bürde ihrer individuellen Lebensorientierung. 124 Weber, PE I, S. 188. 125 Ders., Geleitwort, S. IV. 122 123

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beitsloser auf die Straße gesetzt wird." 126 Und auch die politische, also demokratische Modeme ist ihm unverbrüchliches historisches Erbe, vor dem es kein Entrinnen gibt. "Romantische Phantasien" zurück in den Ständestaat hat Weber stets verworfen, und gerade "die Wasserscheu des deutschen Spießbürgertums (aller Schichten) vor dem Eintauchen in die spezifisch moderne Problemlage" hat er allzu häufig angeprangert. 127 Den kapitalistischen und bürokratischen Entwicklungen steht der moderne Mensch machtlos, "ohnmächtig" gegenüber. Schon in seiner umfangreichen Landarbeiterenquete und dann noch einmal in seiner "Methodologischen Einleitung" fiir die "Erhebungen des Vereins fiir Socialpolitik über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie" 128 erkennt Weber, daß die Wirksamkeit der im Kapitalismus "liegenden Entwicklungstendenzen von dem Thun und Lassen Einzelner unabhängig ist." 129 Gleichsam unabänderlich scheint fiir Weber das Vergesellschaftungsmittel der Bürokratie zu sein, denn es gehört ihm "zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden"130. Gegenüber anderen "geschichtlichen Trägem der modernen rationalen Lebensordnung" ist es ausgezeichnet durch seine "weit größere Unentrinnbarkeif'. Die Bürokratie in Staat und Wirtschaft ist Weber die einzig "ganz sicher unenttliehbare(n) Macht" 131 , daher nicht mehr "umzukehren". Wenn aber bestimmte "Vertreter der höchsten Kulturinteressen rückwärts blicken" und, wie Weber dem Auditorium seines Vortrages "Kapitalismus und Agrarverfassung" von 1904 in St. Louis darlegte, "mit tiefer Abneigung" der unvermeidlichen

126 Ders., PE I, S. 45. Wie sehr Weber die herausragende Kulturbedeutung des Kapitalismus in den Bann gezogen hat, machen auch seine vielfaltigen Auseinandersetzungen mit dem Thema als Hochschullehrer deutlich. So befindet sich im WeberSchäfersehen Nachlaßdeponat München ein Vorlesungsentwurf Webers fllr das Freiburger Sommersemester 1895 mit dem Titel: " Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land" (Nachlaß Max Weber, Deponat Weber-Schäfer, Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, München), in dessen Mittelpunkt der historisch sich wandelnde Begriff der "Arbeit" steht. Weber handelt darin die gesamte Geschichte des Kapitalismus ab. Er beginnt bei Marat, den Frühsozialisten Babeuf und Fourier, den Chartisten, bis zu den Kommunisten und Sozialisten Karl Marx, Moses Hess, Amold Ruge und Ferdinand Lasalle. Heinrich Herkners Schriften und die "wertvolle Untersuchung" von Friedrich Engels, "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" von 1845, sind es dabei vornehmlich, auf die er sich bezieht. 127 Vgl. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, GPS, S. 263. 128 Ders., Methodologische Einleitung für die Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik..., s. 1-60. 129 Ders., Die Verhältnisse der Landarbeiter... , S.794. 130 Ders., WuG, S. 569. 131 Ders. , Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, GPS, S. 333. Zu Webers Staatsbegriff vgl. Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staats, Herkunft, Struktur und Bedeutung, Diss., Berlin 1995, und auch Stefan Breuer, Max Webers Herrsc~aftssoziologie, Frankfurt am Main und New York 1991.

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A. Krise von Kultur und Politik

Entwicklung des Kapitalismus gegenüberstehen, dann gelte es erst recht, den kapitalistischen Alltag "männlich zu ertragen". Denn auch fiir Weber stellt der Kapitalismus seiner Tage ein "auferlegtes Schicksal" 132 dar, wie er dies emphatisch auf dem 8. evangelisch-sozialen Kongreß 1897 im Anschluß an einen Vortrag Karl Oldenburgs zum Thema "Deutschland als Industriestaat" ausfilhrte. Auf die Frage, ob denn die kapitalistische Entwicklung Deutschlands verhindert werden könne, entgegnete er: "Nein, sie kann nicht gehindert werden, sie ist unabwendbar für uns und nur die Bahn, in der sie sich bewegt, läßt sich wirtschaftlich beeinflußen."m Der gesamte Prozeß der Rationalisierung ist fiir Weber "unabänderlich" 134• Diese desillusionierende Sichtweise trägt Weber das Attribut "modernistisch" ein. 135 Aufgrund seiner kompromißlosen Einsicht in die Lage der Dinge gilt das gleiche filr Tocqueville. Auch er tritt seinem Leser als illusionsloser, wenn auch melancholischer Modemist entgegen, dem bourbonische Sehnsucht nach der alten Welt dennoch nichts als geflihrlicher Eskapismus ist. Und auch wenn Rousseau die Idee propagierte, seinen Emile ausschließlich abseits oder sogar gegenläufig zu den gesellschaftlichen Sitten zu erziehen, so doch einzig mit dem Ziel, ihn gleichsam sittlich zu immunisieren filr ein Leben in dieser Gesellschaft. Genauso wie Webers und Tocquevilles ist auch Rousseaus Anfang aller politischen Philosophie der Entschluß, dem "Schicksal der Zeit" nicht auszuweichen, sondern "in sein ernstes Antlitz" 136 zu blicken. Mit Einsicht in ihre Zeitumstände gewappnet, war es stets das Ziel ihres Schaffens, mit kühlem Verstand, aber leidenschaftlich, Stellung zu ihr zu beziehen.

132 Ders., Diskussionsbeitrag zum Vortrag Karl Oldenburgs über "Deutschland als Industriestaat", in: Verhandlungen des 8. evangelisch-sozialen Kongresses, Leipzig 10. und II. Juni 1897, S. I08. m Ebd. S. 109. 134 Vgl. ders., PE I, S. 45. Es bleibt nach dieser sehr eindeutigen Zitatencollage aus Webers Schriften schleierhaft, warum Erich Angermann zu der Ansicht gelangt, daß fUr Max Weber "schon von seinem herrschafts-soziologischen Ansatz her die Demokratie kein mit Naturgewalt voranschreitender, mehr und mehr die Gesellschaft und ihre Herrschaftsformen beherrschender Prozeß sein konnte wie für Tocqueville.'· Vgl. ders., S. 52. 135 Leo Strauss hat diesen modernistischen Grundzug bei Rousseau gesehen. "Rousseau war nicht der erste, der fühlte, daß das moderne Wagnis ein radikaler Irrtum war( ... ). Aber Rousseau war kein »Reaktionär«. Er gab sich der Modeme hin. Man ist versucht zu sagen, daß er nur dadurch zur Antike zurückgeftlhrt wurde, weil er eben das Schicksal des modernen Menschen hinnahm." Vgl. ders., S. 263. 136 Weber, Wissenschaft als Beruf, GA WL, S. 605.

Ill. Die Kollision von Vernunft und Ethik

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111. Webers, Tocquevilles und Rousseaus Kulturtheorien der Moderne: Die Kollision von Vernunft und Ethik Die finsteren Sittengemälde, wie sie Max Weber, Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau in ihren Werken skizzierten, folgen, so will es scheinen, keinem besonders ausgearbeiteten theoretischen Überbau, unter dessen Dach die analytischen Beobachtungen einen metaphysischen Sinn und eine Richtung erhielten. Zwar blitzt in beinahe jedem größeren Textpassus schonungslose Kulturkritik auf, doch was zum Tragen kommt, erscheint - trotz einheitlicher Konsequenz der Fragestellung - eher als ein "Mahnmal der Fragmentarität" 131, zumindest jedoch als vielteiliges Mosaik, dessen einzelne Elemente der Betrachter erst zu einem bündigen Bildnis zusammensetzen muß. Die Frage ist berechtigt, ob es Weber, Tocqueville und Rousseau bei aller Darstellung der Symptome und Auswüchse des Rationalismus versäumt haben, eine Grundlagentheorie zu entwerfen, die das Problem im Kern erfasst. Solch eine grundsätzliche Theorie könnte sich enthüllen, prüft man die Werke aller drei, die ja in jedem Fall historisch angelegte sind, darauf, ob zwischen oder durchaus auch innerhalb ihrer Zeilen so etwas wie eine negative Geschichtsphilosophie des menschlichen Niedergangs aufscheint, die die Einzelergebnisse konkreter Forschung bündelt, indem sie ihnen einen Richtungssinn verleiht. Dazu ist aller Anlaß gegeben. lring Fetscher spricht gerade im Zusammenhang mit Jean-Jacques Rousseau immer wieder von dessen angeblicher Geschichtsphilosophie138, Hayden White nimmt eine solche fiir Alexis de Tocqueville in Anspruch 139 und auch fiir Max Weber könnte es oberflächlich betrachtet naheliegen, ihn im Gefolge Oswald Spenglers zum Philosophen einer Endzeitideologie zu stilisieren. Im Werk aller drei gibt es tatsächlich Momente, die auf den ersten Blick geschichtsphilosophisch anmuten - als echte Geschichtsphilosophen können sie dennoch nicht gelten- dazu ist ihre Wissenschaft, dort, wo sie sich der Diagnose ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft widmet, zu dezidiert antidogmatisch und viel zu mißtrauisch gegenüber den vielfältigen Listen von Vernunft oder Vorsehung. Daß Rousseau, Tocqueville und Weber trotzdem immer wieder in den Verdacht gerieten, Geschichtsphilosophie zu betreiben, liegt an der Konsequenz ihres Denkens: Wer tatsächlich universalgeschichtliche Bewe137 Vgl. Ulrich Steinvorth, Webers Freiheit von der Wertfreiheit, in: Gerhard Wagner/Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt am Main 1994, s. 445. 138 /ring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 6. Auflage, Frankfurt am Main I 990, S. 15. 139 Vgl. H. White, S. 254fT. Daß es allerdings viel mehr einer Verbiegung Tocquevilleschen Gedankenguts gleichkommt, seine "histoire philosophique" in "Geschichtsphilosophie" zu übersetzen, darauf hat jüngst und mit Recht Harvey Mitchell hingewiesen, vgl. ders. , Individual choice and the structures of history, Alexis de Tocqueville as historian reappraised, Cambridge I 996, S. 29f.

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gungen und Strukturen analysieren will, läuft schnell Gefahr, mißverstanden zu werden. Statt als Analyse kann seine geschichtliche Sicht der Dinge leicht verwechselt werden mit einer letzten, teleologisch gedachten, sinnhaften Ausdeutung des Weltengangs. Von allen dreien ist es dabei dennoch Jean-Jacques Rousseau, der wohl am schnellsten diesem Verdikt anheim flUit. Sein Entwurf des menschlichen Zivilisationsprozesses - wie ein roter Faden zieht sich diese Denkfigur durch das gesamte Werk- scheint unaufhaltsam einem Weg in Richtung eines stetig zunehmenden Verfalls zu folgen. Fetscher meint denn auch, Rousseau richtig verstanden zu haben, indem dessen Ziel allen menschlichen Handeins nur noch in der Verlangsamung des Fortschritts aller Laster liegen könne. Als die residuale Aufgabe des Staatsmannes bliebe nur noch, durch die Gründung einer politischmoralischen Ordnung gegen den Strom des Untergangs Inseln zu errichten, das Schicksal des Menschentums sei indessen besiegelt. Trotzdem, Rousseau - genauso wie Tocqueville und Weber- hat Geschichte als offenen Prozeß begriffen. Zwar wiesen, wie Weber sagt, die Zeichen der Zeit in Richtung wachsender Unfreiheit 140, jedoch verflillt auch Rousseau keineswegs einem Determinismus. "Die alten vielen Götter'', so Weber an entscheidender Stelle, "entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." 141 Gerade der wissenschaftlich-skeptizistische Geist der Gegenwart hat jeglichem Wert, der ftlr sich in Anspruch nimmt, ein letzter und höchster zu sein, sein Mißtrauen unmißverständlich ausgesprochen. Weber lebt in einer Zeit, in der "die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte ... unsicher" wird und "der Weg ... sich in der Dämmerung" verliert, eine Zeit, in der sich die Wissenschaft rüstet, "ihren Standort und ihren Begriffapparat zu wechseln."142 Aber auch Rousseaus Geschichtskonstruktion ist ähnlich wie die Tocquevilles höchstens zyklisch 143, kennt keinen Anfang und kein Ende, ist niemals abgeschlossen, und will als Philosophie viel mehr eine Genealogie sein, als solche ein heuristisches Mittel zur Veranschaulichung einer gegenwartszentrierten Diagnose. Erstaunlicherweise wird im Denken Rousseaus durch das Verlangsamungstheorem nicht auch gleichzeitig seine Freiheitsidee vernichtetund es wird offensichtlich, daß Rousseau zu Widersprüchlichkeiten neigt, wechselt er die verschiedenen Ebenen seiner Betrachtungsweise. Sobald er aus einer grundsätzlich kulturtheoretischen, die menschliche Entwicklung radikal und totalitär interpretierenden Sicht heraus argumentiert, bleibt nur wenig Raum fiir eine Idee menschlicher Freiheit in der modernen, zivilisierten Welt. Verläßt 140

Weber, GPS, S. 63 .

142

Ders., Die »Objektivität« ... , S. 214.

141 Ders., Wissenschaft als Beruf, GA WL, S. 605. 143 Vgl. dazu R. Koselleck, S. 134f.

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er jedoch die philosophisch-hypothetische Ebene und wendet sich den praktischen politischen Problemen zu, ändert sich die Sachlage. Wer, wie Rousseau, philosophisch eine prinzipielle Verfallsgeschichte des Menschen in Anschlag bringt, die allenthalben durch eine Verlangsamung hinauszuzögern ist, widerspricht sich, wenn er als Nomothet eines wahrhaft freien Staatswesens auftritt, wie Rousseau es selbst im "Contrat Social" vor der Folie der Jetztzeit enthusiastisch entwirft. Um diese Aporie zu lösen, gibt es nur eine Lösung, die Rousseau am ehesten gerecht wird: sein Verlangsamungstheorem nicht als Appendix einer Untergangsphilosophie Spenglersehen Zuschnitts zu interpretieren, sondern am ehesten noch als eine die Unabwendbarkeit moderner, rationalistischer Strukturen bezeichnende Abbreviatur - in keinem Fall als Beweis fiir die Unmöglichkeit jeglicher Formen der Freiheit in der Modeme. Für diese Sicht gibt es gute Gründe, die sich aus der Anlage der Rousseauschen Wissenschaft ergeben: Wer sich in seiner politischen Theorie derart eindeutig auf das willentliche politische Handeln des Menschen als geschichtliches Movens verläßt, im Falle Rousseau gar "die voluntaristische Wende" (Otto Vossler) in der politischen Ideengeschichte eingeläutet hatte, wird kaum einer in welche Richtung auch immer deutenden "invisible band" die Verantwortung für das Schicksal der Weltgeschichte übertragen. Weil es jedoch im Zentrum ihres Wissenschaftsprogramms stand, geistige und gesellschaftliche Tendenzen in ihrer Wechselwirkung über große Zeiträume hinweg zu untersuchen, lohnt es sich dennoch, sich in ihren Werken nach einer leitenden historischen Kulturtheorie umzusehen, unter die die Einzelbeobachtungen aggregiert werden und die zu den Wurzeln der erkannten Problematik fiihrt. Max Weber hat in seiner "Zwischenbetrachtung" am Ende des ersten Bandes seiner Religionssoziologie eine solche Theorie zumindest grob umrissen: Keine Rationalismus-Theorie an sich lieferte er dabei, sondern doch eher eine "Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung", die sich zur Not auch noch als "Beitrag zur Typologie und Soziologie des Rationalismus"144 eignete. Weber bewegte sich darin auf die grundsätzliche Frage zurück, inwieweit die christliche Religion - aus der Eigenlogik ihres ethischen Systems heraus - eine Wertsphäre konstituierte, die mit den weltlichen Sphären in Widerspruch stand, ja diese letztlich vollends ablehnte. Er ging davon aus, daß jeder Inhalt von Prophetie oder des Heilandsgebots gerade in den Erlösungsreligionen die "Orientierung der Lebensfiihrung an dem Streben nach einem Heilsgut" war, also eine "rationale Systematisierung der Lebensfiihrung" 145 . Seine These lautete: Weil jede Religion aus sich heraus beansprucht, daß der Weltverlauf "ein irgendwie sinnvoller Vorgang" (im Orig. gesperrt, der Verf.) sei, 144 Weber, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, in: Ders. , Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, GARS I, S. 537. 145 Ebd., S. 540.

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entstünde - aus einer Eigenlogik heraus - ein Erlösungsbedürfnis. Diese "Art des Strebens nach Erlösung (im Orig. gesperrt, der Verf)" setzte jedoch aus sich heraus eine letztendlich unlösbare Disparität zur Welt. 146 Die religiöse sich in ihrer Außenmoral bis hin zum "objektlosen Liebesakosmismus" oder- Weber zitiert einmal mehr Charles Baudetaire- zur "heiligen Prostitution der Seele" 147 steigemde Brüderlichkeitsethik, wie sie sich innerhalb der religiösen Gemeinschaften entwickelte und aus jeder Erlösungsreligion entstanden war, stieß, wie es Weber nennt, ,je mehr sie in ihren Konsequenzen durchgefiihrt wurde, desto härter mit den Ordnungen und Werten der Welt zusammen" 148, in einem Grad, in dem auch diese "nach ihren Eigengesetzlichkeilen rationalisiert und sublimiert wurden." 149 Weber erfasste zwar zunächst den versachlichten modernen Kapitalismus als ein Gebilde, "dem die Lieblosigkeit an der Wurzel anhaftete" 150, doch sah er, daß dieses Phänomen nicht nur die ökonomische oder die politische Sphäre berührte, sondern alle weltlichen Lebensbereiche durchdrang und dabei in eine eigentümliche Spannung gerade zum religiös-ethischen Wirkungskreis geriet. 151 Der Rationalismus, den er im Werk sah, machte vor nichts Halt - deswegen wurde er fiir Weber so ungemein kulturbedeutend, ja "schicksalhaft". "Wie das ökonomische und das politische rationale Handeln seinen Eigengesetzlichkeiten folgt", formulierte Weber, so "bleibtjedes (hervorgehoben vom Verf.) andere rationale Handeln innerhalb der Welt unentrinnbar an die brüderlichkeilsfremden Bedingungen der Welt ( ...) gebunden und gerät daher irgendwie in Spannung zur Brüderlichkeitsethik." 152 Weber erkannte, daß die ratio, wenn auch in ganz verschiedene Richtungen der einzelnen Lebenssphären Einzug haltend, mit ihrem Auftreten zum Kampf gegen alle ethische Ausdeutbarkeit der Welt und der menschlichen Beziehungen gerufen hatte. In ihre größte Spannung trat die

Ebd., S. 567. Ebd., S. 546. 148 Ebd., S. 544. 149 Ebd. 150 Ebd., S. 569. 151 Für Wolfgang Schluchter war dies der zweite große Durchbruch der Webersehen Wissenschaft. Die Entdeckung Webers, "daß nicht nur die Ökonomie, sondern die ganze moderne okzidentale Kultur von einem spezifischen Rationalismus durchdrungen ist", hat Weber in der Sichtweise Schluchters "zwischen der »Protestantischen Ethik« und der» Wirtschaftsethik der Weltreligionen« gemacht- also in jedem Fall nach 1904/05." (vgl. ders., Religion und Lebensführung, Band I, Frankfurt am Main 1991, S. 102f.). Weber ist die Allgegenwärtigkeil rationalistischer Strukturzusammenhänge in den verschiedensten Lebenssphären, insbesondere der politischen, schon wesentlich früher aufgegangen. Sein sogenanntes Frühwerk löst diese Behauptung ausreichend ein. Vgl. W. Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 63f. 152 Weber, Zwischenbetrachtung, S. 552. 146

147

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religiöse Ethik - "aber freilich" 153 - "zum Reich des denkenden Erkennens" 15\ also der modernen Wissenschaft als reinste Verkörperung des Urprinzips des Vernunftdenkens selbst, das nun zum "Angriff des selbstgenugsamen lntellekts"155 geblasen hatte. Weber fUhrt aus, daß überall dort, wo "rational empirisches Denken die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat" 156 - und damit eine Weise der Weltbetrachtung überhaupt ablehnt, die nach einem Sinn fragt-, "die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulats: daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll (im Orig. gesperrt, der Verf.) orientierter Kosmos sei", endgültig hervortrat. In dem Maße, so seine Gedankenfiihrung weiter, in dem die vom Vernunftprinzip auf die Bahn geschickten rationalen Eigengesetzlichkeiten von einander getrennte Lebenssphären kolonialisierten, traten diese mehr und mehr aus einer ursprünglichen "Verträglichkeit" heraus und begannen, mit der religiös-ethischen Sphäre 157 in Spannung zu geraten 158, eine Spannung, die sich in der Konsequenz als nicht mehr lösbar erweisen sollte. In einer sozial faktisch werdenden Eigenlogik verwehrt sich die Welt, weil ihre Lebensbereiche rationalisiert werden, mehr und mehr dem Eintreten brüderlichkeitsethischem Handeln. Der Ausgang des Kampfes von religiöser Ethik und ratio ist filr Weber entschieden. "Der Gang der Welt" kümmere sich um ethische Postulate wenig, sondern folge vielmehr rationalistischen Eigengesetzlichkeiten und schaffe schließlich eine "ethisch noch unvollkommenere" Welt, die ethische Werte zurückdrängt: "... inmitten einer rational zur Berufsarbeit organisierten Kultur blieb filr die Pflege der akosmistischen Brüderlichkeit selbst ( ... ) kaum noch Platz", und er spitzt zu: "Das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu fiihren, scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler Kultur rein

153 Ebd. S. 564. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 567. 156 Ebd., S. 564. 157 Auf Webers anfllngliche Bemerkungen in der "Zwischenbetrachtung" zur Entwicklung der Brüderlichkeilsethik selber, soll hier nicht näher eingegangen werden. Für Weber bildet sich Brüderlichkeilsethik religionsübergreifend aus der ökonomischen Nachbarschaftsethik heraus, die von der Gemeindereligiosität zum Modell der Beziehungsorganisation zum Glaubensbruder (ebd., S. 543) erhoben wird. Diese brüderliche Nothilfepflicht wird zum Grundgebot "aller ethisch rationalisierten Religionen der Welt" (ebd.), und stets lag die "ethische Anforderung irgendwie in Richtung einer universalistischen Brüderlichkeit über alle Schranken der sozialen Verbände( ... ) hinweg." (ebd., S. 543f). 158 Es sind für Weber nicht nur die Eigengesetzlichkeilen des zweckrationalen Handelns, die dieses mit der Brüderlichkeilsethik in Konflikt geraten, sondern genauso die rationalen Eigengesetzlichkeilen "wesenhaft arationaler" bzw. "antirationaler" innerweltlicher Mächte des Lebens, wie etwa die der Kunst oder der Erotik.

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äußerlich zum Mißerfolg verurteilt." 159 Am Ende dieser Entwicklung steht der ethisch indolente, geist- und herzlose Mensch und auf der Ebene seiner politischen Ordnung, deren Zustand Weber an anderer Stelle beschreibt, eine versachlichte, anonyme, entpolitisierte Anstalt, eine, in Tocquevilles Worten, "versteinerte Verwaltungsdespotie". Viele - von Friedrich Tenbruck 160 bis Wolfgang Schluchter 161 - haben geglaubt, in der Mitte des Webersehen Werkes eine Theorie der Rationalisierung der modernen Welt ausmachen zu können. Die "Zwischenbetrachtung" eignet sich in ihrer Sicht dabei als Kernstück des Entzauberungstheorems, das sich von dort aus auch mühelos auf den Rest des Werkes ausdehnen ließe. Weber hat in der "Zwischenbetrachtung" seinen Frageansatz in einer Weise wie sonst nirgends im Werk radikalisiert, doch wird auch noch in diesem Text offensichtlich, daß Webers primäres Interesse nicht Richtung und Dynamik rationalistischer Strukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gegolten hat, sondern sich im Gegenteil letzten Endes an die Folgen für die Lebensfuhrung des modernen Menschen, also seine sittliche Befindlichkeit und "charakterologische" Eigenart richtete, wie sie sich unter den Einflüssen und Bedingungen zunehmend von der Vernunft durchgestalteter Ordnungen und Mächte verändert haben und noch immer verändern. Das wird im hier erwähnten Text überdeutlich, denn Webers Gegenstand ist der Verfassung der allgemeinen sozialen und politischen Ethik, deren Entwicklung er unter den Bedingungen einer alles überlagemden Vernunft verfolgt - aber eben nicht umgekehrt: das Schicksal der Vernunft unter den Bedingungen einer sich wandelnder ethischer Grundmuster. Hier kommt Weber denn auch durch seine "Sphärentheorie" zu dem Schluß, daß ein dynamischer Prozeß der Rationalisierung nicht-religiöser, lebensweltlicher Bereiche das Ende jener religiösen Brüderlichkeitsethik ausgelöst hatte, und es ist dies die Denkfigur, die die Brücke zu Jean-Jacques Rousseaus kulturwissenschaftlicher Zivilisationstheorie schlägt. Auch Rousseau konstatiert, wie aus den "vernünftigen" Künsten und Wissenschaften "eine Menge von Vorurteilen, die eines wie das andere der Vernunft, der Glückseligkeit und der Tugend schnurstracks zuwiderlaufen" 162, entspringen konnten. Wie Weber erkennt er bereits das Auseinandertreten von inkommensurablen Wertsphären, der Sphäre der Wissenschaften, des strengen rationalistischen Denkens und der Sphäre ethischen Handelns, die sich mehr und mehr zu

Weber, Zwischenbetrachtung, S. 571. Vgl. Friedrich Tenbruck, Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 27. Jg., 1975, S. 663-702. 161 Vgl. W. Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt am Main 1980. 162 Rousseau, DD, S. 261 . 159

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deren Antagonistin wandelt. 163 Im Kern benennt Rousseau damit die gleiche rationalistische Antinomie wie Weber, und wie Weber sieht er in der vom modernen Geist betriebenen Ausdifferenzierung gerade dieser beiden Wertsphären sich das Ende des klassischen Politikbegriffs ankündigen, der ja so entschieden von ihrer gegenseitigen Durchdringung abhängig ist. Am Ende leidet auch bei Rousseau jene brüderlichkeitsethische Durchdringung der Welt, weil die ratio mit ihrem Auftreten zum Kampf gegen die ethische Ausdeutbarkeit der Welt geblasen hat. "Jedermann will lehren, Gutes zu tun, und niemand will es lernen. Wir sind alle Doktoren geworden und haben aufgehört Christen zu sein." 164 Schein tritt an die Stelle von Sein, sterile Höflichkeit an die politischer Solidarität: "Es gibt keine aufrichtigen Freundschaften mehr, keine wirkliche Hochachtung, kein festes Zutrauen, Argwohn, Mißtrauen, Furcht, Kälte, Zurückhaltung, Haß und Verleumdung, werden sich ewig unter diesem einllirmigen und betrügerischen Schleier der Höflichkeit, dieser gepriesenen Freiheit der Sitten verstecken, welche wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts zu verdanken haben."165 Wie Weber haftet auch Rousseau nicht an der Vernunftper se, also an der Geistesgeschichte ihrer ausdifferenzierten Erscheinungsformen, sondern thematisiert ihr Verhältnis zum sittlichen Menschen und der Möglichkeit einer ethisch durchdringbaren Welt unter ihrer Ägide. Daher bleibt bei Rousseau schon in der Anlage seiner Argumentation eine rationalistische Geschichtsphilosophie, wie sie später Heget betreiben sollte, unauffindbar, und er hat keine Mühe, eine historische Betrachtung der Entwicklung der Vernunft aus sich selber heraus zu vernachlässigen. Dafilr beschreibt er, wie Weber und auch Tocqueville, quasi von außen beobachtend, einen Prozeß, in dem die ratio als eine dominante geistige Macht andere lebensweltliche Ordnungssysteme mehr und mehr überlagert und dadurch beginnt, gerade jene Sphäre zurückzudrängen, die ihm so am Herzen liegt: diejenige sittlichen Wollens und Handeins und damit, in seinem Verständnis, den Raum des Politischen. 166 Diese Verlagerung des Schwerpunkts der Rousseauschen Rationalismuskritik

zu erkennen, ist fiir sein Verständnis unabdingbar. Nur so bleibt ohne innere

Widersprüchlichkeit, wenn bei ihm einerseits zu lesen ist, die Vernunft sei nicht schlecht, schließlich lehre sie "uns das Gute und das Schlechte zu erkennen" 167,

Vgl. L. Strauss, S. 267. Rousseau, Bemerkungen von Jean-Jacques Rousseau über die Antwort des Königs von Polen auf seine Abhandlung, Schriften, Band I, S. 83. 165 Ders., PD, S. 36. 166 Dieses Verständnis der Identität von ethischem und politischem Bereich untermauert am stärksten das folgende Zitat aus dem PD: "Es ist in der Politik sowohl wie in der Moral ein großes Übel, wenn man nichts Gutes tut, und jeder unnütze Bürger kann als ein schädlicher Mensch betrachtet werden.'' (PD, S. 46). 167 Rousseau, Emile, S. 166. 163

164

4 Hecht

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auch die Wissenschaft verdiene "all unsere Bewurtderung" 168, sie sei "sehr gut an sich selbst( ... ) und man müsse der gesunden Vernunft abgeschworen haben, um das Gegenteil zu behaupten" 169, andererseits Sätze wie: "Die Wissenschaft, so schön und erhaben sie ist", ist "dennoch nicht für den Menschen gemacht". 170 "Wissenschaften und Künste" hat Rousseau ja stets selbst betrieben, und auch für seinen "Emile" gebe es ein Lebensalter, das durchaus "zum Studium der Wissenschaften geeignet" 171 sei. Für Rousseau war es keine Frage, daß er in Geographie und Mathematik unterrichtet werde. Otto Vossler meinte, das Paradoxon lösen zu können, indem er den Schluß wagte, Rousseaus Angriff hätte nur der "falschen Wissenschaft" 172 der sogenannten Philosophen und Scharlatane - also den Schwarzkünstlern vom Schlage eines Cagliostro gegolten, wie sie in Rousseaus Tagen zu Hunderten die Pariser Salons bevölkerten. Wie Max Weber gegenüber den zeitgenössischen "Literaten" empfand auch Rousseau gegenüber den "Sophisten", wie er sie nannte, nichts als unverhohlene Abneigung173, doch muß eine solche Interpretation auch bedeuten, daß es in Rousseaus Sicht noch eine andere, wenn auch in der oberflächlichen "Ab- und Vielschreiberei" seiner Zeit verschüttete, so doch echte und wahre Wissenschaft gegeben hat. Diese Sicht für diejenige Rousseaus zu reklamieren, hat sicher ihre Berechtigung, doch sie erhellt das Problem nicht wirklich. "An sich" ist die rationalistische Wissenschaft sehr gut. Für den Menschen, besser, für den "homme vulgaire" 174, dem Rousseau rät, besser in seiner "Dunkelheit zu bleiben"175, kann sie aber aus einem ganz anderen Grunde schlecht sein - insofern Ders., Vorrede zu » Narcisse«, S. 153. Ders., Bemerkungen v. J.-J. R. über die Antwort des Königs von Polen auf seine Abhandlung, S. 70. 17o Ebd. 168

169

171

' Ders., Emile, S. 666. 172 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 53. 173 Vgl. etwa Rousseau, Abhandlung über die politische Ökonomie, Ausgabe Rütten und Loening, Berlin 1989, S. 350 und ders., Briefan Denis Diderot vom 16. März 1757, Korrespondenzen, S. I II . 174 Positive Effekte der Wissenschaften billigt Rousseau lediglich jener geringen Zahl "einiger erhabener Genies'· und "ausgezeichneter Seelen" zu, "die den Schleier, in welchen die Wahrheit gehüllt ist, zu durchdringen verstehen" und "die der blöden Eitelkeit, der niederen Eifersucht, und allen übrigen Leidenschaften, welche der Geschmack an den schönen Wissenschaften erzeugt, zu widerstehen vermögen.'· (ders., Vorrede zu »Narcisse«, S. 160). "Solange aber die Macht allein auf der einen Seite, Einsicht und Weisheit allein auf der anderen Seite stehen, werden die Gelehrten selten Großes denken und die Fürsten noch seltener Gutes tun, und die Völker werden weiter niedrig, verdorben und unglücklich sein." (PD, S. 59). 175 Vgl. ders., PD, S. 59. Die sittliche Gefahr der Wissenschaft ist das allegorische Thema bezeichnender Weise auch des Frontispiz der ersten Ausgabe des PD. Rousseau hatte zwar noch einleitend den kaum zu umgehenden Obolus an die Vernunft und ihre zukunftsfrohe aufgeklärte Wissenschaft entrichtet. pries jenes "große(s) und würdige(s) Schauspiel, den Mensch zu sehen, wie er durch eigene Kräfte gewissermaßen aus dem

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nämlich, als sie die Sphäre der Tugend okkupiert oder - weberianisch gesprochen- mit ihr in ein unlösbares, spannungsgeladenes Verhältnis rückt, je durchgreifender sie die jeweilige politische, ökonomische oder sonstige Lebenssphäre in Besitz nimmt. So kann die ratio - obwohl selbst ethisch vollkommen indifferent - in ihrer Wirkung "unethisch" sein. "Unsere Seelen sind in dem Maße (hervorgehoben vom Verf.) verdorben", schreibt Rousseau, "in dem unsere Wissenschaften und Künste vollkommener geworden sind" 176 : Die Wissenschaft, jene "eitle Zierde", favorisiert den "gelehrten Mann", und genau in dem Maß (hervorghoben vom Verf.), in dem sie dieses tun, drängen sie die staatsbürgerlichen Sitten zurück. Nicht direkt durch den Fortschritt von "Wissenschaften und Künsten", sondern in gleichzeitiger Verbindung mit dem technisch-kulturellen Fortschritt beginnt der sittliche Verfall des Menschen. "Je mehr ihr Licht über unserem Gesichtskreis aufging, desto mehr entfernte sich die Tugend" 177, "Luxus, Zügellosigkeit und Sklaverei" sind dabei die "Strafen unserer stolzen Bemühungen gewesen, uns aus der glücklichen Unwissenheit ... herauszureißen" 178, schreibt Rousseau. Seine Vernunftkritik ist angelegt als eine moralische Herausforderung der Vernunft durch die Veranschaulichung ihrer sozialen Auswirkungen. Die unverhohlene Schmähung der ratio als eines "großes Vehikelsall unserer Torheiten" 179 ist so zu verstehen- und nicht als eine Abrechnung mit der Wissenschaft, die er ja selbst ein Leben lang betrieb. 180 Wenn aber die Wissenschaften und Künste den "homme civilise" - und hier folgt zum ersten Mal Rousseaus berühmte Vokabel - "depraviert" haben, ist die nächste Frage diejenige nach den anthropologischen Gründen. Die Antwort gibt Rousseau im "Deuxieme Discours", seiner Antwort auf die "Aufgabe der Akademie zu Dijon: Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den MenNichts hervorgeht; wie er die Finsternisse, mit welchen er von Natur umgeben, durch das Licht seiner Vernunft durchteilt" - doch machte schon diese, dem Text vorangestellte Illustration Rousseaus eigentlichen Standpunkt deutlich: Prometheus steigt mit einer Fackel vom Himmel, dem erhellenden aufklärenden Licht der Vernunft. Der Satyr, schreibt Rousseau, "wollte das Feuer küssen und umarmen, als er es zum erstenmal sah; allein Prometheus rief ihm zu: Satyr, Du wirst Deinen Bart beweinen, denn es brennt, wenn man es anrührt." (vgl. H. Meier, S. Llf.). 176 Rousseau, PD, S. 37. 177 Ebd. 178 Ebd., S. 43f. 179 Ders. , Brief an Herrn Philopolis (d. i. Charles Bonnet, Mitglied des Großen Rats in Genf), Schriften, Band I, S. 305. 180 So interpetiert auch R. D. Masters den Sachverhalt: "lmmorality is, essentially, saying one thing and doing another - or violating a general rule which everyone obeys and from which the corrupt individual exempts hirnself while pretending to obey. Rousseau criticized the popularisation of scientific knowledge because he thought it contributed to such immorality: he did not condemn philosophy or science in every form, but only when studied or "cultivated" by the people (as opposed to the "few")." Vgl. R. D. Masters, S. 413. 4*

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sehen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt?" Im Wald von Saint Germain, wohin sich Rousseau zurückgezogen hatte, um sich gedanklich auf die Niederschrift vorzubereiten, fand er die Lösung, und als ihren Ausgangspunkt "das Bild der Urzeit" des Menschen, sein wahres Wesen. Von dieser Erkenntnis beflügelt, deckte er "die kleinen Lügen der Menschheit auf", und "wagte ihre Natur bis zur Nacktheit zu entblößen, ihre fortschreitende Entstellung durch Zeiten und Dinge zu erweisen und, indem ich den Menschen, so wie er durch den Menschen geworden, mit dem Menschen der Natur verglich, ihm gerade in seiner vermeintlichen Vollkommenheit die wahre Quelle seines Elends aufzudecken." 181 Rousseau interessierte im Kern nicht so sehr die Frage nach dem "Ursprung der Ungleichheit", sondern vielmehr einen illegitim empfundenen, gänzlich unhypothetisch gedachten Status quo seiner Zeit, in welchen die Entwicklung der Ungleichheit letztlich gefiihrt hatte und der auch von keinem Naturgesetz zu rechtfertigen war. Rousseaus Kritik setzt dabei wieder doppelt an: konkret, an den unmittelbaren Zustände der spätabsolutistischen Politik und Gesellschaft Frankreichs und, eine Schicht tiefer liegend, grundsätzlich an der menschlichen Zivilisation und ihrem Hauptmovens einer dynamischen ratio. In diesem Traktat leistete Rousseau die grundsätzliche Rücksicherung der These seiner ersten Schrift und ging dabei denkbar radikal vor, ganz zurück zum natürlichen Zustand des Menschen. 182 Rousseaus Absicht war es, von diesem auszugehen und in dessen Verfolg genau "den Augenblick auszumachen, da die Gewalt vom Recht verdrängt und die Natur dem Gesetz unterworfen worden ist". 183 In einer - trotz Leo Strauss freilich hypothetischen, rein "durch Nachsinnen herausgebrachten" 184 gleichnishaft angelegten Menschheitsgeschichte wollte Rousseau nach den Spuren forschen, die die Vernunft - seit ihrem ersten Auftreten - in Habitus und Charakter des Menschen hinterlassen hat, zugleich auch ausloten, welche geRousseau, Bekenntnisse, S. 545. Mit dem "Retour a Ia nature!", das Rousseau später so häufig in den Mund gelegt wurde, hatte das alles freilich nichts zu tun. Die nietzscheanische Frage, " ' Gernäss der Natur' wollt ihr leben (im Orig. gesperrt, der Verf.)? ... Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiß zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht- wie könntet (im Orig. gesperrt, der Verf.) ihr gernäss dieser Indifferenz leben?", hätte Rousseau zweifellos verneint, er, der vor dem Hintergrund einer depravierten Welt gänzlich voluntaristisch erst "Welt schaffen" wollte (vgl. Friedrich Nietzsche, Erstes Hauptstück (6), Von den Vorurtheilen der Philosophen, in: Ders., Jenseits von Gut und Böse, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, KSA V, München 1988, S. 2 I f.). Gemäß der Natur zu leben, bedeutet in Rousseaus System keineswegs, "wieder auf allen vieren zu gehen", wie es ihm Voltaire spöttisch unterstellte, sondern viel mehr dem wahren, politischen Wesen des Menschen entsprechend zu leben (vgl. 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 59). 183 Rousseau, DD, S. 192. 184 Vgl. ebd., S. 264. 181

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seilschaftliehe und politische Verfassung mit der jeweiligen Entwicklungsstufe korrelierte. Den frühesten Anhaltspunkt einer solchen Entwicklung glaubte er im Moment der menschlichen Vergesellschaftung zu finden, denn, so stellte er lapidar fest, " ... eine ausgebildete Vernunft wird nicht eher erfordert, als wenn man in der Gesellschaft leben will." 1s5 Rousseau schildert den Naturmenschen im Zustand seiner "honte naturelle", seiner unbewußten Harmonie mit der Natur. 1s6 Nicht wie Thomas Hobbes erfasste er den Menschenapriori in seiner Natur als sich in steter Konkurrenz befindliches, prinzipiell mißtrauisches und ruhmsüchtiges Wesen 1s7, dessen "natürliche Leidenschaften" einen "elenden Kriegszustand" zur Folge hatten 1ssder Krieg aller gegen alle ist in seinem Denken erst Ausgeburt früher Zivilisation - sondern der Rousseausche Urmensch ist gut, vielmehr in einem "vormoralischen" Zustand, ein "noch-nicht-menschliches Wesen" 1s9 • Er ist nicht a priori mit Vernunft begabt, sondern erlangt sie erst im Verlauf seiner eigenen Geschichte. Nicht wie in der alten Naturrechtslehre ist Vernunft bei Rousseau eine absolute, prästabilierte Größe, kein naturrechtlicher Grundsatz 190, sondern ausschließlich Ergebnis menschlicher Aneignung. Demnach ist Rousseaus erster Mensch ein natürliches, freies, fast noch animalisches, unter seinen Artgenossen gleiches, isoliertes, selbstgenügsames, autarkes, rein physisches Wesen, wenn auch seine menschlichen Anlagen immer schon in seiner "perfectibilite" - als der "anthropologischen Differenz", wie es H. Meier wendet - versammelt sind. 191 Dieser Mensch kennt keinen Fortschritt, seine vernünftige UrteilsfahigIss Ebd., S. 216. 1s6 Der Naturmensch in Rousseaus Gedankenwelt kann nicht, wie I. Fetscher in seinem Werk zu Rousseaus politischer Philosphie ausgeführt hat, als eine "präskriptive Norm" verstanden werden, sondern vielmehr als unhistarischer Ausgangspunkt einer philosophischen Anthropologie und als solcher als heuristisches Konstrukt einer "histoire hypothetique" (vgl. 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 57), einer verdeutlichenden Projektion also, in der Rousseau den modernen Menschen mit dem lediglich gleichnishaft gedachten einer frühen Vorzeit kontrastierte, den er - einem Webersehen Idealtyp nicht unähnlich - konstruierte, indem er gedanklich alle zivilisatorischen Entwicklungen in Abzug brachte (vgl. /. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 27). Rousseau selbst hatte klar gesagt, man dürfe seine "Untersuchungen ... nicht als historische Wahrheiten, sondern ... als bedingte und hypothetische Vernunftschlüsse betrachten, die mehr die Natur der Dinge beleuchten, als ihren wahren Ursprung." (ders., DD, S. 193). 187 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan- oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates ( 1651 ), hrsg. von I. Fetscher, 7. Auflage, Frankfurt am Main 1996, S.95f. Jss V gl. ebd., S. 131. 1s9 Vgl. L. Strauss, S. 283. 190 Vgl. Rousseau, DD, S. 192. 191 Rousseau entwirft ein "duales Menschenbild": Der "amour de soi'' besteht in seiner Anthropologie aus zwei Substanzen: einem "etre intelligent", das erst mit dem geistigen Erwachen des Menschen zu sich kommt, und einem "etre sensitif', das im Mo-

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keit bildet sich erst aus. Der "homme nature!" verfugt über zwei innere Grundtriebe, die Selbsterhaltung, den "amour de soi", und die "commiseration", das natürliche Mitleid. Er lebt in natürlicher Gleichheit, tritt jedoch aus diesem natürlichen Zustand in dem Moment heraus, in dem er sich über die Familienverbindung in immer größere Verbände hinein vergesellschaftet. Damit setzt der Sündenfall ein, die Verfallsgeschichte des Menschen beginnt, denn schon die ersten Vergesellschaftungsformen des Menschen wirken zurück auf seine charakterliche Physiognomie. Mit dem Eintritt des Menschen in einen gesellschaftlichen Zustand werden die Menschen von einander abhängig, gleichzeitig erlangt die gegenseitige Hochachtung, die gegenseitige "consideration", hohen Wert und damit das Laster der Eifersucht: "Wer am besten singen, wer am besten tanzen konnte, der Schönste, der Stärkste, der Geschickteste oder der Beredteste wurde am meisten bemerkt." 192 Die Ungleichheit der Talente kommt zum Tragen. Das Streben nach Unabhängigkeit und Autarkie besteht nun zwar weiter fort, doch beginnen die Menschen, dafiir zueinander in Konkurrenz zu treten und einander als Mittel zu mißbrauchen. Der unheilvolle Schritt aus der natürlichen "commiseration" und dem "amour de soi" in den "amour propre" verdankt der so entfremdete Mensch schließlich der ratio. Noch der vormoralische Mensch kannte nur ein selbstloses Mitleiden mit seinesgleichen "ohne

ment dieses geistigen Erwachens zum "amour propre" wird. Das "etre sensitif' drängt nach dem Wohl des Leibes, das "etre intelligent" äußert sich in dem "arnour de !'ordre" im Sinne einer moralischen Ordnung, dem Wohl der Seele. In beiden Wesenheilen des Menschen entwickelt sich zugleich die Vernunft: Dem "etre sensitir' wird sie zur instrumentellen Vernunft im Dienst des "arnour propre'·, dem "etre intelligent" wird die Vernunft zum Ziel. Einmal ist die Vernunft Sklavin der Leidenschaften, einmal erfasst sie die vernünftige Ordnung von Natur und Gesellschaft. Das Gewissen dagegen ist in Rousseaus Anschauung angeboren, wenn auch inaktiv, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Vernunft dem Gewissen eine moralische Ordnung vor Augen führt. Das Gewissen hat für den zivilen Menschen die nützliche Funktion, die die "commiseration" für den Naturmenschen ausübt. Der Mensch hat von Natur aus keine angehbare Erkenntnis des Guten, aber sobald ihm die Vernunft das Gute bekannt macht, bzw. die Erkenntnis der Ordnung vermittelt, veranlaßt ihn sein Gewissen, es zu lieben. Der Mensch ist in seiner dualen Anlage göttlichen und natürlichen Ursprungs, er kann sittlich handeln und sündigen. Aber nur deswegen kann er tugendhaft handeln. Tugend, in Rousseaus Verständnis, ist die auf inneren Prinzipien beruhende Beherrschung der menschlichen Leidenschaften. Ein geistig-göttliches Wesen kann nicht tugendhaft handeln, denn für dieses gäbe es keine böse Natur zu überwinden. Tugend entsteht erst, wenn der Mensch aufgrund eines inneren Kampfes zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit, zwischen dem "amour propre" und Gewissen handeln kann. Aufgrund dieser Leistung wird sein Handeln moralisch verdienstvoll, es wird tugendhaft. Der sittlich verdienstvolle Kampf unterscheidet " vertu·' von der bloßen "honte", die verdienstlos, weil natürlich ist. Tugendhaftes Handeln ist flir Rousseau die neue Form der bürgerlichen Freiheit, weil der Mensch sich von Fremdbestimmungen gänzlich frei macht. "Vertu" ist das beständige Vorziehen des Wohles der Seele gegen das Wohl des Leibes, das Übereinstimmen des Partikularwillens mit dem Gemeinwillen. 192 Ders. , DD, S. 237.

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Überlegen", "die Vernunft" aber "hat die Eigenliebe erzeugt" 19\ jenes Grundübel, auf das Rousseau glaubt, alle anderen zurückführen zu können. Der "amour propre" trat hervor in dem Moment des Abhängigwerdens und dem zeitgleichen Erwachen des Bedürfnisses, den anderen als Mittel für die eigene Zwecke zu mißbrauchen. Die "commiseration" schwächte sich ab, auf je mehr Individuen sie sich im Zuge der Vergesellschaftung ausdehnte. Sie war nicht mehr stark genug, den Eigenwillen in Schranken zu halten. Der Mensch konnte nicht länger gut zu sich selbst und zu den anderen sein. Mit dem "amour propre" gewannen die Laster des Täuschens, der List, des Ehrgeizes, des Neids, der Mißgunst die Oberhand. Die seelische Unabhängigkeit des Menschen ging verloren. Das Verlangen nach Wertschätzung und Liebe anderer wird zur Triebkraft des täglichen Lebens, aus Sein wird berechnender Schein. Materialismus und Ehrsucht können um sich greifen - aus einer hypothetischen Anschauung versetzt Rousseau seine Leser mit einem Mal wieder in die zeitgenössische französische Konkurrenzgesellschaft Jean-Jacques Rousseau hat nicht allein im Problem der Vergesellschaftung des Menschen einen Widerspruch zu dem erkannt, was er als das Wesen des Menschen ausmachte. Lediglich vor dem Hintergrund ungleicher Vergesellschaftung, beklagte er jene zivilisatorische Fehlentwicklung von der "commiseration" und dem "amour de soi" zum "amour propre". Die Anflinge der rationalen Durchgestaltung der Welt legt Rousseau in die Zeit nach den ersten Vergesellschaftungsformen des Menschen und der Durchsetzung des den Begriff des Eigentums erst konstituierenden Ackerbaus, als frühe Ungleichheiten zwischen Arm und Reich entstehen, die sich durch Arbeitsteilung weiter zuspitzen. Diese und die neu zum Tragen kommende Ungleichheit der Talente schafft Konkurrenz: "Der Stärkere konnte mehr verfertigen, der Geschicktere aus seiner Arbeit mehr Nutzen ziehen und der Sinnreichere vieles mit weniger ausrichten." 194 Eine forcierte Rationalisierung setzt einen letztlich ethisch kaum mehr ausdeutbaren Mechanismus in Gang, der für Rousseau in allen Feldern der historischen Vergesellschaftung virulent wird. Die zugespitzte Ungleichheit mündet schließlich in den Krieg aller gegen alle. Der Reiche verführt den Armen mit "Scheingründen" zum Abschluß eines für Rousseau illegitimen Pufendorfschen "pactum subjectionis", dem "Contrat social de riches", unter dessen Zwängen, wie Rousseau ausführt, auch noch die gegenwärtige Gesellschaft lebe. Im Resultat - und daran hatte sich bis in Rousseaus Gegenwart nichts geändert- werden die illegitimen Verhältnisse durch das bürgerliche Gesetz festgeschrieben, ja sogar untermauert, indem der Staatsvertrag nachträglich zum Kon-

193 194

Ebd., S. 220. Ebd., S. 242.

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A. Krise von Kultur und Politik

strukt "göttlichen Willens" vertalseht wird. 195 Die offene Illegitimität dieser Verhältnisse indessen ist der Initialmoment fiir Rousseaus prinzipielle Überlegungen einer legitimen Staatsgründung, wie sie dann im "Contrat Social" erfolgt. Für Rousseau ist der bestehende Staat allein durch seinen illegitimen Gründungsakt unvollkommen, seine Mängel unbehebbar, solange tatsächlich nicht seine Grundfesten gestürzt werden. Statt die Freiheiten ihrer Untertanen zu schützen, unterjochen die Oberherren diese. Gegen sie ruft Rousseau Plinius an, der Trajan anklagte: "Wir haben nur deswegen einen Fürsten, damit er uns davor bewahrt, einen Herrn zu haben." 196 Die Vererbung obrigkeitlicher Würde durch den Adel und ihre Verewigung in Familien, die die heilige Aufgabe, Freiheit zu schützen, nunmehr als unveräußerliches Eigentum der Herrschaftsausübung umdeuten, verfestigt die Unfreiheit weiter. Daran aber, daß seine eigene Unterdrückung funktioniere, daran ist auch der einzelne Mitbürger beteiligt seine Ehrsucht, notdürftig gestillt durch das Mittel der Titelverleihung, hat ihn längst dazu gebracht, den Status quo als legitim zu verklären. Schlußpunkt der Rousseauschen Philippika ist der Ausblick, daß angesichts derartiger Ungleichheit - Rousseau erwähnt explizit auch die ständische - alle Regierungsformen über kurz oder lang notgedrungen in die nackte Despotie umschlagen müssen, denn unter ihr sind am Ende alle Menschen wieder gleich, "weil sie alle nichts sind" 197 • Diese Entwicklung der Ungleichheit, der Schlußpunkt der tiefschürfenden Zeitanalyse Rousseaus, "daß ein Kind einem Alten befiehlt, der Weise unter der Führung eines Blödsinnigen steht und eine Handvoll Menschen im Überfluß erstickt und eine ausgehungerte Menge das Notwendige entbehrt", "widerstreitet dem Gesetze der Natur" - und doch entspringt sie "dem Fortgang des menschlichen Verstandes". Dies auch ist die zugespitzteste Ausformulierung der rationalistischen Antinomie der Modeme aus der Feder des Genfers und es wird klar, warum die unnatürliche festgeschriebene Ungleichheit auf Rousseaus tiefste Ablehnung stößt: Sie ebnet einer politischen Ordnung das Feld, die eine freiheitliche Lebensfiihrung nicht mehr möglich macht. 198 195 Ebd., S. 256. Diese Passagen sind zugleich die schärfsten Kritikpunkte Rousseaus an der ihm so verhaßten ungleichen und so verdienstlosen Pfründenherrschaft des Adels zusammen mit der Institution, die dessen Überdauern nach Kräften garantierte: die auf dem Gottesgnadentum fußende Monarchie des französischen Königtums. 196 Ebd., S. 250. 197 Ebd., S. 262. 198 Rousseau setzt schon hier- in den Schlußpassagen des "Deuxü!me Discours" dem falschen, illegitimen einen "wahren Kontrakt" entgegen, "zwischen dem Volke und dem Oberherm, den es wählt". "Beide Teile verpflichten sich vermittelst dieses Kontraktes, gewisse Gesetze, die darin festgelegt sind und die das Band ihrer Vereinigung ausmachen, zu halten. Das Volk vereinigt alle seine Willensmeinungen in Ansehung der gesellschaftlichen Verhältnisse in eine einzige." (ders., DD, S. 254). Deutlich verweist er schon hier auf den "Contrat Social" . Und schon hier ist der Grundgedanke des CS ent-

111. Die Kollision von Vernunft und Ethik

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Bei Rousseau korrespondiert die zusehends depravierte Entwicklung des Menschen also ebenfalls, wie bei Weber, mit einer Rationalisierungsentwicklung auf der Ebene der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung - ohne daß die Eigengesetzlichkeilen bis hierher weiter exemplifiziert worden wären. Die Ungleichheit habe, so der Genfer, mit "der allmählichen Entwicklung des menschlichen Verstandes zugenommen" 199 - und damit die Illegitimität der politischen Lebensverhältnisse. Es obsiegt in einer unnachahmlichen Eigendynamik die mit der Zivilisation des Menschen auf die Bahn geschickte Vernunft, und erweist sich in der Konsequenz als umfassender, als die Tragweite des ethischen Gebots. Im Ergebnis - das wiederum ist die verblüffende Parallele zu Weber- steht der Befund "der Widersprüche des gesellschaftlichen Systems"200 • Am Ende steht bei Rousseau also eine illegitime "moralische Ungleichheit". Weil diese "dem natürlichen Rechte zuwider" ist, kommt an dieser Stelle die Rousseausche analytische Wissenschaft zum Ende und wandelt sich zum Fanal des Aufbruchs und der Überwindung aller Illegitimität. Der Kern von Max Webers "Zwischenbetrachtung" ist das Verhältnis von Ethik und ratio, wobei Weber die gegenseitige Beziehung von rationalistischen und ethischen Strukturen in Staat und Sozialwelt einerseits und in Charakter, Habitus oder "Seele"201 andererseits aufspürt. ·Er sieht, daß im gegenwärtigen wickelt, wonach es erst Aufgabe eines zu errichtenden politischen Gemeinwesens sein wird, eine politische Ordnung zu schaffen, auf welche sich das Gewissen richten kann, um tugendhaft zu handeln. Weil die Leiden der Gesellschaft nicht göttlichen Willens entstammen und auch nicht Ausdruck eines vernünftig geordneten Naturrechts sind, sondern im Denken Rousseaus auf den menschlichen Willen gründen, ist die Neugründung eines solchen legitimen politischen Gemeinwesens nicht unmöglich. 199 Ebd., S. 228. 200 Ders., PD, S. 483. 201 Daß heute die Operationalität von so antiquierten politikwissenschaftlichen Begriffen wie dem der menschlichen "Seele" problematisch ist, versteht sich. Rousseau und Tocqueville, selbst noch Weber in seinen Rückzugsgefechten gegen die experimentelle Psychologie seiner Zeit, gingen mit der Kategorie noch wie selbstverständlich um. Gerade dann, wenn sie über die Verwirklichung und Gefahrdung wahrer politischer Freiheit nachdachten, fand der Begriff Eingang in die Erörterung. Der Begriff der menschlichen Seele bezeichnete in aller älteren politischen Literatur stets die "innere" Zuständlichkeil des Menschen, wie sie sich jeweils unter Druck und Einfluß "äußerer" "Ordnungen und Mächte", also individuell-lebensweltlich zur Relevanz kommender Wirtschafts-, Sozial- oder Herrschafts- und Verfassungssysteme entwickelten (zu dieser Denkfigur vgl. etwa Platon, Der Staat, Neuntes Buch, XII, Ausgabe Kroener, Stuttgart 1955, S. 322 oder Aristoteles, Politik, Schriften zur Staatstheorie, Siebentes Buch, Glückseligkeit und Staat, Stuttgart 1993, S. 320). Die Kategorie, an der sich im klassischen politischen Denken der beste Zustand des Menschen, die besten Entfaltungsmöglichkeiten seiner Anlagen und seines Wesens entschied, diente dem praktischphilosophischen Wissenschaftsverständnis stets als Nagelprobe der Qualität einer politischen Idee- auch noch Webers Fragen nach dem "Typus Mensch", den eine jeweilige Epoche hervorbrachte, oder der durch "Auslese'· "herangezüchtet" wurde, liegt dieser Gedanken zugrunde.

A. Krise von Kultur und Politik

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Ergebnis die ratio allerorts den Kampfplatz als Sieger verlassen hat. Aus diesem so gearteten Erfolg innerhalb der historischen Beziehung dieses Begriffspaares entsteht ftlr ihn jene gravierende Kulturproblematik, die das Zentrum seines Fragens durch das gesamte Werk hindurch konturiert. Die Kulturtheorie Rousseaus zielt in dieselbe Richtung. Sie ist ebenfalls angelegt als Geschichte der humanen Entmenschlichung, und auch Rousseau wirft der ratio vor, daran die Hauptlast zu tragen. Letzten Endes ist sie es, die die beschriebenen, in einen Status der Immoralität ruhrenden Phänomene der Arbeitsteilung, Abhängigkeit, Konkurrenz und Vergesellschaftung ursächlich aus sich heraus entfesselt hat. Am Ende jedoch steht auch bei ihm nicht- genausowenig wie bei Weber- der Geschichtsdeterminismus einer ewigen Despotie, vielmehr hält er, wie erwähnt, eine "zyklische Vorstellung von der Geschichte"202 aufrecht, "ein neuer Stand der Natur" kann sich aus der schlimmsten Despotie erheben, der "Zirkel" sich "schließen"20\ das Verhältnis von Ethik undratiosich wieder neu gestalten. Und Tocqueville? Auch er kommt hier zu einem ganz verwandten Analyseergebnis, auch wenn seine Argumentation dort, wo seine Kulturtheorie hinter der konkreten Betrachtung aufblitzt, sich auf den ersten Blick zumindest als mit derjenigen Rousseaus unvereinbar verhält. 204 Denn im Gegensatz zu Rousseau sieht er die Geschichte der menschlichen Gesellschaft sich nicht in Richtung einer immer stärker werdenden illegitimen Ungleichheit verlaufen, sondern, im Gegenteil, in Richtung einer ebenso illegitim empfundenen Gleichheit. Was hier jedoch als Gegensatz erscheint, läßt dennoch eine annähernde Deckungsgleichheil der kulturtheoretischen Anlage erkennen, stellt man die ebenfalls zyklische Anlage der Tocquevilleschen Geschiehtsauffassung in Rechnung. Dessen Kulturtheorie nämlich schließt diejenige Rousseaus mit ein und umgekehrt. Tocquevilles Gegenwartsdiagnose markiert die nächste Spirale im Zyklus des Rousseauschen Befundes, eine Ebene, die ja Rousseau selbst schon vorwegnimmt, wenn er im "Deuxieme Discours" von der maximalen Ungleichheit schreibt, die bei ihm zum Krieg aller gegen alle fiihrt - wenn schließlich "mitten in dieser Unordnung, in diesen Revolutionen die despotische Gewalt ihr scheußliches Haupt erhebt" 205 - und schließlich zum Moment des Umschlags, an

Vgl. R. Kose fleck, S. 134. Vgl. Rousseau, DD, S. 262. 204 Tocquevilles Kulturtheorie, auch wenn sie an vielerlei Stellen im Werk durchscheint, läßt sich am besten in der Einleitung der "Demokratie in Amerika" greifen, als er sich über "den Zustand Frankreichs vor siebenhundert Jahren" in Erinnerung ruft und in allen gesellschaftlichen und politischen Kräften, die sich seither entfalten, eine Entwicklung in Richtung Gleichheit auszumachen glaubt: "Geht man die Blätter unserer Geschichte durch", filhrt er aus, "so triffi man sozusagen auf kein einziges bedeutendes Ereignis, das sich im Laufe von siebenhundert Jahren nicht zum Vorteil der Gleichheit ausgewirkt hätte." (Tocqueville, ÜdDiA I, S. 7). 205 Vgl. Rousseau, DD, S. 262. 202 203

IV. Rationalistische Antinomien in der modernen Gesellschaft

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dem alle Menschen einander wieder gleich werden, "weil sie alle nichts sind". Dieser Zustand ist aber nichts anderes als der egalitäre Totalitarismus, der Tocquevilles Beobachtungsergebnis ist, jene milde Despotie, die ihre egalitaristischen Tendenzen gesellschaftsübergreifend zur Entfaltung bringt. Tocqueville antizipiert wiederum die nächste Ebene der Kreisbewegung, eine neue Ungleichheit, die sich gerade in Form der amerikanischen "Geldaristokratie"206 etabliert, wie er sie im zweiten Band der "Demokratie in Amerika" beschreibt und wie sie genauso Max Weber in Form einer "rohen Plutokratie des Besitzes" in der "schrankenlosen politischen »Demokratie« Amerikas"207, dessen formalisierender Bürokratismus täglich politisches, freiheitlich-bürgerliches Handeln zurückdrängt. Gegenüber dieser institutionellen Macht ist der moderne Mensch nicht länger gleichgestellt - sie steht weit über ihm, ein neues illegitimes Ungleichheitsgefälle tut sich auf. Auch Tocqueville ist die Entwicklungsrichtung einer politischen Ethik, die beginnt, mit der formalistischen Vernunft zu kollidieren, bekannt, auch ihm gerät daher das Verhältnis vonratiound Ethik zu einem verhängnisvollen Kulturproblem, das sich virulent vor allem in einem Feld äußert: im Politischen?08

IV. "Zerrissene Bande": Rationalistische Antinomien in der modernen Gesellschaft

"Bis gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts war das Leben eines Verlegers, wenigstens in manchen Branchen der kontinentalen Textilindustrie, ein filr unsere Begriffe ziemlich gemächliches."209 In der traditionalen Gesellschaft, so Weber weiter, kamen die Bauern "mit ihren Geweben (... ) in die Stadt, in der die Verleger wohnten, und erhielten nach sorgsamer, oft amtlicher Prüfung der Qualität die üblichen Preise dafiir gezahlt. Die Kunden der Verleger waren fiir den Absatz auf alle weiteren Entfernungen Zwischenhändler, die ebenfalls hergereist kamen, ( ... ) nach herkömmlichen Qualitäten und vom Lager kauften oder, und dann lange vorher, bestellten, woraufhin dann eventuell weiter bei den Bauern bestellt wurde."210

Vgl. Tocqueville, ÜdDiA II, S. 175. Vgl. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Rußland, S. 284. 208 In seinen Betrachtungen über Weber und Tocqueville entgeht es E. Angermann offensichtlich, daß auch das Vereinzelungstheorem von Tocqueville auf die schicksalhafte Genese der modernen ratio zurückgefilhrt wird, weil erst diese den die Demokratie begünstigenden Gleichheitsgedanken bef6rdert hat. Vgl. ders., S. 53. 209 Weber, PE I, S. 55f. 210 Ebd., S. 56. 206

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Weber zeichnete in seinem ersten Aufsatz zur "Protestantischen Ethik" ein Gemälde der alten Welt und ihrem ökonomischen Lebenskreislauf, den er geprägt sah von "mäßigem Umfang" der "Kontorstunden", "leidlichem", "zur anständigen Lebensfiihrung" "ausreichendem Verdienst"211 , und der darüber hinaus noch "Dämmerschoppen, Kränzchen und gemächliches Lebenstempo"212 garantierte. Noch 1892 war ihm in seiner Landarbeiterenquete ganz anschaulich vor Augen gefiihrt worden, daß es "ein geläufiger psychologischer Irrtum" sei zu glauben, "daß mit dieser in Fleisch und Blut übergegangenen Unterordnung" des traditionalen Arbeitsverhältnisses "persönliche Ehre und Pflichtgefiihl unvereinbar gewesen seien."213 Dieses Bild der "Behaglichkeit" findet seine direkte Entsprechung, wenn Tocqueville über das traditionale Verhältnis von Herren und Dienern im alten Staat berichtet, in dem die feste Ordnung der Aristokratie "die Sitten der Diener" nicht weniger beeinflußte als "die der Herren". 214 Er hebt hervor, daß es trotz des hierarchischen Geflilles unter der Dienerschaft nicht etwa nur "Lakaienseelen" gegeben habe, sondern überwiegend Menschen, die zwar "unter Ruhm, Tugend, Ehrbarkeit und Ehre zweifellos nicht dasselbe, wie die Herren ..." 215 verstanden, sich aber "einen Ruhm, Tugend und Ehrbarkeit der Diener geschaffen" hatten und somit "einen Begriff von einer Art Dienerehre."216 Obwohl aber Diener und Herren auf der menschlichen Stufenleiter "durch einen riesigen Abstand" getrennt waren, "so bindet sie die Zeit zuletzt aneinander. Lang währende gemeinsame Erinnerungen verknüpfen sie, und mögen sie noch so verschieden sein, sie gleichen sich an."217 Zumindest in den guten Tagen des Ancien Regime, darum geht es Tocqueville, war dieses hierarchische Verhältnis kein erniedrigendes Ausbeuterverhältnis. Auch wenn dies gerade Rousseau und mit ihm das Gros der zeitgenössischen Oppositionsliteraten noch ganz anders wahrgenommen hatten, glaubte Tocqueville zu erkennen, daß etwa Pachtzinse immer nicht nur in Geld, "sondern auch in Form von Achtung, Zuneigung und Dienstleistungen entrichtet"218 worden waren.

211

Ebd.

Ebd. Im zweiten Band der Religionssoziologie grenzt Weber das hinduistische Kastensystem gegen das der occidentalen, mittelalterlichen Stadt ab, und betont gerade hier das Moment der "Verbrüderung ihrer erwerbstätigen Bürger" in Zünften und Gilden. Vgl. ders., Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, Hinduismus und Buddhismus, GARS II, S. 38. 213 Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, S. 794. 214 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 195. 215 Ebd., S. 196. 216 Ebd. 212

217 218

Ebd., S. 197. Ebd., S. 204.

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Wer mit der Rousseauschen Geisteswelt vertraut ist, die wenig Sympathie mit dem Ständestaat des Absolutismus hegte, wird sich als dessen Pendant zu solchen ländlich-romantischen Miniaturen die träumerischen Schilderungen des Genfers der Neuchäteloiser Montagnons ins Gedächtnis rufen, wie sie Rousseau schon in jungen Jahren kennengelernt hatte und sie ihm zum Ideal der ökonomischen und politisch-sozialen Organisation des Menschen überhaupt geworden waren. 219 Seine Überzeugung, wonach die ideale soziale Basis einer Republik eine Gesellschaft von Kleineigentümern sei, hat zweifellos hier eine ihre Wurzeln. In diesen "glücklichen Bauern", die alles, was sie benötigten, mit eigener Hand erzeugten und in weitgehend isolierten und autarken Familienverbänden zusammenlebten, schien Rousseau noch Züge jener ursprünglichen natürlichen Menschen der Vorzeit zu erblicken, wie er sie in seinem "Deuxieme Discours" auftreten ließ. Die Montagnons "kultivieren mit aller möglichen Sorgfalt ihren Boden, dessen Früchte ihnen gehören und verwenden die Muße, die diese Arbeit ihnen läßt, um tausend Handarbeiten anzufertigen und den Erfindungsgeist nutzbar zu machen, mit dem sie die Natur begabt hat. Im Winter vor allem beschäftigen sie sich mit amüsanten Arbeiten, die die Langeweile vertreiben und ihr Glück noch erhöhen. Niemals wird ein Schreiner, Schlosser, Glaser oder Dreher in dieses Land kommen, denn alle sind das selbst und niemand ist es fiir andere.'mo Dennoch wäre es irrefiihrend, ein Rousseausches Ideal einer ethisch durchdrungenen ökonomischen Gemeinschaft gerade vor dem Hintergrund einer Zeit der Depravation des Menschen auszumachen. Die Montagnons waren fiir Rousseau Insulaner inmitten einer Welt, die von anderen Gesetzen gelenkt wurde, die Zeit der "heureuse mediocrite" liegt bei ihm noch viel weiter zurück als bei Weber und Tocqueville, in jenem ,jungen Weltalter", der vielleicht "glücklichsten und dauerhaftesten Zeit fiir den Menschen"221 , als kleine Gesellschaften entstanden waren, als die Sittlichkeit anfing, "bei den menschlichen Handlungen ihren Platz einzunehmen"222 und gleichzeitig der schädliche "amour propre" noch nicht so stark war, als daß er von der Tugend nicht im Zaum gehalten hätte werden können. Auch den Umschlag ethisch erfassbarer Verhältnisse zu sachlichen ökonomischen Verwaltungsbeziehungen hat Rousseau genau erkannt. In seinem Enzyklopädie-Beitrag zur politischen Ökonomie hatte er auf den Unterschied zwischen privater patriarchalischer Hauswirtschaft und öffentlicher, staatlicher 2 19 Vgl. Rousseau, Brief an Herrn d'Alembert über seinen Artikel »Genf« im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten, Schriften, Band I, S. 194f. 22o Ebd. 22 1 222

Ders., DD, S. 238.

Ebd.

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Ökonomie hingewiesen. Heute, so konstatierte er schon 1754, seien Gesetzeshandlungen des Beamten an die Stelle von vormals der persönlichen Autorität einer Vaterfigur auferlegten Pflichten getreten, die diesem die "Stimme der Natur'' geboten hatte, während sie sich filr den heutigen Beamten gerade als "falscher Führer" erweise. "Um recht zu handeln, muß der erstere nur sein Herz zu Rate ziehen, der andere wird ein Verräter, sobald er dem seinigen Gehör schenkt; seine Vernunft selbst muß ihm verdächtig sein, und er darf keiner anderen Richtschnur als der der öffentlichen Vernunft folgen, welche das Gesetz ist."223 Doch in seiner Gegenwart fand Rousseau jenes ethisch erstrebenswerte, zwischen Herrn und Diener ökonomische Solidaritätsverhältnis des PatriarchaIismus nicht mehr vor- allenfalls in der Verformung illegitimer Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Arm und Reich, die Rousseaus Kulturtheorie zufolge mit Fortgang der ökonomischen Entwicklung die Tendenz entwickeln, sich immer eindeutiger und schneller zuzuspitzen. Dieser Befund ist es, der Rousseau interpretatorisch in die Nähe der Perspektiven von Weber und Tocqueville rückt. Denn auch in Webers und Tocquevilles Betrachtungen des wirtschaftenden Menschens der vor- bzw. frühkapitalistischen Ära wurde nun "irgendwann ... diese Behaglichkeit plötzlich zerstört"224 • "lrgendein junger Mann aus einer der beteiligten Verlegerfamilien"225 , filhrte Weber seinen Gedankengang zu Ende, verschärfte die Konkurrenzbedingungen, wählte Bauern filr seinen Betrieb und erzog sie zu Arbeitern. 226 Das Angebot wurde an der Nachfrage ausgerichtet, das Prinzip "billiger Preis, großer Umsatz"227 regierte, der "Geist des Kapitalismus" hatte Einzug gehalten, oder, um es modern zu wenden, das traditionale Wirtschaftsgefilge wurde strukturell durchrationalisiert. Entscheidend ist dieses Beispiel filr Weber nun nicht, weil es den erwähnten Umbruch von traditionalistischer zu kapitalistischer Wirtschaft symbolisiert, im Gegenteil wollte Weber damit darlegen, daß schon in der alten Ordnung, wie auch in anderen Teilen der Welt, Traditionalismus und Kapitalismus bestimmte lockere Verbindungen eingegangen waren. Das alte Verlagssystem etwa symbolisierte ihm solch eine kapitalistische Unternehmung mit traditionalistischem Geist. Wesentlicher ist, und in der Konsequenz grundstürzend, daß der neue "Geist des Kapitalismus" in die traditionalistische Wirtschaftsweise eingekehrt war. 228 Nicht also der Kapitalismus, sondern seine spezifisch moderne Ausprägung, wie sie sich auch aus der protestantischen Ethik und der ihr korrelierenden rationalen Lebensfilhrung entwickelt hatte und alsbald religiös emanzipieren sollte, markiert fiir Weber die Schnittstelle. Dieser Umschlagspunkt ist das große verbindende Thema WeDers. , AüdpoiÖk, S. 229f. Weber, PE I, S. 57. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd. 223

224

228

Ebd., S. 58.

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bers, Tocquevilles und eingeschränkt auch Rousseaus. Immer geht es um den Ablöseprozeß der alten Welt und um das Heraufziehen der neuen, um das Ende traditionaler Phasen - die bei Rousseau freilich noch viel weiter zurückliegen und den Umschwung zum bürokratischen Hochkapitalismus, um den Siegeszug sachlicher Arbeits- und Herrschaftsbeziehungen. In diesem Sinne auch behandelt Alexis de Tocquevilles "Der alte Staat und die Revolution" im Kern dasselbe Problem wie die Landarbeiterenquete Max Webers von 1892. Ähnlich wie Weber in seinem Verlegerbeispiel beschreibt Tocqueville diesen Wandlungsprozeß der wachsenden Arbeitsteilung und forcierten Industrialisierung. Unternehmer und Arbeiter, das ist das Ergebnis seiner Zeitdiagnose, beginnen, sich voneinander zu distanzieren. Bald wird der Arbeiter "nur mehr die Körperkraft ohne geistige Tätigkeit benötigen", der Unternehmer "bedarf zum Gelingen des Wissens und fast des Genies. Der eine gleicht immer mehr dem Verwalter eines umfassenden Reiches und der andere einem Vieh,"229 schreibt er schon fast in marxistischem Tenor. Rousseau, dem die Vorboten der Industrialisierung in seiner Heimatstadt Genf schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unübersehbar begegnet waren, stößt ins gleiche Horn und glaubte, eine Epoche brandmarken zu müssen, in der der Wert des Menschen sich nur noch nach seiner Arbeitskraft zu bemessen schien. "Die Politiker der Alten", klagte er, " ... redeten immerfort von Sitten und Tugend, die unsrigen reden von nichts als vom Handel und vom Gelde. Der eine wird uns sagen, daß ein Mensch in dieser oder jener Gegend so viel wert ist, wie er in Algier kosten würde, ein anderer wird ... finden, wo ein Mensch gar nichts, und noch andere, wo er weniger als nichts wert ist. Sie schätzen die Menschen wie Herden Vieh."230 Im Zeitalter der entfesselten Konkurrenz der Talente wird das einzelne Individuum am Ende "anderer Menschen Sklave"231 • Aus den gegenseitigen sozialen Beziehungen waren Ketten geworden, die der aus der entfesselten Konkurrenz und Abhängigkeit entstandene Reichtum als die letzte übermächtige Ungleichheit, die "endlich alle übrigen verschlingt" 232 - also "Adel, Rang, Macht und persönliche Verdienste" - geschmiedet hatte. Offensichtlich ist es nicht die schlichte, quantitative Forcierung des kapitalistischen Konkurrenz- und Akkumulationsdenkens, so wenig wie der spezifisch moderne rein äußere Schub an Rationalisierungsdynamik im ökonomischen Prozeß, der in der allseitigen Betrachtung ins Gewicht flillt. Weber, Tocqueville und Rousseau geht es um etwas anderes. In seinen Ausruhrungen hat Rousseau immer wieder auf einen Begriff abgehoben, der metaphorisch so eindrucksvoll

229 230 23 1 232

Tocqueville, ÜdDiA II. S. 176. Rousseau, DD, S. 48.

Ebd., S. 243. Ebd., S. 260.

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benennt, waser-und bezeichnenderweise nach ihm auch Tocqueville und Weber - als vielleicht den größten politisch-sozialen Kulturverlust der Modeme ausgewiesen haben: das Zerreißen jener so oft zitierten Iiens, der sozialen und politischen Bande also, oder um Rousseau selbst zu Wort kommen zu lassen, der "Bande der Achtung und des Wohlwollens, die die Menschen an die Gesellschaft binden". 233 Die wachsende, letzten Endes von der ratio inthronisierte ökonomische und politische Entfremdung von Unternehmer und Arbeiter, von Herrscher und Beherrschten führt in Rousseaus Denksystem zu einem Überhang des Privatismus, der öffentliche Beziehungsformen mehr und mehr unmöglich macht. "Wenn aber das gesellschaftliche Band sich zu lockern beginnt", schreibt er im "Contrat Social", " ... wenn das gesellschaftliche Band in allen Herzen zerrissen ist","... wenn die Privatinteressen sich bemerkbar machen und die kleinen gesellschaftlichen Vereinigungen die große Gesellschaft zu beeintlußen beginnen, dann verkümmert das gemeinschaftliche lnteresse.. .''234 • Tocqueville, die neue amerikanische Finanzoligarchie des bürgerlichen Unternehmertums im Visier, folgt diesen Ausftlhrungen. Er stellt die nur rhetorische Frage: "Was ist das, wenn nicht eine neue Aristokratie?"235 Ein ftlr ihn offen zu Tage liegender Unterschied zur neuen "Aristokratie der Fabrikanten"236 wird ihm an der "Demokratie in Amerika" deutlich. In den aristokratischen Gesellschaften " ... stützen sich alle Menschen wechselseitig und hängen voneinander ab; es besteht zwischen allen ein hierarchisches Band (hervorgehoben vom Verf.), mit dessen Hilfe man jeden an seinen Platz und die ganze Gesellschaft in Gehorsam halten kann"237, in der amerikanischen Demokratie jedoch stellt er fest: "Nicht nur sind die Reichen untereinander nicht fest verbunden, sondern man kann sagen, daß kein wirkliches Band (hervorgehoben vom Verf.) zwischen dem Armen und dem Reichen besteht. Sie sind nicht für immer aneinander gebunden; jeden Augenblick werden sie durch den Vorteil zusammengeftlhrt oder getrennt. Der Arbeiter hängt von den Herren im allgemeinen, nicht aber von einem bestimmten Herrn ab. Diese zwei Menschen sehen sich in der Fabrik und kennen sich anderswo nicht; und während sie sich an einem Punkte berühren, sind sie an allen anderen weit voneinander entfernt. Der Fabrikant verlangt vom Arbeiter nur seine Arbeit, und der Arbeiter erwartet von ihm nur den Lohn. Weder verpflichtet sich der eine zum Schutz noch der andere zur Verteidigung, und sie sind weder durch die Gewohnheit noch durch die Pflicht dauernd miteinander verbunden.'ms Ders., Vorrede zu »Narcisse«, S. 157. Ders., CS, S. 358. 235 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 176. 236 Ebd., S. 177. 237 Ebd., S. 103. 238 Ebd., S. 177f. 233

234

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Die neue Wirtschaftsform hat in der Sicht Tocquevilles eine Situation geschaffen, in der die soziale Bindungskraft schwach geworden ist und zentrifugale Tendenzen innerhalb der Bürgerschaft desintegrierend wirken. Nach Rousseau ist es Tocqueville, der das Bild der zerrissenen Bänder - fast durchgängig wählt239, um den Zustand sich in der Auflös~ng befindlicher politischen Brüderlichkeit - oder modern: Solidarität - unter den Menschen Ausdruck zu verleihen. In der modernen Demokratie, so sagt er, "dehnt und lockert sich" 239 Tocqueville benützt den Begriff der Iiens in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen. Einerseits und vorrangig benennt er damit personale und ethisch ausgefüllte Beziehungen, wie sie hier diskutiert werden, andererseits bezeichnet er damit auch gedankliche Verbindungen, und zwar in erster Linie die Verbindung von Volk und kollektiven Wertvorstellungen, wie sie Religion oder deren säkularisierte Entsprechungen, Nationalismus und Patriotismus, in ihrer Funktion des Stiftens kollektiver Identität liefern können. In einem Brief vom 15. August 1840 an Pierre-Paul Royer-Collard spricht Tocqueville von "Je Iien Je plus fort qui retienne cette nation ensemble" und meint damit den starken "orgueil national" der Franzosen. Ein anderes Beispiel findet sich in einem Brief an Beaumont vom 20. Oktober 1856. Hier fordert Tocqueville, "daß die Priester den Menschen öfters sag(t)en, daß sie auch als Christen einem dieser großen menschlichen Verbände angehören, die Gott ohne Zweifel begründet hat, um die Bande sichtbar und fühlbar zu machen, durch die die Individuen miteinander verbunden werden: diese Verbände nennt man Völker und ihr Territorium Vaterland." (ders., Brief an Gustave de Beaumont vom 20. Oktober 1856, OC, Band VI, S. 347f und ders., A. Salomon, S. 226f). In einer weiteren Bedeutungsebene sind die Tocquevilleschen Bande Ausdruck für Tocquevilles Überzeugung, daß es zur Verwirklichung der Freiheit in der neuen Zeit immer einer bestimmten Konstellation verschiedener beteiligter Ideen bedarf, einer Balance von Werten, die nie isoliert bestehen können, sondern sich ergänzen müssen und einander gegenseitig bedürfen. Die Über- oder Unterbewertung eines Elements kann das gesamte Gleichgewicht, d. h. die Freiheit selbst, zum Einsturz bringen. "Die Moral, die Religion, die Ordnung ... die Freiheit und die Gleichheit der Menschen ... Das sind alles heilige Dinge( ... ), denn Größe und Glück des Menschen können ... nur aus der Vereinigung dieser ... Gegebenheiten entstehen. Von da an hielt ich es für eine der schönsten Aufgaben unserer Zeit zu zeigen, daß diese Dinge nicht unvereinbar sind und daß sie vielmehr durch ein notwendiges Band verbunden sind." (ders., OC, Band V, S. 432f., und A. Salomon, S. 192). Das für Tocqueville wichtigste Band innerhalb dieser Vielzahl von ideellen Werten ist die Allianz von Religion und Freiheit. Er führt wiederholt aus, daß nur dieses den Menschen vor dem demokratischen Despotismus bewahren kann (ders., Brief vom I. Dezember 1852, OC, Band VII. S. 295 und A. Salomon, S. 213. Vgl. auch ders., Brief an Gustave de Beaumont, OC, Band VI, S. 121 und A. Salomon, S. 121 ). Ein intaktes Band zwischen religiöser und politischer Wertsphäre macht Tocqueville noch in England aus, wo ihm die "vollkommene . Übereinstimmung von religiöser und politischer Welt, von privaten und öffentlichen Tugenden, von Christentum und Freiheit" eine "lang entbehrte Freude machte" (ders., Brief an Gustave de Beaumont vom 29. Juli 1857, OC, Band VI, S. 393f. und A. Salomon, S. 230). Hans Arnold Rau hat in seinem ansonsten überzeugenden Tocqueville-Buch diesen Schlüsselbegriff an einigen Stellen mit "Fessel" übersetzt (so etwa S. 32, vgl. ders., Demokratie und Republik, Würzburg 1981 ). Damit wird die Metapher jedoch völlig verzerrt. "Fessel" konnotiert Begriffe wie Unfreiheit und Zwang und verkennt die für Tocqueville so essentielle freiheitsstiftende Qualität der zwischenmenschlichen Bande. Für Tocqueville ist gerade ihre Restituierung in der Demokratie letztlich Hauptpfeiler seines im Ursprung antiken Freiheitsbegriffs.

5 Hecht

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"das Band der menschlichen Zuneigungen". Diese "personalen Bande", wie sie Mare Bloch in der- von Tocqueville, Rousseau und Weber keineswegs gepriesenen - "societe feodale" noch so zahlreich vorgefunden hatte240, sind unter dem Druck einer auf Eigeninteressen errichteten egalitären und kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft aufs äußerste angespannt oder bereits durchtrennt. Es ist auffallend, daß auch Max Weber genau dieses Bild übernimmt, als er das so typische unpersönliche Verhältnis einer modernen Finanzbeziehung charakterisiert. "Keinerlei persönliches Band' bestehe heutzutage zwischen den "wechselnden Inhabern von Pfandbriefen" und "den ihnen unbekannten und ebenfalls wechselnden Schuldem der Hypothekenbank" 241 . Für Rousseau waren die Bande noch stark geknüpft, als es noch Gesellschaften gab, "die nicht anders als in Einigkeit leben konnten, weil sie bloß durch das Band der Freiheit und der gegenseitigen Zuneigung verknüpft gewesen ist"242. Die "Gemeinschaft breitete sich weiter aus und die Bande schlossen sich fester zusammen" 243 • Doch sie wurden durch "den Geschmack an der Philosophie", an der allgewaltigen Vernunft in all ihren disziplinären und instrumentellen Spielarten, "gelockert" - "und dies ist vielleicht das gefährlichste Übel, das sie hervorbringt"244 . Rousseaus Hauptanklage ist dabei nicht nur, daß er die interpersonalen Bande mehr und mehr gelockert, schließlich zerstört vorfindet, sondern daß er beobachten mußte, wie sie durch andere, aber um so fesselndere ersetzt werden. In einer Anmerkung zum "Premier Discours" heißt es: "Ich beklage, daß die Philosophie jene Bande der Gesellschaft, welche durch Achtung und gegenseitiges Wohlwollen gebildet werden, lockert, und ich beklage, daß die Wissenschaften und Künste und alle übrigen Gegenstände des Handeins die Bande der Gesellschaft durch das persönliche Interesse wieder fester knüpfen. Denn man kann in der Tat keines dieser Bande fester knüpfen, ohne daß das andere sich in demselben Maße lockert. Hierin liegt also kein Widerspruch."245 Für Rousseau liegt hierin vielmehr die Erklärung dafiir, wie die anethische ratio, im ökonomischen wie im politischen Bereich Einzug haltend, einen sozialethischen, eine politische Gemeinschaft stiftenden Verband zu zerstören vermochte und gleichzeitig in einen solchen überfUhren konnte, dessen innere Bindungskraft fortbestand, nur jetzt jeglicher ethischer Zugänglichkeil entkleidete Strukturen der Abhängigkeit und gegenseitiger Ausbeutung zu tragen begann. Auf dieser Folie wird Rousseaus Satz aus dem "Genfer Briet'' Frau von Orbes an Frau von Wolmar- "Man kommt einander näher, und die Herzen 240 Vgl. Mare Bloch, Die Feudalgesellschaft, Frankfurt 1982. 241 Weber, Zwischenbetrachtung, S. 544. 242 Rousseau, DD, S. 234. 243 Ebd., S. 236. 244 Ders., Vorrede zu »Narcisse«, S. 156. 245 Ebd., S. 157.

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entfernen sich", verständlich. Der einzelne kommt im Zuge seiner Vergesellschaftung dem anderen näher, auch die psychologische Distanz nimmt ab und dennoch ist diese Nähe nicht ethisch zu definieren. Im "Contrat Social" wird Rousseau sich dann - einem echten Gesetzgeber gleich - aufmachen, die "Bande der Brüderschaft"246 wieder zu erneuern. Tocqueville, der in "Der alte Staat und die Revolution" eine Geschichte des vorrevolutionären Frankreichs schreibt, die tief im Feudalsystem beginnt und in einem Schreckensgemälde des physiokratischen Sozialtotalitarismus gipfelt, expliziert auch hier den entscheidenden Umschlagspunkt. Die neue "ungeheuere Sozialgewalt", wie sie sich die Physiokraten vorstellen247, unterscheidet sich von allen vorherigen historischen Stadien hauptsächlich im "Ursprung und Charakter": "Sie kommt nicht unmittelbar von Gott; sie knüpft sich nicht an eine Tradition, sie ist unpersönlich (hervorgehoben vom Verf.), sie heißt nicht mehr König, sondern der Staat."248 Die alte patriarchalische Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft, so stellt Weber knapp 40 Jahre später im "rückständigen" Ostelbien fest, "nähert sich, nachdem die feste Klammer des gemeinschaftlichen Interesses, welche sie zusammenhielt, gesprengt ist, dem Zerfall". 249 Allerdings - und das entgleist zum Kulturproblem des Kapitalismus - sind "die Beziehungen zum Gutsherr ... gelockert, ohne daß eine Beziehung zum Staat geschaffen wurde."250 In der Gegenwart ist, so Weber an anderer Stelle, die "Unpersönlichkeit der Beziehungen von Zinsherr und Zinspflichtigem ( ...) das Charakteristikum dieser heutigen Tributptlichten."251 Tocqueville erkennt, daß nach 1789 ,jeder Franzose zwar aufgeklärter, unabhängiger und schwerer durch Zwang" zu beherrschen war, doch "bestanden zwischen ihnen keine natürlichen und notwendigen Bande mehr. Ein jeder empfand ein lebendigeres und stolzeres Gefühl seiner Freiheit, aber es wurde ihm schwerer, sich mit anderen zu vereinigen, um sie zu verteidigen; er war unabhängig, konnte sich aber auf niemand mehr verlassen. Diesseihe soziale Bewegung, die seine Fessel gesprengt hatte, hatte seine Interessen isoliert und man konnte ihn einzeln erfassen, um ihn zu zwingen oder von den anderen getrennt zu korrumpieren." 252 Wiederum ist offensichtlich, daß der Tocquevillesche Fragehorizont den Umschlagspunkt der alten traditionalen zur egalitären 246 Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, in: Ders., Sozialphilosophische und politische Schriften, Ausgabe Winkler, München 1981, S. 568f. 247 Tocqueville, DaSudR, S. 163. 248 Ebd. 249 Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, S. 794. 250 Ebd., S. 797. Weber entwickelte den Gedanken der Depersonalisierung moderner Geschäftsbeziehungen und den Niedergang personal gebundener, traditionaler Beziehungen bereits in seinem Artikel "Was heißt christlich-sozial?" in: Die Christliche Welt, 8. Jahrgang, Nr. 20, Leipzig 1894, Sp. 472-477. 251 Ders., Die Börse, GASS, S. 269. 252 Vgl. Tocqueville, Rede zur Aufnahme in die französische Akademie, in: A. Salomon, S. 127f. 5*

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modernen kapitalistischen Welt in den Vordergrund treten läßt. 253 Die "zerrissenen Bande" hat Weber gerade in seiner Landarbeiterenquete von 1892 gesehen. Fortan bleibt diese Beobachtung leitend filr seine weitere Sicht auf die Entwicklung der modernen Arbeitsbeziehung. Das depersona1isierende Phänomen der Modeme, das Tocqueville und Rousseau mit "zerrissenen Banden" menschlicher Beziehungen plastisch beim Namen nennen, hat als bestimmendes Thema Webers in dessen Sprache unter mehreren Signaturen, auch unter dem bekannten Titel von Ferdinand Tönnies, "Gemeinschaft und Gesellschaft" 254, Eingang gefunden. Mit diesen Begriffen beschreibt Weber- etwa im "Kategorienaufsatz" von 1913 255 - die sich mit dem Aufziehen des abendländischen Rationalismus parallel vollziehende Tendenz der säkularen Umwandlung menschlicher Beziehungen von stärker "subjektiv gefilhlter Zusammengehörigkeit" zu ihrer jeweils vergesellschafteten Form, " ... in der die Einstellung sozialen Handeins auf rational motiviertem Interessenausgleich beruht". 256 Was hier schon im Jargon der modernen Sozialwissenschaft anklingt, hat Tocqueville bereits in der "Demokratie in Amerika" thema-

253 Schon in der sich im Münchner Nachlaß-Deponat Weber-Schäfer befindenden, in Anmerkung 140 bereits erwähnten, unveröffentlichten Nachschrift der Vorlesung, die Max Weber an der Universität Freiburg unter dem Titel "Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land" gehalten hat, stellte er als primäres Analyseergebnis heraus, daß in der modernen Arbeitsbeziehung "das persönliche Interesse des Herrn an seinem Arbeiter ... auf ein minimum herabgedrückt" sei, der Arbeiter sei demnach "dem Capitale unterworfen", wie aus dieser Bezeichnung hervorgehe, "etwas unpersönlichem" (ebd., S. 45). Wie schon oben erwähnt, zieht Weber in dieser Vorlesung Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klassen in England" heran, um dieses Resultat der modernen Entwicklung der Arbeitsbeziehung zu illustrieren. Er würdigt Engels Befund einer "gänzlichen Lösung der personalen Beziehungen zum Herrn und ebenso der dauernden Beziehungen zu demselben, sowie das Verschwinden des persönlichen Interesses an der Leistung" als eines dessen primärer Ergebnisse (ebd.). 254 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie ( 1887), Darmstadt 1969. 255 Vgl. Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, GA WL, S. 427474. 256 Ders., WuG, S. 21. Weber folgt Tönnies in der Charakterisierung der Keimformen von Gemeinschaft und Gesellschaft. Die ersteren sind "durch mütterliche, geschlechtliche und geschwisterliche Liebe gegeben", während "die elementare gesellschaftliche Tatsache im Tauschakte vor(liegt), der sich am reinsten darstellt, insofern als er sich vollziehend gedacht wird von Individuen, die einander fremd sind und nichts miteinander gemein haben, also wesentlich antagonistisch oder geradezu feindlich einander gegenüberstehen." (F. Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken, Erste Sammlung, Band I, Jena 1925, S. 66). Für Weber spricht, daß er in der Übernahme der Begriffe aus Tönnies "schönem Werk" (WuG, S. I) vereinfachenden ideologischen Fallschlingen entging, und nicht, wie große Teile der romantisch-konservativen Kulturkritik bis hin zur deutschen Jugendbewegung, alles "Gemeinschaftliche" als "organisch-harmonisch" oder in einem Ursprünglichkeilsmythos verklärte, sondern von den beiden Begriffen in der gebotenen Nüchternheit lediglich heuristisch-analytischen Gebrauch machte.

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tisiert. Ihm ist zwar der Begriff der "Vergesellschaftung" noch nicht geläufig, doch er erfasst bereits, daß heutzutage "eine Menge Handlungen, die früher der Überwachung durch die Gesellschaft völlig entzogen waren, ( ... ) dieser heutzutage völlig unterworfen worden" sind, "und ihre Zahl wächst fortwährend." 257 Weber erkennt die Vergesellschaftung der Gemeinschaft zum Zweckverband, aber auch in zunehmendem Maße, wie aus Gemeinschaftshandeln mehr und mehr vergesellschaftetes Handeln, also an gesatzten standardisierten Ordnungen und sachlichen Zwecken orientiertes Handeln tritt, wie es in jeder Vertragsbeziehung zum Ausdruck gelangt. In Rousseaus Denken sucht dagegen vergebens, wer nach einem Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft forscht. Rousseau kennt nur die Gesellschaft und den Prozeß der Vergesellschaftung als dem Heraustreten des Menschen aus seinem natürlichen Urzustand. "Gemeinschaft" hätte er allenfalls den in seiner Kulturtheorie erwähnten frühen Hüttengesellschaften zugebilligt, nicht jedoch einer auf illegitimen Herrschaftsstrukturen errichteten modernen Gesellschaft. Den tiefgreifenden wie grundstUrzenden Wandel, den Weber und Tocqueville nicht müde werden zu thematisieren, verlegt er in die Frühzeit der menschlichen Genese und ihrer Gesellschaftsbildung. Wie aber konnte sich dieser Wandel vollziehen? Für Weber liegt die Antwort im Strukturprinzip der ökonomischen Tauschbeziehung selbst begründet. Rationale Wirtschaft ist ihm "sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, die im Interessenkampf der Menschen untereinander auf dem Markt entstehen. Ohne Schätzung von Geldpreisen, also: ohne jenen Kampf, ist keinerlei Kalkulation möglich. Geld ist das Abstrakteste und »Unpersönlichste« was es im Menschenleben gibt."258 Der Tauschakt zählt ihm, wie schon Karl Marx, als Ursprung der Verunpersönlichung einer menschlichen Beziehung. Daraus folgt, daß neben dem "rein frei paktierenden Zweckverein" als einer "auf sachlichen Interessen der Mitglieder abgestellten Vereinbarung kontinuierlichen Handelns"259 und dem "wertrational motivierten Gesinnungsverein"260 als dem "reinsten Typus" der Vergesellschaftung, gerade der "streng zweckrationale, frei paktierte Tausch auf dem Markt"261 gilt. Er liegt idealtypisch in der Marktsituation vor, wie sie in den Anfängen des modernen Kapitalismus in der okzidentalen mittelalterlichen Stadt entstehen konnte. 262 Die Marktvergesellschaf257 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 329. 258 Weber, Zwischenbetrachtung, GARS I, S. 544. 259 Ders., WuG, S. 22. 26o 261

Ebd. Ebd.

262 Auch Webers Aufsatz zur Soziologie der Stadt, der nach seinem Tod im AfSuS erschien, ist inspiriert von seinem drängendem Suchen nach dem beschriebenen Umschlagspunkt. Die okzidentale Stadt des Mittelalters definierte er andernorts zwar als bereits "anstaltsmäßig vergesellschafteter Verband von Bürgern" (ders., WuG, S. 737), die als solche primär als Rechtsgenossen definiert sind, jedoch erachtete er es als vorrangig,

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tung263 stellt sich Weber als "Archetypos" "alles rationalen Gesellschaftshandelns"264 dar. Da ihre Teilnehmer idealtypisch ausschließlich an rationalerwogenen, rein "sachlichen" Interessen an Tauschgütern orientiert handeln, ist Weber die Marktgemeinschaft "die unpersönlichste Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können."265 Ihr ist ,Jede Verbrüderung in der Wurzel fremd" 266. Das Problem liegt filr Weber dabei weniger in der Tatsache, daß der Markt den Interessenkampf seiner Teilnehmer einschließt, sondern darin, daß er sich an einer Rechnung, einem buchfilhrenden Kalkül ausrichtet, dabei "spezifisch sachlich, am Interesse an den Tauschgütern und nur an diesen orientiert ist"267 . Noch der Kampf ist ihm wesentlich eine persönlich ausdeutbare soziale Beziehung, wie es etwa im "intimen, menschlichen ... Ringen mit dem Partner ... um dessen Seelenrettung"268 vorliegen kann, wo aber " ... der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten. ( ... ) Sie alle bilden Hemmungen der freien Entfaltung der nackten Marktvergemeinschaftung ... Der »freie«, d. h. durch ethische Nonnen nicht gebundene Markt mit seiner Ausnutzung der Interessenkonstellation und Monopollage und seinem Feilschen gilt jeder Ethik als unter Brüdern verworfen."269 Die Sachlichkeit als interpersonales Strukturprinzip der Tauschbeziehung - und alle kapitalistisch

daß dennoch gemeinschaftliche Formen, die sich innerhalb der Stadtgemeinde entfalten konnten, erhalten blieben, obwohl die frühneuzeitliche Stadt in einer historischen Phase weit nach der griechischen Polis-Verfassung liegt, die Weber noch eine "persönliche Freiheit der Lebensführung" garantierte. Das Entscheidende ist für ihn, daß im Zuge der Vergesellschaftung dennoch eine Verbandsbildung im Sinne einer "Verbrüderung" (WuG, S. 747f.) stattfinden konnte, die sich etwa an der Teilnahme des BUrgers am Abendmahl oder in offiziellen kirchlichen Feiern manifestierte. Unter einem ähnlichen Gesichtspunkt umkreiste Max Webers Aufsatz "Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter" (ders., GASW, S. 312-443) die entpersonalisierenden Folgephänomene des Einzugs des Geistes des modernen Kapitalismus, diesmal den Umschlag von persönlicher Haftungsverantwortung eines Mitgliedes einer Handelsgesellschaft zum modernen Phänomen einer Kommanditgesellschaft, die als Verband zur nur noch juristischen Person wird. Webers allgemeines Interesse an der Entstehung der okzidentalen Städte ist sicherlich von seiner wohlbegründeten Ahnung entfacht worden, gerade hier die ersten Formen von "Vergesellschaftung" auszumachen. Hier auch konnte er den unpersönlichen Markt in seiner Entstehung studieren, hier sah er an der Wurzel "das Hineintragen eines rein geschäftlichen Verkehrs in die alten Gemeinschaften selbst, (und damit) den ersten Schritt zu ihrer Zersetzung." (ders., Die Börse, S. 259). 263 Ders., WuG, S. 382f. 264 Ebd. 26s Ebd. 266 Ebd., S. 383. 267 Ebd. 268 Ebd. 269 Ebd.

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gefärbten Beziehungen sind Tauschbeziehungen -, erstickt jegliche Möglichkeit des Eintretens brüderlichkeitsethischer Anforderungen in die jeweilige rationalisierte Lebenssphäre, oder, in den Worten Georg Simmels, der genau dem Thema der "Entfernung des personalen Elements aus den Beziehungen zwischen Menschen"270 in seinem Werk nicht minder großen Raum gewidmet hat: "Das Geld aber stellt das Moment der Objektivität der Tauschhandlungen gleichsam in seiner Abgelöstheil und selbständigen Verkörperung dar, da es von allen einseitigen Qualifikationen der tauschbaren Einzeldinge frei ist und daher von sich aus zu keiner wirtschaftlichen Subjektivität ein entschiedeneres Verhältnis hat als zu einer anderen ... ( ... ) Die Objektivität des gegenseitigen Verhaltens der Menschen ... gewinnt an den rein geldwirtschaftlichen Interessen ihre restloseste Ausprägung. Was gegen Geld fortgegeben wird, gelangt an denjenigen, der das meiste dafiir gibt, gleichgültig, was und wer er sonst sei."271 Den Schlüsselbegriff, den Weber in diesem Zusammenhang einsetzt, ist der der ethischen ,. Unzugänglichkeit". 272 Jede moderne ökonomische Beziehung ist ihrer ethischen Ausdeutung "unzugänglich", verschlossen. Die persönliche Beziehung zwischen Herr und Sklave, obwohl an sozialhierarchischem Gellilie kaum zu überbieten, war "ethisch restlos zu regulieren, eben weil sie persönlich. war''273 • Die moderne ökonomische Kapitalherrschaft erlaubt gerade das nicht mehr. Sie ist "ihres »unpersönlichen« Charakters halber ethisch nicht reglementierbar''274. Die alten traditionalen Beziehungen wiesen noch strukturelle Merkmale auf, wie dies auch Tocqueville anfiihrt, die es nicht nur zuließen, sondern deren Konstitutionsprinzip es geradezu war, mit ethischen Postulaten an sie heranzutreten. Diese Möglichkeit der ethischen Zugänglichkeil wird von der modernen Geschäftsbeziehung aufgekündigt. In der vom Handlungsmodell

270 Georg Simmel, Philosophie des Geldes ( 1900), Gesamtausgabe Band 6, hrsg. von David P. Fisby und Klaus Christian Köhnke, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1996, S. 395. 271 Ebd., S. 601. 272 Ders., Zwischenbetrachtung, S. 544. 273 Ebd. 274 Ders. , WuG, S. 708. Das Zitat geht weiter: "Man kann an das Verhältnis des Hausherrn zum Dienstboten, des Meisters zum Lehrling, des Grundherrn zum Hörigen oder Beamten, des Herrn zum Sklaven, des patriarchalen Fürsten zu den Untertanen, weil sie persönliche Beziehungen sind. und die zu leistenden Dienste einen Ausfluß und Bestandteil dieser darstellen, mit ethischen Postulaten herantreten und sie inhaltlichen Normen zu unterwerfen suchen. Denn, innerhalb weiter Grenzen, sind hier persönliche, elastische Interessen im Spiel und kann das rein persönliche Wollen und Handeln entscheidende Wandlungen der Beziehung und Lage der Beteiligten herbeiführen. Dagegen sehr schwer das Verhältnis des Direktors einer Aktiengesellschaft, der die Interessen der Aktionäre als der eigentlichen "Herren" zu wahren verpflichtet ist, zu den Arbeitern von deren Fabrik und gar nicht dasjenige des Direktors der die Aktiengesellschaft finanzierenden Bank zu jenen Arbeitern oder etwa dasjenige eines Pfandbriefbesitzers zu dem Besitzer eines von der betreffenden Bank beliehenen Guts." (WuG, S. 708f.).

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des Markt- und Tauschprinzips geprägten, modernen Massendemokratie dominieren "»sachliche« weder ethische noch antiethische, sondern einfach anethische (hervorgehoben vom Verf.), jeder Ethik gegenüber disparate Erwägungen ..." das Verhalten und " ... schieben zwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen."275 Im Kapitalismus, folgert Weber, können caritas und Brüderlichkeit vom Einzelnen, "dem Prinzip nach, nur noch außerhalb seines, diesen durchaus fremden ökonomischen "Berufslebens" geübt werden."276 Es ist Georg Simmel, der Weber in diesen Gedanken sichtlich beeinflußt hat. Seine "Philosophie des Geldes" von 1900, die jene "Objektivierung des Lebens" im und durch den Kapitalismus beschreibt, mündet in der identischen Beobachtung einer depersonalisierten modernen Welt: "Die mittelalterliche Korporation schloß den ganzen Menschen in sich ein: eine Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen, welche die bloßen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und sonstigen Hinsichten. Im Gegensatz zu dieser Einheitsform hat die Geldwirtschaft unzählige Assoziationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern bloß Geldbeiträge verlangen oder auf ein bloßes Geldinteresse hinausgehen. Hiermit ist nun eine der wirkungsvollsten kulturellen Formungen gegeben: die Möglichkeit des Individuums, sich an Assoziationen zu beteiligen, deren objektiven Zweck es fördern oder genießen will, ohne daß fiir die Persönlichkeit im übrigen die Verbindung irgendeine Bindung mit sich brächte. Das Geld hat den Zweckverband zu seinen reinen Formen entwickelt, jene Organisationsart, die sozusagen das Unpersönliche an den Individuen zu einer Aktion vereinigt und uns die Möglichkeit gelehrt hat, wie sich Personen unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Spezifischen vereinigen können."277 In seiner Analyse wertet Tocqueville auch dieses Phänomen identisch. In dem Moment, so fiihrt er aus, in dem der Arme und der Reiche von den unsichtbaren Gesetzen der Kapitalakkumulation beherrscht werden, verbindet sie "fast gar kein gemeinschaftliches Interesse, keine gemeinsamen Nöte und keine gemeinschaftlichen Angelegenheiten mehr... Die Dunkelheit, die den Geist des einen dem Geist des anderen verbirgt, (wird) unergründlich, und diese beiden Menschen würden ewig nebeneinander leben können, ohne einander jemals wirklich kennenzulernen."278 Er spricht in diesem Zusammenhang wiederum vom zerstörten "gesellschaftlichen Band" zwischen den Arbeitern 279, an dessen Stelle ein neues Medium tritt, das den vakanten "Zwischenraum fiillt" 280: das Ebd., S. 708. Ebd., S. 71 0. 277 G. Simme/, Philosophie des Geldes, S. 721. 278 Tocqueville, DaSudR, S. 137. 279 .. Ders., UdDiA II, S. 61. 280 Ders., Voyage en Angleterre et Irlande, OC, Band II, S. 63. 275

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Geld. "Zahlungsverkehr" wird - das ist ein verbreiteter Topos in der Literatur der Zeit, ob bei Thomas Carlyle oder Honore de Balzac - zum neuen sozialen Nexus unter den Menschen. Jean-Jacques Rousseau hat diesen rein materiellen sozialen Integrationsfaktor oft beschworen und ihn - etwa im Rahmen seines Exkurses über die Schweiz in der Korsika-Schrift281 - innerhalb seiner ansonsten so geliebten Vaterstadt Genf am Werk gesehen. Seine Genfer Mitbürger, "begabt und mutig, lebhaft und scharfsinnig", seien sie zwar, "nichts Großes und Edles ist zu hoch" fiir sie - und doch bedauert er im ftlnften Brief des sechsten Teils seiner "Julie"282, sie trachteten dennoch "mehr nach Geld als nach Ruhm". 283 Was Weber, Tocqueville und Rousseau am ökonomischen Spektrum explizierten, läßt sich genauso in den Bereich des Politischen überfuhren. Je stärker eine entfesselte ratio auch diese Sphäre usurpierte, desto mehr entwich der "Gott der Liebe". "Sachlich, »ohne Ansehen der Person« »sine ira et studio« ohne Haß und daher ohne Liebe, verrichtet der bUrokratische Staatsapparat(... ) seine Geschäfte... " Die Versachlichung und Standardisierung politischen Handelns, das zu stereotypem, festgefUgten Verhaltensmustern gehorchendem Verwaltungshandeln diszipliniert wurde, war ihm. letzten Endes der Grund dafiir, warum der bürokratische Staatsapparat jeglicher ethischer Durchgestaltung mehr und mehr die Schranken wies, ihr weniger zugänglich wurde "als die patriarchalen Ordnungen der Vergangenheit, welche . auf persönlichen Pietätspflichten und konkreter persönlicher Würdigung des Einzelfalles gerade »unter Ansehen der Person« beruhten."284 "Auf dem Gebiet der staatlichen Verwaltung speziell gilt gerade der das "schöpferische" Belieben des Beamten am stärksten verklärenden Ansicht als höchster und letzter Leitstern seiner Gebarung der spezifisch moderne, streng "sachliche" Gedanke der "Staatsraison"."285 An die Stelle eines ursprünglich personalen Schutz- und Verteidigungsverhältnisses trat 281 Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, in: Ders., Sozialphilosophische und politische Schriften, Ausgabe Winkler, München 1981 , S. 525. 282 Ders., Julie, S. 697. 283 Ebd., vgl. auch ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 572. 284 Weber, Zwischenbetrachtung, S. 546f. Eine zweite große Paradoxie der Modeme expliziert Weber in "Politik als Beruf", als er über jenen "unaustragbaren Konflikt" der inneren Spannung zwischen Religion und Politik, zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik referiert. Die ethisch-rigoristische gewaltablehnende Religion etwa der Bergpredigt in Form einer reinen Gesinnungsethik kann im politischen Selbstverständnis Webers nur schwerlich zur Richtschnur politischen Handeins werden, da "wir nicht in einer Welt von Heiligen leben". Verantwortung für das Handeln ist die Maxime. Diese bedeutet für den Politiker jedoch gerade nicht den rein gesinnungsmotivierten Gewaltverzicht, sondern im Gegenteil: "Du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst bist Du für seine Überhandnahme verantwortlich." (ders. , Politik als Beruf, GPS, S. 551 ). 285 Ders., WuG, S. 565.

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mit Fortlauf des säkularen Rationalisierungsprozesses die sachliche Pragmatik der staatlichen Selbsterhaltung, die unter der "Deckadresse" der anethischen "Staatsraison"286 an jedem beliebigen Zie)"eines in sich höchst verschlungenen Knäuels von Wertideen"287 orientiert werden konnte. 288 Vielleicht sogar noch eindrücklicher als in der "Zwischenbetrachtung" entfaltete Max Weber in seiner "Herrschaftssoziologie" die erwähnte Sphärenkollision im Bereich des Politischen. Eine rationalen Erwägungen folgende Forderung nach Demokratisierung eines politischen Systems sei auch hier konfrontiert mit einem zwiespältigen Ausgang, fiihrt er in diesem Beispiel aus. "Die Rechtsgleichheit" und das Verlangen nach "Rechtsgarantien gegen Willkür" - wie es den Kern jedes plebiszitären Begehrens darstellt, durch Demokratisierung aus dem Würgegriff eines Unrechtsstaat herauszutreten - " ... fordern die formale (im Orig. gesperrt, der Verf.), rationale "Sachlichkeit" der Verwaltung im Gegensatz zu dem persönlichen freien Belieben und der Gnade der alten Patrimonialherrschaft. Das "Ethos" aber, wenn es in der Einzelfrage die Massen beherrscht ..., stößt mit seinem am konkreten Fall und der konkreten Person orientierten Postulaten nach materieHer (im Orig. gesperrt, der Verf.) "Gerechtigkeit" mit dem Formalismus und der regelgebundenen kühlen "Sachlichkeit" der bürokratischen Verwaltung unvermeidlich zusammen und muß dann aus diesem Grund emotional verwerfen, was rational gefordert worden war."289 Weber erkennt, daß in der Modeme auch der Begriff des Politischen von der Idee eines von moralischen Gesetzlichkeiten ungebundenen Staatsnutzens regiert wird. Obwohl der Begriff in einer durch und durch brüderlichkeitsethischen Gemeindeidee der antiken Polis gründete, war er heute, als Werk rationalistischer Eigengesetzlichkeit diesem persönlichen ethisch-reglementierbaren Ursprung genau entgegengesetzt. Die Bürokratisierung erscheint Weber dabei als das "spezifische Mittel" nicht nur innerhalb der ökonomischen, sondern auch der politischen Sphäre, "Gemeinschaftshandeln" in geordnetes "Gesellschaftshandeln" zu überfiihren290 • Beruhte die patriarchalische, vorbürokratische Ders., Zwischenbetrachtung, S. 547. Ders., Die »Objektivität« ... , S. 211. 288 Zusätzlich zur "Kanonisierung dieser abstrakten und "sachlichen" Idee" der Staatsraison legten Bürokratien nach Weber einen sicheren Instinkt "für die Bedingungen der Erhaltung ihrer Macht im eigenen Staat" (WuG, S. 565) an den Tag, womit Weber deren Resistenz jeglichen Abschaffungsbestrebungen gegenüber zu erklären versucht. 289 Ebd. 286 287

290 Ebd., S. 569f. Die Bürokratisierung ist im Verständnis Webers Folge rationalistischer Eigengesetzlichkeit eigentlich der ökonomischen Sphäre der Geldwirtschaft, entstammt aus der Buchführung und Bilanzierung, von wo sie sich dann erfolgreich - vor allem wegen ihrer technischen Überlegenheit - in der Sphäre der unmittelbaren politischen Herrschaftsreglementierung durchsetzte. Der bürokratische, nach rational gesatztem Recht und "rational erdachten Reglements judizierende(n) und verwaltende(n)

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Herrschaftsform auf streng persönlichen Pietätsbeziehungen und waren ihre Verwaltungsstrukturen noch "ein Reich der freien (im Orig. gesperrt, der Verf.) Willkür und Gnade, der persönlich (im Orig. gesperrt, der Verf.) motivierten Gunst und Bewertung", so besteht in der modernen staatlichen Verwaltung "stets als Norm des Verhaltens die Herrschaft und rationale Abwägung "sachlicher" Zwecke und die Hingabe an sie"291 • Die bürokratische Struktur, als dem "ins Rationale transponierten Gegenbild" zur patriarchalen Struktur ist ein "Dauergebilde und, mit ihrem System rationaler Regeln, auf Befriedigung berechenbarer Dauerbedürfnisse mit normalen Mitteln zugeschnitten."292 Die Bürokratisierung ist fiir Weber eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Rationalismus, "der Schatten der vorschreitenden Massendemokratie"293 - wie er es in der Sprache Tocquevilles wendet. Sozial bedeutet sie Weber "die Herrschaft der formalisierten Unpersönlichkeit", wiederum ohne "Haß und Leidenschaft, daher ohne »Liebe« und »Enthusiasmus«, unter dem Druck schlichter Ptlichtbegriffe."294 Weil sie -ob innerhalb der Kirche, wo sie zur "Kaplanokratie"295 , oder innerhalb der Justiz, in der der Richter unter ihrem Einfluß zum rechtspositivistischen "Paragraphen-Automaten" gerät296- wie in anderen Lebensbereichen so auch im politischen auf dem Prinzip berechnender Kalkulation und Haushaltung beruht, weil sie "Liebe, Haß und alle rein persönlichen, überhaupt alle irrationale(n), dem Kalkül sich entziehende(n) Empfindungselemente aus der Erledigung der Amtsgeschäfte ..." ausschaltet, weil sie formalisiert, standardisiert und nivelliert297, beginnt sie, auch den politischen Lebensbereich zu "entmenschlichen".298 Gerade mit dem preußischen Staatsbürokratismus ist Weber Staat" steht also in engster Verbindung mit der "modernen kapitalistischen Entwicklung" (Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 322). Wie tiefgehend sich die Einbuße des Primats der Politik durch die Eigenzwänge eines im ökonomischen Raum zu Kräften gekommenen Rationalismus bis heute ausgewirkt hat, daflir steht auch die stark verbreitete und immer wieder beklagte Verwaltungsmentalität der heutigen Politik. Es spricht flir Weber, wohl als erster die Beobachtung der ökonomischen Verherrschaftung und letztendlichen Paralysierung des Politischen auf ihre Wurzeln zurückgeflihrt zu haben, die gleichsam im schicksalhaften Entwicklungsgang der abendländischen ratio verborgen liegen. 291 Ders., WuG, S. 565. 292 Ebd., S. 654. 293 Ebd., S. 130. 294 Ebd., S. 129. 295 Ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 316. 296 Ebd., S. 311 und auch WuG, S. 565. 297 Weber betont an mehreren Stellen die einebnende, "nivellierende" Charakteristik der Bürokratie (vgl. WuG, S. 129 und S. 562-567) und -noch näher an Tocqueville der "Demokratisierung" (vgl. ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 291 ). 298 Weber, WuG, S. 563. Wie bereits erwähnt, hat Weber die Konsequenzen der Eigengesetzlichkeit der Vernunft in den einzelnen Sphären auf alle Lebensbereiche ausgedehnt - auch auf die spezifisch und wesenhaft "arationalen" Sphären der Kunst und Erotik. Was den gesamten ästhetischen Bereich anbelangt, so ist für Max Weber tradi-

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immer wieder hart ins Gericht gegangen, und es verwundert kaum, daß er ausgerechnet im Dezember 1917, als es um "Wahlrecht und Demokratie in Deutschland" ging, filr eine Demokratisierung plädierte, weil "gegenüber der nivellierenden, unentrinnbaren Herrschaft der Bürokratie, welche den modernen Begriff des Staatsbürgers erst hat entstehen lassen", das "Machtmittel des Wahlzettels nun einmal das einzige" sei, "was den ihr Unterworfenen ein Minimum von Mitbestimmungsrecht über die Angelegenheiten jener Gemeinschaft, fiir die sie in den Tod gehen sollen, überhaupt in die Hand geben kann." 299 Die "volle Parlamentsmacht" sieht Weber nach 1917 nicht zuletzt deshalb als wünschenswert, weil alles Vorherige versagt habe, sondern weil er hier fruchtbare Möglichkeiten im Entstehen sieht, eine aus dem Ruder geratene Bürokratie parlamentarisch zu kontrollieren. 300 Gelingt dies nicht, droht eine unheilvolle Zukunft: "In jedem Massenstaat filhrt Demokratie zur bürokratischen Verwaltionale Kunst zunächst sich stilisierende Magie und Religion, als solche Mittel im Dienst des ethisch-transzendenten Zweckes oder Sinns der Erlösung, denn sie ist ja streng am Inhalt, am innersten Sinn eigentlich, ausgerichtet; Heilstindung entscheidet sich im darauf orientierten Handeln. Die ästhetische Kultursphäre ist Weber, bevor sie in das rationalistische Spannungsfeld tritt, in erster Linie Form, die lediglich Träger eines ethischen Inhalts sein darf. Der religiösen Brüderlichkeitsethik beginnt die Kunst in dem Moment "verdächtig" zu werden, in dem sie sich "nun als ein Kosmos immer bewußter erfasster selbständiger Eigenwerte" verwandelt und als eigene innerweltliche Erlösungsreligion in Konkurrenz zu ihrer einstigen Hervorbringerin, der brüderlichkeitsethischen Erlösungsreligion, tritt. In diesem Zustand hat auch sie sich von ihrer traditionalen ethischen Fixierung befreit. In "Wissenschaft als Beruf" weist Weber darauf hin, daß in der Moderne der Satz Gültigkeit beanspruchen könne, "daß etwas schön sein kann, nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist...". Das wissen wir, so Weber, " ... seit Nietzsche wieder und vorher finden sie es gestaltet in den »Fleurs du mal«, wie Baudetaire seinen Gedichtband nannte." (ders., Wissenschaft als Beruf, GAWL, S. 604). Innerweltliche, irrationale (hier: ästhetische) "Erlösung" aber verläuft quer zu jeder Brüderlichkeitsethik. Die Flucht vor der ethischen Stellungnahme ins bloße Geschmacksurteil erscheint, da ethisch unzulänglich, als "eine tiefste Form unbrüderlicher Gesinnung" (ders., Zwischenbetrachtung, S. 555). Auch ftir die erotische Sphäre stellt Weber eine zunehmende Distanzierung fest, je "sublimierter" sich die Geschlechtlichkeit entwickelte (ebd., S. 556). Als außeralltäglicher Genuß, als "Sensation" (ebd., S. 560f.) beginnt sie sich jenseits der Brüderlichkeitsethik zu etablieren und entwickelt sich in Ablehnung einer außerweltlichen Erlösungsethik zu einer Spielart der innerweltlichen Erlösung vom Rationalen. Die religiöse Brüderlichkeitsethik tritt zu ihr in ein antagonistisches Verhältnis, weil eine konfliktvolle Konkurrenzsituation entsteht. Die "höchste Erotik", so Weber, verhält sich zur "heroischen Frömmigkeit" in gegenseitiger Vertretbarkeit (ebd., S. 561 ). Mystik ("mystische Gottinnigkeit") und Erotik können leicht in eine "labile Surrogats- oder Zusammengeschmolzenheitsbeziehung" geraten (ebd., S. 563). Diese psychologische Nähe steigere, so Weber weiter, die "innerliche Sinnfeindschaft" beider Sphären. Der Brüderlichkeitsethik muß die erotische Sphäre als "vollendetste Verleugnung aller Bruderliebe und Gottesknechtschaft" erscheinen, sie erfährtjene als Bedrohung, weil jederzeit die "tödlich raffinierte Rache des animalischen oder des unvermittelten Hinübergleitens aus dem mythischen Gottesreich in das Reich des Allzumenschlichen drohe." (ebd., S. 561). 299 Ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 268. 300 Vgl. ebd., S. 289.

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tung, und, ohne Parlamentarisierung, zur reinen Beamtenherrschaji."301 Stefan Breuer hat sich 1991 der daran anschließenden Frage gewidmet, wie aus einem bloßen Geltungsanspruch dieser rational-bürokratischen Herrschaftsordnung ein tatsächlicher Legitimitätsglaube auf seiten der Beherrschten werden konnte, liegen die unfreiheitliehen Momente einer formalistisch anmutenden Legitimität kraftLegalitätdoch auf der Hand. 302 Er weist nach, daß der Legitimitätsglaube an gesatzte Normen in einer Ordnung rationaler Herrschaft der am ausgeprägteste ist und daß sich dies auch in der Webersehen Argumentation widerspiegelt. Weil die rationale im Gegensatz zur charismatischen und traditionalen Herrschaft ihre Legitimität nicht auf relativ unzuverlässige magische Denkmuster oder religiöse Weltbilder gründet, sondern sich "in einer ihr angemessenen Organisation des Verwaltungsstabes realisiert" und "externe Loyalitäten abstreift", ist sie "die einzige Form der Herrschaft, die selbst die Bedingungen ihrer Wirksamkeit erzeugt und sich dadurch legitimiert."303 Weil ihre Eintrittsbedingungen Maschinisierung und Disziplinierung sind, sorgt die Bürokratie fiir die unentwegte Selbstreproduktion ihrer eigenen Legitimitätsmuster. "Diese Selbstlegitimierung funktioniert gerade darum so gut, weil auch in den übrigen, nicht im engeren Sinn politischen Bereichen der Gesellschaft jene formal-operative Rationalität gezüchtet wird, die die eigentliche Bedingung der Möglichkeit rationalen Legitimitätsglaubens ist." 304 Es ist diese sich selbst dauerlegitimierende Kreisfdrmigkeit, die der bürokratischen Despotie ein so langes Leben verheißt und damit zu einem immensen Problemkomplex der Freiheit in der Modeme wird. Diesen freiheitsverhindernden Grundzug der modernen Massendemokratie hat zumindest im Kern auch Tocqueville gesehen. Frankreich zur Zeit der JuliMonarchie gab ihm hierzu den besten Anschauungsunterricht. Die Rationalisierung der politischen Sphäre hatte auch hier das Phänomen rein bürokratischer, "monokratischer" Verwaltung zur Folge, wie sie Tocqueville in seiner Zeit ähnlich unaufhaltsam auf dem Vormarsch sah. 305 Den Grund dafiir lokalisierte auch er in der rationalen Eigengesetzlichkeit innerhalb der politischen Sphäre. Die bürokratisch-rationale Gleichförmigkeit erspart einer Zentralregierung "die Prüfung unzähliger Einzelheiten, mit denen sie sich befassen müßte, wenn man die Ebd. Vgl. Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 208f. 303 Ebd., S. 210. 304 Ebd., S. 213. 305 Tocqueville behauptet, daß es zu seiner Zeit in Europa kein Land gegeben habe, "in dem die öffentliche Verwaltung nicht nur zentralisierter, sondern zudringlicher und umständlicher geworden wäre" (ÜdDiA II, S. 330) als in Frankreich. Gerade die bürokratische Gesinnung und die Mißstände des Verwaltungsapparats des letzten Bourbonenkönigs geben den Hintergrund ab, vor dem auch Balzacs Roman "La femme superieure" spielt. 301 302

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Vorschrift den Menschen anzupassen hätte, statt alle Menschen unterschiedslos der gleichen Vorschrift zu unterwerfen"306, schreibt er im zweiten Band der "Demokratie in Amerika". Er stellt fest, wie eine ,jakobinisch" zentralisierte Bürokratie nicht erst nach 1789, sondern schon im auslaufenden Ancien Regime mehr und mehr Kompetenzen an sich gerissen hatte. 307 Als Ideal einer Gesellschaft, so Tocqueville, hätten sich die Franzosen "ein Volk ohne andere Aristokratie" gedacht "als die der öffentlichen Beamten, eine einzige und allmächtige Verwaltung, die den Staat lenkte und die einzelnen bevormundete. Als sie die Freiheit verlangten, gedachten sie keineswegs, sich dieser ersten Vorstellung zu entschlagen, sie versuchten nur, sie mit der Freiheit in Einklang zu bringen."308 Die Revolution hat den Bürokratismus keinesfalls zerschlagen, der, wie Tocqueville betont, ein Produkt des aufgeklärten Staates im Ancien Regime war, sondern hat ihn sogar noch zementiert: "Die Männer von 1789 hatten das Gebäude gestürzt; aber seine Grundlage war noch in der Seele seiner Zerstörer übriggeblieben, und auf dieser Grundlage hat man es plötzlich neu aufzufUhren und fester zu bauen vermocht, als es jemals gewesen war." 309 In Tocquevilles Tagen war "die Erziehung ( ...) wie die Wohltätigkeit eine nationale Sache geworden. Der Staat empfängt oder reißt oft das Kind aus den Armen seiner Mutter, um es seinen Beamten zu übergeben; er übernimmt es, jeder Generation Geruhte einzuflößen und ihre Ideen zu liefern ...". Nun drohe selbst noch die Religion "in die Hände der Regierung zu fallen" 310 • Die zentrale Verwaltungsmacht konnte zu einer nie geahnten Entfaltung kommen, weil sie gerade die vermittelnden Gewalten des Ständestaates ohne gleichwertigen Ersatz vernichtet hatte. "Da die französische Revolution nicht nur allein den Zweck hatte, eine alte Regierung zu beseitigen, sondern auch die alte Form der Gesellschaft abzuschaffen, so mußte sie gleichzeitig alle bestehenden Gewalten angreifen, alle anerkannten Einflüsse vernichten, die Traditionen in Vergessenheit bringen, die Sitten und Gebräuche eneuern ... Aber man räume diese Trümmer weg: man gewahrt dann eine ungeheure Zentralgewalt, die in ihrer Einheit alle Bestandteile von Autorität und Einfluß an sich gezogen und verschlungen hat, die vorher unter einer Menge von untergeordneten Gewalten, Orden, Klassen, Professionen, Familien und Individuen zersplittert und gleichsam im ganzen Gesellschaftskörper verstreut waren." 311 306

Ders., ÜdDiA II, S. 319.

Zur Geschichte des vorrevolutionären, französischen Bürokratismus vgl. Ernst Hinrichs, Absolute Monarchie und Bürokratie, in: Ders., Ancien Regime und Revoluti307

on, Studien zur Verfassungsgeschichte Frankreichs zwischen 1589 und 1789, Frankfurt am Main 1989, S. 81-98. 308 Tocqueville, DaSudR, S. 167. 309 Ebd., S. 82. 310 Ders., ÜdDiA II, S. 329. 311 Ders., DaSudR, S. 25.

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Was ursprünglich in den ,;associations naturelles" des Ständestaats, wie sie Tocqueville nennt, auf vielen Schultern lastete, hat schon der aufgeklärte Absolutismus des 18. Jahrhunderts im Zuge des Prozesses der Dekorporierung312 aufs nachhaltigste monopolisiert. Für diese Tendenzen filhrt Tocqueville in "Der alte Staat und die Revolution" eindrückliche Beispiele an, wie etwa die Wiedereinfilhrung des römischen Rechts in Frankreich313, die dem französischen König als weiteres Instrument seiner Herrschaft diente, weil es jede Person einem einheitlichen Recht unterstellte, wo zuvor noch Sonderrechte galten. Damit wurden nicht nur Ständeunterschiede nivelliert, sondern auch Formen der Gemeindeselbstverwaltung weitgehend ausgeschlossen und die Vereinsfreiheit aufgehoben. Ähnlich bekämpfte der Absolutismus jegliche Arten der staatlichen Partizipation der politischen Zwischengewalten des Ancien Regime durch die aufkommenden Evokationsregelungen, die dem "conseil du roi" ein Mittel an die Hand gaben, Angelegenheiten ordentlicher Richter der zentralistischen königlichen Verwaltungsjustiz zu unterstellen. 314 Tocqueville wären diese Zentralisierungsmaßnahmen allesamt nicht so bedeutsam, wenn dabei die unmittelbaren nivellierenden Tendenzen ausgeblieben wären. Doch gerade die beschriebenen Bürokratisierungstendenzen stehen filr ihn, wie auch filr Max Weber, in einem engen Zusammenhang mit der Einbuße menschlicher Freiheit. Tocqueville beklagt den geschilderten allgemeinen Dekorporierungsprozeß, also den Erosionsprozeß dezentraler, intermediärer freiheitlicher Zwischengewalten, die einst von den "associations naturelles" wahrgenommen - schon in seiner Zeit ohne nachfolgendes republikanisch-demokratisches Äquivalent durch die Übermacht eines Staates zerschlagen wurden, der einen Verwaltungsdespotismus ins Werk setzte, dabei gleichzeitig vormals einbezogene, in politische Teilverantwortung genommene Bürger aus ihrer freiheitlichen Inanspruchnahme entließ. In der zurückbleibenden entleerten politischen Sphäre zog eine verunpersönlichende Staatsbürokratie ein, die bald zu jenem "despotisme administratif" geriet, von dem bei Tocqueville so oft die Rede ist. Nicht durch freiheitliches Handeln der Bürger, sondern durch bürokratisch-zentralisierte standardisierte Maßnahmen wird Politik in der modernen Massendemokratie betrieben, also in einer versachlichten ent-personalisierenden Art, die den Menschen von jeglicher politischen Einbeziehung in die Gemeinschaft ausschließt und damit den Niedergang der politischen Öffentlichkeie 15 eingeleitet hat. "Um von ganz 312 Zum Thema der Dekorporierung vgl. Wolfgang Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1749-1848, in: Otto Damm (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, Historische Zeitschrift, Beiheft 9, München 1984. 313 Tocqueville, DaSudR, Zweites Buch, Kapitel 8, S. 86-90, vgl. auch Kapitel 6 und 7 des dritten Buches, S. 186-199. 314 Siehe ebd., Zweites Buch, Kapitel 4, S. 65-69. 315 Vgl. hierzu H. Arendt und auch Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Die Tyrannei der Intimität, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1983. Vgl. auch

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Paris aus alles leiten und ebendort erfahren zu können", schildert Tocqueville die trübe Konsequenz, "mußte man tausend Mittel der Kontrolle finden. Der Umfang der Schreiberei ist bereits ungeheuer und die Langsamkeit des administrativen Geschäftsganges so groß, daß, soviel ich bemerken konnte, nie weniger als ein Jahr verstrich, bis eine Gemeinde die Erlaubnis erlangen konnte, ihren Kirchturm wiederaufzubauen oder ihr Pfarrhaus zu reparieren; gewöhnlich vergehen zwei bis drei Jahre bis das Gesuch bewilligt wird."316 In Rousseaus Werk hat die Problematik eines ungezügelten Bürokratismus im modernen Staat noch nicht so durchschlagend Eingang gefunden wie später bei Tocqueville oder Weber. Aber den Geist, der den Bürokratismus gleichsam steuerte, hatte der Genfer schon in aller Schärfe vor Augen - deswegen auch hegte er größte Skepsis gegenüber gesatzt-kalkulierten Freiheitsmodellen von Montesquieuschem Zuschnitt. Auch den Menschentyp, den der bürokratische Geist begünstigte, hat Rousseau schon gekannt. Immer wieder hat er ihn perhorresziernd benannt, wenn er von einem sprach: vom "Talent"317 des Menschen Synonym Rousseaus filr Webers "Fachmensch", filr Rousseau der Typus, den er in seinen Betrachtungen immer dann aufrief, wenn es ihm um ein seiner Tugend beraubtes Individuum zu tun war, dessen politische Indolenz es nur noch zuließ, seinen Eigenwert über seinen technischen Nutzen zu definieren. "Wenn sich die Talente einmal der Ehrerbietung, welche man der Tugend schuldet, bemächtigt haben", schreibt er in jener Vorrede zu »Narcisse« im Jahr 1753, "dann willjeder ein liebenswürdiger Mensch sein, aber niemand bemüht sich, ein guter Mensch zu sein. Daraus entsteht noch jene andere Inkonsequenz, daß man den Menschen nur die Eigenschaften lohnt, die nicht von ihnen selbst abhängen, denn unsere Talente werden mit uns geboren, nur unsere Tugenden gehören ganz uns."318 Die drohende bürokratische Ausdörrung des öffentlichen politischen Handeins hat dennoch an zentraler Stelle Niederschlag in Rousseaus Lehre gefunden. Gerade sie wurde auch rur ihn zum Anlaß eines geistigen Engagements filr eine Bürgerlichkeit restituierende Staatsidee, die dieser Entwicklung den geballten politischen Willen eines souveränen Volkes entgegenzusetzen versuchte. Es waren die Polen, die Rousseau vor der Überhandnahme eines Berufsbeamtenturns warnte, um die drohende "Hydra der Schikane" in Form eines "Standes- und Kastengeists" abzuwehren. 319 Und es ist genau dieselbe Furcht vor übermächtigen bürokratischen, den Raum zivilen Handeins beschneidender Gerhard Hufnagel, Kritik als Beruf, Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt am Main 1971, S. 314. 316 Tocqueville, DaSudR, S. 74. 317 Vgl. etwaRousseau, Vorrede zu »Narcisse«, S. 154f. 318 Ebd. 319 Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 613.

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Einrichtungen, die er innerhalb seiner Staatsidee im "Contrat Social" so viel Wert legen läßt auf die Gefahren, die durch ein Anschwellen eines verselbständigten körperschaftlichen Willens des "Prince" oder "Magistrats" drohten. 320 Bürokratische Übermacht setzt immer eine übermächtige, von einer souveränen Legislative entkoppelte Exekutive voraus. Rousseau war stets ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen eine sich verselbständigte ausruhrende Gewalt, die ihre Stellung durch administrative Strukturen zu verfestigen versuchte. Als beredtes Zeugnis dieser Haltung dürfte sein sicherlich persönlich motiviertes Engagement innerhalb der zeitgenössischen Genfer Verfassungskontroverse gelten, in die sich Rousseau ja gerade im siebten, achten und neunten seiner "Briefe vom Berge" so, wie er schreibt, "weitschweifig" eingemischt hatte. Seine Diagnose der politischen Verfassungswirklichkeit seiner Heimatstadt ging dabei von der von ihm heftig attackierten, einschneidenden Machtverlagerung vom "Allgemeinen Rat" als dem Legislativorgan - in Rousseaus Tagen schon mehr ohne Recht zur Gesetzesinitiative - und Instrument des Souveräns hin zur Staatsregierung des Kleinen Rates und den vier Syndici, der Exekutive also, aus, die es - als Organ des städtischen Patriziats - vermocht hatte, über einen Zeitraum von etwa zweihundert Jahren in der Genfer Stadtpolitik ihre Vollmachten und Befugnisse stetig auszudehnen, während der eigentliche Souverän zurückgedrängt und seine politischen Rechte allmählich eingebüßt hatte. Ein entscheidendes Instrument der Bürgerschaft, die "representations", verfassungsmäßige Eingaben der BUrgerschaft, wie sie Rousseau selbst gestellt hatte, waren längst keine Mittel mehr, durch die der Souverän sich beim Kleinen Rat und den Syndici hätte Gehör verschaffen können. Rousseau beklagte diesen Prozeß der Entpolitisierung, etwas, "was allen Regierungen", die der Genfer ähnlich sind, "zu widerfahren ptlegt"321 : "Im Anfang sind die gesetzgebende und die ausUbende Gewalt, aus denen die Souveränität besteht, nicht zu unterscheiden. Das souveräne Volk will durch sich selbst handeln, und durch sich selbst tut es alles, was es will. Bald aber zwingt die Unbequemlichkeit der Beteiligung aller an jener Sache das souveräne Volk, einige seiner Mitglieder mit der Ausfiihrung seines Willens zu beauftragen. Diese Beamten legen von ihrer Verwaltung Rechenschaft ab und treten wieder in die gemeinsame Gleichheit zurück. Nach und nach werden diese Aufträge häufiger und schließlich zu ständigen. Unmerklich entsteht nun ein Körper, welcher immer handelt. Ein Körper, der immer handelt, kann nicht mehr von jeder einzelnen Handlung Rechenschaft geben, er gibt sie nur noch von den wichtigsten und bald darauf von keiner mehr. Je tätiger die handelnde Gewalt ist, desto mehr entkräftet sie die Gewalt, die handeln will. Der gestrige Wille wird stillschweigend auch als der heutige angenommen, dabei müßte das gestrige Handeln davon entbinden, auch heute 320 321

6 Hecht

Ders. , CS, S. 341. Ders., Briefe vom Berge, Siebenter Brief, S. 422.

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zu handeln. Schließlich unterwirft die Untätigkeit der wollenden Gewalt sie der ausübenden Gewalt, und diese macht nach und nach alle ihre großangelegten Unternehmungen und bald ihren Willen unabhängig; statt fiir die wollende Gewalt zu handeln, wirkt sie auf diese ein. Dann bleibt im Staat nur eine handelnde Gewalt übrig, und dies ist die ausübende. Die ausübende Gewalt ist nichts weiter als Stärke, und wo die Stärke allein regiert, ist der Staat aufgelöst."322 "Sehen Sie, mein Herr," resümiert Rousseau an den Leser gewendet, "so gehen schließlich alle demokratischen Staaten zugrunde."323 Auch wenn er den treibenden Faktor nicht beim Namen genannt hat, ist es offensichtlich, daß eine Entwicklung, wie er sie hier am Genfer Beispiel beschreibt, sich nur durchsetzen konnte, wenn eine rationalistisch perfektionierende Bürokratie, ein Apparat sozusagen, sich politischer Handlungsräume bemächtigen konnte. Angesichts der fiir ihn nicht zu billigenden Verlagerung der Rollenkompetenz der Syndici von gegenüber der Gemeinde Rechenschaft schuldigen bloßen Verwaltern "vor zweihundert Jahren"- also zu Zeiten der Verfassungsfixierung unter Calvin von 1543 - zu einer autonomen, gegen die Bürgerschaft stehenden Körperschaft, die sich nicht länger plebiszitär rückgebunden fiihlte und ein unheilvolles politisches Eigenleben entwickelt hatte, wertete Rousseau: "Die Einrichtung, die ihr formt, ist gut fiir die gegenwärtige Zeit und schlimm fiir die Zukunft, sie ist gut, die öffentliche Freiheit herzustellen, schlecht, um sie zu erhalten, und was jetzt eure Sicherheit gründet, wird euch in kurzer Zeit zu Ketten werden."324 Seine Grundgedanken entsprechen dabei denjenigen Webers und Tocquevilles. Wo einst in eine ethisch greifbare Zivilkultur eingebettete Bürgerpflicht auftreten konnte, ist an ihrer Statt nunmehr eine leblose Verwaltungsmaschine getreten, wie sie gerade das politische Denken der Frühaufklärung noch so blindgläubig idealisiert hatte. Im "Deuxieme Discours" verließ Rousseau diese konkretpolitische Ebene und exemplifizierte im Allgemeinen, daß der Fortgang und die Zuspitzung der so illegitimen Ungleichheit sich in drei Phasen vollzogen habe, wovon die zweite nach der "Festsetzung des Eigentumsrechts und der Gesetzte", die "Einführung der Magistratswürde" markiere, die erst "den Stand der Macht und der Schwäche" im Volk festschreibt. Erst auf dieser korporativen, bürokratischen Instanz kann schließlich im dritten Stadium, wenn sich "rechtmäßige Gewalt in eine willkürliche" wandelt, jener letzte "Stand der Herrschaft und der Sklaverei" entstehen. lnstituionalisierung und BUrokratisierung werden in Rousseaus Sicht gewertet als Katalysatoren der Unfreiheit. Die Begründung liegt auf der Hand: Beide entreißen dem Bürger politische Handlungskompetenz und verfestigen sie dauerhaft in administrativen Strukturen.

Ebd. Ebd., S. 422f. 324 Ebd., S. 423.

322 323

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Auch Weber wird die Staatsbürokratie zur "leblosen Maschine" 325, zum "geronnenen Geist", der Staat verkommt ihm zur Fabrik326 • Tocqueville schließlich wächst sie zu einem milden Verwaltungsdespotismus327 aus, der in Ermangelung abfedernder korporativer Zwischengewalten den Menschen, nachdem er ihn erst individualisiert hat, in eine neue Tyrannei stürzt. Da der Verwaltungszentralismus, wie Tocqueville zeigt, noch ein Werk des alten Staates war und auch die damit geopferte Freiheit, würde man, als die Revolution ausbrach, "im größten Teil Frankreichs vergebens zehn Männer gesucht haben, die gewohnt waren, gemeinschaftlich in einer geregelten Weise zu handeln."328 Die Staatsbürokratie hatte die Franzosen "im voraus der Möglichkeit und der Lust beraubt, einander beizustehen"329, Adel und Bürgertum war "gewissermaßen Lust und Gelegenheit zu gemeinschaftlichem Handeln"330 entzogen worden. Denselben Befund machte Max Weber namhaft- in einem Text, der sich zwar nicht in seinen "Gesammelten politischen Schriften" befindet, jedoch mit zum politikwissenschaftlichsten gehört, was je aus seiner Feder geflossen ist, weil Weber gerade hier das Ende des Charismas und dadurch das Ende echten politischen Handeins beklagt. Die Rede ist vom filnften Abschnitt der sogenannten "Herrschaftssoziologie" von "Wirtschaft und Gesellschaft", und darin vonjenen Passagen, in denen Weber "Wesen und Wirkung des Charismas" abhandelt - vornehmlich, wie es zum Ende der charismatischen Autorität durch die bürokratische Struktur gekommen war. Im historischen Rationalisierungsprozeß, so ftlhrte er aus, wird das Charisma diszipliniert und versachlicht, es "ebbt zurück" "zugunsten der Mächte der Tradition oder der rationalen Vergesellschaftung"331 und weiter: "Sein Schwinden bedeutet, im ganzen betrachtet, eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns. Vonall jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zurückdrängen, ist die unwiderstehlichste eine Macht, welche neben dem persönlichen Charisma auch die Gliederung nach ständischer Ehre entweder ausrottet oder doch in ihrer Wirkung rational umformt: die rationale Disziplin (im Orig. gesperrt, der Verf.)." An die Stelle verantwortlichen zivitären Handeins rückt die kalte, "alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende" Disziplin332, damit "ihr rationalstes Kind: die Bürokratie"333. Aus der "GleichtOrmigkeit des befohlenen Handelns" entsteht im Effekt eine "rationale Uniformierung des Gehorsams einer Vielheit von MenZur Maschinen-Metapher im Werk Max Webers vgl. A. Anter, S. 21 Of. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 321. 327 Tocqueville, ÜdDiA, S. 342. 328 Ders., DaSudR, S. 201. 329 Ebd. 325

326

330 331 332 333

6*

Ebd., S. 97. Weber, WuG, S. 681 . Ebd. Ebd., S. 682.

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sehen". Das Ende freiheitlichen politischen Handeins ist damit besiegelt. "So geht mit der Rationalisierung der politischen und ökonomischen Bedarfsdekkung das Umsichgreifen der Disziplinierung als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich und schränkt die Bedeutung des Charisma und des individuell differenzierten Handeins zunehmend ein."334

V. "Das Leben einer Kartoffel" - Rationalistische Antinomien und der Habitus des modernen Menschen 1. Die "freudenarme Sinnlosigkeit" des Kapitalismus und die Flucht in den Hedonismus In Wirtschaft, Politik aber auch den sonstigen gesellschaftlichen Lebensbereichen entpuppt sich die Modeme als eine unlösbaren rationalistischen Antinomien unterworfene Epoche- das ist der erste große analytische Befund Webers, Tocquevilles und Rousseaus. Der in seiner Tragweite jedoch weitaus entscheidendere, den alle drei ins Zentrum ihrer Analyse rückten, schließt sich erst an diese Beobachtungen an, geht es doch jetzt um die Auswirkungen der skizzierten modernen "Ordnungen und Mächte" auf die psychische Befindlichkeit des modernen Menschen. Nicht nur Max Weber, auch Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau betrieben ganz vorrangig eine "Wissenschaft vom Menschen" 335, die für ihre Werke ein Grundgerüst abgibt, auf dem sämtliche der so unterschiedlichen und verzweigten Einzelteile stehen, in die die Gesamtwerke zerfallen: Weber hat sich zu einer solchen Wissenschaft schon in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 bekannt336• Tocqueville interessierte mehr als die Demokratie als Herrschaftsform deren prägenden Einfluß auf das menschliche "Gefühlsleben", auf die "eigentlichen Sitten" der Menschen und auf die "politische Gesellschaft" 337• Und Rousseau hatte gleich an den Anfang seines "Deuxieme Discours" den programmatischen Satz gestellt: "Die Kenntnis des Menschen hat unter allen seinen Wissenschaften den größten Nutzen und

Ebd., S. 687. Vgl. W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996. 336 Vgl. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, GPS. S. 13. 337 Dieses auf de!) Menschen gerichtete Interesse fand seinen Niederschlag ganz prägnant schon in den Uberschriften des zweiten, dritten und vierten Teils der "Demokratie in Amerika", wo Tocqueville den "Einfluß der Demokratie auf das Gefilhlsleben der Amerikaner'·. den "Einfluß der Demokratie auf die eigentlichen Sitten" und schließlich den "Einfluß des amerikanischen Denkens und Fühlens auf die politische Geschichte" behandelt. 334 335

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scheint mir noch am wenigsten ausgearbeitet." 338 Der Mensch unter den konstatierten Bedingungen der Modeme - das ist das einende Thema aller drei. Im Zentrum ihres Bemühens steht die Frage: Wie wirkt sich diese Modeme auf Charakter und Habitus339, also auf den "inneren Menschen" aus? Im Umsichgreifen einerneuen Art des "amour propre", in Form eines neuen Materialismus liegt fiir Weber, Tocqueville und Rousseau die erste Antwort auf diese Frage. Webers, Tocquevilles und Rousseaus Diagnosen dieses Phänomens der Modeme kennen wiederum eine große Wurzel: den Gang der Menschheitsgeschichte in die spezifische Richtung, die die Eigengesetzlichkeit der abendländischen ratio gewiesen hat. Das Ende aller religiösen Metaphysik und ihrer transzendenten Glaubenssysteme unter dem säkularisierenden Druck eines skeptizistischen Geistes ist das eine Analyseergebnis - das einer politischen Tugendhaftigkeit durch die ebenfalls vom rationalen Denken auf die Bahn gebrachte Rationalisierung der lebensweltlichen Systeme und die ausgefiihrte Sphärenkollision und Zurückdrängung der "Brüderlichkeitsethik", das andere. Es sind beide Momente, die in einer welthistorischen Konsequenz einen

338 Rousseau, DD, S. 181. Karl-Siegbert Rehberg hat zuletzt darauf rekurriert, daß auch Rousseau ganz anthropologisch eine "Wissenschaft vom Menschen" betrieben hat. Vgl. ders., Natur und Sachhingabe, Jean-Jacques Rousseau, die Anthropologie und "das Politische" im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Herbert Jaumann (Hrsg.), Rousseau in Deutschland, Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin und New York 1995, S. 221-265. Claude Levi-Strauss war dabei der erste, der Rousseau den "Begründer der Wissenschaften vom Menschen" genannt hat. Vgl. ders., Jean-Jacques Rousseau, Begründer der Wissenschaften vom Menschen, in: Strukturale Anthropologie, Band II, Frankfurt am Main 1975, S. 45-56. Im Werk Rousseaus scheint diese "Anthropologie" auch immer wieder explizit durch. In seinen "Träumereien" wirft er den "Philosophen" seiner Zeit vor: "Sie studierten die Natur des Menschen, nicht um sie kennenzulernen, sondern um gelehrt darüber schwatzen zu können." (Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in: Ders., Schriften, Band 2, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1988, S. 661). Er bedauert in der "Vorrede zu »Narcisse«", heutzutage quäle man "unsere arme Jugend, um sie die schönen Wissenschaften zu lehren, und wir kennen alle Regeln der Grammatik, ehe wir von den Pflichten des Menschen sprechen hörten. Wir wissen alles, was sich bis heute zugetragen hat, ehe man uns ein Wort darüber sagt, was wir tun sollen, und wenn man nur unser Geschwätz übt, so sorgt sich niemand darum, ob wir zu handeln und zu denken verstehen." (ebd., S. 155) Rousseau rückt stattdessen eine Erziehungsidee in den Mittelpunkt, die den "Menschen heranbilden" (Emile, S. I 03) und ihn "vollenden" will (vgl. ebd., S. 427). 339 Weber selbst benutzt den Begriff des "Habitus" etwa in der PE II, S. 161. Zwar gehört er nach Webers Selbstverständnis in das Repertoire der Ständegesellschaft, doch interessiert ihn umso mehr die Frage der Entwicklung, die diese Größe unter den Bedingungen der Modernität nimmt. Der Begriff wäre heute zur Gänze aus der zeitgenössischen Soziologie verschwunden, hätte ihn nicht Pierre Bourdieu - in expliziter Anknüpfung an Weber- als zugkräftige Kategorie der sozialpsychologischen Beschreibung des Innenlebens europäischer "Klassengesellschaften" revitalisiert (vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftl ichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, S. 12. Zur Begriffsdefinition, vgl. ebd., S. 277f.).

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"krassen Materialismus"340 ins Werk setzten, wie er fiir Weber, Tocqueville und Rousseau zu einem charakteristischen Schreckensbild ihrer aufgeklärten Epoche werden sollte. Hartmann Tyrell hat dargestellt, daß jenes erschütternde Pathos seiner Zeitdiagnose, fiir Weber auf den "tragischen Schicksalsgang der Religion"341 in der Modeme zurückzufUhren war. Weber, Tocqueville und Rousseau, sie alle nahmen in der modernen Endzwecklosigkeit einer "ethisch-metaphysisch sinnlos gewordenen Welt''342 eine welthistorische "Tragödie fiir den Menschen" wahr.343 Auch wenn er ihm etwa in seinem Postulat der Werturteilsfreiheit zum einzig gangbaren ethischen Gebot der Modeme wird, wird der "unbedingt redliche Atheismus"344 von Weber nicht als Errungenschaft gefeiert, sondern zum zentralen Kulturproblem der Modeme. Alle drei beklagten in diesem weitragendsten Endprodukt des okzidentalen Rationalismus nicht den "Verlust des Paradieses", sondern darin jene schwerwiegenden Folgen fiir den Menschen und seine Lebensfilhrung, wie sie Weber in seinem GernlUde des kraftlosen entseelten und auf die materiellen GUter dieser Welt eingeschworenen "Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz" heraufdämmern sah. Diese Denkfigur ist Tocqueville genauso vertraut. "In dem Grade ..., wie das Licht des Glaubens schwindet, verengt sich die Sicht der Menschen", sie fallen in eine "rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft" zurück. Einmal gesinnungslos geworden, "handeln sie so, als hätten sie nur einen einzigen Tag zu leben."345 Ihm wird zum Hauptproblem des "Gott-ist-todt"-Erlebnisses die Verhinderung freiheitlich-brüderlicher sittlicher Lebensftlhrung und das einhergehende Erlahmen der Seelenkräfte des Menschen.346 Und auch Jean-Jacques Rousseau hat mit Engagement gegen dieses sich in seiner Zeit schon klar ab340 Weber, GARS I, S. 529. Weber hat in seiner Kapitalismusgenese, um jeglicher Monokausalität vorzubeugen, auch auf andere Wurzeln hingewiesen - und damit sicher Karl Marx gemeint. Seine Untersuchungen hat er dabei stets nicht als Gegen- sondern als Ergänzungsthese zu Marx verstanden. 341 Hartmann Tyre/1, Religion und "Intellektuelle Rechtschaffenheit", Zur Tragödie der Religion bei Max Weber und Friedrich Nietzsche, in: Sociologica Intemationalis, 29. Jahrgang, Heft 1/2, 1991, S. 159-177. 342 Ebd., S. 162. 343 Vgl. dazu auch Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, Frankfurt am Main 1987. 344 H. Tyre/1, S. 163. 34S Ebd. 346 Doris S. Goldstein hat diese Entwicklung und das Leiden Tocquevilles an seinem persönlichen Glaubensverlust thematisiert (dies., Trial and Faith, New York 1975). Sie stellte für die Person Tocquevilles dar, was das religiöse Individualschicksal der Person Webers war: Tocqueville, ein Mann, der selbst, "intellektuell redlich" das sacrificium intellectus erbracht hatte, sich aber dennoch aus Gründen der Einsicht der unabdingbaren Notwendigkeit religiöser Glaubenssysteme für eine freiheitliche Lebensform des Menschen um ihre Bewahrung sorgte.

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zeichnende "Ende aller Metaphysik" polemisiert, ganz ähnlich Weber und Tocqueville vornehmlich aus der Sorge um die sittlichen Auswirkungen auf den Menschen als freiheitsbegabtes Wesen eines politischen Gemeinwesens. Zwar wandte er sich gegen die biblische Offenbarungslehre und zählte sich - zwischen den "herrschsüchtigen Dogmatikern" und den "eifrigen Missionaren des Atheismus" von d'Holbach bis Diderot- zu den Deisten, doch hat er aus dem Abscheu, den er den "tauben"347 Materialisten und ihrer "trostlosen Lehre" entgegenbrachte348, nie einen Hehl gemacht. Anders als Weber und Tocqueville konnte Rousseau noch glauben, sein Glaubensbekenntnis ist dasjenige des "savoyischen Vikars" aus dem "Emile", und er läßt keine Zweifel darüber offen, daß er von Herzen in die Existenz Gottes vertraute und sich im übrigen noch nicht notgedrungen in unlösbare Aporien verstrickte, ging es darum, "an Gott zu glauben" und gleichzeitig "auf den Verstand, den er uns gegeben, verzichten"349 zu müssen. Ihrer politischen Notwendigkeit willen maß Rousseau gerade einer Bürgerreligion hohen Stellenwert bei, an der sich eine politische Tugendhaftigkeit erst aufrichten konnte und ohne die er nicht denkbar war. Der "Contrat Social" belegt dies mit Emphase. "Das Vergessen der Religion fiihrt zum Vergessen der Menschenpflichten", warf Rousseau im Präludium zu seinem Glaubensbekenntnis jenen "Freigeistern" vor, deren Ungläubigkeit sie dem "Verderben entgegen" brächte, damit "dem Leben eines Bettlers und der Moral eines Atheisten". 350 Die Auferstehung des "krassen Materialismus" gründet Max Weber paradoxerweise in psychologisch-spiritualistischen Bewußtseinsstrukturen, die das moderne puritanische Berufsethos ins Werk setzten, und die wiederum durch dieses selbst in ihrer letzten Konsequenz ausgelöscht wurden. In seinen Aufsätzen zur "Protestantischen Ethik" hat er diese spiritualistische Entwicklungslinie nachgezeichnet. Anband eines Illustrationstextes von Benjamin Franklin, dem "Advice to a Young Tradesman" von 1748, auf den Weber einging, um zu veranschaulichen, was er mit dem "Geist des Kapitalismus" im Sinn hatte, war es zunächst sein Bestreben, darzulegen, daß in diesem "Glaubenbekenntnis des Yankeetums" nicht etwa einseitig eine vulgär-utilitaristische Lebenstechnik gepredigt werde, sondern noch ein ganz spezifisches Ethos, "eine ethisch gefiirbte Lebensmaxime" zum Vorschein komme351 , deren "summum bonum" zwar der Gelderwerb ist, jedoch - und dies gebietet die eigentliche Ethik - ein Gelder347 Rousseau, Emile, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, S. 572. 348 Vgl. ders., Träumereien, S. 664. z,u Rousseaus Ablehnung des Materialismus vgl.

auch ders., Bekenntnisse, S. 836f., und Emile, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, S. 57lff. 349 Ebd., S. 538. 350 Ebd .. S. 539. 351 Weber, PE I, S. 42.

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werb, der aller "eudämonistischen und hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet'' ("unter strengster Vermeidung allen unbefangenen Genießens") und damit "Selbstzweck" ist. Ein "Selbstzweck" auch, weil die "religiöse Fundierung" des Akkumulierens und des darauf ausgerichteten Berufsgedankens, wie er meint, bei Franklin schon abgestorben war" 352 • Die Beanspruchung gerade dieses Textes fiir Webers Gedankenfiihrung ist zwar problematisch, weil Weber in der Interpration dieses Textes Fehler in der Exegese unterliefen, auf die Eduard Baumgarten schon 1936 hingewiesen hat, doch verschlägt dies nichts an der Webersehen Grundidee. 353 Baumgarten konnte zwar nachweisen, daß der Gelderwerb im Denken Franklins nicht, wie Weber schreibt, reiner "Selbstzweck" war, sondern ein Mittel, das - wie es Franklins früh-pragmatistischem Ansatz geziemt- dem freien Handeln einer politischen Gemeinschaft dienstbar gemacht werden sollte. Viel entscheidender ist jedoch, daß Franklins Traktat als ein frühes Zeugnis gelten kann, das den Geist des Kapitalismus als einer schon weltlichen Gesinnung verströmte, die keinerlei jenseitig-transzendente Rückbindung mehr aufwies und somit der typischen puritanischen Berufsaskese bereits entwachsen war - dabei jedoch ihren vorherrschenden Charakter eines Ethos noch nicht eingebüßt hatte. Genau dieser Umschlagpunkt aber war es, der Weber interessiert hat.

Ebd., S. 187. Vgl. Eduard Baumgarten, Benjamin Franklin, Der Lehrmeister der amerikanischen Revolution, Band I, Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens, Frankfurt am Main 1936. E. Baumgartens Einwände dürften als bekannt gelten. Keine ,,Philosophie des Geizes", hätte Benjamin Franklin gepredigt, keine Kapitalakkumulation als ethischer Selbstzweck - wovon Weber ausgegangen sei. Kapitalakkumulation im Denken Franklins folge durchaus einem Sinn - dem ökonomischer, und d. h. politischer Unabhängigkeit, die produktiv flir das Heil des amerikanischen Gemeinwesens eingesetzt werden konnte (ebd., S. 153). Geld und Tüchtigkeit bei Franklin sind Mittel zu "menschlich sinn- und wertvollen Folgen: Werkzeuge für eine neue Form von Ritterlichkeit freien, glücksmäßigen Lebens", wobei Baumgarten davon ausging, daß Glück für Franklin nicht dem "Genuß von Verzehrgütern (sinnlicher oder ästhetischer Provenienz)" gleichkomme, sondern einem "Schaffen: die Herstellung und fortwährende Überlieferung freier politischer Gemeinschaft" (ebd., S. 99f.). ln der Tat- Franklin kann einer Pionierform des Pragmatismus zugeschlagen werden, der es zuerst um das praktische politische Tun ging. Ein zweites Mißverständnis deckt Baumgarten auf, wenn er nachweist, daß auf Franklin als eines Asketen keineswegs aus dem von ihm proliferierten Tugendbegriff geschlossen werden könne. "Der Schein der Bescheidenheit" hat nichts mit einer verborgenen asketischen Jenseitsorientiertheit zu tun, sondern ist vielmehr eine recht diesseitige gemeinschaftbezogene Tugendhaltung, die eine bloße "innere Tugend'' sozial-faktisch werden läßt (ebd., S. 140). Keine utilitaristische Attitüde verbirgt sich hinter diesem Schlüsselbegriff Franklins, keine "Heuchelei" wie Weber meinte, sondern eine Art praktischer Selbstbeschränkung, der Verzicht sozusagen auf die direkte Selbstinszenierung, damit der tugendhafte Versuch, das Öffentliche und Gemeinsame zu fördern (ebd.). Auch der aktive praktische Zug des Franklinschen Toleranzbegriffs kommt darin zum Ausdruck. 352 353

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Weil Weber an aller Religion die innewohnende Qualität faszinierte, ein "System der Lebensreglementierung" zu liefem35\ mußte ihm ins Auge springen, daß es der Puritanismus war, der als erste der okzidentalen Religionen die "Anethisierbarkeit", das ethische Tabu der ökonomischen Sphäre löste und gegenüber dem Katholizismus, dem diese Sphäre allenfalls religiös gänzlich indifferent erscheint, dieses Verdikt aufbrach. Weber sah, daß Kapitalakkumulation im Puritanismus zunächst weder Skrupellosigkeit noch Geltendmachen des Eigeninteresses war, sondern ausschließlich im Dienst einer ethischen Macht stand. Ursprünglich war der Mensch "auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfuisse bezogen. " 355 Die religiöse Komponente ist es, im konkreten Fall die Vergewisserung der certitudo salutis, die "psychologischen Antriebe", "welche der Lebensfilhrung die Richtung weisen und das Individuum in ihr festhielten" 356 • Die Gedanken an das Jenseits sind es, die als "Geist des Kapitalismus" lebenspraktisch werden. In der Idee der Berufsarbeit, die sich in ihrer Wertigkeit am klarsten über die Höhe des Gelderwerbs ausdrückt, zeigt sich die Qualifikation und darin das Sichtbarwerden des Erwählten in "Gottes unsichtbarer Kirche". Der Besitz des Gnadenstandes wird, dies ist der eigentümliche protestantische Grundzug, in einem spezifisch gearteten rationalen Lebensstil, der auf das tranzendente Seelenheil ausgerichtet ist, garantiert. 357 Der Einzelne, so Weber, beginnt in logischer Konsequenz, seinen Gnadenstand in der Lebensfilhrung "methodisch zu kontrollieren"358, indem er sie innerweltlich-asketisch durchdringt. Die Feststeilbarkeit der certitudo salutis vollzieht sich dabei über das Mittel rastloser Berufsarbeit. Dies alles sind filr Weber spezifisch ethische Vorbedingungen, auf deren Boden der Geist des Kapitalismus erst gedeihen konnte. Im Hinblick auf das politische Handeln in der Welt wirkte dieser ethische Grundzug motivierend. Weber spricht hier noch, wie Tocqueville, von den Zeiten des Glaubens, als man "das Endziel des Lebens jenseits des Lebens stellte." 359 Im Moment jedoch, in dem sich innerhalb des allgemeinen Prozesses der Entzauberung der Welt ein ehemals unter "ethisch gefärbten Maximen" stehender, "von ethischen Potenzen getragener"36° Kapitalismus von seinen alten religiösen "Stützen emanzipiert" hatte, konnte sich ein verselbständigter Materia-

354

237. 355 356 357

358 359

360

Vgl. Weber, Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, GARS I, S.

Weber, PE I, S. 44. Ebd .. S. I I 7. Ebd., S. 164. Ebd. Tocqueville, ÜdDiA II, S. 166. Weber, PE I, S. 61.

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lismus etablieren. 361 Einst war das Gewinnstreben, zur Lebensmethode vervollkommnetes Mittel filr einen lebensfilhrungsbestimmenden transzendenten Zweck des Seelenheils, als diesseitige Macht stand es im Dienst des Jenseits. Doch in dem Maße wie die cartesianische Vernunft alle Lebensbereiche entmythologisierte, wurde der apodiktisch gesetzte absolute Schlußbezugswert dieses Denkens, der immer ein metaphysischer war und dem sich alles traditionelle Denken beugte, selbst eingeholt. Das rationalistische Denken, die Wissenschaft wurde zur "spezifisch gottfremden Macht"362 und gegenüber der alten, animistisch-religiösen zur überlegenen. Ein "geflihrlicher Pyrrhonismus" trat "an die Stelle der verachteten Unwissenheit"36\ schreibt Rousseau, der das "Gewäsch der Pyrrhoniker" genauso verachtete wie jegliche andere Formen des Skeptizismus- insbesondere diejenige des Rene Descartes. Werte der Lebensorientierung wurden zurückgedrängt ins "pianissimo" der Subjektivität, wie es Weber ausrückt. Mit dem Entweichen des ethisch-religiösen Pneumas aus der kapitalistischen Berufsarbeit hatte zwar das Mittel seinen Zweck eingebuße64, jedoch einmal auf die Bahn gebracht, bleibt es Weber "unabänderliches Gehäuse", in das der Einzelne "hineingeboren wird" 365 • Damit wird der Lebensfilhrung ihr "religiöser Ausgangspunkt" entzogen366, filr die "tatenfrohe Natur'' des heute religiös-indifferenten Berufsmenschen hat der Gedanke an "die fromme Langeweile des Paradieses" nur noch "wenig Verlockendes"367• Der jenseitige Sinn des "rastlosen Jagens" ist entwichen, was bleibt, ist die reine Berufsarbeit, weil sie, so Weber, "zum Leben unentbehrlich"368 geworden ist. Seither geht der Gedanke der Berufspflicht in unserem Leben nur noch "als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte" um. 369 Eine irrationale religiöse Ethik, die, das Seelenheil im Visier, ihre Gläubigen zu einer innerweltlich-asketischen, rationalen Lebensfilhrung angeleitet hatte, "half an ihrem Teile mit daran", die moEbd. Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 597. 363 Rousseau, PD, S. 36. 364 An die Stelle des jenseitsorientierten Zweckes tritt auch nirgendwo, wie E. Baumgarten noch bei Benjamin Franklin beobachtet haben will, ein pragmatistisch-politisch gedachter diesseitiger Zweck. 365 Weber, PE I, S. 45. 366 Ebd., S. 59. Man kann behaupten, daß die "Hülle" der subjektiven Lebensausrichtung und -Organisation, die im kapitalistischen Berufsleben zurückbleibt, für Weber nur noch eingeschränkt so etwas wie die Bezeichnung einer konsequenten "Lebensführung" zuließ. Für Weber war der Begriff der "Lebensführung" nur dann sinnvoll, wenn darunter eine Art der Lebensgestaltung verstanden werden konnte, die sich an letztendlich ethischen und geistigen Werten ausrichtete. Eine "gesinnungslose Lebensfuhrung" gibt es für Weber nicht, sie ist für ihn Widerspruch in sich selbst. 367 Ebd. 368 Ebd. 369 Ebd., S. 188. 361

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deme "religiös indifferente" kapitalistische Wirtschaftsordnung zu errichten, wie sie heute fiir uns lebensbestimmend ist. Heute jedoch sei die kapitalistische Berufsarbeit von "Macht und Ansehen gewährendem Besitz" motiviert, einer rein materialistischen Triebkraft, die Weber gerade in Amerika vorfindet, wo die " ... materialistische Zahlenromantik mit unwiderstehlichem Zauber auf die »Dichter« unter den Kautleuten wirkt."370 Als Pendant einer auf immateriellen Werten fußenden Ideologie baut sich ein erstrebenswertes Gesellschaftsideal auf, ein Lebensstil, wie ihn die "müßigen Klassen" Thorstein Veblens fiihren; wo früher der Gottesdienst stand, tritt die Rousseausche egoistische Ehrsucht als neuer Wirtschaftsfaktor auf den Plan und wird zum leitenden Handlungsantrieb. Kapitalakkumulation wird nach dem Ende ihres transzendenten Zwecks zum Selbstzweck. Die "äußeren GUter dieser Welt" gewinnen "unentrinnbare Macht über den Menschen"371 und begründen in enger Allianz mit dem aufklärerischen Individualismus die "Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit"372 • Sie schaffen einen Menschentypus, wie er in Georg Simmels "Philosophie des Geldes" auftritt und ,jeder aprioristischen Bestimmtheit des Lebensinhalts" entbehrt: "In den modernen Großstädten", schreibt er, "gibt es eine große Anzahl von Berufen, die keine objektive Form und Entschiedenheit der Betätigung aufweisen: gewisse Kategorien von Agenten, Kommissäre, all die unbestimmten Existenzen der Großstädte, die von den verschiedenartigsten , zuflillig sich bietenden Gelegenheiten, etwas zu verdienen, leben. Bei diesen hat das ökonomische Leben, das Gewebe ihrer teleologischen Reihen überhaupt keinen sicher anzugebenden In-

370 Ebd., S. 60. Das Ausströmen des religiösen Pneumas hatte sich nach Weber in zwei Etappen vollzogen. Zunächst war das Erwerbsstreben nur auf das Jenseits ausgerichtet. Das Bunyansche Prinzip "to make the best of both worlds" (PE I, S. 184) markiert den ersten Schritt zum Umschlag. Das Ende der geistigen Lebensdurchdringung schließlich verkörpert der hedonistische "Genußmenschen ohne Herz", für den Weber vielleicht der prestige-heischende Playboy Modell stand, wie ihn Thorstein Veblen in seiner brillanten amerikanischen Gesellschaftskritik, der "Theory of the Leisure Class", skizziert hatte. Vgl. ders., Theorie der feinen Leute, Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen ( 1899), München 1981. 371 Weber, PE t S. 188. 372 Ders., Zwischenbetrachtung, S. 571. Vgl. auch GARS I, Anmerkung 4, S. 200f. Dort heißt es: "Man kann ja zweifeln, wie stark die » Freude« des mittelalterlichen Handwerkers an dem » von ihm Geschaffenen«, mit der so viel operiert wird, als psychologisches Agens ins Gewicht gefallen ist. Etwas war immerhin zweifellos daran. Jedenfalls aber entkleidete (im Orig. gesperrt, der Verf.) nun die Askese die Arbeit diesesheute durch den Kapitalismus flir immer vernichteten - diesseitigen weltlichen Reizes und richtete sie auf das Jenseits aus. Die berufliche Arbeit als solche (im Orig. gesperrt, der Verf.) ist gottgewollt Die Unpersönlichkeil der heutigen Arbeit: ihre vom Standpunkte des einzelnen aus betrachtet, freudenarme Sinnlosigkeit (hervorgehoben vom Verf.), ist hier noch religiös verklärt. Der Kapitalismus in der Zeit seiner Entstehung brauchte Arbeiter, die um des Gewissens (im Orig. gesperrt, der Verf.) willender ökonomischen Ausnutzung zur Verfugung standen. Heute sitzt er im Sattel und vermag ihre Arbeitswilligkeit ohne jenseitige Prämien zu erzwingen."

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halt, außer dem Geldverdienen, das Geld, das absolut Unfixierte, ist ihnen der feste Punkt, um den ihre Tätigkeit mit unbegrenzter Latitüde schwingt."373 Das Umsichgreifen von Materialismus und privatistischem Individualismus in der Gleichheit, filhrt auch Tocqueville auf eine historische Triebkraft zurück, die ihn in die Nähe Nietzsches und dann wieder Webers rückt. Bereits er nimmt den Nietzscheanischen Schluß vorweg, wonach der Verlust aller moralischen norm- und orientierungsspendenden Metaphysik als Werk im Ende einer religiösen Lebensdurchdringung mündet und mit ihr jene gesellschaftliche privatistische Atomisierung der Individuen einhergeht. Tocqueville hat deutlich vor Augen, daß die Entwicklung, die jeden dazu fiihrt, sich "nur noch um sich selbst zu kümmem"374, Produkt jenes tiefgehenden Verlustes von Glaubenswerten ist, die traditionell freiheitliches Handeln steuerten, indem sie ihm einen höheren Sinn verliehen. "Der größte Vorzug der Religionen", schreibt Tocqueville daher, "besteht darin", "daß sie ganz entgegengesetzte Triebe wecken. Es gibt keine Religion, die das Wünschen des Menschen nicht auf Ziele jenseits der irdischen Güter richtete und die nicht natürlicherweise seine Seele in Bereiche hoch über den der Sinne emporhöbe."375 Es ist nach den Ausfilhrungen zu Weber frappant, daß auch im Denken Tocquevilles eine ethische Kategorie und der Prozeß ihrer Auflösung innerhalb des kapitalistischen Prozesses eine wichtige Rolle spielen, soll der Siegeszug der materialistischen Gesinnung historisch belegt werden. Das elfte Kapitel des zweiten Bandes der "Demokratie in Amerika" ist es, in dem Tocqueville teilweise in derart auffallender Nähe zur Webersehen Gedankenfilhrung argumentiert, daß diese Passagen vom Sinngehalt her durchaus Webers "Protestantischer Ethik" entstammen könnten. Dorrit Freund hat schon mit Recht auf eine andere überaus geistesverwandte Stelle hingewiesen, die sich im ersten Band findet. 376 Dort stellte Tocqueville fest: "Menschen opfern einer religiösen Überzeugung 373 G. Simme/, Philosophie des Geldes, S. 596. Weiter oben im gleichen Werk schreibt Simmel: "Wenngleich es nun keine Zeit gegeben hat, in der die Individuen nicht gierig nach Geld gewesen wären, so kann man doch wohl sagen, daß die maximale Zuspitzung und Ausbreitung dieses Verlangens in die Zeiten fällt, in denen ebenso die anspruchslosere Befriedigung an den einzelnen Lebensinteressen wie die Erhebung zu dem Religiös-Absoluten, als dem Endzweck des Daseins, ihre Kraft verloren hat; denn weit über die innere Verfassung des Einzelnen hinaus ist in der Gegenwart ... der Gesamtaspekt des Lebens, die Beziehungen der Menschen untereinander, die objektive Kultur durch das Geld gefärbt. Es kann als eine Ironie der historischen Entwicklung erscheinen, daß in dem Augenblick, wo die inhaltlich befriedigenden und abschließenden Lebenszwecke atrophisch werden, gerade derjenige Wert, der ausschließlich ein Mittel und weiter nichts ist, in ihre Stelle hineinwächst und sich mit ihrer Form bekleidet." (ebd., S. 304f.). 374 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 34. 375 Ebd. 376 D. Freund, S. 462.

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ihre Freunde, ihre Familie und ihr Vaterland; man wähnt sie ausschließlich beherrscht vom Streben nach dem geistigen Gut, das sie so teuer erkauft haben; wir sehen sie aber mit fast dem gleichen Eifer nach materiellen und geistigen Freuden, nach dem Himmel im Jenseits und nach dem Wohlergehen und der Freiheit im Diesseits trachten." 377 Es ist wohl keine Frage, daß diese Zeilen den "giUhenden Sektierern" Neuenglands gelten, wie sie Jahrzehnte später Weber wieder in den Bann ziehen sollten. Scharfäugig erkennt Tocqueville zumindest in Ansätzen wie nach ihm Weber in seiner "Protestantischen Ethik", auf welche spezifische Art und Weise in diesen Sekten eine aufs Jenseits gerichtete Erlösungsethik eine Allianz mit dem rein diesseitigen, materiellen GUtererwerb eingehen konnte, ohne daß dabei diese so ursprUnglieh antagonistischen Momente in Widerspruch zueinander gerieten. Diese vormaterialistische Qualität eines "von ethischen Potenzen getragenen Kapitalismus", wie er Weber in seinen Studien noch begegnet war, arbeitet Tocqueville nirgendwo besser heraus als an der erwähnten Stelle. "Der besondere Hang", dies ist die entscheidende Textstelle, "der die Menschen der demokratischen Zeitalter zu materiellen GenUssen zieht, steht von Natur nicht im Gegensatz zur Ordnung; um befriedigt zu werden, bedarf er im Gegenteil der Ordnung. Er ist auch nicht ein Feind geordneter Sitten; denn die guten Sitten sind der öffentlichen Ruhe zuträglich und begUnstigen die gewerbliche Tätigkeit. Oft verbindet er sich sogar mit einer Art religiöser Sittlichkeit; man will es in dieser Welt möglichst gut haben, ohne damit die Aussichten auf die andere preiszugeben."378 Tocqueville formuliert zugegebenermaßen etwas vage und doppeldeutig, denn sein "on vent etre Je mieux possible en ce monde, sans renoncer aux chances de l'autre"379 könnte ja auch hedonistisch gedeutet werden, doch liegt auf der Hand, daß Tocqueville viel eher die bestmögliche Lebensführung benennt, die dazu fiihrt, daß auf "die Chance der jenseitigen Welt" nicht verzichtet werden muß. Damit aber hat er lange vor Weber den ursprUngliehen ethischen Grundcharakter des "kapitalistischen Geistes" erfasst. Auch schon in Tocquevilles- von John Stuart Mill sichtlich beeintlußten - "Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz"380, mit dem die Amerikaner nach Ansicht Tocquevilles den Individualismus bekämpften, fiihrte er ebenfalls die Überlegung an, daß sich der "wohlverstandene Eigennutz" leicht mit "religiösen Glaubensanschauungen" vereinbare und zwar Tocqueville, ÜdDiA I, S. 50. .. Ders., UdDiA II. S. 149. 379 Ders., De Ia Democratie en Amerique, französische. Ausgabe, 3. Band, Paris 1888, s. 222. 380 Ders., ÜdDiA II, S. 142-144. Diese eigentümliche ethische Handlungsanweisung entnahm Tocqueville John Stuart Mills stets qualitativ-ethisch angereicherter Utilitarismuslehre, wie der sie - sich gegen die Schule Jeremy Benthams abgrenzend - in seinen beiden Essais "On liberty" (1859) und vor allem "Utilitarianism" (1861) entfaltete. Der Begriff selbst findet sich bei J. St. Mill in: Ders., Der Utilitarismus, Stuttgart 1985, S. 92. 377 378

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derart, "daß dauerhaftes Glück nur dadurch zu erringen sei, daß man sich ungezählte flüchtige Genüsse versagt, und daß man schließlich sich selbst beständig überwinden müsse, um sich selbst besser zu dienen." 381 In Tocquevilles Denken wird der Materialismus wie fiir Weber in dem Moment zum Kulturproblem, in dem sich der Mensch jener immateriellen religiösen "Stützen" entledigt, die sein Tun auf das Jenseits richteten. Es ist erstaunlich, daß Tocqueville das gleiche, bereits zitierte Bild der Stützen gebraucht, um immaterielle Wertesysteme zu charakterisieren, die ihm zu einer freiheitlichen Lebensftlhrung unerläßlich erscheinen. 1852 schreibt er in einem Brief: "Nie war ich überzeugter als heute, daß nur die Freiheit( ...) und die Religion in einer gemeinsamen Bemühung die Menschen aus dem Sumpf herausziehen können, in den die Demokratie sie stößt, sobald eine dieser Stützen ihnen fehlt." 382 Wenn "das Licht des Glaubens schwindet", wenn sich die Jenseitsorientierung des Materialismus auflöst und die Menschen "das Begehren erlaubter Genüsse ganz und gar ausfiillt"383 , "verengt sich die Sicht der Menschen, und es ist, als schiene ihnen das Ziel menschlichen Tuns täglich näher gerückt."384 Erst in diesem religiös emanzipierten Stadium beschwört Tocqueville eindringlich die Gefahr, daß der Mensch, während er am "Trachten nach Wohlstand Gefallen findet", "seine höheren Fähigkeiten verkümmern läßt und daß er im Bemühen, alles in seiner Umwelt zu verbessern, zuletzt selbst verkümmert." Erst jetzt auch treibt es die Menschen nach "sofortiger Verwirklichung ihrer geringsten Wünsche, und von dem Augenblick an, da sie nicht mehr an ein ewiges Leben glauben, handeln sie so, als hätten sie nur einen einzigen Tag zu leben." 385 Tocqueville spricht in seiner Diagnose von einer vorkapitalistischen Epoche, in der gerade der "gut betuchte" Aristokrat noch eine "stolze Geringschätzung"386 ftlr die materiellen Genüsse gehegt habe. In der alten Gesellschaft ist der Wohlstand unter denen, die ihn genießen, kein Lebenszweck, sondern Lebensweise.387 "In den Völkern", schreibt er, .,wo die Aristokratie die Gesellschaft beherrscht und keinerlei Änderung zuläßt, gewöhnt sich das Volk schließlich an die Armut, so wie die Reichen sich an ihren Überfluß gewöhnen. Die einen kümmern sich um den Wohlstand nicht, weil sie ihn besitzen; die anderen denken nicht daran, weil sie keine Hoffnung haben, ihn zu erlangen, und

381 Ebd., S. 142. 382 Tocqueville, Briefvom I. Dezember 1852, OC, Band VII. S. 295, A. Salomon, S.

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383 Ders., ÜdDiA II, S. 150. 384 Ebd., S. 166. 385 Ebd. 386 Ebd., S. 146. 387 Ebd., S. 145.

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weil sie ihn zu wenig kennen, um ihn zu begehren."388 Die Seele richtete sich noch auf "schwierige und größere Vorhaben, die sie anspornt und mitreißt"389• Das kehrt sich mit dem Eintritt ins demokratisch-egalitäre Zeitalter um. In ihm wird die" ... Einbildungskraft des Armen von der Begierde nach Wohlstand und das Sinnen der Reichen von der Angst vor dessen Verlust erfasst."390 Die Liebe zum Wohlergehen"... ist die nationale und vorherrschende Neigung geworden; die Hauptströmung der menschlichen Leidenschaften drängt nach dieser Seite hin und reißt in ihrem Laufe alles mit sich."391 Mit dem Ende der Jenseitigkeil bleibt auch in Tocquevilles Sicht nur die hedonistisch kurzlebige Indifferenz, die keine Hingabe ftlr ideelle Werte mehr kennt. Tocquevilles Geringschätzung ist spürbar, wenn er den neuen Mittelstand, die "classe moyenne", die ihm in Amerika auf Schritt und Tritt begegnet, als kleinmütige Ansammlung von "Krämerseelen" schildert, die "den eigenen Äckern einige Klafter hinzuftlgen, einen Obstgarten an(zu)legen, ein Wohnhaus (zu) vergrößern, das Dasein immer leichter und bequemer (zu) gestalten, dem Mangel zuvor(zu)kommen und die geringsten Bedürfnisse ohne Anstrengungen und fast kostenlos (zu) befriedigen. Diese Ziele sind klein, aber die Seele (hervorgehoben vom Verf.) hängt an ihnen: sie betrachtet sie täglich und ganz aus der Nähe; schließlich verbergen sie ihr die übrige Welt, und manchmal stellen sie sich zwischen sie und Gott."392 In seiner Analyse deckt Tocqueville hier einen historischen Wandel der "Seelenverfassungen" auf, eine Mentalitätsverschiebung, die man heute mit Ronald Inglehart393 einen sozialen "Wertewandel" nennen könnte. Tocqueville wirft "der Gleichheit nicht vor", "daß sie die Menschen zur Jagd nach verbotenen Genüssen treibt, sondern daß sie sie mit dem Begehren erlaubter Genüsse ganz und gar ausftlllt."394 Er sieht, daß mit politischer Gleichheit und kapitalistischer Marktwirtschaft materielle Güter als neue soziale Distinktionsmittel an die Stelle aristokratischer Ehre, Reputation und Tugend getreten sind. Mit deren Ende "konnte sich in der Welt sehr wohl eine Art ehrbarer Materialismus einnisten, der die Seelen nicht verdirbt, der sie aber verweichlicht und sie schließlich unmerklich all ihrer Spannkraft beraubt."395 Die Verkümmerung öffentlicher Anlagen im Menschen ist Tocquevilles Hauptanklagepunkt an den Materialismus. An Madame Swetchine schreibt er 1856: "Bien plus souvent encore, il faut

Ebd., S. 146. Ebd., S. 145. 390 Ebd., S. 146. 391 Ebd., S. 147. 392 Ebd., S. 149. 393 Vgl. Ronald lnglehart, Kultureller Umbruch, Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt und New York 1989. 394 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 150. 395 Ebd. 388

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l'avouei:, j'ai vu Je travail interieur et domestique, qui transformait peu a peu un homme auquel Ia nature avait donne de Ia generosite, du desinteressement et de Ia grandeur, en un ambitieux, lache, vulgaire et egoi"ste, qui, dans !es affaires de son pays, finissait par ne plus envisager que les moyenes de rendre sa condition particuliere commode et aisee."396 Dieses säkulare Endstadium sieht Tocqueville mit der modernen glaubensfeindlich-aufgeklärten Demokratie heraufziehen. Ähnlich Honore de Balzac in vielen seiner Erzählungen- vielleicht am eindrücklichsten in dem 1838 erschienen Roman "Le Maison Nucingen" - beklagt Tocqueville die neureiche Gewinnsucht und Korruptheit seiner Zeit. Hier sei die Gefahr, so Tocqueville, "und nicht anderswo" 397 . Wahre Freiheit ist fiir Tocqueville noch nie "durch die Aussicht auf die materiellen Güter'' geweckt worden, denn "die Menschen, die in der Freiheit nach diesen Gütern suchen, haben die Freiheit nie lange bewahrt."398 In der Analyse seiner Zeit sieht auch Jean-Jacques Rousseau, daß diese Entwicklungsstufe längst eingetreten ist. Nicht zufallig hat auch er ans Ende seiner Zeitbeschreibung einen grassierenden Materialismus gesetzt, der scheinbar gänzlich ohne jedes öffentlich-politische Ideal auszukommen scheint und daher -in Rousseaus Verständnis- den einzelnen entmenschlicht. Auch in seiner Lehre ist die logische Konsequenz eines säkularen Verlustes öffentlicher Werte und die daran gekoppelte dramatische AufWertung privaten materiellen Strebens nach Luxus, in dem rational kalkulierte Interessen in einer depravierten Welt an Stelle der alten personalen Bande399 treten, den Wissenschaften und Künsten geschuldet - als Produkt von menschlichem Müßiggang und menschlicher Eitelkeit400. "Der Luxus verdirbt alles, sowohl den Reichen, der ihn genießt, als den Armen, der ihn begehrt", schreibt Rousseau. "Man kann zwar nicht sagen, daß es ein Übel sei, Manschetten aus Spitzen, einen bestickten Rock zu haben und Emailledosen bei mir zu tragen: allein, sobald man auf diese Kleinigkeiten großen Wert legt, das Volk glücklich schätzt, welches sie besitzt, und um dergleichen auch erwerben zu können, Zeit und MUhe aufWendet, welche jeder Mensch edleren Dingen schuldet, alsdann wird es zum Übel."401

396 Tocquevi/le, Brief vom 20. Oktober 1856 an Madame Swetchine, OC, Band XV,

s. 298.

397 Ebd., S. 161 f. 398 Ders., DaSudR, S. 168. 399 Rousseau, Vorrede zu »Narcisse«, S. 157. 400 Vgl. ders., PD, S. 47. 401 Ders., Bemerkungen von Jcan-Jacques Rousseau aus Genf über die Antwort des Königs von Polen auf seine Abhandlung, S. 86.

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Seine Argumentation folgt dabei der oben fiir alle drei ausgewiesenen Anlage: Rousseau erkennt, daß das Ende transzendenter Glaubenssysteme- ganz im Sinne Weberscher Ordnungen der Lebensreglementierung- "zum Vergessen der Menschenpflichten" ftihre und dazu, daß die Sterblichen ohne Religion "dahintreiben auf diesem Ozean der menschlichen Meinungen, ohne Steuerruder, ohne Kompaß, den Stürmen ihrer Leidenschaften ausgeliefert, ohne einen anderen Führer als einen unerfahrenen Steuermann, der seine Route nicht kennt, und der weder weiß, woher er kommt, noch wohin er geht."402 Rousseaus Begründung wurzelt wiederum in seiner großen Generalinterpretation der menschlichen Zivilisation: Die materialistische Verformung des modernen Habitus, wie er sie bedauert, hat ihren Ursprung im "amour propre" des Menschen, wie ihn die menschliche Vernunft aus sich heraus freigesetzt hatte. In jener von Rousseau hypothetisch konzipierten Vorzeit, als der Mensch begann, sich mit seinesgleichen zu vergleichen, sich zu messen, nach "öffentlicher Hochachtung" zu streben, waren die beiden Wesensheiten des "etre sensitif' und des "etre intelligent" im Menschen auseinandergetreten, damit das Laster geboren, mit der Sittlichkeit kamen Neid und Verachtung auf und "aus dem Gähren dieses ungewohnten Sauerteigs entstanden schädliche Beimischungen fiir die Glückseligkeit der Menschen und fiir ihre Unschuld"403 • Der Mensch begann seinen Bruder fiir sich zu mißbrauchen: "Der alles verschlingende Ehrgeiz und die Begierde, seine Glücksumstände im Vergleich mit anderen zu erheben ( ... ), flößte allen Menschen den schwarzen Trieb ein, einander schädlich und auf ihre vorzüglichen Güter insgesamt eifersüchtig zu sein ... alle hatten im Verborgenen eine Begierde, ihr Glück aufKosten anderer zu machen"404 • Damit wird deutlich, daß Rousseau materielles Güterstreben als eine rein selbstzweckhafte Beschäftigung auffaßte, die keine höheren rein geistig-ethischen Mächte kennt, in deren Dienst sie stehen will. Wie Weber und Tocqueville erkennt er die geistige Macht von egoistischer Sucht nach Ehre und Prestige, die erst dem materiellen Streben Flügel verleiht und es antreibt. Der Mensch der Modeme "ist nicht mehr in sich, sondern außer sich"405, er wird, wie es Nietzsche ausdrückt, zum "öffentlich meinenden Scheinmenschen"406 • Weil er im Verschwinden, im Verdörren der Glaubenssysteme oder Ideologien, die der alten "vertu" zugrunde liegen, das Vorpreschen jenes so heftig beklagten Materialismus ausfindig gemacht hat, wird verständlich, warum jene oft so mißverständlich behandelte "n!ligion civile" in seinem Denken eine so bedeutende Rolle einnehmen konnte: Wie Weber und Tocqueville hat der Genfer die politische Notwendigkeit geistigDers., Emile, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, S. 548. Ders., DD, S. 237. 404 Ebd., S. 243. 405 Vgl. M. Rang, Einleitung, Emile, S. 64f. 406 F. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, Unzeitgemäße Betrachtungen IJI, KSA I, S. 338. 402 403

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ideologischer Systeme erkannt, auf die sich staatsbürgerliches Handeln richten konnte. Der Genfer ist der erste Staatsdenker, der im Fortschrittstaumel aufklärerischer Zeiten den politischen Wert der Religion wieder erkannt hat - auch wenn in der politisch-philosophischen Literatur bis dahin überwiegend von der gegenseitigen Ausschließlichkeit der beiden Sphären "Religion und Politik" ausgegangen wurde.407 Zwar modifiziert er die alte Priesterreligion in eine politisch zuträglichere Bürgerreligion, wo die "religion civile" jedoch verkümmertoder als ihr Substitut der Patriotismus -, richtet sich das kollektive Wertebewußtsein auf die Welt rein materieller Güter. Selbst seine geliebten Genferzieh Rousseau dieser Entwicklung, denn "sie trachten mehr nach Geld als nach Ruhm; um im Überfluß zu leben, sterben sie unbekannt und lassen ihren Kindern als einziges Vorbild bloß die Liebe zu den Schätzen, die sie ihnen erworben haben."408 Etwas analytischer an anderer Stelle, in seiner "Abhandlung über die politische Ökonomie", schreibt er über die Eigentumsverhältnisse und das "soziale Geflille" eines Staatswesens: "Die Menschen, die auf dem Gebiete ungleich verteilt und an einem Ort zusammengepfercht sind, währenddessen die übrigen Gesellschaften sich entvölkern; die auf Kosten der nützlichen und mühsamen Gewerbe begünstigten Künste des Vergnügens und der bloßen Geschicklichkeit; der dem Handel geopferte Ackerbau, der durch schlechte Verwaltung der Staatsgelder nötig gewordene Steuerpächter; schließlich eine Käuflichkeit, die zu einem solchen Übermaß gestiegen ist, daß die Hochachtung nach Goldstücken bestimmt ist und selbst die Tugenden sich fUr Geld verkaufen: Dies sind die spürbarsten Ursachen des Überflusses und des Elends, dafUr, daß der Vorteil des einzelnen an die Stelle des gemeinsamen Vorteils aller tritt, die Ursache des Hasses der Bürger aller untereinander, ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der gemeinsamen Sache, der Verdorbenheit des Volkes und der Erschlaffung aller Triebfedern der Regierung. "409 In einer Zeit, in der alle vom Geld reden, verschlinge der Reichtum alle anderen Arten der Ungleichheit: Adel, Rang, Macht und persönliche Verdienstenichts, was heute nicht mit Geld zu erwerben sei. 410 "Früher", so veranschaulicht er," ... stritten sich die Männer im Wirtshaus. Dieses grobe Vergnügen hat man ihnen verleidet, indem man ihnen andere Vergnügungen verbilligte. Früher erwürgten sie einander um eine Geliebte. Seit sie mit den Frauen vertrauter leben, haben sie entdeckt, daß es die Mühe nicht lohnt, sich um sie zu schlagen. Ohne Trunk und ohne Liebe bleiben wenig Anlässe fUr Streit. In der Gesellschaft schlägt man sich nur noch um die Spielschulden. Soldaten schlagen sich

407 Zu Rousseaus Verhältnis zur Religion vgl. noch immer: Pierre Burge/in, JeanJacques Rousseau et Ia religion de Geneve, Genf 1962. 408 Rousseau, Julie, S. 698. 409 Ders., Aüdpo!Ök, S. 245. 410 Ders., DD, S. 260.

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nur noch, wenn sie in ihrem Recht übergangen werden, oder um nicht gezwungen zu sein, den Dienst zu quittieren. In diesem aufgeklärten Jahrhundert berechnet (hervorgehoben vom Verf.) jeder fast bis auf den Taler genau, was ihm Ehre und Leben wert sind."411 2. Privatistischer Individualismus und Vereinzelung

Wenn hier als nächste beklagenswerte rationalistische Antinomie in ihrem Effekt auf den Habitus des modernen Menschen die seelischen Zuständlichkeiten von Individualismus412 und Vereinzelung aufgefiihrt sein sollen, so stellt sich im Falle Rousseaus ein Hindernis in den Weg, das nicht ohne weiteres zu überwinden zu sein scheint, war Jean-Jacques Rousseau, dem "nachdenkenden Einsamen"413 , die Isolation, die er in Leben und Werk so häufig gewählt und favorisiert hat, doch eine "reizende Einsamkeit"41 \ die er liebte415 , manchmal gar eine "Quelle des wahren Glücks"416 • Warum also sollte ausgerechnet ihm Isolation oder Vereinzelung des modernen Individuums als eine rationalistische Widersprüchlichkeit zu Bewußtsein kommen, als eine Fehlentwicklung, wert, an den Pranger gestellt zu werden? Doch nur dann, wenn Rousseau als ein tief im Innersten sehr unglücklicher Einsamer erkannt wird - egal, ob er sich dies selbst und auch seinem Publikum oft auszureden versucht hatte. Seine selbstgewählte Lebensfiihrung war nicht so sehr das Ergebnis des freien Willens, sondern eine verzweifelte Flucht: Trotzdem aber und trotz seiner Liebe zu den Montagnons und den selbstgenügsamen "hommes naturels" der menschlichen Frühzeit, verwarf er den privatistischen Rückzug als politisches Ideal aufs deutlichste. Selbst in seinen autobiographische Züge tragenden Selbstgesprächen, in denen Rousseau über Jean-Jacques richtete, ebenfalls in den "Träumereien eines einsamen Spaziergängers", sind genügend Zitate versammelt, aus denen sich gerade nicht eine idealisierende Überhöhung, sondern viel mehr anklagende Verzweiflung an der eigenen Isolation herauslesen läßt. Eine Schlüsselstelle dazu Ders., Briefan Herrn d'Alembert ... , S. 405. Zur Begriffsklärung: "Individualismus" wird hier entsprechend dem Tocquevilleschen Sprachgebrauch als Synonym filr soziale Atomisierung, also Vereinzelung verwendet. Wenn gerade Tocqueville den Begriff immer wieder offenkundig stark perhorreszierend eingesetzt hat, darf daraus noch lange nicht geschlossen werden, er habe damit auch jeglichen Begriff der "Individualität", des "Charakters" oder der "Persönlichkeit" verworfen. Im Gegenteil, diese Erziehungsideale werden zum wichtigsten Mittel im Kampf gegen die Phänomene, die Tocqueville unter "Individualismus" subsumiert. 413 Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 644. 414 Ders., Bekenntnisse, S. 594. 415 Ders., Rousseau richtet Ober Jean-Jacques, Schriften, Band II, S. 272. 41 6 Ders., Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 649. 411

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markiert ein Zitat innerhalb des letzteren Textes, in dem Rousseau schreibt: "Solange die Menschen noch meine Brüder waren, entwarf ich mir Pläne irdischer Glückseligkeit. Da sich diese Entwürfe immer aufs Ganze bezogen, so machte die öffentliche Wohlfahrt mein ganzes Glück aus, und nie rührte mich der Gedanke an ein abgesondertes Glück, als bis ich sah, daß meine Brüder das ihrige in meinem Elend suchten."417 "Da mußte ich sie fliehen", heißt es weiter, "um sie nicht zu hassen ..." 418 • Noch vor seinem Bruch mit der Gesellschaft war Rousseaus Idee irdischer Glückseligkeit ist immer brüderlich, aufs Ganze bezogen. Wie sehr er dieser nachtrauerte, als er sie verworfen hatte, verdeutlicht eine Passage aus jenen Dialogen, die er 1772 unter dem Titel "Rousseau juges de Jean-Jacques" niederzuschreiben begonnen hatte. Den "Franzosen" läßt er darin beklagen, wozu es seine Verfolger bereits gebracht hätten -dazu nämlich, "daß er dem Schein nach ganz frei mitten unter den Menschen lebt und dennoch keinen eigentlichen Umgang mit ihnen hat, daß er mitten unter der Menge lebt, und nicht von dem weiß, was vorgeht, ( ... )und so ist er überall mit Ketten gefesselt ... Sie haben um ihn Mauern von Finsternissen errichtet, die seinen Blicken undurchdringlich sind, sie haben ihn mitten unter den Lebenden lebendig begraben."419 Im "Contrat Social" noch hatte Rousseau gefordert, diese Ketten aufzubrechen, und man braucht nicht hinzuzufiigen, daß es auch Rousseaus sehnlichster Wunsch war, diesen Zustand zu überwinden. Den "angenehmen Traum der Freundschaft" hat Rousseau eigentlich geträumt, "deren vergebliche Suche das ganze Unglück" seines Lebens ausgemacht hat. 420 Diderots provozierende Bemerkung, "Welch eigenartiger Bürger ist doch der Eremit?", hat ihn tief verletzt. Indem er "mit der Natur" und mit sich selbst lebte, fand er "eine unendliche Zufriedenheit", wenn er sich vorstellte, "daß ich nicht allein wäre, daß ich mich nicht mit einem toten und unempfindlichen Wesen unterhielte."421 Als einsamer Spaziergänger fiihlte er sich "allein inmitten der Menge"422 , "allein auf Erden, ohne Bruder, ohne Nächsten, ohne Freund" - aus der Gesellschaft seiner Mitmenschen verbannt, gestoßen 423 , "auf einen fremden Planeten versetzt"424. Aber auch was die philosophische Argumentation anbelangt, hat Rousseau dem Phänomen der modernen Isolation, der Abschneidung des Individuums aus politisch-ziviler Betätigung breiten Raum gewidmet. Zum ersten Mal taucht das 417 Ebd., S. 721f. 418 Ebd. 419 Ders., Rousseau richtet über Jean-Jacques, S. 307. 420 Ebd., S. 330. 421 Ebd. 422 Ebd., S. 331. 423 Ders., Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 639. 424 Ebd., S. 644.

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Phänomen als Folgekomplex der entfesselten ratio, des Fortgangs von Wissenschaften und Künsten im "Deuxieme Discours" auf, als Rousseau den Sündenfall der Vernunft beschreibt. Mitmenschlichk.eit, das Mitleiden mit seinesgleichen - im Naturzustand lebhaft, im "Stande der grübelnden Vernunft" dagegen schwach, wird von dieser mehr und mehr desavouiert, je mehr sich diese "charakterologisch" im Habitus des "homme civilise" durchsetzt. Zwar verfiigt der Mensch über das natürliche Gefiihl des Mitleids, und die Vernunft macht den Menschen, so Rousseau, sogar noch mitleidiger gegenüber seinesgleichen, weil sich die Fähigkeit der Vorstellung vergrößere, "sich an die Stelle des Leidenden zu setzen", nur hat sie eben auch "die Eigenliebe gezeugt, und die rationale Überlegung hat ihr Nahrung und Stärke gegeben. Sie hat den Menschen in sich selbst eingehüllt, sie hat ihn von allem entfernt, was ihm Zwang antun oder ihn beleidigen kann. Die Philosophie hat ihn vereinzelt (hervorgehoben vom Verf.)."425 "Sie hat ihn gelehrt, bei dem Anblick eines Leidenden heimlich zu sagen: Stirb, wenn Du willst, ich bin in Sicherheit."426 Der vernünftigberechnende Mensch büßt seine konkrete ethisch-soziale Handlungsmächtigkeit ein und opfert sie der Eigenliebe. Der Geschmack an der Philosophie, so an anderer Stelle, lockere "alle Bande der Achtung und des Wohlwollens, die die Menschen an die Gesellschaft binden, und dies ist vielleicht das geflihrlichste Übel, das sie hervorbringt."427 Es ist der "Zauber des Studierens", der bald "den Geschmack an jeder anderen Neigung" verderbe, "und dadurch, daß der Philosoph über die Menschheit nachdenkt, dadurch, daß er die Menschen beobachtet, lehrt er, sie nach ihrem wahren Wert zu schätzen, und es ist schwer, Zuneigung fiir das zu empfinden, was man verachtet."428 Für den politischen Zusammenhalt einer Gemeinschaft ist die Konsequenz daraus folgenschwer: "Die Familie und das Vaterland" werden fiir den Philosophen "sinnleere Worte; er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph." 429 In der Errichtung von erkennender Distanz zum Gegenstand, im dazu unabdingbaren Vorgang des "Zurückziehens des Herzens aus dem Getümmel", in der Entfremdung von Familie und Vaterland in der Situation der kritischen Reflexion, büßt der Philosoph wie der in der dauerhaften Selbstreflexion geübte moderne Mensch, ein, was ihn als nützlichen Teil einer politischen Gemeinschaft ausmacht. 430 Tocqueville hat diese thematische Vorgabe in seinem Werk in reichhaltiger Ausbreitung übernommen. Die Bürokratisierung des Staates, die Transformation aller sozialen Institutionen hatte in Frankreich, so schreibt er in ähnlichem 425

Ders., DD, S. 220.

426

Ebd.

427

Ders., Vorrede zu »Narcisse«, S. 156.

Ebd. 429 Ebd. 4Jo Ebd. 428

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Duktus, wenn auch wiederum in stärker konkret historischer Manier als Rousseau, 1789 einen Zustand erreicht, in dem die alten feudalen freiheitlichen Verbände aufgehoben waren, die Lücken, die dieser Umwandlungsprozeß gerissen hatte, jedoch weitgehend vakant geblieben waren. Die Bürger, so könnte man Tocqueville gedanklich folgen, traten mit dem Ende einer Vielzahl von zivilen Verpflichtungen und Rechtsbeziehungen aus der Verbindung mit ihresgleichen und, um ein anderes Tocquevillesches Bild zu gebrauchen, wurden zu "einzelnen unverbundenen Gliedern einer ehemals langen Kette, die vom Bauer bis zum König hinaufreichte". 431 Es ist ungemein wichtig zu sehen, daß Rousseau, Tocqueville und auch Weber im Individualisierungsschub des 18. und 19. Jahrhunderts nicht nur einen Betriebsunfall der Geschichte sehen, wie ihn quasi unbeabsichtigt das moderne Denken herbeigefilhrt hat, sondern auch erkennen, daß zu den Motivlagen apolitischer Vereinzelung des Individuums ein aus der Naturrechtslehre ideengeschichtlich entwickelter liberaler Freiheitsbegriff flankierend hinzutrat. Gerade die englische Aufklärung, das englische politische Denken im Gefolge seiner Galionsfigur Thomas Hobbes hatte im Bemühen um die Verwirklichung menschlicher Freiheit einen Begriff aufgebaut, der in der idealisierten Betonung der individuellen Autonomie das Individuum als gleichberechtigt unter seinesgleichen zur Entfaltung seiner freiheitlichen Anlagen gelangen lassen wollte, indem das einzelne Individuum ganz unkorporatistisch in seiner Selbstentfaltung über die Gemeinschaft gestellt werden sollte. Mit der "individualistischen Wende" begannen das Gemeinwohl als Staatszweck mit dem Postulat individueller Freiheit mehr und mehr zugunsten der letzteren zu konfligieren. Der neue Freiheitsbegriff, "daß der Mensch ... das Recht habe, seine eigenen Handlungen zu bestimmen, dieser noch verschwommene, unzureichend definierte und schlecht formulierte Gedanke drang nach und nach in jedes Bewußtsein ein"432 , schrieb Tocqueville. Politische Gemeinschaft gab es wie bei Jeremy Bentham nur noch in der "Summe der Interessen der Einzelmitglieder"433 • Der Gedanke der "volonte generale" Rousseaus, wonach das Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Teile, ist diesem Denken nicht mehr eigen. Der neue individualistische Freiheitsbegriff stand nicht so sehr am Ende von Dekorporierungsprozessen und "zerrissenen Banden", vielmehr war er auch deren gedanklicher, historischer Autor, weil er zu all dem, was als die individuelle Freiheit in ihrem Bestehen bedrohend erkannt und daher von ihm zu beseitigen gefordert wurde, neben allen, dem Individuum äußerlich auferlegten staatlichen Repressalien des

Tocqueville, ÜdDiA II, S. 102. Ders., zit. nach Alexis de Tocqueville, Geschichte und Politik, hrsg. von I. Geiss, s. 134. 433 Jeremy Bentham, lntroduction to the Principles of Morals and Legitimation, hrsg. von J. H. Bums und H. L. Hunt, London 1970, S. 73. 431

432

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absolutistischen Polizeistaats auch jene staatsbürgerlichen Verpflichtungen hinzuzählte, die eine politische Gemeinschaft erst entstehen und gedeihen ließen. Rousseaus Standort in dieser Debatte ist schnell gefunden. Obwohl er die Grundüberzeugungen des europäischen Liberalismus, etwa die Existenz des Staatsbürgers als Rechtssubjekt, einer rechtsstaatliehen Ordnung und die Anteilnahme der Staatsbürger an der Gesetzgebung434 teilte, ja sie in seinen Schriften vehement einforderte, so ging er doch eigene Wege, erwies sich diese liberale Idee als einseitig einer Lehre verhaftet, die das Individuum über die Gemeinschaft stellte. Er, der so dezidiert das Ende aller gesellschaftlichen Bande beklagt hatte und dessen größtes Anliegen im "Contrat Social" darin bestand, diese wieder neu zu knüpfen, um den Menschen aus seiner selbstverordneten Isolation herauszuführen, verwarf individualistische Glaubenssätze - sie mußten ihm wie Reden erscheinen, die das Prinzip des "amour propre" nicht bekämpften, sondern es verherrlichten. Tocqueville benennt diesen frühliberalen Grundzug, wie er hier umrissen wurde, ebenfalls mit dem Terminus des Individualismus, mit einem Begriff also, der filr ihn jedoch in der direkten Nachfolge Rousseaus statt für die aufgeklärte autonome Mündigkeit des Bürgers zu stehen, vor dem Hintergrund seines zentralen Themas des modernen Bürgers zwischen Isolation und Integration zum Synonym für die vereinzelnde Bindungslosigkeit des Individuums in der Gesellschaft wurde. 435 So steht der "individualisme" in Tocquevilles Denken im denkbar pejorativsten Sinn stets filr eine Geisteshaltung, in der jeder "seinen Glauben in sich selber sucht"436, alles nur auf sich bezieht und sich selbst vor allem den Vorzug gibt. Tocqueville wollte vordringlich zeigen, daß unter der Herrschaft dieser Idee jeder "alle seine Gefühle auf sich allein richtet"437 , Individualismus immer dazu tendiere, in Selbstsucht, also ebenfalls in den Rousseauschen "amour propre", umzuschlagen. Er ist ihm "ein überlegendes und friedfertiges Gefilhl, das jeden Bürger drängt, sich von der Masse der Mitmenschen fernzuhalten und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abzusondern; nachdem er sich eine kleine Gesellschaft für seinen Bedarf geschaffen hat, überläßt er die große Gesellschaft gern sich selbst."438 Der einem "blinden Trieb" entspringende Egoismus "legt vorerst nur den Quell der öffentlichen Tugenden trocken; mit der Zeit aber greift er alle anderen an und zerstört sie und versinkt schließlich in die Selbstsucht."439 Im Individualismus wird "öffentliche 434 Vgl. Victor Leontovitsch, Das Wesen des Liberalismus, in: Lothar Gall (Hrsg.), Liberalismus, 3. Auflage, Königstein 1985, S. 37. 435 Vgl. Jean Claude Lamberti. La notion d'individualisme chez Tocqueville, Paris 1970. 436 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 113.

437 438

Ebd. Ebd.

439

Ebd.

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Tugend erstickt"440 • Die "neue Philosophie"44 \ wie er verschiedentlich den Individualismus nennt, habe zwar, "die Geister unabhängiger, stolzer und aktiver gemacht, indem sie alle Anschauungen vor den Richterstuhl der individuellen Vernunft zerrte, hatte sie zugleich aber isoliert." 442 Die aufklärerische Idee, daß jeder nur in sich die Wahrheit suchen und sie auch dort entdecken könne443 , filhrte nicht nur in die souveräne Autonomie eines jeden über sich selbst, sondern zwangsweise in jene Leibnizsche monadische Isolation, in der ein ZusammenfUhren und überhaupt die Idee des mündigen, politisch in seiner Civitas handelnden Citoyen verunmöglicht wurde: Das große Problem ist ftlr Tocqueville weitaus weniger, daß die "natürlichen Bande" unter der Demokratisierung leiden mußten, sondern, daß der Individualismus die Menschen als Bürger auseinanderreißt Individualismus ist in der Konsequenz nichts anderes als der "amour propre" und es kann daher nicht verwundern, wenn Tocqueville nach dem Ende der Brüderlichkeit als eine seiner auch privatesten Verzweitlungen das ängstigende Gefilhl der Vereinzelung, der Isolation und der Einsamkeit nannte. Wie Gennaine de Stael empfand er seine Zeit als "epoque ou Je mal universei est l'egoisme"44\ und wie filr Alfred de Vigny oder Jules Michelet in dessen "Le Peuple"445 wurde die moderne Isolation zu einem seiner Leitthemen. "Es ist nicht gut, allein zu sein", schrieb er am 7. Januar 1856 in einem Brief, er fiihle sich "in moralischer Isolierung ... außerhalb der geistigen Gemeinschaft" seines Landes und seiner Zeit, die "Einsamkeit in einer Wüste würde mir nicht schwerer sein, als diese Vereinsamung inmitten von Menschen." 446 In einer Grundstimmung, die an Edgar Allen Poes "Man of the Crowd"447 erinnert, schildert Tocqueville die neue atomistische Lebensweise, die die individualistische Epoche mit sich gebracht hat. "Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber: seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern ftlr ihn das ganze Menschengeschlecht. Was die übrigen den Mitbürgern angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; erberührt sie, aber er fühlt sie nicht (hervorgehoben vom Verf.); er ist nur in sich und fiir sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man

440 441 442 443

Ders. , DaSundR, S. 15. Ders., RzAidfA, S. 126.

Ebd. Ebd., S. 121 .

444 Germaine Necker, Baronne de Stael-Holstein, Über Deutschland ( 1813 ), vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814, hrsg. von Monika Bosse. Frankfurt am Main 1985, S. 64. 445 Jules Miche/et, Le Peuple, in: Societe des textes fran~ais modernes, Paris 1946, S. 129f. 446 Tocqueville, Brief vom 7. Januar 1856, OC. Band VI, S. 306-308. 447 Vgl. Edgar Allen Poe, Der Mann in der Menge. in: Ders. , Grube und Pendel, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1979, S. 80-91.

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zumindest sagen, daß er kein Vaterland mehr hat."448 In dem Maß, in dem der Mensch sich individualisierte und privatisierte, in dem diese Entwicklung von einer Öffentlichkeit obstruierenden Verwaltungsdespotie gefördert wurde, das war Tocquevilles Sorge, verlor das einzelne Mitglied eines Gemeinwesens seine politische, also öffentliche Handlungsmächtigkeit Je umfassender der Verwaltungsstaat diese vernichtete, desto größer wurde die Ohnmacht der Bürger, umso mehr wurden aber auch Rufe nach der Regierung laut, das entstandene Vakuum zu fiillen. Ein circulus vitiosus tut sich auf: Einem diffusen Dogma der Notwendigkeit folgend wird weiterreichendes staatliches Vordringen legitimiert, zivile Handlungsmächtigkeit weiter beschnitten. Die Regierung ihrerseits beginnt, sich mehr und mehr fiir Tun und Einzelschicksal ihres Untergebenen verantwortlich zu fiihlen und schickt sich an, ihn "nötigenfalls gegen seinen Willen glücklich zu machen"449• Für Tocqueville aber unterdrückte selbst eine Regierung, die in diesem Sinne ihr Volk beglücken würde, es letztendlich, denn das Volk hätte auch dann noch "die Fähigkeit selbständigen Denkens, Fühlens und Handelns" nach und nach eingebüßt und zwar dergestalt, daß es "Schritt filr Schritt unter die Stufe des Menschentums hinabsinken"450 würde. Im Zeitalter der Verwaltungsdespotie strebten alle "dahin, die Ausübung sämtlicher individuellen Fähigkeiten der sozialen Macht unterzuordnen und aus jedem Mitbürger etwas geringeres zu machen als einen Menschen."451 Weber teilte diese Sicht der Dinge. Nicht nur der "etat social" der modernen Demokratie, sondern spezifisch der bürokratische Rationalismus pflegte ihm die innere "Konsequenz jenes »Atomisierens«" der Individuen einer Gesellschaft zu haben. 452 Dies zeigt er am rationalistischen Regelwerk des Bürokratismus ebenso, wie etwa innerhalb der calvinistisch-religiösen Rationalisierung, die in der Prädestinationslehre über den Mechanismus der individuellen Versicherung der Erwähltheit durch Gott geradezu einen Konkurrenz-Individualismus ins Werk gesetzt hatte, der in einer "unmenschlichen Vereinsamung"453 des Individuums endete. Als literarische Umsetzung dieses Denkens fUhrt Weber Gottfried Kellers "Gerechte Kammacher'' an und als noch zugespitzteres Beispiel der den Individualismus antreibende puritanische Gnadenspartikularismus, wie er aus John Bunyans "Pilgrim's Progress" herauszulesen ist. 454 Neben der Genese des Individualismus als einer über die Heilsvergewisserung motivierten LeTocqueville, ÜdDiA II, S. 342. Ebd., S. 330. 450 Ebd., S. 344-345. 451 Ders., RzAidfA, S. 130. 452 Weber, "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, in: Ders., Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 1973, S. 393. 453 Ders., PE I, S. 122-125. 454 Ebd., S. 124. 448

449

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benseinstellung wird dieser zusätzlich gespeist von der durchgängigen Jenseitsorientiertheil des Puritaners, der ganz anti-autoritär " ... Gott mehr gehorcht als den Menschen". In dieser radikalen Motivation zur geistigen Fügsamkeit, die lebensbestimmender wird, als etwa die konkret politische, sieht Weber einen negativen Entwicklungsstrang. Zwar begrUßte er einerseits die schöpferische Errungenschaft der Gewissensfreiheit, sah darin andererseits jedoch auch den "Ursprung des modernen vereinzelnden lndividualismus"455 • Diesen religiös motivierten, individualistischen Zug, den Weber vor allem im Calvinismus verortete, mußte er jedoch angesichts der in hohem Grade interne Kohäsion stiftenden Qualitäten der protestantischen Sekten wieder aufgeben. Und so stellt sich auch bei ihm die apolitische Individualisierung nicht wirklich als ein immanentes Problem einer radikal-dogmatischen religiösen Gemeinschaftsbildung, sondern als solches erst ein in dem Moment, in dem sich der puritanische Glaube seiner ethischen Grundlagen zu entledigen beginnt. Denn erst jetzt mußten die auf einem inneren Zusammenhalt errichteten sektiererischen Prinzipien etwa der gegenseitigen Kontrolle der Heilsgewissheit ihren eigentlichen Sinn verlieren, erst jetzt, im "anethischen" rein kapitalistischen Gewinnstreben, erlangt das egoistische Interesse Macht über den Menschen. Deswegen wird die eigentliche, gesellschaftliche Atomisierung stimulierende Kraft fiir Weber der aufziehende Kapitalismus als einer Entwicklung, der ein "scharf individualisierender Zug zugrunde liegt"456 • Schon in Ostelbien hatte er ja beobachtet, wie sich der Arbeiter aus der patriarchalischen Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft "um jeden Preis" gelöst hatte, was die "ausgeprägte Tendenz" gerade "bei den tüchtigsten Elementen der Arbeiterschaft" gewesen sei. "Selbständigkeit", "persönliche Unabhängigkeit" von dem persönlichen Herrschaftsverhältnis, auch wenn sie eine neue "schmähliche Abhängigkeit" bedeuteten, seien Oberall wieder gekehrt. 457 "Das Mittelalter ertrug es, daß in den Handelshäusern der Städte durch Generationen die Hausgenossenschaft erhalten blieb, Vettern, Schwägerinnen und Schwiegermütter miteinander am gleichen Tische hausten. Heute drängt es uns zum eigenen Herd; wir streben nach dem selbst erworbenen Brot in der Fremde, hinweg vom Tisch des Elternhauses und aus dem Kreise der Unseren, und das Schwere der Situation ist, daß die Entwicklung der allgemeinen Lebensverhältnisse die ersehnte wirtschaftliche Selbständigkeit bis in immer höhere Lebensalter hinein versagt."458 Weber macht den "rein psychologischen Zauber" der Freiheit, der sich zum Teil als "grandiose Illusion" entpuppe, für diesen neuen Individualismus der kapitalistischen Ära verantwortlich. 459 In ähnlichem Tenor hatte schon Emil Harnmacher gewertet, daß "die SozialEbd., S. 297. Ders., Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, S. 797. 457 Ebd. 458 Ebd., S. 798. 459 Ebd., S. 797. 455

456

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philosophie der Aufklärung abstrakt individualistisch war": " ... sie trennte den von seinem Gott geschiedenen Menschen auch von seinen Mitmenschen, sie befreite ihn von Vorurteilen und Bevormundungen, aber sie gab ihm keine neuen Aufgaben, die über das Wohl des Ichs und der Allgemeinheit hinausgingen, sie isolierte ihn im wesentlichen zu einer negativen Freiheit."460 Harnmacher lenkte mit diesem Zitat den Blick wiederum auf das eingangs erwähnte Theorem des "Endes der Transzendenz", dem damit auch fiir die Individualisierungsfolgen der Moderne bei Weber grundlegenden Erklärungswert zukommt. Der die Menschen zusammenbindende, integrierende Gemeinschaftsgeist hatte sich aufgelöst. Das religöse "prophetische Pneuma", das früher " ... in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte", "pulsierte" nur noch " ... innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Menschen zu Menschen, im pianissimo..." 461 Unter Kapitalismus und Bürokratie hat die "Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit" längst damit begonnen, die "letzten und sublimsten Werte" aus der Öffentlichkeit zurückzudrängen " ... in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander."462 Materialismus und privatistischer Individualismus als genuin neutrale Analysebegriffe, werden von Weber, Tocqueville und Rousseau in klar negative Schlagwörter Uberfilhrt, die fllr sie aussagekräftige Zeugnisse des Zustands ihres Zeitalters geben. Rousseau ist der moderne Individualismus nicht mehr als eine Form des "amour propre", Tocqueville Vereinzelung, Weber Synonym filr "Unbrüderlichkeit". Materialismus flößt filr den einen "allen Menschen den schwarzen Trieb ein, einander zu schaden"463 , dem anderen gerinnt er zur "getahrlichen Krankheit"464 , dem dritten schließlich zum verwerflichen Genußstreben des "letzten Menschen", des "protzenhaften Parvenus" - jenes "Nichts", das glaubt, "eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen" zu haben."465

3. Das Ende des politischen Enthusiasmus Wer das Werk Rousseaus, Tocquevilles und Webers aufmerksam studiert, wird feststellen, daß alle drei in ihrer Analyse der Modeme neben den Themen der großen Sphärenkollision von religiös bestimmter Ethik und modernem rationalen Denken auch dem Ende der jeder dieser Sphären zugrunde liegenden 460

20. 461

462 463 464 465

Emil Hammacher, Hauptfragen der modernen Kultur, Leipzig und Berlin 1914, S. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 612.

Ebd.

Vgl. Rousseau, DD, S. 243. Tocquevi/le, ÜdDiA II, S. 162. Weber, PE I, S. 189.

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genuin religiös-emotionalen Triebkräfte des Menschen, der Begeisterung fiir eine Gesinnung und der Leidenschaft fiir öffentlichen Belange breiten Raum geschenkt haben. Die vom modernen Vernunftdenken inszenierte "Tragödie der Religion" hatte filr sie nicht nur die Auswirkung des Auflösens sozialer, brUderlichkeitsethischer Anforderungen zur Folge, die bis dato auch das politische Handeln begleiteten, sondern auch das Verschwinden ihrer gefühlsmäßigen Triebkräfte in der menschliche Seele, die "von religiöser Abkunft"466 sind und das Wesenhafte jeder Religiosität berühren: die Leidenschaft, den Enthusiasmus und- im Falle Webers - das Charisma467, deren "Verknöchem"468 von allen als Opfer des modernen Intellektualismus gegeißelt wurde. Albert Hirschman ist diesem historischen, "sozio-emotionalen" Erosionsprozeß nachgegangen und hat gezeigt, wie sich parallel zu der sich entfaltenden Vernunft in der Modeme jener eigentümlichen Paradigmenwechsel vollzogen hat, der das der händlerischen Sphäre entstammende Interesse über diese hinaus zum allgemeinen interpersonalen Strukturprinzip moderner Beziehungen aufsteigen ließ469 . Diese "Zähmung der Leidenschaft" 470 als einer Entwicklung, in der das sachliche Interesse in die Leidenschaft eindringt und diese auf einen Zweck hin funktionalisiert, steht am Ende seiner Analyse. Die neuzeitliche Auffassung, die ihre Spuren auch im Werk Rousseaus hinterlassen hat, wonach allein die "Mechanik der lnteressenverfolgung" einen "allseitigen Vorteil hervorbrächte"471, lassen die Leidenschaften mehr und mehr als animalisches Residuum erscheinen, das dem Glück der Menschen entgegensteht. Die Verwerfung der Leidenschaften von der Vernunft ist dabei eine wesentlich ältere Denkfigur der politischen Philosophie. Nicht Sklave seiner Leidenschaften zu sein, erschien schon Platon als höchste Tugend, Besonnenheit und 466 H. Tyrell, S. 169. Zur Welt der religiösen Gefühlskräfte in Webers Tagen vgl. Christoph Ribbat, Religiöse Erregung, Protestantische Schwärmer im Kaiserreich, Frankfurt am Main und New York 1996. 467 Erst durch den Einblick in diese Folgen der "Tragödie der Religion" wird verständlich, warum flir Max Weber die Kategorie des Charismas eine so bedeutende Rolle spielt. In seinem lebenspraktischen Ansatz geht es ihm zum einem darum, eine neue im spezifischen Sinne "brüderliche" Freiheitsmöglichkeit in der Modeme zu formulieren, daneben jedoch auch, das verlorene, seelisch kraftvolle "Charisma" innerhalb einer freiheitlichen Lebensfilhrung wiederzugewinnen. es im Menschen wiederzuerwecken. Es sind beide verlustig gegangenen Elemente, die es Weber wert sind, in einer neuen Form wiederbelebt zu werden. 468 Weber, WuG, S. 285. Siehe auch ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 390. Weber spricht hier vom "Verknöchern" der Parteien zu einer "Parteipfründnerschicht". 469 Albert 0. Hirschman, Leidenschaften und Interessen, Die politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt am Main 1980. 470 Ebd., S. 38f. 471 Ebd., S. 59.

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Mäßigkeit, die Tugend der temperantia kennt auch die römische Philosophie und zieht diese den unbeherrschten Leidenschaften vor. In einer religionsfeindlichen, intellektualistischen Zeit wird ihrer Berechtigung endgültig der Boden entzogen, weil mehr und mehr das jenseitige absolute Objekt abhanden kommt, auf das sie sich richten konnten und das sie rechtfertigte. Sie sind umso verpönter, gelten sie doch als Atavismus einer animistischen Zeit, in der sich die eigenkontrollierende ratio noch nicht des menschlichen Habitus bemächtigt hatte. Die Verlagerung von gefilhlsmäßigen Kräften zu kalkulierenden, in ihrem Verfolg voraussehbaren Interessen, die Bemächtigung der Begierde - oder des thymos innerhalb der dreigeteilten platonischen Seele - durch die Vernunft, analysiert als Kulturproblem wie es aus der Geschichte der Modeme entstehen konnte und etwa von Francis Fukuyama wieder beklagt wurde472 , ist auch bei Rousseau, Tocqueville und Weber ein immer wiederkehrendes Motiv. "Nichts ist fiir den Menschen als Menschen etwas wert", rief Max Weber seinen Münchner Studenten zu, "was er nicht mit Leidenschaft tun kann"473 • Wenn Weber in der Wissenschaft gilt, daß "einem die besten Dinge nicht einfallen", wenn man "leidenschaftliche Fragen nicht hinter sich gehabt hätte", so hält er die Leidenschaft genauso als politische Tugend hoch. Nicht nur der kühle Verstand schaffe Wissenschaft und Politik, sondern mindestens in gleichem Maße die "ganze »Seele«"474 • Die "leidenschaftliche Hingabe" an eine Sache, an "den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist", wird fiir Weber zur politischen Tugend und allgemein menschlichen Qualität, Leidenschaftlichkeit, wohlgemerkt, "im Sinne von Sachlichkeit" und nicht in der noch von Georg Simmel beklagten "sterilen Aufgeregtheit"475 • Webers häufig vorgebrachtes Plädoyer für die Leidenschaft ist der Reflex des von ihm selbst beschriebenen Erosionsprozesses von Enthusiasmus und Charisma in der rationalistischen Gesetzmäßigkeilen folgenden Modeme. Dabei ist die Kategorie der "Leidenschaften" bei ihm als noch immer zu erweckende Residualkategorie des Charismas zu deuten. Weber hat aus einem nicht verebben wollenden Interesse heraus den geistigen Ort dieses Verkümmems immer wieder aufgesucht, den Ort des Umschlags vom Charisma zu seiner Veralltäglichung: soziologisch-analytisch in "Wirtschaft und Gesellschaft", innerhalb seiner berühmten Trias der Legitimitätstypen, historisch-politisch in "Politik als Beruf'', wo er den Moment des Umschlags von Charisma zur "Entleerung und Versachlichung" gerade im religiösen oder revolutionären GlaubenskampfVgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 589. 414 Ebd. 475 Vgl. ders., Politik als Beruf, S. 545 und auch G. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band I, Gesamtausgabe Band 7, Frankfurt am Main 1995, S. 116f. 472

473

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durchaus auch in demjenigen seiner eigenen Zeit - mit dem schwergewichtigen Titel einer "emotionalen Revolution" belegte. 476 Das Charisma verdörre dort, argumentierte er, wo eine prämiengeleitete Gefolgschaft im Umsturz, in der Revolution ihr Ziel erreicht hat. "Der Glaube selbst schwindet oder wird ... Bestandteil der konventionellen Phrase der politischen Banausen und Techniker." Die "seelische Proletarisierung im Interesse der »Disziplin« ist dabei "eine der Bedingungen des Erfolgs" - aber eben auch deren Preis. Das Charisma stirbt ab, und die "herrschend gewordene Gefolgschaft eines Glaubenskämpfers pflegt daher besonders leicht in eine ganz gewöhnliche Pfründnerschicht zu entarten"477, die mittels bürokratischer Herrschaftstechnik leicht zu bändigen ist - dadurch jedoch aber auch daran gehindert wird, das Charisma in ihrer Mitte am Leben zu erhalten. Immer wieder beobachtete Weber, wie das Ideal rationaler Erwägung charismatische Anlagen im Menschen bekämpfte. Was im Menschen der Modeme an seelischen Kräften und GeruhJen im Handeln zum Durchbruch drängte, wird auf doppelte Weise unterdrückt: zum einen, weil das neue rationalistische Verwaltungshandeln den Menschen zusehends uniformierte und standardisierte, wobei die irrationale Kategorie des Charismas nivelliert wurde, zum anderen, weil das rationalistische Zeitalter über diese irrationale Kategorie endgültig ein soziales Tabu verhängte und die gesellschaftliche Ächtung dieser Größe vollzog. Wie Peter Lassman herausgearbeitet hat, ist genau der Dualismus, die "balance of knowledge and passion" das verbindende Glied zwischen Weber und Tocqueville.478 Auch Tocqueville hatte ebenso große Sympathien fiir die Leidenschaft, denn "hier ist Kraft" und "überall wo man Kraft findet, wirkt sie zu ihrem Vorteil in der allgemeinen Schwäche, die uns umgibt", schrieb er und forderte die politischen Leidenschaften, "so weit sie gut sind", war sich aber "noch nicht einmal sicher", ob er sie verabscheute, "soweit sie schlecht sind."479 In einem kämpferischen Duktus, der oft an Jules Michelet erinnert, entwuchsen auch fiir ihn "große Taten" stets des edlen leidenschaftlichen Gefiihls und nicht der Vernunft. Auch fiir ihn ist nicht die ratio oder das kalkulierende Interesse derjenige Faktor, der politische Gemeinschaft stiftete, und es ging ihm nicht zuerst um das Vertrauen in wohl austarierte "checks and balances", sondern mindestens genauso um den Geist und das Leben, das in die leeren Gesetzeshülsen einkehren mußte, um das kraftvolle, religiös empfundene Gefiihl, das hinter allem Handeln stand. Am 11. September 1857 schrieb Tocqueville in einem Brief: "Sie können überzeugt sein, daß es keine Strebung meines Geistes gibt,

476 477 478

Weber, Politik als Beruf, S. 557. Ebd.

Vgl. P. Lassman, S. 101.

Tocqueville, Brief vom 10. August 1841 an John Stuart Mill, OC, Band VI, S. 116-117. 479

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III

die nicht darauf hinzielte, die Seele zu erheben, anstatt sie zu Boden zu drükken; aber man muß sich selbst treu bleiben. Nur die Geruhte und Leidenschaften, die aus der Tiefe des Geistes und des Gewissens stammen, haben schließlich jene natürliche Kraft und innere Wärme, die dem Leser ein glühendes Erleben schenken."480 Wie nach ihm Friedrich Nietzsche beklagte auch er, daß der heutige Mensch "nicht mehr wollen, nicht mehr lieben und nicht mehr hassen"481 könne, "Skepsis und Philanthropie lähmen uns völlig, machen uns unfähig, großzügig das Gute oder das Böse zu tun, und zwingen uns, schwerfällig eine Unmenge von kleinen Dingen zu umflattern, von denen uns keines anzieht, keines heftig zurückweist oder kraftvoll festhält." 482 In der Aristokratie gab es zwar Ungleichheit, doch dafiir seien die Seelen, so Tocqueville, "auf einen sehr hohen Ton gestimmt"483 gewesen und man hätte keine "seelische Entwürdigung"484 sehen können, keine "ermatteten" oder "erniedrigten" Seelen485, wie sie heute vorherrschten. In der Monarchie erhielten sich die Menschen "trotz äußerer Abhängigkeit" "eine freie Seele"486, heute dagegen, klagt er, würden alle Tugend der Ertragsrechnung unterworfen. ln der heutigen Zeit herrsche "die Liebe zum Wohlergehen"487 vor, die privaten "händlerischen Leidenschaften" seien an die Stelle getreten, die einmal von der "Hingabe an das Gemeinwesen"488 ausgefiillt war. Peter A. Lawler hat herausgearbeitet, daß es die Bewahrung von "Love and Pride" als öffentlichen politischen Gefiihlskräften vor dem Hintergrund der aus der Liebe zur Gleichheit entstandenen allgemeinen politischen Indifferenz des modernen demokratischen Staates war, dem Tocquevilles Sorge und Kampf gegolten hat. 489 "In the absence of pride and Iove", faßt er zusammen, "the source of individuality or human distinctiveness remains only in the pursuit of interest." 490 Die Verdörrung der Gefilhlskräfte in den politischen Handlungen hat auch Jean-Jacques Rousseau sehr früh benannt. Zwar findet sich in seinem Sprachgebrauch der Begriff der Leidenschaften auf einer zumindest ambivalenten, also 480 Ders., Brief, OC, Band VI, S. 407, A. Salomon, S. 232. 481 Ders., Brief vom 10. August 1841 an John Stuart Mill, OC, Band VI, S. 116-117, A. Salomon, S. 198. 482 Ebd. 483 Ders., ÜdDiA II, S. 56. 484 Ders., ÜdDiA I, S. II. 485 Ders., ÜdDiA II, S. 165. 486 Ders., DaSudR, S. 124. 487 Ders., ÜdDiA II, S. 145-148. 488 Ders., RzAidfA, S. 128. 489 Peter A. Lawler, Tocqueville on Pride, lnterest, and Love, in: Polity, The Journal of the Northeastern Political Science Association, Vol. XXVIII, No. 2, Winter 1995. S. 217-236. 490 Ebd., S. 225.

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immer auch seiner Zeit gemäßen pejorativen Sinnebene491 und die "passions" sind fiir ihn Teil des "amour propre" - als Antriebskräfte politischen Handeins duldete, ja forderte sie Rousseau regelrecht - immer unter der Voraussetzung, daß sie - weil sie in seiner Sicht per se den egoistischen Partikularwillen stützten und sich gegen die Vernunft richteten - der Tugend unterworfen werden. 492 Rousseau ist einer der ersten abendländischen politischen Denker, die sich von einem mechanistischen Zeitgeist loslösten und diese Kategorie in ihrer Lehre rehabilitierten. Den Leidenschaften wies er darin den Platz und die Funktion eines "Motors der Tugend selbst"493 zu, sie wurden fiir ihn - gerade im Patriotismus - zur unverzichtbaren Voraussetzung echt staatsbürgerlichen Handelns. Gegen die Physiokraten gerichtet argumentierte Rousseau, daß diese "Berechnungen zu viel Kraft" zuschrieben "und den Neigungen des Menschenherzes und seinen Leidenschaften zuwenig."494 Die Physiokraten vergäßen, " ... daß sich die menschliche Vernunft erst zusammen mit den Leidenschaften entwickelt, die ihre Alleinherrschaft verhindert und daß bloß rationale Überzeugungen nie ausreichen, um einen Menschen zum Handeln zu bestimmen. Der Wille wird ihm zufolge vielmehr von dem Gefiihl bestimmt, das bei einzelnen, tugendhaften Bürgern die »Liebe zur Ordnung« sein kann, somit dem Gewissen entspringt, bei den meisten aber bestenfalls Patriotismus, Gewohnheit und Sitte oder die Anhänglichkeit ans Althergebrachte beinhaltet."495 "Der menschliche Verstand hat den Leidenschaften viel zu verdanken, so wie von diesen jeder gesteht, daß sie dem Verstande vieles schuldig sind", lautete seine Überzeugung, denn "unsere Vernunft wird durch die Leidenschaft vollkommener gemacht". Unmöglich könne "man sich vorstellen, daß sich einer die Mühe geben sollte, zu denken, der weder von Furcht noch von Begierden dazu angetrieben würde. Die Leidenschaften hingegen entstehen aus unseren Bedürfnissen und werden durch unsere Einsichten vermehrt."496 Aus dieser Haltung heraus wird deutlich, 491 So etwa gleich zu Beginn des "Briefs an Herrn Philopolis", S. 305, wo Rousseau vom "Joch der Leidenschaften" spricht. 492 Es ist naheliegend, daß eine abgewertete und so inständig bekämpfte rationalistische Lebensmacht im Denken Rousseaus gerade eine Aufwertung ihrer Antagonistinnen, den "passions", zur Folge hatte. L. Strauss schreibt, diese Interpretation stützend: "Bei Hobbes hatte die Vernunft vermöge ihrer Autorität die Leidenschaft emanzipiert; die Leidenschaft erwarb den Status einer freigelassenen Frau; die Vernunft fuhr zu herrschen fort, wenn auch nur durch kaum wahrnehmbare Kontrolle. Bei Rousseau ergriff die Leidenschaft selbst die Initiative und rebellierte; sie usurpierte den Platz der Vernunft und begann, indem sie unwillig ihre ausschweifende Vergangenheit verleugnete, in der gestrengen Sprache der catonischen Tugend Urteile über die Schändlichkeiten der Vernunft zu tallen." Vgl. L. Strauss, S. 263. 493 I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 197. 494 Rousseau, Brief an Mirabeau d. Ä. vom 26. Juli 1767, zit. nach I. Fetscher, ebd., S. 247. 495 I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 247f. 496 Rousseau, DD, S. 205.

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warum er seine Schriften stets, wie im ersten Gespräch seiner Selbstrechtfertigung "Rousseau richtet über Jean-Jacques" expliziert, als solche verstanden wissen wollte, "die die Seele erheben und das Herz in Feuer setzen".497 Das Ende der vom sachlichen Geist verdrängten, und auch moralisch perhorreszierten Leidenschaft ist fiir Weber, Tocqueville und Rousseau gleichbedeutend mit dem Einzug glanzloser Einförmigkeit. Novalis warf dem rationalistischen Zeitalter vor, die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einfOrmigen Klappern einer ungeheuren Mühle entstellt zu haben, und was dieser innerhalb der künstlerischen Sphäre beklagte, wurde als Motiv von Rousseau, Tocqueville und Weber auch in die politische Sphäre übernommen. Schon in seinem "Premier Discours" hat Rousseau seinem Zeitalter den Zug zum unnatürlichen gekünstelten Charakter angelastet, der - natürlicher Tugend ermangelnd - mehr und mehr zu einer unverbindlichen, rein formalen Gemütsrichtung tendiere, die individuelles Verhalten zugunsten von vorgegebener Etikette zurückdrängt und unter dem "einförmigen und betrügerischen Schleier der Höflichkeit" verbirgt. Als eine Konsequenz der wiedererwachten Wissenschaften und Künste sieht er, daß diese auch die "Kunst zu gefallen in Regeln gebracht" hatten, " ... und alle Gemüter scheinen nach einem Muster gebildet zu sein: immer fordert die Höflichkeit und gebietet der Anstand, immer folgt man angenommenen Gebräuchen und niemals seinem eigenen Sinne. Man wagt sich nicht mehr zu zeigen, wie man ist, und unter diesem beständigen Zwang handeln alle Menschen, welche diese Herde, die man Gesellschaft nennt, bilden und sich in einerlei Umständen befinden, immer einförmig, wenn nicht mächtigere Beweggründe sie davon abhalten."498 Dieser einförmige Habitus ist Rousseau ein Greuel, weil er den Wettbewerb der Ideen und Taten verhinderte und genauso die Gefiihlslagen und Temperamente dämpfte. Hat er einmal erfolgreich Einzug gehalten, werde man zwar, so Rousseau, "den Namen des Herrn des Alls nicht mehr durch Flüche und Schwüre mißbrauchen, dafiir wird man ihn durch Lästerungen entheiligen, ohne daß unser zartes Gehör beleidigt wird."499 Man könnte nun meinen, diese Ausfiihrungen stünden im Widerspruch zu Rousseaus Zivilisationstheorie, wonach alle historische Entwicklung zu fortschreitender Ungleichheit dränge: Ungleichheit, die Rousseau anprangert, ist Ungleichheit illegitimer sozialer Abhängigkeitsverhältnisse, auf welcher sozialen oder politischen Grundlage sie auch immer beruhen. Das Wort indessen fllr eine Monotonie des Einförmigen innerhalb des seelischen Habitus des modernen Menschen hat Rousseau nie geredet, im Gegenteil, sie gilt ihm als betrübliches Schrekkensbild einer zivilisatorischen Zerfallsgeschichte.

Ders., Rousseau richtet über Jean-Jacques. S. 262. Ders., PD, S. 35f. 499 Ebd., S. 36. 497

498

8 Hecht

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Tocqueville nimmt den Faden auf- wenn auch unter geänderten Vorzeichen. Der Moment des Einsetzens eines einf6rmigen Habitus wird in seiner Sicht bedingt durch die Gründung der modernen demokratischen Gesellschaft: In der aristokratischen Gesellschaft findet er "nirgends Einheit und Einförmigkeit" vor, filr ihn droht erst in der demokratischen "die Gleichf6rmigkeit der Gesetze an die Stelle lokaler Freiheiten"500 zu treten und " ... alles so gleichartig zu werden, daß die eigentümliche Gestalt jedes einzelnen in der Erscheinung des Gesamtbilds bald völlig aufgehen wird."501 Eine gegensatzlose, politische Gesellschaft ist Tocqueville im Anzug. Er sieht eine Zeit kommen, "da man in Nordamerika 150 Millionen einander gleichgestellte Menschen sehen wird, die alle der gleichen Familie angehören, den gleichen Ausgangspunkt haben, gleicher Kulturstufe, gleicher Sprache, gleicher Religion, gleicher Gewohnheiten, gleicher Sitten sind und von einem Denken durchpulst, das sich in den gleichen Formen und Farben malt." 502 Das Aufkommen herausragender Männer und Frauen wird unter dem Zwang bürokratischer Uniformität und einem davon ins Werk gesetzten Sozialtotalitarimus unterdrückt. Läßt Tocqueville "seine Blicke Uber die zahllose Masse schweifen, wo nichts sich erhebt, nichts tiefer steht", kommt er zu dem bedrückenden Fazit: "Das Schauspiel dieser allumgreifenden Einf6rmigkeit stimmt mich traurig und kalt, und ich fiihle mich versucht, der Gesellschaft nachzutrauern, die nicht mehr ist."503 Vor der großen Revolution, so Tocqueville andernorts, war Frankreich "noch nicht der klanglose Ort, wo wir heute leben." 504 Der Begriff der Ein- oder Gleichförmigkeit wird in Webers Fall von dem der "Disziplin" oder "Disziplinierung" und in dem Zusammenhang auch von ihrem "rationalsten Kind", der Bürokratie, abgeleitet, jedoch genauso als Konsequenz eines auch in der Seele des Menschen zur Macht gekommenen Kapitalismus. Tocqueville, DaSudR, S. 26. Ders., ÜdDiA II, S. 353. 502 Ders., ÜdDiA I, S. 478. 503 Ders., ÜdDiA II, S. 356. 504 Ders.. DaSudR, S. 120. Die Einfönnigkeit des demokratischen Zeitalters hat im 500 501

Denken Tocquevilles jedoch noch eine zweite, nicht minder zu vernachlässigende Wurzel: In der nachrevolutionären Gesellschaft wird Ober die Transmissionsriemen der neuen bUrgerliehen Öffentlichkeit eine "opinion publique" in Umlauf gebracht, die sich für ihre Mitglieder sehr schnell zu einem restriktiven, allgemeingültigen Nonnenkodex verwandelte. Neben Tocqueville findet sich gerade im Denken seines geistigen Weggefährten und Freundes John Stuart Mill diese Figur wieder. In seinem Essay "On liberty" von 1859 forderte Mill: "Gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung derart groß ist, daß sie die Exzentrizität zu einem Makel macht, ist es wünschenswert, daß Leute, um diese Tyrannei zu brechen, exzentrisch sind." (John Stuart Mi//, Über die Freiheit, Stuttgart 1974, S. 91 ). Tocqueville und Mill sind die ersten politischen Denker der Modeme, die die Allgewalt der öffentlichen Meinung nicht als eine befreiende, sondern als eine bedrohende erkannt haben. Vgl. dazu auch J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 158-171.

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Rationale Disziplin ist es, die alle ständischen oder charismatischen Gliederungen "ausrottet"505• Rationale Disziplinierung setzt sich in einem Herrschaftsverband im Moment des ZurUckebbens des Charismas durch und hat fiir Weber als habituelle Konsequenz zum einen jene "innere Eingestelltheit" auf den einen Zweck der "Ausfiihrung des empfangenen Befehls" und eben die Uniformierung oder "Gleichförmigkeit des befohlenen Handelns" als eines "Gemeinschaftshandelns eines Massengebildes'.s06 • Weil "das Umsichgreifen der Disziplinierung" jedoch "mit der Rationalisierung der politischen und ökonomischen Bedarfsdeckung" "als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich geht", wird die "Bedeutung des Charismas und des individuell differenzierten Handeins zunehmend" eingeschränkt·507 An seine Stelle tritt "die mechanisierte Abrichtung und die Einfiihrung des Einzelnen in einen filr ihn unentrinnbaren, ihn zum "Mitlaufen" zwingenden Mechanismus, der den Einzelnen, in die Cadres Einrangierten, sozusagen "zwangsläufig" dem Ganzen einfiigt."sos Auf den politischen Habitus des modernen Menschen gemünzt, entspricht dem eine psychologische Disposition, der Weber immer wieder das gleiche symptomatische Etikett verpaßte: "Sterilität". Aber auch der moderne Kapitalismus als ökonomisch-rationalistische Lebensmacht hatte filr Weber diese Konsequenz. Er schloß sich in diesem Punkt Georg Simmel an, der in seiner "Philosophie des Geldes" von 1900 in bis heute unerreichter Art und Weise die psychologischen Effekte des Geldwesens auf den inneren Menschen ausgelotet und beim Namen genannt hat. Wie fiir Max Weber war fiir ihn die "Anethisierbarkeit" moderner kapitalistischer Tauschbeziehungen Ausgangspunkt aller Überlegungen. Wie Weber verfolgte Simmel von dort aus den welthistorischen Entwicklungsgang des Geldes vom Tauschmittel zum Ziel individuellen Wollens als Selbstzweck. "Dadurch, daß der Endzweck immerzu im Bewußtsein ist", schrieb Simmel, "wird eine bestimmte Summe von Kraft verbraucht, die der Arbeit an den Mitteln entzogen wird. Das praktisch Zweckmäßigste ist also die volle Konzentrierung unserer Energien auf die nächst zu verwirklichende Stufe der Zweckreihe; d. h., man kann fiir den Endzweck nichts Besseres tun, als das Mittel zu ihm so zu behandeln, als wäre es er selbst."509 Niemals sei ein Objekt wie das "Geldwesen", "das seinen Wert ausschließlich seiner Mittlerqualität, seiner Umsetzbarkeit in definitivere Werte verdankt, so gründlich und rückhaltslos zu einer psychologischen Absolutheit eines Wertes, einem das praktische Bewußtsein ganz ausruHenden Endzweck

505

Weber, WuG, S. 681.

so6 Ebd.

Ebd., S. 687. Ebd., S. 682. 509 G. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 296f. 507 508

8*

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geworden." 510 Simmel nannte zwei Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Persönlichkeit des in diesen Beziehungen stehenden Menschen: den Hang zum "Zynismus" und den zur "Biasiertheit"SII. Ihm scheint es das Wesen des Geldes zu sein, "Höhendifferenzen" individueller ethischer Werte auszulöschen - "das im allgemeinen Hochgewertete" habe "seine einzige Bedeutung darin", "auf das Niveau des Niedrigsten herabgezogen zu werden - wobei aber "der positive und ideelle sittliche Endzweck dieser Nivellierung weggefallen ist."512 Dieser Sachverhalt präferiere den Zyniker, die "Ptlanzstätten des Zynismus sind daher die Plätze des großen, namentlich des Börsenverkehrs, wo das Geld in Massen vorhanden ist und leicht den Besitzer wechselt."m Das Geld allein schaffe nicht etwa größtmögliche Ungleichkeit, sondern habe die paradoxe Fähigkeit, "die höchsten wie die niedrigsten Werte gleichmäßig auf eine Wertform zu reduzieren und sie dadurch, um so verschiedene Arten und Maße derselben es sich auch handeln mag, auf das prinzipielle Niveau zu bringen."514 Der vom Geld begünstigte Menschentypus des Zynikers, so Simmel weiter, offenbare "sein Wesen am deulichsten im Gegensatz zum sanguinischen Enthusiasten." Die andere "Bedeutung der Nivellierung" der Werte durch das Geld fande, so wiederum Simmel, "ihren personalen Ausdruck in der Blasiertheit. Während der Zyniker sich durch das Wertgebiet doch noch zu einer Reaktion bewegen läßt, ... ist der Blasierte, seinem ... Begriffe nach, den Unterschieden des Wertempfindens überhaupt abgestorben, er fiihlt alle Dinge in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, nicht wert, sich dadurch zu einer Reaktion, insbesondere des Willens, aufregen zu lassen. Die entscheidende Nüance ist hier also nicht die Entwertung der Dinge überhaupt, sondern die Indifferenz gegen ihre spezifische Unterschiede, da aus diesem gerade die gesamte Lebhaftigkeit des Fühlens und Wollens quillt, die sich dem Blasierten versagt."m Gerade die unter dem ökonomischen Bürokratismus sich vollziehende Wendung zur "Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit" hatte auch fiir Weber die leidvolle Folgeerscheinung nach sich gezogen, daß in der modernen Geschäftsbeziehung "ohne Haß und Leidenschaft", daher ohne "Liebe" und "Enthusiasmus"516 gehandelt wurde. Die moderne Finanzbeziehung, indem sie alles und jedes, Gegenstände wie Ideen mit der Anschauung überzog, lediglich kalkulierbare Größe zu repräsentieren, die sich je nach ihrem marktwirtschaftliehen Tauschwert bemaßen, und sie damit in ihrer Werthaftigkeit gleichsam zu quantifizierbaren Entitäten verweltlichte und dadurch entweihte, trug zu ihrem Teil dazu bei, der irrationaEbd., S. 298. Ebd., S. 332. 512 Ebd., S. 333. 513 Ebd., S. 334. sl4 Ebd. 5 10 5 11

515 51 6

Ebd., S. 334f.

Weber, WuG, S. 129.

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Jen Begeisterung für eine Sache jeglichen Boden zu entziehen. Weber erkannte, daß sogar die Sphäre, die einst allen Enthusiasmus in seiner Entfaltung begünstigt hatte, die religiösen Glaubenswelten des Christentums, in Gestalt der nüchtern-aufgeklärten anglikanischen Religiosität, wie sie ihre Spuren alsbald auch in der Glaubenswelt Kontinentaleuropas hinterlassen sollte, die Begeisterung auch aus den geistigen Gebieten wie dem der Politik und des öffentlichen Handeins verdrängt hatte und einen "enthusiasm" perhorreszierte, der ihr aus Gründen der inneren Rationalisierung auch der eigenen religiösen Glaubenssysteme zusehends als dem wahren Glauben entgegengesetzt erschien.m Noch am Leben hatte Weber diesen "Enthusiasmus" in William James "Varieties of religious experience" gesehen oder in Karl Holls historisch-spiritualistischer Schrift ;,Enthusiasmus und Bußgewalt" von 1898, der er die Inspiration zu großen Teilen seines Charisma-Konzeptes verdankte. 518 In der Gegenwart der modernen Massendemokratie allerdings hatte sich die "Gotterfülltheit" in die Bodenritzen einer großstädtischen Erlebniskultur verflüchtigt, die sich - "aller religiösen Stützen entledigt"- nunmehr an sich selbst berauschte. Jene glatte Einförmigkeit in der Psyche des modernen Menschen befördert jedoch ein weiteres Merkmal, das alle drei mehr oder weniger resignierend thematisieren: das Mittelmaß. Mittelmäßigkeit in allen Dingen gilt ihnen als die nächste Konsequenz der seelischen Genese des modernen Menschen. Weil der Luxus in diesen Zeiten von allem und jedem Besitz ergriffen hat, der depravierte Mensch gefangen ist in der ehrsüchtigen Gier nach glanzlosem Prunk, wird der Mensch in der Einschätzung Rousseas nur nach solchem streben. "Was soll ein Künstler tun, um Beifall und Lobreden zu erheischen?", fragt Rousseau -und seine Rhetorik zielt auf Voltaire ab. "Er wird seinen Geist zu seinem Jahrhundert herablassen und lieber mittelmäßige Stücke liefern, die während seiner Lebenszeit bewundert werden, als Meisterstücke, welche man erst lange nach seinem Tod bewundern würde." 519 "Nein", folgert er, "es ist nicht möglich, daß sich durch viele unnütze Sorgen erniedrigte Geister jemals zu etwas Großem erheben."520 "Der modernen Geschichte", sagt er, "fehlt es nicht an bewundernswerten Zügen, aber es handelt sich lediglich um Züge, ich erkenne darin einige große Taten, aber ich sehe keine großen Männer mehr." 521

517 Vgl. Michael Heyd, Be Sober and Reasonable: the critique of »enthusiasm« in the 17'h and early 18'h century, Leiden 1995. Vgl auch W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, S. 85f. 518 Vgl. Kar! Hol/, Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum, Eine Studie zu Symeon, dem neuen Theologen, Leipzig 1898. 519 Rousseau, PD, S. 49f. 520 Ebd. 521 Ders., Politische Fragmente, Über die Sitten, in: Kulturkritische und politische Schriften, Ausgabe Rütten und Loening, Berlin 1989, S. 597.

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Abwertend beschreibt Tocqueville die französische Bourgeoisie zur Zeit der Februar-Revolution als "regsam, fleißig, oft unehrenhaft, im allgemeinen geordnet, bisweilen aus Eitelkeit oder Egoismus verwegen, im Temperament furchtsam, in allen Dingen außer der Lust am Wohlleben gemäßigt und: mittelmäßig."522 Mit Abscheu nimmt er zur Kenntnis, daß diese "classe moyenne" gleichzeitig die politisch herrschende Schicht seines Landes ist. Für ihn wird die unauffiillige Mediokrität zum allgemeinen habituellen Stilprinzip des modernen demokratischen, bürokratischen Staats.523 Gerade in Amerika entdeckt er "ein Mittelmaß allgemeinen Wissens"524, selbst im Kongreß "mittelmäßige Männer"525, aber auch in seiner eigenen politisch aktiven Zeit als Parlamentarier filrchtete er die "Mittelmäßigkeit mehr ... als den Sturz"526 • Wie Weber fiihlt er sich in eine Zeit des Epigonenturns hineingestellt, in der es keine wirklich bedeutenden Staatsmänner mehr gab. "Ich mißachte Durchschnittsmenschen nicht", schreibt er in seinen "Souvenirs" von 1850, "aber ... sie sind mir gleichgültig. Ich ehre sie, aber sie langweilen mich sterblich. Den größten Abscheu empfand ich schließlich vor der Mittelmäßigkeit und Eintönigkeit der parlamentarischen Ereignisse dieser Zeit und vor den kleinlichen Leidenschaften und der platten Verdorbenheit der Männer, die sie zu gestalten oder zu lenken glaubten." 527 In dem bereits zitierten Brief vom 6. April 1838 an Royer-Collard bezieht er sich auf Rousseaus "Hausphilosoph" Plutarch und all die anderen griechischen Philosophen, wenn er schreibt: "Ce qui me frappe Je plus de nos jours, ce n 'est pas qu'on fasse tant de petites choses, c'est qu'on ne con~Yoive pas mieux Ia theoriedes grandes. Le sentiment du grand (hervorgehoben vom Verf.) manque 522 Tocqueville, Souvenirs, OC, Band XII, S. 31. Vgl. auch ders., ÜdDiA II, S. 263f. 523 Auch diese Beobachtung teilt Tocqueville mit John Stuart Mill, der sein berühmtes Plädoyer ftir die "Individualität" in "On liberty" vor demselben Hintergrund entwarf: "Die allgemeine Tendenz in der ganzen Welt geht doch dahin, die Mittelmäßigkeit zur überlegenen Macht unter den Menschen zu machen. In der Antike, im Mittelalter, und in minderem Maße auch in der langen Übergangszeit von der Feudalzeit zur Neuzeit war das Individuum eine Macht in sich, und sogar eine erhebliche Macht. (... ) Heutzutage verliert sich der einzelne in der Masse. In der Politik ist es fast trivial zu sagen, daß die öffentliche Meinung heute die Welt beherrsche. Die einzige Macht, welche ihren Namen verdient, ist die von Massen und Regierungen, solange sie sich zum Organ von Massentendenzen und -instinkten machen. Dies gilt ebenso von den moralischen und sozialen Beziehungen des Privatlebens wie von den öffentlichen Unternehmungen. Das Publikum, das die öffentliche Meinung ausmacht, ist nicht überall von gleicher Art: in Amerika ist es die gesamte weiße Bevölkerung, in England vor allem die Mittelklasse. Aber immer ist es Masse, d. h. gesammelte Mittelmäßigkeit." (J. St. Mi/1, Über die Freiheit, S. 91 ). 524 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 60. 525 Ders., ÜdDiA II, S. 105. 526 Ders., Erinnerungen, S. 322. 527 Ebd., S. 135.

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et on dirait que l'imagination du grand (hervorgehoben vom Verf.) s'eteint."528 An all diejenigen, "denen die Zukunft der demokratischen Gesellschaft am Herzen liegt", appelliert Tocqueville, "sich zusammen(zu)tun und einhellig und fortwährend dahin (zu) wirken, in diesen Gesellschaften den Sinn filr das Unendliche, das Gefilhl filr Größe (hervorgehoben vorn Verf.) und die Liebe zu geistigen Freuden zu verbreiten." 529 Diese Größe des Menschen hat die Bewegung der Gleichheit eingeebnet, weswegen es Tocquevilles vorrangiger Wunsch ist, in der Demokratie wieder "große Menschen zu machen" 530 . Um das "Große" im Menschen, um das jeder Einförmigkeit Entgegengesetzte, ging es auch schon Max Weber, als er in seiner Freiburger Antrittsrede mit filr heutige Ohren ungewohntem Pathos forderte: "Nicht das Wohlbefinden der Menschen, sondern diejenigen Eigenschaften möchten wir in ihnen emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen."531 Weber hegte einen "Haß gegen das Kleine" 532, in einer als Fluch empfundenen Zeit des Epigonenturns stellte er an seine Studentschaft die zweifelnde Frage: "Glauben Sie, daß Sie es aushalten, daß Jahr filr Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben?" 533 Er selbst lebte in einer Zeit, in der, wie er meinte, nicht die "Größe" oder Tüchtigkeit das Auslesekriterium begabter Menschen war, sondern der "Hasard" und damit letztendlich die bequeme Mittelmäßigkeit.534 Bürokratische Auswahlkriterien favorisieren politisch sterile Bürokraten, der "Grad der »Bequemlichkeit« des Untergebenen" ist in seinen Tagen das Kriterium, welches "den Aufstieg am sichersten garantiert." 535 Weber flillt mit Unbehagen ein Urteil über seine Zeit: Ob bei der Papstwahl oder der des amerikanischen Präsidenten, nicht mehr der Favorit macht das Rennen, "sondern in der Regel Kandidat Nummer zwei und drei." 536 "Je sens tres bien qu'il me serait plus aise de partir pour Ia Chine, de m'engager comme soldat, ou de jouer mon existence dans je ne sais quelle enterprise hasardeuse et mal con~ue, que de me condamner a mener une vie de pomme de terre (hervorgehoben vom Verf.), comme les braves gens que je 528 Ders., Brief an Pierre-Paul Royer-Collard vom 6. April 1838, OC, Band II, S.

60f.

529 Ders., ÜdDiA II, S. 162. 530 Ebd., S. 353. 531 Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 17. 532 Ebd., S. 21 . 533 Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 588. 534 Ebd., S. 585. 535 Ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 391. Vgl. auch ders., ZurNeuordnung Deutschland, Schriften und Reden 1918-1920, MWG l/16, Tübingen 1988, S. 416. 536 Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 586.

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viens de voir."537 Diese Zeilen schrieb Tocqueville am 21. September 1834 an Kergorlay, nachdem er einige Wochen auf dem Land in Gesellschaft jener "braves gens" zugebracht hatte. Bevor er jedoch "das Leben einer Kartoffel" fiihren wollte, zog er es vor, "nach China auszuwandern". Auch Rousseau und Weber hatten fiir nichts größere Geringschätzung übrig, als fiir die saturierte Zurückgezogenheit - gerade des Bürgertums - und vor allem den damit korrespondierenden apolitischen Privatismus, jener "Tyrannei der Intimität", um mit Richard Sennett zu sprechen538, die Rousseau in der Gesellschaft Frankreichs am Walten sah, Tocqueville vor allem der Pariser Bourgeoisie vorgeworfen hatte, der es stets an "Hingabe an das Gemeinwesen"539 ermangelt habe, und Max Weberzeit seines Lebens gerade dem den obrigkeitsstaatshörigen Luthertum so übel genommen hat. 540 "Die Gesellschaft ist ruhig", sagt Tocqueville, "nicht weil sie sich stark und gesund wüßte, sondern weil sie sich im Gegenteil schwach und krank glaubt."541 Leidenschaftlichkeit zog er gerne dem faden Flair des Biedermeiers vor, ,jener temperierten und dezenten Sinnlichkeit, in der wir jetzt leben."542 Am 2. Februar 1857 schrieb er an einen Freund: "Es ist wie Du weißt, mein fester Gundsatz, daß es im Leben niemals eine Zeit gibt, in der man sich ausruhen könnte." 543 Die "absolute Retraite ... weit von allen Menschen" entspricht "keiner Persönlichkeit und keinem bestimmten Alter" 544• Wie fiir Rousseau und Weber ist Tocqueville Ruhe und Freiheit unvereinbar. 545 Das Leben von Gobseck etwa, jener pfandleihenden Romanfigur Balzacs, deren Leben zwar gut begütert, aber verläuft, "ohne mehr Geräusch zu machen als eine Sanduhr"546, ist ihm vielmehr Kennzeichen der Chinesen, die in "Ruhe ohne Fröhlichkeit, Fleiß ohne Verbesserung, Stabilität ohne Stärke und öffentlicher Ordnung ohne öffentliche Moral" 547 leben. Roger Boesche fiihrt diese Tocquevillesche Spitze sogar noch weiter. "Tranquility", interpretiert er ihn, "is sometimes a greater political danger than war." 548 Ruhe und Sterilität, der Stillstand

537 Tocqueville, Brief an Louis de Kergorlay vom 21 . September 1834, OC, Band XI, II. I., S. 356. 538 Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. 539 Tocquevil/e, RzAidfA, S. 128. 540 Weber, Politik als Beruf, S. 556. 541 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 13. 542 Ders., DaSudR, S. 123. 543 Ders., Briefvom 2. Februar 1857, A. Salomon, S. 229. 544 Ebd., S. 230. 545 Vgl. R. Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville ( 1987), S. 220. 546 Honore de Balzac, Gobseck, Die menschliche Komödie, Band 4, 3. Auflage, Berlin und Weimar 1984, S. 132. 547 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 94. 548 R. Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville ( 1987), S. 218.

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und die "chinesische Starre"549 wird auch fiir Rousseau zum Grundproblem der politischen Kultur der Modeme. "Die Untertanen preisen die öffentliche Ruhe, die Staatsbürger die persönliche Freiheit"550, schreibt er im "Contrat Social" im Kapitel "Von den Kennzeichen einer guten Regierung". Den Polen gibt er daher zu bedenken: "Der Unruhen in eurem Vaterland müde sehnt ihr euch jetzt nach Ruhe. Ich halte es fiir sehr leicht, diese zu erlangen; sie aber zusammen mit der Freiheit zu bewahren, das gerade scheint mir schwer. Inmitten dieser Anarchie, die euch verhaßt ist, haben sich jene vaterlandsliebenden Seelen gebildet, welche euch vor dem Joche bewahrt haben. Ein bleierner Schlaf hatte sich ihrer bemächtigt; der Sturm hat sie aufgeweckt. Die Ketten, die man ihnen zugedacht hatte, haben sie zerbrochen, nun spüren sie das Gewicht der Anstrengung. Sie möchten den Frieden des Depotismus mit der Süße der Freiheit verbinden. Ich fUrchte, dies heißt Dinge wollen, die sich widersprechen. Die Ruhe und die Freiheit scheinen mir unvereinbar; man muß sich fiir eines entscheiden."551 "Ein wenig Unruhe gibt den Seelen Spannkraft, und was die Menschen wirklich gedeihen läßt, ist weniger der Friede als die Freiheit"552, fUgt er in einer Anmerkung zu einer Textstelle im "Contrat Social" hinzu, in der es bezeichnenderweise um das Wohlergehen der politischen Vereinigung geht, die er fiir die Zukunft entwerfen wollte. Für die "tranquilite civile" zu sorgen, das hat inmitten des englischen Bürgerkriegs die Staatslehre des Thomas Hobbes noch als erste Fürstenpflicht gesehen - Rousseau dagegen verachtet jene bürgerliche Ruhe, die von oben verordnet ist und den Bürger zum Untertanen macht und hat ihr stets die "ungestüme Freiheit" vorgezogen. Die Ruhe, die er sieht, ist "ruhigste Untertänigkeit" - fUr ihn jene "Ruhe in der Knechtschaft", von der er im neunten seiner "Briefe vom Berge" spricht. 553 Was gewinnen die Bürger dabei, "wenn diese Ruhe selbst Teil ihres Elends ist? Auch in den Gefängnissen lebt man ruhig; ist das genug, um sich dort wohlzufiihlen?" Die politische Kultur verkümmert, weil mit den identitätsstiftenden kollektiven Wertesystemen auch aller Enthusiasmus fiir eine Glaubensidee versickert ist. 554 Allgemeine geistige Abstumpfung und zivile Apathie greifen um sich, Leidenschaftlichkeit und der 549 So bei Tocqueville etwa in DaSudR, S. 15. Auch bei Max Weber oder John Stuart Mill findet sich dieses in der zeitgenössischen Geisteswissenschaft weitverbreitete Bild der "chinesischen Starre'· immer wieder. 550 Rousseau, CS, S. 339. 551 Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 566. 552 Ders., CS, S. 341. 553 Ders., Briefe vom Berge, Neunter Brief, S. 233. 554 Tocqueville erinnert gerade in seinen Anklagen dumpfer Betriebsamkeit, Monotonie und fader Gewöhnlichkeit an die als Sozialstudien angelegten Romane Gustave Flauberts. Vor allem scheint ihm fiir seine Sichtweise ein apolitischer spießbürgerlicher Menschentyp Pate zu stehen, wie ihn Flaubert innerhalb seiner "Madame Bovary" in der Romangestalt des Hornais als eines gesinnungslosen apolitischen berufsbürgerlichen "homo faber" auftreten läßt.

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Enthusiasmus fiir die öffentlichen Dinge vergangener Tage haben sich auch aus der öffentlichen Sphäre verflüchtigt. Privatistischer Individualismus und kapitalistischer Materialismus als entgeistigte veralltäglichte Phänomene haben in der Konsequenz auch den seelisch-gefiihlsmäßigen Habitus des Menschen verwandelt. Rousseau skizziert diesen privaten Menschen. Der rastlos tätige Bürger "quält sich unaufhörlich" 555 , doch öffentlich ist er ruhiggestellt. Tocqueville folgert: "Wenn die Bürger fortfahren, sich immer enger in den Umkreis ihrer kleinen häuslichen Anliegen einzuschließen und darin ruhelos tätig zu sein, so ist zu befilrchten, daß sie zuletzt unzugänglich (hervorgehoben vom Verf.) werden filr jene großen und mächtigen öffentlichen Erregungen (hervorgehoben vom Verf.), die die Völker verwirren, sie aber vorwärtstreiben und emeuem."556 "Sine ira et studio", "ohne Zorn und Eingenommenheit" charakterisiert Max Weber den modernen Beamtentyp und mit ihm- läßt sich sagen- den modernen Menschen, ohne politische Stimme und Erregung bleibt ihm nurmehr die trügerische Stille der Privatheit. "Die »ewige Ruhe des Heiligen«" jedoch, so Weber, "liegt im Jenseits" 557 •

VI. Leben im Käfig: Die Knechtschaft der Seele im modernen Zeitalter Das Gemälde, das sich im Werk Webers, Tocquevilles und Rousseaus- dort, wo es um die Diagnose der Modeme geht - aus so vielen, letztendlich sehr ähnlichen Pinselstrichen zusammensetzt, bildet im Ganzen betrachtet ein großes Szenario ab, das mit Fortschrittsfreude und lichtklarer Aufbruchsstimmung nichts zu tun hat. Jean-Jacques Rousseaus Erkenntnis, wonach in der ersten illegitimen Staatsgründung durch "einige geschickte Usurpatoren" "das ganze menschliche Geschlecht zu Arbeit, Dienstbarkeit und Jammer" 558 verdammt wurde und sich seither nicht davon hat befreien können, bezeichnet zwar, wie an allen Stellen, an denen Rousseau seine Zivilisationshypothese ausbreitet, eine konkrete, politische Knechtschaft, im Kern jedoch war ihm jene "innere Knechtschaft" der menschliche Seele stets der eigentliche Preis, den der Mensch filr die Hybris seiner zivilisatorischen Genese zu entrichten hatte. "Der Mensch", so hatte er zugespitzt, "wird anderen Menschen Sklave sogar, indem er ihr Herr wird"559, und dabei eine "innere Unterdrückung"560 vor Augen, auf Rousseau, DD, S. 264. Tocqueville, ÜdDiA II, S. 282. 551 Weber, PE I, S. 167. 558 Rousseau, DD, S. 247. 559 Ebd., S. 243. 560 V gl. ebd., S. 261. 555

556

VI. Die Knechtschaft der Seele im modernen Zeitalter

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die sich der moderne Mensch eingelassen hatte, um ,jene täuschende Hoheitsmiene" aufzusetzen, die ihm die Konkurrenzgesellschaft abnötigte - "der sich der heutige Bürger gar noch rühmt"561 , auch wenn er sich damit immer stärker gegen sein natürliches Wesen auflehnte. Ob ganz praktisch-politisch in seiner Vaterstadt Genf, wo er die Bürger gegenüber einem übermächtigen Kleinen Rat nur noch als Sklaven ausmachte 562, oder in hypothetisch-theoretischer Anschauung im "Deuxieme Discours", in dem er zu erkennen gab, daß "die Fesseln der Knechtschaft nicht anders als durch die Abhängigkeit der Menschen voneinander und durch ihre gegenseitigen Bedürfnisse haben geschmiedet werden können"563, überall machte Rousseau die erschreckende Entdeckung, daß alle Zeichen der Zeit auf eine zunehmende Unterdrückung deuteten, eine Unterdrükkung, die nicht so sehr mit äußerer Gewalt den Menschen unterjochte, sondern seine Seele bedrängte und dem Einzelnen immer mehr die in seiner "perfectibilite" angelegten Möglichkeiten aus der Hand schlug, freiheitlich zu leben und damit als Mensch erst zum Menschen zu werden. Gerade Rousseaus "Deuxieme Discours" ist ja im Kern nichts anderes als eine Knechtschaftsgeschichte der menschlichen Seele, die durch den Menschen selbst in Gang gesetzt worden war, eine Geschichte, die sich erfolgreich durchzusetzen vermochte, auch wenn es "offenbar dem Gesetze der Natur'' widerstritt, "daß ein Kind einem Alten befiehlt, der Weise unter der Führung eines Blödsinnigen steht und eine Handvoll Menschen im Überfluß erstickt und eine ausgehungerte Menge das Notwendige entbehrt." 564 Für Rousseau ist die Knechtschaft des Menschen die Folge seiner widernatürlichen Ungleichheit- und die wiederum konnte ihren unheilvollen Weg erst antreten, als der Mensch begonnen hatte, sich seiner Vernunft zu bedienen. 565 Über die gleichsam ungeliebte aufklärerische Vernunft richtete Tocqueville

1841 an Pierre-Paul Royer-Collard folgende Zeilen: "La raison a toujours ete

pour moi comme une cage (hervorgehoben vom Verf.) qui m'empeche bien d'agir, mais non de grincer de des dents derriere les barreaux."566 Er gebraucht das Bild des Käfigs, des Eingesperrtseins, der "zähneknirschenden" Ohnmacht hinter Gittern und befindet sich damit in prominenter Gesellschaft von John Constable, Fran~ois Auguste Mignet bis Robert Musil: Sie allesamt eint in ihrem künsterlischen Ausdruck die Erfahrung eines menschlich-bedrückenden Lebensgernhis gefesselter Passivität, des Nicht-Handelnkönnens in einer Zeit, 561 Ebd., S. 264. 562 Vgl. ders., Briefe vom Berge, Siebenter Brief, S. 181. 563 Ders., DD, S. 227. 564 Ebd., S. 265. 565 Ebd. 566 Tocquevil/e, Brief an Pierre Paul Royer-Collard vom 27. September 1841, OC, Band II, S. 109.

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die sich ihrem gestalterischen Zugriff verwehrte. "Die Verantwortung hat heute ihren Schwerpunkt nicht mehr im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen"567, schreibt Musil. Im Kreislauf des rationalistischen Denken sind die Dinge, Umstände und Verhältnisse aktiv, nicht länger der Mensch; eine Welt von Eigenschaften und Erlebnissen ist entstanden unabhängig von dem, der darin lebt. Ein aus Privatismus und Materialismus genährtes Ressentiment ist es, was in Tocquevilles Diagnose den Ausschlag filr das Denken von einer Pathogenese der Modeme gibt: Das Vernunftzeitalter der egalitären Demokratie versklavt, macht unfrei. Weber, der alle Hoffnungen zerstreute, daß die Verwirklichung individualistischer Freiheitsrechte lediglich der "ökonomischen Entwicklung" überlassen werden müßte, war ebenso davon überzeugt, daß die "»gesetzmäßige« Wirkung materieller Interessen ... so deutlich wie möglich gerade den entgegengesetzten Weg" wies. Die Bilder, die bemüht werden, gleichen sich auch hier bis hinein in die konkrete Metaphorik. Ob in der amerikanischen Demokratie oder im "russischen Fabriksystem", überall sah auch er jenen Käfig, jenes "Gehäuse filr die innere Hörigkeit schon fertig" 568, in dem sich schon Tocqueville gefangen sah. Die "ökonomischen Wetterzeichen" deuteten filr ihn unmißverständlich "nach der Richtung zunehmender »Unfreiheit«"569 • "Im Verein mit der toten Maschine" ist die bürokratische Organisation "an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit (hervorgehoben vom Verf.) der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu filgen gezwungen sein werden." 570 Auch Weber versteht unter der neuen Hörigkeit des modernen Menschentums eine "innere Hörigkeit", in die die rationalistische Modeme den Menschen gestürzt hatte. Aus Richard Baxters "dünnem Mantel", den man jederzeit abwerfen konnte"571 , wie Weber im furiosen Finale seiner "Protestantischen Ethik" schrieb, wurde ein "stahlhartes Gehäuse"572, das sich um die menschliche Seele legte und aus dem der sie belebende Geist entwichen war. Die Akzentuierung verlagerte sich: Von der Jenseitigkeil zur Diesseitgkeit, von der puritanischen Wahl einer bestimmten Lebensfilhrung im Dienst einer jenseitigen Macht zum Zwang einer schicksalhaften Lebensmacht im Diesseits: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein."573 Das Materielle, aus der nackten Notwendigkeit der Lebensreproduktion entwachsen - der Bereich des Privaten, 567 Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek/Hamburg 1990. 568

Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, GPS, S. 63.

569 Ebd. 570 Ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 332. 571 Ders., PE I, S. 188. 572

Ebd.

573 Ebd.

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der in seiner Zwanghaftigkeit einstmals allenfalls die Voraussetzungen fiir eine politisch-freiheitliche Lebensfiihrung abzugeben geeignet war -, hatte nach der rationalistischen Revolution unentrinnbare Macht über den Menschen gewonnen: Wirtschaft und Ethik waren nicht mehr länger zu "Wirtschaftsethik" kombinierbar, Berufsmenschen waren entstanden, wie Georg Simmel schreibt, "denen gerade das Berufensein, d. h. die feste ideelle Linie zwischen der Person und einem Lebensinhalt fehlt." 574 Zu einer solchen, jeglicher politischer Ethik beraubten Entwicklung, die sich, wie er meinte, gerade in den Kriegsjahren noch einmal drastisch verschärft hatte, bezog Weber 1917 in seinem berühmten politischen Traktat zu "Wahlrecht und Demokratie in Deutschland" Stellung. Dort schrieb er: "Ein wilder Tanz um das goldene Kalb, ein hasardierendes Haschen nach jenen Zufallschancen, welche durch alle Poren dieses bürokratischen Systems quellen, ein Verlustjedes Maßstabs fiir irgendwelche wie immer geartete geschäftsethischen Unterscheidungen und Hemmungen und - ein eherner Zwang für jeden, auch den gewissenhaftesten, Geschäftsmann, bei Strafe des ökonomischen Untergangs mit den Hyänen dieser beispiellosen Schädelstätte aller Wirtschaftsethik mitzuheulen und mitzutun, - genau so oder vielmehr in weit ungeheuerlicherem Maßstab so, wie es zu allen Zeiten gewesen ist, wenn kapitalistische Erwerbschancen sich an die Fußstapfen des Kriegsgottes oder - des heiligen Bürokratius hefteten. Generationen werden vergehen, bis die Nachwirkungen dieser Zersetzung des normalen bürgerlich-kapitalistischen Ethos wieder ausgetilgt sind", und stellte die rhetorische Frage: "Das soll die Grundlage einer neuen Wirtschaftsethik sein?"575 Der kapitalistische Materialismus- so lautet die Webersehe Schlußfolgerung-, indem er Selbstzweck wurde, deklamierte gleichzeitig die Geburtstunde des exklusiven Genusses und damit des "reinen" Genußmenschen. Die Kultur der Modeme entmenschlichte576 damit den Menschen, sie "entwürdigte die Herzen" 577, um mit Charles Baudelaire zu sprechen, den Max Weber gerne zitiert hat. Der vom Rationalismus entgeistigte Fachmensch578, der längst nicht mehr auf ein bestimmtes Ethos ausgeG. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 597. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 254f. 576 Ders., WuG, S. 563. 577 Charles Baudetaire spricht in seinen "Fusees" von der "honorabilite spirituelle", der geistigen Würde, die er im Niedergang der Welt sich auflösen sieht und die durch die allgemeine Nivellierung, universelle Mechanisierung und "Amerikanisierung" des Lebens zur neuen "animalite generale" erniedrigt werde. 578 Hans Peter Müller hat auf die Aktualität des Konzepts des Fachmenschen aufmerksam gemacht. Er wies darauf hin, "daß die beherrschende Figur der "postmodernen" achtziger Jahre, der "Yuppie", also der Typ des "Young Urban Professionals", Webers ärgste Befürchtungen der Heranbildung von "Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz" zu bestätigen scheint." (vgl. ders., Gesellschaftliche Moral und individuelle Lebensflihrung, Ein Vergleich von Emile Durkheim und Max Weber, Zeitschrift fiir Soziologie, 21. Jg., Heft I, Februar 1992, S. 59). Im übrigen hat dieser Entwicklung bereits die Wahlsoziologie Rechnung getragen, die in ihren 574 575

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richtet handelte, sondern nur noch "zugunsten des »Einen, das not tut«"579 ist filr Weber der Prototyp der neuen "Knechtseele"580 des hochkapitalistischen Zeitalters. Es ist die Metapher der "Parzeliierung der Seele"581 , der "Zergliederung" des Lebens, die fiir Weber die Verlustsumme fiir modernen Kapitalismus und seine staatlich-bürokratische Ordnung in einer "Zeit der Spezialisierung"582 in einen drastischen Ausdruck kleidete. Die goetheanische "Zeit vollen und schönen Menschentums"583 - war fiir Max Weber endgültig vorbei. Der Kapitalismus brauchte allenfalls nur noch den "halben Menschen", wie er an anderer Stelle schrieb. 584 Eine ganzheitliche, die volle Persönlichkeit in Anspruch nehmende, die partikulären Lebenseinheiten verbindende und aus einem Gesamthabitus entspringende "Lebensfiihrung" ist nicht mehr möglich. Der Mensch im nietzscheanischen Zeitalter ist nicht mehr "das Maß aller Dinge"585 , formuliert Werner Sombart. Robert Musil, dessen "Mann ohne Eigenschaften" sich wie kein anderer dem Bemühen hingegeben hat, in einem utopisch gedachten "Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele" noch einmal um die innere Ganzheit des Menschen zu ringen, schreibt in Webersehern Duktus: "Der Zustand Rousseaus ... war Lebensberauschung, Lebensandacht, Lebensglaube, ein Zustand, aus dem Religion entsteht. Die große ungeteilte Kraft des Lebens gilt es zu bewahren. Er nennt sie bald Instinkt, bald Gefiihl, Genie, Naivität, Natur, die schöne Seele. Die Kultur der sozialen und psychologischen Arbeitsteilung, die diese Einheit zersplittert, ist die große Lebensgefahr filr die Seele."586 Webers Klage über die "innere Zerrissenheit der Seele" des modernen Menschen knüpft dabei an die idealistische Modernitätskritik an, wie sie bei Friedrich Hölderlin und dessen aussichtslosen Kampf um das Göttliche im Men-

"Lebensstii"-Ansätzen längst jene hedonistische Gruppe des aufstrebenden jungen Mittelstandes ausgewiesen hat. 579 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 589. 580 Vgl. Lebensbild, S. 420. 581 Vgl. Weber, Diskussionsrede zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur, GASS, S. 453. 582 Ders., Zur »Objektivität« ... , S. 214. Friedrich Hölderlin schreibt: " ... wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!" (F. Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Stuttgart 1975, S. 173). 583 Weber, PE I, S. 187. 584 Vgl. dazu auch Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Band 2, Darmstadt 1985. 585 Vgl. Werner Sombart, Der Bourgeois einst und jetzt, in: Die neue Rundschau, 24. Jahrgang, Heft 3, 1913, S. 1495. 586 Vgl. R. Musil, Tagebücher, hrsg. von Adolf Frise, Hamburg/Reinbek 1976, S. 157.

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sehen, etwa im "Hyperion", in der Rede Hyperions an die Deutschen zur dichterischen Entfaltung kommt. Der Einfluß Rousseaus ist hier mit Händen zu greifen. Wo es beim Genfer im zweiten Teil seines "Premier Discours" heißt: "Wir haben Naturforscher, Geometer, Chemiker, Astronomen, Dichter, Musiker und Maler, nur Bürger haben wir nicht mehr..." 587, formuliert Hölderlin: "Ich kann mir kein Volk denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst Du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen- ist das nicht ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?" 588 Seinen Landsleuten meinte er es nicht nachsehen zu können, zu ,jedem göttlichen Gefiihl" unfähig zu sein - "dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Geflißes". 589 Der moderne Mensch, innerlich zerbrochen, verkümmert. Dispositionen dringen an die Oberfläche, die Rousseau, Tocqueville und Weber voller Ablehnung herausstreichen: "Die Gleichgültigkeit gegenüber der gemeinsamen Sache"590 • Rousseau hat sie oft beschworen: ob in Gestalt jener trägen "Langsamkeit" seiner Genfer Mitbürger591 , der bürgerlichen Sanftmut, die als Folge der Gelehrsamkeit, "obgleich die liebenswürdigste aller Tugenden" "manchmal auch eine Schwäche der Seele"592 ist, oder ob in Form einer "sträflichen und gefährlichen Gleichgültigkeit" gegenüber der Aufrechterhaltung der Verfassung, vor der er die "gnädigen und hochgebietenden Herren" der Republik Genf zu Beginn des "Deuxieme Discours" Rousseau, PD, S. 55. F. Hölderlin, Hyperion, S. 171 f. 589 Ebd. Gerade Heinrich Heine hat diese "Zerrissenheit" immer wieder beschäftigt. Die klassische Harmonieidee, die nach Hegels ästhetischer Theorie "die Einheit von Bedeutung und Gestalt und ebenso die Einheit der Subjektivität des Künstlers mit seinem Gehalt und Werk zur Grundlage" hat, sei allenfalls noch zu erlügen, schrieb er und, gewandt an seine Leser, im Jahr 1829: "Ach teurer Leser, wenn Du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwei gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden." (H. Heine, Sämtliche Schriften, hrsg, von Klaus Briegleb, München 1968-76, Band II, S. 405f.). 590 Vgl. Rousseau, AüdpoiÖk, S. 245. 591 Ders. , Briefe vom Berge, Neunter Brief, S. 234. 592 Ders. , Letzte Antwort an Bordes (1752), Schriften, Band I, S. 110. Wie Weber in "Wissenschaft als Beruf' hat Rousseau die Frage interessiert: "Was leistet Wissenschaft?" Wie Weber billigte er ihr technischen Nutzen, Fortschritte in der "Bequemlichkeit" fiir den Menschen zu (vgl. ders., Bemerkungen von Jean-Jacques Rousseau über die Antwort des Königs von Polen auf seine Abhandlung, S. 74). Wie Weber erkannte er jedoch, daß sie auf das so wesentliche Talstoische Problem, der Frage, "Was sollen wir tun?", keine Antwort wissen kann. Daß in aller wissenschaftsbegeisterten Zeit gerade dem Komplex menschlichen Handeins keine öffentliche Aufmerksamkeit mehr zuteil wird, führt bei Weber und Rousseau zum sittlich motivierten Seitenhieb auf alle Wissenschaft. 587 588

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warnte - es ist die politische Indolenz "gegenüber der gemeinsamen Sache"593 , die Rousseau zum habituell verwerflichsten Krankheitssymptom des modernen Lebens in einem Gemeinwesen geriet. Der "Zauber des Studierens" ist es, der jene "Gleichgültigkeit filr das übrige Universum" 594 unter den Bürgern entstehen ließen. Wenn Tocqueville das "große Geheimnis des Gelingens im Diesseits" in der "Beschäftigung mit dem Jenseits" entdeckt, darin das "größte polititische Merkmal" der Religion ausmacht, dann wird auch bei ihm nur allzu deutlich, warum ihm mit dem Ende der Transzendenz der Verzicht auf alles "Große, Friedliche und Dauernde" einhergeht. Wer sein Leben nicht mehr auf ein ethisch bindendes "unbewegliches Ziel" richtet, dessen Streben flillt in die "rücksichtlose Gleichgültigkeit" zurück. Die "Verwirklichung geringster Wünsche" und die "zuflilligen Tagesgelüste" gewinnen Macht über den Menschen, doch erlahmt damit die "Spannkraft ihrer Seelen", die "Sicht der Menschen verengt sich" und sie "wollen nur noch an den nächsten Tag denken". 595 "Die Freiheit", das ist seine Überzeugung, "löst persönliche Haßgefilhle aus, der Despotismus aber erzeugt die allgemeine Gleichgültigkeit."596 Max Weber hat dem sein Credo filr die leidenschaftliche Hingabe an eine Sache entgegengesetzt - ob in Wissenschaft oder Politik. Vor ihm und seinen Beschreibungen der Charakterologie des "geist- und herzlosen", indifferenten Menschen der Jetztzeit ist es Friedrich Nietzsche, der am eindrücklichsten formuliert hat, was Weber, Tocqueville und Rousseau ganz genauso gesehen hatten, wenn es ihnen um den kraft- und leblosen Habitus des modernen Menschen ging, wie er am Ende ihrer Diagnose Profil gewann. Nietzsches Kulturkrtitik bildet den geistigen Kulminationspunkt, auf den die Ideen aller drei zulaufen. Im sechsten Hauptstück seiner "Genealogie der Moral" warnt Nietzsche vor dem ethisch-indolenten, "objektiven Geist" und vor der Annahme, "die Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes" sei gleichsam schon Ziel an sich, erlöse und verkläre. "lnteressenloses Erkennen" trägt ihm die Gefahr in sich, zum gesinnungslosen Selbstzweck zu werden. Für Nietzsche ist Wissenschaft, wie wohl auch das Wirtschaften, immer Werkzeug "in der Hand eines Mächtigeren"597, eines Dämonen oder Gottes, auf den menschliches Tun und Handeln gerichtet sein muß. Wird beides zum Selbstzweck, "müssen die Tugenden büßen". Der Mensch verkümmert, wird "unächt, zerbrechlich, fragwürdig und

593 594

Rousseau, AüdpolÖk, S. 245. Vgl. auch ebd., S. 248. Ebd.

Vgl. Tocqueville, ÜdDiA II, S. 165f. Vgl. auch ders., DaSudR, S. 205f. Ders., ÜdDiA II, S. 119. 597 F. Nietzsche, Sechstes Hauptstück, Wir Gelehrten, in: Ders., Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, KSA, Band 5, München 1988, S. 135. 595

596

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morsch"598 • "Seine Liebe ist gewollt, sein Haß künstlich oder mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit oder Übertreibung ... Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele (hervorgehoben vom Verf.) weiss nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht, er zerstört auch nicht." 599 Es ist dies derselbe "gekünstelte Mensch", der sich am Ende des "Deuxieme Discours" bei Rousseau einfindet- von seinem Wesen entfremdet und Leidenschaften gehorchend, die sich aus ganz anderen Quellen speisen, als aus der seiner unverfiilschten Natur. 600 Der "gekünstelte Mensch"- bei Nietzsche wird er zum Spiegel: Er kennt keine andere Lust als das "Abspiegeln", hört aber auf, "Person" zu sein, ja empfindet sie gar als "störend". Simmel schreibt: Der Intellekt "ist der indifferente Spiegel der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind, weil ihr Recht hier in nichts anderem als in ihrem Wirklichsein besteht."601 Rousseau ist diese spiegelnde Eigenschaft, die Nietzsche und Simmel eruieren, nur allzu vertraut: "Der wilde Mensch", sagt er, "lebt in sich, der gesellige hingegen ist immer außer sich und lebt nur in der Meinung, die andere von ihm haben. Selbst die Empfindung seines Daseins nimmt er nur aus ihrem Urteil."602 Der moderne Mensch verlernt, sich selbst zu fragen, "was wir sind". Wen Rousseau in den Blick nimmt, ist der entzauberte Wissenschaftler, der Erkenntnis ihrerselbst willen betreibt - oder allenfalls unter dem Aspekt ihres Verkaufswertes -, der entzauberte Ökonom, der Kapital seiner selbst willen anhäuft, ethisch aber orientierunglos geworden ist: Hier, im "objektiven Menschen" Nietzsches, liegt die Wurzel von Webers "Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz". Überrascht es noch, wenn Rousseau nahezu identisch resümiert, trotz "aller Philosophie, Menschlichkeit, Höflichkeit und aller erhabenen Maximen" haben wir nicht mehr "als einen äußeren Anstrich von Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glückseligkeit"603 ? Wilhelm Hennis hat darauf hingewiesen, daß jenes berühmte Weber-Zitat vom Fach- und Genußmenschen ohne Verstand und Herz, dessen Herkunft bis heute nicht zu klären ist, eindeutig "vom Fleische Nietzsches"604 sei- es will scheinen, als fiinde sich darin mindestens genauso viel Herzblut Jean-Jacques Rousseaus. Georg Simmel hat in seiner "Philosophie des Geldes" diese letzte Konsequenz des entfesselten intellektualistischen und kapitalistischen Zeitalters benannt, indem er auf die bezeichnende "Charakterlosigkeit" von Intellekt und Geld aufmerksam machte. Der Intellekt ist charakterlos, "weil er ganz jenseits 598 599

Ebd. S. 136. Ebd.

Rousseau, DD, S. 263. Vgl. auch PD, S. 35. G. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 595. 602 Ders., DD, S. 264. 603 Ebd., S. 265. 604 W Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 177f. 600 601

9 Hecht

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der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht." Dasselbe trifft ftlr das Geld zu. "Wie es an und ftlr sich der mechanische Reflex der Wertverhältnisse der Dinge ist und allen Parteien sich gleichmäßig darbietet, so sind innerhalb des Geldgeschäftes alle Personen gleichwertig, nicht, weil jede, sondern weil keine etwas wert ist, sondern nur das Geld." Der Intellekt und das Geld schaffen den "theoretischen Menschen", der - charakterlos - alles versteht und alles verzeiht. "Die eigentümliche Abflachung des Gefiihlslebens, die man der Jetztzeit gegenüber der einseitigen Stärke und Schroffheit früherer Epochen nachsagt; die Leichtigkeit intellektueller Verständigung, die selbst zwischen Menschen divergentester Natur und Position besteht..., die Tendenz zur Versöhnlichkeit, aus der Gleichgültigkeit gegen die Grundfragen des Innenlebens quellend, die man zuhöchst als die nach dem Heil der Seele bezeichnen kann und die nicht durch den Verstand zu entscheiden sind ... : alles dies entspringt als positive Folge jenem negativen Zuge der Charakterlosigkeit."605 Der "objektive Mensch", ethisch ohne Orientierung und nicht mehr wie der "tolle Mensch" aus der "Fröhlichen Wissenschaft" am "Gott ist todt"-Erlebnis verzweifelnd606, wird trotz seiner metaphysischen Befreiung ein manipulierbares und beliebig instrumentalisierbares, "leicht verletzliches und getrübtes MessWerkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll,"607 er wird, mit anderen Worten, "ein Stück Sklave, wenn gewiß auch die sublimste Art des Sklaven", an sich aber ein .. Nichts" (hervorgehoben vom Verf.)"608 - " ••• das sich einbildet, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erreicht zu haben", liegt einem die Webersehe Weiterflihrung dieses Zitates auf der Zunge. Der "objektive Mensch" hatte sich von der Versklavung der Jahrtausende andauernden Umschließung und Blendung durch das christliche Pathos befreit, sich aber dadurch neu, auf sublimste Art versklavt. Befreiung von lebensfUhrender Ethik hat ihn zum "Durchgang und Wiederschein fremder Gestalten und Ereignisse"609 gemacht. Er hat seinen Ernst verloren, er ist heiter, aber nur, weil er seine eigene Not erkennt und bewältigt, er ist, dem ethischen Maßstab entledigt, entgegenkommend gegen alles und jedes. Das was auf ihn einstürmt, nimmt er voller "sonniger und unbefangener Gastfreundschaft" an, "rücksichtslos wohlwollend" und "geflihrlich unbekümmert", das Urteil wird willkürlich, denn ein Spiegel kann abspiegeln, nicht aber ein moralisches Urteil leisten. 605 G. Simme/, Philosophie des Geldes, S. 594f. Die positive Folgeerscheinung bezieht Simmel auf die innere Pazifizierung der modernen Gesellschaft durch die beschriebene "Charakterlosigkeit" des Geldes und des Intellekts, nicht jedoch auf die seelische Entwicklung des modernen Menschen. 606 Vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, KSA, Band 3, S. 480f. 607 Ebd. 608 Ebd. 609 Ebd., S. 135.

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"Will man Liebe und Hass von ihm ... soll (man) sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist..."610 Die Kategorie des "Fach- und Genußmenschen" ist fiir Nietzsche nur "ausgeblasener feiner beweglicher Formentopf"611 , ein "selbstloser" und inhaltsleerer Mensch, fiir ihn wie filr Weber, Tocqueville und Rousseau ein Knecht, keineswegs jedoch Persönlichkeit oder gar letztes Ideal. Max Weber wie Alexis de Tocqueville kam es inmitten der modernen Demokratie "auf die Art des Herrn weit weniger an als auf den Gehorsam"612 • Beiden ging es ganz aristotelisch nicht um Regierungsformen, sondern um den Seelenzustand derer, die unter einer bestimmten Ordnung regiert werden. Deswegen war filr Tocqueville nicht unbedingt primär, daß der Regierungsapparat sämtliche Vorrechte geerbt hatte, " ... die den Familien, den Vereinigungen oder den Menschen entwunden wurden", 613 sondern in erster Linie, daß das, was einst von einer sittlichen Bürgertugend despotieverhindernd ausgefiillt wurde, also "Religion, die Liebe der Untertanen, die Güte der Fürsten, die Ehre, der Familiensinn, die Provinzvorurteile, Brauch und öffentliche Meinung...",6 14 der Bürgerschaft entrissen wurde. Der Staatsbürger als Spielball übermächtiger Sozialinstanzen, so beobachtete er die innere Verfaßtheit seiner Zeit, findet sich einer neuen, "friedsamen Knechtschaft'615 ausgesetzt, die den Menschen "seelisch entwürdigt"616 und in der es fiir ihn nicht länger herrschaftliche Fügsamkeitsmotivationen geben kann. Der Leviathan ist zurückgekehrt617 , und er bringt, wie Tocqueville es zu Anfang der "Demokratie in Amerika" formuliert, "knechtische Seelen"618 hervor. Die Gesellschaft der Gleichheit begünstigte die Übernahme und Zentralisation staatsbürgerlicher freiheitlicher Obligationen durch die bürokratische Zentralgewalt. Der Egalitarismus der Aufklärung hat sich - über Bürokratie und die öffentliche Meinung - längst zu einer nivellierenden und standardisierenden Schwundideologie verflacht, deren Hinnahme sich die Bürger nur durch das Versprechen eines schalen Hedonismus entgelten lassen. Wo vorher vielstimmig gehandelt wurde, bestimmte nun die Technologie der Regierungsmaschine, die alles und alle verwaltete. Die Quelle von Tocquevilles "depotisme administratif' ist die passive Akzeptanz und die hingenommene Ohnmacht der Bürgerschaft: Daher nennt er diesen "ausgedehnt und

610 611

Ebd., S. 136. Ebd.

Tocquevil/e, ÜdDiA II, S. 343. Ders. , ÜdDiA I, S. 12. 614 Ebd., S. 361. 615 Ders. , ÜdDiA II, S. 343. 6 16 Ders. , ÜdDiA I, S. II. 6 17 Ders., ÜdDiA II, S. 3 18. 6 18 Ebd., S. 15. 6 12

6 13

9•

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A. Krise von Kultur und Politik

mild"619, daher vollzieht er die Entmündigung der Menschen, "ohne sie zu quälen".620 In seiner schwarzmalenden Zukunftsvision ist der "despotisme administratif' zwar "eine ausgezeichnet konstruierte Regierungsmaschine", untauglich jedoch "fUr die Herstellung der Sicherheit, der Freiheit und der staatsbürgerlichen Tugenden, die Prosperität und Größe der Völker ausmachen. Durch sie sind vor allem unsere unaufhörlichen Revolutionen entstanden, unsere servilen (hervorgehoben vom Verf.) Sitten, die Unmöglichkeit, in der wir uns sahen, eine gemäßigte und vernünftige Freiheit zu begründen. Ihr verdanken die Provinzen diese geistige Verblödung, in der sie sich befinden und die jede Bewegung dort unmöglich macht." 621 Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die dieser Bürokratie vorstehende Regierung vom Volk direkt eingesetzt würde, denn der "Kopf der Freiheit" würde lediglich auf einen "servilen Rumpf' gesetzt.622 Seine Analyse verdichtet sich schließlich in einer zentralen Passage in "Der alte Staat und die Revolution": Die moderne Demokratie bezichtigt Tocqueville dort ihrer inhärenten Unfreiheit, die "Menschen sind ( ...) nicht mehr durch Kasten, Klassen, Korporationen und Geschlechter miteinander verbunden und sind daher nur zu sehr geneigt, sich bloß mit ihren besonderen Interessen zu beschäftigen, immer nur an sich selbst zu denken und sich in einen Individualismus zurückzuziehen, in dem jede öffentliche Tugend erstickt wird. Der Despotismus, weit entfernt, gegen diese Neigung zu kämpfen, macht sie viel mehr unwiderstehlich, denn er entzieht den Bürgern jede gemeinsame Begeisterung (hervorgehoben vom Verf.), jedes gemeinschaftliche Bedürfnis, jede Notwendigkeit, sich mit einander zu verständigen, jede Gelegenheit zu gemeinschaftlichem Handlen; er mauert sie sozusagen im Privatleben ein (hervorgehoben vom Verf.). Sie waren bereits zur Absonderung geneigt: Er isoliert sie; sie erkalteten fiir einander, er läßt sie vollends erstarren."623 Jene beängstigende Phantasie des Eingemauertseins, des Eingesperrtseins in einem Käfig, das in Stendhals resignativ-zynischer Sicht in Form einer Gefängniszelle gar zu einem Ideal avancieren konnte624, haben Weber, Tocqueville und gerade der von der Welt so abgeschlossene Rousseau unabhängig voneinander gehegt. R. Boesche hat in einem spannenden Aufsatz625 die These aufgestellt, 619 Ebd., S. 341 . Vgl. dazu die überraschende Textparallele bei Rousseau, Briefe vom Berge, Neunter Brief, S. 247. 62o Ebd. 621 Ders., OC, Band VII, S. 3 16f., A. Salomon, S. 218. 622 Ders., DaSudR, S. 204. 623 Ebd., S. 15. 624 Siehe R. Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville (1987), S. 108.

625 Ders., The Prison: Tocqueville's Model for Despotism, in: The Western Political Quarterly, Band XXXIII, Heft 4, Dezember 1980, S. 550-563. R. Boesche gelang es, eine Textstelle in Tocquevilles Schrift "Amerikas Besserungssystem und dessen Anwen-

VI. Die Knechtschaft der Seele im modernen Zeitalter

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daß Tocquevilles Modell der egalitären Knechtschaft des demokratischen Zeitalters im Grund das eines Gefängnisses war, fiir das die Vollzugsanstalt von Philadelphia das Modell abgab, wie er sie mit seinem Reisebegleiter Beaumont während ihrer Amerikareise unter Augenschein genommen hatte, als sie fiir ihre Enquete auch das Pennsylvania Prison System untersuchten. Die damalige, fiir heutiges Empfinden unmenschliche Art des Strafvollzugs war auf den Prinzipien von Isolation und Gleichheit aufgebaut. Boesche gelang es zu zeigen, wie die beängstigende Isolationshaft und das Bewußtsein der absoluten, jeden individuellen Protest im Keim erstickenden Gleichheit Tocqueville das Bild der atomisierten, ohnmächtigen, von der "Tyrannei der Mehrheit" manipulierbaren Gesellschaft lieferte. Arbeitsfreude, eine "Produktions- und Konsumptionsethik" entsteht unter den Gefangenen, die unter dem Joch ihrer Verknechtung ihr Heil nur mehr in einem erbärmlichen Materialismus suchen.626 Eine Sphäre der politischen Öffentlichkeit aber gibt es im Gefiingnis nicht. Den letzten Menschen Nietzsches hat auch schon Rousseau heraufbeschworen, wenn auch in anderen Farben und Konturen. Als Ausgang seiner pädagogischen Arbeiten spricht er im "Emile" etwa von einer gesellschaftlichen Entwicklung, an deren gegenwärtigem Ende die Grundidee des Begriffs des Bürgers verfälscht sei.627 Der Mensch trete nur noch in Gestalt eines dressierten, seines Willens und seiner Freiheit beraubten "Zirkuspferdes" auf, das Rousseau gar als wahres Monster erscheinen will. 628 Die Pathogenese bis dorthin hat Rousseau an in den beiden "Discourses" nachgezeichnet. Im Anfang noch hatte sich zwischen der "Faulheit des ursprünglichen Zustandes" und "der törichten Wirksamkeit unserer Eigenliebe" die "wahre Mitte" gehalten.629 Um aber die Isolation wieder aufzubrechen, in welche die Modeme den Menschen gestoßen hatte, blieb diesem keine andere Wahl, als die Mittel des Täuschens zu wählen, folgert Rousseau. 630 Die Balance kippte: Der Rang eines Menschen begann, sich nicht in der Macht der Glücksgüter zu bemessen, sondern Hochachtung erlangte nun auch, wer "nichts hat, nichts kann". Die "täuschende Hoheitsmiene" entstand, "die betrügerische List". Ins Werk gesetzt ist jetzt ein schadloses Konkurrieren um die besten Glücksumstände- die Despotie hat leichtes Spiel, weil die Bürger durch die "blinde Ehrbegierde" den Herrschern geloben, die Ketten willig tragen. Heute, so umschreibt Rousseau den modernen Habitus, verzehre

dung auf Europa" (Berlin 1833, englische Ausgabe) ausfindig zu machen, in der Tocqueville das Gefängnis als "vollständigsten Despotismus" bezeichnete. Vgl. ebd., S. 550f. 626 Ebd. 627

Rousseau, Emile, S. 685.

Ebd., S. 107. Vgl. ders. , DD, S. 238. 630 Vgl. ders., Vorrede zu »Narcisse«, S. 157. 628 629

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A. Krise von Kultur und Politik

den Menschen "das allgemeine Verlangen nach einem guten Leumund, nach Ehre, nach Vorzügen"63 1, undjeder sei seines Nächsten "Nebenbuhler". Auch er brandmarkte jene "ruhige Untertänigkeit", gegen die sich der "wilde Mensch" noch aus Instinkt heraus gewehrt hätte "wie ein unbezähmbares Roß", das "die Mähnen sträubt, auf den Boden stampft und mit Ungestüm um sich schlägt, sobald man ihm Zaumzeug anlegen will". Während sich der Wilde weigere, "sich in das Joch zu schmiegen", unterliege "ein Gesitteter'' diesem "ohne Murren"632 • Am Ende dieses Weges sehen Rousseau, Tocqueville und Weber nicht nur dieselbe Gefahr, sie wählen obendrein dasselbe Bild, um sie auszudrücken. Rousseau gab im "Deuxieme Discours" zu Protokoll, die Politiker seiner Zeit schätzten die Menschen nur noch "wie Herden Vieh"633 , und auch er selbst entdeckt in den zeitgemäßen Physiognomien der Einförmigkeit und der Indolenz nur noch eine "Herde, die man Gesellschaft nennt''634, gefangen in sich selbst undjenen Wertmaßstäben, die es den milden Despoten erlauben, diese innerlich verknechtete Gesellschaft so leicht im Zaum zu halten. Auch Tocqueville urteilt in gleichen Bildern: "Nachdem der Souverän auf diese Weise den einen nach dem anderen in seine mächtigen Hände genommen hat und nach seinem Gutdünken zusammengeknetet hat, breitet er seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen. Er bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; er zwingt selten zu einem Tun, aber er wendet sich fortwährend dagegen, daß man etwas tue; er zerstört nicht, er hindert, daß etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk so weit herunter, daß es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere (hervorgehoben vom Verf.) bildet, deren Hirte die Regierung ist."635 Es überrascht nicht weiter, wenn Ders., DD, S. 260. Ebd., S. 251. 633 Ders., PD, S. 48. 634 Ebd., S. 36. 635 Tocqueville, ÜdDiA 11, S. 343. Das "Herdenbild" als Metapher fllr die moderne demokratische Massengesellschaft ist im ganzen 19. Jahrhundert ein häufig zitierer Topos der Kulturkritik. John St. Mill etwa schreibt in seinem Essay .,Über die Freiheit" im dritten Kapitel über die .,Individualität": "Nicht nur indem, was andere betrifft, sondern auch in dem, was nur ihn allein angeht, fragt sich der einzelne oder die Familie nicht: was ziehe ich vor? Oder: was entspricht meinem Charakter und meinen Neigungen?( ... ) Nein, sie fragen sich: was ist meiner Lage angemessen? was tun Leute meines Ranges und in meiner finanziellen Lage? oder (noch schlimmer!): was tun Leute von höherem Range und besseren Verhältnissen?( ... ) Es fällt ihnen gar nicht ein, eine andere Neigung zu verspüren, außer zu dem, was üblich ist. (... ) sie gefallen sich in der Herde." (J. St. Mi/1, Über die Freiheit, S. 84f.) Noch eindrücklicher und näher an Tocqueville argumentiert er in den "Principals of political economy" von 1848 (vgl. ders., Prinzipien der 631

632

Exkurs: Das politische "Problem" in Max Webers Wissenschaft

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auch Max Weber nur noch dort Möglichkeiten der Freiheit gewärtigt, wo eine Nation entschlossen ist, "sich nicht wie eine Schatherde regieren zu lassen". 636 In einem "bürokratischen »Obrigkeitsstaat« mit Scheinparlamentarismus" aber ist die "Masse der Staatsbürger rechtlos und unfrei" - und wird verwaltet "wie eine Viehherde"637 : Amerikanisch entfesselter Materialismus, "ägyptisch" verwaltet und "chinesisch" erstarrt, das ist filr Weber die Apokalypse der modernen Hörigkeit, die Rousseau und Tocqueville genauso gekannt haben, sie nur mit einem anderen Namen belegten: mit dem der Knechtschaft.

Exkurs: Das politische "Problem" in Max Webers Wissenschaft Max Webers kulturkritische Betrachtungen sind Dokumente seines Problembewußtseins gegenüber einer Epoche, in die er hineingeboren wurde. Sie liefern jedoch auch - und dies fast beiläufig - Antworten auf eine Frage, die filr die Selbstvergewisserung der modernen Politikwissenschaft bis heute eine geblieben ist, an der sich nicht mehr und nicht weniger zu entscheiden scheint als die Selbstrechtfertigung des gesamten Faches: die Frage nach der Aufgabe und dem Leistungsvermögen dieser Disziplin. Wenn man die Frage nach der ersten Aufgabe der Webersehen Wissenschaft beantworten will, so verspricht noch immer der Griff zu seinen unter dem Stichwort der "Wissenschaftslehre" zusammengefaßten Aufsätze den größten Aufschluß. In allen anderen seiner nationalökonomischen, kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Schriften wandte Weber Wissenschaft an, hier war er vor allem durch das gerade in seine Fachdomänen eindringende "naturalistische Gespenst" genötigt, die Grundlagen und das Selbstverständnis seiner Wissenschaft innerhalb einer eigenen Standortbestimmung offenzulegen. Es ist auffallend, daß die Webersehen Texte zu diesem Komplex sich nicht nur nahezu allesamt mit den Protagonisten entgegengesetzter intellektualistischer Wissenschaftsauffassungen auseinandersetzen, sondern dabei weiterhin an einem gewissermaßen positiven politikwissenschaftlichen Corpus festhalten, der entpolitischen Ökonomie, Ges. Werke, autorisierte Übersetzung unter Redaktion von Th, Gomperz, Neudruckausgabe der letzten deutschen Ausgaben in 12 Bänden, Aalen 1968). Dort heißt es im fünften Buch; Kapitel XI, über ein politisch apathisches Volk: "Ein solches System verwirklicht mehr als irgend ein anderes die Idee des Despotismus, indem es mit geistiger Überlegenheit als einer neuen Waffe diejenigen ausrüstet, die schon die Gesetzesmacht besitzen. Es fUhrt so nahe wie (es) bei dem organischen Unterschiede zwischen menschlichen Wesen und Thieren möglich ist, zu einer Herrschaft, wie sie der Hirt über die Schafe ausübt, nur das hier bei weitem nicht das starke Interesse vorhanden ist, das der Hirt an dem Gedeihen seiner Heerde hat." (ebd., S. 264). 636 Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 61 . 637 Ders. , Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 291.

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A. Krise von Kultur und Politik

scheidende Auskünfte über die Konturen eines älteren Wissenschaftsverständnis gibt, von dem Weber nicht lassen wollte. In seiner "Auseinandersetzung mit Eduard Meyer"638 formulierte Weber, worum es ihm in seiner so eigenwilligen Kulturwissenschaft zu tun war: Ihre Aufgabe sei die "Aufzeigung und Lösung sachlicher (im Orig. gesperrt, der Verf.) Probleme"639 - nicht etwa das Anstellen "rein erkenntnistheoretischer oder methodologischer Erwägungen" 640 • Und in der Tat, wer Weber durch die verschlungenen "methodologischen" Pfade seiner Lehre folgt, dem wird augenfällig, daß sich sein Wissenschaftsbegriff um einen spezifischen Terminus dreht: den des Problems - nicht des wissenschaftstheoretischen, sondern des politisch-praktischen.641 Methodologie, das ist sein Schluß, hat der analytischen Ermittlung von Problemlagen zu dienen, seine Kulturwissenschaft will eine Wissenschaft sein, die einen Zugang zu den großen inhaltlichen Kulturproblemen eröffnet. Daß Weber diese Wissenschaft auch in einer "Ausnahmesituation" betrieb, "in einer Zeit, in der die Wissenschaft an ihrem Sinn und Aufgabe irre wird"642 , seine Wissenschaftslehre also auch logische Selbstreflexion war, braucht dabei nicht weiter zu irritieren. Sie kann dennoch und entgegen der Lesart Friedrich Tenbrucks immer auch Streitschrift filr ein praktisches Selbstverständnis der eigenen Kulturwissenschaft sein. Weber betonte ja explizit: "Nicht die »sachlichen« Zusammenhänge der »Dinge«, sondern die »gedanklichen« Zusammenhänge der Probleme ( hervorgehoben vom Verf.) liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde"643 • Nur dort, "wo mit neuer Methode einem neuen Problem (hervorgehoben vom Verf.) nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue »Wissenschaft«"644 • Max Weber wollte -ob in der Welt der Wissenschaft oder innerhalb seines Verbandsengagements im "Verein filr Sozialpolitik" oder auf anderen Bühnen seines Schaffens - die Probleme herauspräparieren, die eine zunehmend von der Ökonomie determinierte moderne Welt verursachten, sie als "theorist of political judgement"645 in aller "Klarheit" aufwerfen, um sie überhaupt einer politi638 Ders., Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer ( 1906), GA WL, S. 215ff 639 Ebd., S. 217. 640 Ebd. 641 Dem pflichtet P. Breiner bei. tur den Webers Idealtypen primär praktische Funktion haben: "They also serve to construct the contexts, the logics, and the consequences that we will be exposed to in deciding on a course of social and political action." (ders., S. ix.). 642 Friedrich Tenbruck, Die Wissenschaftslehre Max Webers, in: G. Wagner/H. Zipprian (Hrsg.), S. 367ff Vgl. ebd. S. 370. 643 Weber, Zur »Objektivität« ... , S. 166. 644 Ebd. 645 P. Breiner, S. ix.

Exkurs: Das politische "Problem" in Max Webers Wissenschaft

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sehen Lösung näherzubringen. Dabei hatte er es, was in der Natur der Sache liegt, vornehmlich mit "sozial-politischen Problemen" zu tun - die gerade in seiner Zeit sehr dringlich geworden waren, denen jedoch bis heute der bezeichnende Mangel anhaftet, daß sie "nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus zu erledigen"646 sind. Gerade auf derartige Problemlagen hinzuweisen und sie freizulegen, damit sie von der Politik erkannt und aufgegriffen werden können, ist der Grundgedanke Webers im Kern politischer Wissenschaft647 • Über die "Fluidität'' der speziell kulturwissenschaftlichen Probleme war er sich dabei wie kaum ein zweiter im klaren: Naturwissenschaftlich-nomologische Probleme erkannte er als lösbare Probleme, deren Ergebnisse in einen immer größeren Grundstock von Gesetzeswissen münden konnten. Kulturprobleme dagegen - und vorwiegend als solche interessierten Weber sozial-ökonomische Probleme - erschienen ihm als Teile eines "unendlichen Stroms", denen nur die stete Verschiebung der Gesichtspunkte eignen konnte, "unter denen ein Stoff Objekt der Darstellung wird"648 , Gesichtspunkte, die jeweilige Richtung des Interesses also, das sich auf die Wirklichkeit als Gegenstand einer Wissenschaft richtete. In diesem Sinne ziehen die Kulturwissenschaften "dem Licht der großen Kulturprobleme" mit ihrem Begriffsapparat unaufhörlich nach. Die Aufgabe dieser Wissenschaften bleibt es, die "eigentliche, von uns zu bearbeitende Fragestellung" zu formulieren. Einen zunächst nicht lösbaren Widerspruch auseinanderzulegen, sein Pro und Contra abzuwägen, ihn kritisch zu beurteilen, ist nach Webers wissenschaftlichem Verständnis immer der erste Schritt einer Lösungszufilhrung und immer schon eine traditionelle Aufgabe aller Politikwissenschaft gewesen, zumindest in Zeiten, in denen sie sich noch als eine praktische Wissenschaft verstanden hatte. 649

Weber, Zur »Objektivität« ..., S. 153. Vgl. ders., Wissenschaft als Beruf, S. 607. Weber schreibt in den Passagen zur "Klarheit": "Vorausgesetzt natürlich, daß wir sie selbst besitzen ... , können wir Ihnen deutlich machen: man kann zu einem Wertproblem, um das es sich jeweils handelt - ich bitte Sie, der Einfachheit halber an soziale Erscheinungen als Beispiel zu denken -, praktisch die und die verschiedene Stellung einnehmen. Wenn man die und die Stellung einnimmt, so muß man nach den Erfahrungen die und die Mittel anwenden, um sie praktisch zur Durchführung zu bringen." 648 Ders., Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, GAWL, S. 218. 649 Lawrence Scaff hat 1973 einen ähnlichen Aufgabenkatalog für die politische Theorie angelegt, an dem er auch Webers Wissenschaft überprüfen wollte: "(1) Theory organizes the real world in thought, and in doing so implicitly selects and assigns significance and meaning to previously "isolated" facts. (2) It explains why the world is as it is, why interconnections occur as they do amongst phenomena. (3) It produces knowledgefor action (hervorgehoben vom Verf.) which can be used as a practical instrument for changing the world (hervorgehoben vom Verf.).'' (vgl. L. Scaff, Max Weber's politics and political Education, in: The American Political Science Review, Vol. 67, 1973, S. 129). 646

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B. Formen der Freiheit in der Moderne I. Widerstand gegen die Knechtschaft: Die Suche nach der Freiheit im eisernen Zeitalter Aus Belgien schrieb Max Weber 1903 an seine Mutter: "Bei Verviers erinnerte ich mich des ersten, erschütternden Ereignisses meines Lebens: der Zugentgleisung vor nun 35 Jahren. Das Erschütternde dabei war mir nicht alles das, was vorging, sondern der Anblick eines dem Kinde so erhabenen Wesens einer Lokomotive, wie ein Betrunkener im Graben liegend.. .'' 1 In der künstlerischen Reflexion der sich entfaltenden Modeme ist die Lokomotive ein häufig zitiertes Symbol gewesen. Jakob van Hoddis ließ sie in der letzten Zeile seines berühmten Gedichts "Weltuntergang" ganz expressionistisch von den Brücken fallen, und schon ftlr William Turner galt sie zeit seines Lebens als bedrohlichfaszinierendes Sinnbild des rasend-rauschenden Fortschritts. Als "betrunkene Lokomotive", auch wenn sie nur eine Kindheitserinnerung war, die Weber einstmals noch ftlr das "Große und Schöne dieser Erde" gestanden hatte, gewinnt dieses zentrale Symbol fiir Weber vor dem Hintergrund seiner Kulturdiagnose eine charakteristische Färbung; in der Reflexion gerinnt es ihm zum spezifischen Vexierbild der Modeme: Das Entgleisen der Lokomotive von Verviers wird ihm zum Gleichnis des Scheitems des modernen Vemunftdenkens selbst, wie es, fernab aller Materialität zur rein formalen Konstante verengt, die Modeme so nachhaltig und ftlr Weber, Tocqueville und Rousseau so antinomisch-schicksalhaft geprägt hatte. Genau diese Entgleisung haben Weber, Tocqueville und Rousseau immer wieder thematisiert und schonungslos offengelegt. Es waren fiir sie die Paradoxien und Antinomien eines "unvollendeten Projekts der Modeme" (J. Ha-

1 Weber, Briefan seine Mutter von 1903, zit. nach Eduard Baumgarten, Max Weber, Werk und Person, S. 302. Die Eisenbahnmetapher ist für Weber nicht eine zuflillige, wuchs er doch "als Kind des Eisenbahnzeitalters" in Erfurt in nächster Nähe des Bahnhofs auf und war schon als Kind von den "Dampfrössern" zutiefst fasziniert (vgl. Lebensbild, S. 33f. und auch Günther Roth, Max Weber in Erfurt, Vater und Sohn, Berliner Journal für Soziologie, Heft 3, 1995). Auch durch die familiäre Verbindung Webers zu dem in WuG (S. 659) zitierten Henry Villard, dem Erbauer und Financier der "Northem Pacitic Railroad" von 1883, hatte Weber direkten Einblick in eine der zugkräftigsten Industrien der Zeit.

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B. Fonnen der Freiheit in der Moderne

bennas) vor allem innerhalb der lebensweltlich so virulent werdenden Regelwerke, wie sie im ersten Teil skizziert wurden. Für Weber, Tocqueville und auch schon Rousseau hatten aufklärerische Rationalität und das Freiheitsverständnis des modernen Liberalismus, das erst in der Verwirklichung von Vernunft zur wahren Entfaltung von Freiheit zu gelangen glaubte, Antinomien geschaffen, die fiir alle drei psychologisch-habituelle, oder um mit Ludwig Klages zu sprechen, "charakterologische"2 Folgeerscheinungen im Menschentyp dieser Epoche mit sich gezogen und einen vemunftbegabten, aber im klassisch politischen Sinne nicht mehr wirklich freien Menschen hervorgebracht hatten. In der okzidentalen Modeme hatte fiir alle drei ein abstraktes regelgeleitetes Handeln 3 eine irreversible Dynamik gewonnen, und alle drei erkannten darin das moderne Leben prägende Paradoxien, die sie kompromißlos beim Namen nannten: Was als von Gewissensnot motivierter, genuin rationalistischer Suche des Puritaners nach seinem Seelenheil begann, hatte in der "unvernünftigen Seelenlosigkeit" von moderner Bürokratie und Kapitalismus geendet, schließlich in der "Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit"4 • Wo anfangs dem erkennenden Denken der Sinn der Welt als Prämie winkte, mußte nun der Preis aller lntellektualisierung in Form des Verlusts jeder Gewißheit über den Sinn der Welt selbst gezahlt werden. Was in der Suche nach Freiheit begann, hatte geendet in der autonomen Einsamkeit des Einzelnen. Der erste Teil der vorliegende Studie und auch der erste der gedanklichen Anlage Webers, Tocquevilles und Rousseaus stand im Zeichen der kulturkritischen Analyse, die zunächst als zivilisatorische Pathogenese in Erscheinung tritt. Weil aus dem Schicksal der Modeme ein unentrinnbares Verhängnis geworden ist, schließt sich fiir Weber, Tocqueville und Rousseau an die Frage nach der unmittelbaren "Qualität"5 des Menschen unter diesen Umständen die Sorge um eine Möglichkeit der prinzipiellen Rehabilitierung von menschlicher Freiheit in der modernen Zeit an. Ihre Wissenschaft also kommt im Analytischen nicht schon zu ihrem Ende, sondern beginnt eigentlich erst auf diesem Fundament: erst jetzt betreten alle drei tatsächlich gänzlich unpositivistisches, ureigen politikwissenschaftliches Terrain, weil es auf dieser zweiten Ebene nun um die Möglichkeit der "richtigen Lebensfiihrung"6 in einer modernen versklavenden Ordnung geht. 7 Jedem, gerade an der antiken, griechischen Philosophie geschulten Politikwissenschaftler wird sofort ins Auge springen, daß mit dieser Aussage zwei Vgl. Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie, Leipzig 1910. Detlev J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 30. 4 Weber, Zwischenbetrachtung, S. 571. 5 Vgl. ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 13. 6 Rousseau, Bekenntnisse, S. 582. 7 Vgl. W Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 97f. 2

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I. Die Suche nach der Freiheit im eisernen Zeitalter

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Kategorien der klassischen Staatslehre auseinanderdividiert werden, die doch eigentlich von Aristoteles bis zu den Naturrechtlern und noch hinein in John Stuart Mills8 Politikverständnis das Grundgerüst einer ganzen Wissenschaft abgegeben hatten: die Dichotomie von staatlicher Ordnung und individueller Lebensfiihrung. Auch wenn Jean-Jacques Rousseau im "Contrat Social" noch einmal den Versuch unternimmt, eine staatliche Ordnung theoretisch neu zu begründen, auch wenn sich gerade Max Weber gerade um die staatliche, fiir ihn: unumgänglich demokratische Neuordnung Deutschlands nach 1918 bemüht hat, ist fiir alle drei hier zur Diskussion stehenden politischen Denker die entscheidende politische Frage ihrer Zeit nicht länger diejenige traditionelle nach dem besten Staat, der die besten Bürger hervorbringt. Der moderne, bürokratische Anstaltsstaat kann als Ort der Freiheit nicht mehr in Frage kommen. Innerhalb von Webers "Staatssoziologie", wie sie Andreas Anter durchleuchtet hat, ist dafiir kein Raum mehr. 9 Aber dennoch bleibt die allen dreien gemeinsame kämpferische Frage nach einem freiheitlichen, bürgerlichen Leben innerhalb einer solchen Ordnung. 1918, gegen Ende des Krieges, ist diese fiir Weber vielleicht die entscheidenste überhaupt: "Wie ist es angesichtsdieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich" , fragt er, "irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn »individualistischen« Bewewgungsfreiheit zu retten?" 10 Wie sind unter der Herrschaft des Hochkapitalismus Demokratie und Freiheit, " ... alle diese Dinge überhaupt auf die Dauer »möglich«?" 11 In seinem Debattenbeitrag auf der Wiener Tagung des "Vereins fiir Sozialpolitik" 1909 hatte er die gleiche Frage gestellt - vielleicht noch nachdrücklicher: "Daß die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt - in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen (hervorgehoben vom Verf.) haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzeliierung der Seele, von dieser Allgemeinherrschaft bureaukratischer Lebensideale." 12 Ist es also möglich, um an das anfangliehe Bild anzuknüpfen, die "betrunkene Lokomotive" wieder auf die Gleise zu stellen, ohne daß die Havarie vorprogrammiert ist? Sind jene vielzitierten zerrissenen Bande noch einmal zu knüpfen? Was haben Weber, Tocqueville und Rousseau den Gefahren der neuen Hörigkeit und Knechtschaft "entgegenzusetzen"? 8 Vgl. John Stuart Mi/1, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie ( 1861 ), Paderbom 1971, insbesondere Kapitel 2, "Das Kriterium einer guten Regierungsform" und Kap. 3, "Repräsentativregierung als beste Regierungsform". 9 Vgl. A. Anter, S. 186f. 10 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 333. 11 Ders., Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 64. 12 Ders. , Diskussionsrede auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909, GASS, S. 414.

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B. Fonnen der Freiheit in der Modeme

Weber hat einmal die rhetorische Frage, Goethes Prometheus zitierend, in einem Brief an Karl Löwenstein gerichtet: "Wähntest Du etwa, ich solle das Leben hassen in Wüsten tlieh'n, weil nicht alle Blütenträume reiften?" 13 Und nie hat er daraus einen Hehl gemacht, daß er sie, auf sich bezogen, klar verneint hätte. Der Befund der Unabänderlichkeit der Modeme hat ihm, wie auch Rousseau und Tocqueville, nicht als Freibrief zur Untätigkeit gegolten. Politische Freiheit unter der modernen Herrschaft des Rationalismus und seinen Kindem Kapitalismus und Bürokratismus war fiir ihn möglich, doch mußte fiir sie hingebungsvoll gekämpft werden. In einem anderen Brief an Löwenstein vom 21. Oktober 1918, in dem Weber erneut auf den Prometheus anspielt, schrieb er: "Der Krieg ist nicht mehr zu gewinnen, das ist wahr. Aber da gibt es das Wort des Prometheus: »Meinst Du ... etc.?«", um selbst die Antwort zu geben: "Ich jedenfalls verzweifle nicht, wie andere es tun. Ein verloren gegangener Krieg ist kein Gottesgericht. Allerdings! Das Schicksal wurde herausgefordert und es hat sich gerächt. Aber das ist alles. Was kommt, hängt davon ab, ob die neuen Leute feste Hände haben." 14 Im sogenannten "Rußlandaufsatz" gut 13 Jahre vorher hatte er bereits ähnlich eindringlich politische Freiheit eingefordert. Angesichts der modernen russischen Entwicklung zu Demokratie und Individualismus dränge die Zeit, "zu wirken, so lange es Tag ist". 15 "Was jetzt, im Laufe der nächsten Generationen ... dem ... auf sich selbst gestellten Individuum der breiten Masse nicht als »Unveräußerliche« Persönlichkeits- und Freiheitssphäregewonnen wird, das wird ihm,- wenn die Welt erst einmal ökonomisch »voll« und intellektuell »Satt« ist, vielleicht niemals erobert werden, soweit unsere schwachen Augen in den undurchdringlichen Nebel der Zukunft der Menschheitsgeschichte zu dringen vermögen." 16 Auf der Suche nach der positiven Morphologie der Webersehen Freiheitslehre taucht zunächst die Frage nach dem Ort dieser Freiheitsidee auf. Wo hat Weber diese Idee niedergelegt, wo im Werk ist sie zu suchen? Die Suche nach ei13 Rene König/Johannes Winclcelmann (Hrsg.), Max Weber zum Gedächtnis, Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, 2. Auflage, Opladen 1985, S. 50. 14 Weber, Brief an Kar! Löwenstein vom 21. Oktober 1918, GPS, I. Auflage, München (Dreimasken-Verlag) 1921, S. 480. Weber hat die Aufforderung zu freiheitlichem Handeln in vielerlei Worte gekleidet und fllr sein Anliegen an den entscheidenden Stellen oft auch Goethe übernommen. "Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann, die Nacht tritt ein, wo niemand wirken kann." (ders., PE I, S. 167). Diese Zeilen Goethes aus dem "Westöstlichen Divan", Buch der Sprüche, wählte Weber, um den Charakterzug der protestantischen Ethik zu kennzeichnen, der den Menschen aus einer religiösen Motivation heraus zu einer "diesseitigen" aktiven Lebensführung antreibt. "Denn die »ewige Ruhe der Heiligen wirken die Werke dessen, der ihn gesandt hat, solange es Tag ist.«" (ebd., das eingeschobene Zitat hat Weber dem 9. Buch Johannes, Vers 4 entnommen.). 15 Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 65. 16 Ebd.

I. Die Suche nach der Freiheit im eisernen Zeitalter

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ner Antwort ist bis heute nicht unternommen worden und doch fuhrt sie nicht auf abwegiges Gelände, sondern paradoxerweise zu den prominentesten Aufsätzen, die Max Weber niedergeschrieben hat, denen zur "Protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus". In der vorliegenden Studie werden sie als Webers "Freiheitsbücher'' interpretiert, und es wird sich zeigen, warum sie sich wie sonst keine seiner Schriften gerade dafiir eigneten. Daß bis heute keine umfassendere Studie zur Freiheitsidee Webers vorliegt, rührt schlichtweg daher, daß Weber dort, wo man eine solche vermuten könnte, also in den politischen und soziologischen Werksteilen, dazu nicht viel bietet, bzw. sie dort, wie es Wolfgang J. Mornmsen ausgedrückt hat, "mit dem Gebot strikter Enthaltung von politischen Werturteilen umstellt hat". 17 Wenn sich die Frage nach dem Ort der Freiheit von den großen sozialen Gebilden, also Staat, Gesellschaft, Verbände etc. in Webers Denken wegverlagert, könnte sie in seinem Werk dann nicht dort wieder an die Oberfläche drängen, wo er sich um die so schwer greifbare Kategorie des "Seele des Menschen" müht? Sollte sich diese Vermutung als richtig erweisen, dann muß die Suche nach seiner Freiheitsidee eben in jenen Schriften Webers Erfolg versprechen, in denen er sich mit "psychologischspiritualistischen" Erscheinungskomplexen des modernen Menschen auseinander gesetzt hat- dies aber sind, in Webers eigenen Worten, die Texte zur Religionssoziologie und besonders die zur "Protestantischen Ethik". Auch Tocqueville, bei allem fiir ihn so bezeichnender Skepsis, hielt die Freiheit in der egalitaristischen Massendemokratie nicht fiir unmöglich. Wäre dem so, dann hätte er "das Werk nicht geschrieben, das man eben gelesen hat", gibt er im Schlußwort der "Demokratie von Amerika" 18 zu Protokoll. Die Bewegung zur Gleichheit, von Tocqueville durchaus erfasst als "furchterregendes Schauspiel", ist zwar "schon zu stark, als das sie aufzuhalten wäre; sie erfolgt aber noch nicht so rasch, daß man die Hoffnung auf ihre Lenkung aufgeben mUßte." Es seien, so Tocqueville, die "christlichen Völker'' Europas, die "ihr Geschick in ihren Händen" 19 hielten. In einem Brief vom 26. Dezember 1836 an seinen Freund Louis de Kergorlay schreibt er: "Indiquer s'il se peut aux hornrnes cornrnent faire pour echapper a Ia tyrannie et a l'abätardissement en devenant democratiques. Teile est je pense, l'idee generatedans laquelle peut se resumer mon Iivre et qui apparaitra a toutes les pages de celui que j'ecris en ce moment. " 2° Kurz und bündig benennt er damit das Hauptziel seines 1835 im ersten Band erschienen Werkes "Über die Demokratie in Amerika", als eine Schrift,

17 Vgl. W. J. Mommsen, Einleitung, in: Ders./W. Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 20. 18 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 353f. 19 Ders., ÜdDiA I, S. 9. 20 Ders., Briefan Louis de Kergorlay vom 26. Dezember 1836, OC, Band XIII. I., S. 431f.

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

deren Thema die Knechtschaft, dessen Ziel jedoch die Restituierung politischfreiheitlichen Handeins im Frankreich der Juli-Monarchie ist. Tocqueville, der allzu häufig auf die Gefahren der modernen Entwicklung hingewiesen hat, glaubt also trotz aller Widrigkeiten an eine Chance der Freiheit in der Modeme. Was er im Juni 1835 an John Stuart Mill schreibt, trifft seine Einstellung gegenüber den konkreten Verhältnissen am besten: "Je ne Ia (d.i. Ia Revolution Democratique, der Verf.) regarde pas du meme oeil que les israelites, regardaient Ia terre promise."21 Die Modeme - ob noch die "Volksherrschaft" anbahnend oder schon demokratisch verfasst - allen dreien, nicht nur Tocqueville, ist sie nicht das "gelobte Land", ihr fehle dafiir, Tocqueville zufolge, der edle, sittliche, auch kraftvoll emotionale Zug der Aristokratie. Für ihn ist die Demokratie "groß geworden, wie jene vaterlosen Kinder, die in der Straße unserer Städte ohne Ersatz aufwuchsen und die Gesellschaft nur aus ihren Lasten und aus ihrem Elend kennen'm, schreibt er. Allein, wenn er von der Demokratie als einem "Werk der Vorsehung"23 spricht, so redet er damitjedoch nicht etwa einem alles durchdringenden Emanatismus göttlicher Ideen das Wort. Im Gegenteil: Dieses "Werk der Vorsehung" verbietet es gerade, die Hände in den Schoß zu legen. Für Tocqueville ist göttliche Bestimmtheit nichts anderes als Synonym fiir eine unausweichliche historische Entwicklung, die dem Menschen jedoch genügend Handlungsspielräume freihält, um dieser Entwicklung, weberianisch gewendet, "etwas entgegenzusetzen".24 Es ist wiederum Tocquevilles Freund und über weite Strecken auch geistiger Wegbegleiter John Stuart Mill, der diesen Zug im Tocquevilleschen Freiheitsbegriff erfaßt hat. Das Motiv des "reißenden Stromes" aufgreifend, schreibt er in der bereits erwähnten Rezension der "Demokratie in Amerika": "Der Mensch kann den Strom nicht zu seiner Quelle zurückleiten, aber es hängt von ihm ab, ob dessen Wasser seine Felder befruchten oder verwüsten sollen."25 Tocqueville hängt der Überzeugung an, daß es das Gebot jener Unabänderlichkeit ist, sich "als Freunde der Gleichheit''26 zu erweisen. So ist es zu verstehen, wenn er schließlich formuliert: "Ich bin kein Gegner der Demokratie; auch diese Gesellschaftsform ist groß und stimmt mit dem Willen Gottes überein, wenn die Freiheit in ihr nicht fehlt.'m Er votiert aus

21 22

Ders., Briefan John Stuart Mill, Juni 1835, OC, Bd. VI. S. 294. Ders., ÜdDiA I, S. 10.

Ebd., S. 8. Weber, Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins flir Sozialpolitik, S. 414. 25 John Stuart Mill, Alexis de Tocqueville über die Demokratie in Amerika (1835), in: Ders., Gesammelte Werke, Band II, Vermischte Schriften politischen, philosophischen und historischen Inhalts, 2. Teilband, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1875, Aalen 1968, s. 5. 26 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 346. 27 Ders., OC, Bd. VI, S. 406f, übersetzt in: A. Salomon, S. 232. Vgl. auch Tocquevilles Bekenntnis zur Demokratie in seinen Erinnerungen, ebd., S. 165f. 23

24

I. Die Suche nach der Freiheit im eisernen Zeitalter

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Gründen ihrer Unabwendbarkeit, aber auch ihrer Chancen fiir diese Staatsforrn28, ihre Gefahren sind ihm bei allen Widerständen überwindbare. 29 Das Tocquevillesche Grundproblem ist also nicht eine der Demokratie a priori innewohnende grundsätzliche Illegitimität, sondern die politische Unfertigkeit der Bürger in ihr, das Problem also, " ... daß sich die demokratische Revolution in einem Gesellschaftskörper vollzog, ohne daß in den Gesetzen, Gedanken, Gewohnheiten und Sitten, die Veränderung eintrat, die notwendig gewesen wäre, um diese Revolution fruchtbar zu machen. Auf diese Weise erhielten wir die Demokratie, doch ohne das, was ihre Laster mildem und ihre natürliche Vorteile begünstigen muß; während wir bereits die Übel sehen, wissen wir nichts von den Segnungen, die sie bringen kann."30 Seine Sorge gilt nicht so sehr der vergangeneo Regierungsform und ihrer ständisch geordneten Gesellschaftsstruktur, oder wie er selbst ausfilhrt, "nicht dem Wiederaufbau einer aristokratischen Gesellschaft", sondern dem Problem, aus dem Schoß der demokratischen Gesellschaft, in der Gott uns leben heißt, die Freiheit hervorgehen zu lassen"31 • Mit Fug und Recht kann dies als der zentrale Satz im gesamten Werk Tocquevilles gelten, sucht man nach Absicht und Zielrichtung seines Fragens32, und gleichzeitig als das uneingeschränkt geteilte politisch-philosophische Credo sowohl Rousseaus als auch Webers. Jean-Jacques Rousseau vereinigt ebenso beides: eine schonungslose Destruktion aller Illusionen des modernen Zeitalters und eine neu konstituierte praktische Freiheitsidee. Es ist dabei kein Zufall, daß seine Idee des Gründungsakts des "Contrat Social" als eines sittlichen Übertritts einer bloßen bindungslosen "agregation" hin zu einer sittlich durchwirkten politischen "association" nicht auf der Insel Utopia angesiedelt ist, sondern mitten im krisengeschüttelten Europa, gerade unter all den Bedingungen und innerhalb der Zuständlichkeilen der Moderne. Und es wird zu zeigen sein, daß selbst Rousseaus Musterzögling Emile seine ersten Lebensjahre zwar fernab der Gesellschaft verbringen soll, um danach gerüstet seinen Weg zurück in ihre Mitte anzutreten. Damit paßt zusammen, daß auch der "Contrat Social" - wiewohl eine Schrift, die genauso Auskunft über das Wesen und grundsätzlichen Ideen eines Staates geben will - nicht nur als eine im Grunde genommen in luftleerem Raum stehende, sich lediglich in die akademisch-philosophische Auseinandersetzung 28 Ders., ÜdDiA II, S. 351. 29 Ebd., S. 354.

Ders., ÜdDiA I, S. 10. Ders., ÜdDiA II, S. 346. 32 Tocquevilles großes Freiheitskapitel ist das siebente des vierten Teils, vgl. ders., ÜdDiA II, S. 346fT. Jürgen Feldhoff hat wies darauf hin, daß Tocquevilles "zentrales Thema" im zweiten Band der "Demokratie in Amerika" "der Zusammenhang zwischen der nivellierten Sozialstruktur und den Formen politischer Herrschaft'· (ders., S. 16f.) war und gleichzeitig die Frage nach der Freiheit unter den Bedingungen der Gleichheit. 30 31

10 Hecht

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

um die zeitgenössische, naturrechtliche Legitimitätsdiskussion einordnende Schrift zu begreifen ist, sondern darüber hinaus auch den konkreten Erfordernissen eines wirklichkeitsflihigen Entwurfes Genüge leisten will und als solche ganz konkrete, praktische Wurzeln hatte, die noch weit tiefer als bis zu den staatstheoretischen "Principes du droit politique" reichen: hinein bis in Rousseaus praktische Antworten auf die Lösung des Genfer Verfassungsproblems. Hans Buchheim hat in seinem Rousseau-Beitrag darauf abgehoben, wie bereits in der Anlage der Einzeltexte des "Contrat Social" die gedankliche Dichotomie von Ideen und Prinzipien des Staats einerseits, aber auch tatsächlichen politischen Einrichtungen andererseits unaufgelöst nebeneinander zum Tragen kommt. 33 Für das hier gestellte Problem gibt dabei ein anderes Dokument aus Rousseaus Feder den Aufschluß: Gerade auch die fraglos konkretpolitischen Ideen der "Briefe vom Berge", die so unzweideutig Rousseaus Gedanken des "Contrat Social" wieder aufnehmen, dürfen als Nachweis dafür gelten, daß schon dieser nicht oder wenigstens nicht einseitig als reine Staatstheorie oder bloß philosophisch-abstrakte Studie einer radikalen Gründungsidee bürgerlichen Rechts angelegt war, sondern genauso als eine um die Freiheit34 in seiner Vaterstadt besorgte, praktische Schrift und gleichzeitig mahnende Erinnerung Rousseaus an die Politiker Genfs, ihre verflilschte und entstellte Verfassungswirklichkeit wieder dem Zustand anzupassen, der einst in Übereinstimmung mit der Grundidee der Genfer Republik gegolten hatte 35, nun jedoch in den Machtkämpfen rivalisierender Eliten aufs Spiel gesetzt wurde: jenes Staatsvorbild eines auf der politischen und rechtlichen Gleichheit der Mitglieder so un-ständisch und republikanisch wie möglich gegliederten Gemeinwesens.36 33 Vgl. Hans Buchheim, Zur Interpretation von Rousseaus .,Du Contrat Social", in: Der Staat, Zeitschrift die flir Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, 35. Band, Heft 3. 1996. S. 389-409. 34 Vgl. Rousseau, Siebenter Brief, Briefe vom Berge. S. 173. 35 Auch in diesen republikanischen Kontext gehört jenes auf den ersten Blick von Rousseau so überzogen polemisierende, in seiner zum Vorschein kommenden Grundhaltung schwer nachzuvollziehende Textstück, der "Lettre a d' Alembert". John Hope Mason ist beizupflichten. daß auch diese Schrift nicht genuin kulturkritisch angelegt, sondern eine politische. von einem .,republikanischen Ideal" aus gedachte war, zumal auch sie von der Sorge um den inneren Zustand des Genfer Gemeinwesens inspiriert war und die Befürchtung Rousseaus ausdrückte, ein französisches Theater in seiner Heimatstadt zeitige negative Folgen, weil es in der Bevölkerung "would itself undermine the will to act." Vgl. ders .. The Lettre a d'Alembert and its place in Rousseau's thought, in: M. Hobson!J. T. A. Leigh/R. Wok/er (Hrsg.), S. 267. Vgl. auch M. Hulliung, S. 129. 36 Gerade die von ihm in ihrem Recht so beschworene Kategorie des unveräußerlichen Souveräns, also des Volkes, gibt, neben dem CS, auch in Rousseaus Kritik der Genfer Zustände den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt seines Denkens ab: Wo er diese nicht mehr im Mittelpunkt sieht als "Prinzip, woraus alles herfließt'' (ders. , Siebenter Brief, S. 169), sieht er wahre Freiheit nicht verwirklicht. Die Tatsache, daß der CS etwa im sechsten und siebenten Brief immer wieder inhaltlich in die so praktischen Ausführungen Rousseaus zur Genfer Lage wie selbstverständlich hinein verquickt wird,

I. Die Suche nach der Freiheit im eisernen Zeitalter

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Daß Rousseau seinen "Contrat Social" so angewandt wissen wollte, hat er selber im sechsten Brief seiner "Briefe vom Berge" in aller Deutlichkeit klargemacht "Dies ist die Geschichte der Genfer Regierungsform'm, schreibt er darin Uber den "Contrat Social". Und er wundert sich umso mehr über die Tatsache, daß die Genfer Behörden es den Pariser gleichtaten und seine Schrift verbrannten, hatte er doch nichts anderes getan, als die ursprUngliehe Verfassung Genfs beschrieben: "Mein Herr", schreibt er an Monsieur Tronchin voller Überzeugung, "hätte ich bloß ein System gemacht, so geben Sie gewiß zu, daß man gar nichts darüber gesagt hätte. Man hätte sich damit begnügt, den Gesellschaftsvertrag mit Platons Staat, mit der Utopia und der Histoire des Sivarambes ins Land der Chimären zu verweisen. Allein, ich schildere einen wirklich vorhandenen Gegenstand, und man wollte, daß dieser Gegenstand sein Aussehen verändern sollte. Mein Buch zeugte gegen den Anschlag, den zu unternehmen man im Begriff stand, und dies konnte man mir nicht verzeihen."38 Jean-Jacques Rousseau filhrt im "Contrat Social" einen politischen SollZustand vor, das ist die folgenreiche Quintessenz, der zwar in einem zukünftigen Staat zur Verwirklichung gelangen soll, der filr Rousseau aber auch historisch-konkret in Genf vorfindlieh ist. Rousseau wollte nicht nur, wo er es explizit äußerte, in Polen oder Korsika etwa, seine Ideen reformerisch umgesetzt wissen, sondern auch in Genf eine absterbende, demokratische Tradition wiederbeleben und mit neuem Geist erfilllen, wie auch prinzipiell gelten darf, daß seine Staatstheorie kein realitätsfernes exklusives philosophisches Spiel um Balancen, Kräfte und Gleichgewichte ist, sondern Ausdruck der Überzeugung einer prinzipiellen praktischen Umsetzung entworfener Ideen. Trotz aller gegenteiliger Beteuerungen zu Beginn des ersten Buches des "Contrat Social" darf Rousseau durchaus in seinem Selbstverständnis als Nomothet, als Gesetzgeber gelten, der, wie Roger D. Masters überzeugend dargelegt hat, Prinzipien entwirft, damit sie von Staatsmännern tatsächlich umgesetzt werden39; zugleich auch als ein politischer Denker, der Antworten auf seine ihn umgebende politische Gegenwart gab, nicht nur auf die Frage, "welches der jetzige Zustand der Republik ist", sondern auch als politischer Ratgeber auf diejenige, "was ihre Bürger jetzt tun sollen?"40 Wenn er beinahe durchgängig im Text des "Contrat Social" vom Sollen der am politischen Prozeß Beteiligten spricht, so tut er es genau in diesem Sinne. Das auch ist der Grund dafilr, warum sich auch Rousseau als ein Denker eignet, der noch inmitten von aller knechtenden Illegitimität ist ein weiterer Beleg daflir, wie selbstverständlich Rousseau von der praktischen Bezogenheit seiner "Prinzipien" ausging. 37 Ders., Briefe vom Berge, Siebenter Brief, S. 149. 38 Ebd., S. 149f 39 V gl. Roger D. Masters, S. 348 und 310. 40 Rousseau, Briefe vom Berge, Siebenter Brief, S. 157. 10*

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

eine konkrete praktische Freiheitslehre verfochten hat und diese nicht etwa von vomherein angesichts des so hoffuungslos "verderbten" Zustands der Gesellschaft, in der er lebt, dispensierte. Inmitten des Elends und der Ungleichheit, das ist seine eigentliche Botschaft, wie er sie in seinem Traktat zur politischen Ökonomie schildert, kennt er nur ein effizientes Gegenmittel: "Das Vaterland kann nicht ohne Freiheit, noch die Freiheit ohne Tugend, noch die Tugend ohne den Bürger Bestand haben; ihr werdet alles haben, wenn ihr Bürger bildet, tut ihr es nicht, werdet ihr nur elende Sklaven haben, angefangen bei den Staatsoberhäuptem."41 Freiheit ist fiir ihn die "edelste aller menschlichen Vennögen", ein "kostbares Geschenk Gottes". Die Aufgabe ihrer Verwirklichung steht fortan gleichsam als Antidot zur knechtenden Illegitimität im Zentrum der Rousseauschen Gedankenflihrung, sie wird zur entscheidenden Frage, an der sich das Schicksal des modernen Menschen entscheidet. Der Rousseausche Weg in die Freiheit führt nicht "retour a Ia nature", sondern zurück zu dem naturgemäßen wahren Wesen des Menschen. Weder Weber noch Tocqueville und Rousseau waren "wirklichkeitslos"42 . Daß alle drei - um mit Otto Vossler zu sprechen auf einem Werk der "Zerstörung" und des "Protests" ihren "Neubau" einer freiheitlichen Idee errichten43 , ist gerade der entscheidende Grundpfeiler ihrer Lehre, der ihr spezifisches Grundverständnis erst so unnachahmlich charakterisiert.44 Auf dem Weg zur Beantwortung der Frage nach der konkreten Beschaffenheit ihrer Freiheitslehre erweist es sich als hilfreich, zunächst die Frage ins Zentrum zu rücken, ob Weber, Tocqueville und Rousseau in ihrer Zeit noch konkret-historische, politische Freiheitsmodelle vorgefunden haben, die es lohnt, sie auf ihre praktischen Qualitäten fiir die Gegenwart zu durchleuchten. 41 Ders., Aüdpo!Ök., S. 245. 42 Vgl. Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, MUnchen, London, New York, Paris 1992. S. 17. 43 Vgl. 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 156f. 44 Einer ähnlichen Zweiteilung unterzog Roger D. Masters seinen Gegenstand. Rousseaus Lehre ist keinesfalls ausschließlich negativ, schreibt er (ders., S. 258): Dem ersten Teil seiner großen Untersuchung mit dem Titel ,.The Limits of Politics'· folgt der zweite, der 0. Vosslers "Neuautbau" korrespondiert; "The Possibilities of Politics". Nicht wie Bertrand Jouvenel sieht er Rousseau als ,.Evolutioniste Pessimiste" (vgl. B. Jouvenel, Rousseau et Ia Philosophie Politique, Paris 1965, S. 1-19), sondern betont, "Rousseau did not analyze the state of nature to induce men to universal quietism, but rather to provide a criterion of judgement that would not, at the same time, impel men to actions doomed to failure." (R. D. Masters, S. 416). Im Fall Tocquevilles schreibt H. Mitchell: "He contrasted the "illness" of the revolutionary belief in total selftransformation with the "illness'· ofthe postrevolutionary belief in the futility ofpolitical will and virtue, and rejected both the false expectations ofthe first and the self-indulgent nihilism of the second." (H. Mitchell, S. 253). Für Weber hat diese das gesamte Werk durchziehende Dualität zuletzt wieder Peter Breiner betont: "lt is, indeed, one of the major strengths of Weber's political theory that he combines his political ethics - his ethics ofresponsibility and conviction- with a politcal sociology." (vgl. P. Breiner, Max Weberand democratic politics. S. 6).

li. Orte freiheitlicher Lebensführung

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II. Orte freiheitlicher Lebensrührung: Die Schweizer Kantonalrepubliken und die neuenglischen Staaten Nordamerikas In seinem "Entwurf einer Verfassung fiir Korsika" äußerte Jean-Jacques Rousseau harte Kritik an der Schweiz und der inneren Verfassung, in der sie sich in seinen Tagen befand. Er, der drei Jahre vor Abfassung dieser Schrift zunächst aus Genf und dann auch von Berner Boden vertrieben worden war, beklagte, wie in einem einst freien Volk die eigenen Truppen, die diese Freiheit hart erstritten hatten, von fremden Fürsten als Söldner in den Dienst genommen wurden: Die so "tapferen Männer, die ihre Freiheit so wohl verteidigt hatten", seien zu "Unterdrückern der Freiheit anderer" geworden, als sie "sich gegen Geldeswert der Tugenden entäußerten" und gar "zu Männern geworden sind, die man um filnf Heller erwerben kann, so wie man die Franzosen um vier Heller erwerben kann." Er sprach davon, daß auch hier, in der geliebten Schweiz, das "müßige Leben ... die Sittenverderbnis eingefilhrt" habe, die gegenseitige Abhängigkeit ins Werk gesetzt wurde, mit einem Wort, sich jene Verfallsgeschichte abspielte, wie er sie in all ihren Topoi in seinen theoretischzivilisatorisch verfahrenden "Discourses" vorgefiihrt hatte. "Die Liebe zur Freiheit ist in allen Herzen erloschen und hat ihren Platz der Liebe zum Geld allein eingeräumt; indem alle Empfindungen, welche die Seele mit Spannkraft erfiillen, erstickt worden sind, gibt es nirgendwo mehr Standhaftigkeit im Betragen noch Nachdruck in den Beschlüssen. Einst gebot die arme Schweiz über Frankreich; nun erbebt die reiche Schweiz vor der gerunzelten Stirn eines französischen Ministers."45 In seinen zahlreichen Ausruhrungen zur Schweiz kommt Rousseau immer wieder zu solchen eindeutigen Urteilen. Es ist jedoch auffiillig, daß er sie sämtlich flillte, nachdem zum einen die "Negatifs" im Genfer Verfassungskonflikt die Oberhand gewonnen hatten und sich das Blatt in der Republik politisch immer stärker in Richtung einer Oligarchie des ortansässigen Pariziats gewendet und er zum anderen mit dem Jahr 1762 endgültig seinen Bruch mit Genfbesiegelt hatte. "Sklaven einer willkürlichen Macht"46 waren ihm die Genfer Bürger seither, und es versteht sich von selbst, daß Rousseau im Genf, wie es Jean Robert Tranehin in seinen "Briefen vom Lande" so entschieden verteidigte, wenig Anzeichen lebendiger Freiheit zu finden vermochte. 47 Trotzdem sei hier die These aufgestellt, daß für Rousseau Genf und gerade die Schweizer Kantonalrepubliken diejenigen Stätten der Freiheit waren, denen er zeit seines Lebens voller Bewunderung gegenüber gestanden hatte. 48 Das Rousseau, Entwurf einer Verfassung fiir Korsika, S. 526. Ders., Briefe vom Berge, Siebenter Brief, S. 181. 47 Vgl. ebd., S. 157. 48 Die bei Rousseau häutig anzutreffende Hin- und Hergerissenheit zwischen Frankreich und der Schweiz, zwischen der "germanisch"-mittelalterlichen, städtischen Republikidee und seiner eigenen doch eher romanischen Lebens- und Geistesart könnte seit 45

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

Vorwort "An die Republik zu Genf' des "Deuxieme Discours" gibt über die unverdrossene Hochachtung gegenüber seiner Vaterstadt den meisten Aufschluß. An gleicher Stelle widmete er die gesamte Schrift seinen verehrten Genfern, einem Volk, "das unter allen Völkern der Erde aus der Gesellschaft die größten Vorteile zu ziehen und den Mißbräuchen am geschicktesten vorgebeugt zu haben scheint"49• Er schwelgt in den wärmsten Elogien über die politischrepublikanischen Verhältnisse in Genf, hier habe er "die besten Maximen ..., die von der gesunden Vernunft dem Stifter einer Regierung vorgeschrieben werden ... wirklich im Schwange angetroffen". 50 Das Glück der Genfer sei gemacht, ihre "Verfassung ist vortreftlich" 51 , die Stadt solle als "eine solche Republik, die so glücklich und so weise angelegt ist", "zur Glückseligkeit ihrer BUrger und zum Muster fllr alle übrigen Völker" ewig dauern. Auch in der "Julie" ist es Genf, "das ich verherrlichen will."52 ln einem anderen Teil des Romans schreibt er: "Ich habe ... viele Einwände wider diesen Ort zu machen. Der wichtigste ist, daß ich Lust bekomme, hierzubleiben. Die Stadt ist reizend, die Einwohner sind gastfrei, die Sitten rechtschaffen, und die Freiheit, die ich vor allem liebe, scheint hier ihre Zuflucht genommen zu haben. Je mehr ich diesen kleinen Staat betrachte, desto schöner kommt es mir vor, ein Vaterland zu besitzen." 53 JeanJacques Rousseau - wenn auch nur in den Schriften, die er in den Jahren vor dem Bruch mit den Staatsoberen seiner Heimatstadt verfasst hatte - mußte nur auf seine geliebte Heimatstadt blicken, um ins Schwärmen zu kommen: "Rome n'est plus a Rome, elle est toute ouje suis", läßt er Frau von Orbe in der "Julie" ausrufen: "Warum denn nun aber Rom und immer wieder Rom? Laßt uns in Genfbleiben!"54 Die republikanische Verfassung des antiken Rom galt ihm als "die beste und dem Staat vorteilhafteste"55 Regierungsform, doch waren es Genf und die Schweizer Kantonalrepubliken in seiner Zeit, in denen er die höchsten und schönsten Festungen der Freiheit sah, die die damalige, vornehmlich ständisch-absolutistisch regierte Welt zu bieten hatte. Auch wenn seine Sicht immer sehr abgewogen war und zur Ambivalenz ein vertrautes Verhältnis hat, kommt Genf Rousseau schließlich doch als eine der "entzückendsten Städte dieser

Roger Francillons interessanter Arbeit zur "Histoire de Iitterature en Suisse romande",

Band 1, Du Moyen Age a 1815, Lausanne o. J. (1996) vielleicht aufgelöst werden. Die Studie sieht Rousseau im Kontext einer gleichsam unschweizerischen wie unfranzösischen Mentalität, die sich vielmehr aus einer erlebten Eigenständigkeil des "espace romande" der Schweiz nährte und noch immer nährt. 49 Rousseau, Vorwort zum DD, S. 167. 50 Ebd. SI Ebd. s. 172f. 52 Ders., Julie, S. 551. 53 Ders., Julie, Sechster Teil, Fünfter Briet: S. 692. 54 Ebd. 55 Ders. , Briefe vom Berge, Sechster Brief, S. 148.

II. Orte freiheitlicher Lebensführung

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Welt" vor, "seine Einwohner als die glücklichsten und klügsten Menschen", die er kennt. "Die Freiheit steht auf festem Grunde, die Regierung ist ruhig und unbesorgt, die Bürger sind aufgeklärt, unbeugsam und bescheiden, sie kennen ihre Rechte und verteidigen sie mutig... " 56 Wie schon fiir den Baron de Montesquieu war also fiir den Bürger JeanJacques Rousseau die Schweiz "das Urbild der Freiheit"57 • "Das glücklichste Volk der Welt", von dem er an prominenter Stelle im "Contrat Social" erzählt, sind Rousseau nicht wie dem Gros der zeitgenössischen Publizisten zuerst die Holländer oder die Engländer gewesen, sondern die Schweizer. 58 Auch wenn er hier die Sittenverderbnis fortschreiten sieht, scheint Rousseau doch die Eidgenossenschaft noch immer als Vorbild einer freiheitlichen inneren Verfassung eines Staates zu sein. Und es ist bezeichnend, daß ihm - dort, wo er die Möglichkeit nützt, als Nomothet aufzutreten, nämlich beim Nachdenken über die günstigste Gesetzgebung fiir Polen und Korsika - so häufig die Schweiz in den Sinn kommt, auch wenn er sich hin und wieder kritisch mit ihr auseinandersetzt Er schätzt die freiheitlichen VorzUge und zögert nicht, die vorbildlichen Gemeinwesen der Schweizer Konfi>deration modellhaft zu preisen. Nicht nur weil ihm "Berge, FlUsse, Wälder und Weiden", ja selbst die Wesensart der Korsen, also "die Billigkeit, die Menschlichkeit, die Redlichkeit" 59, Konsensflihigkeit und Kampfesmut, weiter die handwerklich-bäuerliche Struktur des Landes, seine Unabhängigkeit und Schlichtheit - ganz ohne die im ersten und zweiten "Discours" zivilisatorisch so verurteilten modernen Charakteristika des Eigennutzes und der Ungleichheit60 - so sehr an die Schweiz und die Schweizer erinnerten, sondern auch, weil ihm die Idee der schweizerisch-republikanischen 56 Ders., Brief an Louise-Marie-Madeleine Dupin, Korrespondenzen, S. 92. Neben Genf finden an einigen Stellen seines Werkes auch die anderen Schweizer Kantonalrepubliken und unter ihnen hauptsächlich Bem lobende Erwähnung. Im dritten Buch des "Contrat Social" etwa, im Rahmen seiner Betrachtungen über die Aristokratie, die republikanischen Senatsinstitutionen und den Wahlmodus der Regierungsmitglieder verweist Rousseau auf die schädliche Wirkung erbaristokratischer Senatsrekrutierungen, wobei er die Bemer Republik mit Kritik explizit verschont. Vielmehr erwähnt er dort lobend "die außerordentliche Weisheit ihres Senats", die dort im Senat waltet. Bem stelle, obwohl auch dort so verfahren werde, "eine sehr ehrenwerte ... Ausnahme dar." 57 Montesquieu, Lettres persanes, 136. Brief, S. 254. 58 Rousseaus Liebe zur Schweiz, die sich sicherlich auch durch die Ablehnung des so viel unbescheideneren Frankreich speiste, drückte sich dabei auch in seinem freilich nie realisiertem Vorhaben von 1754 aus, eine "Geschichte des Wallis'· zu schreiben. Vgl. auch eine weitere Textstelle aus dem PD, in dem er, die Eidgenossenschaft verherrlichend, Worte des höchsten Respektes wählte: "Ein Haufen armer Bergbewohner, deren ganze Begierde sich auf einige Schafsfelle beschränkte, demütigte den Österreichischen Stolz und bezwang das vermögende und gefürchtete Haus Burgund, vor welchem die europäischen Potentaten zitterten." (PD, S. 48). 59 Ders., Entwurf einer Verfassung fllr Korsika, S. 523. 60 Ebd., S. 524.

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

Freiheit so verdienstvoll erscheint, wirbt er fiir deren Nachahmung. Die Tugend der historischen Schweizer Freiheitskämpfer, "die unerschütterliche Standhaftigkeit, die Beharrlichkeit, ja, die Hartnäckigkeit, welche diese Schrecken verbreitenden Männern im Kampfe aufwiesen, entschlossen, im Kampfe zu sterben oder zu siegen und ohne auch nur den Gedanken zu hegen, ihr Leben von ihrer Freiheit zu trennen"; diese historische und auch noch in die Gegenwart fortwirkende Leistung der Schweizer hat Rousseau sehr beeindruckt. Ein "heroisches Volk" nennt er sie, wenn auch nur die Vorfahren seiner jetzigen Landsleute. Immerhin, die der Gegenwart sind in seinem Urteil noch "echte Freunde, tapfere Soldaten und gute Staatsbürger"61 • Wohl darum ruft er die Korsen auf: "Korsen, dies ist das Vorbild, dem ihr folgen müßt, um zu eurem ursprünglichen Zustand wieder zurückzufinden."62 Sicherlich wird diese Begeisterung durch die eingangs aufgefiihrte Kritik etwas abgemildert, doch ist die Beobachtung entscheidend, daß Rousseau im Grunde genommen nicht eine Freiheitsidee attackiert, sondern nur eine Situation, in der dieser von externen Faktoren Schaden zugefUgt worden ist. Bringt man also den bei Rousseau immer ideologisch vorherrschenden Koeffizienten der Verfallsgeschichte - und den seines persönlichen getrübten Verhältnisses zur Schweiz nach 1765 - in Abzug und reduziert ihn auf seine Grundaussage, bleibt darüber kein Zweifel. Einer vielleicht der stärksten Beweise, der diese These stützt, ist ein Brief Rousseaus aus seinem Exil in Mötiers an Charles-Fran~ois-Frederic de MontmorencyLuxembourg, dem Marshall de Luxembourg, vom 20. Januar 1763, in dem sich Rousseau frei von jeglichen ideologischen Zwängen, die ihm ansonsten seine Gedankensysteme im wissenschaftlichen Diskurs aufgezwungen hätten, über seine Liebe zur Schweiz auslassen kann: Er hege tiefe Sympathien fiir die "uralte Einfachheit"63 der Schweizer, fiihrt er dort aus, die Dezentralität der Schweiz findet seine Achtung als ein "Vorteil, den ihre Bewohner vielleicht als Unglück ansehen, den sie sich aber selbst zugute halten muß, den nichts ihr nehmen kann, der ohne jemandes Zutun das Fortschreiten des Luxus und der schlechten Sitten in Grenzen hält oder verzögert und der auf die Dauer den Verlust an Menschen wettmachen wird, die in andere Länder gehen. " 64 Dies alles sind Bemerkungen, die Rousseau aufrecht erhält, obwohl er zugleich den allgegenwärtigen negativen, vor allem französischen Einfluß auf die Sitten der Schweizer beklagt, wie dieser beginnt, die letzten Alpenregionen zu beherrschen. Dennoch, der positive Eindruck bleibt unerschüttert, und es ist nicht vermessen, eine Passage aus der Mitte dieses Briefes als Rousseaus Fazit zu interpretieren: "Diese bizarre Mischung hat etwas Belebendes, etwas Lebendi61 Rousseau, Brief an Charles-Fran,.ois-Frederic de Montmorency-Luxembourg, dem Marshall de Luxembourg vom 20. Januar 1763, Korrespondenzen, Nr. 2440, S. 242. 62 Ders., Entwurf einer Verfassung fllr Korsika, S. 525. 63 Ders., Brief an Montmorency, Korrespondenzen, Nr. 2440, S. 237. 64 Ebd., S. 238f.

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ges an sich, das Freiheit atmet und Wohlbehagen und das aus dem Land, in dem man dies antrifft, ein einzigartiges Schaustück macht, freilich nur filr Augen, die zu sehen vermögen. "65 Im Falle Tocquevilles und schließlich auch Max Webers hat Alt-Europaals Vor- und Urbild freiheitlicher Lebensführung mit Ausgang der Antike, spätestens mit dem Aufziehen der abendländischen Aufklärung ausgedient. Ihre Welten waren schon zu stark vom Durchbruch der modernen Massendemokratie geprägt, als daß sie die schweizerische kleinstaaterische Republikidee, die sogar dem "liberalen Imperialisten" (W. J. Mommsen) Weber einmal Sympathie abzutrotzen vennochte66, noch als tatsächliches politisch-konkretes Modell in Erwägung ziehen könnten. Am 2. April 1831 schifften sich Alexis de Tocqueville und sein Freund Gustave de Beaumont in Le Havre nach Amerika ein. Als sie am 9. Mai 1831 in New Port, Rhode Island von Bord gingen, stand ihnen eine lebensprägende Amerikareise bevor, die bis zum 20. Februar 1832 dauern sollte und die sie an alle wichtigen Orte der damaligen Vereinigten Staaten filhrte. 67 Offizieller Grund ihrer Reise war eine Enquete zum "Besserungsystem" in den amerikanischen Getangoissen gewesen68, um die sie selbst vorstellig geworden waren und die sie dann in Diensten der französischen Regierung durchführen sollten. Tatsächlich war diese Aktion nicht mehr als ein geschickter Vorwand, um an öffentliche Gelder filr ein Reisestipendium und in die Vorzüge einer in öffentlichem Auftrag stattfindenden Auslandreise zu gelangen, die ihrerseits sicher auch durch die Umstürze der Juli-Revolution motiviert gewesen sein dürfte. 73 Jahre später traten Max Weber, seine Frau Marianne und der gemeinsame Freund Ernst Troeltsch eine Reise mit gleichem Ziel an. 69 Der Anlaß von WeEbd., S. 238. Vgl. Weber, Über Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 289f. 67 Die Tocquevillesche Reise ist in mehreren Versuchen rekonstruiert worden. Zu erwähnen ist nach wie vor die Arbeit von G. W. Pierson aus dem Jahr 1938, daneben J. T. Schleifers Schrift aus dem Jahr 1980 und eine jüngere von Richard Reeves. (vgl. ders., Eine nordamerikanische Reise, Frankfurt am Main/Wien/Berlin 1984). 68 Vgl. Tocquevi/le, Amerikas Besserungssystem und dessen Anwendung aufEuropa (Auszüge), Berlin 1833. 69 Über die Webersehe Amerikareise geben neben den spärlichen Auszügen aus Marianne Webers Lebensbild weitere unveröffentlichte Amerika-Briefe von Max und Marianne Weber Auskunft, die nicht ins Lebensbild aufgenommen wurden und die sich im Nachlaß Deponat Weber-Schäfer in der Bayerischen Staatsbibliothek München befinden. Ansonsten bleibt es ein Forschungsdesiderat, einen detaillierten Reisebericht Webers nachzuzeichnen. Der einzige dem Verfasser bekannte Versuch einer Suche in Amerika nach Spuren, die Weber dort hinterlassen haben könnte, stammt aus dem Jahr 1987 von Irmgard Fikentscher, die im Auftrag der Kommission ftlr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in die USA reiste, um dort nach Briefen zu suchen, die Weber an Fritz Fallensteins Nachfahren nach Mount Airy in Virginia geschrieben haben soll. Aus dem der Max-Weber-Arbeitsstelle vorliegenden acht65

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

bers Reise war eine Einladung des deutschen Psychologen und HarvardProfessors Hans Münsterberg zum "World Congreß of Arts and Sciences", der im Rahmen der Weltausstelltung in St. Louis stattfinden und auf dem Weber über "Kapitalismus und Agrarverfassung" sprechen sollte. 70 Weber nahm die Einladung zum Anlaß, ebenfalls eine mehrmonatige Rundreise durch die USA zu untemehmen. 71 Aber ohne Zweifel wurden sowohl Tocqueville als auch Weber von ganz anderen als diesen formellen bzw. gesellschaftlichen Verpflichtungen veranlaßt, nach Amerika zu reisen. Es klang bereits oben an, daß Tocqueville das Funktionieren einer Demokratie als dem Zukunftsmodell filr Frankreich hatte kennenlernen wollen72, er wollte ins Innere des "homo democraticus" der neuen Welt blicken, um Nutzen und Anwendungsschlüsse filr sein Vaterland zu ziehen. "In Amerika", schrieb er,"... ist die Demokratie ihren eigenen Triebkräften überlassen.( ... ) Dort muß man sie beurteilen. Und filr wen wäre diese Studie aufschlußreicher und nutzbringender als filr uns, die wir, von einer unwiderstehlichen Bewegung täglich fortgerissen, wie Blinde vielleicht dem Despotismus, vielleicht der Republik, sicher aber einer demokratischen Gesellschaftsordnung entgegentreiben?"73 Genauso offenkundig ist, daß auch filr den so Amerika-begeisterten74 Max Weber, der schon als Fünfzehn- bzw. seitigen Schlußbericht vorn 18. Februar 1987 jedoch geht hervor, daß die Suche ergebnislos geblieben sei. 70 Vgl. Weber, Kapitalismus und Agrarverfassung, Vortrag in St. Louis 1904, Rückübersetzung von Hans Gerth, Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften, Bd. I 08, 1952, S. 431-452. 71 Es ist überaus interessant, daß sich Tocquevilles und Webers Reiserouten recht ähnlich waren. Aber es wäre wohl nicht mehr als Spekulation, für Webers Reiseplanung den Einfluß von Tocquevilles Route anzunehmen. Vielmehr dürfte der Grund für den ähnlichen Reiseverlauf in der Tatsache liegen, daß eine durchschnittliche Amerikareise eines Europäers im 19. Jahrhundert - und auch noch 1904 - in der Regel in New York ihren Anfang nahm, zum Ontario- oder Eriesee führte, von dort meist nach Chicago, dann den Missisippi hinunter nach New Orleans und über die Achse Colurnbia, Washington zurück zum Ausgangspunkt der Reise New York. 72 Vgl. Andre Jardin, Alexis de Tocqueville, Leben und Werk, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 88. 73 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 225. 74 Vgl. W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, S. 187f. Weber hatschon als Jugendlicher - ein ausgeprägtes Interesse flir amerikanische Themen entwikkelt, wobei er seine Amerikakenntnisse hauptsächlich über seinen Nenn-Onkel, den preußischen Altliberalen Friedrich Kapp bezogen hat (vgl. Weber, Jugendbriefe, S. 140142). Diese ausgiebige "amerikanische Erziehung", seine amerikanische "Ausbildung des Gemüts" (W. Hennis, ebd., S. 187f.) hat jedoch nicht nur Webers Charakterbildung nachhaltig geprägt, sondern, wie zu zeigen sein wird, auch seine politischen Ideen schwerwiegend beeinflußt. Von Kapp hat Weber nicht nur dessen deutsche Übersetzung der Autobiographie Benjamin Franklins von 1882 (dazu dessen "Works" (1840), Edition Jared Sparks, Chicago 1882 - wie in der PE angemerkt) intensiv zur Kenntnis genommen - auch wenn er im ersten Aufsatz, wie schon erwähnt, zentrale Passagen aus Franklins Werk fehlinterpretiert hat -, sondern auch dessen Schriften: die "Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika", Leipzig 1868, "Geschichte der Sklaverei in

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Sechzehnjähriger eine ihm von Friedrich Kapp zugeeignete "Geschichte der Vereinigten Staaten" las75 , St. Louis nicht mehr als ein willkommener Grund war, eine Reise zu unternehmen, die sich flir ihn aus ganz anderen Motivationen heraus angeboten hatte: Im Frühsommer 1904, also in den Monaten vor der Abreise, hatte Weber seine Studien zur "Protestantischen Ethik" aufgenommen. 76 Als das Schiffnach langer Seereise in New York vor der mächtigen Kulisse von Manhattans Wolkenkratzern angelegt hatte, konnte es Weber "kaum erwarten". Er "schießt" mit "weit ausholendem, elastischem Schritt" voran, um augenblicklich in das Geschäftsviertel der neuenglischen Metropole einzutauchen77, "wo sich die vermessenen Wohntürme zusammendrängen, und der »kapitalistische Geist« dieses Landes seine eindrücklichen Symbole geschaffen hat.'478 Webers brennende Neugier filr die moderne amerikanische Großstadt "mit Trambahn, mit Untergrundbahn, mit elektrischen und anderen Laternen, Schaufenstern, Konzert- und Restaurationssälen, Cafes, Schloten, Steinmassen,

Amerika", Harnburg 1861, sowie: "Aus und über Amerika- Thatsachen und Erlebnisse", Zwei Bände, Berlin 1876. Auch Webers profunde Beschäftigung mit William James und William E. Channing in Jugendzeiten gehört in diesen Zusammenhang (vgl. zum letzteren Weber, Jugendbriefe, S. 120 und 229). Eine andere frühe Begegnung mit Amerika dürfte Webers Lektüre von Gustav Schmollers Aufsatz "Über die nationalökonomische Entwicklung der USA 1860/65" gewesen sein (vgl. Weber, Jugendbriefe, S. 75.). Sein späteres Wissen über Gesellschaft und politisches System der Vereinigten Staaten von Amerika dagegen dürfte Weber hauptsächlich von Schriftstellern wie Maisei Ostrogorsky (vgl. ders., Democracy and the Organisation of Political Parties ( 1902), Band II, The United States, Chicago 1964), auf den Weber mehrfach, so beispielsweise in "Politik als Beruf' Bezug nimmt (vgl. Weber, GPS, S. 522), Gaetano Mosca (vgl. ders., Elementi de scienzia politica, Roma 1896) und wohl in erster Linie von James Bryce bezogen haben. Hauptsächlich in den Schriften zur "Protestantischen Ethik", aber auch im "Rußlandaufsatz" von 1906 und in verschiedenen Briefen, in denen er, oft an Robert Michels gewendet, über das amerikanische Parteiwesen spricht, bezieht sich Weber wiederholt auf den britischen Politiker und Staatsrechtler, dessen "bekanntes" zweihändiges Werk "The American Commonwealth" (deutscher Titel: "Amerika als Staat und Gesellschaft") in seinem Privatbesitz war und das er wohl als eine Art Einführung in das politische System der USA gelesen haben dürfte (vgl. Weber, Über die Russische Revolution von 1905, MWG 1/10, S. 133). Es ist naheliegend, daß es ihm auch als Vademecum seiner Amerikareise 1904 gedient hat. Aufschlußreich ist dabei, daß sich Bryces Standardwerk über weite Passagen als eine direkte geistige Auseinandersetzung mit Tocqueville und seiner Amerika-Kritik liest. Nachweisbar ist, daß Weber zumindest das Hauptwerk von James T. Bryce, The American Commonwealth, Band I und II, 2. überarbeitete Auflage, London und New York 1890, mehr als nur oberflächlich geläufig war. 75 Vgl. Lebensbild, S. 52. 76 Vgl. ebd., S. 292. In den USA besuchte er für diese Zwecke Haverford sowie Philadelphia, und "prüft die Bibliothek fiir seine Arbeit", weiter die Chicago University, die Universität von Boston, Harvard College und in New York die Columbia University (vgl. Lebensbild, S. 301-315). 77 Vgl. ebd., S. 293. 78 Ebd.

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und all dem wilden Tanz der Ton- und Farbimpressionen, den auf die Sexualphantasie einwirkenden Eindrücken und den Erfahrungen von Varianten der seelischen Konstitution, die auf das hungrige Brüten über allerhand scheinbar unerschöpfbare Möglichkeiten der Lebensfllhrung und des Glückes hinwirken'm, rührte von seinem lebensbestimmenden Forschungsinteresse her. Wie Tocqueville wollte er wissen, welche "Typen" Demokratie und Kapitalismus und Rationalismus im Sinne seines so spezifischen und gänzlich undarwinistischen "Auslese"-Begriffes begUnstigten80: In Amerika wollte er die "Seele" des kapitalistischen Menschen ausloten. Webers und Tocquevilles Amerikabild ist nicht einfach in schwarzen und weißen Farben zu malen. Es ist ein dialektisches, ein ambivalentes Bild - wenn auch mit klarer Präferenz -, und gerade in dieser Eigenschaft sind sich beider Entwürfe recht nahe. Für beide symbolisiert Amerika zunächst die benannten, die Moderne beherrschenden anti-traditionalistischen und anti-charismatischen Kultunnächte der Demokratie und des Kapitalismus bzw. Rationalismus in ihrer die menschliche Seele bedrückenden, freiheitsbedrohenden Dimension. Doch 79 Weber, Diskussionsrede zu Werner Sombarts Vortrag über Technik und Kultur (1910), GASS, S. 453. 80 Die Webersehen Begriffe der "Auslese" und der "Züchtung" haben immer wieder Widersprüche herausgefordert. Weber gebraucht diese termini, um das Hervorbringen eines jeweils ethisch repräsentativen Typus einer bestimmten Kulturepoche zu beschreiben. Es geht ihm um einen sozialen Ausleseprozeß, den er als "einen ohne sinnhafte Kampfabsicht gegeneinander stattfindenden Existenzkampf menschlicher Individuen" (ders., WuG, S. 20) versteht. Die Auslese wird bedingt und dominiert von einer jeweils herrschenden, sozial wirksamen, anonymen "Macht", wie sie etwa der Kapitalismus darstellt. Dieser etwa, so Weber in der PE I, erziehe und schaffe sich "im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte - Unternehmer und Arbeiter -, deren er bedare (ders., PE I, S. 45). "Auslese" bedeutet tur ihn die "Chance" eines Persönlichkeitstyps aufgrund bestimmter kultureller Konstellationen "zum herrschenden zu werden" (vgl. ders., Der Sinn der» Wertfreiheit« der soziologischen und der ökonomischen Wissenschaften, GAWL, S. 516), "den Sieg über andere qualitative Typen" (ders. , PE I, S. 45/46) davonzutragen. Webers Frage nach dem "erfolgreichen", sich durchsetzenden Menschentypus hat dabei nichts mit Sozialdarwinismus zu tun. Davon setzt er sich schon 1895 in seiner Freiburger Antrittsrede ab (vgl. ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaft, S. 11, Anmerkung 1). Was vielleicht so klingen mag, wird vor dem Hintergrund des Gesamtwerks zum Ausdruck von Webers bohrendem Interesse an dem Menschentyp, den die Moderne "ausgelesen" hat. Beispielgebend für dieses Interesse ist die "Methodische Einleitung", die Weber 1908 für eine "Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie" verfasst hat (vgl. ders., S. 1-60). Weber schreibt: "Es ist nun für diese Erhebung einer der entscheidenden Punkte, daß erstens festgestellt wird, welche Art von Arbeitern mit welcher Art von Qualitäten durch solche technischen Umwandlungen nach der einen Seite hin ausgeschaltet, nach der anderen gezüchtet werden ..." (ebd., S. 6). Im Ganzen also steht für Weber der Menschentyp im Vordergrund, und zwar im Hinblick auf die Art seiner Qualität, wie sie die Moderne entstehen ließ. Genau in diesem Sinn stellt Weber in Amerika die eigentlich Tocquevillesche Frage: "Welcher Typus Mensch wird von der Demokratie begünstigt?" (Lebensbild, S. 302).

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andererseits und in aller erster Linie versinnbildlicht ihnen Amerika auch die Chance des Entgehens aus dieser spezifisch modernen Gefahr, und wird damit zum Modell der Freiheit in der Modeme. Es wird gerade die Qualität von Menschen willentlich und fratemitär geschaffener freiheitlicher Spielräume in Amerika sein, die sowohl in Webers als auch in Tocquevilles Ideen den Gedanken der Mißgestalt eines "amerikanischen Monstrums" 81 , wie es Ferdinand Küroberger "in seinem geist- und giftsprühenden »amerikanischen Kulturbilde« des "Amerikamüden"82 illustriert, in ein insgesamt positiv besetztes Amerikabild überfUhren läßt. Dabei überrascht, wenn die negative Kritik am "Stammland der Monotonie"83 dennoch bei beiden Autoren häufig recht drastisch ausfiel. Für Tocqueville war Amerika, ganz allgemein gefasst, ein "Spiegel der modernen Gesellschaftsentwicklung"84 • "Ich gestehe", schreibt er in der Einleitung zur "Demokratie in Amerika", "in Amerika habe ich mehr als Amerika gesehen; ich habe dort ein Bild der Demokratie selbst, ihres Strebens, ihre Wesens, ihrer Vorurteile, ihrer Leidenschaften gesucht; ich wollte sie kennenlemen, und sei es auch bloß, um zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befiirchten haben."85 Ein echt Weberianischer Idealtypus also ist es, den Tocqueville vor allem dann im zweiten Band der "Demokratie in Amerika" in den Vereinigten Staaten ausmacht. 86 Hier ist Amerika, wenn auch nur zunächst, ungeschöntes Synonym fiir den selbstsüchtigen Materialismus, vereinzelnden Individualismus, apathischen Apolitismus und fiir die unehrenhafte Durchschnittlichkeit, die aristokratische Größe und leidenschaftliche Kraft nicht mehr kennt. Amerika steht in seinen dunklen Seiten fiir einen Gesellschaftszustand, in dem der aristokratische tugendhafte Freiheitsbegriff aus der öffentlichen Sphäre zurückgetreten ist und das nackte Selbstinteresse an seine Stelle. 81

H. White, S. 278.

Weber, PE I, S. 42. Vgl. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, Hinduismus und Buddhismus, S. 371, Anmerkung. 84 Heinz Rausch, Tocqueville, in: H.. Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Band II, München 1968, S. 220. 85 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 16. 86 Vgl. auch P. Lassman, S. 104. Den idealtypischen Charakter trägt vor allem der zweite Band der "Demokratie in Amerika". Jean-Ciaude Lamberti hat davon gesprochen, daß Tocqueville Amerika ,,zweimat' bereist hätte: Einmal mit Gustave de Beaumont 1831 und ein zweites Mal 1839/40 "im Geist", als er den zweiten Band verfasste (vgl. J.-C. Lamberti, Tocqueville et Ies deux democraties, Paris 1983). Im zweiten Band, so Lambertis These, sei eine wesentlich größere geistige Distanz Tocquevilles zu dem, was er wirklich gesehen hatte, spürbar. Zurecht hat daher auch G. W. Pierson geschrieben: "When this partwas written, the direct impressions ofhis transatlantic visit had begun to fade from his mind." (G. W. Pierson, S. 28). In der Tat hypostasiert Tocqueville im zweiten Band sehr stark aus realen Zuständen, und man ist geneigt zu sagen, er orientiere sich stellenweise eher an einem theoretischen Konstrukt einer demokratischdespotischen Zukunftsgesellschaft als am real existierenden Amerika, wie er es konkret vorgefunden hatte. 82 83

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In ähnlichem Duktus gehalten ist Webers Urteil: Amerika ist ihm"... das Gebiet der höchsten Entfesselung des seines religiös-ethischen Sinnes entkleideten Erwerbstrebens"87 und biete der "hochkapitalistischen Entwicklung den freiesten Raum"88. Das Fachbeamtenturn dehne sich "mit riesiger Geschwindigkeit"89 aus. Amerika gilt ihm als das Land, "wo( ... ) die Phantasie eines ganzen Volkes in die Richtung auf das rein quantitativ Große gelenkt ist"91\ es erscheint in seiner Sicht als Ausdruck entfesselten "kulturlosen" Wohlstandsstrebens, das sich sittlicher, qualitativer Werte entledigt hat, dem genau deswegen aber auch eine düstere Zukunft blühen könnte, nämlich der Rückfall in den von Thorstein Veblen skizzierten "benevolent feudalism" 91, dessen die Menschen versklavenden Zug Weber in der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus erkannt hat. ln Amerika suchten Weber und Tocqueville nach den tiefschilrfendstenSpuren der ihre Zeit bestimmenden Mächte. Weil filr beide Gleichheit und Demokratie, Rationalismus und Kapitalismus säkulare universalgeschichtliche Tendenzbegriffe sind, steht Amerika immer auch filr "die Zukunft" Europas92 : Weber und Tocqueville reisten nach Amerika, weil sie auf der Suche nach ihrer Zukunft bzw. der Zukunft des ., europäischen Menschentums "93 waren, dem sie selbst angehörten. Sie wollten beide, wie dies H. White fiir Tocqueville zuspitzt, "die Zukunft als Geschichte erfassen"94 • Tocqueville ftihrte selbst aus: "Ich trachtete danach, nicht anders, aber weiter zu schauen als die Parteien, und während diese sich mit dem nächsten Tag befassen, möchte ich an die Zukunft (hervorgehoben vom Verf.) denken."95

87 Weber, PE I, S. 188. 88 Ders., GARS I, S. 536. 89 Ders., Der Sozialismus, GASS, S. 496. Vgl. auch ders., WuG, S. 560: "Der Cha-

rakter eines nicht, wenigstens nicht im volltechnischen Sinn, bürokratischen Staatswesens, welchen die Vereinigten Staaten noch an sich tragen, weicht unvermeidlich auch formell allmählich der bürokratischen Struktur, je größer die Reibungsflächen nach außen und je dringlicher die Bedürfnisse nach Einheit der Verwaltung im Ionern werden.'· 90 Ders., PE I, S. 60. 91 Ders., Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 63. Vgl. dazu auch Thorstein Veblen, The Theory ofBusiness Enterprise, New York 1904. 92 Vgl. Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 63. 93 Ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 253. 94 H. White, S. 269. 95 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 19. Genauso wie die "Demokratie in Amerika" ein warnendes und erbauendes Werk über die antizipierte Zukunft Frankreichs ist, das Tocqueville an die Franzosen gerichtet hat, ist "Der alte Staat und die Revolution" ein Buch über Frankreich, das Auskunft geben sollte über eine bedrohliche Zukunft Europas.

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In seiner Aufsatzsammlung zu Politik, Gesellschaft und Geschichte bei Max Weber hat Wolfgang J. Mommsen behauptet, die Vereinigten Staaten hätten im Denken Webers niemals eine zentrale Rolle gespielt. 96 Wer sich um ein Verständnis von Webers Geistesentwicklung systematisch mUht, muß jedoch zu ganz anderen Schlüssen kommen. Zum einen sprechen die vielfach belegbaren Textstellen Webers eine andere Sprache, zum anderen war Weber nicht nur im geistigen Sinn "amerikanisch erzogen" und hatte den Wertekatalog Benjamin Franklins, aber auch den jener zweiten Generation der Pragmatisten, Ralph Waldo Emerson, William James und John Dewey97, fiir seine eigene Lebensfiihrung verinnerlicht; auch seine gesamte politische Lehre, also seine Überzeugungen vom freiheitlichen Handeln des Menschen in einer politischen Gemeinschaft gründen in Begriffen, die den "geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens"98 entstammen, wie sie sich verstreut Uber das gesamte Werk Benjamin Franklins finden. Die elementaren Überzeugungen, Lehren und pädagogischen Inhalte dieses frühen Pragmatismus finden allesamt Eingang in das Programm der Freiheitslehre Webers. Ein weiterer zentraler Punkt spricht gegen W. J. Mommsen: Webers Erkenntnis der "religiös-entkleideten" modernen Lebensfilhrung des Berufsmenschen, als einer vom kapitalistischen Geist inspirierten Lebensmethode, ist ihm - neben Martin Offenbachers Konfessionsstudie und anderen einfließenden Beobachtungen99 - wesentlich an den amerikanischen Verhältnissen aufgegangen, die filr ihn den am weitesten fortgeschrittenen modernen Kapitalismus schlechthin symbolisierten. Wenn Weber tatsächlich die "Entwicklung des Menschentums" "zentral interessierte", " ...welches durch das Zusammentreffen religiöser und ökonomischer Komponenten geschaffen wurde" 100, dann mußte Amerika in der Mitte seines Wissenschaftsprogramms stehen. Gerade dort konnte er die asketischen weltzugewandten Lebensfiihrungsmodelle der protestantischen Ethik vorfinden, die den Geist des Kapitalismus in ihrer vollsten Ausprägung hervorgebracht hatten: in Gestalt der nordamerikanischen puritanischen Sekten. "Ohne Zweifel", so Weber im ersten Aufsatz zur "Protestantischen Ethik", war "im Geburtslande Benjamin Franklins (Massachusetts) der »kapitalistische Geist« (in 96 Vgl. W. J. Mommsen, Max Weber: Politik, Gesellschaft, Geschichte, Frankfurt am Main 1974, S. 73. 97 Vgl. W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, S. 175f. 98 Vgl. E. Baumgarten, Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens, Band I sowie ders., Benjamin Franklin, Der Lehrmeister der amerikanischen Revolution, Frankfurt am Main 1936. 99 Vgl. Martin Offenbacher, Konfession und soziale Schichtung, Eine Studie über die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden, Tübingen und Leipzig 1900, und auch: Eberhard Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, I. Band, Straßburg 1892. 100 Weber, PE II, S. 303.

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unserem hier angenommenen Sinn) vor der »kapitalistischen Entwicklung«" 101 da. Im "Antikritischen Schlußwort zum "Geist" des Kapitalismus" 102 unterstrich er, wie zentral das Thema der psychologischen Wirkung religiöser Elemente auf die Lebensftlhrung ftlr das Verständnis der kapitalistisch durchgeistigten Gegenwart sei. Dabei kündigte er an, seine Arbeit in diese Richtung fortzusetzen. Daß dies" ... einen erneuten Aufenthalt in Amerika voraussetzt..." 103, war ftlr ihn eine Selbstverständlichkeit, zumal die "rationale Lebensfiihrung auf der Grundlage der Berufsidee" "aus dem Geist der christlichen Askese" 104 geboren sei und sich die "Wahlverwandtschaft" zwischen dem "Geist des Kapitalismus" und der "puritanischen Ethik" nirgendwo besser studieren ließe als in Amerika. Amerika ist fiir Weber der eigentliche Geburtsort des modernen, sich inzwischen von seinen "religiösen Stützen" emanzipiert habenden kapitalistischen Geistes als unmittelbarem Abkömmling der puritanischen ethisch-inspirierten Lebensmethodik. Deshalb ist es auch nicht zuflillig, daß Weber seine Ausfiihrungen zur protestantischen Ethik gleich zu Beginn seiner Arbeit mit Versatzstücken aus Benjamin Franklins "Advice to a young Tradesman" von 1748 spickt. 105 W. J. Mommsen muß offensichtlich der enorme kulturelle Symbolcharakter, aber auch die immense Kulturbedeutung des kulturellen Erscheinungskomplexes "Amerika" bei Weber entgangen sein: Weber reist mit der "Protestantischen Ethik" im Sinn nach Amerika. Er perzipiert die amerikanische Situation durch diese Brille. Amerikas Wirklichkeit, seine Gesellschaft und Religion, werden ftir ihn zum Prüfstein seines ersten Aufsatzes zur "Protestantischen Ethik", der ja erst die Problemlage seines Themas entwirft und erst nach Webers Amerikareise erscheint. Gleichzeitig gibt ihm Amerikas Gegenwart den denkbar "empirischsten" Anschauungsunterricht fUr einen dynamischen Kapitalismus, der bereits in eine Phase eingetreten ist, in der er "sich mit rein agonalen Leidenschaften" "assoziiert" 106 hat. Für dieses Stadium des rationalistischen Kapitalismus, das am Ende des zweiten großen Aufsatz zur "Berufsethik des asketischen Protestantismus" 107 in die berühmte Vision vom "Fachmenschen 101 102 103

Ders., PE I, S. 46. Vgl. ders., PE II, S. 283-345.

Ebd., S. 334.

Ders., GARS I, S. 202. 105 Ders., PE I, S. 40-42. 106 Ebd., S. 189. 107 Vgl. ebd., S. 115-278. Viel Detailwissen zum Innenleben und der Organisation verschiedener Sekten (etwa der Quäker- und Baptisten), das in diesen zweiten Aufsatz einfloß, hat Weber aus Amerika bezogen, sowohl aus Bibliotheksstudien als auch über direkte Reisebeobachtungen, wie sie dann in seinem "Sektenaufsatz" (vgl. ders., Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus ( 1906), PE I, S. 279-298) verarbeitet wurden. Der Aufsatz erschien zunächst in einer wesentlich kürzeren Version in der Frankfurter Zeitung am 13. und am 15. April 1906 (vgl. ders., "Kirchen" und "Sekten", Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. I 02, 13. April 1906, und: 104

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ohne Geist" und vom "Genußmenschen ohne Herz" mUndet, gilt das gleiche. Lawrence Scaff schreibt dazu: "The individua1s's attempt to ,justify" lifeactivity is either surrendered completely or ( ... ) reduced to the compulsions of "mundane passion"- the pursuit ofpleasure, entertainment, self-gratification, or (in a word) money. In these respects America became overwhelmingly important (hervorgehoben vom Verf.) for Weber, because its social order revealed the capitalist spirit's "highest rreedom and emancipation [ ... ]" today." 108 In Amerika rüstete sich Max Weber filr seinen zweiten Aufsatz zur "Berufsethik des asketischen Protestantismus" und auch für seinen 1906 erscheinenden "Sektenaufsatz". Es verwundert nicht, wenn Weber filr ein Beispiel extremster kapitalistischer Berechnung und Versachlichung, fiir sein großes Thema der wachsenden "Nichtethisierbarkeit" 109 des rationalistischen Zeitalters, nach Amerika blickt und das amerikanische System des "scientific management" als Illustrationsobjekt der "höchsten Triumphe" heranzieht, die eine auf der Disziplin des modernen kapitalistischen Betriebs "aufgebaute rationale Abrichtung und Einübung von Arbeitsleistungen ..." 110 erzielt. Dieses System habe "die letzten Konsequenzen der Mechanisierung und Disziplinierung des Betriebs" 111 gezogen, es gilt Weber als vorläufiger Endpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Moderner Kapitalismus ist filr Weber immer "westeuropäisch-amerikanischer" Kapitalismus. Die amerikanische Großstadt ist ihm Metapher der "modernen Wirklichkeit" 112 schlechthin. Für die Entfaltung des Kulturproblems der Moderne, so läßt sich zuspitzen, ist Amerika ftlr Weber oft explizit, fast immer implizit, Richtschnur der Auseinandersetzung und Bezugspunkt des Denkens. Trotzdem aber ist sowohl das Webersehe als auch das Tocquevillesche Amerikabild im Grunde genommen und trotz aller Kritik ein Bild der Freiheit. 113 Für "Kirchen" und "Sekten" (Schluß), Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. 104, 15. April 1906). Weber erweiterte den Aufsatz und veröffentlichte ihn im Juni 1906 in der "Christlichen Welt" (vgl. ders., "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt, 20. Jg., Nr. 24, Leipzig, 14. Juni 1906, Sp. 558-562 und: "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze, Teil 2, in: Die Christliche Welt. 20. Jg., Nr. 25, Leipzig, 21. Juni 1906, Sp. 577-583). Gekürzt wiedergegeben wurde er dann in dem von Joh. Winckelmann edierten Band: Max Weber. Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 1973, S. 382-397, aus dem auch hier zitiert wird. 108 L. A. Scaff, S. 90. 109 W. Hennis, Max Webers Fragestellung, S. I 03f. 110 Weber, WuG, S. 686. 111 Ebd. 112 Lebensbild, S. 300. 113 Daß Tocqueville "trotz vieler Vorbehalte" die Demokratie bejaht habe, sieht auch Jochen Schmidt und auch, daß die deutsche Rezeption diese Überzeugung traditionell vermittelt etwa über Nietzsches Tocqueville-Sicht - ausgeblendet hat, um Tocqueville einseitig als Diagnostiker der Gefahr kultureller Nivellierung vereinnehmen zu können (vgl. ders., Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur und Philo11 Hecht

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B. Formen der Freiheit in der Moderne

Weber und auch fiir Tocqueville überwiegt innerhalb der ambivalenten, antagonistischen Symbolik letztlich doch die freiheitliche Komponente. Bei Weber springt dies sehr schnell ins Auge. In der Beurteilung von Tocquevilles Amerikabild jedoch könnte man zögern, denn zu pauschal scheint hin und wieder seine Schelte auf die amerikanischen Zustände auszufallen. Doch dieser Eindruck trUgt: Nur sehr selten übt Tocqueville wirklich Kritik an amerikanischen Zuständen, viel öfter dagegen attackiert er, direkt und indirekt, die Demokratie, wenn sie noch nicht, wie in Frankreich, "amerikanisch" gemeistert ist und nur ihre Schattenseiten zum Vorschein bringt. Was gerade die Vereinigten Staaten an freiheitlichen Räumen geschaffen haben, ist Tocqueville nicht entgangen und wird zum Anknüpfungspunkt seiner Analyse. In den Vereinigten Staaten von Amerika, so ist Tocqueville klargeworden, haben "die Amerikaner große und erfolgreiche Anstrengungen unternommen(...), um die Schwächen des menschlichen Herzens zu bekämpfen und die natürlichen Mängel der Demokratie zu beheben." 114 "Obwohl der Wunsch nach Erwerb von Diesseitsgiltern die vorherrschende Leidenschaft der Amerikaner ist", gebe es "Augenblicke des Nachlassens, in denen ihre Seele plötzlich die materiellen Fesseln, die sie festhalten, zu zerreißen und stUrmisch gen Himmel zu entfliehen scheint." 115 Diese Zeilen Tocquevilles aus der "Demokratie in Amerika" haben Schlüsselcharakter - und zwar in zweifacher Hinsicht: Gerade inmitten einer neuen Tyrannis der modernen Demokratie macht Tocqueville "Erhebungen der Seelen" aus. Der zweite Aspekt: Tocqueville erkennt diese Freiheitsformen in der Knechtschaft als das spezifisch amerikanische Element der Demokratie. In seiner französischen Heimat herrschen in der Gleichheit unfreiheitliehe Zustände, hier, in Amerika, werden Formen der Freiheit trotz Materialismus und privatistischem Individualismus bewahrt. Bei Max Weber finden sich diese beiden Aspekte der Amerikawahrnehmung genauso. Zwar gilt Amerika auch ihm als materialistisches, "entgeistigtes" Land, als die Heimat des "Fach- und Genußmenschen" ohne Geist und Herz,

sophie und Politik 1750-1945, Band 2, 2. Auflage, Dannstadt 1988, S. 136). Der wohl eindrücklichste Beweis von Tocquevilles Bekenntnis zur Demokratie findet sich in seiner "Correspondance anglaise" in einem Briefvom 13. Juni 1835 an John Stuart Mill. Dort heißt es: "Alles, was ich von den englischen Demokraten sehe, veranlaßt mich dazu ... zu glauben, daß ihr Ziel ... das richtige Ziel ist, welches die Freunde der Demokratie anstreben müssen. Ihr letztliches Ziel scheint mir tatsächlich zu sein, die Bürger in die Lage zu versetzen zu regieren und ihnen auch die Fähigkeit dazu zu vermitteln. Obgleich ihren Prinzipien treu, erheben sie nicht den Anspruch, das Volk auf die ihnen geeignet erscheinende Weise zu seinem Glück zu zwingen, sondern sie wollen es in die Lage versetzen, diesen Weg selbst zu erkennen und dadurch entsprechend zu handeln. Ich selbst bin in diesem Sinne Demokrat." (ders., OC, Band VI, Paris 1955, S. 293fT., übersetzt nach A. Jardin, Alexis de Tocqueville, Leben und Werk, S. 208). 114 Lebensbild, S. 359. 115 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 151.

II. Orte freiheitlicher Lebensführung

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doch wird sein Amerikabild deswegen nicht zu dem Jacob Burckhardts 116 oder Ferdinand Kümbergers, der in den Vereinigten Staaten nichts als schrankenlosen Egoismus, Kulturlosigkeit und Verrohung zu sehen glaubte. 117 Weber sieht vielmehr, wie sich in Amerika Kräfte mobilisieren, die jenes Laster der Moderne, wie den von Weber so verteufelten Materialismus erfolgreich zum Rückzug zwingen und neue freiheitliche Bereiche eröffuen. "8oth", schreibt P. Lassman, "were profoundly influenced by the "restless energy" that they encountered there."118 Belege dafiir gibt es im Werk Webers zur Genüge. So konstatiert Weber ausgerechnet angesichts des amerikanischen Kriegseintritts 1917 gerade im ,jungen" Amerika eine "Kriegsideologie", die "nichts mit »dem Dollar« zu tun" 119 hat. Weber bezieht sich auf Veblens "Theory of Business Enterprise" 120, wenn er eine "langsame Wandlung des Geistes" in Amerika feststellte, die durch die Entfaltung eines neuen "Kriegsgeistes" ein neues Würdegetuhl an die Stelle des öden Dollarverdienens treten" 121 läßt. Dabei ist es vielsagend, daß er die Keimzelle dieses neuen amerikanischen Geistes gerade in den "Studentenwohnungen der amerikanischen Quäkeruniversitäten" ausfindig zu machen glaubt. 122 Auch daß "die Bäume des demokratischen Individualismus 116 Vgl. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart I 978, S. 10 und S. 68f. 117 Vgl. Weber, PE I, S. 42. Den Vorwurf der Kulturlosigkeit Amerikas, wie er sich bei F. Kümberger und auch bei J. Burckhardt findet, ist für Weber nicht nachzuweisen. Trotz der "Menschenwüsten" und "Drohungen mit Dynamit" erkennt Max Weber im "Antlitz des Ungeheuers" Chicago durchaus "alles in allem eine Kulturblüte" (vgl. Lebensbild, S. 300f.). 118 P. Lassman, S. I 02. Gerade darüber hat Weber wahrscheinlich innerhalb drei er textlich nicht überlieferter Vorträge gesprochen, die er alle ausgerechnet unter dem Titel "Demokratie in Amerika" gehalten hat: Im Winter 1904/05 sprach er in Heidelberg vor einer öffentlichen Versammlung der Ortsgruppe des "Nationalsozialen Vereins" über "Die Demokratie in Amerika", wie Johannes Leo nach Webers Tod rUckblickend berichtete (vgl. ders., Erinnerungen an Max Weber, in: R. König und Joh. Winckelmann, Max Weber zum Gedächtnis, S. 17). Einen Vortrag mit dem Titel "Demokratie im amerikanischen Leben" hielt Weber über zehn Jahre später noch einmal am 3. April 1916 in Berlin vor der "Deutschen Gesellschaft von 1914". Dies geht aus dem Lebensbild Marianne Webers (vgl. ebd., S. 602) und auch aus einem Brief Webers an seine Frau vom 18. März 1916 hervor (vgl. ders., Demokratie im amerikanischen Leben, in: Ders., Zur Politik im Weltkrieg, MWG, Abt. 1/ 15, Tübingen 1984, S. 777-778). In diesem Fall ist außer dem Titel nichts Inhaltliches überliefert. Der dritte Vortrag "Demokratie und Aristokratie im amerikanischen Leben" (vgl. ders., MWG 1115, S. 739-749) wurde von Weber am 23. März 1918 vor dem "Volksbund für Freiheit und Vaterland" in Heidelberg gehalten. Von diesen Ausführungen ist Inhaltliches nur über verschiedene Zeitungsartikel Heidelberger Tageszeitungen bekannt, die an den Folgetagen erschienen sind. 119 Weber, Zum Thema der Kriegsschuld, S. 495. 120 Vgl. Thorstein Veblen, Theory ofthe Business Enterprise. 121 Weber, Zum Thema der Kriegsschuld, S. 495. 122 Vgl. Ebd. An anderer Stelle schreibt Weber:" ... die amerikanischen Universitäten und die von ihnen gebildeten Schichten, nicht die Kriegslieferanten ... sind die Urheber des Krieges gewesen." (ders., Der Sozialismus, S. 497).

II*

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B. Formen der Freiheit in der Moderne

( ... ) bis in den Himmel wachsen" 123 , weiß man in Amerika zu verhindern. "Diejenigen", so Weber, "welche in stetiger Angst davor leben, es könne in Zukunft in der Welt zuviel »Demokratie« und »Individualismus« geben und zu wenig »Autorität«, »Aristokratie« und »Schätzung des Amts« oder dergleichen ... ," sollen sich "endlich beruhigen" 124: Amerika, dessen Bürokratie, wie Weber in "Wisenschaft als Beruf' betont, erst in den Anilingen steckte, sei von aller Gleichmacherei weit entfernt und dürfe heute nicht mehr als "formloser Sandhaufen" 125 oder gar als eine "zu Atomen zerriebene Menschenmasse" 126 bezeichnet werden. Nicht die "nackte Plutokratie" strukturiere heute die Gesellschaft, sondern ein "Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer Verbände", "zahlreiche ( ...) Klubs", die gegenwärtig die Träger ,jener ständischen Aristokratisierungstendenzen"127 bildeten, die in Amerika wieder zu beobachten seien und fiir Weber zum freiheitlichen Hoffnungsträger avancieren. 128 Im März 1916 warnt Weber vor dem drohenden Kriegseintritt Amerikas, indem er wiederum die ganz "unmaterialistischen" Kräfte beschwört, die dieses Land freizumachen im Stande ist. 129 Die geistige "Vitalität" Amerikas, genauso wie "das mächtige Pathos der Einzelschicksale, der rücksichtslose Idealismus, die unbeugsame Energie, das Auf und Ab von stürmischer Hoffnung und qualvoller Enttäuschung..."130 der russischen "Freiheitskämpfer" sind es, die Weber durchweg der "Blutarmut" und "Weltfremdheit" der "satten" Völker 131 vorzieht. Diesen nämlich "blühe keine Zukunft"IJ2. Mit den "satten Völkern" hat Weber nicht etwa Amerika im Sinn, sondern vielmehr Alt-Europa. Überhaupt- wenn Weber von der "Europäisierung" Amerikas spricht, benennt er nicht etwa ein "längst flilliges Kurieren" des "amerikanischen Geistes" durch die europäische Kultur, sondern im Gegenteil, eine von ihm als überaus bedrohlich erfaßte Grundtendenz 123 Ders. , Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 63. 124 Ebd. 125 Ders., PE I, S. 286. Die Metapher des "Sandhaufens" flir die moderne Demokratie setzt bereits John Stuart Mill in seiner bereits zitierten Rezension der "Demokratie in Amerika" ein: "Die Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens gleichen den Sandkörnern am Meeresufer (hervorgehoben vom Ver(), deren jedes sehr klein ist und an keinem anderen haftet. Es gibt dort keine dauernden Classen und deshalb auch keinen esprit de corps, wenige ererbte Vermögen und deshalb auch wenig Sympathien flir bestimmte Örtlichkeiten, oder äußere Gegenstände, denen das Familiengefühl eine höhere Weihe gibt. Der einzelne Mann hat nur wenig von dem Gefühl des Zusammenhangs mit seinem Nachbar, mit seinen Vorfahren oder Nachkommen." Vgl. J. St. Mi/1, Alexis de Tocqueville über die Demokratie in Amerika, S. 37. 126 Weber, "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, S. 393. 127 Ders. , PE I, S. 286. 128 Vgl. ders., WuG, S. 535. 129 Ders., Der verschärfte U-Bootkrieg, GPS, S. 149. 130 Ders., Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, S. I08. 131 Ebd. und S. 111. 1J2 Ebd.

II. Orte freiheitlicher Lebensführung

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der Ermattung und Erlahmung des öffentlichen Lebens 133 , die Zurückdrängung der geistigen, "kirchlichen Durchdringung des ganzen Lebens"u 4 und ein schwächlicher "Indifferentismus" 135, wie er filr Weber zum unrühmlichen Stigma der europäischen Völker wird. Er gerät regelrecht ins Schwärmen, fällt die Rede auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Der bereits erwähnte Vortrag, den Weber im Winter 1904/05 in Heidelberg auf Einladung des "Nationalsozialen Vereins" gehalten hat, stand noch unter dem Eindruck seiner erst kurz zurückliegenden Amerikareise. Er soll dort begeistert "von der großartigen Entwicklung gesprochen haben, "die ihren Ausgang nahm von dem puritanisch-freiheitlichen Geiste (hervorgehoben vom Verf.) der Pilgerväter, dessen Weiterwirken wesentlich die gesellschaftliche Formung beeinflußte und ebenso den materiellen Aufstieg der Vereinigten Staaten vom ursprünglichen Koloniallande zu ihrer, um die Jahrhundertwende bereits imponierenden wirtschaftlichen und politischen Großmachtstellung." 136 Alexis de Tocqueville auf der anderen Seite erfasst das gleiche Moment, das in Amerika die Freiheit in der Gleichheit sichern hilft. Er nennt es ein "weises Vorgehen" der Amerikaner zu versuchen, die "Krankheit, die in demokratischen Zeiten dem Gesellschaftkörper so natürlich und unheilvoll ist...," nicht einfach durch das Mittel einer Volksvertretung zu heilen, sondern dadurch, daß ,jedem Teil des Gebiets ein eigenes politisches Leben" 131 gegeben werde, "um die Gelegenheiten zu gemeinsamem Handeln (hervorgehoben vom Verf.) der Bürger ins Unabsehbare zu vermehren und diese täglich spüren zu lassen, daß sie voneinander abhängen." Dadurch, so Tocqueville, hätten die Amerikaner " ... den Individualismus, die Frucht der Gleichheit, durch die Freiheit bekämpft, und sie haben ihn besiegt." 138 Der bemerkenswerte Befund filr Weber und Tocqueville ist in der Tatsache zu sehen, daß filr beide die Stätten des "gemeinsamen Handelns", die den freiheitlichen Geist hervorbringen, ausgerechnet inmitten einer Gesellschafts- und Herrschaftsordnung beheimatet sind, deren ökonomische und politische "Wetterzeichen" in Richtung "zunehmender Unfreiheit" deuten, nicht in Europa, sondern ausgerechnet dort, wo der neue "amour propre" als Folge der Gesellschaft der Gleichen so virulent um sich greift: in Amerika. Wenn die Freiheit in der Gleichheit und im Rationalismus der Modeme noch eine Chance haben soll, muß sie aus Amerika importiert werden. Amerika birgt fllr Weber

Ders., PE I, S. 280 und Anmerkung 14, S. 286. Ders., "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, S. 382. Die starke "kirchliche Durchdringung" Amerikas wird bereits von Tocqueville konstatiert, siehe ders., ÜdDiA I, S. 336. 135 Ders., "Kirchen'" und "Sekten'· in Nordamerika, S. 388. 136 Johannes Leo, Erinnerungen an Max Weber, S. 17. 131 Tocquevi/le, ÜdDiA II, S. 119. I Js Ebd. 133

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B. Formen der Freiheit in der Moderne

und Tocqueville nicht nur die höchste Entfesselung des von Werner Sombart so emphatisch skizzierten kapitalistischen "Sturms und Wirbels" 139, sondern zugleich auch das spezifische freiheitliche Zukunftsmodell, das dem modernen Menschen die Mittel an die Hand gibt, die Hörigkeit und Knechtschaft zu überwinden und eine freiheitliche Lebensfiihrung anzunehmen, denn: "Die Instrumente zum Kampf gegen die Tyrannei sind in Amerika selbst vorhanden", wie Andre Jardin schreibt. 140

111. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif" Die Benennung der wichtigsten Kulturmächte des Rationalismus und seines mächtigen sozioökonomischen Ausläufers, des Kapitalismus, scheint Weber, Tocqueville und Rousseau interpretatorisch in die Nähe von Karl Marx zu rükken.141 Wie fiir diesen resultierte fiir jene aus dem Komplex des Rationalismus bzw. des Kapitalismus ein großanlegtes "Kulturproblem" - das auch in ihrem Falle, wie Karl Löwith gesehen hat, Gemeinsamkeiten mit dem "Entfremdungstheorem" bei Marx hat. 142 Der große Unterschied allerdings besteht darin, daß allein bei Marx dieses Kulturproblem stets mit einem Herrschaftsproblem gekoppelt ist, dessen Lösung gleichsam Voraussetzung zur Überwindung des Kulturproblems ist. Für Weber, Tocqueville und Rousseau dagegen sind Rationalismus, Kapitalismus und Demokratie Kulturprobleme 143 , die zwar ebenso durch die Verwirklichung einer Form von Freiheit ihrer Überwindung harren, diese aber stellt sich als ein Akt dar, der im "Reich der Notwendigkeit" stattfinden muß. Es ist ihre Überzeugung, wie Hans Jonas sagt, daß "die Abscheidung vom Reiche der Notwendigkeit ... der Freiheit ihren Gegenstand" 139 Vgl. Werner Sombart, Der Bourgeois, Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München und Leipzig 1923, S. 193. 140 A. Jardin, Alexis de Tocqueville, S. 193. 141 Vor allem der in der englischsprachigen Soziologie sich durchgesetzt habende Interpretationsansatz, Weber und Marx als Antipoden zu verstehen, ist durch Bryan S. Turner korrigiert worden (vgl. ders. , S. 2111212). Wie schon Max Weber in der PE I betonte, verstand er seinen Beitrag zur Protestantischen Ethik als nur die eine Seite der Entwicklung des "kapitalistischen Geists" betreffend. Es könne, so Weber, "nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig "materialistischen" eine ebenso einseitig "spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen." (Weber, ebd., S. 190).

142 Vgl. K. Löwith, zit. nach D. Beetham, S. 28. 143 Vgl. auch Emil flammacher, Hauptfragen der modernen Kultur, Leipzig und Berlin 1914, zusätzlich den Redebeitrag von Dieter Henrich in: Max Weber und das Projekt der Moderne, Eine Diskussion mit Dieter Henrich, Claus Offe und Wolfgang Schluchter, in: Max Weber, Ein Symposion, hrsg. von Christian Gneuss und Jürgen Kocka, München 1988, S. 160. Siehe auch F. K. Ringer, Die Gelehrten, S. 148.

111. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif'

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entziehe. 144 Ihr Freiheitsbegriff ist derjenige, den auch Hannah Arendt in der Auseinandersetzung mit Dolf Sternherger wieder aufgeritTen hatte. 145 Er muß durch einen Akt fortwährender Emanzipation vom naturalen Raum des ökonomischen Zwanges verwirklicht werden, denn Freiheit gilt nur dann als entfaltet, wenn der Notwendigkeit der Lebensreproduktion ein kUnstlicher Freiraum des Handeins abgerungen wird. Ein Marxscher herrschaftsfreier Raum ist Weber, Tocqueville und Rousseau nicht vorstellbar, ja mehr noch, er wird erst gar nicht zum Ziel, denn die Frage nach der Freiheit bliebe nach dessen "Herstellung" so ungelöst wie zuvor. Das Denken vom Primat der geistig-seelischen Kulturproblematik, die die Modeme entfesselt hat, ist im Denken Webers, Tocquevilles und Rousseaus leitend, und alle drei problematisieren die Chancen zur Freiheit vor dem Hintergrund des seelischen Befindens des modernen Menschen. Diese Haltung drückt sich bei allen dreien in einer klaren Ablehnung einerseits materialistischer Freiheitsideen und jeglicher Eudämonismuslehren 146 andererseits aus. Obwohl gerade Rousseau immer wieder die illegitime Ungleichheit einer ständisch gegliederten Gesellschaft angeprangert hat 147, obwohl auch Tocqueville ebenso engagiert über den grassierenden "pauperisme" geschrieben hat, und nicht zuletzt Max Webers vielfliltiges sozialpolitisches Engagement von der Überzeugung getragen war, dem Massenelend, wie es die spätkapitalistische Industrialisierung im Deutschen Reich heraufbeschworen hatte, mit allen Kräften entgegenzutreten, war doch ftlr alle drei der Faktor der sozialen Gerechtigkeit oder zeitgemäßer: der "Magenfrage" 148 in der Ausdrucksweise Emil Harnmachers - ein nicht unbedingt vordringlicher. An seine Stelle rückte die Frage der "Befindlichkeit" 149 des sittlichen Menschen und seiner "seelischen Entfrem-

144 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt arn Main 1984, S. 364. Vgl. auch G. Hufnagel, S. 204. 145 Vgl. H. Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1981. 146 Mit Sicherheit ist der Ursprung für die anti-eudämonistische Haltung Webers nicht nur in seinem, dem englischen Liberalismus entgegengesetzten modernen Freiheitsverständnis zu finden, sondern diese dürfte zuerst in der Weber faszinierenden Facette des Puritanismus wurzeln, die den Gelderwerb als "summum bonum" einer Ethik auffasst. Das Gelderwerbsmodell eines Benjamin Franklin ist "so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet", so daß es ,.als etwas gegenüber dem »Glück« des oder dem »Nutzen« des einzelnen Individuums gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint." (Weber, PE I, S. 44). Zu den klassischen "Eudämonismuslehren" vgl. A. Hossenfelder, Antike Glückslehren, Quellen und Übersetzung, Stuttgart 1996. 147 Ein geeignetes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Unterjochung und Verarmung der Landbevölkerung, wie sie Rousseau gerade in seiner .,Abhandlung über die politische Ökonomie" von 1755 gezeichnet hat. Vgl. Rousseau, Aiidpo!Ök, S. 258f. 148 E. Hammacher, S. 4. 149 G. Hufnagel, S. 321.

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B. Formen der Freiheit in der Moderne

dung" 150• In eindeutiger Formulierung fiihrte Weber diese Sicht schon in der Landarbeiterenquete von 1892 aus. "Die Messer- und Gabelfrage ist von sekundärer Bedeutung," schließt er seine Beobachtungen," ... die Wandlungen in den psychologischen Bedürfnissen der Menschen sind fast noch größer als die Umgestaltungen der materiellen Lebensbedingungen und es würde wissenschaftlich unzulässig sein, sie zu ignorieren." 151 Weber redet einem dezidiert antimaterialistischen Freiheitsbegriff das Wort, optimistisch-harrnonistische, organisch-evolutionistische Stufentheorien in der Nationalökonomie hatte er innerhalb des Werturteilstreits im Verein fiir Sozialpolitik verurteilt 152, und schon in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 hatte er unmißverständlich betont, daß 150 E. Hammacher, S. 5. Genauso folgerichtig erscheint es manchen noch immer, die Marxsche Gedankenfiihrung genau auf das Gegenteil des hier belegten Tocquevilleschen Interesses, also dem rein äußerlichen "vegetativen" Wohlergehen des Menschen festzulegen. Es lohnt sich jedoch, genau an dieser Stelle einmal der Argumentation von Marx zu folgen, um auf die spürbare gedankliche Nähe zu Tocqueville und Weber aufmerksam zu machen. Für manchen zum Erstaunen findet sich ausgerechnet im "Kommunistischen Manifest" eine Textstelle, die geradezu aus der sechs Jahre davor von Tocqueville gehaltenen "Rede zur Aufnahme in die französische Akademie der politischen Wissenschaften" entnommen sein könnte. Marx formuliert die berühmten Zeilen: "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen ist, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande (hervorgehoben vom Verf.), die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpfen, unbarmherzig zerrissen (hervorgehoben vom Verf.) und kein anderes Band (hervorgehoben vom Verf.) zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefiihlslose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt." (Kar{ Marx!Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei ( 1848), in: K. Marx, Die FrUhschriften, hrsg. von Siegtried Landshut, Stuttgart 1971, S. 527f.). Was hier von Marx emphatisch in Tocquevilleschem Duktus als der seelische Reflex des modernen Menschen entwickelt wird, ist im Grunde nichts anderes als Webers und Tocquevilles ureigenste thematische Angelegenheit: Vielleicht ist es geboten, einmal darauf hinzuweisen, daß sich Marx, Weber und Tocqueville, was ihre Diagnose der Moderne anbelangt, wesentlich näher stehen, als gemeinhin angenommen wird. Gerade von Tocqueville könnten fllr ein unbefangeneres Verständnis der komplexen Marxschen Position wichtige Impulse ausgehen. Tocqueville und sein Frageansatz sind es, die auf das grundlegende Marxsche Erkenntnisinteresse ebenfalls am "inneren Menschen" neues Licht werfen. 151 Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, S. 798. 152 Vgl. Christian von Ferber, Der Werturteilsstreit 190911959, Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, in: Kölner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, II. Jahrgang, Heft 3, Köln 1959, S. 21-37. Vgl. auch Dieter Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein fllr Sozialpolitik, Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich, vornehmlich vom Beginn des "Neuen Kurses" bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1890-1914, Diss. Köln 1965, in: Vierteljahresschrift fiir Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 52/53, Wiesbaden 1967.

li I. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif'

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das Ziel jeglicher Volkswirtschaftspolitik "nicht das Ziel der Besserung der »Lustbilanz« des Menschendaseins" 153 sein könne, sondern das Emporzüchten derjenigen Eigenschaften im Menschen, "mit welchen wir die Empfindung verbinden, daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen.'d 54 Ein ganz ähnlich anti-materialistisch geprägtes Freiheitsbewußtsein durchdringt auch das Werk Alexis de Tocquevilles. In einem Brief vom 10. April 1848 an Gustave de Beaumont räsoniert er über die französische Revolution und ihre Ursachen. In seiner Sicht hatte deren Ausbruch nichts mit der materiellen Verelendung weiter Kreise der Arbeiterschaft zu tun. Nicht Bedürfnisse, sondern Ideen hätten die Umwälzung hervorgerufen, und wenn jetzt ein "Armengesetz" verabschiedet werde, dann hätte das keinerlei Effekt, gehe es doch um "die Krankheit der Geister", gegen die ein Heilmittel gefunden werde müsse. 155 "Ich glaube auch nicht, daß die wahre Freiheitsliebe jemals allein durch die Aussicht auf die materiellen Güter geweckt werde, die sie verschafft ... Die Menschen, die in der Freiheit nur diese GUter suchen, haben sie nie lange bewahrt", schreibt er am Ende des dritten Kapitels im dritten Buch von "Der alte Staat und die Revolution" 156, und weiter: "Was zu allen Zeiten das Herz mancher Menschen so stark fiir sie eingenommen hat, sind ihre eigenen Reize, ihr eigener Zauber, ohne Rücksicht auf ihre Wohltaten; es ist die Lust, unter dem alleinigen Regimente Gottes und der Gesetze sprechen, handeln und frei atmen zu können. Wer in der Freiheit etwas anderes als sie selber sucht, ist zur Knechtschaft geboren." Völker, die sich die Freiheit aus den Händen reißen lassen, aus Furcht das "behagliche Leben zu geflihrden", fehle die wahre Lust frei zu sein. Diese Lust zur Freiheit "zieht von selbst in die Herzen ein, die Gott sie zu empfangen bereitet hat; sie erfiillt sie, sie entflammt sie. Man muß darauf verzichten, sie den mittelmäßigen Seelen begreiflich zu machen, die sie nie empfunden haben". 157 Auf denselben Seiten richtet Tocqueville seinen Blick auf die Menschen des 18. Jahrhunderts und schließt: Sie "kannten kaum das zur Leidenschaft gewordene Trachten nach Wohlleben, eine Leidenschaft, die man die Mutter der Knechtschaft nennen kann." 158 Wie Weber hat Tocqueville kein Verständnis fiir jenen "bonheur vegetatif" 159, wie er das Glück der vollen Weiden in seinem "Memoire sur Je pauperisme" von 1835 einmal genannt hat.

Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 12. Ebd., S. 13. 155 Tocqueville, Briefvom 10. April 1848 an Gustave de Beaumont, OC, Band VI, S. 135-137, A. Salomon, S. 203. 156 Ders., DaSudR, S. 168. 157 Ebd., S. 168f. 158 Ebd., S. 122. 159 Ders. ( 1835), Memoire sur le pauperisme, OC, Melanges, Band XVI, Paris 1989, S. 121. 153

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

"Eririnert Euch jenes Spartaners", ruft Rousseau den Polen zu, "der am Hofe des Großkönigs mit Genüssen überfüttert wurde und dem man vorwarf, er vermisse seine schwarze Suppe. Ach!, sagte er seufzend zu dem Satrapen, ich kenne wohl Deine Vergnügungen, aber Du kennst nicht die Unsrigen." 160 Mit der Freiheit sei es "nicht anders als mit jenen derben und saftigen Speisen oder mit den starken Weinen beschaffen. Für feste und starke Temperamente, die sich daran gewöhnt haben, sind sie nahrhaft, allein sie überladen, verderben und berauschen die schwachen und zärtlichen Menschen, die nicht filr sie geschaffen sind. Völker, die gewohnt sind, Oberherren über sich zu haben, können sie nicht mehr entbehren. Je mehr sie sich Mühe geben, das Joch abzuschütteln, desto mehr entfernen sie sich von der Freiheit. Eine Zügellosigkeit, die der Freiheit gerade entgegengesetzt ist, nehmen sie dafilr an, und sie geraten durch die vielfältigen Revolutionen lauter Verfilhrern in die Hände, die ihre Ketten nur immer mehr beschweren." 161 Allen dreiengemeinsam ist, wie Hella Mandt es filr Weber ausgedrückt hat, eine "Giücksverachtung" 162 - eine innere Haltung, wie sie gerade auch im Rousseauschen Prolog zum "Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" zum Ausdruck kommt. Statt "die Leiden steigernde" Illusionen zu hegen, rät der Vikar dem Ich-Erzähler Rousseau, sie gar zu mißachten, um zu einem inneren "Frieden der Seele" zu gelangen. Als ihm Rousseau entgegnet, "Und wenn man selbst das Glück verachten soll, wer kann dann glücklich sein?" 16\ so erhält er zur Antwort: "Ich"- und der savoyische Vikar entfaltet sein so dezidiert gegen Descartes gerichtetes Glaubensbekenntnis, das gerade deswegen als Grundlagentext zur Freiheitslehre Rousseaus gelten kann, weil es den Grundstein zu seiner gar nicht so unpolitisch zu deutenden "Innerlichkeit" legt und vor der Abstumpfung warnt, weil sie "der Seele das Leben nimmt" - denn dann könne "die innere Stimme ... sich dem, der nur an sein leibliches Wohlergehen denkt, nicht vernehmlich machen." 164 "Ich habe nie die Philosophie der Glücklichen unseres Jahrhunderts annehmen können", schreibt Rousseau an zentraler Stelle, "sie ist nicht filr mich gemacht; ich suchte eine, die meinem Herzen näher war und mich in Widerwärtigkeiten stärker aufrichten und mich zur Tugend stärker anfeuern konnte." 165 Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 572. Ders., DD, S. 169. Vgl. auch ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 572 und 578. 162 He/la Mandt, Tyrannis und Widerstandsrecht, Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts, Neuwied/Darmstadt 1974, S. 262. Was seinen Glücksbegriff anbelangt, ist die Nähe Webers zu Nietzsche offenkundig. Auch Webers Glück ist schwer "und nicht wie eine flüssige Wasserwelle" (ebd., S. 295). "Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!", sagt Zarathustra in seinem letzten Auftritt (vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA, Band 3, IV. Buch, S. 408). 163 Rousseau, Emile, S. 544. 164 Ebd., S. 540. 165 Ders., Rousseau richtet über Jean-Jacques, S. 331 . 160

161

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171

Alexis de Tocquevilles Plädoyer fiir eine gänzlich anti-eudämonistische Freiheit findet sich überall in seinen Schriften. Er, dessen größte Leidenschaft, wie er einmal sagte, die Freiheit war, hat davon im Vorwort seines Traktats zur Vorgeschichte der französischen Revolution von 1789 Zeugnis abgelegt. Der Demokratie rät er, Grundzüge der Freiheit anzunehmen, denn: "Nur sie vermag die Bürger aus der Vereinzelung, in der gerade die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben läßt, herausziehen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern; sie, die Freiheit, erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs neue durch die Notwendigkeit, sich in der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten miteinander zu besprechen, einander zu überzeugen und sich wechselseitig gefällig zu sein. Sie allein ist fähig, die Bürger dem Kult des Geldes und den täglichen kleinlichen Plagen ihrer Privatangelegenheiten zu entreißen, um sie jeden Augenblick das Vaterland über und neben ihnen wahrnehmen und fiihlen zu lassen; sie allein läßt von Zeit zu Zeit die Lust am behaglichen Leben durch tüchtigere und erhabenere Leidenschaften verdrängen, bietet dem Ehrgeiz edlere Gegenstände als die Erwerbung von Reichtümern und erzeugt das Licht, das es gestattet, die Laster und Tugenden der Menschen zu erkennen und zu beurteilen ... 166 Max Weber hat an vielen Plätzen gegen einen wie auch immer ideologisch verbrämten "weichen Eudämonismus" 167 gekämpft - auch etwa wenn er innerhalb der zu seinen Zeiten so florierenden Naturwissenschaften im Gewande eines nomologisch biologistischen Weltbildes auftreten konnte: Trotz der kontroversen Diskussion um die Homogenität der unter dem Etikett der "Wissenschaftslehre" versammelten Aufsätze dürfte eine zentrale These, die aus dem Innersten dieser Texte herausspricht, noch immer diejenige sein, die Weber als dezidierten Vertreter einer "verstehenden" Soziologie ausweist- und eben nicht als einen Verfechter rein naturwissenschaftlich-nomologischer Theoriebildung, die praktisch nicht über sich hinauskommen wollte. Seine ablehnende Haltung gerade gegenüber allen eudämonistischen Freiheitsideologien tat er denn auch gerade innerhalb dieser Schriften kund, die ein ums andere Mal die Zurückweisung der zeitgenössischen naturwissenschaftlich-"experimentellen" Psychologie zum Gegenstand hatten. Am bissigsten formulierte Weber seine Ansichten wohl in einem Rezensionstext zu Lujo Brentanos "Die Entwicklung der Wertlehre", einem Aufsatz, der 1908 unter dem Titel "Die Grenznutzlehre und das psychophysische Grundgesetz" erschienen war und später Eingang in die "Gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre" gefunden hat. Weber wies darin auf die inhärenten Widersprüche hin, die die "angeblichen Beziehungen der »Grenznutzlehre« überhaupt jeder »subjektiven« Werttheorie, zu gewissen allgemeinen Sätzen der Experimentalpsychologie", insbesondere dem sogenannten

166 167

Tocqueville, DaSudR, Vorwort, S. 16. Vgl. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 12 und 24.

172

B. Formen der Freiheit in der Moderne

"Weber-Fechnerschen Gesetz" beträfen 168, und machte sich beinahe schon lustig darüber, wie die "Experimentalpsychologen" anstrebten, eine intellektualistisch so unwägbare Konstante, wie die des "Glückes", über naturwissenschaftliche Gesetzesformeln zuverlässig und allgemeingültig zu ermitteln. "Glück ist'', fiir Weber, "kein psychophysischer faßbarer, überhaupt kein- wie man im Zeitalter der utilitaristischen Ethik glauben mochte - qualitativ einheitlicher Begrift'' 169, dem "Weber-Fechnerschen Grundgesetz" nicht zugänglich, weil dieses offenkundig Glück als Resultante bloß materieller Reize kennt. Glück entscheidet sich fiir ihn nicht an Art und Grad der "Sättigung" 170 von Bedürfnissen, die diese ökonomistische Lehre nur als materielle in Rechnung zieht. "Wenn man", schreibt er spöttisch, "die Progression der »Sättigung« mit: Tiffany-Vasen, Klosettpapier, Schlackwurst, Klassiker-Ausgaben, Prostituierten, ärztlichem oder priesterlichem Zuspruch usw. überdenkt, erscheint die Logarhythmenkurve des »psycho-physischen Grundgesetzes« als Analogie doch recht problematisch."171 Der Mensch ist in Webers anthropologischem Verständnis mehr als nur der "Betriebsleiter'' seiner- Weber gebraucht den Begriff seiner vulgärpsychologischen Qualität wegen nur sehr ungern - "Bedürfuisse" und sein Leben mehr als nur "das Objekt dieses seines buchmäßig kontrollierten »Betriebs«, es sei denn, es handelt sich tatsächlich um nicht mehr als um eine "Kaufinannsseele". An anderer Stelle, nicht minder ironisch, insistiert Weber auf seiner Sicht. GegenOber Wilhelm Ostwald mit seinen fiir ihn vollkommen verwirrten, stets nur in Anfiihrungszeichen zu haltenden »energetischen« Kulturtheorien fiihrt er voller Ironie aus: "Freiheit der Gesinnung ist nun einmal sicher kein (im Orig. gesperrt, der Verf.) technologisch oder utilitaristisch wertvolles Ideal und »energetisch« nicht begründbar." 172 Doch selbst wenn die Lehren Ostwaids umzusetzen wären- fiir Weber wären sie keinesfalls ein anzustrebendes politisches Ideal. Max Weber hing der Überzeugung an, daß es nicht auf "das schablonenhafte Gekläff der Wald- und Wiesen-Sozialpolitiker und ebenso jene menschlich liebenswürdige und achtenswerte, dennoch aber unsäglich spießbürgerliche Erweichung des Gemüts, welche politische Ideale durch »ethische« ersetzen zu können meint und diese wieder harmlos mit optimistischen Glückshofthungen identifiziert," 173 ankomme, auch nicht "auf das Menschenglück", "daß aber Freiheit (im Orig. gesperrt, der Verf.) und Menschenwürde (im Orig. gesperrt, der Verf.) letzte und höchste Werte sind, deren Ver-

168

384.

Weber, Die Grenznutzlehre und das "psychophysische Grundgesetz", GA WL, S.

Ebd., S. 386. Vgl. ebd., S. 387. 171 Ebd., S. 390. 172 Vgl. ders. , "Energetische" Kulturtheorien, GAWL, S. 423. 173 Ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 24. 169 170

111. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif'

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wirklichung allen ermöglicht werden sollte." 174 Diese "radikale Abwertung des Mitleids" in Max Webers politischem Denken weist einmal mehr auf Friedrich N ietzsche zurück. 175 Neben dem anti-materialistischen und anti-eudämonistischen Charakter tritt als ein weiteres kennzeichnendes Merkmal von Webers, Tocquevilles und Rousseaus Freiheitslehre das gemeinsame Mißtrauen gegen eine lediglich naturrechtlich gesatzte, institutionalistische Freiheitsidee hinzu. 176 Einen nur konstitutionell verankerten Katalog bürgerlicher Freiheitsrechte erscheint im Denken aller drei allenfalls als eine zwar entscheidende Rahmenbedingung des modernen Rechts- und Verfassungsstaats, nicht jedoch als eine Errungenschaft, in der das Anliegen der politischen Freiheit schon zu seinem Ende käme. Die interpretatorische Festlegung Webers, Tocquevilles und Rousseaus auf ein solches Werksverständnis hat aber in der Exegese stets viele Befürworter gefunden. Sie entspringt einem Mißverständnis, dessen Wurzel im Gewirr der Rezeptionsgeschichte nicht mehr auszumachen ist: Vielfach wird dabei angenommen, gerade Rousseaus und Tocquevilles Vorbilder zur Restitution einer vermittelnden öffentlichen Sphäre folgten einseitig dem Leitgedanken Montesquieus, der mit Hilfe der Etablierung der so genannten "pouvoirs intermediaires" eine freiheitliLebensbild, S. 319. W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 108. 176 Die Ablehnung geschichtsphilosophischer Konstruktionen gewinnt auch Bedeutung hinsichtlich des Freiheitsbegriffs Webers, Tocquevilles und Rousseaus. Gerade die Absage an einen fortschrittsfrohen "Freisetzungsliberalismus" ist mindestens eines der tragenden Axiome dieses Freiheitsbegriffs, daneben auch der Verzicht auf alle vermeintlich sich im Werk befindliche Entwicklungsphilosophie. Ein apodiktischtranszendentes Movens der Weltgeschichte, die aprioristische Smithsche "invisible hand"- das alles ist Weber, Tocqueville wie Rousseau nicht mehr als fromme Augenwischerei, an die sie darOberhinaus noch den Vorwurf adressieren, sie entlasse im Vertrauen auf die Zeit den Menschen aus seiner Verantwortung ftlr seine Freiheit. Sie sind allesamt entschiedene Gegner von Ernanalismus und Panlogismus Hegelscher Machart, auch wenn H. White Tocqueville als " ... Erben jenes synthetisch-analytischen Historismus (rUhmt), der seinen höchsten theoretischen Ausdruck bei Hege! findet." (ders., S. 297). Es gibt in der abendländischen Geistesgeschichte wenig, das sich gegenseitig so vehement ausschließt, wie die hegelianische Geschichtsphilosophie und die Tocquevillesche Politikwissenschaft, die so händeringend dem Menschen der modernen Demokratie seine Eigenverantwortlichkeit flir die politische Zukunftsgestaltung nahelegen möchte. Auch Susanne Achtnich hat den unhaltbaren Vorwurf des Geschichtsdeterminismus in Tocquevilles Wissenschaft korrigiert (vgl. Susanne Achtnich, Alexis de Tocqueville in Amerika, Die konservativen und liberalen Elemente in seiner politischen Theorie, Frankfurt 1987, S. 195, Anmerkung I). Es ist geradezu bezeichnend für Tocqueville, daß er niemals irgendeine historische Kausalreihe zum Generalnenner macht, auf die er alle Ubrigen Faktoren bezieht. ln seiner nüchtern-ernüchternden Ablehnung jeder Geschichtsphilosophie wäre er besser in der ideellen Nähe Jacob Burckhardts aufgehoben, für den dies alles mehr Weltanschauung als tragfähige Lehre, "widriges Blendwerk" ist (vgl. D. J. K. Peukert, S. 14), das "eine nüchtern-ernüchternde Redlichkeit im Wissen hindert." (ebd.). 174

175

174

B. Fonnen der Freiheit in der Modeme

ehe, gewaltenteilende Regierungsform grlinden wollte. 177 Ein Mißverständnis liegt deswegen vor, weil die "pouvoirs intermediaires", wie sie Montesquieu in seinem "De I' Esprit des lois" auf seinem gedanklichen Reißbrett scharfsichtig entstehen ließ, quasi systemische, Freiheit schaffende, besser Unfreiheit verhindernde Institutionen sind, in denen Gewalt verschränkt und damit kontrollierbar wird. Hintergrund dieser Anschauung ist die Erfahrung und der gedankliche Überwindungsversuch der schrankenlosen HerrscherwillkUr in der Ära des französischen Hochabsolutismus: Das Rechtsgleichheit bedingende Gesetz erscheint als gesatzte Garantie der Allgemeinverbindlichkeit verbriefter Freiheit. Dieser Gedanke wird nun zwar von Rousseau begrUßt, er erfährt jedoch in seinem Denken eine entschiedene voluntaristische Gewichtsverlagerung. Zwar steht auch bei Rousseau, daß die "Autorität der Gesetze" nötig ist, "ohne welche keine Freiheit stattfinden kann" 178, oder an anderer Stelle: "Einzig dem Gesetz haben die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit zu verdanken" 179 - über allem steht jedoch der dieses Gesetz wollende Mensch. Wenn Rousseau im "Contrat Social" die Frage aufwirft: "Welches ist die Regierungsform, die ihrem Wesen nach dem Gesetz stets am nächsten kommt?", dann keinesfalls deshalb, weil er irgendeinen Naturrechtskatalog verabsolutiert. Rousseaus Gesetz ist stets Ausdruck der "volonte generale". Was zu ihrer klarsten Äußerung beiträgt, ist Orientierungspunkt der Freiheit in einem Gemeinwesen. Das Gesetz ist, so an anderer Stelle, "ein heilsames Organ des gemeinsamen Willens (hervorgehoben vom Verf.) ... , welches die natürliche Gleichheit zwischen den Menschen im Recht wiederherstellt" 180 - und damit die unhaltbare Illegitimität der Ungleichheit durch Abhängigkeit wieder aufhebt. "Die Gesetze", so im "Contrat Social", "sind eigentlich nur die Bedingungen bürgerlicher Vereinigung" 181 , nicht weni177 Vgl. W. Hennis, Tocquevilles "neue politische Wissenschaft", in: Aspekte zur Kultursoziologie, Aufsätze zur Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Geschichte der Kultur zum 60. Geburtstag von Mohammed Rassem, hrsg. von Justin Stag!, Berlin 1982, S. 399. So schließt beispielsweise Hayden White in seiner Tocqueville-Schrift (vgl. ders., S. 251-301) an diese Auslegung nahtlos an: Tocquevilles Hauptwerke erscheinen ihm als "typologische Deutungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit" (ebd.), Tocquevilles Geschichtsbegriff als identisch mit demjenigen "mechanistischer Systemkonstruktionen" (ebd., S. 256), dem eine "nomologische Geschichtskonzeption" entspräche (ebd., S. 262). Vgl. auch D. Freund, Alexis de Tocqueville und die politische Kultur der Demokratie, Diss., Bem und Stuttgart 1974. S. 459; Jacob P. Mayer, Alexis de Tocqueville, Prophet des Massenzeitalters, Stuttgart 1954, S. 170; H. Rausch, S. 232 sowie J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 217, hängen in diesem Punkt jener Sicht an. Sie verkürzen Tocqueville zum Gesellschaftsanalytiker, der die zentrale politische Idee der Freiheitssicherung in der Nachfolge Montesquieus in der Errichtung von Institutionen und Systemen ausmacht, mithin in blutleeren Mechanismen, die Freiheit lediglich "herbeikontrollieren" sollen. 178 Rousseau, Briefe vom Berge, S. 151 und S. 189. 179 Ders., Abhandlung über die politische Ökonomie, S. 235. 180 Ebd. 181 Ders. , CS, S. 299.

li I. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif'

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ger, aber auch nicht mehr: Bedingungen, ohne die keine Freiheit möglich ist, die aber noch lange keinen freiheitlichen Geist in einem Gemeinwesen hervorbringen. Statt wie Thomas Hobbes "eine Herrschaftsform zu finden, die das Gesetz über den Menschen stellt", will er- so legt er nachdrUcklieh in einem Brief an Victor Riqueti, dem Marquis de Mirabeau, vom 26. Juli 1767 dar - "den Menschen mit einem Mal so weit wie möglich über das Gesetz stellen". "Mit einem Wort, ich sehe keine denkbare Mitte zwischen der strengsten Demokratie und dem vollkommensten System eines Hobbes: der Konflikt zwischen den Menschen und den Gesetzen, der zu einem fortwährenden inneren Krieg im Staat ftihrt, ist das Schlimmste an allen Herrschaftsformen ... Reden Sie mir nie wieder vom Ihrem legalen Despotismus. Ich kann keinen Gefallen an ihm finden ... "182 An anderer Stelle macht er dieses Verständnis ebenfalls klar: "Eines der größten Hirngespinste der Philosophie war der Vorsatz, nach irgendeiner Regierungsform zu suchen, in der die Bürger durch die alleinige Macht der Gesetze frei und tugendhaft leben können." 183 Und noch schärfer formuliert taucht dieser Gedankengang wiederum im "Contrat Social" auf. Dort schreibt er im Dritten Buch ausgerechnet unter der Überschirft "Vom Tode des politischen Körpers": "Nicht durch Gesetze bleibt der Staat lebendig, sondern durch die gesetzgebende Gewalt" 184 - also nicht durch ein noch so ausgefeiltes statuarisches Gesetzeswerk, sondern durch den täglich aufs Neue erfolgenden politischen Willensakt des Souveräns. Es wird deutlich, warum den Genfer die freiheitlichen "Ideen" und "Prinzipien" des politischen Rechts in seinem "Contrat Social" so viel stärker interessiert haben als - wie den "Verfassungstechniker" Montesquieu -"das positive Recht eingesetzter Regierungen" 185 • Seinem Emile gibt Rousseau daher auf den Weg: "Unter dem Schutz der Gesetze erhofft man die Freiheit vergebens. Gesetze! Wo gibt es sie und wo werden sie befolgt? Überall hast Du unter diesem Namen nur das Privatinteresse und die Leidenschaft der Menschen herrschen sehn. Aber die ewigen Gesetze der Natur und der Ordnung existieren. Dem Weisen ersetzen sie das positive Recht; sie sind vom Gewissen und von der Vernunft tief in sein Herz geschrieben; ihnen muß er sich unterordnen, um frei zu sein; und nur der ist Sklave, der Böses tut, denn er tut es immer unfreiwillig. Unter keiner Regierungsform gibt es Freiheit, sie lebt im Herzen des freien Menschen." 186

182 Ders. , Brief an Victor Riqueti, Marquis de Mirabeau, vom 26. Juli 1767, Nr. 5991, Korrespondenzen, S. 343f. 183 Ders. , Fragment über die Freiheit, in: ders.. Kulturkritische und politische Schriften, Band I, Ausgabe Rütten und Loening, Berlin 1989, S. 20. 184 Ders., CS, S. 345. 185 Ders. , Emile, S. 912. 186 Ebd., S. 940f. Vgl. auch 0. Voss/er, Rousseaus Freiheitslehre, S. 346. In der Polenschrift führt Rousseau aus: "Es wird nie eine gute und feste Verfassung geben als da, wo das Gesetz über die Herzen der Bürger herrscht. Solange die gesetzgebende Gewalt

176

B. Formen der Freiheit in der Moderne

Gegen dieses einseitig institutionalistische Freiheitsverständnis machen auch Tocqueville und Weber entschieden Front. Die "pouvoirs intermedaires" Montesquieus sind, genau betrachtet, dem Hobbesschen Gedankengut, der die Bürger voreinander beschützen will, wesentlich näher als dem Webers und Tocquevilles. In seinem Tocqueville-Buch hat John C. Koritanskj darauf verwiesen. Zurecht kritisiert er Marvin Zetterbaum und Jack Lively, die Tocqueville als Verfassungsphilosophen vereinnehmen, und hebt darauf ab, daß es gerade nicht Tocquevilles Anliegen ist, institutionelle, oder weiter gefaßt, konstitutionelle Barrieren gegen den demokratischen Despotismus einzuziehen 187, sondern daß es ihm darum gegangen ist, den Menschen zu einer aktiven handelnden Freiheit zu bringen. Nur so erhält es einen Sinn, wenn Tocqueville sich einmal gar dazu hinreißen ließ, die "gemischte Regierungsform" - gemeint ist nichts anderes als das gewaltenteilende Modell Montesquieus - als etwas zu bezeichnen, daß ihm "stets als ein Hirngespinst erschien"188 • Montesquieus politische Grundideen sind vornehmlich anti-absolutistisch gedacht und haben wenig anthropologischen Boden. Seine Furcht ist die vor dem Machtmißbrauch durch den absoluten Souverän - er steht, was seine geistige Herkunft anbelangt, in der Tradition der Naturrechtslehre, deren Krise erst bei Rousseau sinnflillig wurde und die dieser dann überwinden sollte. Auch die Furcht, der Mensch könne im rechtsfreien Raum seinem Mitbürger schnell zum Hobbesschen Wolf werden, veranlasst Montesquieu, durch institutionelle Sicherungen der Despotie theoretisch vorzubeugen.189 Während Montesquieu Machtmißbrauch durch Gesetze und Institutionen bändigen will, und hier liegt der Hauptunterschied, verlagern Weber, Tocqueville und Rousseau das Hauptgewicht auf das sittlich geformte Wollen als Triebkraft wahrhaft freiheitlichen Handelns. Während Montesquieus Interesse dem Problem gilt, wie Unfreiheit theoretisch zu verhindem ist, wollen Weber, Tocqueville und Rousseau Wege finden, Freiheit zu einer praktischen Lebensform werden zu lassen. Zu dieser Freiheit 190 jedoch sind ganz andere Schritte notwendig, als Verfassungsmechanismen auszutarieren, obwohl diese dieses Ziel nicht erreicht, werden die Gesetze stets umgangen werden. Aber wie zu den Herzen dringen? Daran denken unsere Verfassungsgeber, welche stets nur Gewalt und Strafen vor Augen haben, leider kaum." (Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 567). 187 John C. Koritanskj, Alexis de Tocqueville and the new Science of Politics, An Interpretation ofDemocracy in America, Durnham, North Carolina 1986, S. 7. 188 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 290. 189 Alois Riklin, Montesquieus freiheitliches Staatsmodell, Die Identität von Machtteilung und Mischverfassung, in: Politische Vierteljahresschrift, 23. Jg., 1989, S. 431. 190 A. Jardin ist beizupflichten, wenn er schreibt, daß in beiden Bänden der "Demokratie in Amerika" immer wieder die beklommene Frage zum Vorschein gelange: "Wird der homo democratius ein Mensch sein, der in seinem Inneren und im gesellschaftlichen Leben frei ist, und wird er die Verantwortung flir den geistlichen und sittlichen Fortschritt, der die christliche Zivilisation auszeichnet, übernehmen können?" (vgl. ders., S. 227).

III. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif'

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Fragen natürlich auch bei Tocqueville unverzichtbare Voraussetzung freiheitlichen Handeins überhaupt bilden. Roger Boesche hat diesen Aspekt vor Augen, wenn er formuliert: "To judge whether a country is free, Locke or Madison might investigate its laws, its institutions, and whether the constitution legally assures private rights. Tocqueville, however, examined a more nebulous thing called »character« or »Spirit« or »mores«." 191 Auch Tocqueville glaubt nicht an die Konstruktion von Freiheit. "Quelle impuissance que celle des institutions, quand les idees et les moeurs ne les nourrissent point (hervorgehoben vom Verf.)?" 192, schreibt Tocqueville 1858 an Beaumont, und in einer Rede vor der französischen Deputiertenkammer vom 27. Januar 1848 appelliert Tocqueville an die Anwesenden: "Ich bin nicht töricht genug, meine Herren, zu verkennen, daß nicht die Gesetze es sind, die das Schicksal der Völker bestimmen. Nein, nicht der Mechanismus der Gesetze (hervorgehoben vom Verf.) bringt die großen Ereignisse hervor, meine Herren, sondern nur die Sinnesart der Regierungen. Behalten Sie die Gesetze, wenn sie wollen, obwohl sie damit, wie ich glaube, sehr unrecht täten;(...) Aber ändern Sie um Gotteswillen den Geist der Regierung, denn ich wiederhole es, er fiihrt Sie in den Abgrund." 193 Sollen Institutionen zur Freiheit tatsächlich beitragen, dann muß in sie, wie James T. Schleifer fiir Tocqueville herausgearbeitet hat 19\ ein bestimmter Geist einkehren, der aus den Sitten der Menschen herauswächst. Die Freiheit muß den Bürgern, wie es Tocquevilles Freund Francis Lieber drastisch ausgedrückt hat, "im Mark ihrer Knochen" stecken. 195 Max Weber vertraute genausowenig einseitig auf Freiheitsgarantien wie sie durch gesatztes Recht verbrieft oder durch politische Institutionen verkörpert werden sollten. "Staatsformen" waren fiir ihn "Techniken wie jede andere Maschinerie" und er "würde ganz ebenso gegen das Parlament und fiir den Monarchen losschlagen, wenn dieser ein Politiker wäre oder es zu werden verspräche" 196, schreibt Weber am 16. April 1917 an Hans Ehrenberg, und nach dem Krieg im Dezember 1918 in seinem Aufsatz über "Deutschlands künftige Staatsform": "Staatstechnische Fragen sind leider nicht unwichtig, aber natürlich sind sie für die Politik nicht das Wichtigste. ( ...)Weit entscheidender fiir die Zukunft Deutschlands ist vielmehr die Frage: ob das Bürgertum in seinen Massen einen neuen Verantwortungsbereiteren und Selbstbewußteren politischen 191 R. Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville ( 1987), S. 182. 192 Tocqueville, Brief an Gustave de Beaumont vom 27. Februar 1858, OC, Band VI,

II.3., S. 543.

193 Ders., Erinnerungen, S. 54. 194 Vgl. J. T. Schleifer, S. 286f. 195 R. Boesche zitiert diesen Vergleich von Tocquevilles Freund Francis Lieber. Vgl. ders., The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville (I 987), S. 124. 196 Weber, Brief an Hans Ehrenberg vom 16. April 19 I7, GPS, I. Auflage, S. 470. 12 Hecht

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

Geist erziehen wird." 197 "Bisher herrschte seit Jahrzehnten ... der feige Wille der Ohnmacht. Gerade die technische Güte der Verwaltung: der Umstand, daß es dabei im großen und ganzen materiell gut ging, hatte breite Schichten der Bevölkerung überhaupt (nicht nur Bürger) sich in dieses Gehäuse einleben lassen und jeden Staatsbürgerstolz, ohne welchen auch die freiesten Institutionen nur Schatten sind, erstickt." 198 Weber erinnert an anderer Stelle daran, "daß es das Gegenteil von politischer Erziehung ist, wenn man ein Mißtrauensvotum gegen die friedliche soziale Zukunft der Nation in Paragraphen zu formulieren sucht, oder wenn das brachium saeculare nach der Hand der Kirche greift zur Stütze zeitlicher Autoritäten.'d 99 Weber, Tocqueville und Rousseau geht es um die Freiheit im modernen Zeitalter nicht um das "englische" Wohlergehen, die Sekurität der Privatheit, die der Hobbessche Leviathan schafft, nicht um das Humboldtsche Ideal eines autonomen, über den Staat gestellten und vor dessen allumfassender Gewalt geschützten Individuums in einer staatsfernen Gesellschaft, nicht um das wirtschaftsliberalistische Motto Jeremy Benthams vom "größtmöglichen Wohlstand der größtmöglichen Zahl", sondern um das politische Seelenheil des Menschen200. Sie fragen nach dem Schicksal des modernen Menschen unter den Bedingungen der modernen prägenden "Ordnungen und Mächte". Niemals geht es ihnen um einzelne Individuen, oder gar um Klassen, sondern um die Seele repräsentativer Typen, die, wie W. Hennis für Weber gezeigt hat, filr ein ganzes "Menschentum"201 einer jeweiligen Kulturepoche stehen. Dies trifft zunächst uneingeschränkt für Rousseau, dann jedoch auch vor allem für Tocqueville zu, der von den zwei verschiedenen, demokratischen und aristokratischen, "Menschheiten" spricht, die ,jede ihre besonderen Vorzüge und Nachteile" hätten. 202 Was Weber so wichtig am vom kapitalistischen Geist hervorgebrachten "Berufsmenschentum", als dem Menschentum der Modeme, ist, findet bei Tocqueville Entsprechung in dessen zentralem Interesse an dem vom egalitären Geist getriebenen "demokratischen Menschentum" der Modeme. In diesem Licht betrachtet kann man Jacques Nautet und George W. Pierson nur zustimmen, wenn sie, ganz "un-naturalistisch", Tocqueville einen "Entdecker der Kollektivpsychologie"203 oder einen "psychologist whose subject was not the

197 Ders., Deutschlands zukünftige Staatsform, S. 453. 198 Ebd., S. 454. 199 Ders., DerNationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 24. 200 Vgl. W. Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 53. 201 Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 17. Vgl. auch W. Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 32. 202 Tocquevi/le, ÜdDiA 11, zitiert nach H. White, S. 273. 203 Jacques Nautet, Alexis de Tocqueville, Paris 1971, S. 125.

III. Die Freiheit der Seele statt des "bonheur vegetatif'

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individual but all humankind"204 nennen. Weber wiederum explizierte dieses leitende Thema an exponierter Stelle innerhalb der "Protestantischen Ethik": ltun geht es "um den ethischen Leben!!stil der den Sieg des Kapitalismus in der Seele (vom Verf. hervorgehoben) des Menschen bedeutete."205 Dieselbe zentrale Frage, die dann in Webers Thema der "Persönlichkeit und der Lebensordnung" mlindet206, kommt schon im Haupttext der "Protestantischen Ethik" zum Tragen. Hier ist es Webers dringendstes Anliegen, darauf hinzuweisen, daß es beim puritanischen Protestantismus "nicht um die triebmäßige Gier nach Geld, nach GIUck, nach dem splendor familiae u.s.w ...." gegangen sei, sondern darum, "daß der asketische Protestantismus fiir den Kapitalismus auch die entsprechende »Seele« schaffi:, die »Seele« des »Berufsmenschen«."207 Webers ausdrUckliches Forschungsziel der "Protestantischen Ethik" ist es, die "durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologischen (hervorgehoben vom Verf.) Antriebe, welche der Lebensfiihrung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten" 208 , zu ermitteln. Diese "anthropologisch-charakterologisch"209 motivierte Frage nach der Seele des modernen Menschen ist fiir Weber dabei immer eine Wirkungsfrage von "Ordnung" auf "Persönlichkeit"210, und auch seine Freiheitsidee richtet sich auf "die ganze »Seele«"211 des Menschen. Alexis de Tocqueville folgt dem gleichen Frageansatz. Die große Vokabel, um die sich auch seine gesamte politische Philosophie dreht und wo auch sie ihren Ort hat, ist ebenfalls die menschliche Seele, die es zu "beleben und zähmen" gelte. Stellvertretend fiir ihn hat Albert Salomon in seiner noch heute lesenswerten Textzusammenstellung das große Grundmotiv aller Tocquevilleschen Wissenschaft zusammengefasst: "Wie sehen die Menschen aus, welche in dieser 204 G. W Pierson, S. 770. Zu ganz ähnlichen SchlOssen gelangt P. A. Lawler, Tocqueville on Pride, Ioterest and Love, S. 219: "Tocqueville's political astuteness came from his unrivaled ability to see the relationship between history and psychology. We see this relationship, first of all, in his account of the effect on the human soul of the historical movement from aristocracy to democracy." 205 Weber, PE I, S. 145. 206 Vgl. W Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 59f. 207 Weber, PE I, S. 112. 208 Ebd., S. 117. 209 W Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 35f. 210 Auf dem 5. Evangelisch-sozialen Kongreß von 1894 führte Weber aus: "Wir wollen die äußeren Verhältnisse so gestalten, nicht: daß die Menschen sich wohl fühlen, sondern daß unter der Not des unvermeidlichen Existenzkampfes das beste in ihnen, die Eigenschaften, - physische und seelische - welche wir der Nation erhalten möchten, bewahrt bleiben." (ders. , Die deutschen Landarbeiter, in: Bericht über die Verhandlungen des 5. Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894, S. 80f.). 211 Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 589.

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neuen Welt leben, oder anders formuliert: Welche menschenformenden Wirkungen haben die schicksalshaften Bewegungen der modernen Welt, die Revolution und die Demokratie?"212 Auch Tocqueville interessieren an der modernen Demokratie nicht irgendwelche äußeren Umstände, sondern fast einzig, inwieweit sie im Menschen Seelenvorgänge fördern bzw. hemmen. Immer bewegt sich der Mensch bei Tocqueville zwischen seinem animalischen, also unfreien Teil und seinem menschlichen freien Teil: Wem dabei Tocquevilles Sympathie gilt, schreibt er 1836 an einen Freund. "Was immer wir auch tun, wir können den Menschen nicht davor bewahren, daß er ebenso einen Leib wie eine Seele hat. ( ... ) Du weißt, daß das Tier in mir nicht filgsamer ist als bei den meisten anderen, (doch) ich verehre den Engel und würde alles dafilr geben, um ihm zur Vorherrschaft zu verhelfen."213 An die Adresse Adam Smiths gerichtet - und dessen in den ersten Seiten seiner "Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth ofNations" von 1776 ausgefilhrtes Rationalisierungsbeispiel des Stecknadelkopfmachers aufgreifend - stellt Tocqueville die provozierende Frage: "Was soll man von einem Menschen erwarten, der zwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht hat, Stecknadelköpfe herzustellen?"214 Der Handwerker büßt "als Mensch (hervorgehoben vom Verf.) in dem Grade an Wert ein, wie er sich als Arbeiter vervollkommnet"215 , schreibt Tocqueville und weiter: "Es ist, als suchten die Träger der Staatsgewalt unserer Zeit mit den Menschen nur große Dinge zu vollbringen. Ich möchte, daß sie ein wenig mehr daran dächten, große Menschen zu machen; daß sie weniger Wert auf das Werk als auf den Arbeiter legten ..." 216 Noch die Menschen des "Ancien Regime", indem sie sich selbst den "willkürlichen Befehlen" des Königs "unterwarfen, gehorchten sie viel weniger dem Zwang als der Liebe, und so konnte es oft geschehen, daß sie in der äußersten Abhängigkeit ihre Seele sehr frei erhielten. Für sie war das größte Übel beim Gehorsam der Zwang; filr uns ist er das kleinste ... Verachten wir unsere Väter nicht, wir haben nicht das Recht dazu! Wollte Gott, wir könnten mit ihren Vorurteilen und ihren Mängeln ein wenig von ihrer Seelengröße wiederfinden!"217 Freiheit, als ein moralischer Begriff, der sich an eine seelische Befindlichkeit richtet, ist schließlich auch Jean-Jacques Rousseaus höchstes Ideal. Am 4. Oktober 1761 schreibt er in einem Brief an d'Offreville: "II est certain que faire Je bien ... donne a l'äme une satisfaction interieure, un contentement d ' elle meme 212 A. Sa/omon, Einleitung, S. 14. 213 Tocquevi/le, Brief an einen Freund, 1836, in ders. , Memoirs, Letters, and Remains of Alexis de Tocqueville, Zwei Bände, London 1861, S. 318. 214 Ders., ÜdDiA II, S. 175. 215 Ebd. 216 Ebd., S. 353. 217 Ders., DaSudR, S. 124.

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sans Iequel il n'y a point de vrai bonheur. li est sfire encore que !es miserables, quel que soit leur sort apparent, parce que Je bonheur s'empoissonne dans une äme corrompue, comme Je plaisir des sens dans une corps malsain". 218

IV. Freiheit als ethische Qualifikation In der Ablehnung einseitigen Vertrauens auf freiheitliche "Institutionen", im Zurückweisen eines Liberalismus, der überwiegend im Zerschlagen von ständischen und anderen Zwängen Freiheit freisetzen will, steckt jedoch noch ein weiteres charakteristisches, an den antiken Freiheitsbegriff erinnerendes Motiv: Um seine bürgerliche Freiheit zu bewahren, bedarf es einer dauerhaften Versittlichung, denn diese, nach der natürlichen, "zweiten" Freiheit bekommt der Mensch nicht in die Wiege gelegt. Um vom Mensch zum Bürger zu werden, vom "homme civilise" zum Citoyen, bedarf es eines willentlichen Emanzipationsakts vom "Status naturae"21 9 des Menschen. Freiheit wird zur zur "edlen" Fähigkeit und ist nicht "identisch(...) mit der »Irrationalität« des Handelns". 220 Entfesselte ziellose Willkür oder "spezifische »Unberechenbarkeit« gleich groß - aber nicht größer - wie diejenige »blinder Naturgewalten« ist das Privileg des Verrückten."221 Wie filr den Baron de Montesquieu besteht auch filr Weber "politische Freiheit nicht darin, zu tun was man will." Im Unterschied zu diesem jedoch, ist Freiheit filr Weber mehr als nur "das tun zu können, was man wollen darf, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf." 222 Sie besteht in seiner Vorstellung nicht in der Befreiung von der Gesellschaft und ihren Aufgaben, sondern in engem Zusammenhang mit ihr. Diese "Liebe zur Unabhängigkeit, die ihre Ursache nur in gewissen besonderen und vorübergehenden Übelständen hat, die der Despotismus herbeifilhrt, ist niemals von Dauer: Sie schwindet mit dem Umstand, der sie hervorrief; man schien die Freiheit zu lieben, es findet sich, daß man nur den Herrn haßte. Völker, die filr die Freiheit geschaffen sind, hassen aber das Übel der Abhängigkeit selbst" 223 , schreibt Tocqueville. Ein solches Denken bedeutet filr Weber, Tocqueville und Rousseau viel mehr Unfreiheit, die sich "in dieser Sichtweise im willenlosen Ausgeliefertsein an die äußeren Verlockungen des Lebens, in einem planlosen und

218 Rousseau, Brief an d'Offreville vom 4. Oktober 1761, zit. nach 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 269. 219 Vgl. Weber, PE I, S. 134. 220 Ders. , Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, S. 226. 221 Ebd. 222 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band I, S. 212f. 223 Tocqueville, DaSudR, S. 168.

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unberechenbaren Lebenswandel" 224 äußert. Freiheit dagegen ist die Fähigkeit, zur Welt Stellung zu beziehen 225, der Welt Sinn zu verleihen. Nur wer bewußt zur Welt Stellung nimmt, ist filr Weber im eigentlichen Sinne Mensch.226 Es ist diese sittliche und handelnde Freiheit, die alle drei ihrer Zeit entgegenzusetzen haben - nicht die ankultivierte, "schickliche" und auf unzusammenhängende Einzelhandlungen beschränkte äußerliche Freiheit des Konfuzianers, wie er in Webers Religionssoziologie auftritt, sondern die letztendlich religiös bedingte, verantwortungsethische "nüchterne Lebensmethodik"227 des "klassischen Puritaners"228, filr den Freiheit Befreiung von Verlockungen und Verfiihrungen des Lebens und die strenge Selbstkontrolle in der Befolgung religiöser Gebote beinhaltete229, im Falle Tocquevilles, die republikanische Freiheit des gläubigen, freiheitlich-sittlich geformten Amerikaners und im Falle Rousseaus diejenige des von ihm so bewunderten republikanisch gesinnten und sich fiir das Gemeinwesen seiner Kommune aufopfernden "Citoyen de Geneve". Gerade der weltangepaßte Konfuzianismus repräsentierte filr Weber dazu das krasse Gegenteil. Weil Verhaltensnormen von "außen nach innen" angepaßt wurden, konnte sich -zumindest in Webers Anschauung - in allen buddhistischen Religionen keine einheitliche habituelle Verfestigung von ethischen Grundsätzen, sondern nur ankultivierte inhaltslose Haltung, Manier, Contenance oder Geste entwickeln. 230 Der Webersche, Tocquevillesche und Rousseausche Freiheitsbegriff stellt jedoch immer auch ethische Qualifikationsansprüche an denjenigen, der diese Freiheit annehmen will. Zu einem freiheitlich lebenden Staatsbürger muß der Mensch daher im Denken Webers, Tocquevilles und Rousseaus erst befähigt werden und nur wer, wie es John Stuart Mill ausgesprochen hat, "in der Reife seiner Fähigkeiten" steht, kann sie erlangen. 23 1 Der Weg dorthin ist die Erziehung.

224 Richard Münch, Die Kultur der Modeme, Ihre Grundlagen und ihre Entwicklung in England und Amerika, Band I, Frankfurt 1986, S. 390. 225 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 599. 226 Vgl. Peter Altheit, Das Areligiöse im Denken Max Webers, Eine religionssoziologische Studie, Zum Problem der Ethik bei Max Weber, Marburg 1971, S. 122f. 227 Vgl. Weber, PE II, S. 32. 228 Ders., GARS I, S. 530. 229 V gl. R. Münch, S. 390. 230 Weber, GARS I, S. 534. Vgl. auch ebd., S. 531: Der prinzipiellste Unterschied von Puritanismus und Konfuzianismus kulminiert in Webers Satz: "Denn der überweltliche allwissende Gott sah auf den zentralen inneren Habitus, die Welt dagegen, an die sich der Konfuzianer anpaßt, nur auf die anmutige Geste." 231 John Stuart Mi/1, Über die Freiheit, S. 169. Dieser Gedankengang gehört zum klassischen Inventar aller Politikwissenschaft seit Aristoteles (vgl. ders., Politik, Schriften zur Staatstheorie, hrsg. und übersetzt von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, Siebentes Buch, S. 353-361 ). Die Denkfigur ist immer die gleiche: John Locke ist sie so selbstverständlich wie schon dem Baron de Montesquieu. Im Gegensatz etwa zur Monarchie

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Rousseau hat diesem Komplex einen ungewöhnlich breiten Raum gewidmet. Dabei hat er alles, was er darüber geschrieben hat, stets innerhalb eines dualistischen, ftlr manche aporetisch-paradoxalen 232 Rasters angeordnet: Rousseau kannte eine Grundlagenerziehung, die "education particuliere", und darauf fußend eine auf das Gemeinwohl gerichtete staatsbürgerliche "education publique".233 Damit soll jedoch keineswegs suggeriert werden, Rousseau hätte eine systematische pädagogische Stufenlehre anvisiert. Rousseau hat stets zwischen einer freiheitlichen Erziehung in einem freien Gemeinwesen und derjenigen in einer illegitimen, "verderbten" Gesellschaft zu differenzieren gewußt: "education particuliere" und "education publique" sind deshalb sich stets gegenseitig ausschließende Erziehungswege.234 Weil Rousseau den Hintergrund der Erziehungslehre, wie er sie im "Emile" ausgebreitet hat235 , die zivilisatorische "Entartung" abgab, wie er sie in seinen beiden "Discourses" entfaltet hat-

ist für ihn das Prinzip und die Triebkraft der Demokratie die Tugend der Staatsbürger. Diese Tugend stellt sich nur durch Erziehung ein: .,In der republikanischen Regierungsfarm ist man auf die ganze Stärke der Erziehung abgewiesen. In den Despotien wächst die Furcht aus den Drohungen und Strafen von selbst heran, und in den Monarchien fiirdern sich Ehre und Leidenschaften gegenseitig; die politische Tugend aber verlangt Selbstverleugnung, die immer schwerfiillt. Man kann den Begriff dieser Tugend bestimmen als Gesetzestreue und Vaterlandsliebe. Indem diese Liebe die beständige Bevorzugung des Gemeinwohls vor dem Eigenwohl verlangt, verleiht sie alle die einzelnen Tugenden, die sich durch diese Bevorzugung ausdrücken. Diese Liebe ist besonders mit der Demokratie verbunden, in der allein die Regierungjedem Bürger anvertraut ist. Nun geht es aber mit der Regierung genau so wie mit allen anderen Dingen in der Welt: man muß sie lieben, um sie zu erhalten. Nie hat man sagen hören, daß die Könige die Monarchie nicht liebten oder daß die Despoten den Despotismus haßten. So kommt also alles darauf an, in der Republik diese Liebe zu begründen; sie in die Herzen zu pflanzen, muß das Ziel der Erziehung sein." (Montesquieu, Über den Geist der Gesetze, S. 53f.). 232 Vgl. Wilhelm Voßkamp, "Un Iivre paradoxal", J.-J. Rousseaus Emile in der deutschen Diskussion um 1800, in: H. Jaumann, S. 101-113. 233 Martin Rang (vgl. ders., Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959) und Hermann Röhrs (vgl. ders., Jean-Jacques Rousseau, Vision und Wirklichkeit (1956), 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Heidelberg 1966) haben für die deutsche Rezeption zur Pädagogik Rousseaus schon in den fünfziger Jahren die dafür noch bis heute bedeutendsten Untersuchungen vorgelegt. H. Röhrs und die einen sahen ihn in der Nähe der Reformpädagogen des 18. Jahrhunderts wie Rollin, Fenelon und Crousaz, die anderen als weitgehend autonomen Pädagogen, der über sein "Projet pour l'education deM. de Sainte Maire" ( 1740) eigenhändig zu Themen der Erziehung gekommen sei. 234 Genauer: in einem Gemeinwesen, in dem Rousseau eine "education publique" zuläßt, kann dieser immer auch eine "education particuliere" im Sinne der .,negativen Erziehung" entweder vorausgehen oder beigeordnet sein. Ein Beispiel hierfür findet sich in den .,Betrachtungen über die Regierung in Polen" (ebd., S. 580f.). In einem despotischen Staat allerdings kann es fllr Rousseau einzig bei der "education particuliere" bleiben. 235 Vgl. Yves Vargas, Introduction a l'Emile de Jean-Jacques Rousseau, Presses universitaires de France, Paris 1995.

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te236, weil er also den Verfall der europäischen Staatenwelt voraussetzte und daraus die Konsequenz zog, konnte er flir das "abstrakte Wesen" Ernile statt einer politischen und öffentlichen eben nur die häusliche und natürliche Erziehung, statt einer auf das Gemeinwesen gerichteten Erziehung zum staatsbUrgerliehen Handeln lediglich eine individualistische und gesellschaftliche Erziehung zur Humanität, aber nicht mehr eine politische zum StaatsbUrger leisten, mithin das, was der Begriff der "education particuliere" impliziert. Rousseau stellte dies im "Emile" gleich zu Beginn seiner Auffiihrungen klar: "Eine öffentliche Erziehung existiert nicht mehr und kann auch nicht mehr existieren. Denn wo kein Vaterland mehr ist, kann es auch keine StaatsbUrger mehr geben."237 Rousseaus Individualerziehung im "Emile" entspringt also nicht, wie Friedrich Haymann zutreffend bemerkt hat, der "Begeisterung Rousseaus flir die Autonomie des Individuums", sondern, um mit Martin Rang zu sprechen, Rousseaus trauriger Einsicht, "daß die modernen Völker zur rechten Staatsgesinnung und Staatserziehung unfiihig sind."238 "Als die Welt sich in Nationen aufgeteilt fand, welche zu groß waren, um gut regiert werden zu können", schreibt Rousseau, "war dieses Mittel nicht mehr brauchbar; und andere GrUnde, welche der Leser leicht einsehen kann, haben verhindert, daß man es bei irgendeinem neuzeitlichen Volk versucht hat."239

236 Über das Stichwort "Entartung" erklärt sich, warum Rousseau den ersten und zweiten "Discours", sowie seinen "Emile" als Einheit verstanden wissen wollte. "Alles, was ich von dieser Menge großer Wahrheiten behalten habe, die mich eine Viertelstunde unter diesem Baum erleuchteten, ist sehr schwach in meinen Hauptschriften verstreut erschienen, nämlich in jener ersten Abhandlung, in der über die Ungleichheit und dem Traktat von der Erziehung, welche drei Schriften unzertrennlich sind und zusammen ein einziges Ganzes bilden", schreibt er im "Zweiten Briefan Malesherbes" (ebd., S. 483). 237 • Ders. , Emile, S. 114. 238 M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 78f. 239 Rousseau, Emile, S. 248. Der "Emile" ist aber dennoch nicht ganz so "apolitisch", wie M. Rang ihn interpretiert hat (ders., Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 43). Er hat immer auch eine, wenn auch zugegebenennaßen stark reduzierte, politische Dimension jenseits einer öffentlichen Erziehung, die in der Tat verworfen wird. Emiles häusliche Gemeinschaft stellt zwar .,gleichsam eine Insel auf dem Ozean der gesellschaftlichen Dekadenz'· (ebd., S. 78) dar, die Isolation ist jedoch nicht das Ideal des Genfers, es geh~ren tur Rousseau auch "Bürgerr.flichten" zu diesem Leben. Das Zitat vom Anfang des "Emile" aufgreifend, (Rousseau, Emile, S. I 14) fordert Rousseau von seinem Zögling, sich diesen Pflichten zu stellen, "denn wer kein Vaterland hat, hat zumindest eine Heimat." (ebd., S. 941). Und weiter heißt es: "Ach Emile! wo ist der rechtschaffene Mensch, der seiner Heimat nichts schuldet? Wer er auch sei, er schuldet ihr das dem Menschen Kostbarste, die Sittlichkeit seiner Handlungen und die Liebe zur Tugend. Im tiefsten Wald geboren, hätte er glücklicher und freier gelebt; da er aber gegen nichts anzukämpfen gehabt hätte, um seinen Neigungen nachzugehen, wäre er gut gewesen ohne Verdienst, er wäre nicht tugendhaft gewesen." (ebd.). Weil zum einen dieser Rousseausche Tugendbegriff schon im weitesten Sinne politisch angelegt ist und zum anderen einige der charakterlichen Dispositionen, die Rousseau in seinem Zögling fördern will, lmplikationen auf ein politisches Handeln haben, spielt auch der "Emile" flir eine Ana-

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Gedanken zu einer "education publique" werden im "Emile" schweren Herzens und notgedrungen von vornherein dispensiert, gerade die zeitgenössische französische Gesellschaft mit Paris als dem Inbegriff der Dekadenz lasse dies nicht mehr zu, im "Emile" wohlgemerkt- nicht aber im Werk Rousseaus überhaupt, denn der Genfer kannte ja noch durchaus Orte, fiir die er noch die Möglichkeit einer politisch-freiheitlichen Lebensführung sah: seine Vaterstadt Genf zu allererst, Korsika und dann vor allem Polen. Martin Rang hat darauf aufinerksam gemacht, daß es zwischen dem individuellen einerseits und dem staatsbürgerlichen Leben und Erziehen andererseits bei Rousseau keine gedankliche Versöhnung gegeben hat und es seiner Eigenlogik folgend auch nicht geben konnte, auch wenn diese Dualität immer wieder von außen ins Werk hineingetragen worden ist. 240 Wäre dem so, beflinde sich das Werk in einem permantenten Widerspruch mit sich selbst, argumentierte Rang völlig zu recht. Rousseau hat diese Überzeugung eigenhändig niedergeschrieben: "Wer in der bürgerlichen Ordnung die Ursprünglichkeit der natürlichen Gefühle bewahren will, der weiß nicht, was er will. In fortwährendem Widerspruch zu sich selbst, immer schwankend zwischen Neigung und Pflicht, wird er niemals weder Mensch noch Staatsbürger sein ... Ich warte darauf, daß man mir dieses Wunder vorführe, um zu sehen, ob er ein Mensch oder ein Staatsbürger ist, und wie er es fertigbringt, sowohl das eine wie das andere zu sein."241 Eine Mischform aus "citoyen" und "homme" sei daher unvereinbar, "der politische Weg ist an das Vorhandensein einer integren politischen Gemeinschaft, eines "Vaterlandes", gebunden; der individuelle Weg ist erlaubt und sinnvoll erst da, wo es keine solche politische Gemeinschaft mehr gibt. Wer als Bürger eines wirklichen Staates den Weg der individuellen Existenz beschreiten wollte, wäre ein Vaterlandsverräter, wer inmitten eines korrumpierten Staatswesens den Weg der politischen Existenz beschreiten will, ist ein Narr." 242 Die gesellschaftliche Konvention indessen sieht noch immer eine Erziehungsform vor, das ist Rousseaus Gesellschaftskritik, "die zwei einander gegensätzliche Ziele verfolgt" - und doch keines von beiden erreicht - "sie dient nur dazu, Doppelwesen zu erzeugen, die scheinbar stets an ihre Mitmenschen denken, in Wahrlyse der politisch-freiheitlichen Erziehung im Werk Rousseaus eine gewisse Rolle, die es nicht zu unterschlagen gilt, und zwar in dem Sinn, daß die "natürliche Erziehung" des "Emile" als politisch-freiheitliche Grundlagenerziehung einer politisch definierten freiheitlichen Lebensflihrung nutzbar gemacht werden kann. Trotzdem bleibt der "Emile" vor der Folie der gesellschaftlichen Depravation - ein Erbauungsbuch flir eine menschliche Freiheit, die sich nicht länger am Wertekatalog der bürgerlichen Gesellschaft ausrichten kann, sondern ganz im Gegenteil, fernab von ihr, den Einzelnen gegen ihre depravierenden Einflüsse wappnen will. 240 Vgl. A. Schinz, La pensee de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1929. oder auch B. Groethuysen, Jean-Jacques Rousseau. 241 Rousseau, Emile, S. 113. 242 M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 89.

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heit aber nur an sich selber."243 Als Folge daraus- und die Behauptung läßt sich fiir sein gesamtes Werk aufrechterhalten- wählt Rousseau je nach Lage den einen oder den anderen Weg, den individueller "natürlicher Erziehung", wo er ein korrumpiertes Gemeinwesen ausmacht, den des "Citoyens", wo er ein Gemeinwesen vorfindet, welches noch einen Weg öffentlicher Freiheit zulässt. In der "Polenschrift" ftihrt er noch einmal eindeutig aus: "Die nationale Erziehung ziemt sich nur fiir freie Menschen; nur diese kennen ein gemeinschaftliches Dasein; nur diese sind wahrhaft durch das Gesetz verbunden."244 Auch ftir Genf etwa insistierte Rousseau nicht nur vor seinem Bruch mit den Stadtoberen im Juni 1762 noch filr eine "öffentliche Erziehung" - ein weiteres Indiz dafilr, daß er hier, innerhalb der Stadtmauem seiner so innig geliebten Republik, noch wahrhafte Chancen der Freiheit etblickte. Robert Derathe hat passend dazu gemeint, "um eine vollständige Darlegung" von Rousseaus "Gedankenwelt zu erhalten", müsse man unbedingt beide Bücher lesen: "Der "Emile" wendet sich an die Menschen aus korrumpierten Gesellschaften, damit diese sich vor dem Verderben schUtzen könnten, während der "Gesellschaftsvertrag" ftlr Völker bestimmt ist, die sich ihre Freiheit zu erhalten wußten."245 Es istjedoch bereits der "Premier Discours", in den Rousseau diese unzweifelhaft aus der Genfer Anschauung gewonnenen Gedanken einer "education publique" niedergelegt hat. 246 Von hier aus streuen sich über das gesamte Werk hinweg immer wieder Passagen, die eine öffentliche, den Menschen zum Bürger formende Erziehung vehement einfordern. Rousseaus Pädagogik ist eine im gesamten Werk allgegenwärtige Angelegenheit, der "Emile" davon sicherlich der umfangreichste Teil, aber beileibe nicht der einzige: In der "Abhandlung Ober politische Ökonomie" (1755) etwa, im "Brief an d'Aiembert" (1758), in Rousseaus Korrespondenzen gerade des Jahres 1758, im "Contrat Social" (1761 /62), dann in der KorsikaSchrift (1765) und schließlich wieder in den "Betrachtungen über die Regierung Polens" aus dem Jahr 1772 ziehen sich pädagogische Ideen durch das Werk des Genfers wie ein roter Faden. "Die Erziehung ist es, welche den Seelen die nationale Kraft geben und ihre Meinungen und ihren Geschmack so leiten muß, daß sie Patrioten aus Neigung, aus Leidenschaft, aus Notwendigkeit werden. Ein Kind muß, sobald es die Augen öffnet, das Vaterland sehen und bis zum Tode nichts anderes sehen als das Vaterland. Jeder wahre Republikaner hat die Liebe zu seinem Vaterland, das heißt zu den Gesetzen und zur Freiheit mit der Muttermilch eingesogen." 247 Ähnlich enthusiastisch klingt Rousseaus Plädoyer einer republikanischen ErzieRousseau, Emile, I. Buch, S. 114. Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 578. 245 Robert Derathe, Rousseau (Einleitungsaufsatz), OC, Band 3, S. XCVIII. 246 Rousseau, PD, S. 52f. 247 Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 578. 243

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hung in der "Abhandlung über die politische Ökonomie": "Ihr werdet alles haben, wenn ihr Bürger bildet; tut ihr es nicht, werdet ihr nur elende Sklaven haben, angefangen bei den Staatsoberhäuptern. Allein, Bürger zu bilden ist nicht das Werk eines Tages, und braucht man sie als Erwachsene, so muß man sie als Kinder unterrichten. " 248 Rousseaus pädagogische Grundüberzeugung einer öffentlichen Erziehung resultiert notgedrungen aus seiner Freiheitslehre, denn es ist überaus einleuchtend, daß an die Stelle der politischen Beseitigung von staatlichen Lasten und Pflichten die Aufgabe einer sich pädagogisch vollziehenden Versittlichung der Lebensführung rückt. 249 Diesen zentralen Gedanken hat Rousseau an vielen Stellen seines Werkes aufgegriffen. Nicht jedoch, wie vielleicht zunächst zu vermuten wäre, im "Emile" , sondern in der so abseitigen "Polenschrift" und vor allem auch in Rousseaus "Abhandlung über die politische Ökonomie". "Vom ersten Pulsschlag des Lebens an" müsse diese öffentliche Erziehung stattfinden, schreibt Rousseau dort, "und wie man von Geburt an an den Rechten des Bürgers teilhat, so muß auch der Augenblick unserer Geburt der Anfang der Übung in unseren Pflichten sein. ( ... ) Da man die Vernunft jedes einzelnen Menschens nicht den einzigen Schiedsrichter über seine Pflichten sein läßt, so darf man um so weniger den Einsichten und den Vorurteilen der Väter die Erziehung ihrer Kinder überlassen, als sie dem Staat noch wichtiger als den Vätern ist; denn nach dem Lauf der Natur beraubt der Tod des Vaters ihn oft der letzten Früchte dieser Erziehung, aber das Vaterland empfindet fiiiher oder später ihre Wirkungen; der Staat bleibt bestehen, und die Familie löst sich auf."2so Dort, wo Rousseau die Möglichkeit dazu sieht, hängt er der Idee eines Gemeinwesens an, die die politische Integration in die Republik weit über die familiale stellt. Der öffentlichen Erziehung - "nach Regeln, welche die Regierung vorgeschrieben hat und unter obrigkeitlichen Personen, welche der Souverän eingesetzt hat" - mißt er einen höheren Stellenwert bei als der privaten, häuslichen, sie ist ihm gar "die wichtigste Angelegenheit des Staates"251 und "einer der Hauptgrundsätze einer gemeinherrschenden oder rechtmäßigen Regierung." Und auch dort, wo es ganz untheoretisch und konkret um die innere Verfassung 248

Rousseau, Aüdpo!Ök, S. 245f.

Einer politisch-republikanischen Freiheitsidee eine ebensolche Pädagogik quasi systematisch beizufügen ist nicht nur flir Rousseau ein zwingendes Gebot, sondern ein Grundgedanken, der eine bestimmte Tradition des europäischen Liberalismus insgesamt zusammenbindet: Von John Locke bis John Stuart Mill ist es flir diese politische Wissenschaft noch eine Selbstverständlichkeit, sich selbst stets eine immer politisch konzipierte Pädagogik an die Seite zu stellen. Weil gerade der "main stream" des modernen aufklärerischen Liberalismus jegliche wertbehaftete Tugend- und Sittenlehre verfemte, ist dieser Seitenzweig der politischen Wissenschaft spätestens mit Einsetzen der positivistischen Wissenschaftsepoche anfangs des letzten Jahrhunderts abgestorben. 250 Rousseau, AildpolÖk, S. 247. 25 1 Ebd. 249

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der Republik seiner Heimatstadt geht, spricht er eine unmißverständliche Sprache. Das hierfilr herangezogene Zitat stammt aus einem Brief an Theodore Tronchin aus dem Jahr 1758: "Hinsichtlich der öffentlichen Erziehung unterscheiden Sie sehr klug zwischen den griechischen Republiken und der unseren: das hindert aber nicht, daß diese Erziehung nicht auch bei uns stattfinden könnte und daß sie nicht schon zwangsläufig vorhanden wäre, ob man nun will oder nicht. ( ... ) Die Ausbildung eines Arbeiters zielt darauf ab, seine Finger zu schulen, weiter nichts. Doch der Bürger bleibt zurück; Kopf und Herz werden gut oder schlecht ausgebildet; dafilr findet sich immer Zeit, und diesbezüglich müssen die Institutionen Vorsorge treffen."252 Ihm selber, so Rousseau weiter, sei diese öffentliche Erziehung zuteil geworden, wenn auch nicht "durch spezielle Institutionen, sondern durch Traditionen und Grundsätze, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und der Jugend frühzeitig das Verständnis beibringen, das ihr ziemt, und die Gefilhle, die sie braucht."253 Er schließt daran den Appell zu öffentlicher Erziehung in Genf an: "Das ist genau die richtige Erziehung filr uns, ein Mittelding zwischen der öffentlichen Erziehung der griechischen Republiken und der Familienerziehung in den Monarchien, wo alle Untertanen isoliert bleiben müssen und nichts gemeinsam haben dürfen, außer den Gehorsam." 254 Jean-Jacques Rousseaus politisch-pädagogische Forderungen gewinnen Gestalt vor dem Hintergrund des bestehenden Erziehungssystems seiner Zeit. "Ein Franzose, ein Engländer, ein Spanier, ein Italiener, ein Russe sind alle ungetahr der gleiche Mensch; verläßt er die Schule, so ist er ganz zurechtgemodelt fiir akademische Würden, also zur Knechtschaft."255 Im Zusammenhang mit den sittlichen Schäden, die die Beschäftigung mit den Wissenschaften nach sich zöge, polemisierte Rousseau auch schon in seinem "Premier Discours" - unzeitgemäß und schon in wahrhaft reformpädagogischem Duktus256 - gegen die zu seiner Zeit übliche Kollegienerziehung: "Allenthalben gewahre ich riesige Anstalten, wo die Jugend mit großen Kosten erzogen wird und wo man sie alles lehrt, nur nicht ihre Pflichten. Eure Kinder werden ihre eigene Sprache nicht kennen, doch sie werden andere sprechen, die nirgends in Gebrauch sind. Sie werden Verse machen, die sie kaum verstehen können ... Allein, was die Worte Großmut, Billigkeit, Mäßigkeit, Menschenliebe und Tapferkeit bedeuten, wird ihnen ganz unbekannt sein. Der angenehme Name des Vaterlandes wird niemals 252 Ders., Brief an Theodore Tranehin vom 26. November 1758, Korrespondenzen, Nr. 743, S. 163. 253 Ebd.

Ebd., S. 163f. Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 578. 256 Zu den Hintergründen der frühen französischen "refonnpädagogischen" Bewegung, die als ihre Gründerväter auch Michel de Montaigne und John Locke beansprucht, vgl. M. Rang, S. 65f. 254 255

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in ihren Ohren erklingen, und wenn sie von Gott reden hören, so werden sie mehr Schrecken als Furcht empfinden."257 Es sind die unter kirchlicher Führung stehenden "Kollegien", die hier im Mittelpunkt der Kritik stehen; sie hat er im Visier, wenn er in der den ersten "Discours" noch einmal untermauemden "Vorrede zu »Narcisse«" fordert, anstatt "unsere arme Jugend" zu quälen, "um sie die schönen Wissenschaften zu lehren", ihr "die Pflichten des Menschen" beizubringen. 258 Es wird verständlich, warum es flir Rousseau in seinen "Betrachtungen über die Regierung Polens" nicht "der gewöhnliche, von Fremden und Priestern erteilte Unterricht ist", den er den Kindem erteilt wissen möchte. 259 Statt unnützer Kenntnisse zu vermitteln, steht bei ihm vor allem die charakterliche Erziehung im Vordergrund, die sich unter einem ganz eigenen anthropologischen Überbau vollzieht und in ihren pädagogischen Zielen an die Lockesche Trias erinnert: "Le but que l'on doit se proposer dans l'education d'un jeune homme, c'est de lui former Je coeur, Je jugement et l'esprit, et cela dans !'ordre que je les nomme."260 Martin Rang urteilte, daß die Rousseauschen Reformideen "zu jener großen Bewegung der Verstaatlichung des Erziehungswesens" gehören, "die das 18. Jahrhundert durchzieht". 261 Gleich zu Beginn des "Emile" bringt Rousseau diese Kritik auf den Punkt: "Unter öffentlicher Bildungsanstalt verstehe ich nicht diese lächerlichen Anstalten, die man Kollegien nennt."262 "Literatur und Gelehrsamkeit unseres Jahrhunderts zielen eher darauf ab, zu zerstören als aufzubauen... Trotz all der Schriften, die, wie behauptet wird, nur dem Nutzen der Allgemeinheit dienen sollen, wird die vordringlichste aller Notwendigkeiten, nämlich Menschen heranzubilden, immer wieder vergessen."263 Im Mittelpunkt seiner pädagogischen Lehre steht bei Rousseau, den Menschen in der Erziehung zu sich selbst kommen zu lassen und ihn nicht, äußerlich einer Methode anzupassen 264, ihn zu "dressieren" "wie ein Zirkuspferd" oder umzubiegen "wie einen Baum im Garten."265 Seine Antwort auf die grundsätzliche Frage nach der Freiheitsmöglichkeit in der Modeme gibt Tocqueville in einem Brief an Francisque de Corcelle vom 17. September 1853 in einer ganz ähnlichen, nämlich pädagogischen Weise. Wie Rousseau ist er davon überzeugt, "que les societes politiques sont, non ce que les font de leurs lois, mais ce que )es preparent d'avance a etre des senti257 Rousseau, PD, S. 52f. 258 Ders., Vorrede zu »Narcisse«, S.l55. 259 Ders., Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 579. 260 Ders., zit. nach M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 68. 261 M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 154. 262 Rousseau, Emile, ' I. Buch, S. 114. 263 Ebd., Vorwort, S. I 02. 264 Ebd., S. 107. 265 Ebd.

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ments, les croyances, les idees, les habitudes de coeur et d'esprit des hommes qui les composent", und dann die entscheidende Stelle, " ... ce que Je nature! et /'education (hervorgehoben vom Verf.) ont fait ceux-ci."266 Ähnlich Rousseau sind Tocqueville nicht einseitig "Bildung der Massen" oder "formale Erziehung" freiheitstiftende Mittel, wie sie etwa bei Talleyrand oder dem Marquis de Condorcetl67 in den Vordergrund rückten. Blickt er zurück in die Zeit der revolutionären Epoche in Frankreich, so beklagt er vor allem den Umstand, daß hier "die ganze politische Erziehung eines großen Volkes" - wenn auch "eines so wenig auf selbständiges Handeln vorbereiteten Volkes"268 - "ausschließlich durch Schriftsteller geschah ..." 269 Tocqueville hat dabei hauptsächlich die Ökonomisten und Physiokraten im Visier, Letronne, Quesnay und Turgot etwa, wie er sie und ihre aufklärerische Volksbildung in seinem analytisch so scharfsichtigen Spätwerk "Der alte Staat und die Revolution" vernichtend kritisiert hatte. 270 Die "Symmetrie ihrer Pläne" wird diesen zum Maßstab, "an die eigentlichen politischen Freiheiten denken sie gar nicht"271 , schreibt er. Ablehnend steht er den physiokratischen Konzepten einer öffentlichen Erziehung gegenüber - nicht weil er sie prinzipiell verwerfen wUrde, sondern weil diese im Denken Fran~ois Quesnays an die Stelle jener filr Tocqueville so wertvollen freiheitlichen Garantien, also "beratenden Versammlungen, lokalen und vermittelnden Gewalten'\ treten sollten. Darüberhinaus aber auch deswegen, weil die Erziehungsinhalte der Physiokraten sich mit seinen eigenen nicht zur Deckung bringen ließen. Eine "Aufklärung" der Nation, der "Mechanismus einer den Prinzipien entsprechenden Erziehung", die Umformung des Geistes der Bürger "nach einem im voraus bestimmten Vorbilde" - das schien ihm "armseeliges verworrenes Literaturgeschwätz"272 und "keine geistige Heilmethode", freie StaatsbUrger hervorzubringen. Tocqueville resümiert seine Haltung gegenüber den Physiokraten mit dem Satz: "»Der Staat macht aus den Menschen alles, was er will«, sagt Bodeau. Dies Wort faßt alle ihre Theorien zusammen." 273 Er selbst hatte eine andere pädagogische Idee. ln jenem berühmten Brief an Louis de Kergorlay vom 26. Dezember 1836 schreibt er über den gerade erschienenen zweiten

266 Tocquevil/e, Brief an Francisque de Corcelle vom 17. September 1853, OC, Band XV.2., S. 81. 267 Vgl. etwa Marie-Jean de Condorcet, Memoires sur l'instruction publique (1791), und ders., Bericht Ober die Allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichts ( 1792), in: Erziehungsprogramme der französischen Revolution. Mirabeau, Condorcet, Lepeletier, eingleitet und erläutert von Robert Alt, Leipzig 1949. 268 Tocquevi/le, DaSudR, S. 167. 269 Ebd., S. 149. 270 Vgl. ebd., S. 161. 27t Ebd.

272 273

Ebd., S. 161. Ebd., S. 163.

IV. Freiheit als ethische Qualifikation

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Band: "Den Menschen, wenn möglich zu zeigen, was getan werden muß, um sich vor der Tyrannei und Verkümmerung zu bewahren ( ... ) das ist, denke ich, die Grundidee, in die sich mein Buch zusammenfassen läßt..."274 Tocqueville selbst tritt als Erzieher auf, wenn er sich in der Rolle des Staatslenkers begreift, von dessen Warte er seine Erbauungsbücher geschrieben und verstanden wissen wollte. 275 "Wenn diese Wahrheit nicht überall in meinem Buch offenbar wird, wenn es nicht dauernd aufzeigt,( ...) welches die Gefiihle, Ideen, Sitten sind, die allein zur Prosperität und zur staatsbürgerlichen Freiheit fUhren (... ), so hätte ich nicht das wichtigste und sozusagen einzige Ziel erreicht, das ich im Auge hatte"276, schreibt er in der "Demokratie in Amerika". Tocqueville geht es darum, freiheitliche Anlagen im Menschen zu wecken und sie dann sittlich zu festigen. Es erinnert an Rousseau und auch Webers "Soziologie der Erziehungszwecke", wenn Tocqueville etwa über den Patriotismus als zusammenschweißendes geistiges Band schreibt, es käme gerade darauf an, "dieses verschwommene Heimatgeruh I, eine Regung, die immer im menschlichen Herzen wohnt, zu erwekken (hervorgehoben vom Verf.) und zu lenken, und, indem man es mit den Gedanken, Leidenschaften, Gewohnheiten des Alltags verbindet, aus ihm ein klares und dauerhaftes Gefiihl zu machen."277 Erziehungsaufgaben sind es also, die Tocqueville formuliert. 278 Wenn Freiheit ein Problem der Sittlichkeit ist, und nicht die Selbstvergessenheit des "private enjoyments", dann liegt auch fiir Tocqueville nahe, Freiheit als einen auf die Kollektivität ausgerichteten Moralbegriff zu definieren, der wiederum über die Erziehung im Einzelnen herangebildet werden muß. Gerade in der Gleichheit braucht die Gemeinschaft "wohlerzogene" Staatsbürger, die diese Freiheit leben, und sie im Handeln Tag fiir Tag neu begründen. Auch fiir Tocqueville hat eine verantwortungsvolle Freiheit, die zu einer Lebensfiihrung verinnerlicht wird, nur eine Chance, wenn, wie Michael Hereth schreibt, Meinungen und Überzeugungen der Bürger entstehen, "daß eine freie Ordnung und ihr freies Handeln ein Gut sind, das um seiner selbst willen erstrebenswert ist. Die politischen Institutionen der Republik haben deswegen neben ihren problemlösenden Aufgaben die gleichsam pädagogische Aufgabe, die Bürger zu Mitwirkung und zur Erfahrung der Freiheit zu »erziehen«" .279

274

II.

Ders., Briefan Louis de Kergorlay vom 26. Dezember 1836, OC, Band XIII. I., S.

275 Vgl. ders., ÜdDiA I, S. 9 und W. Hennis, Tocquevilles "neue politische Wissenschaft", S. 395. 276 Ders., Briefvom 17. September 1853, OC, Band VI, S. 226-228. 277 Ders., ÜdDiA I, S. 107. 278 Vgl. Michael Hereth, Tocqueville zur Einführung, Harnburg 1991, S. 132. 279 Ebd., S. 131 f.

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B. Fonnen der Freiheit in der Moderne

Auch Max Weber hat schon in den frühesten Phasen seines wissenschaftlichen Schaffens - so bereits in seiner Freiburger Antrittsrede - die Aufmerksamkeit auf den Aspekt einer öffentlichen Pädagogik gelenkt, und ihn gerade immer dann wieder aufgegriffen, wenn er das Gut politischer Freiheit gefahrdet sah. Das schien ihm 1894 angesichts der Lage in Ostelbien geboten zu sein, als er jene politische Unreife breiter Schichten des deutschen Bürgertums280 beklagte, die er auch an anderen Orten irnrner wieder für die Krise nach der Entlassung Bismarcks 1890 verantwortlich gemacht hatte, und wiederum, als er 1916 in seiner Rede über "Deutschland unter den europäischen Weltmächten" an die Burentrage erinnerte und auch in diesem Zusammenhang der Nation "Unerzogenheit" glaubte vorwerfen zu müssen. 281 Um ihren schwerwiegenden Folgen zu entgehen, war es ihm geboten, eine "ungeheure politische Erziehungsarbeit"282 gerade jenes "politisch unerzogenen Spießbürgertums"283 , eigentlich der gesamten "Nation"284 zu leisten. Es gebe keine "ernstere Pflicht"285 , auch wenn "die politische Erziehungsarbeit eines Jahrhunderts sich nicht in einem Jahrzehnt nachholen"286 ließe. Sein pädagogisches Temperament ragte bis hinein in sein Wissenschaftsverständnis: Auch die Wissenschaft, die er betreiben wollte, obwohl werturteilsfrei und die "Kathedersuggestion" gänzlich vermeidend, stattete er dennoch mit einem immer auch pädagogischen Auftrag aus. So sah er das "letzte Ziel auch gerade unserer Wissenschaft (d. i. die Nationalökonomie, der Verf.)" gerade darin, "an der politischen Erziehung unserer Nation mitzuarbeiten."287 Im letzten Kriegswinter, im Dezember 1917, als es Weber um "Wahlrecht und Demokratie in Deutschland" ging, erkannte er wiederum das "weitschichtige Problem der Demokratie" nicht so sehr in seinen politischen Folgen eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts, das Weber nicht zuletzt aus jenem "gewissen Mindestmaß von Schamgefühl und Anstandsptlicht" gegenüber den "heimkehrenden Kriegern" forderte, sondern verlagerte seinen Schwerpunkt hauptsächlich auf die Frage der Beflihigung der Bürger zu dieser Staatsform. Gerade deswegen wurde filr ihn die "politische »Reife«"288 der Nation zur politischen Nagelprobe, an der sich die Zukunft Deutschlands unter der neuen Staatsform entscheiden würde.

280 Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 21 f. 281 Vgl. ders., Deutschland unter den europäischen Weltmächten, GPS, S. 160. 282 Ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 24. 283 Ebd., S. 23. 284 Ders., Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 160. 285 Ders., Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 24. 286 Ebd., S. 22. 287 Ebd., S. 33. 288 Ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 247(

IV. Freiheit als ethische Qualifikation

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Unter Erziehung hat Max Weber nicht das verstanden, was das Gros der Pädagogen seiner Zeit dafiir gehalten hat: in der Mehrheit jene rationale Facherziehung, die ihre "Zöglinge zu praktischer Brauchbarkeit fiir Verwaltungszwecke" "abrichten"289 wollte. Gegenüber diesem im Grunde militärischdisziplinierenden Erziehungstyp hat er seine Ablehnung immer wieder unverhohlen offenbart. Im Zusammenhang mit der Diskussion über das Referat seines amerikanischen Kollegen George Fullerton auf dem vierten Hochschullehrertag in Dresden 1911 bestätigte er diese Sicht der dem bürokratisch-rationalen Herrschaftstyps korrelierenden Erziehungsform, obwohl oder gerade weil diese "bei uns" herrsche "mit ihrem "Hausbesitzercharakter", mit all dem bureaukratischen Wesen, dem Drill, der drum und dran hängt.'mo Weber geht es in seinem freiheitlichen Erziehungsideal um etwas ganz anderes: den Menschen zu einer "bestimmten inneren und äußeren Lebensfiihrung" zu erziehen.291 Die heutige rationale Epoche der modernen "Erziehungsanstalten" ließ ihm dies nicht mehr zu, im Gegenteil, sie reklamierte als vollwertigen Ersatz die ausschließliche Fachausbildung, wie sie zu Webers Zeiten die aufkommenden Fachhochschulen imposant repräsentierten. Mag Weber diese Schulen des "Spezialistentums" aus wissenschaftlichen Gründen noch befürwortet haben, etwa wenn er fiir die Fähigkeit warb, "sich einmal sozusagen (wissenschaftliche) Scheuklappen anzuziehen"292, und mag er auch davon überzeugt gewesen sein, daß es nicht wahr sei, "daß die »Persönlichkeit« in dem Sinn eine »Einheit« sei und sein solle, daß sie sozusagen in Verlust geraten müßte, wenn man ihrer nicht bei jeder Gelegenheit ansichtig wird", so hat er doch an der Idee einer ganzheitlichen Erziehung zur "Persönlichkeit" festgehalten. Dem widerspricht keineswegs, wenn er schreibt, daß "bei jeder (im Orig. gesperrt, der Verf.) Aufgabe" "die Sache (im Orig. gesperrt, der Ver() als solche ihr Recht" verlange. "Und es ist auch nicht wahr, daß eine starke Persönlichkeit sich darin dokumentiere, daß sie bei jeder Gelegenheit zuerst nach einer nur ihr eigenen »persönlichen Note« fragt. Sondern es ist zu wünschen, daß gerade die jetzt heranwachsende Generation sich vor allen Dingen wieder an den Gedanken gewöhne: daß »eine Persönlichkeit zu sein« etwas ist, was man nicht absichtlich wollen kann, und daß es nur einen einzigen Weg gibt, um es (vielleicht!) zu werden: die rückhaltlose Hingabe an eine »Sache« möge dies und die von ihr ausgehende »Forderung des Tages« nun im Einzelfall aussehen wie sie wolle.''293 In diesem Sinn hat Max WeDers., GARS I, S. 408. Ders., Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Prof. Fullerton über "Die von den deutschen abweichenden Einrichtungen an den nordamerikanischen Hochschulen", Verhandlungen des IV. Hochschullehrertages zu Dresden am 12. und 13. Oktober 1911, Leipzig 1912, S. 69. 291 Ders., GARS I, S. 409. 292 Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 589. 293 Ders., Der Sinn der » Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 494. 289 290

13 Hecht

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ber an der Idee einer Erziehung zu einer "starken Persönlichkeit"294 festgehalten. Das zeitgenössische Erziehungssystem gerade der aufkommenden Realund Fachhochschulen schien ihm dafilr ungeeignet. Bloß "gebildet", im Sinn von "ankultiviert", ist Weber der konfuzianische "Schicklichkeitsethiker". Examensdiplome verbriefen filr ihn keinerlei politische Reife, genauso wenig wie diese durch Maturitäts-und "Einjährigenzeugnisse" beglaubigt werden könne. 295 Etwas anderes aber vermochten in seiner Anschauung die modernen "Fachhochschulen" nicht mehr aus sich freizusetzen. Was die privaten, häufig von puritanischen Sekten gegründeten amerikanischen Universitäten sich als ganz selbstverständliche Aufgabe bewahrt hatten, hatte die deutsche Universität des späten 19. Jahrhunderts aus ihrem Vorrat geistiger Prinzipien längst gestrichen. Die amerikanische Universität bezweckte "nicht in erster Linie Heranbildung zur Wissenschaft", sondern, wie Weber dies in Dresden 1911 begrüßte, die "Ausbildung der Persönlichkeit zum Sich-behaupten-Jemen in Kreisen gleichartiger Studenten, erwachsener Menschen, Ausbildung einer Gesinnung, die dem amerikanischen Staats- und Gesellschaftswesen als Unterlage zu dienen hat."296 Diese Persönlichkeitserziehung durch ganzheitliche Charakterprägung war in Deutschland längst einem Denken von der Freiheit der Wissenschaften zum Opfer gefallen, das, zumindest theoretisch, Persönlichkeitsprägung zugunsten von "bürokratischer Fachabrichtung" aufgegeben hatte297 und filr deren "Geist" die zahlreichen Neugründungen der sogenannten "Handelshochschulen" beredtes Zeugnis gaben. Der von Weber "beneidenswert" genannte Unterschied des inneren Wesens der amerikanischen Univeristät "gegenüber der unserigen" bestand darin, "daß die amerikanische Universität nicht von Amts wegen verplichtet ist, dem Staate filr seine Bureaukratie, flir seine Schule, flir, ich weiß nicht was alles, den entsprechend examensmäßig vorgebildeten Nachwuchs zu Iiefem,"298 wie dies in Deutschland üblich geworden war. Max Weber hat in seinem berühmten Vortrag "Wissenschaft als Beruf" ausgebreitet, was der Wissenschaft in einer entzauberten Welt an lebenspraktischen Aufgaben noch zugemutet werden könne. Für Max Horkheimer und Max Sehe294

Ebd.

Vgl. ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 248. Ders., Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Prof. Fullerton über "Die von den deutschen abweichenden Einrichtungen an den nordamerikanischen Hochschulen", S. 67. Weber weist darin auf die eigentlichen Vorzüge der alten Sekten-Colleges hin, und ist offensichtlich mit dem "trockenen" einseitig "organisatorischen" Ausführungen Fullertons über das amerikanische Universitätswesen unzufrieden, zumal dieser in seinem Referat den Webersehen Aspekt gänzlich übergeht. 297 Genauso beklagte Weber die "Europäisierung" der Vereinigten Staaten, wenn er bedauerte, daß "mindestens ein Teil der Universitäten das alte Collegesystem mit seinem Internatszwange und seiner strengen Kontrolle der Lebensfllhrung der Studenten über Bord zu werfen teils im Begriffe steht, teils schon über Bord geworfen hat." (ebd.). 298 Ebd., S. 68. 295

296

IV. Freiheit als ethische Qualifikation

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Ier enttäuschend wenig, waren dies jene Postulate, dte sich hinter jenen bekannten Schlagwörtern der "intellektuellen Rechtschaffenheit" verbargen, der "Anerkennung unbequemer Tatsachen", der "Klarheit des Denkens" und der "Rechenschaft über den letzten Sinn des eigenen Tuns", schließlich der nüchternen Einsicht des "geschulten rücksichtslosen Blicks". Bei genauerem Hinsehen öffnet sich hinter diesen wissenschaftlichen Sekundärtugenden jedoch auch eine grundlegende pädagogische Dimension des Webersehen Freiheitsideals. Das "Ende der säkularen christlichen Geschichtstheologie"299 , wie es Karl Löwith bezeichnet hat, als das "Schicksal der Zeit"300 wissenschaftlich wie lebenspraktisch - hatte Weber illusionslos akzeptiert. Wissenschaftlich, aber eben auch pädagogisch-lebenspraktisch, zog er daraus die Konsequenz, die in seinem berühmten Postulat "werturteilsfreier" Wissenschaft gipfelte. Werturteilsfreiheit hieß fiir ihn die Anerkennung der Tatsache, daß im Augenblick der Erkenntnis eines radikalen Verfalls objektiver absoluter Werte der ethisch-normative Lebensfiihrungsanspruch der Wissenschaft unmöglich weiter aufrechterhalten und legitimiert werden konnte, zumal auch diese sich nun in der Situation befanden, aus einem "bunten Strauß von »Kulturwertungen«"301 denjenigen wählen zu müssen, dem sie folgen wollte. Max Weber hat den Menschen seit dem "Tod Gottes" in einer "gottfremden und prophetenlosen Zeit" hineingestellt gesehen, verhaftet in harter autonomer Eigenverantwortung fiir seinen obersten ethischen Wert, seinen "Dämon, der seines Leben Fäden hält", den er jetzt ohne letzte Gewißheit spendenden Halt suchen und finden mußte. "Das Schicksal der Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so vollkommenen Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen"302, entgegnet er schroff seiner Studentenschaft in "Wissenschaft als Beruf'. Werturteilsfreie Wissenschaft kann im Freihalten von ideologischen Momenten, Weltanschauungen und Manipulationen, bzw. im Explizieren von inkonsequenten Werthaltungen innerhalb der Wertediskussion verdeutlichen, welchem "Gott gedient und welcher gerade gekränkt" wird. 303 Wissenschaft allein ist im Stande, radikalen 111usionsabbau zu betreiben und dadurch zu platonischer Einsicht zu fiihren. Sie leistet ihre wichtigste pädagogische Aufgabe, indem sie den Menschen "frei" macht, unvoreingenommen, unbefangen und klar. Sie versetzt in die Lage zur freien Wertentscheidung, zur Urteilskraft und Stellungnahme in der Welt und ermöglicht letztlich eine freie ethische Wahl, die stets Voraussetzung verantwortungsvollen Handeln ist. Kar/ Löwith, Weltgeschichte und Heilsdenken, Stuttgart 1953, S. 56f. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 605. 301 Ders., Der Sinn der » Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 492. 302 Ders., Wissenschaft als Berut: S. 605. 303 Ebd., S. 608. 299

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Nur wer "werturteilsfrei", im Sinne von unbefangen, der "Zeit in ihr ernstes Antlitz" blicken kann, erfllllte fllr Max Weber die Voraussetzung zu einer freiheitlichen Lebensfllhrung. Für eine "freie Persönlichkeit" ist die Grundlage eine desillusionierende "freie Sicht". Die "pädagogisch schwierigste Aufgabe" der Wissenschaft ist es, ,jemanden zum selbständigen Denken"304 über ein Problem zu bringen. Es wird deutlich, ohne daß es in der Literatur je gebührend gewürdigt worden wäre, daß Weber mit seinem pädagogisch-individualethischen Postulat der "Werturteilsfreiheit" nicht nur den methodologischen Problemen der Kulturwissenschaften seiner Zeit begegnen wollte, sondern mindestens genauso, den Akt des Erziehens als eines "Befreiens". Der geistige Ziehvater einer solchen Grundlagenpädagogik war Friedrich Nietzsche, der grundlegende Text dazu dessen Traktat über "Schopenhauer als Erzieher".305 An Stelle jener Sehnsucht nach neuen verbindlichen Wertsystemen, wie sie von der Wissenschaft durch Arthur Salz, Erich von Kahler oder Max Scheler gefordert wurde, setzt Weber Nietzsches Bekenntnis: "Deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier."306 Einer dogmatischen setzt Weber die "Fröhliche Wissenschaft" Nietzsches entgegen, wenn der den Einzelnen auffordert: "Du sollst der werden, der Du bist."307 "Vademecum - Vadetecum. Es lockt dich meine Art und Sprach, Du folgst mir, du gehst mir nach? Geh nur Dir selber treulich nach: - So folgst Du mir- gemach! gemach!"308 Weber folgt Nietzsche im Glauben, daß ,jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muß, und dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss fällt." 309 Die "fröhliche Wissenschaft" Nietzsches ist Webers pädagogisches Vademecum, sie ist befreite, undogmatische Wissenschaft, die gelernt hat, auch wenn sie von Weber stets bitterernst betrieben wurde, über die sture Verhaftetheit in die Gewißheit eigener Wahrheitstindung zu Iachen. 310

Ebd., S. 586. F Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, Unzeitgemäße Betrachtungen 111, KSA, Band I, S. 337-427. 306 Ebd., S. 341. 307 Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, Nr. 270, KSA Ill, S. 519. 308 Ebd., "Scherz, List und Rache", Nr. 7, S. 354. 309 Ebd., Nr. 99, 2. Buch, S. 457. 310 Vgl. ebd., Nr. I, I. Buch. S. 370. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß hier vorrangig die Züge des gemeinsamen Persönlichkeits- als Erziehungsideals Webers und Tocquevilles herausgearbeitet werden sollen. Auf die vielfiiltigen Nuancen oder Reminiszenzen des Webersehen Persönlichkeitsideals, wie sie gerade aus dem Gedankengut des deutschen Neoidealismus und dem Neohumanismus stammen, wird hier nur verwiesen. Dieses neohumanistische Erziehungsideal der "vollendenten Persönlichkeit", die "voll und reich entfaltete Persönlichkeit erschien zugleich als die beste Gewähr eines freien, pflichtbewußten und aktiv geistigen Staatsbürgertums", schreibt Eduard Spranger in seinem Aufsatz "Das Wesen der Universität'' (in: Ders. , Das akademische Deutsch304

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Alexis de Tocqueville mißt den Fundamenten einer illusionsfreien Sicht den gleichen freiheitlichen Stellenwert bei. Die Einsichtsflihigkeit hält er als eine der wichtigsten Eigenschaften einer Persönlichkeit hoch, die auf freiheitliches Handeln vorbereitet werden soll. An John Stuart Mill schreibt er 1835 über seine englischen Reiseeindrücke: "Tout ce que je vois des democrates anglais me porte au contraire a penser qui si leurs vues sont souvent etroites et exclusives, du moins leur but est le veritable but que les amis de Ia Democratie doivent prendre. Leur objet final me paralt etre, en realite, de mettre Ia majorite de Citoyens en etat de gouvemer et de Ia rendre capable de gouvemer. Fideles a leurs principes, ils ne pretendent pas forcer le peuple a etre heureux de Ia maniere qu'ils jugent Ia plus convenable, mais ils veulent faire qu'il soit en etat de Ia discerner (hervorgehoben vom Verf.); et, Ia discemant, de s'y conforrner."311 Für Tocqueville bildet die Einsicht zusammen mit praktischer Klugheie 12 das Pendant zur Webers grundsätzlichen Dispositionen eines freiheitlichen Habitus. "Erfahrung, Sitte und Schulung erzeugen schließlich in der Demokratie fast immer jene Art praktischer Alltagsweisheit (hervorgehoben vom Verf.), die man den gesunden Menschenverstand nennt"m, schreibt er in der "Demokratie in Amerika". Gerade um in der Flut überbordender "idees generales", wie Tocqueville die politischen Ideologien nennt, einen klärenden Überblick zu behalten, wird jene praktische Klugheit zum Eckpfeiler seines freiheitlichen Erziehungsideals. Die Inhalte dieser praktischen Klugheit hat Tocqueville, gleichsam als die freiheitlichen habituellen Grundlagen der Amerikaner, gleich zu Beginn seines zweiten Bandes der "Demokratie in Amerika" vorgeflihrt, als er versucht, die Axiome der ihm so fremd erscheinenden amerikanischen Philosophie zu erfassen. Das Verhalten der Amerikaner sieht er geistig geleitet von folgenden "Regeln": "Sich freihalten vom Systemgeist, vom Joch der Gewohnheit, von Familienmaximen, von Klassenanschauungen und bis zu einem gewissen Grade von nationalen Vorurteilen; die Überlieferung lediglich als Hinweis, die gegenwärtigen Verhältnisse nur als nützliche Lehre zum Anders- und Bessermachen betrachten; den Grund der Dinge in sich selber suchen, ohne Bindung an die Mittel auf das Ziel losgehen und durch die Form hindurch auf den Kern zielen." 314

land, 111, S. 4.). Freilich mußte Max Weberangesichts der "entzauberten Zeit'' einen anderen ihm nicht mehr haltbar erscheinenden neo-idealistischen Erziehungsanspruch abstreifen, wonach die Universität nicht nur "Geistesveredelung" (vgl. etwa Carl H. Bekker, Vom Wesen der deutschen Universität, Leipzig 1925) beabsichtigen, sondern zur Persönlichkeitsschulung und Führung zur Weltanschauung erziehen sollte. 311 Tocqueville, Brief an John Stuart Mill vom Juni 1835, Band VI. I., S. 294. 312 Zur "political prudence" bei Weber vgl. P. Breiner, S. 83f. 31 3 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 263 . 314 .. Ders., UdDiA II, S. 15.

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Auf ähnlichen Grund hat auch Jean-Jacques Rousseau seine Erziehungslehre gebaut. Vergleichbar der Webersehen Lehre von der Werturteilsfreiheit darf seine "education particuliere" als Grundlagenerziehung gelten. Auch ihm gilt es, wie er in der wohl radikalsten seiner Schriften, dem zweiten "Discours" ausfUhrt und es Heinrich Meier beschrieben hat, "widriges Blendwerk" zu entfernen, "»die Tenne freizufegen« das »alte Material« nach Kräften aus dem Weg zu räumen, damit danach ein gutes Gebäude errichtet werden kann ..."m Dort, wo er dezidiert als Pädagoge auftritt, will er den Menschen nicht in ein von Wissenschaft und Staatsdoktrin vorgegebenes Korsett hineinzwängen, sondern ihn freimachen, damit er sich seinen natürlichen Fähigkeiten entsprechend entfalten kann. Das ist cum grano salis, was der berühmte Begriff der von Rousseau begründeten "negativen Erziehung" 316 beinhaltet. Rousseau will keinen Wilden schaffen "und ihn in die Einsamkeit der Wälder schicken; es genügt vielmehr, daß sich Emile im Wirbel der Welt nicht fortreißen läßt durch die Leidenschaften und Vorurteile der Menschen; er soll mit seinen eigenen Augen sehen, mit seinem eigenen Herzen fllhlen, und keine Macht der Erde soll ihn bestimmen als seine Vernunft."317 Die innere Befreiung zur nüchternen Klarheit und zur Einsicht in die Dinge sind in der politischen Erziehungslehre Rousseaus, Tocquevilles und Webers vorbereitende, weichenstellende Voraussetzungen einer weitergehenden freiheitlichen Erziehung. Wissenschaft, wie Weber sie etwa betreibt, schafft zwar diese Prädispositionen, jedoch ist der so geschulte Universitätsabgänger fllr Weber noch keineswegs eine "freie Persönlichkeit". Wissenschaft kann ihm weder eine "Weltanschauung" liefern, noch eine "Universalität der Persönlichkeit"318 und erst recht keine "Regeln der Lebensfllhrung" 319 mehr. Doch gerade um diese ist es Weber, Tocqueville und Rousseau zu tun, soll Freiheit in ihrem entfesselten Zeitalter noch eine Chance haben. Was aber filhrt dorthin? Wohl kaum die umfassende kulturelle "Bildung", erst recht nicht das "Erlebnis", Persönlichkeit wird nur, weist Weber die Frage barsch zurück, "wer rein der Sache dient"320 • Die tiefgehende Prägung des Charakters ist es, die eine freiheitliche Lebensführung gestattet.

315 H. Meier, Einleitung zum "Deuxieme Discours", S. LVIII. 316 Vgl. Rousseau, Betrachtungen Uber die Regierung Polens, S. 580. 317 Ders. , Emile, . S. 789. 318 Weber, Zur Lage der bUrgerliehen Demokratie in Rußland, S. 64. 319 Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 606. 320 Ebd., S. 591 .

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Berner "Äußerer Stand"

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V. Die freiheitlieben Verbandstypen der puritanischen Sekte und des amerikanischen Klubs (Weber), der amerikanischen Assoziation (Tocqueville) und des Berner "Äußeren Standes" (Rousseau) Innerhalb einer Auswahl politischer Briefe, die Marianne Weber nach dem Tod ihres Mannes arn Ende der ersten Ausgabe seiner "Gesammelten politischen Schriften" zusammenstellte und die in späteren Editionen aus dem Buch genommen wurden321 , befindet sich auch ein Brief, den Max Weber gegen Kriegsende an Friedrich Crusius gerichtet hat, und der filr das gestellte Problem einigen Aufschluß gibt. Weber- voller verbitterter Enttäuschung über den Dilettantismus der Protagonisten der deutschen Kriegspolitik - beklagt darin, daß aufgrundder den "Kopf gefangennehmenden", "technischen und ökonomischen Probleme man momentan nicht recht zu den Kulturproblemen" käme. "Von diesen steht die Arbeit an der Herstellung jener ganz nüchternen moralischen »Anständigkeit« die wir - im großen gesehen - hatten, und die wir im Krieg verloren haben - der schwerste Kriegsverlust - durchaus obenan. Also ganz massive Erziehungsfragen. Mittel: nur das amerikanische Klubwesen (hervorgehoben vom Verf), einerlei zu welchem Zweck: Ansätze dazu finden sich bei der »Freideutschen Jugend«. Andere Mittel kenne ich nicht, da das Autoritäre - dem ich ganz vorurteilslos gegenüberstehe - jetzt völlig versagt, außer in Fonn der Kirche." 322 Was begeistert Weber an jenen Klubs, in denen der amerikanische business man, ausgewiesen durch eine Anstecknadel oder Kokarde im Knopfloch seines Revers, seine ökonomische und soziale Reputation, seine "Exklusivität" dokumentiert? Das Aufdecken eines zentralen Interesses, das Weber durch seine gesamten Kulturwissenschaften begleitet hat, fiihrt zur Beantwortung dieser Frage. Auch an seiner 1911 vor der Deutschen Gesellschaft filr Soziologie vorgeschlagenen "Soziologie der Sekte" hat eine Frage maßgeblich seine Beachtung geweckt: "Wie wirkt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art von Verband nach innen? auf die Persönlichkeit als solche?"323 Über diese im letzten Grund aristotelische Frage, die John Stuart Mill vielleicht noch ein letztes Mal in der Geschichte des politischen Denkens an eine, nämlich die englische, Staats- und Vgl. ders., Briefe, GPS, I. Auflage, München 1921, S. 451-488. Ders., Briefan Friedrich Crusius vorn 24. November 1918, GPS, I. Auflage, S. 483. Daß in Webers Gedankenwelt neben einem abstrakten Begriff des amerikanischen Klubs, der konkret-historische "Junto"-Kiub Benjamin Frank1ins Spuren hinterlassen hat, ist naheliegend. In diesem Debattierklub zur politischen Urteilstindung und Entscheidungsanbahnung wurde in Webers Sinn pädagogische Arbeit geleistet, die den Einzelnen zu "politischer Reife" ftihrte. 323 Ders., Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt ( 1910), GASS, s. 443. 32 1 322

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Regierungsform gerichtet hat324 , Weber indessen nun auf eine spezifische Verbandsfonn, eben diejenige des amerikanischen Klubs anwandte, erschließt sich die Schwere der "Kulturbedeutung" dieser Gemeinschaftsverbände filr Weber.325 Max Weber hat im Verbandstyp des amerikanischen Klubs ein zum deutschen "Couleurwesen" in Kontrast stehendes Erziehungsgebilde wahrgenommen, und ihn, was seine tatsächliche freiheitliche Erzeihungsleistung anbelangte, stets als dem deutschen "Pennalismus" weit überlegen erachtet. 326 Diese Haltung spiegelte auch "Wahlrecht und Demokratie" wieder, ein Aufsatz, der auch Webers schärfste Abrechnung mit der Lage der politischen Erziehung des deutschen Volkes zum Ausdruck brachte: "Das studentische Couleurwesen", schreibt er darin, "ist bekanntlich die typische soziale Erziehungsfonn des Nachwuchses filr die nichtmilitärischen Ämter, Pfründen und die »freien Prüfungsdiplommenschen«. Das "Konnexionswesen der Couleuren" ist heute "spezifische Fonn der Auslese der Beamten", "»Satisfakionsfähigkeit«" eröffne "den Zutritt zur »Gesellschaft«", ein Ausleseverfahren ist am Werk, dem Weber 324 Vgl. John Stuart Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, S. 39f. und S. 60. Dort nennt Mill als das ausschlaggebende Kriterium aller Diskussion um Pro und Contra der "Repräsentativregierung als bester Regierungsfonn" die Frage: "Welcher Menschentypus entsteht unter einem solchen Regime?" Wenig später schreibt er: "Eine Regierungsfonn muß nach ihrer verändernden Wirkung sowohl auf die Menschen als auch auf die Dinge beurteilt werden; nach dem, was sie aus den Staatsbürgern macht und nach dem, was sie mit ihnen leistet; nach ihrer Tendenz, das Volk selbst besser oder schlechter zu machen... " (ebd., S. 50) An einer Staatsform interessiert Mill dasselbe Moment, wie Weber an den puritanischen "Sekten", die Frage nämlich nach dem "Einfluß der Regierungsform auf die Charakterbildung" (ebd., S. 68), also ihrer "Funktion als ... Erziehungsinstitution'· (ebd., S. 51). 325 In auffallender Nähe zu Weber hat auch Karl Mannheim in "Ideologie und Utopie" die Verbandsform des Klubs als diejenige pädagogische Institution erwähnt, die der "Eigenart politischen Wissens" hinsichtlich der ,.Frage nach der Bildung des Nachwuchses im Gebiete des Aktiven, des Politischen" einzig eignet. In seinen Ausruhrungen über die Besonderheiten des spezifischen, anti-intellektualistischen, "qualitativen" "politischen Wissens" argumentiert er flir die "soziale Form des Klubs", um gegenüber der zeitgenössischen Fachbildung überhaupt so etwas wie eine politische Schulung beizubehalten. "Der Klub ist ein spezifisches Miteinander von Menchen, der sowohl zur sozialen und parteilichen Auslese - als Plattform des politischen Aufstieges - als auch zur Züchtung der kollektiven Willensimpulse als geeignetes Medium "von selbst" zustande kam. An seiner eigentümlichen soziologischen Beschaffenheit könnte man die Eigenart der wesentlichsten Fonnen unmittelbarer Übertragung willensgebundenen politischen Wissens ablesen." K. Mannheim fordert das Festhalten an einer solchen Erziehungsidee, um überhaupt das politische Wissen im Wust fachspezifischen Wissens aufrechtzuerhalten. In seiner Sicht drohe die Gefahr, "daß diese Fachschulung, wenn sie rein intellektualistisch organisiert" sei, "gerade das politische Element" verdränge. "Ohne pädagogische Zuspitzung auf das Handeln - rein enzyklopädisch - kann hier Wissen nicht viel nützen." (K. Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), 8. Auflage, Frankfurt am Main 1995, S.l59). 326 Vgl. auch W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. IOOf.

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nichts abgewinnen kann, denn es werde "geistige Inzucht" getrieben. "Wie immer man nun alle diese studentischen Gebilde an sich beurteilen mag - und der Maßstab des Moralismus ist nicht der des Politikers -jedenfalls bieten sie keine weltmännische Erziehung, sondern mit ihrem schließlich doch unleugbar banalen Pennalismus und ihren subalternen sozialen Formen so ziemlich das gerade Gegenteil davon. Der stumpfsinnigste angelsächsische Klub (hervorgehoben vom Verf.) biete gerade davon mehr, so leer man sich z. B. den Sportbetrieb, in dem er sich nicht selten erschöpft, finden mag." 327 Dennoch will Weber ihn noch dem deutschen "Pennalismus" vorziehen, "weil er bei oft sehr strenger Auslese doch stets auf dem Prinzip der strengen Gleichheit des Gentleman aufgebaut ist..." 328 Der "Pennalismus" eignet sich dagegen nicht zur Erziehung des "aristokratischen Weltmanns", sondern statt dessen zu einem "Protzen mit dem Geldbeutel - der Eltern", einer "Paravenüphysiognomie". Weber wittert bei jedem Absolventen dieses Systems die Gefahr, daß an ihm "Züge eines lackierten Plebejers" entwickelt werden. Unerträglich ist es ihm vollends, wenn dieses "Scholarentreiben" "heute die Prätension erhebt, ein Mittel aristokratischer, zur Führung im Staat qualifizierender »Erziehung« zu sein." Hierin, im Suchen nach geeigneten pädagogischen Erziehungsverbänden liegen die Hintergründe fiir Webers Hinwendung zu den angelsächsischen oder amerikanischen Klubs. Max Weber verstand diese zwar als freiheitlich-pädagogische Organisationskörper, doch entscheidend ist, daß sie ihm wesentlich als direkte Nachfahren und Ausläufer einer anderen rudimentären Gemeinschaftsform galten, deren Platz erst in der historischen Entwicklung der amerikanische Klub eingenommen hatte329, und die Weberzeit seines Lebens nicht mehr losgelassen hat: die der puritanisch-protestantischen Sekte wie er sie zum einen historisch in Reinform im Calvinismus, i.m deutschen Pietismus und besonders anschaulich innerhalb der neuenglischen Sekten des 17. und 18. Jahrhunderts als freiheitliche Erziehungsorganisationen verortete330, und sie zum anderen in ihrem "Hauptgebiet"331 , den Vereinigten Staaten von Amerika, historisch so zahlreich

Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 279. Ebd. 329 " Uns interessiert zunächst, daß die moderne Stellung der weltlichen, durch Ballotage sich ergänzenden Klubs und Gesellschaften weitgehend Produkt eines Säkularisierungsprozesses von der ehemaligen weitaus ausschließlicheren Bedeutung des Prototyps dieser voluntaristischer Verbände: der Sekten, ist." (ders., PE I, S. 287. Vgl. auch ebd.. S. 289). Im gleichen Sinn zur Sekte als " Urbild" des amerikanischen Klubs äußert sich Weber in: .,Kirchen'· und ..Sekten'" in Nordamerika.. S. 385f. 330 Webers Erfassen gerade des Erziehungscharakters dieser Sekten wird ebenfalls durch das nachstehende Zitat untermauert: "... nüchterne Klarheit des Denkens und Fachwissen als Zweck der Erziehung (hervorgehoben vom Verf.) sind planmäßig zuerst von puritanischen, speziell in Deutschland vonpietistischen (hervorgehoben vom Verf.) Kreisen gepflegt worden." (vgl. ders.. GARS I, S. 533). 33 1 Ders., WuG, S. 723. 327 328

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und in der Gegenwart noch immer ungewöhnlich stark, wenn auch im Zuge der "Europäisierung" der USA in nachlaBender Durchdringung, ausmachen konnte. Weber schätzte jene "gewisse, wichtige Kulturbedeutung" des "Sektengeists"332 ftlr die moderne Kultur ungemein. Vor allem erkannte er den "mächtigen Einfluß der Erziehung, der Zucht in den Sekten" - wirkend auf den "inneren Habitus" "noch bis zur Schwelle der Gegenwart"333 • In der von den puritanischen Sekten ausgeübten innerweltlichen Askese erkannte er ein Mittel, den Menschen "zu einer »Persönlichkeit« in diesem, fonnal-psychologischen Sinne des Wortes zu erziehen."334 Wenn Weber in diesen religiösen Bewegungen gerade deren "Bedeutung ftlr die wirtschaftliche Entwicklung" hoch einschätzte, dann immer zugleich auch, daß diese " ... ja in erster Linie in ihre asketischen Erziehungswirkungen lag."335 Im "Antikritischen Schlußwort zum »Geist des Kapitalismus«" ist es wiederum diese "Erziehungsleistung"336, das "ethische »training«", wie es Weber wendet, dessen "Schwächung der Intensität"337 durch den "gegenwärtigen Säkularisierungsprozeß des amerikanischen Lebens" er beklagt. Wenn Max Weber die freiheitlichen, und in diesem Sinn auch politischen ZUge der protestantisch-puritanischen Sekte bzw. des amerikanischangelsächsischen Klubs idealisiert, dann nehmen diese freiheitsstiftende Position fiir Tocqueville nicht etwa in der Demokratie neu restituierte "pouvoirs intennediaires" ein, wie JUrgen Habennas ftlr Tocqueville erkannt haben wollte338, sondern eine ganz neue Verbandsfonn, die nur die Demokratie hervorbringen konnte, und die lediglich an die Stelle treten konnte, die die "pouvoirs intennediaires" vonnals noch besetzt hielten: die "associations"339, freiwillige Ders., Zur »Objektivität« ... , S. 194. Siehe auch ebd., S. 154. Ders. , PE II, S. 186. 334 Ders., PE I, S. 135. 335 Ebd., S. 183. 336 Ders., Antikritisches Schlußwort zum »Geist des Kapitalismus«, PE ll, S. 310. 337 Einst aber war diese Wirkung so stark, daß "keine autoritäre Kirchenzucht einer Amtshierokratie ... an Intensität der Wirkung sich mit der Tragweite der Ausschließung aus der Sekte und vor allem auch mit der Intensität der Sektenerziehung messen" konnte (Ders., WuG, S. 723). 338 Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 168. 339 Zur Geschichte und Organisation der Tocquevilleschen "associations" vgl. George Kateb, Some Remarks on Tocquevilles View of Voluntary Associations, in: J. Roland Pennock und John W. Chapman (Hrsg.), Voluntary Associations, Nomos, Band XI, New York 1969, S. 138-144 und auch R. Münch. Die Assoziationsidee Tocquevilles steht nicht so sehr mit derjenigen in Zusammenhang, die Charles Fourier in der Tradition des französischen Frühsozialismus entwickelt hat und die auf rein ökonomischgenossenschaftliche Züge tragende Funktionen ausgerichtet ist. Bei Fourier ist der Gedanke einer bürgerlichen Vereinigung nicht politischer Selbstzweck, sondern trägt defensiven Charakter, ist Methode, Auswirkungen einer virulent werdenden Marktdynamik in Handel, Industrie und Landwirtschaft abzufedern. Vgl. Char/es Fourier, Die 332 333

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Bürgerverbindungen, wie sie Tocqueville, der "etwas Derartiges fast nie gesehen"340 hat, während seiner Amerikareise im, wie Weber es nennt," Vereinsland par excellence"341 bewundert hat. Es ist nicht überzogen, in diesen Einrichtungen den Mittelpunkt des Tocquevilleschen Amerika-Werkes zu sehen. "Die Amerikaner haben den Individualismus, die Frucht der Gleichheit, durch die Freiheit bekämpft, und sie haben ihn besiegt"342, schreibt er voller Anerkennung - und nennt das Mittel: nicht instituionell oder konstitutionell verankerte, sondern sich ad hoc an einem bestimmten politischen Sachproblem herausbildende Assoziationen, die gerade in Amerika den "höchsten Grad" ihrer Ausformung gefunden haben. 343 "Meines Erachtens", urteilte er, "verdient nichts eine größere Aufmerksamkeit als die zu geistigen und sittlichen Zwecken gegründeten Vereine Amerikas ... Damit die Menschen gesittet bleiben oder es werden, muß sich unter ihnen die Kunst der Vereinigung in dem Grade entwickeln oder vervollkommnen, wie die gesellschaftlichen Bedingungen sich ausgleichen"344. Tocqueville hat im ersten Band seiner "Demokratie in Amerika" jene prominente Forderung ausgesprochen, daß "eine völlig neue Welt" "einer neuen politischen Wissenschaft" bedürfe. 345 Wenig später, nachdem er dem europäischen Leser erstmals die amerikanischen Assoziationen als Bollwerke gegen die moderne Despotie vorgestellt hatte, schrieb er: "In den demokratischen Ländern ist die Lehre von den Vereinigungen die Grundwissenschaft."346 Vielleicht hatte er damit selber ausgeftlhrt, womit er seiner Forderung Genüge leisten wollte. In jedem Fall macht Tocqueville, ohne daß seine Exegeten diesem so vorrangigen Aspekt seiner Wissenschaft je in einer eigenen Abhandlung besonderes Augenmerk geschenkt hätten, die Assoziationen als die schärfste Waffe der Amerikaner im Kampf gegen die egalitäre Despotie aus, denn der freie Zusammenschluß der Bürger kann "die persönliche Macht des Adeligen ersetzen und der Staat damit vor der Tyrannei und Willkür..." 347 geschützt werden. Nach dem Ende der ständischen Korporationen, in Zeiten demokratischer Vereinzelung haben sie die bewunderungswürdige Grundeigenschaft, alle Mitglieder eines Gemeinwesens neu und unabhängig von Rechtsstatus, Geburt und Stand ihrer Mitglieder zusamrnenzufiihren und ihrer Bürgerrolle zu gemahnen. "Die Amerikaner jeden Theorie der Assoziation, Theorie der vier Bewegungen ( 1808), in ders., Kritik der Wissenschaft und der Gesellschaft, Kritik der Philosophie, des Rechts und der Moral, in ders. , Ökonomisch-philosophische Schriften, Eine Textauswahl, Berlin 1980. 340 Tocquevil/e, ÜdDiA II, S. 127. 341 Weber, Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt, S. 442. 342 Tocqueville, ÜdDiA II, S. 119. 343 Vgl. ebd., S. 123. 344 Ebd., S. 127. 345 Ders., ÜdDiA I, S. 9. 346 Ders., ÜdDiA II, S. 127. 347 .. Ders., UdDiA I, S. 12.

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Alters, jeden Standes, jeder Geistesrichtung schließen sich fortwährend zusammen. Sie haben nicht nur kaufmännische und gewerbliche Vereine, denen alle angehören, sie haben auch noch unzählige andere Arten: religiöse, sittliche, ernste, oberflächliche, sehr allgemeine und sehr besondere, gewaltige und ganz kleine; die Amerikaner tun sich zusammen, um Feste zu geben, Seminarien zu begründen, Gasthöfe zu bauen, Kirchen zu errichten, Bücher zu verbreiten, Missionare zu den Antipoden zu entsenden: sie errichten auf diese Weise Spitäler, Gefängnisse, Schulen. Handelt es sich schließlich darum, eine Wahrheit zu verkünden, oder ein Gefiihl mit Hilfe eines großen Beispiels zu fordern, so gründen sie Vereinigungen." 348 Den Assoziationen, nicht so sehr den amerikanischen Parteien, kommt fiir Tocqueville entscheidende freiheitliche Bedeutung zu, weil sie die Akzeptanz, auf die die despotische Herrschaft setzt, herabmindern und politische Handlungskompetenz aus den Händen der Regierung in die Bürgerschaft zurückbeordern. Sie sind fiir ihn freiheitlich umso wertvoller, als in Zeiten, in denen "sich die Masse der Bürger bloß mit Privatgeschäften befassen will", selbst "die kleinsten Parteien nicht daran zu verzweifeln" haben, "daß sie die Staatsgeschäfte an sich reißen werden." 349 Dabei sind die Tocquevilleschen Assoziationen -genauso wie Webers Klubs und Sekten - gleichsam Erziehungsorganisationen, die den Menschen aus seiner egalitären Atomisierung, seiner "inneren Isolation" wie Weber sagt, wieder zurückfUhren, Öffentlichkeit wieder neu konstituieren, indem Freiheit neu erlernt wird. "Die politischen Vereine können also als große unentgeltliche Schulen angesehen werden, in denen sämtliche BUrger die allgemeine Lehre von der Vereinigung erlernen (hervorgehoben vom Verf.)."350 "Die Kunst zur Vereinigung wird dann, wie ich früher sagte, zur Grundwissenschaft; alle studieren sie und wenden sie an."351 "Derart lernen die Amerikaner durch den Gebrauch einer gefährlichen Freiheit die Gefahren der Freiheit verringern. "352 Die Assoziationen treten an die vakante Stelle der vermittelnden Zwischengewalten des Ständestaates und der "associations naturelles" und gleichzeitig richten sie die Gefiihle, Sitten und Haltungen von Geist und Seele wieder auf, die, wie die Körperschaften der "associations naturelles", der neuen Despotie zum Opfer gefallen waren. "Überall, wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden." 353 Im Schlußwort der "Demokratie in Amerika" erklärt sie Ders., ÜdDiA II, S. 123. Ebd., S. 159. 350 Ebd., S. 134. 351 Ebd. 348

349

352 353

Ebd., S. 136. Ebd., S. 123.

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Tocqueville zur einzigen Alternative, Freiheit in der Demokratie zu wahren: "Statt dem Herrscher alle Verwaltungsbefugnisse zu übertragen, die man den Körperschaften oder dem Adel entzieht, kann man einen Teil mittelbaren, aus einfachen Bürgern vorübergehend gebildeten Körperschaften zuweisen; auf diese Weise wird die persönliche Freiheit besser gewährleistet sein, ohne daß ihre Gleichheit gemindert wäre"354, lautet Tocquevilles Rat an einen künftigen demokratischen Staatsmann. Die amerikanische Bürgervereinigung ist fiir ihn deswegen ein so freiheitliches Element, weil sie "wie ein gebildeter und mächtiger Bürger ist, den man weder nach Gutdünken niederhalten, noch im Dunkeln unterdrücken kann und der dadurch, daß er seine privaten Rechte gegen die Ansprüche der Staatsgewalt verteidigt, die Freiheiten der Gemeinschaft rettet."355 In Frankreich war dagegen eine gegenteilige Bewegung schon lange vor der Revolution eingeläutet worden. "Die geringste unabhängige Körperschaft, die sich ohne ihre Mitwirkung bilden zu wollen scheint, flößt ihr Furcht ein", wertet Tocqueville die Ereignisse der letzten Jahrzehnte des "Ancien Regime" im historischen Rückblick, "der kleinste Verein, was auch sein Zweck sei, ist ihr unbequem; sie läßt nur die bestehen, die sie nach eigenem Gutdünken gebildet hat und in denen sie den Vorsitz fiihrt ... sie will nicht, daß die Bürger sich in irgendeiner Weise mit der Prüfung ihrer eigenen Angelegenheiten befassen; sie zieht die Unfruchtbarkeit der Konkurrenz vor."356 Für die politische Kultur aber wurde damit nicht wieder gut zu machender Schaden angerichtet: "Es ist keine leichte Aufgabe, Mitbürger einander zu nähern, die dergestalt Jahrhunderte hindurch als Fremde oder Feinde gelebt haben, und sie zu lehren, ihren eigenen Angelegenheiten gemeinschaftlich zu leiten. Es ist viel leichter gewesen sie zu trennen, als es nun ist, sie wieder zu vereinigen." Die Klassen und Schichten Frankreichs standen nach der Revolution von 1789 vor der schweren Aufgabe, so Tocqueville, sich wieder zusammenzufinden. Als sie "wieder miteinander in Berührung kamen", "berührten sie einander anfangs nur an ihren schmerzhaft empfindlichen Stellen und fanden einander nur wieder, um sich wechselseitig zu zerreißen."357 Allein die Assoziationen könnten, so Tocqueville, einem Zustand der "Erstarrung" ein Ende bereiten, in dem eine "Menge durch einige Menschen vertreten wird", die nach ihrer Laune über alles verfiigen und in deren "schwachen und unwürdigen Händen" die "Gewalt eines großen Volkes" 358 gefallen ist. In den Ländern aber, "wo solche Vereinigungen nicht bestehen", sieht Tocqueville, "wenn die Bürger nicht künstlich und augenblicklich etwas Ähnliches schaffen können, keinen Damm mehr gegen jegliche Art von Tyrannei. " 359 Ebd., S. 347. Ebd., S. 348. 356 Ders., DaSudR, S. 75. 357 Ebd., S. 113. 358 Ders., ÜdDiA II, S. 159. 359 Ders., ÜdDiA I, S. 220f. 354 J 55

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Deswegen gelte es, so Tocqueville, diese "Art von demokratischen Einrichtungen" auch außerhalb Amerikas einzufiihren, damit sie sich dann "mit den Gewohnheiten nach und nach vermischten und allmählich mit den Meinungen des Volkes selbst eins würden". 360 Es ist John Stuart Mill gewesen, der sich von der Assoziationslehre Tocquevilles stark beeintlußen ließ und sich nicht zuletzt durch dessen Vermittlung von jenem Laissez-faire-Utilitaristen Benthamscher Prägung gerade in seinem Frühwerk zu einem Republikaner gewandelt hatte, dessen höchstes Anliegen das freiheitlich-sittliche "improvement of mankind" war. Genauso klar wie Tocqueville hatte er erkannt, wie entscheidend es gerade in der Herrschaftsform der über Europa aufziehenden Massendemokratien darauf ankam, eine aktive, politisch handlungsfiihige Bürgerschaft zu schaffen, die dem neuen Despotismus die Stirn weisen konnte. "Die einzige Sicherheit gegen politische Knechtschaft", schrieb er in seinen "Prinzipien der politischen Ökonomie" 1848, "bietet die Beschränkung der Regierenden, welche aus der Verbreitung von Thätigkeit, Intelligenz und Gemeingeist bei den Regierten erwächst ... Es ist daher von höchster Wichtigkeit, daß alle Klassen des Gemeinwesens bis zu der niedrigsten herab viel fiir sich selbst zu tun haben, daß von ihrer eigenen Einsicht und Tüchtigkeit so viel gefordert werde, als sie nur immer zu leisten vermögen, - daß die Regierung nicht nur die Leitung aller sie allein angehenden Angelegenheiten ihren eigenen Fähigkeiten so viel wie möglich überlasse, sondern ... dahin wirke, daß sie möglichst viele ihrer gemeinsamen Interessen durch freiwilliges Zusammenwirken (hervorgehoben vom Verf.) besorgen, indem die Besprechung und Leitung gemeinsamer Interessen die hohe Schule jenes Gemeingeists und die Hauptquelle jener politischen Einsicht ist, welche stets als die unterscheidenden Merkmale eines freien Volkes galten."361 Was fiir ihn diese "hohe Schule" darstellte, darüber bleibt bei Mill kein Zweifel: "Die Geschäfte des Lebens sind ein wesentlicher Theil der praktischen Erziehung eines Volkes", schreibt er und empfiehlt "die kräftige Übung der thätigen Fähigkeiten", und kurz darauf heißt es: "Da aber der Bedarf des thätigen Talents und praktischen Urteils in menschlichen Angelegenheiten nur vermindert und selbst unter den günstigsten Voraussetzungen nicht entbehrt werden kann, so ist es wichtig, daß diese Gaben nicht nur einzelnen Auserwählten, sondern in allen ausgebildet werden.( ...) Ein Volk, bei dem sich nicht die Gewohnheit freiwilligen Handeins fiir Gesamtinteressen findet ... das da meint, der Staat solle statt seiner alles thun, was nicht ganz Sache der Gewohnheit und Routine werden kann, -ein solches Volk hat nur halb entwickelte Fähigkeiten, seine Erziehung ist in einem der wichtigsten Zweige eine mangelhafte." 362 360 361 362

Ebd., S. 358. John Stuart Mill, Prinzipien der politischen Ökonomie ( 1848), S. 264f. Ebd., S. 263f.

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Genau so nachhaltig war Alexis de Tocquevilles Einstellung zur modernen Demokratie von John Stuart Mill geprägt. Hatte Mill sich noch die Warnungen Tocquevilles vor den Gefahren einer tatenlosen Freiheit in der Demokratie zueigen gemacht, ist es Tocquevilles Bekenntnis zur Demokratie, ja sogar sein gebremster Enthusiasmus fiir diese Staatsform, der auf Mills Einfluß zurückzufilhren ist, wie er sich in einem 1835 an Mill gerichteten BriefTocquevilles niederschlug: "Alles was ich von den englischen Demokraten sehe", schreibt Tocqueville, "veranlaßt mich dazu ... zu glauben, daß ihr Ziel, obwohl ihre Ansichten oft engstirnig und einseitig sind, das richtige Ziel ist, welches die Freunde der Demokratie anstreben müssen. Ihr Ietztliches Ziel scheint mir tatsächlich zu sein, die Bürger in die Lage zu versetzen zu regieren und ihnen auch die Fähigkeit zu 1termittlen. Obgleich ihren Prinzipien treu, erheben sie nicht den Anspruch, das Volk auf die ihnen geeignet erscheinende Weise zu seinem Glück zu zwingen, sondern sie wollen es in die Lage versetzen, diesen Weg selbst zu erkennen und dadurch entsprechend zu handeln. Ich selbst bin in diesem Sinne Demokrat. Die modernen Gesellschaften stufenweise zu diesem Punkt zu fUhren, das erscheint mir als das einzige Mittel, um sie vor Barbarei und Sklaverei zu retten." 363 Es ist naheliegned, daß auch filr Jean-Jacques Rousseau die zur Pädagogik sich eignenden freiheitlichen Verbände an den wenigen Orten liegen mußten, an denen er in seinen Tagen überhaupt noch Chancen und Wege einer politischen öffentlichen Erziehung erkennen konnte: in Genf allenfalls, in Korsika oder in Polen. Und so ist es auch nicht zufällig, daß sich tatsächlich in Rousseaus "Considerations sur Je Gouvernement de Pologne et sur sa Reformation" der Verbandstyp findet, der als Rousseausches Pendant zu Weber und Tocquevilles freiheitlichen Verbänden gelten kann. Der entsprechende Abschnitt in diesem Schriftstück, das Rousseau vom Herbst 1770 bis Frühjahr 1771 im Auftrag des polnischen Grafen Michael Wielhorski verfasst hat, findet sich an zentraler Stelle unter Ziffer IV. und der Überschrift "Erziehung" nach den Kapiteln I. (Stand der Frage), II. (Vom Geist der alten Einrichtungen) und III. (Anwendung). Rousseau machte gleich im ersten Satz klar, mit welcher Bedeutung er diesen Teil seiner "Considerations" belegte: "Dies hier ist der entscheidende Abschnitt''364, schrieb er, schließlich war es ihm um so ein wichtiges Anliegen wie die öffentliche, die "nationale Erziehung" der Polen zu tun. Für wie entscheidend er öffentliche Erziehungsinstitutionen im Gefilge der polnischen Regierung erachtete, davon zeugte ein weiteres Zitat aus dieser Schrift: "Da nun von diesen Einrichtungen die Hoffuung der Republik, der Ruhm und das Schicksal der Nation abhängen, so finde ich offengestanden, daß sie von einer 363

293ff. 364

Tocquevil/e, Brief an John Stuart Mill vom 13. Juli 1835, OC, Band VI. I., S. Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 578.

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Wichtigkeit sind, die ihnen beizumessen man sich zu meinem Erstaunen nirgends hat einfallen lassen."365 Seine pädagogischen Ziele filr die Polen tat Rousseau sogleich kund: "Mit zwanzig Jahren soll ein Pole nicht ein anderer Mensch, er soll ein Pole sein. Ich will, daß er, wenn er lesen lernt, von den Dingen in seinem Vaterlande lese; daß er mit zehn Jahren alle Erzeugnisse desselben kenne; mit zwölf Jahren alle Provinzen, alle Wege, alle Städte; daß er mit fiinfzehn Jahren dessen ganze Geschichte, mit sechszehn alle Gesetze auswendig wisse, daß es in ganz Polen keine Großtat, keinen erlauchten Mann gegeben hätte, der nicht sein Gedächtnis wie sein Herz erfiillte, und von dem er nicht auf der Stelle Bericht geben könnte ... Das Gesetz muß den Stoff, die Reihenfolge und Gestalt ihres Unterrichts bestimmen."366 Die Lehrer der Polen- ausgewählt von einer obersten überwachenden Erziehungsbehörde des Magistrats - sollten dabei Bürger und keinesfalls aber "gewerbetreibende" Erzieher sein - "alle ausgezeichnet durch ihre Sitten, ihre Rechtschaffenheit, ihren gesunden Menschenverstand, durch ihre Einsichten, alle dazu ausersehen, andere, zwar nicht bedeutendere und ehrenvollere Ämter ... , aber minder anstrengende und glänzendere Ämter zu erhalten, wenn sie nach einer gewissen Anzahl von Jahren das Erzieheramt wohl versehen haben." 367 "Durch welches Mittel also die Herzen ergreifen und Liebe zum Vaterland und zu seinen Gesetzen wecken?", fragte er und gab zur Antwort: "Durch Kinderspiele, durch Einrichtungen, die in den Augen oberflächlicher Menschen müßig sind, die aber doch teure Gewohnheiten und unbesiegbare Bindungen hervorbringen." 368 Als Vorbild eines Erziehungsverbands, der die nationalpädagogischen Aufgaben übernehmen sollte, schwebte Rousseau konkret "eine ganz einzigartige Übung" vor, wie es sie in der "sehr ehrenwerten"369 Republik, dem "freien Land"370 Bern "fiir die jungen Patrizier" gebe, "welche von der Schule abgehen"371 • Rousseau sprach damit den sogenannten "Äußeren Stand"372 der Republik Bern an, "eine verkleinerte Kopie all dessen, was die Ebd., S. 581. Ebd., S. 579. 367 Ebd. 368 Ebd., S. 567. 369 Vgl. ders. , CS, S. 327. 370 Vgl. ders., Bekenntnisse, S. 807. 371 Ders., Betrachtungen Ober die Regierung Polens, S. 581. In der Entstehungszeit der "Betrachtungen" traf diese Bemerkung Rousseaus schon nicht mehr zu, da sich der "Äußere Stand", wie Richard Wolfram schreibt, zu dieser Zeit bereits ständeObergreifend geöffnet hatte und seine Mitglieder nicht mehr nur aus den führenden Kreisen der Stadt rekrutierte. 372 Weil die Editoren der MOnchener Winkler-Ausgabe der "sozialphilosophischen und politischen Schriften" Rousseaus offenbar nicht so recht wußten, was sie sich unter der Deckadresse des "etat exterieure'· vorstellen sollten, wurde der Terminus dort fälschlicherweise mit der "äußere Staat" Obersetzt 365 366

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Staatsfonn der Republik ausmacht: ein Rat, Sachwalter, Beamte, Gerichtsdiener, Redner, Rechtshändel, Urteile, Feierlichkeiten." Der "äußere Stand" habe, so Rousseau weiter, "sogar eine kleine Regierung, und einige Einkünfte, und diese Einrichtung, versehen mit der Vollmacht und dem Schutze des Souveräns, ist die Pflanzschule der Staatsmänner, welche eines Tages den öffentlichen Angelegenheiten in den nämlichen Ämtern vorstehen sollen, die sie zunächst nur im Spiele üben."373 Von solcherlei Einrichtungen verspricht Rousseau sich die richtige staatsbürgerliche Freiheit in einem Staat, wie es Polen werden sollte. "Leitet in diesem Geiste die Erziehung, die Gebräuche, die Gewohnheiten, die Sitten der Polen", rät er dem Grafen Wielhorski -dem die Schrift im April 1771 vorliegt -, "und ihr werdet in ihnen den Keim, der noch nicht durch verderbte Grundsätze und verbrauchte Einrichtungen, durch eine selbstsüchtige Philosophie, die predigt und tötet, vom Winde verweht worden ist, zum Wachsen bringen. Die Nation wird das Datum ihrer Wiedergeburt auf das der furchtbaren Krise legen, die sie soeben überstanden hat." 374 Rousseau hat sich nirgendwo näher darüber ausgelassen, was ihn an dieser Bemer "Pflanzschule der Staatsmänner", wie er sie nannte, fasziniert hat. Auf der Hand liegt, daß er seine Kenntnisse dieser Einrichtung über jene "Beschreibung des »Aeusseren Standes« aus dem Jahre 1737" des ehemaligen Schultheißen des "Äußeren Standes" und Mitglieds des Bemer Großen Rates, dem späteren Landvogt von Nyon, Daniel Tschamer, bezogen hat. 375 Dieser Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 581. Ebd., S. 582. 375 Zum Bemer "Äußeren Stand" bzw. vergleichbaren Erziehungseinrichtungen der Schweizer Republiken vgl. Hermann von Fischer/Haraid J. Wäber/Robert L. Wyss/Hans Trachsel (Hrsg.), Der Äussere Stand von Bem und sein Rathaus, Bemer Heimatbücher, Nr. 129, Bem 1982; Hans Ekhardt Cromberg, Die Knabenschaftsstatuten der Schweiz, Spiegelbild von Sitte, Brauchtum und Recht, Diss phil., Basel 1969, Wintertbur 1970; E. Flückiger, Das Äußere Regiment von Murten, Eine Institution der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend zur Zeit der gemeinsamen Herrschaft von Bem und Freiburg, Freiburger Geschichtsblätter, Band 54, 1966, S. 85ff.; Basilius Hidber, Der ehemalige sogenannte äußere Stand der Stadt und Republik Bern, Neujahrsblatt für die Semische Jugend, Bem 1858; Hans Metraux, Schweizer Jugendleben in fünf Jahrhunderten, Geschichte und Eigenart der Jugend und ihrer Bünde im Gebiet der protestantischen Schweiz, Aarau 1942; Felix Richner, David von Wyss (1763-1839), Seine Auffassung von Recht und Staat aufgrund seines politischen Handbuches, Diss. jur., Zürich 1988; Hans Sirahm (Hrsg.), Eine·Beschreibung des >>Aeusseren Standes« aus dem Jahr 1737, verfasst von Daniel Tschamer ( 1710-1774), Bemer Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, hrsg. vom Staatsarchiv des Kanton Bem, Bem 1958, S. 50-63; Leo Weiss, Die politische Erziehung im alten Zürich, Sonderabdruck der Neuen Zürcher Zeitung, Zürich 1940; Richard Wolfram, Der »Äussere Stand« und die Entwicklung städtischer Jungmännerverbände in der Schweiz, in: Ders., Studien zur älteren Schweizer Volkskultur, Mythos, Sozialordnung, Brauchtumsbewusstsein, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, Wien 1980, S. 167-228. Die Thematik spiegelt sich ebenfalls wieder in der einschlägigen politisch-republikanischen Erziehungsliteratur der Zeit. Erwähnt sei hierzu nocheinmal 373

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14 Hecht

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nämlich begann seine erwähnte "Beschreibung" mit den Sätzen: "Seit gar geraumen Jahren schon blühet, in allhiesiger Haupt-Stadt Bern, eine zahlreiche, und mit Hoch-Obrigkeitlichen Gnaden vor andern versehene Gesellschaft ansehnlichster Bürger, welche, weil sie, wegen fllrnehmlich nicht erreichten Alters, oder sonsten, in der hohen Magistratur keinen Platz erhalten können, unter dem Nahmen eines Hochlöblichen äußeren Standes, alljährlich, zu gesetzten Zeiten, ihre Versammlungen halten, ihre Policey und Ämter bestellen, auch von Zeit zu Zeit allerhand Kriegs-Übungen verrichten: jenes nach Gewohnheit und Weiß, wie solches in dem hohen Stand selbst üblich; dieser aber, theils nach althergebrachten Gebrauch, theils aber nach jederzeit selbst gemachten, von dem hohen Kriegs-Rathaber beliebten Entwurff, ins Werck setzen; alles zu dem End und Zweck hin angesehen, damit aus diesem Stand gleich als aus einer Pflantz-Schul (hervorgehoben vom Verf.), die Jugend, nachdem sie in Kriegsund Regierungs-Künsten wohl geübt, als taugliche Glieder in den hohen Stand gezogen, und befördert sein möge." 376 Möglich ist auch; daß Rousseaus Niederschrift die Lektüre der Rede von Friedrich Rosselet aus dem Jahr 1768 vorausgegangen war, in der dieser die Einrichtung des "Äußeren Standes" ebenfalls als "eine Pflanzschule der altväterlichen Tugend" bezeichnete. Der "äußere Stand" Berns war ursprünglich einer jener ausschließlich zum Zweck von Kriegsübungen während der Schweizer Unabhängigkeitskriege gegründeten Jungmänner-Bünde, wie es sie in der Eidgenossenschaft seit dieser Zeit vielfach gegeben hat und die andernorts auch das "Äußere Regiment" genannt wurden. Über die Jahrhunderte hinweg hatte er sich zu einer Art politischer Erziehungsstätte fiir den "Inneren Stand", der eigentlichen Berner Staatsund Kantonsregierung, entwickelt377, fiihrte noch immer militärische Manöverübungen durch, aber zunehmend auch politische und rhetorische Debattierveranstaltungen bzw. Schein-Ratssitzungen, hielt Wahlen ab, bestellte die eigene Verwaltung, tätigte eine disziplinierende Rechtssprechung und hatte sich mit dem "roten Buch" ein eigenes internes, obrigkeitlich bewilligtes Gesetzeswerk gegeben, das fortwährend erweitert und modifiziert wurde - alles Angelegenheiten "ad Imitationem" und freilich ohne unmittelbare politische Entscheidungsbefugnis, jedoch genau denselben Regeln und Ritualen folgend wie die David von Wyss und sein "Politisches Handbuch für die erwachsene Jugend der Stadt und Landschaft Zürich'·, Zürich 1796. 376 Daniel Tscharner, Eine Beschreibung des »Aeußeren Standes« aus dem Jahre 1737, s. 50. 377 Insignie und Wappen des "Äußeren Standes" war ein rückwärts auf einem Krebs sitzender Affe, der sich in einem Spiegel betrachtet. "lmitamur quod speramus" lautet das untergetitelte Motto. Nach R. Wolfram bezieht sich die Symbolik auf ein "Nachäffen" als Ziel des Verbandes im Sinne des Nachahmens und Einübens von "Gebaren und Geschäften des angestrebten Vorbildes" ( vgl. ders., S. 170), wobei der Spiegel als Narrenattribut die Fähigkeit zur Selbstironie desjenigen, der sich im Nachäffenden ergeht, ausdrücken dürfte.

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Bemer "Äußerer Stand"

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eigentliche verantwortliche Regierung. Die "begierige Jugend" konnte nun also auch "zur Regierungs-Kunst, durch wohlgeordnete Verwaltung eines zu angenehmem Zeitvertreib angestellten gemeinen Wesens, leichtlieh gezogen werden.'4378 Natürlich standen dabei Geselligkeit und die spielerische Integration ins Gemeinwesen nicht abseits, dennoch stellte der "Äußere Stand" eine ernstzunehmende Schattenregierung des "inneren Standes" dar (seit 1728 gar mit eigenem Rathaus379), wobei sich die Ämter und Positionen des letzteren - vom Schultheißen bis zum Stadtschreiber und Weibel - sämtlich im ersteren widerspiegelten.380 Richard Wolfram schreibt, daß der "Äußere Stand" vor allem in seiner Endzeit, also bis in die Jahre vor der napoleonischen Ära, eine "stark erzieherische" Ausrichtung hatte.381 "Der Staat betrachtete die Vereinigung der Jungen sichtlich als Vorschule ftlr die eigentliche Amtsfiihrung in der Republik.''382 Vermittelt werden sollten dabei Werte wie "Ordnung, Tugend, Sanftmut und Menschenliebe", das Bemühen, "unter der regimentstahigen Bürgerschaft Freundschaft, Einigkeit, gegenseitiges Vertrauen und »vorzüglich das beständige Andenken der Gleichheit« zu kultivieren."383 Carl Ludwig von Haller bezeichnete es gar als "die eigentliche Natur" des "Äußeren Standes", "in dem jungen Bemer-Bürger die Liebe des Vaterlandes oder vielmehr die Liebe zu den Pflichten gegen das Vaterland zu pflanzen, zu ernähren und auszubilden, um sie dereinst in einem weitem Kreise mit gedoppelter Treue und Eifer erftlllen zu können."384 Gerade hinter den vom "Äußeren Stand" abgehaltenen sogenannten "Rednertagen", bei denen "der ein Jahr zuvor durch das Los, die sogenannte Balotte"385 erwählte "Orator" seine Rede hielt, stand neben dem Gedanken der Selbstkritik vornehmlich die Idee, "sich in den Staats Geschäften üben und die Gedanken in einem deütlichen und wohlgestehen Vortrag entwickeln zu können."386 Die meisten dieser Reden waren tatsächlich Ausdruck höchsten Niveaus zeitgenössischer politischer Literatur, so etwa Nikolaus Anton Kirchbergers "Geschichte der eidgenössischen Tugend" von 1765. Der staatsphilosophische Vortrag von Carl Ludwig von Haller "Über den Patriotismus" (1794) schließlich darf als Höhepunkt dieser politischen Veranstaltungen gelten, die in den Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rathaus des "Äußeren Standes" in der Bemer Zeughausgasse gehalten wurden.

378 D. Tscharner, S. 55. 379 Vgl. R. Wolfram, S. 191. 380 Ebd., S. 188f. 381 Ebd., S. 189. 382 Ebd., S. 190. 383 H. J. Wäber, S. 88. 384 Carl Ludwig von Haller, Über den Patriotismus, Bern 1794, S. 3. 385H. J. Wäber, S. 85. 386 Vgl. Ebd. 14*

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B. Formen der Freiheit in der Moderne

1. Freiheitliche Lebensführung (Weber), Sitten und Gewohnheiten (Tocqueville und Rousseau)

Für Weber, Tocqueville und Rousseau erzielen gerade die vorgestellten Erziehungsverbände eine nicht hoch genug zu veranschlagende pädagogische Wirkung: Über sie gelingt es, Freiheit in die Lebensfiihrung387, in die Sitten und Gewohnheiten Eingang finden zu lassen, weil sie "methodisch" den "ganzen Menschen"388 erfassen. Im Denken Webers, Tocquevilles und Rousseaus ist eine ganzheitliche389 Charakterprägung unabdingbar, die fiir das freiheitliche Handeln erst den entsprechenden Habitus schafft. "Ich bin der Überzeugung, daß die persönliche Eigenart, (...) immer dann und nur dann zum Ausdruck kommt, wenn sie ungewollt ist'4390, schrieb Max Weber 1908 an Wemer Sombart. Eine freiheitliche Gesinnung konnte filr ihn nicht Produkt geistiger Reflexion sein, sondern muß habituell so verfestigt sein, daß nur "so und nicht anders" gehandelt werden konnte. Voraussetzung dafiir wird eine "Lebensdurchdringung"391 von sittlichen Werten, die lebensmethodisch verinnerlicht werden. Diese aber hat Weber nirgendwo stärker am Wirken gesehen als in den puritanischen Sektenverbänden. Gerade den von Weber so vorgezogenen Persönlichkeitstyp des puritanisch geprägten, sich selbstkontrollierenden Gentleman befähigt seine Erziehung, "seine »konstanten Motive« insbesondere diejenigen, welche sie selbst ihm »einübte«, gegenüber den »Affekten« zu behaupten und zur Geltung zu bringen."392 In diesem "formal psychologischen Sinn" wurde er zu einer "»Persönlichkeit«" erzogen, wobei fiir Weber dieser 387 Zum Begriffder "Lebensftlhrung" bei Rousseau vgl. ders., Emile, S. 990, Anmerkung 57. 388 Weber, PE I, S. 136. 389 W. Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 20 I. Die puritanische Lebensfllhrung kannte noch keine "Adiaphora", also jenes Auseinanderfallen von Wertsphären, das für die kapitalistische Epoche so charakteristisch ist und eine adäquate gesamtheitliehe "ethische Ausdeutbarkeit" des Lebens verhindert. 390 Weber, Brief an Werner Sombart vom 16. Juli 1908, MWG, Abt. II, Band V, Briefe 1906-1908, S. 605. 391 In einer Anmerkung innerhalb der "Protestantischen Ethik'" bezeichnete Weber die Aufgabe als reizvoll, einmal "die charakterologischen Folgen der Durchdringung des Lebens (hervorgehoben vom Verf.) mit alttestamentarischen Nonnen aufzuzeigen." (ders., PE I, S. 175). 392 Ders., PE I, S. 135. Dieses Gentlemanideal klingt "prototypisch" bereits in Webers Charakteristik des freiheitlichen Typs jenes "Unternehmers neuen Stils" an, der, mit Einzug des modernen kapitalistischen Geists, an die Stelle des traditionalen getreten war, und dessen gesamtheitliehen Charakter Weber beschreibt. Es sind die "nüchterne Selbstbeherrschung", die "Klarheit des Rlicks" gepaart mit "Tatkraft'· und ausgeprägten "ethischen Qualitäten" dieser in "harter Lebenschule aufgewachsene(r), wägend und wagend zugleich, vor allem aber nüchtern und stetig, scharf und völlig der Sache hingegebene(n) Männer mit streng bürgerlichen Anschauungen und »Grundsätzen«", die Eindruck auf Weber machten (ders. , PE I, S. 58f.).

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Bemer "Äußerer Stand"

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" ... Schritt der Entkleidung der »ethischen Praxis des Alltagsmenschen« von ihrer »System- und Planlosigkeit« zur Ausgestaltung zu »einer konsequenten Methode der gesamten Lebensfilhrung«" 393 eine unbedingt wünschenswerte Erziehungsleistung darstellte. Diesen Schritt hin zum "occidentalen Ideal der aktiv handelnden, dabei aber auf ein, sei es jenseitig religiöses, sei es innerweltliches, Zentrum bezogenen »Persönlichkeit«" vollzogen alle "asiatischen höchstentwickelten lntellektuellensoteriologien"394 nicht, stellte er in seinen religionssoziologischen Studien fest, dagegen der abendländische Puritanismus in filr Weber beachtlicher Konsequenz, zumal gerade ihm als erster Grundsatz galt, daß "nur in einer fundamentalen Umwandlung des Sinnes des ganzen Lebens in jeder Stunde und in jeder Handlung (hervorgehoben vom Verf.) ( ... ) sich das Wirken der Gnade als einer Enthebung des Menschen aus dem status naturae in den status gratiae bewähren"395 konnte, und sich nur so ein "Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensfilhrung und damit zu deren asketischen Druchdringung..." 396 ausbildete.397 In der von Weber im "Geschäftsbericht" vor der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft filr Soziologie angekündigten, von ihm beabsichtigten, aber aufgrund mangelnder Resonanz seiner Kollegen nie durchgefilhrten "Soziologie der Sekten"398 ist es geraEbd., S. 134. Ders., GARS II, S. 373. 395 Ders., PE I, S. 134. 396 Ebd., S. 164. 397 Weil diese Lebensdurchdringung vom deutschen lutherischen Protestantismus im Gegensatz zum Puritanismus historisch nicht ausgegangen sein soll, weil "ethische Prinzipien" der Lebensführung von "Luthers, die paulinische Weltindifferenz niemals ganz abstreifenden, Gedankenkreisen aus für die Gestaltung der Welt nicht zu gewinnen ..." (ebd., S. 170) waren, hat Max Weber gegen das Luthertum ein ums andere Mal heftig polemisiert. In einem Brief an den evangelischen Theologen Adolf Harnack vom 5. Februar 1906 nimmt Weber kein Blatt vor den Mund. Ihm sei das Luthertum nicht zuletzt deswegen der "schrecklichste aller Schrecken", weil von ihm keine "Kraft zur Durchdringung des Lebens" ausgehe (Weber, Brief an Adolf Hamack vom 5. Februar 1906, MWG, Abt. V, Band 5, Briefe 1906-1908, S. 32-33) und wenig später: " ... daß unsere Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist auf der anderen Seite der Quell alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswert finde ..." (ebd., S. 33). Statt einer asketischen Lebensdurchdringung die bis in die heutige säkularisierte Zeit nachwirken könnte, hätte sich in Deutschland in Ermangelung einer durchdringenden Lebensflihrung, wie Weber beklagt, das entwickelt, "was man an den Deutschen als »Gemütlichkeit« und »Natürlichkeit« empfindet (ders. , PE I, S. 142). Er geht gar so weit, "bei religiöser Wertung", den "DurchschnittsSektenmensch der Amerikaner ... hoch über dem landeskirchlichen »Christen« bei uns "rangieren zu lassen (ebd., S. 33). Im Puritanismus dagegen gelang die Lebensdurchdringung und konnte zur "Verinnerlichung der Persönlichkeit" (ebd., S. 178) fUhren. 398 Vgl. ebd., S. 442, und auch Lebensbild, S. 427f. Wie wichtig fllr Weber nicht das Organisationsgebilde, sondern der charakterprägende Erziehungstypus der Sekte war, dafür sprechen neben der oben im Text angesprochenen, von Weber ins Auge gefassten "Soziologie der Künstlersekte", auch Pläne Webers, seine religionssoziologischen Studien unter anderem mit einem Band zu Orden und Sekten des Mittelalters in der vorre393

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8. Formen der Freiheit in der Moderne

de diese "innere Attitüde zum gesamten Leben"399 und die durch die Sektenerziehung herausgeformte Prägung des Gesarnthabitus, die Webers brennendes Interesse weckte. Es ist die Beeinflußung und "sehr weitgreifende Reglementierung der praktischen Lebensfilhrung" durch diese Gemeinschaftsform, die Weber pädagogisch höchst wertvoll erachtet hat und die letztlich sein freiheitliches Ideal einschneidend beeinflußte. Webers Überzeugung eines freiheitlichen Lebens, das nur in einer ganzheitlichen Lebensfiihrung seiner Verwirklichung entgegenstrebte, rührte dabei von jenem von ihm als Kulturverlust diagnostizierten Prozeß der Entweichung allen einst ethisch inspiririerten Pneumas aus dem "Baxterschen Eisenmantel". Gegen Nietzsches "objektiven", allem und allen gegenüber indifferenten Menschen gerichtet, den Weber gerade in der amerikanischen .. Ieisure class "400 wieder erkennen wollte, sah er im Auseinandertreten von Lebenspraxis und ethischmethodischer Kategorie ein bestimmendes Kulturproblem seiner Zeit. In vorund auch noch frühkapitalistischen Zeiten konnte er noch am Beispiel der Puritaner die Möglichkeit der gesamtheitliehen Lebensfilhrung studieren. Das Schicksalhafte seiner Zeit war es, daß an die Stelle der traditionalen Lebensfiihrung eine neue, der modernen Welt angepaßte trat, die jedoch auf diese Ganzheit verzichtete. Ganzheit der Person setzte eine Prägung von prinzipiellen sittlichen Werten voraus, in deren Namen die "Hingabe an die Sache" erfolgte und in deren Dienst freiheitlich-politisches Handeln stand, einen "Wertmaßstab von innen heraus"401 gleichsam, der ihm nur in der Ankoppelung an ein "transzendentes Ziel" oder eine "echte Prophetie"402 denkbar schien. Wenn jedoch an die Stelle des goetheanischen "vollen und schönen Menschentums"403, von dem es "entsagenden Abschied" zu nehmen galt, in seiner Gegenwart der jeder ursprünglich religiösen Berufsethik doch so überdrüssig gewordene moderne "Berufsmensch" trat, dann bedeutete dies, daß es eine ganzheitliche Lebensfiihrung im modernen Hochkapitalismus nicht mehr geben konnte. Die Einseitigkeit von Goethes "Montan" aus "Wilhelm Meisters Wanderjahren" hatte längst den Platz eingenommen, den einst noch die "faustische Allseitigkeit" besetzt gehalformatorischen Epoche weiterzuführen. (vgl. D. Käsler, Einfllhrung in das Werk Max Webers, München 1979, S. 137). 399 Weber, Rede vor dem deutschen Soziologentage in Frankfurt, S. 446. 400 Vgl. Thorstein Veb/en, Theorie der feinen Leute. 401 Weber, GARS I, S. 521. 402 Ebd. 403 Ders., PE I, S. 187. Auf die Frage Wilhelms, ob denn nicht eine "vielseitige Bildung ftir vorteilhaft und notwendig" zu halten sei, antwortet Montan (der Jarno der Lehrjahre): "Es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, fur sich und andere in diesem Sinne wirkt." (Johann W v. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Erstes Buch, 4. Kapitel, S. 37, Goethes Werke, Band VIII, 3. Auflage, Harnburg 1957).

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Bemer "Äußerer Stand"

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ten hatte.404 "Beschränkung auf Facharbeit" wurde "in der heutigen Zeit Voraussetzung wertvollen Handeins überhaupt"405 • ln der Welt der Wissenschaft verhielt es sich genauso: "Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das volle Geftihl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird."406 Aber damit hatte es filr Weber keinesfalls sein Bewenden. Dennoch forderte er dazu auf, spezialisierte Wissenschaft, mit "ganzer Seele"407 zu betreiben. Obwohl der Kapitalismus nur noch den "halben Menschen" brauchen wollte, verwahrte er sich dagegen, daß die Welt eines Tages mit "nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angeftillt sein soll, die an einem kleinen Pöstchen kleben"408 • Obwohl "felsenfest feststeht", daß "wir einer Entwicklung entgegeneilen"409, die die technisch perfekteste, rationalistisch-mechanistische "entseelte" Bürokratie hervorbringt, votierte er fllr das Freihalten der "Parzellierung der Seele"410: Er war davon überzeugt, daß auch in einer modernen, in ihren einzelnen Sphären ausdifferenzierten Zeit, die den Menschen in die verschiedenen Lebenssphären zergliederte und zerriß, eine Lebensweise möglich war, in der charakterlich eingeprägte Werte "lebensmächtig" werden können. Der "Parzellierung der Seele" bzw. ihre "»monadologische«" Zersplitterung "in eine Unzahl von spezifischen Mächten"411 war nur entgegenzuwirken, indem sich seine Erziehungsidee noch einmal an die Gesamtpersönlichkeit richtete. Mit einer "Kombination nützlicher Einzelqualitäten"412, wie sie dem konfuzianistischen Mandarin ankultiviert werden, konnte es nicht getan sein, mit "Anpassung nach außen" genausowenig. Von "Lebensfiihrung" konnte nicht länger die Rede sein, wo eine zusammenhangslose "Serie von Vorgängen" das Leben des Einzelnen bestimmte, sondern sie mußte weiterhin ein "methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes"413 sein. Ein "Streben zur Einheit von innen heraus"414 sei, so Weber, "was wir mit dem Begriff »Persönlichkeit« verbinden."415

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Weber, PE I, S. 187. Ebd.

Ders., Wissenschaft als Beruf, S. 588. Ebd., S. 589. 408 Ders., Rede vor dem ersten deutschen Soziologentage in Frankfurt, S. 414. 409 Ebd., S. 413. 410 Ebd. 406 407

Ders., Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, GASS, S. 64. Ders., GARS I, S. 521. 413 Ebd. 414 Am Begriff des "inneren" Menschen läßt sich zeigen, warum fllr Weber nicht, wie im Falle J. Burckhardts, die Renaissance, sondern die Reformationszeit die entscheidende historische Epoche war, was ihre Konsequenzen für die Persönlichkeit anbelangt. Die 411

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B. Fonnen der Freiheit in der Modeme

Was er an zeitgenössischen Lebensfilhrungsmodellen wahrnahm, schloß Weber zwar stets flir sich aus, ohne sie dabei grundsätzlich zu verwerfen. Den diagnostizierten "Polytheismus der Werte" hat er auch hinsichtlich der Lebensflihrung ernstgenommen. Die Ausdifferenzierung in verschiedene Lebenssphären, wie er sie in der "Zwischenbetrachtung" nachvollzogen hatte, hatte filr ihn nicht nur die Konsequenz des Endes des goetheanischen "vollen und schönen Menschentums", sondern auch diejenige, daß verschiedene Lebensflihrungsmodelle gleichberechtigt nebeneinander existierten, die zu akzeptieren waren, solange darin eine innere Konsequenz des Handeins vorherrschte - sei es im Typen des Ästheten oder "Dandys", den er bei Stefan George, Charles Baudelaire oder auch Oscar Wilde kennengelernt hatte, sei es bei den Gesinnungsethikern und Syndikalisten, wie er sie in der Münchener Räterepublik antraf. Allein, filr den politisch-freiheitlichen Menschen hat sich Weber solche Modelle der Lebensflihrung stets verboten. Er wollte nicht zum "vollen Leben" erziehen, sondern zu einer Lebensführung, die stark genug sein sollte, eine "parzellierte Welt" freiheitlich zu meistern. Bei Alexis de Tocqueville spiegelt sich der Gedanke einer pädagogisch erwirkten Charakterprägung und gesamtheitliehen Lebensfilhrung wieder, wenn er hervorhebt, daß Freiheit, im Sinne freiheitlichen Handelns, immer zu erst einer sittlichen Quelle im Menschen entspringen muß. Nicht im totalitär verordneten "vollständigen Aufgehen der Persönlichkeit der Staatsbürger im Gesellschaftskörper"416, sondern in einer inneren nationalen Erziehung411 , die in die "Gewohnheiten, Sitten und Erinnerungen"418 einmündete und die "die Kinder ... mit ihren staatsbürgerlichen Pflichten und Rechten bekannt machte"419, erkannte er das unverzichtbare pädagogische Mittel zur Freiheit. In Amerika, in der die Demokratie bereits nach und nach in die "Gebräuche, in die Meinungen, in die Lebensformen"420 eingedrungen war und man ihr in ,jeder Einzelheit des sozialen Lebens"421 begegnete, war es gelungen, in Freiheit zu leben, weil "die Gesetzte und vor allem die Sitten (hervorgehoben vom Verf.) einem demokrati-

Renaissance leistete Persönlichkeitsbi/dung, die Reformationszeit dagegen ergriff die Seele des Menschen. 415 Weber, GARS I, S. 521. 416 Tocqueville, DaSudR, S. 165. 417 Das hat in seiner Rezension der "Demokratie in Amerika" schon John Stuart Mill gesehen. Vgl. ders., Tocqueville über die Demokratie in Amerika, S. 19/20. Vgl. auch D. Freund, Max Weber und Alexis de Tocqueville, S. 20 und H. Rausch, S. 232. 418 Tocqueville, DaSudR, S. 253. 419 Ebd., S. 261. 420 Ders. , ÜdDiA I, S. 356f. 421 Ebd.

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sehen Volk erlauben können, frei zu bleiben."422 Tocqueville sah wie Weber, daß eine gelebte Freiheit immer im Innersten des Menschen verankert sein mußte, sollte sie dauerhaft praktisch werden. Deswegen wird die heute so altmodisch klingende Kategorie der politischen Sitten ftlr Tocqueville noch einmal zum entscheidenden Träger seines Erziehungsideals - und nicht die "formale Bildung". In der "Demokratie in Amerika" bestätigte er dies, wenn er schrieb: "Ich bin überzeugt, daß die glücklichste Lage und die besten Gesetze eine Verfassung nicht ohne Hilfe ihrer Sitten aufrechterhalten können( ... ). Die Wichtigkeit der Sitten ist eine allgemein geltende ... Wahrheit. Mit scheint, sie bildet in meinem Geiste den Mittelpunkt; ich sehe sie als Abschluß aller meiner Gedanken (hervorgehoben vom Verf.)." "Sitten" als "Abschluß aller seiner Gedanken" begriff Tocqueville dabei als im Charakter der Menschen wurzelnde Handlungsgrundlagen - keine festgefUgten Schablonen, sondern bewegliche Dispositionen, die in bestimmten Situationen zum Tragen kommen und das konkrete Handeln lenken sollten. Sitten wollte Tocqueville angewandt wissen auf all "die verschiedenen Begriffe, die die Menschen besitzen, die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten, und auf die Gesamtheit der Ideen, aus denen die geistigen Gewohnheiten sich bilden."423 Eine freiheitlich-sittliche Erziehung wird fiir ihn zum Dreh- und Angelpunkt des pädagogischen Leistungsvermögens der amerikanischen Bürgervereinigungen, wie sie fiir ihn zu den eigentlichen Schulen demokratisch-freiheitlicher Bürger avancieren. Wenn Weber davon spricht, durch Erziehung eine neue Form der Lebensftlhrung zu gewährleisten, dann sind es bei Tocqueville die Sitten, die die Gesamtheit einer freiheitlichen Persönlichkeit schaffen. Durch den Zusammenschluß zur Assoziation könnten, so lautet einer seiner zentralen Sätze, "die einfachen Bürger ( ...) sehr vermögende, sehr einflußreiche, sehr kraftvolle Wesen, mit einem Wort, aristokratische Persönlichkeiten (hervorgehoben vom Verf.) bilden ..." 424 Die Erziehungsleistung gelänge dadurch, daß die demokratischen Einrichtungen, wie sie die amerikanischen Assoziationen vorstellen, "allen BUrgern Gedanken und Geftlhle" vermitteln, "die sie zunächst fiir die Freiheit vorbereiten und ihnen dann deren Gebrauch gestatten"425 • Auch wenn die ungeübte Beschäftigung mit dem 422 Ebd., S. 364 und auch S. 360. Es flillt auf, das auch John Stuart Mill "Individualität" gegen die "Tyrannei der Gewohnheit" (ders., Über die Freiheit, S. 97) errichten will. Seine Aufforderung an den modernen Menschen, "Originalität" zu suchen als Antidot gegen die "AIItagsmenschheit" (ebd., S. 96), steht dabei keinswegs im Widerspruch zu Tocquevilles notorischer Ablehnung des "individualisme", also der demokratisch-despotischen Vereinzelung. Mill -wie auch Weber- geht es nicht um eine neue Erlebniskultur, sondern um "Charakterstärke" (ebd., S. 93 ), auch wenn "energische Charaktere mit großem Format", wie Mill schreibt, "schon jetzt bloß noch in den Bereich der Sage" gehören (ebd., S. 96). 423 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 332. 424 .. Ders., UdDiA II, S. 348. 425 Ders., ÜdDiA I, S. 365.

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

öffentlichen Wohl anfangs noch "notgedrungen" erlebt wird, so erzieht die Assoziation dazu, "aus freien Stücken" öffentlich zu handeln, theoretische Bürgertugend verfestigt sich zur "steten Gewohnheit"426 • "Was Überlegung war, wird Instinkt, und durch stetes Arbeiten filr das Wohl seiner Mitbürger nimmt man schließlich die Gewohnheit und Neigung an, ihnen zu dienen."427 "Eine bestimmte Angelegenheit ist durch Zufall zu einem gemeinsamen Anliegen von Menschen geworden ... Je mehr die Zahl dieser kleinen gemeinsamen Geschäfte zunimmt, umso mehr erwerben die Menschen, oft sogar unbewußt, die Fähigkeit, gemeinschaftlich die großen Dinge durchzufilhren."428 Dem Gedanken der "perfectibilite" des aufgeklärten, individualistisch gedachten Menschen stellt Tocqueville die echte Vervollkommnung des seelisch belebten Menschen gegen0ber.429 Eine solche Größe aber kann nur "im Menschen selbst"430 begründet liegen, kein "Mechanismus der Sozietät" kann sie heraufbeschwören. Dorrit Freund hat darauf hingewiesen, daß Tocqueville nach Rousseau der letzte politische Denker des Abendlandes ist, bei dem noch einmal die Sitten im Mittelpunkt seiner politischen Theorie stehen. 431 Mit Max Weber kehren sie jedoch noch einmal - wenn auch verhandelt unter der Deckadresse der "Lebensfilhrung" - ins Zentrum einer sich politisch begreifenden Kulturwissenschaft zurück. Jean-Jacques Rousseau wiederum hat an exponierter Stelle im "Deuxieme Discours" erläutert, wie sehr auch bei ihm alles von einer Versittlichung der Freiheit abhing. "Ich hätte daher eine glückliche und ruhige Republik als mein Vaterland ausgesucht, ... die niemals andere Versuchungen ausgestanden hat als solche, durch die der Mut und die Liebe zum Vaterlande in den Herzen der Einwohner befestigt und der Welt kund werden."432 "Wenn die Politiker weniger von ihrem Ehrgeiz verblendet wären, ... sie würden filhlen, daß die größte Triebfeder der öffentlichen gesetzmäßigen Gewalt in den Herzen der Bürger 426 Vgl. ders., ÜdDiA II, S. 120. 427 Ebd., S. 367. Susanne Achtnich hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Leben

in Freiheit auch für Tocqueville, obwohl er den Begriff kaum gebraucht, gebunden ist "an eine Art der Lebensführung (hervorgehoben vom Verf.), die, garantiert von der jeweiligen Verfassung und Rechtsordnung, das Zusammenleben der Bürger bestimmt." (vgl. dies., S. 138) Dem Verfasser fiel bei der Durchsicht des Gesamtwerkes die folgende Textstelle auf, in der Tocqueville den Begriff der "Lebensfilhrung" (orig. "pratique") explizit anwendet. Im zweiten Band der "Demokratie in Amerika" heißt es: "Mit ihrer Lebensfilhrung bezeugen die Amerikaner, wie sehr sie die Notwendigkeit filhlen, der Demokratie durch die Religion eine sittliche Grundlage zu geben." (ÜdDiA II, S. 160). 428 Tocquevil/e, ÜdDiA II, S. 133. 429 Ders., DaSudR, S. 124. 430 Ders., Briefvom 9. August I 857, A. Salomon, S. 23 I. 43 1 Vgl. D. Freund, Alexis de Tocqueville und die politische Kultur der Demokratie, S. 109. 432 Rousseau, DD, S. 169.

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liegt, und daß zur Erhaltung nichts die Sitten zu ersetzen vermag", schreibt er in der "Abhandlung über die politische Ökonomie".433 Das "tote" Gesetz wirke "nur äußerlich und regelt nur die Handlungen; allein die Sitten dringen nach innen und lenken den Willen."434 Im darauf folgenden Aphorismus schrieb er: "In jedem Land, in dem die Sitten einen festen Bestandteil der Staatsverfassung bilden, sind die Gesetze stets mehr darauf gerichtet, die Gebräuche zu erhalten, als zu bestrafen oder zu belohnen ... "435 Rousseau glaubt zu wissen, daß nicht staatliche, bürgerliche noch Strafgesetze Freiheit verbürgen, sondern eine vierte Art von Gesetzen, - "die wichtigste von allen" - "die weder in Marmor noch Erz, sondern in die Herzen der Bürger eingeschrieben wird. Sie bildet die wahre Verfassung des Staates; sie gewinntjeden Tag neue Kraft; wenn die andem Gesetze altem oder erlöschen, gibt sie ihnen neues Leben oder tritt an die Stelle der Staatsmacht Ich spreche von den Sitten und Gebräuchen und vor allem von der öffentlichen Meinung, einem Feld, das unseren Politikern unbekannt ist, von dem aber der Erfolg aller anderen Gesetze abhängt; ich meine jenen Teil der Gesetzgebung, mit dem sich der große Gesetzgeber insgeheim beschäftigt, während er sich auf einzelne Regelungen zu beschränken scheint, die nur den Sokkel des Gewölbes bilden, dessen unverrückbaren Schlußstein schließlich die langsamer entstehenden Sitten setzen."436 Erst die sittliche Freiheit macht "den Menschen wirklich zum Herrn über sich selbst". 437

2. Bewährung, Selbstbehauptung, Tatkraft Wenn es jedoch zu den nächstliegenden Konsequenzen der hier einander gegenüber gestellten Freiheitsideen gehört, daß sie der Verinnerlichung in dieLebensfilhrung, also dem Moment einer Versittlichung einen wichtigen Stellenwert beimessen, dann muß genauso zwingend sein, daß sie auch eine nach außen gerichtete, gänzlich unkontemplative Dimension beinhalten, in der sie sich Ders., AüdpoiÖk, S. 238. Ders., Politische Fragmente, S. 594. 435 Ebd., S. 595. 436 Ders., CS, S. 314. Es soll keinesfalls unterschlagen werden, daß sich in Tocque433

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villes und auch Mills Ablehnung jener "Tyrannei der öffentlichen Meinung" (vgl. ders., ÜdDiA I, 2. Teil, 7. Kapitel, und auch J. St. Mi//, Über die Freiheit, S. 93) ein Widerspruch zu Rousseau auftut, der ja in dieser Größe eine freiheitsförderliche Kategorie, als der spezifischen Art und Weise erkannte, in der sich die politischen Sitten eines Volkes fortdauernd ausdrückten. Offensichtlich liegt das daran, daß er sich noch nicht vorstellen konnte, wie außerhalb des Staates ausgerechnet eine gesellschaftliche Größe wie die "opinion publique" als Meinung der Mehrheit äußerst repressive Züge annehmen konnte, die in Tocquevilles Amerika bereits "das Denken mit einem erschreckenden Ring" umspannte (ebd.). 437 Rousseau, CS, S. 284.

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praktisch manifestieren. Diese Dimension kann daher einzig eine handelnde sein.438 Zu dauerhaft sittlich-verankertem freiheitlichen Handeln befähigte Charaktere durch "Auslese und Zucht" hervorzubringen, wird daher zur nächsten Erziehungsleistung, die der amerikanische Klub in Webers Denken erbringen kann. Vor genau demselben pädagogischen Hintergrund gewinnen auch die Assoziationsidee Tocquevilles und Rousseaus republikanische Freiheitsidee noch schärfere Konturen. In Webers Religionspsychologie war das fehlende Bußsakrament des Puritanismus immer wieder der entscheidende Ausgangspunkt seiner Analyse. Im katholischen Beichtsakrament, welches dem Gläubigen ethische Entlastung einer gewissensmäßigen Spannung verschaffi:e, in welcher wiederum "zu leben das unentrinnbare Schicksal des Calvinisten" war, konnte sich der Katholik im Grunde immer neu seine ethische Qualifikation erlangen, die eine in Aussicht gestellte certitudo salutis voraussetzte. Dem Puritaner war dieser innerweltliche Erlösungsweg verwehrt, denn er empfand sich als Werkzeug, nicht als Gefliß Gottes. Weber machte plausibel, daß eine auf das weltliche Handeln abgestellte religiöse Freiheitsidee jener politischen Tugend der Tatkraft besondere Bedeutung verleihen mußte, und es überrascht nicht, wenn er gerade sie als durch Erziehung erwirkte charakterliche Eigenschaft vornehmlich aus der puritanischen Sekte entstehen sah: "Jene Verbindung der innerlichen Isolierung des Individuums, die ein Maximum von Tatkraft (hervorgehoben vom Verf.) nach außen bedeutet, mit seiner Befähigung zur Bildung von sozialen Gruppen von festestem Zusammenhalt und einem Maximum an Stoßkraft - sie ist, in ihrer höchsten Potenz, zuerst auf dem Boden der Sektenbildung gewachsen."439 Dem Individuum, das nur vor Gott Verantwortung trug, sich in seinem Verständnis als Werkzeug Gottes und die Welt "als das nach der Norm ethisch zu formende Material"440 verstand, war einzig das ethische innerweltliche Handeln Mittel der 438 Wie stark dieses Freiheitsideal auf Karl Jaspers nachgewirkt hat, belegen dessen Ausfiihrungen zum Menschentyp der "aktiven Einstellung". In seiner "Psychologie der Weltanschauungen" beschreibt Jaspers diesen von Weber so idealisierten "aktiven Menschen": "Seine Natur sind Wirklichkeitssinn, Sachlichkeit, Nüchternheit, Klarheit, Abschätzung der Kräfte und Möglichkeiten. Nicht Grundprobleme beschäftigen ihn: Jeder Tag hat seine eigene Sorgen." (vgl. Kar/ Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen (1919), 2. Auflage, München 1994, S. 53). Vgl. auch John Stuart Mills Ausruhrungen zum "aktiven und energischen Charakter" in: Ders., Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, S. 69f. 439 Weber, "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, S. 395. Im übrigen befindet sich in E. Troeltschs "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" aus dem Jahr 1922 (ders., Gesammelte Schriften, Band I, Aalen 1961) aufS. 789 eine Anmerkung, in der der enge Weber-Freund und Reisegefährte in die USA in einer Fußnote (Anm. 430), Tocqueville und Weber gemeinsam nennt. Diese Anmerkung soll die im Text aufgestellte Behauptung belegen, "daß überall der Puritanismus( ... ) als ein bis heute wesentliches Element des amerikanischen politischen und sozialen Lebens bezeichnet wird..." 440 Weber, GARS I, S. 521 .

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Heilsversicherung, gleichzeitig religiöser Auftrag, weil es "nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes" dessen Ruhm vermehrte. 441 Es ist dieser aktive, weltzugewandte Zug der calvinistischen Ethik, den sich Weber filr sein freiheitliches Persönlichkeitsideal zunutze machte. Andererseits gab das "minus an Antrieb zur Rationalisierung des innerweltlichen Handelns", neben der mangelnden Lebensdurchdringung, gleichzeitig den Ausschlag dafilr, warum Weber größte Abneigungen gegen das "schwächliche" Luthertum hegte. Seine Kritik lag bekanntlich darin, daß die lutherische Religion, indem sie an "Gefilhlsaffekte" appellierte, eine passive Untertanengesinnung erzeugte, die sich Webers politischer Idee weitgehend entzog. Weil es sich passiv442 beschied "mit dem einmal von Gott zugemessenen Los" 443, sich weltindifferent erwies, "spiritualistisch filgt(e)", weil es sich begnügte, um in Ernst Troeltschs Charakterisierung fortzufahren, mit der "Objektivität der Gnadenmittel" und keinerlei "Kraft zur kirchlichen Organisation" hatte, schließlich einen "unpolitischen Sinn" repräsentierte, eignete es sich filr seine Freiheitsidee nur schwerlich.444 Der Puritaner dagegen setzte sich selbst vor seiner Gemeinde immer wieder der Probe aus, daß und wie Gott in ihm wirke. 445 Für Weber ist dieser Aspekt nicht hoch genug zu veranschlagen: "Es hat", schrieb er, "vielleicht nie eine intensivere Form religiöser Schätzung des sittlichen Handeins gegeben, als die, welche der Calvinismus in seinen Anhängern erzeugte."446 In der "aktiven Askese" gottgewollten Tuns, in "einem ethischen Handeln also, auf dem Gottes Segen ruhte"447, wirkte der puritanische Virtuose weltgestaltend, mit dem "Sehnen und Harren allein" war es filr ihn nicht getan448. We441 Ders., PE I, S. 167. 442 Während der Sektierer nur seinem Gewissen gehorcht, nur Gott verantwortlich ist, kennt das Luthertum in Webers Sicht nur eine "passive Resistenz" und "bejahte dagegen die Unbedenklichkeit des Gehorsams gegen die Weltobrigkeit, auch da, wo diese weltlichen Krieg befahl, weil sie, und nicht der Einzelne, die Verantwortung trage und weil die ethische Selbständigkeit der Ordnung der weltlichen Gewalt( ... ) anerkannt wurde." (Weber, Zwischenbetrachtung, S. 550). Das Luthertum verkörperte fllr Weber eine "Untertanen-Religiosität" (vgl. ders., WuG, S. 652 und auch S. 675), die auf seine Ablehnung stieß. Auf der anderen Seite ist es gerade der gewissengeleitete Sektierer, der wegen seines damit verbundenen "anti-autoritären" Charakters Webers Bewunderung auf sich zog. 443 Ders., PE I, S. 171. 444 E. Troeltsch, Soziallehren, S. 605. 445 Weber, PE I, S. 130. Es ist bezeichnend flir das Tocquevillesche staatsbürgerliche Freiheitsverständnis, daß auch er Ressentiments gegen das Luthertum hegte. Tocqueville selbst war ein überzeugter Anhänger des Jansenismus, dessen religiöse Ideen nicht im "leidenden Gehorsam Luthers, sondern in der tatkräftigen Gestaltung des Staats und des gemeinsamen Wohls" (A. Salomon, Einleitung, S. 20) zur Geltung kamen. 446 Weber, PE I, S. 132. 447 Ders., GARS I, S. 526. 448 Ders. , Wissenschaft als Beruf, S. 613.

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

her skizzierte diese praktische Idee religiöser Heilsvergewisserung, in der es keine ethische Qualifikation mehr via "Summierung und Gegeneinanderabrechnung von Schuld und Verdienst" oder "allmählichem Aufspeichern verdienstvoller Einzelleistungen" gab, sondern nur noch Uber "ein starres Entweder-Oder der ganzen, in der Gesamtheit ihrer ethischen Lebensfiihrung sich manifestierenden Persönlichkeit"449 • Tatkraft wurde ihn seinem politisch-pädagogischen Verständnis zum entscheidenden Ausweis freiheitlicher Völker, wie der Russen etwa der Revolutionsphase von 1905: "Der jähe Wechsel zwischen stUrmiseher Tatkraft und Ergebung in die Situation" sei dort, schrieb er, "die Folge der Nichtanerkennung des ethisch Indifferenten als existent..."45 Freiheit wird aufgefasst nicht als eine ins Ewige perpetuierte Problemlösung, sondern im Sinne eines "modus vivendi"451 . Die puritanische Sekte "als eine Gemeinschaft rein persönlich charismatisch qualifizierter Personen"452 im Sinne eines "aristokratischen Gebildes"453, und auch der amerikanische Klub, sind fiir ihn genau in diesem Sinn Verbände, "Ausleseapparate"454 kraft "Charisma und Sittenzucht"455 freiheitlich Qualifizierter.

°

Das erforderliche Prinzip zur freiheitlichen Qualifikation sieht Weber noch in den amerikanischen bzw. angelsächsichen Klubs und ihrem Ballotageprinzip der Mitgliederrekrutierung am Werk. In den amerikanischen Klub kann ein Mitglied nicht einfach eintreten, vielmehr wird es von den eingesessenen Mitgliedern hineinballotiert. Die Aufnahme ist ursprUnglieh Beweis einer ethischreligiösen Qualifikation, wie sie die puritanischen Sekten nach eingehender Recherche und strenger Prilfung des ethischen Lebenswandels des Aufnahmebewerbers vergaben. Aufuahme gewährt wird nur, wem ethisch Redlichkeit, also Qualifikation zuerkannt wird. 456 Nach dieser Idee einer ethischen Qualifikation 449 Ders., PE I, S. 132. 450 Ders. , Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, S. 39f 451 Ders., PE II, S. 308. 452 Ders., WuG, S. 693. 453 Ebd., S. 721. 454 Ebd., S. 722. 455 Ders., PE I, S. 292-296. 456 Die Nachwirkungen dieser Tradition der Aufnahme in den Sektenverband Einzelnerkraft genuin religiös-ethischer Qualifikation konnte Weber noch in seinen Tagen beobachten. So berichtet er rückblickend von einem Reiseerlebnis aus den USA, als ein "deutsch geborener Nasen- und Rachenspezialist" ihm vom ersten Besuch eines Patienten erzählte, der, noch bevor er sein eigentliches Leiden kundtun wollte, sofort auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinde aufmerksam machte. Die Aussage sollte ein Hinweis auf die Zahlungsfiihigkeit des Patienten sein, also auf seine finanzielle Seriosität. Ganz ähnlich inspiriert war fllr Weber eine Baptistentaufe in North Carolina, der er beiwohnte. Er fand heraus, daß sich der Betreffende deswegen taufen ließ, weil er beabsichtigte, eine Bank zu eröffnen. Da die Aufnahme in eine Sektengemeinde immer ein "Qualifikationsattest fiir die Persönlichkeit bedeutete" (ders., PE I, S. 283), der langwierige Lebenswandel-Recherchen vorausgingen, danach mit der Aufnahme aber

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ist jedoch in einem zweiten Schritt mindestens so wesentlich, daß sich diese fiir den Einzelnen nicht mit Eintritt in die Sekte bzw. den Klub kathartisch erübrigt. Da ethische Qualifikation im Puritanismus einzig über die Vergewisserung des Gnadenstandes durch "eine zu jeder Zeit vor der Alternative "erwählt oder verworfen?" stehenden systematischen Selbstkontrolle",457 also nur über ein fortwährendes Wirken in den Alltag hinein gelingt458, muß der hinzuballotierte Neuling seine ethische Qualifikation mit Eintritt unter Seinesgleichen immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen. Er muß sich im Handeln bewähren. Bewähren in diesem Sinne bedeutet, daß der Beweis fiir den Besitz der ethischen Qualifikation der Sekte, die zur seriösen Qualifikation der Kreditwürdigkeit gerade im modernen Geschäftsgebaren bei den säkularen amerikanischen Klubs wird, nicht nur einmal, sondern andauernd im kontinuierlichen zur Lebensmethode verinnerlichten Handeln erbracht wird. Neben der Verinnerlichung eines freiheitlichen Habitus und dem Qualifikationsgedanken steht diese sich im Handeln einlösende Bewährungsidee an erster Stelle des Webersehen Erziehungsziels. Freiheit wird am ehesten dauerhafte Qualität, wenn es gelingt, Bewährungsverhalten in den gesamten Lebensstil aufgehen zu lassen. 459 Es liegt daher auf der Hand, daß das gleiche Prinzip fiir Weber zum Leistungsnachweis eines politisch-freiheitlichen Systems überhaupt wird. Über das englische Parlament schreibt er in "Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland", es gewährleiste gegenüber dem "cäsaristischen Vertrauensmann der Massen", dem Premierminister, "eine geordnete Form der politischen Bewährung (hervorgehoben vom Verf.) der um das Vertrauen der Massen werbenden Politiker innerhalb der Parlamentsarbeit."460 Aus der puritanischen Bewährungsidee wird deutlich, warum Webers freiheitlicher Handlungsbegriff stets verantwortungsethisch rückgebunden ist: Bewährung entscheidet sich an den sichtbaren Folgen des Handelns, "fiir die man

geschäftlich-ethische Qualifikation "verbrieft" waren, sicherte sich der Täufling durch diesep Akt nicht nur "schrankenlosen Kredit" bei unverschuldeter ökonomischer Gefiihrdung, sondern generell die ethische Garantie, "ein gemachter Mann" zu sein. 457 Ders., PE I, S. 132. 458 Die puritanische Seelsorge hatte das Problem des Gnadenstandes ("An welchen Früchten kann der Reformierte den rechten Glauben unzweifelhaft erkennen?") dadurch gelöst, daß die Erwähltheilserkenntnis ausschließlich an einer Lebensfiihrung des Christen, die Gottes Ruhm mehrte, zum Vorschein gelangen konnte (ders., PE II, S. 137). Jeder sollte sich fiir "erwählt" halten, der Selbstzweifel wurde als Folge unzulänglichen Glaubens gesehen (ders., PE I, S. 128). 459 Ders., PE I, S. 164. Weber legt Wert darauf, daß es ihm nicht um "Bewährung an sich" geht, sondern immer um ein "In-der-Welt-sich-bewähren". Auch ein Mystiker könne sich ,,gegen die Welt, gegen sein Handeln in ihr" bewähren. Vgl. ders., GARS I, s. 539. 460 Ders.. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 395.

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8. Formen der Freiheit in der Moderne

aufzukommen hat". 461 Weit wichtiger als die erschwerten Eintrittsbedingungen ist filr Weber, daß die puritanische Sekte bzw. der amerikanische Klub auf das Mitglied zurückwirken, indem sie ethische Bewährung im Handeln als unentwegte Beanspruchung der Qualitäten des Einzelmitgliedes herausfordern - "in jeder Stunde und in jeder Handlung"462 • So wie der Puritaner- und dann auch der Student am amerikanischen Quäkercollege - als Erziehungsziel lernt, sich ethisch selbst zu behaupten, "in einem Kreise und unter der steten Kritik" von seinesgleichen, kontinuierlicher "Kontrolle und Verrnahnung"463 ausgesetzt zu sein, so stellt sich Weber einen "freien Verband Qualifizierter" vor, der sich der Sache der Freiheit hingibt. So wie der Calvinist gemäß dem Motto "Gott hilft dem, der sich selber hilft"46\ "sich seine Seligkeit selbst schafft"465 , auf sich und sein Gewissen gestellt ist, übt das·Webersche Freiheitsideal einen individuellen Selbstdruck aus, beständig sich neu zu behaupten. Dieses aus dem Sektenturn stammende "Erziehungsmittel" begrüßte Weber gerade an den amerikanischen Colleges. Im Berliner Tageblatt vom 27. Oktober 1911 schrieb er in einer Entgegnung: "Das College mit seiner spezifischen Prägung der Persönlichkeit (im Sinne des angelsächsischen "Gentleman"-ldeals nämlich) ... scheine vielfach eine besonders geeignete Stätte der Erziehung zur Selbstbehauptung (hervorgehoben vom Verf.) (und wäre hinzuzufilgen, zum gesunden bürgerlichen Selbstgefllhl)..." 466 zu sein. Der freiheitliche Mensch wie ehemals der religiöse Sektierer beginnt, innerhalb seines Bewährungsdenkens, "sich selbst den Puls zu filhlen", verinnerlicht gleichsam das Gebot und die Aufgabe, ethisch und freiheitlich, und das ist immer "verantwortlich", zu handeln. Der "filr unsere Betrachtungen fundamentale Bewährungsgedanke" wird zum "psychologischen Ausgangspunkt der methodischen Sittlichkeit"467 • Ethische Qualifikation und ständige Feststellung ethischer Bewährung ist jedoch auch noch das Stilprinzip, auf das sich der amerikanische Klub gründet, auch wenn, wie erwähnt, diese Maximen schon in Webers Tagen hauptsächlich auf die geschäftliche Kreditwürdigkeit bezogen werden müssen. Dennoch, auch noch fiir den "Badge" im Knopfloch des amerikanischen "Gentleman" macht Weber einen spezifisch ethischen Inhalt aus, der da lautet: "Ich bin nach Recherche und Bewährung

461 Ders., Politik als Beruf, S. 552. Auch Webers Schlüsselkategorie, wie sie die "Verantwortungsethik" des Politikers darstellt. wurzelt, wie viele Elemente seiner spezifischen Freiheitlehre, in der puritanischen Morallehre und ihrer Bewährungsidee. V gl. dazu L. Waas, Max Weber und die Folgen. 462 Ders., PE I, S. 134. 463 Ders., WuG, S. 723. 464 Ders., PE I, S. 132. 465 Ebd. 466 Ders., Die Handelshochschulen, Eine Entgegnung, Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 27. Oktober 1911, Morgenausgabe, 40. Jahrgang, Nr. 548. 467 Ders., PE I, S. 141.

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patentierter und kraftmeiner Mitgliedschaft garantierter Gentleman."468 Weber ist der Gedanke sympathisch, daß sich inmitten der Mediokrität schaffenden modernen amerikanischen Bürokratie sich "antinomisch" neben dem "offiziellen Ausleseprinzip" des reinen "Hasards" ein Ballotage-System als "typisches Vehikel des Aufstiegs"469 entwickeln konnte, das gesellschaftlichen Aufstieg als Prämie für eine sittlich-geistige Qualifikation und Bewährung ausschrieb.470 Aus dieser Perspektive befürwortet er es, daß derartige "ständische Aristokratisierungstendenzen" in Amerika am Werk sind und zum einen der demokratischen Gleichmacherei, zum anderen der "nackten Plutokratie" als sozialem Distinktionsmittel und spezifisch demokratischen Prinzip der "Auslese" den Kampfansagen. 471 Eine Freiheitsidee, die die Qualitäten sich dauerhaft bewährenden staatsbürgerlichen Handeins in sich trägt, steht auch bei Alexis de Tocqueville im Zentrum seiner Freiheitsidee. Aus ganz verwandten Überlegungen heraus hat auch Tocqueville niemals mit dem christlichen Apolitismus seinen Frieden geschlossen. "Pourquoi", fragte er, "Ia religion chretienne qui, sous tant de rapports, a ameliore l'individu et perfectionne l'espece, a-t-elle exerce, sourtout a sa naissance, si peu d'intluence sur Ia marche de Ia societe? Pourquoi, a mesure que Ies hommes devenaient individuellement plus humains, plus justes, plus temperants, plus chastes, paraissent-ils devenir chaque jour plus etrangers a toutes !es vertus publiques? Oe teile sorte que Ia grand societe nationale semble plus corrumpue, plus lache, plus infirme dans Je meme temps ou Ia petite societe de Ia familie est mieux reglee."472 In Amerika hingegen hatte er miterlebt, wie dort der bürgerliche Anspruch auf Öffentlichkeit durch staatsbürgerliches Handeln zurückgefordert wurde. In der "Demokratie in Amerika" berichtete er von einer Art "Bürgerbegehrens" in den Vereinigten Staaten, das darauf abzielte, Alkohol als Genußmittel abzuschaffen. Als er zum ersten Mal vernahm, "daß hunderttausend Menschen sich plötzlich verpflichtet hätten, auf starke geistige Getränke fortan zu verzichten", kam ihm "die Sache eher spaßig ( ... ) vor", und er "begriff zuerst nicht ganz, weshalb diese so mäßigkeitsfreudigen Bürger, sich nicht damit zufrieden geben, im Kreise ihrer Familie Wasser zu trinken". Erbegriff dann jedoch, "daß diese hunderttausend Amerikaner, die durch die AusEbd., S. 285. Ebd. 470 Ebd., S. 286. 471 Gerade deswegen auch findet Weber den Gedanken faszinierend, daß noch in der Kolonialzeit Amerikas "Voraussetzung der Vollbürgerschaft im Staat" das "Vollbürgerrecht in der Kirchengemeinde" war. Nur wer seine ethischen Qualitäten in der Gemeinde unter Beweis gestellt hatte und wer die entsprechende Lebensftlhrung mitbrachte, wurde demnach zum eigentlich politischen Handeln zugelassen (vgl. ders., PE I, S. 288). 472 Tocqueville, Correspondance Anglaise, OC, Band VI, S. 323. 468

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15 Hecht

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breitung der Trunksucht in ihrer Umwelt erschreckt waren, der Mäßigkeit ihren Schutz gewähren wollten. Sie handelten genauso wie ein großer Herr, der sich sehr schlicht kleidet, um damit dem einfachen Bürger die Geringschätzung des Luxus beizubringen. Wären diese hunderttausend Menschen in Frankreich zu hause, so ist anzunehmen, daß sich jeder einzeln an die Regierung gewandt hätte, um sie zu bitten, die Wirtshäuser im ganzen Gebiet des Königreichs zu überwachen."473 Der Schlüsselbegriff, auf den es Tocqueville dabei ankommt, ist ebenfalls die hier so anschaulich illustrierte Tatkraft, wie er ihr als Charakteristikum des freiheitlich handelnden Bürgers der Vereinigten Staaten dann wieder in den letzten Seiten der "Demokratie in Amerika" huldigt. 474 In diesen Schlußpassagen fordert er regelrecht dazu auf, "aus kleinmütigen und schlaffen Bürgern ein tatkräftiges (hervorgehoben vom Verf.) Volk"475 wiedererstehen zu lassen, also eine staatsbürgerlich handelnde Civitas, denn nur auf diesem Wege könnten wieder "große Menschen" gedeihen. 476 In Amerika erlebte er unmittelbar, wie eine Gemeinde tatkräftig Probleme löste. "Eiri Hindernis liegt auf der Straße; der Durchgang ist versperrt, der Verkehr steht still; alsbald bilden die Nachbarn eine beratende Gesamtheit; aus dieser Stegreifversammlung entsteht eine ausfUhrende Gewalt, die dem Übel abhilft, bevor irgendeiner der Beteiligten an eine Obrigkeit dächte, die es außerhalb der hier gebildeten gibt." 477 Diese Beispiele eines ganz und gar auf ein im klassischen Sinne politisches Handeln ausgerichteten Freiheitsbegriffs verdeutlichen Tocquevilles Grundideen, wie dem milden Despotismus seiner Epoche beizukommen ist. Dabei lassen sie sich mit dem Webersehen Bewährungsgedanken verbinden, weil es auch filr Tocqueville auf der Hand liegt, daß sich eine in die Sitten eingegangene Freiheit, wie sie sich in seinen Beispielen ausdrückt, nicht in "werksheiligen", kathartischen Einzelaktionen erschöpfen kann, sondern als ganzheitliches Stimulans kontinuierlichen Handeins auftreten muß. Diese habituelle Kontinuität zu erzeugen, ist filr Tocqueville ausschlaggebender Erziehungseffekt der amerikanischen Assoziationen: "In den politischen Vereinen bekommen die Amerikaner jeden Standes, jeder Gesinnung und jeden Alters tagtäglich eine allgemeine Freude am Verein, und sie machen sich mit dem Vereinswesen vertraut. Dort sehen sie einander in großer Zahl, sprechen zusammen, verständigen sich und spornen sich gemeinsam zu allerlei Vorhaben an. Alsdann übertragen sie die so erworbenen Kenntnisse auf das bürgerliche Leben und nutzen sie tausendfältig (hervorgehoben vom Verf.). Derart lernen die Amerikaner durch den Gebrauch einer gefährlichen Freiheit die Gefahren der Freiheit zu verringern."478 473

Ders., ÜdDiA II, S. 126f.

Ebd., S. 353. Ebd., S. 354. 476 Ebd. 474 475

477 478

Ders., ÜdDiA I, S. 217. Ders., ÜdDiA II, S. 136.

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Bemer "Äußerer Stand"

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Wie der Puritaner sich eine methodisch sittliche Lebensfilhrung über den Bewährungsgedanken aneignet, so trägt der gemeinsame Ansporn der Bürger in der Assoziation gleichsam die Früchte eines zur inneren Lebensweise verdichteten freiheitlichen Handelns. "Besitzen die Bürger die Fähigkeit und die Gewohnheit, sich fiir alles zusammenzuschließen", zieht Tocqueville die Konsequenz, daß sie sich "ebenso gern zu kleinen wie zu großen Anliegen vereinigen"479 werden. Auch Rousseau mißt tatkräftigem Engagement und der aktiven Sorge um die kontinuierliche Aufrechterhaltung der Freiheit eine ganz wesentliche Bedeutung bei. Im Verfassungsentwurf ftlr Korsika ftlhrte er aus, wie die Aussicht auf staatsbürgerliche Macht das Handeln der Menschen zu beflügeln vermag und so vor der "Erschlaffung der Faulheit" schützt. "Die große Kunst des Regierens" sei es, "mit der staatsbürgerlichen Macht geschickt hauszuhalten, nicht nur, damit die Regierung sich selbst erhalte, sondern, um Tatkraft (vom Verf. hervorgehoben) und Leben im ganzen Staat zu verbreiten, um das Volk tatkräftig (vom Verf. hervorgehoben) und arbeitsam zu machen."'480 Wohltätigkeit will er bei Emile in Handeln umgesetzt wissen, das Wissen, welches dieser in den Kollegien erwirbt, soll durch eine umso wertvollere Kunst ergänzt sein, "nämlich die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Bedürfnisse des Lebens."481 Der "amour de soi" wird so zu Tugend verwandelt. 482 Die Idee, daß die Tatkraft auch in seinem Denken eine Qualifikations- und Bewährungsleistung des Menschen voraussetzt, dringt auch in seinem Werk immer wieder an die Oberfläche. "Die Bürger müßten", sagt er im "Deuxieme Discours", "nicht nur frei sein, sondern auch verdienen, frei zu sein."483 In seiner Kritik an der zeitgenössischen Kollegienerziehung steckt daher immer auch, um mit Martin Rang zu sprechen, jenes "positive Ideal einer lebensnahen Bildung, die auf den Erwerb der »Tugend« und auf die Bewährung im tätigen Leben gerichtet ist." 484

3. Charisma und Leidenschaft "Ich sage Dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlich rein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein 479 Ebd., S. 135. 480 Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, S. 549. 481 . Ders., Emile, S. 520. 482 Ebd. 483 Ders., DD, S. 169. 484 M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 73. 15*

B. Fonnen der Freiheit in der Modeme

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menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott!"485 Friedrich Hölderlin schrieb diese Zeilen amEndeseines "Hyperions", eine Elegie an die Deutschen, der eines am unverzeihlichsten erschien: die "Seellosigkeit" eines ganzen Volkes, vor dem Hyperion glaubte entfliehen zu müssen, weil er nicht wollte, daß seine Seele "vollends unter solchen Menschen sich verblute". In vielen seinen bitteren Anklagen der deutschen Sterilität tritt auch Max Weber in der idealistischen Tradition auf, die hier zum Ausdruck kommt. Wie kein anderer in der Geschichte der neueren deutschen Kulturwissenschaften hat er vor Hölderlins Befund und weiter inspiriert von William James486 die Suche nach den verlorenen Gefiihlskräften des Menschen wieder aufgenommen, wie kein anderer sich genau aus diesem Grund fiir Themen interessiert, die sich das Gros seiner soziologischen Fachkollegen als Gegenstände ihrer vom neuen soziologischen Wissenschaftsverständnis geprägten Fachgebiete verbaten: fiir die Religionspsychologie und die filr ihn so leidvolle Geschichte, die dem großen Komplex des Charismas unter dem Monopol der Welterkenntnis intellektualistischen Wissens in der Neuzeit widerfuhr. In seiner Freiheitsidee spielte daher gerade die Restituierung der seelischen Gefiihlskräfte im Menschen eine vordringliche Rolle, und es erweist sich als fruchtbar, sein bis heute noch immer so rätselhaft anmutendes Charismakonzept auf diese verschütteten Wurzeln hin zu untersuchen. Max Weber hat in "Politik als Beruf' mit jener berühmten Trias Leidenschaft, Verantwortungsgefiihl und Augenmaß nicht nur die Qualitäten gekennzeichnet, die denjenigen ausmachen sollten, der als Politiker "seine Hände in die Speichen des Rades der Geschichte" legen wollte, sondern damit gleichzeitig auch ein pädagogisches Ideal jedes freiheitlichen Menschen formuliert. Für ihn gedieh freiheitliches Handeln in der Verbindung von "kühlem Augenmaß" und "heißer Leidenschaft", Verstand und Gefilhlskraft. Er war überzeugt, daß freiheitliches Handeln letztlich nur aus .,Leidenschaft geboren und gespeist" werden könne, die sich in der Hingabe an eine Sache ausdrückte. Weber, nach Tocqueville, rückte damit eine Kategorie zurück ins Bewußtsein der modernen Wissenschaft, deren Aussterben längst besiegelt war. Bei Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau hatte diese Kategorie noch den Namen "passion", bei Weber hieß sie Leidenschaft, zu allererst aber: Charisma. Charisma blieb filr Weber, obwohl er damit in der zeitgenössischen Wissenschaft nicht einen einzigen akademischen Mitstreiter fand, nicht nur eine historisch-soziologisch beachtenswerte Größe, geeignet, empirisch-wissenschaftlich zergliedert zu werden, sondern auch die maßgebliche innere Quelle freiheitlichen Handeins in einer Epoche, die diese Kategorie gänzlich veralltäglicht hat. 485 486

Fr. Hölderlin, Hyperion, S. 172f. Vgl. Wi/liam James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (1901 /02), Frankfurt am

Main 1997.

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Berner "Äußerer Stand"

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Auch wenn die moderne Facherziehung Weber zumindest in der täglichen Universitätsarbeit zum Gebot intellektueller Rechtschaffenheit geworden war, stellte in seinen Augen "die genuin charismatische Erziehung" nicht nur "den radikalen Gegenpol der von der Bürokratie postulierten fachspezialistischen Lehre"487 dar, sondern auch diejenige Erziehungsform, die seinen ganzen erzieherliehen Impetus in ihren Bann zog. Stefan Breuer hat zurecht darauf hingewiesen. "Webers gesamte politische Theorie", schrieb er, "ist auf das Problem zugeschnitten, wie man genügend politische Energie erzeugen kann, um die Bürokratie im Status eines bloßen Instruments zu halten und ihre regressive Dynamik einzudämmen."488 Die das Charisma im Menschen erweckende Erziehung, die den im Inneren des Menschen schlummernden Geist, seine Anlagen und Kräfte zum Durchbruch verhelfen will, stellte ihm einen Ausweg dar, und es liegt offen zu Tage, daß Weber diese Erziehungsform-nicht nur im Hinblick auf ihre Folgen fiir die Rekrutierung politischen Führungspersonals - überaus bewundert und jenen Niedergang zutiefst bedauert hat, den es "unter der Wucht der materiellen Interessen" "auf dem Weg von einem stürmisch-emotionalen wirtschaftsfremden Leben" "zum langsamen Erstickungstode" zurückzulegen hatte. Zwar erkannte er, daß "zwischen der auf charismatische Wiedergeburt gerichteten Erziehung und dem auf bürokratisches Fachwissen gerichteten rationalen Unterricht'' auf halbem Weg sozusagen "alle jene auf "Kultivierung", in dem ... Sinne des Wortes: Umgestaltung der äußeren und inneren Lebensfiihrung, gerichteten Arten der Bildung... " lagen489 , und hatte damit die von den "Bildungsphilistern" seiner Zeit propagierten rein äußerliche Bildungsarten im Sinn, die sich nicht mehr an die Seele des Menschen wandten, sondern ihn nur noch oberflächlich gleichsam imprägnierten, doch versteht es sich, daß er auch diese, neben der rationalistisch-bürokratischen Fachausbildung zweite Erziehungsform nicht allzu hochgeschätzt hat. In seiner so kurzgehaltenen, wie aufschlußreichen "soziologischen Typologie der pädagogischen Zwecke und Mittel", die er im ersten Band der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie" zwischen die Austubrungen zu "Taoismus und Konfuzianismus" versteckte490, finden sich die drei Typen wieder, und es wird rasch deutlich, welche pädagogischen Ideale Max. Weber der modernen "Abrichtung" entgegenzuhalten hatte, filr welche Typen er Sympathien hegte, auch wenn er die drei Erziehungsmodi des "Erweckens", "Erziehens" bzw. "Ankultivierens" und "Abrichtens" in gewohnt nüchterner Art katalogisierte und sie in Korrelation zu seinen drei Herrschaftstypen setzte. Daß das militärisch-disziplinierende "Abrichten" Weber ganz unten, das Erwecken Weber, WuG, S. 677. St. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie. S. 215. 489 Weber, WuG, S. 677. 490 Ebd., S. 40.8f. 487 488

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

von Charisma im Menschen ganz oben stand, wird allein schon aus der Terminologie deutlich. Zieht man die entscheidenden Passagen zur "charismatischen Erziehung" aus "Wirtschaft und Gesellschaft"491 hinzu, bleiben keine Zweifel. Webers Ausruhrungen zur charismatischen Erziehung belegen, daß er die Größe des Charismas nicht nur, wie Wolfgang J. Mommsen dargelegt hat, fiir die politische Führerfigur seiner plebiszitären Demokratie reservieren wollte492, sondern darin mindestens genauso eine wertvolle anthropologische Residualkonstante ausmachte, die er ftir den modernen Menschen retten und wieder mit Leben erfiillen wollte. 493 Das Charisma erringt eine Schlüsselposition in der Webersehen Kulturwissenschaft nicht so sehr, weil Weber damit die schlagende Antwort auf die Verfassungsproblematik des Nachfolgestaates des Kaiserreichs vorbringen wollte. Das Hauptgewicht seiner Idee bestand vielmehr darin, das Charisma in jedem zu wecken, der als Staatsbürger in den "neuzuordnenden" Staat eintreten sollte. Gerade in der modernen Demokratie erschien seine Wiederbelebung als eine absolute politische Notwendigkeit, ohne die der Staat wehrlos und endgültig dem überbordenden Bürokratismus anheimfallen und ohne die der Mensch dieser Ordnung in jene spezifische Gleichgültigkeit einer liberal-monotonen Modeme zurückfallen würde. Gerade im entgeistigten Materialismus der Moderne, unter der ökonomischen "Alltagsmachf' bedürfe es, nach Weber, einerWeckungvon Glaubenskräften, die sich nicht im Würgegriff des Zwanges zum Gelderwerb verbrauchten, sondern gänzlich "wirtschaftsfremd" waren und einen "Beruf' "als "Sendung" oder innere "Aufgabe"" konstituierten494. In der kraftlosen Epoche eines alles beherrschenden Intellektualismus traute er einzig dem Charisma zu, den Menschen innerlich so erfassen, daß dies "eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur "Welt" überhaupt bedeutet."495 491 Ebd., S. 677ff. 492 Diese einseitige Reservierung vor allem W. J. Mommsens rührt von der irreführenden Verquickung der Charisma-Stellen in der Herrschaftssoziologie mit denen der GPS her. Wer wie W. J. Mommsen argumentiert, suggeriert, Weber habe die charismatischen Führergestalten seiner Herrschaftssoziologie einfach und unbesehen auf die erste deutsche Republik angewandt wissen wollen. Dabei geht es Weber gerade dort doch nicht darum, die "charismatische Führerfigur" als Allheilmittel zu fordern, sondern klarzulegen, daß es im Wesen der kommenden demokratischen Staatsordnung begründet liegt, wenn der cäsaristische, charismatische Demagoge die besten Chancen hat, im Plebiszit zu gewinnen und er in der Phase der "Massendemokratisierung" die ausschlaggebende Politikerfigur sein wird, die die neue Epoche prägen wird (vgl. ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 393f.). 493 Vgl. W J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 416f. Derselben Meinung hängt offenbar auch Erich Angermann an, vgl. ders., S. 51. 494 Vgl. Weber, WuG, S. 142. 495 Ebd.

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Bemer "Äußerer Stand"

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Das Charisma erscheint in Webers Gedankenwelt nicht so sehr als quasi Obersinnliches Suggestionsmittel, das, von einer Obernatürlich erscheinenden Fahrerfigur ausgehend, den einzelnen an diese binden sollte, sondern viel eher als eine starke, politisch nutzbare Triebkraft, die imstande ist, den Glauben des einzelnen Staatsbürgers an seine politische Gemeinschaft zu festigen. Erst der charismatische Enthusiasmus vermochte die Feigheit und Bestechlichkeit der modernen Zeit zu bekämpfen. Fehlte er, fehlte die prinzipielle Fähigkeit des einzelnen, Leidenschaft und Hingabe als treibende Glaubenskräfte fiir eine politische Idee zu mobilisieren. Anders aber war filr Weber eine zivile Bürgerexistenz nicht denkbar. In seinem Verständnis war Charisma nicht primär etwas, was man besitzen kann, eine psychologische Qualität etwa, es bezeichne vielmehr einen "Glauben, der auf andere Personen projiziert wird"496, in Webers eigener Defintion, eine außeralltägliche "Kraft'491, "eine Umformung von innen her, die aus Not oder Begeisterung geboren"498 ist. Es ist dabei bemerkenswert, daß Weber die Wiedererweckung des persönlichen Charismas keineswegs derjenigen des institutionalisierten Charismas499 vorgezogen hat, das sich aus dem persönlichen herausentwickelt und rationalisiert hatte und sich nun auf ein Dogma, eine Glaubenstheorie oder eine Rechtssatzung richtete, wenn er in seiner Idee des Politischen darauf bestand, diese emotionale Glaubenskraft nicht einfach preiszugeben. Im Gegenteil, das reine Charisma als schöpferische, revolutionäre, aber unstete Potenz eignete sich kaum filr seine Zwecke, das instituionalisierte dagegen umso mehr. Dieses nämlich ist eine "stabilisierende, bewahrende Kraft. Es ist in der Lage, das neue in seiner Bedeutung und seinem Wert im Alltag lebendig zu erhalten"500, schreibt Winfried Gebhardt. "Das so institutionalisierte Charisma beruht dann nicht mehr auf der aktuellen emotionalen Überzeugung von dem Wert oder der Wichtigkeit einer bestimmt gearteten Manifestation wie das reine Charisma, sondern auf einem bewußten Glauben, der, anders als die emotionale Überzeugung, die konsequente und kontinuierliche Orientierung an einer als wichtig und wertvoll anerkannten politischen, religiösen, ästhetischen oder wissenschaftlichen Manifestation gestattet und damit erst eine "Lebensfilhrung" verstanden als kontinuierlich an einmal als "wahr" anerkannten Werten orientiertes Handeln, möglich macht." 501 Edward Shits, so W. Gebhardt weiter, habe als einer Ebd., S. 21. Ders. , WuG, S. 245. 498 Ebd., S. 142. 499 In einer von der allgemeinen Weber-Diskussion zu Unrecht wenig berücksichtigten Schrift Winfried Gebhardts finden sich diese Gedanken. Ygl. ders., Fest, Feier und Alltag, Über die gesellschaftliche Wirklichkeit der Menschen und ihre Deutung, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1987, S. 21 f. 500 Ebd., S. 30. 50 1 Ebd., S. 28. 496 497

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B. Fonnen der Freiheit in der Moderne

der wenigen diese Seite des Webersehen Charisma-Konzepts gesehen: "lt seems to me that an attenuated, mediated, institutionalized charismatic propensity is present in the routine functioning of society. There is, in society, a widespread disposition to attribute charismatic properties to ordinary secular roles, institutions, symbols and strata or aggregates of persons. Charisma not only disrupts social order; it rnaintains or conserves it."502 W. Gebhardt schließt daraus: "Nicht nur fiir die individuelle Lebensfiihrung ist das institutionalisierte Charisma also von überragender Bedeutung, sondern auch fiir die Auffechterhaltung sozialer Ordnungen." 503 Im diesem Zusammenhang sei ein Dokument in die allgemeine Diskussion eingefiihrt, das bisher noch unausgewertet im Münchener Nachlaß-Deponat Weber-Schäfer liegt504, aber gerade zur Kategorie von Ethusiasmus und Charisma bei Weber Neues und Aufschlußreiches bieten könnte. Es handelt sich dabei um einen zehnseitigen Brief Webers, der aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus Aufschlüsse über Webers Haltung gegenüber jenen charismatischen, filr ihn immer genuin religiösen Gefiihlskräften gibt. Weber hatte nach dem Tod seines Vaters arn 10. August 1897 zusammen mit seiner Frau eine Erholungsreise nach Spanien angetreten, auf deren Rückreise die beiden Station im französischen Pyrenäen-Wallfahrtsort Lourdes machten. 505 Für Weber verdichtete sich der Aufenthalt zu einem ungemein eindrücklichen Erlebnis, das er in dem erwähnten Brief suggestiv nachzeichnete: In Lourdes hatte er sich an die der heiligen Bemadette Soubirou geweihte Grotte von Massabielle am Fuß der Kalvarienberge begeben und wohnte jenem "Schauspiel der Heilung" bei, was ihm zum "Haupteindruck in den letzten Tagen" 506 seiner Reise wird, filr Weber ein Eindruck, der zu den "eigenartigsten" gehört, "die man haben konnte". Er beobachtet, wie sich zwei gewaltige Pilgerzüge dem fiir seinen Geschmack "gräulichen Standbild" der Jungtrau näherten und beschrieb die "von dumpfem Bassgesang" und "hellem Soprangeschrei" der Trauermärsche begleitete Szenerie. Als es zur Anrufung der Jungtrau durch die versammelten Priester kommt, beginnt ein "dumpfes Gebetsgemurmel", dann folgen "stürmisch kreischende Antworten" der Gebetsformeln durch die Pilger, ein Vorgang, der sich "in steigender Aufregung, schließlich in rasendem Donner wiederholt." 507 Die flehenden Bitten der Priester, die "den Himmel zu vergewaltigen suchten", steigern

Edward Shits ( 1982), zit. nach W. Gebhardt, S. 30. W Gebhardt, S. 30. 504 Vgl. Weber, Brief an Helene Weber vom I. September 1897, unveröffentlichte maschinengeschriebene Originalabschrift, Nachlaß-Deponat Weber-Schäfer, Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 5-14. 505 Vgl. Lebensbild, S. 246f. 506 Weber, Briefan Helene Weber vom I. September 1897, S. 7. 507 Ebd., S. II. 502 503

V. Puritanische Sekte, amerikanische Assoziation, Bemer "Äußerer Stand"

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sich bis "zur physischen Grenze der Möglichkeit im Ton". Weber tritt angesichtsder "gewaltigen Nervenerregung" der "kalte Schweiß aufdie Stirn". "Wer aber die Psychologie der katholischen Kirche kennt", schreibt er, erfaßt "die Spuren der gewaltigen Akkorde, die sie auf dem Nervensystem der Masse anschlägt".508 Und auch wenn er einen "gewissen Ecke!" nicht los wird, bleibt ihm das Ganze ein "unauslöschlicher Eindruck". 509 Weber steht dem "Schauspiel" in vorwiegend ironischer Distanz gegenüber und doch wird in jeder dieser Zeilen deutlich, wie tief ihn der hervordrängende Enthusiasmus und die gewaltige Gefiihlskraft der Gläubigen beeindruckt hat. Daß ihn dabei nicht die "dogmatische Ausrichtung", der blinde Fanatismus des Rituals in den Bann zieht, sondern vielmehr die Spannkraft des seelischen Vermögens, ist in diesem Zusammenhang evident. Weil die Charisma-Kategorie im vermeintlich so nomologisch-soziologischen Werk Webers nicht so ohne weiteres zureichend zu erfassen ist, haben viele Weber-Interpreten mit ihr wenig anzufangen gewußt. Aber gerade das Charisma liefert den Schlüssel sowohl zu Webers so anti-positivistischer Wissenschaft als auch zu seinem eigentümlichen Freiheitsverständnis. Als seelische Antriebsfeder und schöpferische Quelle menschlichen Handeins wird es ihm in der modernen Zeit unverzichtbar. Es im Menschen zu erwecken, avanciert daher zur pädagogischen Pflicht: "Entfaltung der charismatischen Qualität, Erprobung, Bewährung, und Auslese des Qualifizierten ist daher der genuine Sinn charismatischer Erziehung."510 Dieser Satz aus "Wirtschaft und Gesellschaft" wird fiir Weber auch konkret pädagogischer Auftrag. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Kategorie dort zuhause ist, wo sich der gesamte Fundus des Webersehen freiheitsbegabten Persönlichkeitstypus befindet: innerhalb der puritanischen Sekte. In der Befiirwortung der Laienherrschaft innerhalb der Sekten sieht Weber das entscheidende Mittel und die entscheidende Vorbedingung, Persönlichkeitsmerkmale, die in der Kirche qua "Amt und Schulung" zugeschrieben wurden, nur als Ausdruck der reinen charismatischen Qualifikation des Gnadenstandes zum Vorschein zu bringen. In der Sekte ist nur qualifiziert, wer sich charismatisch bewährt. In ähnlichem Duktus hat Tocqueville in seinem Werk immer wieder darauf hingewiesen, daß die moderne, demokratische Freiheitsidee zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie sich nur darauf beschränkt, freiheitliche Vorrechte von einem zentralisierten Regierungsapparat fiir die Bürgerschaft zurückzuverlangen. Die Despotie könnte in seinen Augen nur dann verhindert werden, wenn es zusätzlich gelingt, eine Ordnung zu schaffen, die jene preisgegebenen seelischen 508 Ebd., S. 12. 509 Ebd., S. 13. 510 Ders. , WuG, S. 677.

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B. Formen der Freiheit in der Modeme

Gefühlskräfte des Menschen wieder erstehen und sie produktiv in das Gemeinwohl einfließen läßt. Nur so ist es zu verstehen, wenn er in einem Atemzug die zivile Wiederherstellung von Vorrechten und diejenige von seelischen Gefilhlslagen wie "Religion, die Liebe der Untertanen, die Güte der Fürsten, die Ehre, der Familiensinn, die Provinzvorurteile, Brauch und öffentliche Meinung... "511 forderte. Das hat zuletzt in einem eindrucksvollen Aufsatz Peter A. Lawler gesehen, der Tocquevilles Liberalismus identifiziert hat als "strangely un-Lockean in its opposition to calculation and contentment, in its affirmation ofpride and especially Iove, and its encouragement ofboth politicallife andreligion as genuine responses to the eradicability ofhuman misery." 512 Die Kraft der Leidenschaften, .als ein irrationales, seelisches Potential, sieht Tocqueville in Zeiten politischer Sterilität gefährdet, aber genauso gefordert wie Weber. Er liebt sie, denn: "Hier ist Kraft!" und "überall, wo man Kraft findet, wirkt sie zu ihrem Vorteil in der allgemeinen Schwäche, die uns umgibt." Die "echten und kraftvollen" Leidenschaften, "die das Leben zusammenhalten und fUhren", aber sind das, was man "heute am wenigsten findet". 513 Wenn Tocqueville filr die "kommenden Geschlechter" nicht neue Revolutionen am meisten furchtet, sondern daß sie "unzugänglich werden fiir jene großen und mächtigen öffentlichen Erregungen, die die Völker verwirren, sie aber vorwärtstreiben und erneuern"51 \ dann steht eine neue Freiheitsidee vor der Aufgabe, diese Kräfte in den Menschen wieder neu zur Entfaltung zu bringen. Daß der Ort dazu derjenige der amerikanischen Assoziation ist, ist umso schlüssiger, denn nur dort und "durch die gegenseitige Wirkung der Menschen aufeinander erneuern sich die Gefiihle und die Gedanken, weitet sich das Herz und entfaltet sich der Geist des Menschen."m Wo, wie Tocqueville zeigte, diese Wechselwirkungen in demokratischen Staaten "so gut wie gar nicht bestehen", muß man "sie also dort künstlich hervorrufen". Das aber "können allein die Vereinigun-

511 Tocqueville, ÜdDiA I, S. 361. Es ist einmal mehr John Stuart Mill, der auch in Bezug auf die "Wiedererweckung" der Gefühlskräfte Tocqueville geistiges Geleit gibt. In seinem Essay "On liberty" versäumt er es nicht, diese Kategorie in sein pädagogisches Konzept miteinzuschließen: "Wie es gewöhnlich so geht mit Idealen, welche die Hälfte des Wünschenswerten ausschließen, bringt der gegenwärtige Maßstab filr das beiflUiig Aufzunehmende nur eine minderwertige Nachahmung der anderen Hälfte hervor. Statt großer Energien, geleitet von lebhafter Vernunft, statt starker Gefiihle, kraftvoll beherrscht von einem gezügelten Willen, ist das Ergebnis: schwache Gefühle, schwache Energien, die daher in äußerlicher Übereinstimmung mit der Regel gehalten werden können, ohne Widerstandskraft des Willens oder der Vernunft." (ders. , Uber die Freiheit, S. 96). 512 P. A. Lawler, Tocqueville on Pride, lnterest, and Love, S. 219. 513 Tocqueville, Briefvom 10. August1841, A. Salomon, S. 197. 514 Ders., ÜdDiA II, S. 282. 515 Ebd., S. 125.

VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit

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gen tun." 516 Rousseau pflichtet dem bei. In der "Abhandlung über die politische Ökonomie" heißt es an einer Stelle lapidar: "Derjenige, welcher Menschen zu regieren hat", darf diesen "nicht die Leidenschaften vernichten wollen". "Ein Mensch ohne Leidenschaft" würde "ganz gewiß ein schlechter Bürger"m sein.

VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit Jean-Jacques Rousseaus Zeitdiagnose einer entfesselten und auf Eigeninteresse gegründeten Konkurrenzgesellschaft gipfelt im sechsten Kapitel des ersten Buches des "Contrat Social" in der Idee, "eine Form der gesellschaftlichen Vereinigung zu finden, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und durch die jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher." 518 Damit kommt Rousseaus Suche nach der Überwindung eines vom "amour propre" bestimmten Gesellschaftszustandes der Unfreiheit und Versklavung des modernen Menschen zu ihrem Ende. In seiner Idee vom Gesellschaftsvertrag wird der einzelne zwar sein natürliches Wollen aufgeben müssen und sich der "volonte generale" unterwerfen, aber da er ja dann Teil eines "corps politique" ist, gibt er als Bürger zugleich die Gesetze, denen gegenüber er sich zum Gehorsam verpflichtet. Er bleibt damit so frei, wie zuvor, auch wenn die bürgerliche eine qualitativ andere als die natürliche Freiheit ist. Dem "Contrat Social" liegen also zwei Überlegungen zu Grunde: Die Idee einer Verwirklichung von Freiheit des Menschen in einer Welt, die ihn versklavt. Die andere: Diese Freiheit kann, nach dem Ende der natürlichen Freiheit, nur im Gesellschaftszustand, nur in der Vereinigung der Bürgerschaft erlangt werden. Sie kommt zustande durch einen Zusammenschluß der Gemeinschaft, in dem die Bande des sozialen Zusammenhalts eng geknüpft sind: Durch willentlichen, sittlichen Akt einer "alienation totale a toute Je communaute" des Einzelnen und damit der Umwandlung des persönlichen "amour de soi" zum Prinzip des Staates519, muß aus der bloßen "agregation" vereinzelter Menschen eine nun sittlich-geistig durchdrungene "association" werden. Diese bürgerliche Vereinigungsidee "nach einmütiger Zustimmung" seiner Mitglieder20 konstituiert jedoch nicht nur in jenem vierten Buch des "Contrat Social" Rousseaus Gedanken, sie kommt an vielen Stellen seiner Schriften zum Vorschein - gerade dort, wo er pädagogische Gedanken hegte. Kinder, die einmal zu Staatsbürgern Ebd., S. 126. Rousseau, AüdpolÖk, S. 246. 518 Ders., CS, S. 280. 519 Vgl. H. Buchheim, S. 401. 520 Rousseau, CS, S. 360. 516 517

B. Formen der Freiheit in der Modeme

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erzogen werden sollen, übe man beizeiten darin, sagt Rousseau, "ihre Einzelperson nie anders als gemäß ihren Verhältnissen zum Staatskörper zu betrachten und ihr eigenes Dasein sozusagen nur als Teil des seinigen anzusehen." Dann könnten sie "sich gewissermaßen mit diesem größeren Ganzen als eins ... denken, sich als Glieder des Vaterlandes zu fiihlen und es mit jenem auserlesenen Geftlhl zu lieben, welches der vereinzelte Mensch nur fiir sich selbst hat..."521 Von einem Herzen, "das bereits zwischen dem Geiz, einer Mätresse und der Eitelkeit geteilt ist''522, kann nicht viel fiir seine Mitbürger übrig sein. "Sind die Kinder gemeinschaftlich im Schoße der Gleichheit erzogen, sind ihnen die Gesetze und die Maximen des Gemeinwillens eingeflößt, sind sie unterrichtet, diese über alles zu achten,( ... ) so laßt uns nicht daran zweifeln, daß sie solcherart lernen, sich gegenseitig wie Brüder zu lieben, nichts anderes zu wollen, als was die Gesellschaft will, durch männliche und bürgerliche Handlungen das unfruchtbare und eitle Geschwätz der Sophisten zu ersetzen und einst die Verteidiger und Väter des Vaterlandes zu werden, dessen Kinder sie so lange gewesen sein werden."523 Von der "beständigen Vereinigung" gar hängt ftlr Rousseau die Erhaltung der freiheitlichen Republik ab524, und in seiner Vorrede "An die Republik zu Genf' zu Anfang des "Deuxieme Discours" sieht Rousseau sich selbst inmitten seiner "geliebten Mitbürger oder vielmehr Brüder". 525 Das Rousseausche Gedankengut einer in diesem Sinne neu zusammengebundenen Civitas spiegelt sich auch in den zentralen Ideen Tocquevilles wieder, der es als eine erste Aufgabe der Freiheit sieht, brüderliche Mitmenschlichkeit in der privatistischen Massendemokratie neu zu schaffen. Daß die Brüderlichkeit die erste Qualität der Freiheit ist, daß Freiheit nur in der Gemeinschaft stattfinden kann, ist einer seiner ideologischen Leitsätze: "Apres Ia liberte d'agir seul, Ia plus naturelle a l'homme est celle de combiner ses efforts avec /es efforts des ses semblables et d'agir en commun (hervorgehoben vom Verf.). Le droit d'association me parait donc presque aussi inalienable de sa nature que Ia liberte individuelle."526 Seine Assoziationen sind als freiheitliche Elemente in der Gesellschaft der Gleichen zugleich Brüderlichkeit oder Kohäsion - wie Weber den inneren Zusammenhalt der Sekte nennt - stiftende, die die vereinzelten Bürgern wieder aus ihrer demokratischen Isolation herausfUhren und in der Gemeinschaft zu verantwortungsvollen Handeln auffordern. Einer rein auf der individuellen Autonomie errichteten Freiheit stellt er mit der Assoziationsidee ein

521 522

Ders., AüdpoiÖk, S. 246. Ebd.

Ebd., S. 247. Ders., DD, S. 173. 525 Ebd., S. 172. 526 Tocqueville, zit. nach Marlin Meyer, Der Begriff der Freiheit im Denken Alexis de Tocquevilles, Zürich 1955, S. 39. 523

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VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit

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Modell gegenüber, in dem jeder Bürger beständig daran erinnert wird, "daß er in Gesellschaft lebt". Die Assoziationen "lenken seinen Geist immerzu auf diesen Gedanken, daß Pflicht wie Vorteil den Menschen gebieten, sich ihren Mitmenschen nützlich zu erweisen; und weil er keinen besonderen Grund sieht, sie zu hassen, insofern er jemals weder ihr Herr noch ihr Sklave ist, neigt sein Herz leicht zum Wohlwollen." 527 Tocquevilles Bürgervereinigungen erzeugen gegenseitige Bindungen freier Personen, denn sie reißen "eine Menge Menschen aus sich selber heraus; möge das Alter, der Geist, das Vermögen sie natürlicherweise noch so sehr trennen,( ... ) (sie) fUhrt sie zusammen und bringt sie miteinander in Verbindung. Sie begegnen sich einmal und lernen, immer wieder zusammenzutreffen."528 Für Tocqueville liegt damit auf der Hand, daß dem bürgerlichen Grundrecht zur freien Vereinigung Schlüsselcharakter in der modernen Demokratie zukommt. 529 Genauso verständlich wird dadurch auch, warum filr ihn, der sich zur "ersten Leidenschaft" der Freiheit530 bekennt, wie erwähnt, die "Kunst der Vereinigung" 531 zur Grundwissenschaft überhaupt wird. 532 Für Tocqueville

Ders., ÜdDiA II, S. 121. Ebd., S. 133. 529 Genauso zentral wird flir Tocqueville das Recht auf eine freie Presse, "ohne die es beinahe kein gemeinsames Handeln geben" (ÜdDiA II, S. 128f.) kann. Tocqueville sieht im Zeitungswesen ein notwendiges Mittel zur Schaffung von Vereinigungen, weil es Öffentlichkeit schafft und den Individualismus bekämpft: "Die Zeitungen machen die Vereinigungen und diese die Zeitungen." (ebd., S. 129). Die wichtigste Rolle, die die Zeitungen spielen, ist, daß sie zu einem Mittel des bürgerlichen Zusammenhalts werden können, und damit zum "Werkzeug der Freiheit", weil sie in einem Nationalstaat die notwendigen kommunikativen Informationsstrukturen schaffen, die zur kollektiven Integration der modernen unüberschaubaren Räume notwendig geworden sind (vgl. ebd., S. 349 und auch D. Freund, Alexis de Tocqueville und die politische Kultur der Demokratie, S. 47f.). Für Weber, der es explizit als ganz vorrangige Aufgabe sah, als eines der ersten Projekte der neugegründeten Deutschen Gesellschaft ftir Soziologie eine "Soziologie des Zeitungswesen" durchzuflihren, wird das Pressewesen unter anderem gerade deswegen zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand, weil er erkannt hatte, daß sich in modernen Nationalstaaten politische Öffentlichkeit wesentlich über die Massenmedien der Presse konstituierte. 530 Tocquevil/e, A. Salomon, S. 15. 531 Ders., ÜdDiA II, S. 134. 532 Entsprochen wird diesem Gedanken in Tocquevilles eigentümlicher "Lehre des wohlverstandenen Eigennutzes" (vgl. ders., ÜdDiA II, S. 138-141 ). Die Amerikaner haben es in Tocquevilles Augen verstanden, trotz entfalteten Materialismus und Individualismus einen freiheitlichen Willen entstehen zu lassen. Zwar sieht er, daß der Mensch von einer "force im!sistible" auf sich selbst zurückgeftihrt wird, dennoch aber gelingt es den Amerikanern das "interet individuel" zum "interet bien entendu" zu überfuhren, indem sich der einzelne individuell-egoistische Wille freiheitlich mit dem Allgemeinwillen verbindet, ohne daß dabei der Individualwille geschmälert wird (vgl. E. Fabian, S. 38). Dieses "interet bien entendu" hat jedoch nichts mit jenem "lasterhaften" Eigeninteresse der Mandevilleschen Bienenfabel zu tun und auch nichts mit dem verderbten "amour propre", vielmehr ist es gedacht als eine "Selbstliebe, die ständig dazu drängt, sich gegenseitig zu helfen" (Tocqueville, ÜdDiA II, S. 139). Zwar vermag die 527 528

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8. Formen der Freiheit in der Moderne

ist einzig der Bürgerverband in der Lage, die zerrissenen personalen Bande in die Gesellschaft der Gleichen wiederzuknüpfen. Rousseaus Forderung aus dem "Contrat Social" nach einer gesellschaftlichen Vereinigung, in der der Einzelne in der Vereinigung seine Freiheit erlangt, sieht Tocqueville gerade dort verwirklicht.533 "Sobald mehrere Bürger der Vereinigten Staaten ein Geftlhl oder einen Gedanken in die Welt tragen wollen, suchen sie einander auf, und wenn sie sich gefunden haben, schließen sie sich zusammen. Fortan sind sie nicht mehr vereinzelte Menschen, sondern eine weithin sichtbare Macht, deren Taten als Beispiele dienen, die spricht und auf die man hört. " 534 Max Weber wiederum, dessen "Zwischenbetrachtung" in der Religionssoziologie ja gerade in der Beobachtung jener Dynamik gipfelte, mit der die Eigengesetzlichkeiten rationalisierter Lebenssphären mehr und mehr in Spannung mit jeglicher Art von Brüderlichkeitsethik traten und diese zurückdrängten "in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander"535 "nur noch außerhalb des individualistisch-ökonomischen Berufslebens"536 -, war die Forderung nach einerneuen Brüderlichkeit urnso erstrebenswerter. Auch filr ihn galt es, eine Form der Freiheit zu finden, die den geistlosen Hedonismus seiner Epoche durch eine die Bürgerschaft neu gründende und damit die Staatsbürger integrierende Freiheitsform ersetzte und die in einem kraftvollen antiindividualistischen Sinn brüderlich genannt werden konnte. Diesen Gedanken sah Weber einmal mehr in der puritanischen Sekte und im amerikanischen Klub am Leben, vor allem aber in der calvinistischen Glaubensgemeinschaft, die filr ihn "die psychologische Kraft, gemeinschaftsbildende Intitiativen zu wecken", "Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz" "nicht zur Tugend zu führen" und "lenkt sie auch nicht unmittelbar durch den Willen zur Tugend, so führt sie durch Gewöhnung nahe an diese heran." (ebd., S. 140). Als abgeschwächte Form der Hingabe an die Gemeinschaft wirkt sie dennoch auf jeden Menschen freiheitssteigernd zurück. Was Tocqueville beschreibt, ist offensichtlich der von Rousseau thematisierte Übergangsprozeß von der "volonte de tous" zur "volonte generale", wenn auch unter dem einschränkenden Kompromiß, den die Tugendfeindlichkeit der modernen Demokratie diktiert. Tocqueville sieht dadurch nicht nur das Problem der Selbstsucht gelöst, sondern gleichzeitig auch das der verlorenen Gemeinschaft. 533 Die Nähe Tocquevilles zu Rousseau kommt in dieser, die menschliche Gemeinschaft als Urgrund der Freiheit betonenden Seite des Tocquevilleschen Freiheitsbegriffs zum Durchbruch. Sie wird offenkundig in einigen wenigen Zeilen, die Tocqueville am I 0. Oktober 1831 in sein Notizbuch über die amerikanischen Assoziationen schreibt: "Le dernier effort de l'association me paralt etre dans les socil!tes de temperance, c'esta-dire dans l'association d'hommes qui s'engagent mutuellement a s'abstenir d'un vice et qui trouvent dans Ia force collective une aide pour resister a ce qu'il y adeplus intime et de plus propre a chaque homme, ses propres penchants. L'effet des societes de temperance est unedes choses les plus remarquables de ce pays-ci." (Tocquevil/e, Cahier Alphabetique 8, OC, Band V.l., S. 236). 534 Ders., ÜdDiA II, S. 126. 535 Weber, WuG, S. 612. 536 Ebd., S. 710.

VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit

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besaß. 537 Der "altruistische Brudergeist" der Täufer538 trotzte ihm gleichsam Anerkennung ab, genauso wie die "innergemeindliche Kohäsion" der neuenglischen Kommunen, vor allem so lange sie klar vom ziel- und gegenstandslosen "altruistischen Liebesakosmismus des Mystikers" zu trennen waren. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß fiir Weber die brüderlichkeitsstiftenden Faktoren etwa der puritanischen "Nothilfe des Verbandsmitgliedes"539 oder die Tatsache der fiir einander in sozialen geschäftlichen Bürgschaften einstehenden Sekten- und Klubmitglieder540 nicht primär im Vordergrund standen. 541 Brüderlichkeit heißt ihm nicht soziale Bevorteilung durch ökonomische Erleichterung, sondern erscheint als Prinzip einer "sittlich-rigoristischen Lebensftlhrungsgemeinschaft"542, die sich im "willentlichen Durchbruch" personaler Familienbande und am Gedanken der Überlegenheit des Glaubens und der ethischen Lebensftlhrung im Sektenverband ausrichtete. 543 Die gemeinschaftsbildende Kraft der Sekten wird fiir Weber zum historischen Vorbild seines Freiheitsmodells, das die moderne Vereinzelung dadurch bekämpft, daß es die Integration der Gemeinde durch gemeinschaftliche Inanspruchnahme des Einzelnen leistet. Als Leitbild dürften auch hier spezifische Gepflogenheiten innerhalb der puritanischen Sekte gelten, weil Weber gerade dort neben den zentralen Aspekten der Eigenverantwortlichkeit und Selbstbehauptung des Sektierers genauso beobachtete, daß im Sektenverband der Ruhm Gottes nicht "durch die Teilnahme eines offensichtlich Zeichen der Verwerfung an sich »Tragenden« geschändet werde." 544 Ausgehend von dieser Grundregel gehen im puritanischen Sektenverband die gegenseitige Kontrolle der ethischen Qualifikation und ihre Bewährung545, die eigene und die gegenseitige Überprüfung sittlicher Lebensfiihrung, ein wichtiges Bündnis ein. Die puritanische Sekte wird zum hierokratisch gestaffelten "Adelsklub", der sich über eine ethische Qualifikation hierarchisch strukturiert; diese wiederum entsteht erst durch gegenseitige Kontrolle und Her537 Vgl. ders. , GARS I, S. 98. 538 Ders., PE I, S. 294. 539 Ebd., S. 284. 540 Ders., "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, S. 384. 541 Diese Beispiele sind für Weber nur Illustrationsmaterial und Beweis für Reste ehemals starker Betonung der ethischen Qualifikation innerhalb der Sekten. An ihre Stelle tritt als säkularisiertes Derviat die geschäftsmäßige Rechenschaft und Kreditwürdigkeit als geschäftlicher Qualitätsnachweis (vgl. ders. , PE I, S. 282-83). 542 Ders., GARS I, S. 523. 543 Ebd. Im Gemeinschaftsverband enden gleichzeitig weltliche soziale und ökonomische Hierarchien. Die "Gleichheit des Gentlemen" (ders., PE I, S. 294) herrscht im amerikanischen Klub, der puritanische Sektierer behandelt seinen Mitbruder gleichwertig, weil er ihm genauso ethisch qualifiziert gilt: Patriarchale und ökonomische Hierarchierungsmuster treten zurück, das Charisma strukturiert eine neue Ordnung. 544 Ebd., S. 9. 545 Ders., "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, S. 389.

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B. Fonnen der Freiheit in der Modeme

ausforderung. Nur vor seiner Gemeinschaft erlangt der Einzelne die Honorigkeit, da sie diejenige Instanz ist, die diese vergibt. 546 Wenn Weber über das Aufuahmeproblem in die Abendmahlsgemeinde der puritanischen Sekten spricht, so betonte er, daß es ein Hauptproblem der Sektenordnung überhaupt war, sich als ethisch würdig zu erweisen. Jeder Unwürdige, der in den Kreis der Sekte aufgenommen wurde, zog die ethische Verderbnis der gesamte Gemeinde nach sich. Gleichzeitgjedoch "hafteten" die puritanischen Sekten immer fiir den Einzelnen und seine ethisch-qualifizierte Lebensfiihrung. 547 Da mit der Aufnahme diese "ethische Haftung" nicht einfach aufhörte und nun die kontinuierliche Fremdkontrolle unentwegt jedes Mitglied der Gemeinschaft begleitete, gehörte jeder Einzelne einem Verband an, der ihn fortwährend zu Bewährung und Handeln herausforderte. Genau 'die konstante, brüderlich-gemeinschaftliche Verhaltensprüfung aber wertete Weber als großen Vorzug der Sekte, was ihren Erziehungseffekt anbelangte. Die fiir Weber so bedeutsame Wirkungsart der puritanischen Sekte auf die "Auslese und Züchtung" persönlicher Qualitäten sah er darin begründet, daß im Gegensatz zur lutherischen oder katholischen Kirchenzucht, die puritanische Auslese durch das Mittel der Notwendigkeit der Selbstbehauptung "wirkte und im Menschen so bestimmte Qualitäten züchtete". "Dies", so Weber, "sei das wichtigste", was der Gemeinschaftstypus der Sekte aus der pädagogischen Perspektive gesehen zu leisten im Stand war. Ein "stärkeres Anzüchtungsmittel" als eben die Selbstbehauptung "im Kreise der Genossen gibt es nach aller Erfahrung nicht." 548 Wie in der puritanischen Sekte die "allerstärksten individuellen Interessen der sozialen Selbstachtung ( ... ) von ihnen (gemeint: den Sekten, der Verf.) in den Dienst jener Anzüchtung (gemeint: AnzUchtung zur Selbstbehauptung, der Verf.), also auch diese individuellen Motive und persönlichen Eigeninteressen in den Dienst der Erhaltung und Propagierung der »bürgerlichen« puritanischen Ethik mit ihren Konsequenzen gestellt werden 549, so kann sich der freiheitliche Individualismus in eine freiheitliche Gemeinschaftsform wandeln. In der wechselseitigen Prüfung ethischer Qualitäten, die eine ethisch qualifizierte Persönlichkeit "auslesen", erblickt Weber eine der wichtigsten "pädagogischen Leistungen" 550 der puritanischen Sekten. Nicht zuletzt deswegen, weil "das Autoritäre" im Krieg "völlig versagt" habe 551 , setzte er auf diese Art der Charakterprägung durch die Gemeinschaft Gleichgesinnter.

Ebd. Ders., PE I, S. 291. 548 Ebd., S. 296. 549 Ebd., S. 297. 550 Ders., "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika, S. 388. 551 Ders., Brief an Friedrich Crusius vom 24. November 1918, GPS, I. Auflage, S. 483. 546 547

VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit

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Webers, Tocquevilles und Rousseaus Überzeugung der Möglichkeitjener die BUrgerschaft integrierenden Form der Freiheit wurzelt dabei in einer gemeinsam geteilten anthropologischen Grundannahme, deren Freilegung eine letzte Dimension ihres gemeinsamen Freiheitsideals zum Vorschein bringt. Alle drei setzen in ihrer Freiheitsidee stark auf die Integration und Wiedereinbindung der Bürgerschaft. Sie scheinen dabei die politische Beziehungen der Mitglieder eines Gemeinwesens selbst in Zeiten der "zerrissenen Bande" als prinzipiell ethisch reg/ementierbar zu erachten552 • Für Weber nährte sich dieses Denken aus seiner Überzeugung, daß jede personale Beziehung ethisch deutbar war, selbst diejenige zwischen Herrn und Sklaven, und zwar "weil ihre Gestaltung von dem individuellen Willen (hervorgehoben vom Verf.) der Beteiligten abhängt, (... ) also der Entfaltung karitativer Tugend Raum gibt."553 Diese Überzeugung wurzelt wiederum in Webers durchaus anthropologisch zu nennendem Grundsatz, daß wir "Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen (hervorgehoben vom Verf.), bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen."554 Hinsichtlich seiner Freiheitsidee kommt dieser Kategorie des freien Willens ein hoher Wert zu, wo sie fehlt und stattdessen nur mehr der "feige Wille zur Ohnmacht"555 herrscht, sieht er keine Chance ihrer Entfaltung. 556 Diesen freiheitlichen Voluntarismus als Teil von Webers Freiheitsmodell aus der Begriffswelt der puritanischen Sekte zu entwickeln, flillt wiederum nicht schwer: Gerade die Sekte beruht auf willentlicher "freier Vereinbarung ihrer Mitglieder" 557, während die Kirche eine Gnadenanstalt ist, in die man "hineingeboren" wird und "die ihr Licht über Gerechte und Ungerechte scheinen und gerade die Sünder am meisten in die Zucht des göttlichen Gebotes nehmen will. 558 Im Kontrast dazu ist der Sektenverband ein Ausleseapparat, der den kraftCharismaoder "pneumatischer Begabung" "Qualifizierten vom NichtQualifizierten scheidet", und eben: "ein voluntaristischer Verband ausschließlich religiös-ethisch Qualifizierter"559 • Soziologisch-kasuistisch macht Weber in der Sekte folgerichtig nicht etwa eine Gemeinschaftsform, sondern eine vergesellschaftete Verbandsform aus, da im willentlichen Akt eine Emanzipation aus den natUrliehen Verbänden stattfindet, zugunsten einer Verbandsform, die sich an einer "sachlichen" Idee einer Lebensfiihrung ausrichtet, dennoch aber eine Form der ethischen Ausdeutbarkeit personaler Beziehungen gewährleistet. Statt, 552 553

Ders., WuG, S. 353. Ebd.

Ders., Zur »Objektivität« ..., S. 180f. Ders., Deutschlands künftige Staatsform, S. 454. 556 Zum Voluntarismus bei Weber, vgl. Robert Eden, Political Leadership and Nihilism, I. Kapitel, University of South Florida, Tampa 1983, S. 1-35. 557 Weber, WuG, S. 721. 558 Ebd., S. 722. 559 Ders., PE I, S. 283. 554

555

16 Hecht

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wie der gläubige Katholik, sich auf Gottes Gnade zu verlassen, weiß der auf sich selbst zurückgeworfene Puritaner, wie auch der asketische Mönch, daß er in einer zur Methodik ausgebildeten rationalen Lebensfilhrung einzig durch die Kraft seines glaubenden Willens seinen status naturae überwinden kann. Dem Puritaner wie dem Mönch steht als Ziel und Lebensaufgabe, "den Menschen der Macht der irrationalen Triebe und der Abhängigkeit von Welt und Natur zu entziehen, (und) der Suprematie des planvollen Wollens zu unterwerfen." 560 Dieses Prinzip "streng willensmäßiger ethischer Rationalisierung"561 ist es, das weitere Aussagen zu Webers Freiheitsbegriffzuläßt "Der Eifer fiir »Organisation« versteht bei uns unter diesem Wort eben leider immer nur: Zwangsorganisation mit obrigkeitlichem Reglement durch die Polizei", schreibt Weber in seinem Aufsatz zu "Wahlrecht und Demokratie in Deutschland". "Die auf dem Boden der freien Eigeninitiative (»voluntaristisch«) geschaffenen Organisationen werden von den Literaten gern als eigentlich illegitim, günstigstenfalls aber als nur provisorisch, zum dereinstigen Aufgehen in eine polizeilich reglementierte Organisation bestimmt, angesehen, ohne Rücksicht darauf, ob sie vielleicht ihrem Wesen und Sinn nach nur einer voluntaristischen Struktur fähig sind. Da liegt der Kemfehler."562 Freiheit sieht er nur wachsen auf dem Boden "freier Eigeninitiative »voluntaristisch« geschaffener Organisationen" und nicht innerhalb von "Zwangsorganisationen mit obrigkeitlichem Reglement durch die Polizei"563 • So wäre auch jeder Versuch, freie Parteien etwa "nach Art einer staatlichen Behörde zwangsmäßig zusammenzuschließen,( ... ) ein rein mechanischer Zwang, der ihrem inneren Leben ein Ende bereiten würde." 564 Unter den Dächern der Amtskirche, so argumentiert Weber, kann sich keine Freiheit entfalten, sondern nur dort, wo sich Vereinigungsformen aus dem freiem Willen ihrer Mitglieder, aus der freien Wahl sozialer Beziehungen gestalten. Politisch nur da, "wo dauernd der entschlossene Wille (hervorgehoben vom Verf.) einer Nation, sich nicht wie eine Schafsherde regieren zu lassen"565, sieht Weber noch eine Chance Ebd., S. 135. Ders., GARS I, S. 530. 562 Ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 261. 563 Ebd., S. 249. In der Diskussion um die "einst von Eugen Richter so scharf bekämpften Handelskammern und alle nach ihrem Schema seitdem entstandenen ähnlichen Gebilde" "verglichen mit dem strotzenden Leben der wirklichen ökonomischen lnteressenverbände" fällt Weber ins Auge, daß in diesen kaum politisches Leben einkehren kann, denn im Gegensatz zu den Interessenverbänden - und mit ihnen Verbandskörper etwa wie die politischen Parteien - stünden diese "auf dem Boden der rechtlich freien Werbung ihrer Anhängerschaft" und ,jene staatlichen Bildungen eben nicht." (Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 261 ). "Jene sind, info/ge jener Struktur, die geeigneten Organisationen flir Kampfund Kompromiß, diese info/ge der ihrigen: flir sachliche gutachtliche Außerung oder rein »pflegliche« friedliche Verwaltungsarbeit." (ebd., S. 261 ). 564 Ebd., S. 250. 565 Ebd., S. 59. 560 561

VI. Die politische Restituierung der Brüderlichkeit

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fiir die Freiheit. Weber wußte dabei stets, daß in dieser Bürgerqualität eine entscheidende Größe freiheitlicher Politik verborgen lag. Bismarck hatte er vorgeworfen, als ,,politisches Erbe" nicht nur ein politisch unerzogenes Volk hinterJassen zu haben, sondern auch ein Volk "ohne allen undjeden politischen Willen".566 Der Wille ist fiir ihn die große freiheitsversprechende Kraft, nicht das Gottvertrauen in die fortschrittsfrohe Zeit und auch nicht die Hoffnung in Gesetzestexte. Weber will politisches Leben nicht verordnen, nicht "mit Paragraphen eines ... zu entwerfenden Statuts, »ein System bereiten«", keine Zwangsverbände schaffen, sondern durch die Gründung von Parteien, wirtschaftlichen Interessenvertretungen oder allgemein "Organisationen, welche auf (rechtlich) »freie« Werbung von Anhängern ausgehen" freiheitliche Politik herbeifilhren. "FUr beide Arten von freien Gebilden ist aber gerade diese ihnen charakteristische »voluntaristische« Grundlage der Organisation das Entscheidende, absolut allein Angemessene, daher »Ürganische«."567 Auf den "voluntaristischen Grundzug", also "rechtliche Freiwilligkeit der Mitgliedschaft" kommt es in einem freiheitlichen Verband an, sagt Weber und plädiert filr "freie Werbung der Gefolgschaft" statt "des reglementierten Avancement des Beamten". 568 Diesem voluntaristischen Grundzug eines Freiheitsideals, kann mindestens genauso vorherrschend begegnen, wer sich um das Tocquevillesche Gedankengut mUht. "Es gibt nichts", sagt Tocqueville, "das der menschliche Wille nicht durch freies Handeln der vereinigten Macht einzelner zu erreichen hoffte." 569 Daß Tocqueville der Freiheit die Kraft des menschlichen Willens an die Seite stellt, eine Kraft, die allerdings - so Tocqueville einschränkend - nur ihre Berechtigung erfährt, wenn sie mit dem Verstand gepaart ist570, diese Überzeugung plaziert er in die letzten Seiten seiner "Demokratie in Amerika", wo er die lauemden Gefahren der neuen Zeit beschwört, dennoch aber davon überzeugt ist, daß diese durch menschliche Willenskraft gemeistert werden können. "Ich sehe große Gefahren, die sich bannen lassen; große Übel, die man vermeiden oder verringern kann und ich sehe mich mehr und mehr im Glauben bestärkt, daß die demokratischen Nationen in Ehre und Wohlstand leben können, wenn sie es nur wollen (hervorgehoben vom Verf.)."571 Der Wille, filr Tocqueville dem aristokratischen Freiheitsverständnis entwachsen 572, ist auch in seiner politischen Lehre das historische Movens - immer angebunden an ein religiöses Wertesy-

Ders., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 319. Ders., Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, S. 262. 568 Ebd.

566 567

Tocqueville, ÜdDiA I, S. 217. Ders., ÜdDiA II, S. 153f. 571 Ebd., S. 358. 572 Ders., ÜdDiA I, S. 257. 569

570

!6•

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B. Fonnen der Freiheit in der Modeme

stem573 • Die eigentümliche "Vorsehung", die Tocqueville immer wieder in seine Abhandlungen einflicht, entwertet dabei den Faktor menschlicher Willentlichkeit keineswegs. "Vorsehung" steht bei Tocqueville fiir die realistischwiderwillige Akzeptanz unabdingbarer säkularer Entwicklungen, unter deren festgeschriebenen Bedingungen eine freiheitliche Lebensfiihrung stattfinden muß. Innerhalb dieser Schicksalhaftigkeit kommt es Tocqueville jedoch beinahe einzig auf die Willenskraft der Menschen an, freiheitliches Handeln wieder in den Sitten der Menschen zu verankern. In seinen ersten Reiseeindrücken aus Amerika, die er in einem Brief vom 18. Mai 1831 an Louis de Kergorlay richtete, schrieb er: "Jusqu'a pn!sent, tout ce que je vois ne m'enthousiasme point parce que j'en sais plus de gre a Ia nature des choses qu'a Ia volonte (hervorgehoben vom Verf.) de l'homme."574 Der freiheitliche Wille des Menschen kann nur seine höchste Ausformung finden, wenn er die reglementierende Macht der ausfiihrenden Regierung zu ersetzen vermag. Subsidiarisch, wie seine gesamte politische Philosophie angelegt ist, scheinen die Abwesenheit der Regierung und das Aktivwerden einer autonomen BUrgerschaft fiir Tocqueville daher zum voluntaristischen Ideal seines Freiheitsbegriffes zu werden. Die Abwesenheit des Staates fOrdert zwangsweise die freiheitliche Willenskraft der Bürgerschaft, die dann wieder initiativ werden kann und muß: "Le plus grand soin d'un bon gouvernement devrait etre d'habituer peu a peu )es peuples a se passer a lui." 575 Und an anderer Stelle: "Une de consequences Ies plus heureuses de l'absence d' une gouvernement (...) est Je developpement deforce individuelle (hervorgehoben vom Verf.) qui ne manque jamais d'en etre Ia suite. Chaque homme apprend a penser, a agir peu lui-meme sans compter sur l'appui d'une force etrangere qui, quelque vigilante qu'on Ia suppose, ne peutjamais repondre a tous les besoins sociaux. L'homme ainsi habitue a ne ehereher son bien-etre que dans ses propres efforts s'eleve dans sa propre opinion comme dans celle des autres; son äme se fortifie et s'agravait en meme temps." 576 Im Gefolge Rousseaus sieht Tocqueville genauso, daß Freiheit im Wollen der Bürgerschaft verankert sein muß. Nur im freien Willen, der "alienation totale" - oder der Webersehen Hingabe für das Gemeinwesen- entwickelt sich Freiheit. Rousseau schließlich ist diejenige Figur in der abendländischen Geistesgeschichte des politischen Denkens, die die politische Kategorie des menschlichen Willens sowohl als Prinzip der Herrschaftslegitimation als auch als Konstante der tätigen politischen Praxis zu allererst begründet hat. Weil er im Naturzustand des Menschen einen vor-menschlichen Status erkennt und daher - in sei-

573 574

224. 575 576

Vgl. A. Salomon, Einleitung, S. 20. Tocqueville, Brief an Louis de Kergorlay vom 18. Mai 1831, OC, Band XIII. I., S.

Ders.., OC, Band V.l., S. 90. Ders., Cahiers Alphapetique 2 und 3, OC, Band V.l ., S. 89.

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nem Denken - ein Rekurrieren auf jeglichen Naturzustand sinnlos wäre, - wollte man in ihm ein natürliches Recht fiir den Menschen finden -, verläßt mit Rousseau eine auf traditionellem Boden errichtete Staatslehre nicht nur ihr göttliches, sondern auch ihr naturrechtliches Fundament. 577 Sie emanzipiert sich dieser Stützen und begibt sich, mit Otto Vossler zu sprechen, in einer "voluntaristischen Wende" 578 auf eine ganz neue Ebene. 579 Nicht nur wird bei Rousseau aus dem objektiven Naturrecht, wie noch bei John Locke, ein subjektives, individuelles Naturrecht580, nicht nur kommt Rousseaus Rechtsidee- ganz liberalistisch - in der Etablierung der Individualsphäre jenseits des Staats und gegen diesen zum Tragen, sondern er ist nach diesen Staatslehrern der erste, der wiederum die Krise, diesen "toten Punkt", auf den "das große Befreiungswerk des Rationalismus" gekommen ist, jene das politische Leben mehr und mehr lähmende Dualität von Staat und Individuum, damit eine den Staat zusehends entleerende Entwicklung überwindet, indem er die Vernunft als den Bereich des Politischen reglementierende Größe stürzt und das auseinanderstrebende Verhältnis von Individuum und Staat neu versöhnt und den historisch gestaltenden Menschen in den Mittelpunkt seiner Staatsidee zurückholt. Der Mensch, im Denken Rousseaus, "empfängt jetzt nicht mehr das Gesetz, er setzt, er schafft es selberkraftseines eigenen sittlichen Willens", faßt Otto Vossler zusammen und weiter: "Er ist selber zum wirklich und vollends freien und verantwortlichen Schöpfer seiner eigenen Welt geworden. Das istjetzt sein Auftrag von Gott, der ihm dazu nicht mehr Gebote diktiert, wohl aber, und weit mächtiger als die bloße Vernunft es vermöchte, die göttliche Stimme und Kraft des Gewissens in die Brust legt. Damit ist die Freiheit nicht mehr getreue Ausfiihrung einer vorgegebenen Ordnung, nicht mehr ein vernünftiges Recht, sondern sittliche Verantwortung und Pflicht ... Aus seinem autonomen, sittlichen Willen, und nicht mehr wie bisher nach der Vernunft, gilt es jetzt, den Menschen und seine freien Staat neu zu bilden."581 "Man kann sagen, daß Rousseau das Wesen eines solchen Vernunftgesetzes durch seine Lehre vom allgemeinen Willen angedeutet hat, eine Lehre, die als ein Ergebnis des Versuchs aufgefaßt werden kann, einen Vgl. L. Strauss, S. 286. Vgl. 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 52. 579 Erst wenn diese "voluntaristische Wende" im Werk Rousseaus erkannt wird, erhält jenes Zitat aus dem "Emile" einen Sinn, in dem Rousseau darlegt, "daß man allein durch die Vernunft und unabhängig vom Gewissen kein natürliches Gesetz aufstellen kann und daß das ganze Naturrecht nur ein Hirngespinst ist, wenn es nicht auf einem dem menschlichen Herzen natürlichen Bedürfnis basiert.'' (vgl. ders., Emile, S. 485). 580 Vgl. 0. Vossler, S. 15. 581 Ebd., S. 19. Die Geringschätzung jeden Legalismus ist im Denken Rousseaus Folge des Willensprimats. Das oberste Gesetz ist fUr ihn keine naturrechtliche Konstruktion, sondern die "volonte generale". Vgl. dazu W. Hennis, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, in: Ders.. Politik als praktische Wissenschaft, München 1968, s. 24. 577

578

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»realistischen« Ersatz fiir das naturalistische Naturgesetz zu ermitteln"582, pflichtet Leo Strauss bei. Der menschliche Wille zum politischen Gemeinwesen wird von Rousseau zum Prinzip des Staats gemacht, der Staat erfasst als Ausdruck sittlichen Wollens. Die "volonte generale" konstituiert erst den Staat, die Gesetze sind - wie noch in der "Abhandlung über die politische Ökonomie" ausgefilhrt - Ausdruck dieses gemeinsamen Willens und dessen "heilsames Organ"- alles andere wird von ihm abgeleitet: Staat, Recht, schließlich Moral. Wo die Entfaltung eines Gemeinwillens verhindert wird, tritt Rousseau als heftiger Ankläger auf, etwa in dem hier schon mehrfach zitierten siebenten Brief der "Briefe vom Berge", in dem Rousseau gerade das Zurückebben des legislativen Bürgerwillens zutiefst bedauerte und einen auf viele politische Systeme übertragbaren Teufelskreis eines vormals freien Volkes beschrieb, das durch sich selbst will, und durch sich selbst alles tut, was es will 583 : Ein übermächtiger Beamtenapparat, "welcher immer handelt", verdrängt immer mehr diesen Willen, und je tätiger dieser wird, "desto mehr entkräftet sie (d. i. die handelnde Gewalt, der Verf.) die Gewalt, die will."584 Diese bleibt schließlich übrig, der Staat löst sich auf- "so gehen alle demokratischen Staaten zugrunde. " 585 Es versteht sich, warum Rousseaus Lehre genau an dieser Stelle ansetzt und auch, warum er diese Kategorie des Willens nicht nur als abstrakte Größe innerhalb abstrakter Staatsprinzipien im Werk sehen möchte, sondern sie gleichsam als anthropologische Konstante des freiheitlich begabten, d. h. auch "in seinem Wollen erzogenen"586 Menschen und als solche auch als notwendige Bedingung tugendhaften Handeins überhaupt werten will: "Mein Kind", sagt Rousseau deshalb zu Emile auf den letzten Seiten seines Romans, "es gibt kein Glück ohne Mut und keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend kommt von dem Wort Stärke; die Stärke ist Basis aller Tugend. Nur ein von Natur schwaches und durch seinen Willen starkes Wesen ist tugendhaft; nur darin besteht der Wert eines rechtschaffenen Menschen; und obgleich wir Gott gut nennen, nennen wir ihn nicht tugendhaft, weil es fiir ihn keiner Anstrengung bedarf, das Gute zu tun." 587 Das menschlich-sittliche Wollen setzt jedoch fiir Weber, Tocqueville und Rousseau eine Gesinnung, einen Glauben oder "Dämon" voraus 588, der dem 582 L. Strauss, S. 268( 583 Vgl. Rousseau, Siebenter Brief, Briefe vom Berge, S. 159. 584 Ebd. 585 Ebd. 586 Vgl. L. Strauss, S. 299. 587 Rousseau, Emile, S. 886f. 588 Daß "das Religiöse (... ) im Nationalen säkularisiert (wird und) das Säkulare sakralisiert" (vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, BUrgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 300), ist Webers Standpunkt. Deshalb kann nach dem "Ende der Transzendenz'' an die Stelle einer jenseitigen Religion auch ein weltliches Glaubenssystem treten, wie es gerade der Nationalismus oder Patriotismus verkörpert.

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Willen die Richtung gibt: Wie es ftlr Weber ohne transzendenten Bezugswert keine freiheitliche Lebensftlhrung, ohne Gesinnung kein politisches Handeln und ohne eine Idee der Transzendenz kein Charisma geben kann, so gibt es fiir Tocqueville und Rousseau keine Freiheit ohne Religion. Im Falle Rousseaus rückt nicht die Religion, sondern speziell jene "religion civile"589 in den Mittelpunkt. Sein Interesse richtet sich nicht an die metaphysische Frage nach der Wahrheit von Religion, sondern vielmehr an die pragmatische nach ihrer politischen Zweckmäßigkeit. Die "religion de l'homme" des Christentums ist ftlr ihn dabei politisch völlig unbrauchbar, weil sie universalistisch, gewissermaßen kosmopolitisch, ausgerichtet ist, die "religion de Pretre" geriausowenig, weil sie als politische Konkurrenzreligion zum Glaubenssystem des Staats auftritt. Eine "religion civile" hingegen ist Rousseaus Lösungsformel, da sie sich durch vier wesentliche, fiir ein Gemeinwesen allesamt tOrderliehe Qualitäten auszeichnet: der Existenz eines wohlwollenden Gottes, der Vorstellung eines jenseitigen Lebens, derjenigen vom Glück des Gerechten und der Bestrafung des Bösen, sowie der Idee der Heiligkeit des Sozialvertrages und der Gesetze. Der Sinn dieser "religion civile" liegt dabei einerseits in der Unverzichtbarkeit religiöser Autorität zur Stabilisierung des Staats, andererseits werden Grundwerte der Menschlichkeitsreligionen in den Dienst der Festigung und Garantie der positiven Rechtsordnung eines Staates gestellt. In der Erziehung zum "patriotischen Glauben" sieht Rousseau darüberhinaus eine weitere Möglichkeit, die Leidenschaften des Menschen filr das Gemeinwohl fruchtbar zu machen. Der "amour propre" kann zum Motor der Tugend werden, indem die Leidenschaften einen Gegenstand erhalten. Negative innere Anlagen müssen auf ein positives Ziel gerichtet werden. Dies genau geschieht im Patriotismus, den Rousseau fordert, auch wenn er ihn klar als unter der echten Staatsbürgertugend rangierend einordnet, weil er im Grunde eine sublimierte Form des "amour propre" ist. 590 "On me peut etablir Je regne de Ia liberte sans celui des moeurs, ni fonder les moeurs sans les croyances." Als "Kämpfer gegen den politischen Atheismus" (J. T. Schleifer) war auch Alexis de Tocqueville davon überzeugt, "daß die wahre Größe des Menschen nur in der Übereinstimmung des freiheitlichen Gefilhls mit dem religiösen Empfinden besteht." 591 Denn eine Religion erst lenkt das HanAls solche säkularen Glaubensordnungen können auch sie eine wichtige Funktion im Dienst freiheitlichen Handeins spielen. In diesem geistigen Sinn ist es zu verstehen, wenn Tocqueville die Nation als größtes interpersonales Band erwähnt. 589 Vgl. Rousseau, CS, Viertes Buch, 8. Kap., S. 380f. 590 Genauso kann aus den Urmotiven menschlicher Tätigkeit, "volupte" und "vanite" als Teile des "amour propre" der Stolz als positive Eigenschaft erwachsen. Das auch ist das Ziel der Rousseauschen Erziehungslehre: die Leidenschaften in den Dienst des republikanischen Vaterlandes zu stellen. In der Polenschrift etwa gibt er ein Beispiel, wie der Ehrgeiz des Gelderwerbes auf Leistungen flir das Gemeinwohl gerichtet werden kann. 591 Tocqueville, OC, Band VI, A. Salomon, S. 215.

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dein und den Willen, der dahinter steht, auf ein Ziel. Erst sie auferlegt dem Verstand ein heilsames Joch, und rettet sie auch die Menschen im Jenseits nicht, so ist sie zumindest ihrem Glück und ihrer Größe in dieser Welt sehr zuträglich."592 Auch wenn sich Freiheit im Handeln vollzieht, so kommt sie ohne Ziel nicht aus. Fehlt der Glaube, so fehlt der Wille zwangsweise. Fehlt die Religion, in Tocquevillescher Sicht, gibt es keine Triebkraft ftlr die Freiheit. Die Religion bildet in Tocquevilles Denken gerade fiir die so entscheidende sittliche Durchdringung des Lebens das "Leitgestim", indem sie dieser Sittlichkeit Sinn und Grund verleiht. 593 Wenn aber einem Volk die Religion zerstört ist, "so bemächtigt sich der Zweifel der höchsten Bereiche des Geistes und lähmt alle anderen zur Hälfte." 594 Der Weg zur willenlosen Indifferenz wird frei. Ein "solcher Zustand" muß "unvermeidlich die Seelen zermürben. Er schwächt die Spannkraft des Willens (hervorgehoben vom Verf.) und bereitet die Bürger auf die Knechtschaft vor."595 Auf seiner Reise durch Amerika gewärtigte Tocqueville eine lebendige Religion als Garantie freiheitlich-sittlichen Wollens. In "Der alte Staat und die Revolution" schreibt er: "Ich wende mich an den ersten Amerikaner, dem ich begegne ... und frage ihn, ob er glaube, daß die Religion zur Aufrechterhaltung der Gesetze und zur guten Ordnung der Gesellschaft von Nutzen sei." Er erfährt von diesem Mann, "daß eine zivilisierte Gesellschaft nicht ohne Religion bestehen kann. Ehrfucht vor der Religion ist seiner Ansicht nach die größte Garantie fiir die Festigkeit des Staates und die Sicherheit der einzelnen." Mindestens dies wüßten, so Tocqueville, "die in der Wissenschaft der Regierung am

592 Neben dem Tocquevilleschen Thema der Unverzichtbarkeit von Wertesystemen, die freiheitliches Handeln als notwendige sittliche Grundlagen braucht, kommt in diesem Zitat zum Ausdruck, daß Tocqueville persönlich religiösen Systemen gegenüber immer skeptisch war. Dabei war er kein überzeugter Agnostiker. Gobineau antwortete er auf dessen Frage, ob er gläubig sei, in einem Brief vom 2. Oktober 1843 mit dem Satz: "Ich glaube nicht, aber ich bin weit davon entfernt, deswegen zu prahlen." (ders., Brief an Gobineau, OC, Band IX, S. 57.) Nichtsdestotrotz hat er die praktische Qualität aller Religionen hochgeschätzt. Seinen eigenen religiösen Zweifel hat er verteufelt, Skepsis war für Tocqueville "das größte Übel" (ebd.). 593 Ders., ÜdDiA II, S. 32. 594 Ebd., S. 33. Eindrücklich dazu eine Stelle aus ,.Der alte Staat und die Revolution", in der Tocqueville mit dem religionsfeindlichen Fundamentalismus der französischen Revolution abrechnete. Dort heißt es: "In den meisten großen Revolutionen, die bis dahin in der Welt stattgefunden hatten, war der religiöse Glaube von denen, die die bestehenden Gesetze angriffen, respektiert worden, und in den meisten religiösen Revolutionen hatte niemand, der die Religion angriff, versucht, mit demselben Schlage das Wesen und die Ordnung aller politischen Gewalten zu ändern und die alte Verfassung der Regierung von Grund auf zu zerstören. Es hatte daher bei den größten Erschütterungen immer einen Punkt gegeben, der fest blieb. Da man aber in der Französischen Revolution die religiösen Gesetze gleichzeitig mit den bürgerlichen Gesetzen umgestürzt hatte, verlor der menschliche Geist vollständig sein Gleichgewicht, er wußte nicht mehr Maß noch Ziel zu finden ..." (ders., DaSudR, S. 158). 595 Ders., ÜdDiA II, S. 33.

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wenigsten Bewanderten."596 Es gebe "kein Land in der Welt", schließt er, "wo die kühnsten politischen Lehren der Philosophen des 18. Jahrhunderts mehr Anwendung flinden als in Amerika; nur ihre irreligiösen Lehren haben ... sich dort niemals Bahn brechen können." 597 Wo der Glaube fehlt, etwa in jenen Ländern, in denen "ein unglückliches Zusammentreffen die Demokratie mit dem Unglauben verbindet, müssen die Philosophen und die Regierenden stets darauf bedacht sein, dem Blick der Menschen das Ziel menschlichen Tuns in die Feme zu riicken." 598 Dies sei "ihre große Aufgabe" 599• All diejenigen, " ... denen die Zukunft der demokratischen Gesellschaft am Herzen liegt, müssen sich zusammentun und einhellig und fortwährend dahin wirken, in diesen Gesellschaften den Sinn fiir das Unendliche, das Gefiihl fiir Größe und die Liebe zu geistigen Freuden verbreiten. "600 Die Überzeugung, daß der Glaube zum Willen in einem notwendigen, sich gegenseitig bedingendem Verhältnis steht, teilen Rousseau und Tocqueville auch mit Weber. Schon innerhalb seiner "Wissenschaftslehre" ermittelte Weber, daß "ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte ... jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos"601 ist. Nur die "Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele" 602 weist der Arbeit des Wissenschaftlers die Richtung. Diese Haltung läßt sich auch in eine Maxime seines Ideals einer freiheitlichen Lebensfilhrung übersetzen. Wiederum in den puritanischen Sekten erkannte Weber dieses starke Moment einer willentlichen Verbindung im Dienste der religiösen Sache. Der "Dämon" eines jeden, die Religion oder auch die Gesinnung wird Weber zur Grundlage der Freiheit, denn beide sind fUr ihn nicht so sehr dogmatische Zielvorgaben, wie er dies innerhalb der "Protestantischen Ethik" immmer wieder verdeutlicht, sondern weit wesentlicher "Systeme der Weltorientierung"603 • Als solche sieht er, trotz bekundeter persönlicher "religiöser Unmusikalität", gerade ihre praktische Bedeutung filr die Lebensfilhrung als Motivationszusammenhang, der aus sich heraus praktische Antriebe zum Handeln freisetzt. Dabei ist ihm die "Prämie", die am Ende des Weges winkt, als Handlungsziel unerheblich, jedoch unverzichtbar, soll eine freiheitliche Lebensfilhrung ermöglicht werden. Der in einem Glauben verwurzelte Wille erst, ja der Kampffilr eine Sache, wie ihn der puritanische Sek596 597 598

Ders., DaSudR, S. 155. Ebd. ••

Ders., UdDiA II, S. 167. 599 Ebd. 600 Ebd., S. 162. 601 Weber, Zur »Objektivität« ..., S. 182. 602 Ebd. 603 Ders., GARS I. S. 237.

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tierer täglich filhrt, um filr sich "die subjektive Gewißheit der eigenen Erwähltheit und Rechtfertigung zu erringen"604, macht frei. Webers Gedanken sind hier denen des amerikanischen Pragmatismus sehr nahe. Seine vielfachen geistigen Anregungen, Anleihen, und Überzeugungen profund auszuleuchten, wäre Stoff filr eine weitere interessante Beschäftigung mit seinem noch immer nicht ausgeforschten Werk. Max Weber folgt William James und John Dewey, wenn auch er ganz pragmatisch-amerikanisch "einen Glauben (im Orig. gesperrt, der Verf.) nur insoweit filr rechtschaffen erklärt, als er Wille (im Orig. gesperrt, der Verf.) ist... Wirklicher Wille ist aber ein Glaube nur dann, wenn er versucht, sich in öffentlichem, d. i. "politischem" "Experiment", also in Anpassung und Fügsamkeit an gegebene äußere Bedingungen und in der Bewährung gegenOber der Widerstandsmacht gegnerischen Glaubens zu .. verifizieren" (im Orig. gesperrt, der Verf.)..." 605

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Ders., PE I, S. 128. E. Baumgarten, Benjamin Frank1in, S. 241.

Schluß Wolfgang J. Mommsen hat in seinem schon als Klassiker zu bezeichnenden Werk "Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920" dargelegt, wie zentral fllr Weber die politische Fragestellung einer Führer- und Elitenauslese in der deutschen Politik waren, die im Wesentlichen gegen den politischen Dilettantismus der herrschenden feudal-konservativen bürgerlichen Kreise der Ära nach Bismarck gerichtet war. Dafür habe Weber vieles geopfert, so Mommsen weiter, die Idee der Menschenrechte und des Rechtstaats genauso wie alle naturrechtliche Axiomatik. 1 Wenn Weber Demokratie gefordert hätte, dann vorrangig unter dem Gesichtspunkt der "möglichsten Machtsteigerung", wobei ihm eigentlich die "Staatsform völlig Wurst" gewesen sei 2, den Rousseauschen "Willen des Volkes"3 hätte Weber fllr eine Fiktion gehalten, Staat und Demokratie seien ftlr ihn stets Technik gewesen, exklusive Mittel bloß zu Führerauswahl und BOrokratiekontrolle. In der "plebiszitären FUhrerdemokratie" akklamiert das Volk, bleibt jedoch "politisch passiv"4 - auf den handelnden Staatsbürger, wie er bei Rousseau noch auftritt, so muß geschlossen werden, hat Weber nicht länger Wert gelegt. Weber und Tocqueville- bei ganz ähnlicher Diagnose der Modeme "are very different in their prescriptions", schrieb Peter Lassman und schließt sich dieser Lesart an: "The necessity for political participation that Tocqueville saw as an antidote to both the tyranny of the majority and to excessive centralization was totally discounted by Weber." 5 Die vorliegende Studie hat versucht, die einseitige und dennoch fast schon kanonisierte Sicht einer einseitig patemalistischen politischen Philosophie Webers zu korrigieren. Weber hatte neben staatstechnischen Machtstaatsgedanken durchaus ein Organ ftlr eine politische Freiheitsidee, die jedem, der sich darauf einlassen wollte, nicht nur für die eigene Lebensführung etwas zu sagen hatte, sondern auch darum warb, eine politische Bürgeridee im Menschen wiederzubeleben. Max Webers Gedankenwelt kann als eine im weitesten Sinne liberale genannt werden, auch wenn sie von einer recht eigenwilligen, fast schon anaVgl. W J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 418f. W. J. Mommsen zitiert einen Brief Webers an Hans Ehrenberg vom 16. Juli 1917, GPS, I. Auflage, S. 469f. 3 Weber, Briefan Robert Michels vom 4. August 1908, MWG, Band II/5, S. 221. 4 W J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 427. 5 P. Lassman, S. 113. 1

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Chronistischen Art war, ihre Versatzstücke entstammen einem eigenwilligen, "strange liberalism", wie ihn R. Boesche auch filr Tocqueville in Anspruch genommen hat. 6 Der vergleichende Ansatz, dem diese Arbeit verpflichtet ist, ist von der Überzeugung getragen, daß die Zutageförderung von Neuern zu Weber nicht mehr über die wenn auch noch so akribische Ausleuchtung seines Werkes glükken könnte, sondern sich an der Ein- und Zuordnung, also der Kontextualisierung seines Werkes entscheidet. Kontextualisierung bedeutet Vergleichen, an dessen Ende im vorliegenden Fall ein weitgehendes Sich-Gleichen der ideellen Entwürfe stand, auch wenn, und darauf sei ausdrücklich hingewiesen, Unterschiede zu Weber, die im Falle Rousseaus zahlreicher als im Falle Tocquevilles sind, nicht unterschlagen werden sollten. Dabei ist klar: Jeder Vergleich zwischen politischen Theorien kann kaum das Ziel verfolgen, sich im reinen Ausweis geistiger ParalieHtäten zu erschöpfen. Das Eruieren geistiger Analogien ist vielmehr stets ein heuristisches Mittel zu einem tieferen Verständnis eines der beiden verglichenen ideellen Grundkonzeptionen, manchmal sogar beider. Die Grundlagen zu einem solchen vergleichenden Verständnis wurden im vorliegenden Fall gewonnen, indem anband der aufgezeigten Parallelitäten einer Grunderfahrung der Modeme ein gemeinsamer zeitdiagnostischer Fragehintergrund freigelegt wurde, der in der allseitigen kulturphilosophisch angelegten Interpretation der Modeme Weber mit Tocqueville und Rousseau eng zusammenband. Zeitanalysen wurden nachvollzogen, die nichts gemein hatten mit aufklärerisch-fortschrittsfrohen Weltbildern, nicht einmal in der Beschreibung der "Janusköpfigkeit der Modeme" 7 gipfelten, sondern vielmehr in einer kulturpessimistischen Interpretation der schicksalhaften Tragik des transzendenzfeindlichen Vernunftzeitalters mündeten, wie diese in vielfarbigen Symbolen und Metaphern zu ihrem Ausdruck gelangten. Für Weber, Tocqueville und Rousseau rechtfertigten dieses Interpretationsresultat vor allem die von allen dreien herausgearbeiteten antinomischen Strukturen der okzidentalen Vernunft, wie sie sich im Phänomen einer wachsenden Entpersonalisierung moderner sozialer Beziehungen, in den Befunden eines rationalistischen Bürokratismus, eines vereinzelnden Individualismus, eines entgeistigten Materialismus, der privatistischen Entpolitisierung des öffentlichen Lebens, der Nivellierung und Standardisierung individuellen Handeins und dem Ende der Seelenkräfte von Leidenschaft und Charisma drastisch niederschlugen. Die Freilegung dieser negativen Zustandsbeschreibung aus einem kulturkritischen Blickwinkel heraus erwies sich dabei als ein unbedingt notwendiges 6 Vgl. R. Boesche, The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville. Tocqueville selbst hinterließ der Nachwelt, er hätte sich zeit seines Lebens als ein "Liberaler der neuen Art" verstanden (vgl. ders., OC, Band V, S. 431 ). 7 Vgl. Detlev J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Modeme, S. 55f.

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Grundlagenergebnis. Nur und ausschließlich auf dieser die Unfreiheit der Moderne offenlegenden Folie konnte es gelingen, die Gehalte der politischen Philosophie Webers, Tocquevilles und Rousseaus in ihrer praktischen Dimension verständlich zu machen. Sowohl Weber, Tocqueville und auch Rousseau zogen sich im Angesicht des Schreckgespenstes einer fiir sie Unfreiheit verheißenden Moderne nicht in ein restauratives oder gar romantisch-verklärendes Schnekkenhaus zurück, sondern drangen in einer kämpferischen Konsequenz ihrer Zeitdiagnose zu einer Wissenschaft vor, die sich nicht damit abfinden wollte, sich in eine deskriptiv-analytische Sozialwissenschaft aufzulösen. In der Absicht, die diagnostisch ermittelten Kulturverluste ins Bewußtsein zurückzubringen, um ihnen schließlich wieder praktisch zur Gültigkeit zu verhelfen, entwikkelten alle drei im Bruch mit traditionellen liberalen Geisteshaltungen einen gegen den landläufigen Zeitgeist gerichteten Freiheitsbegriff, wie er hier im Zentrum der Betrachtung stand. Dieses gemeinsame Freiheitsideal wurde in der vorliegenden Arbeit zunächst ermittelt als ein realistisch-modernistisches, weil es die Akzeptanz unentrinnbarer moderner Entwicklungen zu seinem Ausgang machte. Das andere grundlegende Moment dieses Freiheitsverständnisses wurde in der radikalen zur rationalen Einsicht befiihigenden Entmythologisierung und Desillusionierung des Menschen durch das wissenschaftliche Denken gefunden. Doch spätestens nach diesen durchaus aufklärerischen Ideen folgenden Grundbedingungen ihres Freiheitsbegriffs verlassen Weber, Tocqueville und Rousseau die geistigen Pfade der großen westlich-aufklärerischen Tradition der französischen Revolution und entwickeln ihren so eigenwilligen, oftmals so "amerikanischen" Freiheitsbegriff. Dem privatistischen Sekuritätsdenken und dem leeren Hedonismus der neuen Zeit setzen sie eine dezidiert anti-materialistische, anti-eudämonistische und anti-institutionalistische Gesinnung gegenüber. Das englische, individualistischutilitaristische Freiheitsverständnis stößt dabei auf ihre Mißbilligung. Die liberalen Errungenschaften eines rigorosen Individualismus, entlarvt als nur selbstverantwortlicher "amour propre", überfiihrten sie in einen entschieden antiindividualistischen, die Bürgerschaft neu integrierenden und in diesem kraftvollen Sinn das uneingelöste Revolutionspostulat der Brüderlichkeit einfordernden neuen Freiheitsbegriff, der den Staatsbürger nicht von gemeinschaftlichen Verpflichtungen freimacht, sondern ihn - ganz unpaternalistisch - aus seiner passiven zivilen Ohnmacht zurück in die mitmenschliche staatsbürgerliche Verantwortung zwingt, ihn zum freiheitlichen Handeln herausfordert und ganzheitlich in Anspruch nimmt. Alle hegen tiefstes Mißtrauen in Institutionen, Verfassungsmechanismen und Gesetzestexte und vertreten einen auf den Potenzen des menschlichen Willens und Glaubens gegründeten handelnden Freiheitsbegriff, der aus den Gefühlskräften der Menschen entspringt. Dieser Freiheitsbegriff wird einzig Iebensmächtig, wenn er in Charakter und damit in die Lebensfiihrung und Sitten der Staatsbürger Eingang findet. Es ist daher das nächstliegende Ergebnis des vorliegenden Vergleichs, diesen so definierten Freiheitsbe-

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griff zu erfassen als an eine Qualifikationsleistung des einzelnen Menschen gekoppelten: Eine Freiheit von Verpflichtungen und zivilen Beanspruchungen orientiert sich primär am Abbau von herrschaftlichem oder ökonomischem Zwang, an der Entlastung von gemeinschaftlicher Verantwortung. Webers, Tocquevilles und Rousseaus Freiheit jedoch versteht sich als Freiheit zum verantwortungsvollen freiheitlichen Handeln, sie ist gerade die interessenlose Nichtwillkür. Daran ist die Konsequenz gebunden, daß Freiheit zur Qualifikationsleistung des Menschen wird, die filr Weber, Tocqueville und Rousseau nur über eine pädagogische Erziehungsarbeit zu erzielen ist. Die pädagogischen Leitideen ihres gelebten Freiheitsbegriffs entnehmen alle drei, und dies ist der nächste zentrale Befund ihrer gedanklichen Übereinstimmung, zum freiheitlichen Lebensstil beflihigenden Erziehungsmodellen, die Weber rein empirisch noch im amerikanischen Klubwesen und seinen historischen Prototypen, den puritanischen Sekten, Tocqueville in den amerikanischen Assoziationen und Rousseau in politischrepublikanischen Erziehungsverbänden wie dem "Äußeren Stand" der Bemer Staatsregierung auszumachen glaubt. In derlei Verbandstypen findet sich das pädagogische Rüstzeug, das zur Freiheit begabte Persönlichkeiten auch noch in einer Zeit der neuen Hörigkeit hervorbringen kann. Gerade diese in der Forschung bis heute vernachlässigte Verwandtschaft von Webers Sekten, Tocquevilles Assoziationen und auch dem Rousseauschen Pendant des Bemer ,,Äußeren Standes" erhellt eine neue Seite des Webersehen Freiheitsideals, weil diese gedankenverbindende Achse herauszustellen vermag, daß alle diese Verbände eine ganzheitliche Charakterprägung leisten, die zu einer freiheitlichen Lebensfilhrung erzieht, wie diese zum einzigen Garanten einer gelebten Freiheit in der Modeme wird. Weil die moderne Welt durch ihre kulturellen Kräfte die Seele des modernen Menschen unentwegt "parzellierte", war es Rousseau, Tocqueville und gerade Weber aufgegeben, eine neue Art der Persönlichkeit zu schaffen, die einer solchen Welt gewachsen und in der Lage war, zu ihr Stellung zu beziehen. Als die Hauptquelle zu dieser Persönlichkeit erwiesen sich im Falle Webers dessen Aufsätze zur "Protestantischen Ethik", die hier nicht so sehr als Texte gelesen wurden, die die spezifisch abendländische Genese des Kapitalismus erhellen und auch nicht etwa der Herleitung jener typischen psychologisch-spiritualistischen Disposition des kapitalistischen "homo oeconomicus" dienen sollten, sondern als Schriften, die diese mindestens genauso sein wollten: im weitesten Sinne Erbauungstraktate einer freiheitlichen Lebensfilhrung. Webers große Leistung war es, als einer der ersten in seiner Epoche zu der Einsicht gelangt zu sein, daß das Problem der Freiheit im kapitalistischen Zeitalter nicht länger in einerneuen Staatsidee oder der Realisierung totalitärer Gesellschaftsentwürfe und Ideologien zu lösen war, sondern sich zu einer Aufgabe gewandelt hatte, die weitaus höhere Ansprüche an die Persönlichkeit des modernen Menschen stellte als an die Gesellschaft. Es ist diese Einsicht, die Weber

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mit der Gegenwart verbindet, einer Gegenwart, die ja noch viel kompromißloser als diejenige Webers keine ,,Zeit der Ideologien"8 mehr sein will und sich von den großen säkularen Freiheitsentwürfen verabschiedet hat - zumindest dort, wo sie historisch-realpolitische Gestalt angenommen hatten. Erst recht nach dem "Ende der großen Entwürfe", der realen kommunistischen Ideologie, aber auch dem Ende jenes einst unzerstörbaren Vertrauens in die kapitalistische Glaubenslehre, ist das Problem der Freiheit näher und fester beheimatet in der Spähre der persönlichen Verantwortung des Einzelnen denn je. Weber hat seine Idee der Freiheit- und hierin ist er über weite Strecken ein Sohn nicht nur seiner Zeit, sondern auch seines kulturprotestantischen Milieus mehr auf den Ruinen von Werten errichtet, die die Modeme zerstört hatte, als auf den Fundamenten, die sie neu zu legen verstand. Wohl auch weil er einen sittlich durchgeistigten politischen Raum in der Auflösung begriffen sah, hat er gerade jene "Anethisierung" einer versachlichten Gesellschaft so vehement beklagt. Der Strukturwandel von auf persönlicher Autorität beruhender Personalbeziehungen zu standardisierten Geschäftsbeziehungen, wie die gesamte politische und kulturelle abendländische Genese, trugen filr ihn Züge zivilisatorischen Zerfalls. Daß die hinter dieser historischen Bewegung stehenden großen säkularen Geistesmächte, Demokratie, Gleichheit, ja selbst der Kapitallismus, jedoch auch einen Zuwachs an individuellen Freiheitsrechten und individueller Autonomie mit sich brachten, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung genauso wie die Wahlfreiheit des Einzelnen, welche Beziehung ethisch reglementiert sein sollte und welche nicht, dafilr hatte Weber keine Augen, und genausowenig dafiir, daß sein so unegalitaristischer Freiheitsbegriff als einer qualitativen Entität jeglicher verbindlicher Legitimation entbehren mußte, wenn gleichzeitig, wie er so oft konzediert hat, die allgemeine metaphysische Herrschaft eines obwaltenden objektiven Sinnes oder Zweckes in der Welt- auch von ihm selbst nach Kräften destruiert wurde und an seine Stelle als Konsequenz des Intellektualismus der polytheistische, intellektuell redliche Kampf der vielen letzten Werte trat. 9 Weber wußte, daß in seiner Gegenwart sittliche Urteile nicht mehr wahrheitsfllhig sein konnten und verbat sie sich in seiner Wissenschaft - und dennoch hat er ein spezifisches, geistes- und moralaristokratisches Freiheitsverständnis verfochten, das an so vielen Orten seines Werkes aufscheint und dem Gestalt zu geben, hier angestrebt wurde. Max Weber hat sichzeitseines Lebens immer als Moralist und politischer Intellektueller verstanden, dessen Schaffen und Wirken zu allererst von der Sorge um den Zustand des bürgerlichen Gemeinwesens motiviert war, dem er angehörte. 10 Genauso faßte Rousseau seine 8 Vgl. Kar/ D. Bracher, Zeit der Ideologien, Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, München 1985. 9 Vgl. Günter Dux, Strukturwandel der Legitimation, Freiburg/München 1976. 10 Ein Problem kommt hinzu, das Weber, Tocqueville und Rousseau nicht lösen konnten, weil es sich zu ihrer Zeit noch nicht gestellt hat: Die Konzeption einer einseiti-

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Rolle auf, der seine "Briefe vom Berge" nicht geschrieben hätte, ja nicht einmal seinen "Gesellschaftsvertrag", wenn er nicht auf die politischen Verhältnisse in seiner Vaterstadt Genf hätte Einfluß nehmen wollen. Tocqueville wiederum formulierte den vielleicht wichtigsten Satz zum Selbstverständnis seiner politischen Wissenschaft in seiner Rede "Über Politik als Wissenschaft" vom 3. April 1852: "Bei allen zivilisierten Völkern gebiert die Staatswissenschaft die allgemeinen Ideen, oder verleiht ihnen wenigstens die Form. Aus diesen entspringen dann später die Ereignisse, in deren Mitte die Politiker sich bewegen und die Gesetze, die sie zu erfinden vermeinen. Die Staatswissenschaft bildet um jede Gesellschaft herum so etwas wie eine Atmosphäre, in der der Geist der Regierten und der der Regierenden atmet und aus der die einen wie die anderen, oft ohne es zu wissen, die Prinzipien ihrer Haltung schöpfen." 11 Der Primat politischer Ideen vor der historisch-politischen Tat ist eine gängige Denkfigur bei Tocqueville. Man findet sie in vielen Briefstellen und noch einmal zugespitzt in seiner Akademierede vom 21. April 1842. 12 Er bringt damit gleichzeitig zum Ausdruck, was er als größte Aufgabe einer politischen Wissenschaft erfasst: Über die Verbreitung von Ideen, grundsätzlichen Überlegungen und Kritik soll sie in die Politik der Praxis einwirken. Hier kann und soll sie "zukunftsfiirchtig" und umsichtig quasi als intellektuelles Korrektiv auf prinzipielle Problemlagen aufinerksam machen, zu deren distanzierter Erkenntnis der Tagespolitiker nicht mehr vorstößt. Hier auch liegen ihre größten Möglichkeiten, denn es gäbe, so Tocqueville, "philosophische oder religiöse Anschauungen, die das Antlitz ganzer Königreiche verwandelt haben" 13 • Genau aus diesem Selbstverständnis heraus hat auch Max Weber seinen "Auftrag und Beruf zur Kritik" 14 abgeleitet. Anders als das Gros seiner Interpreten wissen machen will, hatte Weber seiner entzauberten Zeit, die auch noch die heutige ist, politisch-praktisch etwas zu sagen, die rein habituelle, verinnerlichte Seite betonenden ethisch-freiheitlichen Lebensfiihrung hat der Zieldimension freiheitlichen Handeins niemals großen Wert beigemessen: " ... einerlei zu welchem Zweck·· sollten nach Weber freiheitliche Erziehungsmodelle gebildet werden. Das jedoch konnte nur behaupten, wem die Folgen freiheitlichen Handeins verantwortungsethisch ausrechenbar erschienen. In einem technologischen Zeitalter wie dem heutigen jedoch, das erkannt hat, daß gerade die Nichtausrechenbarkeit individuellen Handeins einer neuen "Ethik der technologischen Zivilisation" (vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung) bedarf, wird die Idee einer individuellen Verantwortungsethik durch eine Neudefinition einer kollektiv gedachten Ethik ergänzungsbedürftig. Eine moderne Technik macht die unerläßlich, die dem Menschen Handlungsspielräume erötfuet hat, die es dem einzelnen mehr und mehr verwehren, im Dickicht unüberschaubarer Folgeketten Verantwortung zu übernehmen. Der Verantwortungsbegriff, auf den die Webersehe Verantwortungsethik setzt, kann kaum länger die Folgen des individuellen Handeins tragen: Der Begriff der Verantwortung selber, so wie ihn Weber gedacht hat, ist in der modernen Welt nicht mehr durchzuhalten. 11 Tocqueville, Über Politik als Wissenschaft, A. Salomon, S. 144. 12 Vgl. ders., RzAidfA, S. 122. 13 Ebd., S. 145. 14 G. Hufnagel, S. 359.

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gen. Gerade im fiir ihn so tragischen Zeitalter der Modeme war sein wissenschaftlicher Impetus fernab von einem formalistisch-abstrakten Wissenschaftsverständnis von einer genuin politikwissenschaftlichen Idee durchdrungen, tatkräftig einer Zeit standzuhalten, die keine Götter und Propheten mehr kennen wollte. In Richard Fords 1995 erschienenem Roman "Der Unabhängigkeitstag" 15 blättert Frank Bascombe, die Hauptperson der Handlung, die auf dem flachen, weiten Land der Vereinigten Staaten von Amerika angesiedelt ist, eines Abends in Alexis de Tocquevilles "Demokratie in Amerika". Nicht nur aus körperlicher Erschöpfung, sondern weil er mit diesem alles andere als bindunglosen Freiheitsbegriff des Franzosen nichts mehr anzufangen weiß, schläft er über der Lektüre ein. Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville und Max Weber sind Figuren nicht der Gegenwart, aber sie und ihre politische Freiheitslehre sind alles andere als einschläfernde Ideen einer gestrigen Zeit. In Zeiten, in denen Verwaltungshandeln und Parteienbürokratismus eine verschwindende pluralistische Öffentlichkeit mehr und mehr ersetzen, in denen ein neuer Hedonismus die westlichen "Erlebnisgesellschaften" 16 prägt und das Politische unter dem Druck einer ökonomisch dominierten Globalisierung mehr und mehr zur aussterbenden Kategorie wird, ist das "Licht der großen Kulturprobleme nicht weitergezogen", wenn es um die Verwirklichung von Freiheit geht. Eine Freiheitsidee, fiir die noch Weber, Tocqueville und Rousseau gekämpft haben, gewinnt in einer modernen Welt, die solchen Phänomenen außer einerneuen Behaglichkeit am postmodernen Wertepluralismus noch wenig entgegenzusetzen weiß, an Aktualität. Eine politikwissenschaftliche Grundauffassung indessen, die sich den Verzicht auf praktische Kritik selbstverordnet und sich darauf eingeschossen hat, auf die gestellten Probleme der Freiheit in der modernen Zivilisation in systemtheoretischem Duktus "Strukturdefizite des politischen Systems" zur Verantwortung zu ziehen, die nicht müde wird, auf die funktionalen "lnsuffizienzen von politischen Steuerungsmöglichkeiten" zu verweisen, wird mit ihr wenig anzufangen wissen. Ob politisch-praktische Theorien, wie sie der nordamerikanische Kommunitarismus von Michael J. Sande!, Michael Walzer, Charles Taylor oder Benjamin Barher vorstellen, in der Lage sind, Politik als eine neue praktische Wissenschaft zu begründen, die sich tatsächlich eignet, in die Lücke zu treten, die Geistesgrößen vom Range Max Webers hinterlassen haben, sei dahin gestellt. Hoffimngsvoll stimmt dabei immerhin, daß sich Amerikas politische Geisteswelt fiir Europa schon immer als sehr anregend bewährt hat, wenn es um die Verwirklichung des politischen Ideals der Freiheit ging.

Richard Ford, Der Unabhängigkeitstag, Berlin 1995. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, 6. Auflage, Frankfurt am Main und New York 1996. 15

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2. Jean-Jacques Rousseaus Schriften a) Oeuvres Completes - Les Confessions, Autres Textes, Autobiographiques, OC, Band I, hrsg. von Bemard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris 1959. - La Nouvelle Helolse, Theatre - Poesies, Essais litteraires, OC, Band 2, hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1964. - Du contrat social, Ecrits politiques, OC, Band 3, hrsg. von Bemard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1964. - Emile, Education - Morale - Botanique, OC, Band 4, hrsg. von Bemard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1969.

b) Correspondance - Correspondance complete de Jean-Jacques Rousseau, 49 Bände mit zwei Registerbänden, hrsg. von R. A. Leigh (I. Band, Oxford 1965 - 49. Band, Oxford 1989, Registrierbände: Oxford 1991 und 1995 ). 18 Hecht

274

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3. Deutsche Übersetzungen - Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l'inegalite panni les hommes, Mit sämtlichen Fragmenten und erg. Materialien, neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn, München, Wien, Zürich 1984. - Schriften, 2 Bände, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1987 und 1988. - Kulturkritische und politische Schriften, 2 Bände, hrsg. von Martin Fontius, Berlin 1989. - Korrespondenzen, Eine Auswahl, hrsg. von Winfried Schröder, Leipzig 1992. - Emile oder ober die Erziehung, hrsg. von Martin Rang, Stuttgart 1990. - Julie oder die neue Heloi'se, Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, München 1988. - Bekenntnisse, Frankfurt am Main und Leipzig 1985. - Werke, hrsg. und Obersetzt von Ch. Kunze u.a., Vier Bände, MOnehen 1978f.

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Personenregister Bentham, Jeremy 93, I 02, 178, 206 Achtnich, Susanne 173, 218

Berlioz, Hector 27

Adams, Herbert B. 13

Bismarck, Otto von 192, 243

Adomo, Theodor W. 30

Bloch, Mare 66

d'Aiembert, Jean-Baptiste 61, 99, 146, 186

Blumenberg, Hans 29

Alt, Robert 190

Boesche, Roger 27, 120, 132, 133, 177,252

Altheit, Peter 182

Sonnet, Charles 51

Angermann, Erich 14, 15, 36, 42, 59, 230

Boscowitz, Amold 12

Anter,Andreas41,83,141

Bourdieu, Pierre 85

Arendt, Hannah 36, 79, 167 d 'Argenson, Rene-Louis 24 Aristoteles 38, 57, 131, 141, 182, 199 Aron, Raymond 35 Babeuf,

Fran~ois N.

Bosse, Monika 104 Bracher, Kar! D. 255 Braun, Heinrich 31 Breiner, Peter II, 15, 136, 148, 297 Brentano, Lujo 171

41

Bacon, Francis 38 Balzac, Honore de 73, 77, 96, 120 Barber, Benjamin 257 Baudelaire, Charles 28, 46, 76, 125, 216 Baumgarten, Eduard 28, 40, 88, 90, 139, 159, 250

Breuer, Stefan 41, 77, 229 Briegleb, Klaus 127 Bruyere, Jean de Ia 23 Bryce, James T. 13, 155 Buchheim, Hans 146, 235 ButTon, Georges Louis de 38 Bunyan, John 19, 91, 105 Burckhardt, Jacob 39, 163, 173, 215

Baxter, Richard 19, 124,214

Burgelin, Pierre 98

Beaumont, Christoph de 24

Bums, J. H. 102

Beaumont, Gustave de 27, 33, 65, 66, 133, 153, 157, 169, 177

Cagliostro (Giuseppe Balsamo) 50

Becker, Carl H. 197 Beetham, David II, 166 Benda, J. 23

Calvin, Johann 82, I05, I 06 Carlyle, Thomas 73 Channing, William E. 155

278

Personenregister

Chapman, John W. 202

Forster, Dirk 17

Colli, Giorgio 52 Condillac, Etienne Bonnot de 38

Fourier, Charles 41, 202 Francillon, Roger 150

Condorcet, Marie Jean de 190

Franklin, Benjamin 87ff., 154, 159, 160, 167, 199

Constable, John 123 Corcelle, Francisque 189, 190 Cromberg, Hans Ekhardt 209 Crousaz 183 Crusius, Friedrich 199, 240 Damm, Otto 79 Derathe, Robert 186 Descartes, Rene 90 Dewey, John 159, 250 Diderot, Dennis 21, 50, 87, 100 Diggins, John Patrick II Dupin, Louise-Marie-Madeleine 151 Dux, Günter 255 Eden, Robert 241 Ehrenberg, Hans I 77, 251 Emerson, Ralph Waldo 159 Engels, Friedrich 41, 68, 168

Freund, Dorrit 14, 92, 174, 216, 218, 237 Frist, Adolf 126 Fukuyama, Francis I 09 Fullerton, George 193f. Gall, Lotbar 103 Gebhardt, Winfried 231 f. Geiss, lmanuel33, 102 George, Stefan 216 Gerth, Hans 154 Gneuss, Christian 166 Gobineau, Arthur 248 Goethe, Johann Wolfgang von 20, 126, 142, 214,216 Gohrisch, Christa 37 Goldman, Harvey S. 11 Goldstein, Doris 86 Gomperz, Theodor 135 Gothein, Eberhard 159

Fabian, Eberhard 33, 237

Goya. Francisco de 30

Fallenstein, Fritz 153

Graf, Friedrich-Wilhelm 13

Feldhoff, Jürgen 145 Fenelon, Fran~ois 183 Ferber, Christian von 168 Fetscher, Iring 43, 44, 53, 112 Fikentscher, Irmgard 153 Fisby, David P. 71

Gresset, Jean-Baptiste-Louis 24 Groethuysen, Bernhard 22, 185 Guerin, M. 27 Habermas, Jürgen 114, 139(, 174, 202 Haller, Carl Ludwig von 2 I I

Fischer, H. Karl 13

Hammacher, Emil 106f., 166ff.

Fischer, Hermann von 209

Hardtwig, Wolfgang 79

Flake, Otto 23

Harnack, Adolf213

Flaubert, Gustave 121 FlOckiger, E. 209

Hege[. Georg Wilhelm Friedrich 49, 127, 173

Ford, Richard 257

Heine, Heinrich 127

279

Personenregister Hennis, Wilhelm II, 46, 84, 117, 129, 140, 154, 159, 161, 174, 178, 179 191,212,245 , Henrich, Dieter 166 Hereth, Michael 191 Herkner, Heinrich 41 Hess, Moses 41 Heyd, Michael 117 Hidber, Basilius 209 Hinneberg, Paul 13 Hinrichs, Ernst 78 Hirschman, Albert 108 Hobbes, Thomas 53 102 112, 121, 175, 176, 178 ' , Hobson, Marina 17, 146 Hoddis, Jakob van 139 Hölderlin, Friedrich 126f., 228 d'Holbach, Paul Heinrich Dietrich 87 Holl, Karl 117 Horkheimer, Max 30, 194 Hossenfelder, A. 167 Hufnagel, Gerhard 80, 167, 256 Hulliung, Mark 25, 38, 146 Humboldt, Wilhelm von 178 Hunt, H. L. I 02 lnglehart, Ronald 95 Jaffe, Edgar 31 James, William 117, 155, 159, 228, 250 Jardin, Andre 154, 162, 166, 176 Jaspers, Karl 220 Jaumann, Herbert 85, 183 Jonas, Hans 166f., 256 Jouvenel, Bemard 148 Kahler, Erich von 196 Kapp, Friedrich 154f.

Käsler, Dirk 30, 214 Kateb, George 202 Keith, George 18 Keller, Gottfried I 05 Kemp, Friedhelm 28 Kergorlay, Louis de 39, 120, 143 190 191 . 244 , ' Kiesel, Helmuth 11 Kirchberger, Nikolaus Anton 211 Klages, Ludwig 140 Kocka, Jürgen 166 Köhnke, Klaus Christian 71 König, Rene 142, 163 Koritanskj, John C. 176 Koselleck, Reinhard 25, 44, 58 Kostum, Hans 3 7 Krauss, Wemer 37 Kümberger, Ferdinand 157, 163 La Rochefoucauld,

Fran~ois

de 23

Lamberti, Jean-Ciaude 103, 157 Landshut, Siegfried 39, 168 Lasage. Rene 23 Lasalle, Ferdinand 41 Lassman, Peter 13ff 110, 157, 163 251 ., ' Lawler, Peter A. 111, 179, 234 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 104 Leigh, J. T. A. 17, 146 Leigh, R. A. 17 Leo, Johannes 163, 165 Leontovitsch, Victor 103 Letronne, 190 Levi-Strauss, Claude 85 Lichtblau, Klaus II, 20 Lieber, Francis 177 Lindenlaub, Dieter 168 Lively, Jack 176

280

Personenregister

Locke, John 177, 182, 187, 188, 189, 234,245 Löwenstein, Kar! 142 Löwith, Kar! 166, 195 Luther, Martin 213, 221, 240 Lyotard, Jean-Franfi:ois 40 Madison, Jarnes 177 Malesherbes, Chn!tien Guillaume de Lamoignon de 20fT., 25, 184 Mandeville, Bernard de 23 7 · Mandt, Hella 170 Mann, Golo 14 Mannheim, Kar! 200 Marivaux, Charnblain 24 Martins, Herminio 13 Marx, Kar! 19, 41, 63, 69, 86, 166f., 168 Mason, John Hope 146

Montaigne, Michel de 188 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de Ia Brede et de 23, 25, 80, 151, 173ft'., 181fT. Montinari, Mazzino 52 Montmorency-Luxembourg, Francois-Frederic de 152

Charles-

Mosca. Gaetano 155 Müller, Hans Peter 125 Münch, Richard 182, 202 Münsterberg, Hans 154 Musil, Robert 123f., 126 Nautet, Jacques 178 Nietzsche, Friedrich 37, 52, 76, 86, 92, 97, I I I, 126, 128ff., 133, 161 , 164, 170, 173, 196,214 Nipperdey, Thomas 246 Novalis (Georg Phitipp Friedrich Leopold von Hardenberg) 113

Massillon, 23 Masters, Roger D. 22, 51, 147f. Maier, Hans 157 Mayer, Jacob P. 12, 17, 174 Meier, Heinrich 18, 25, 51, 53, 198

Oelckers, Theodor I 7 Offe, Claus 166 Offenbacher, Martin 159 d'Offreville 180

Melville, Ralph 14

Oldenburg, Karl 42

Merquior, J. G. 15

Ostrogorsky, Moisei 155

Metraux, Hans 209

Ostwald, Wilhelm 172

Meyer, Eduard 136, 181 Meyer, Martin 236

Pennock, J. Roland 202

Michelet, Jules I 04, II 0

Peukert, Detlev J. K. 140, 173, 252

Michels, Robert 155, 251

Pichois, C. 28

Mignet, Franfi:ois Auguste 123 Mill, John Stuart 93, I I 0, I I I. I 14, I 18, 121 , 134, 141, 144, 162, 164, 182, 187, 197, 199,200, 206f., 216, 217,219f.,234

Pierson, George W. 33, 153, 157, 178f. Pisa. Kar! 38 Platon 57, 108f., 147, 195 Poe, Edgar Allen I 04

Mirabeau, Victor Riqueti, Marquis de 112, 175, 190

Porter. Dennis 37

Mitchell, Harvey 43, 148

Pufendorf, Sarnuel 55

Mommsen, Wolgang J. II , 143, 153, 159f., I 73, 200, 230, 251

Prevost d' Exiles, Antoine-Franfi:ois 24

Personenregister Quesnay, Frant;ois 190

281

Schmidt, Jochen 127, 161 Schmoller, Gustav 155

Rachfahl, Felix 13

Schön, Manfred 13

Rang, Martin 38, 97, 183ff., 188f., 227

Schopenhauer, Arthur 196

Rau, Hans Amold 65

Schröder, Winfried 18

Rausch, Heinz 157, 174,216

Schulze, Gerhard 257

Reeve, Henry 27

Schunck, Peter 23

Reeves, Richard 153

Schwarz, Franz F. 182

Rehberg, Kari-Siegbert 85

Schwentker, Wolfgang II , 143

Rey, Mare-Michel 18

Sennett, Richard 79, 120

Ribbat, Christoph I 08

Shils, Edward 231 f.

Richardson, Samuel 22

Simmel, Georg 7lff., 86, 91f., 109, 115f., 125, 129, 130

Richner, Felix 209 Richter, Eugen 242 Riklin, Alois 176 Ringer, Fritz K. 39f., 166 Ritter, Henning 17, 20f., 38, 85 Röhrs, Hermann 183 Rollin, 183 Rosselet, Friedrich 210 Roth, Günther 139 Royer-Collard, Pierre Paul 65, 118f., 123 Rudhard, Birgit 12f. Ruge, Amold 41 Saint Pierre, Charles-ln!nee Castel, Abbe de 23, 36 Salomon, Albert 35, 38, 65, 67, 94, 111, 120, 132, 144, 169, 179, 180, 218,221,234, 237,244,247,256 Salz, Arthur 196 Sandel, Michael 257 Sartori, Giovanni 33 Scaff, Lawrence 137, 161 , 164 Scheler, Max 194f., 196

Smith, Adam 173, 180 Sombart, Wemer Jl, 126, 156, 166, 212 Spengler, Oswald 43, 45 Spranger, Eduard 196 Stat!l, Gerrnaine de 27, 104 Stagl, Justin 174 Steinvorth, Ulrich 43 Stendhal (Marie Henry Beyle) 26f., 132 Stemberger, Dolf 167 Stoffels, Eugene 35 Strahm. Hans 209 Strauss, Leo 25, 42, 49, 52f., 85, 112, 245,246 Swetchine, 95f.

Anne-Sophie

SoYmonot

Taine, Hypolyte 23 Taylor, Charles 257 Tenbruck, Friedrich 48, 136 Tocqueville, Edouard de 27 Tocqueville, Herve de 26

Schinz, Alfred 185

Tolstoi, Leo 127

Schleifer, James T. 30, 33, 153, 177, 247

Trachsel, Hans 209

Schluchter, Wolfgang 46, 48, 166

Troeltsch, Ernst 13, 153, 220f.

Tönnies. Ferdinand 68

282

Personenregister

Tronchin, Jean Robert 147, 149, 188

Weber, Marianne 12f., 153, 163, 199

Tscharner, Daniel 209ff.

Weber-Schäfer, Max 12, 41, 68, 153, 232

Turgot, Anne Robert Jacques 190 Turner, Bryan S. 40, 166 Turner, William 139 Tyrell, Hartmann 86, I08 Vargas, Yves 183 Veblen, Thorstein 91, 158, 163,214 Vigny, Alfred 104 Villard, Henry 139 Voltaire 17, 24f., 52, 117 Voßkamp, Wilhelm 183 Vossler, Otto 12, 36, 45, 50, 52, 148, 175, 181,245 Waas, Lothar 25, 224 Wäber, Harald J. 209,211 Wagner, Gerhard 43, 136 Walzer, Michael 257 Weber, Helene 232

Weiß, Johannes 148 Weiss, Leo 209 Welsch, Wolfgang 38 White, Hayden 20, 43, 157f., 173f., 178 Wielhorski, Michael 207, 209 Wilde, Oscar 216 Winckelmann, Johannes 17, 105, 142, 161, 163 Wokler, Robert 17, 146 Wolf, Reinhold 22 Wolfram, Richard 208ff. Wyss, David von 209f. Wyss, Robert L. 209 Zetterbaum, Marvin 176 Zipprian, Heinz 43, 136