Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883 9783657784189, 9783506784186

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Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883
 9783657784189, 9783506784186

Table of contents :
Moderne Muslime: Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883
Inhalt
Der lange Schatten einer Debatte des 19. Jahrhunderts
„Der Islam und Europa“ in der globalen Moderne: Eine verwickelte Geschichte
Ein Priester der Wissenschaft am Reißbrett der Geschichte: Ernest Renan
Agent und Wanderprediger der umma: Dschamal al-Din al-Afghani
Die Nationalisierung des Islam: Namık Kemal
Dialektischer Theologe des Islam in Russland: Ataullah Bajazitov
(K)eine unendliche Debatte
Die Texte
Ernest Renan: Der Islam und die Wissenschaft
Dschamal al-Din al-Afghani: Kritik
Ernest Renan: Erwiderung
Namık Kemal: Die Verteidigung des Islam gegen Renan
Ataullah Bajazitov: Eine Erwiderung auf Ernest Renans Rede „Der Islam und die Wissenschaft“
Anmerkungen
Glossar
Danksagung
Editorische Notiz
Literatur
Register

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Birgit Schäbler Moderne Muslime

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Birgit Schäbler

Moderne Muslime Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883

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Coverbilder: Wikimedia Commons

Die Autorin: Birgit Schäbler ist Professorin für die Geschichte Westasiens an der Universität Erfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Nora Krull, Bielefeld Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-78418-6

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Inhalt Der lange Schatten einer Debatte des 19. Jahrhunderts . . .

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„Der Islam und Europa“ in der globalen Moderne: Eine verwickelte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Priester der Wissenschaft am Reißbrett der Geschichte: Ernest Renan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Agent und Wanderprediger der umma: Dschamal al-Din al-Afghani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Nationalisierung des Islam: Namık Kemal . . . . . . . . .

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Dialektischer Theologe des Islam in Russland: Ataullah Bajazitov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (K)eine unendliche Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Die Texte Ernest Renan: Der Islam und die Wissenschaft . . . . . . . . . 133 Dschamal al-Din al-Afghani: Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ernest Renan: Erwiderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Namık Kemal: Die Verteidigung des Islam gegen Renan . . 167 Ataullah Bajazitov: Eine Erwiderung auf Ernest Renans Rede „Der Islam und die Wissenschaft“ . . . . . . . . . . . . . . 205 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Danksagung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

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Inhalt

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

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Der lange Schatten einer Debatte des 19. Jahrhunderts Am 29. März 1883 hielt der Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan, Mitglied der Académie française, an der Sorbonne einen Vortrag über das Verhältnis des Islams zur Wissenschaft. Der Vortrag löste eine Kontroverse aus, die sich von Paris nach Osten ausbreitete – bis ins Osmanische Reich, nach St. Petersburg und darüber hinaus. Gelehrte Muslime sahen sich dazu herausgefordert, ihrerseits zur Feder zu greifen und die Thesen des Monsieur Renan empört und engagiert zurückzuweisen. Die Sprengkraft dieser intellektuellen Begegnung war so groß, dass ihre Spuren bis heute nachwirken. Tatsächlich ist sie so aktuell, dass die ganze Geschichte auch heute stattfinden könnte – nur dass sich heute solche Reaktionen nicht mehr auf die Schreibstuben der Gelehrten und Intellektuellen beschränken und die Empörung mittlerweile in Wut und Gewalt umgeschlagen ist. Wer war Ernest Renan? Wer waren seine wichtigsten Kontrahenten in diesem Disput? Und was war damals an diesem Vortrag so explosiv? Dieses Buch stellt erstmals Ernest Renans Verhältnis zum Islam und den Muslimen kritisch vor. Es dokumentiert die damalige Debatte über die bisher bekannten Beiträge hinaus und stellt ihre Teilnehmer und deren Argumente in den historischen Kontext. Die berühmte Diskussion, die mit Ernest Renan (18231892) und Dschamal al-Din al-Afghani (1838-1897) in Paris begann, ist hierzulande kaum bekannt. Dafür ist sie aber umso berühmter im Orient. Sie wurde fortgesetzt von Namık Kemal (1840-1888) und Ataullah Bajazitov (1846-1911), die die wichtigsten weiteren Entgegnungen verfassten. Noch nie sind die Texte dieser Kontrahenten gemeinsam vorgestellt und einer westlichen Leserschaft im Wortlaut zugänglich gemacht worden.1 Dies aber ist heute wichtiger denn je, da die Beziehungen zwischen Europa und der islamischen Welt in vielerlei Hinsicht an einem Tiefpunkt angelangt sind, an dem extreme Meinungen und Haltungen auf beiden Seiten zu verzeichnen sind. Es erscheint also geraten, sich das ausgehende 19. Jahrhundert, diese wichtige Zeitspanne in der langen und wechselvollen Beziehungsgeschichte

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Der lange Schatten einer Debatte

zwischen Europa und dem Orient, zu vergegenwärtigen und auch die Anderen zu Wort kommen zu lassen, die in Europa damals wenig gehört wurden und auch heute nur selten gehört werden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schuf das gelehrte Europa, das „Wissenschaft“ als Quintessenz der Moderne für sich beanspruchte, auch ein Wissen, das „die Anderen“, die Nicht-Europäer, die nichtchristlichen Religionen, aus dem Fortschritt, aus der „Geschichte der zivilisierten Nationen“, aus der Moderne „herausschrieb“, ihnen unterstellte, dass sie nicht dazugehörten. Dies geschah vor allem in den entstehenden Geisteswissenschaften (der Geschichtswissenschaft, Religionsgeschichte, den Literatur- und Sprachwissenschaften, den Philologien der orientalischen Sprachen). Europa versuchte sich in Abgrenzung zu anderen Weltregionen selbst zu finden und erfand dabei seine Ursprünge mehr als dass es sie fand. Der Orient aber konnte trotz der Defensive, in die er gegenüber Europa geraten war, selbst auf eine große Geschichte zurückschauen, während derer gerade die Wissenschaften denjenigen in Europa lange weit voraus gewesen waren, auch wenn das schon eine Weile her war. Zudem versuchten die Intellektuellen im Orient seit Mitte des 19. Jahrhunderts an die alten Errungenschaften und Erfolge jener Blütezeit nicht nur der Wissenschaften wieder anzuknüpfen. Auch sie betrieben also eine Art Selbstvergewisserung, ähnlich den Intellektuellen in Europa, nur unter anderen, gleichsam entgegengesetzten Vorzeichen. Die Thesen Renans über die Araber, den Islam und seine Unvereinbarkeit mit der Wissenschaft – sprich: der Moderne – trafen sie also ins Mark. Ihre Antworten spiegeln dies wider. Renan selbst fand sich bei dieser Debatte in illustrer Gesellschaft wieder – und seine Gegner hatten gute, vielfach auch die besseren Argumente. Ihre Entgegnungen zeigen, dass sich hier Kontrahenten gegenüberstanden, die vieles gemeinsam hatten. Sie gehörten allesamt zu einer neuen Art von Wissenselite. Sie alle versuchten, die Religion mit der Moderne in Einklang zu bringen. Sie alle suchten ihre Gesellschaften zu reformieren. Sie waren fast alle mit der geistigen oder weltlichen Obrigkeit in Konflikt geraten. Sie arbeiteten sich alle an den gleichen Themen ab und sie sprachen insofern dieselbe Sprache. Alle waren sie „Apostel der Moderne“. Dabei gaben die muslimischen Entgegnungen auf Renan unterschiedliche Antworten auf seinen Versuch, die Araber und den

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Islam aus der Moderne herauszuschreiben und sie in ein imaginäres „Vorzimmer der Geschichte“ (so der indische Historiker Dipesh Chakrabarty) zu verweisen. Dies war die erste Generation moderner islamischer Denker, die jene Herausforderungen, die durch die Expansion Europas entstanden waren, aufnahmen, indem sie einen modernen Islam erstrebten, der sich von seinen Traditionen löste. Damit schufen sie die Voraussetzungen für Entwicklungen, die wir heute sehen. Die Geschichte dieser ersten modernen Islamdebatte (christlich-muslimische Polemiken gab es seit dem Mittelalter) ist damit ein Paradebeispiel für die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen „dem Islam“ und dem „Westen“, wie wir sie heute erleben. Sie zeigt, wie zunächst europäische Gelehrte durch ihre Behauptungen und Zuschreibungen den Islam „islamisierten“ und ihn zur absoluten Differenz zu Europa stilisierten. Von Europa enttäuscht griffen muslimische Intellektuelle diese Distanzierung und Ausgrenzung auf und grenzten sich ihrerseits durch Bezugnahme auf den Islam von Europa ab. Damit verschärften sich Differenz und Auseinandersetzung. Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, ist damit auch ein Lehrstück über die Beziehungen und Verstrickungen zwischen Europa und dem Orient in der globalen Moderne. Sie dauern bis heute an. Die Debatte ist noch nicht zu Ende.

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„Der Islam und Europa“ in der globalen Moderne: Eine verwickelte Geschichte Europa und der Orient haben eine lange, gemeinsame Geschichte. Dies scheint heute vielfach in Vergessenheit geraten zu sein. Orient und Okzident, Morgenland und Abendland sind in der Imagination der Europäer seit Jahrhunderten miteinander verwoben. Die Hochkulturen im östlichen Mittelmeer – Ägypten, Palästina, Griechenland – gelten als der Ursprung der Zivilisation des Abendlandes. Als das Römische Reich in der Antike geteilt wurde, entstanden auf seinem Boden eine römisch-lateinische Westhälfte und eine griechisch-orthodoxe Osthälfte, die Westasien und Ägypten umfasste und „Oriens“ genannt wurde. Dort entstand im 7. Jahrhundert der Islam, durch den sich das christliche Abendland herausgefordert fühlte. Muslime wurden erst als „Sarazenen“ (Araber) bekannt, dann als Türken (Osmanen) gefürchtet. Die lange Geschichte zwischen Europa und dem Orient war eine wechselvolle, aber selbst in diesen wenigen Begriffen schwingt noch etwas von der Faszination mit, der Goethe 1819 in der Gedichtsammlung West-östlicher Diwan diesen Ausdruck verlieh: „Wer sich selbst und andere kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen.“ Man sprach bis ins 19. und noch 20. Jahrhundert hinein nicht von „Europa und dem Islam“. Offensichtlich gab es eine Vorstellung davon, dass es sich bei Europa und dem Orient um zwei Weltregionen, zwei Weltkulturen oder, wie man es lange ausdrückte, zwei „Zivilisationen“ handelte, die zwar von Religionen geprägt, aber nicht mit diesen Religionen gleichzusetzen waren. Das hat sich geändert. Heute ist die Rede vom „Islam und dem Westen“ und zugespitzt vom „Islam und der Moderne“. Eine Weltregion wird mit der Religion eins gesetzt, die andere mit der Moderne gleich gesetzt. Dabei fungiert der Islam dann als Inbegriff der Anti-Moderne oder zumindest der Vormoderne. Im Islam habe es keine Reformation gegeben, im Orient keine Aufklärung, heißt es in der gegenwärtigen Islamdebatte oft, wobei die

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rhetorische Frage mitschwingt, wie lange wir darauf wohl noch warten müssen. Der Islam kenne keine Unterscheidung zwischen Religion und Staat oder Gesellschaft – in dieser Aussage herrscht bei großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit seltene Einigkeit mit Islamisten und Fundamentalisten. Dass es sehr verschiedene Strömungen im Islam gibt, ebenso wie im Christentum, ja, dass es „normale Muslime“ gibt, die ihren Glauben mehr oder weniger fromm leben, ebenso wie Christen es tun, geht in dieser Debatte weitgehend unter. Der Islam sei in toto fortschritts- und wissenschaftsfeindlich wird behauptet. Diese Debatten sind nicht neu. Sie haben eine Vorgeschichte, die man kennen sollte, wenn man die gegenwärtige Krise zwischen Europa und der muslimischen Welt verstehen will. Denn der Tiefpunkt, den die Beziehung zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ erreicht hat und der Ausdruck einer tiefen Krise ist, hat nichts mit einem islamischen Mangel an Moderne zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Der Islam und seine Beziehungen zum Westen heute sind ein Ergebnis der Moderne. Darum soll es gehen: Um die erste moderne Islamdebatte, eine transregionale und transkulturelle Auseinandersetzung zwischen „Europa“ und „den Muslimen“, die als Musterfall für die Herausbildung des modernen Islam auf der einen Seite und bestimmten Vorstellungen vom Islam als unfähig zur Moderne auf der anderen Seite gelten kann. In unserem Fall geht es konkret um Frankreich, weil die Debatte in Frankreich ihren Ausgang nahm. Ähnliche Positionen wurden aber auch im Rest Europas vertreten. Frankreich, das Land der Aufklärungsphilosophen und der Revolution, sah sich im 19. Jahrhundert als fortschrittlichste Zivilisation der Welt, als Pionierin der Moderne, und wurde weltweit, vor allem auch im Orient als solche bewundert. Auch England brachte seinerseits maßgebliche Erfindungen und Entdeckungen hervor, die zur industriellen Revolution führten, einem historischen Prozess, der wiederum eine ungeheure Veränderung und Beschleunigung (in) der Geschichte bewirkte. Die Mischung aus Kapitalismus, „Zivilisation“ und militärischer Gewalt, mit der vor allem diese beiden europäischen Großmächte den Vorderen Orient (Westasien) überzogen, kulminierte in den 1880er Jahren. Dies war der Höhepunkt des Imperialismus, die imperiale oder koloniale Phase der globalen Moderne.

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Die Moderne ist ein komplexes Phänomen. Es gibt zahlreiche Theorien, die sie zu erklären versuchen. Historiker haben vorgeschlagen, sie als eine Epoche zu betrachten, die in Etappen oder Stufen verlaufen ist und mit der Reformation einsetzt.1 In diesem Buch interessiert uns vor allem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Etappe des „langen“ 19. Jahrhunderts, die aus europäischer Perspektive von Eric Hobsbawm als „imperiales Zeitalter“ (1875 bis 1914) bezeichnet wurde. Aus der Perspektive des Vorderen Orients kann man diese Zeit als Phase der „Enttäuschung und Rückbesinnung“ beschreiben. In der globalen Moderne korrespondieren diese Phasen: aus westlicher Sicht die imperiale, aus nah-östlicher Sicht die koloniale Moderne. Denn im Gegensatz zu nationalen oder europäischen Deutungen der Moderne (und ihrer Geschichte) hat spätestens die Globalisierung, die seit den 1990er Jahren ins allgemeine Bewusstsein rückte, gelehrt, dass sich die Geschichte weder der europäischen Nationen noch der Weltregion Europa abgeschlossen, gleichsam in einer splendid isolation, vollzogen hat, sondern in einer mit den außereuropäischen Weltregionen verwobenen, oftmals verwickelten Art und Weise. Dies gilt auch schon und ganz besonders für das ausgehende 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der „triumphierenden Moderne“ (so der französische Soziologe Alain Touraine), das durch Beschleunigung und rasante Veränderung gekennzeichnet ist. Aus der Perspektive der Globalgeschichte ist die Moderne nicht mehr „eine homogene Kraft, die vom Okzident aus weltweit ausstrahlt in alle früheren und traditionellen Kulturen“, wie es ein populäres französisches Lexikon noch definiert.2 Gerade in Frankreich sah man sich im 19. Jahrhundert als die Erben von Aufklärung und Revolution, die mit der Tradition brechen und etwas radikal Neues an die Stelle der Tradition setzen wollten. Wie wir wissen, war dies ein Prozess, der von immensen Verwerfungen und großer Gewalt begleitet war. Dieser europäische Anspruch auf die Moderne ist daher seit den 1970er Jahren massiv in die Kritik geraten, auch in Europa selbst. Denn die Moderne ist ein kompliziertes Phänomen. Sie ist mehr Anspruch als Wirklichkeit. Die klassische philosophische Konzeption definiert die Moderne als den „Triumph der Vernunft“. Die klassische sozialwissenschaftliche Definition versteht sie als „Befreiung des Menschen“.

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Für Alain Touraine ist die Geschichte der Moderne ein Spannungsverhältnis zwischen den Kräften der Vernunft und den Kräften des widerständigen Subjekts, das sich verwirklichen will, zwischen Rationalität und Kreativität, zwischen Rationalismus und Subjektivität. Die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Westeuropa verband diese widerstreitenden Kräfte in spannungsreicher Weise, beanspruchte für sich aber bereits den Triumph der Vernunft und des Fortschritts, als sei die Ausrufung dieser Projekte identisch mit ihrer Realisierung.3 Diese Gesellschaft expandierte in die Welt. Mit dieser Gesellschaft waren die Intellektuellen der muslimischen Welt konfrontiert. Der Philosoph Stephen Toulmin hat in seinem Buch Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne meisterhaft die Grundlagen der modernen Wissenschaft, wie sie vor allem von René Descartes im 17. Jahrhundert gelegt wurden, in den Kontext jener Zeit gestellt und den „Triumph des rationalen Denkens“ als ein Ergebnis traumatischer Erfahrungen in Descartes‘ Jugendzeit dargestellt, die von der Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. und dem Dreißigjährigen Krieg geprägt war.4 In Zeitläuften, die allem menschlich Fassbaren entglitten waren, rettete er sich in das abstrakte Reich des kognitiven Denkens und der strengen Methode – von einem strahlenden Triumph der Rationalität ganz aus sich selbst heraus kann also auch in Europa keine Rede sein. Gemäß der klassischen Definition von Moderne verkörpert und exportiert sie Westeuropa, hier vor allem Frankreich. Alle anderen Weltregionen sind Empfänger, von denen erwartet wird, dass sie sich nach dem Vorbild Europas mehr oder weniger schnell modernisieren. Die Modernisierungstheorien, die diese Sicht untermauerten, wurden in den 1950er/1960er Jahren formuliert und erwarteten optimistisch, dass sich die Weltregionen im Laufe der Zeit, oder im Zuge dessen, was später Globalisierung genannt wurde, aneinander angleichen würden und dass vor allem der Prozess der Säkularisierung die Religion weiter verdrängen würde. Doch abgesehen von gewissen globalen Konsumgewohnheiten hat sich dies nicht bewahrheitet, und die Religion blieb nicht nur erhalten, sondern wurde in der Epoche der Globalisierung sogar gestärkt. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass das vielleicht einflussreichste Konzept für eine neue, alternative Deutung der Moderne

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von jemandem entwickelt worden ist, der einerseits früher an der Entwicklung von Modernisierungstheorien beteiligt gewesen war und andererseits selbst im Nahen Osten lebte. Der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt entwickelte das Konzept der „Vielfalt der Moderne“ Ende der 1990er Jahre aus seiner Kritik an den klassischen Modernisierungstheorien als Gegenentwurf zur Rede vom „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntingtons clash of civilizations) und dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Eine neue Diskussion der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers) anstoßend verlegte er diese auf die Zeit von 500 v. Chr. bis zum Aufstieg des Islam und postulierte die prinzipielle Gleichwertigkeit der in der Achsenzeit entstandenen, historisch verschieden verlaufenen Entwicklungswege der Kulturen.5 Außerdem sieht Eisenstadt im Fundamentalismus eine moderne Bewegung gegen die Moderne. Der Anstoß zur Debatte um die „Vielfalt der Moderne“, der von ihm und anderen vor fast 20 Jahren in zwei Ausgaben der amerikanischen Zeitschrift Daedalus gegeben wurde, war immens wichtig.6 Eisenstadts Konzept „multipler Modernitäten“ krankt aber daran, dass es summarisch und nicht verschränkt angelegt ist – die globale Moderne wird gewissermaßen nur als die Summe aller Modernen gesehen, und nicht als das Ergebnis geteilter und miteinander verflochtener Prozesse. Die verwobene, verwickelte, miteinander geteilte Geschichte kann jedoch nur in einer miteinander geteilten, globalen Moderne gedacht werden. Damit wäre auch bezeichnet, um welche Art der Geschichtsschreibung es im vorliegenden Buch gehen soll: Es geht um einen Beitrag zur Globalgeschichte, wie sie eine weltregional verstandene Geschichte Westasiens (neudeutsch: Area History) unternehmen kann.7

Der Blick auf „die Anderen“ In der von Toulmin entlarvten Selbstsicht Europas als Verkörperung der Moderne, in der rationales Denken, Vernunft und Fortschritt dominieren, kommen „die Anderen“, die nicht-westlichen Weltregionen und Kulturen, vor allem als Projektionsfläche vor, auf die die verdrängten und abgespaltenen Elemente, die die Eu-

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ropäer (und Nordamerikaner) bei sich selbst nicht gerne wahrnehmen, projiziert werden: Fanatismus, Rückständigkeit, Gewalt. Dies betrifft alle Kulturen außerhalb Europas, aber vielleicht in besonderer Weise seine nächste Nachbarregion, den Orient. Edward Said hat den Begriff „Orientalismus“ für diese Zuschreibungen und Projektionen geprägt.8 Seine These muss heute zwar selbst historisiert werden, aber ihr Kern und die erkenntnistheoretische Herausforderung, die darin liegt, sind immer noch aktuell. Said ist (nachträglich) zum Stammvater der postkolonialen Studien erklärt worden, einer intellektuellen Bewegung, die die eurozentrische Sicht auf das 19. und 20. Jahrhundert zurechtrücken will.9 Für Edward Said war Ernest Renan eine der wichtigsten Gestalten, die an der „Orientalisierung“ des Orients mitwirkten – allerdings spricht Said vieles von dem, was im vorliegenden Buch thematisiert wird, gar nicht an, vor allen den Islam. Es ist gegen Saids Kritik eingewendet worden, dass Renan gar kein echter Orientalist gewesen sei, sondern ein Bibelforscher und Religionshistoriker, der fachlich nicht anerkannt gewesen sei. Saids Kritik gehe deshalb ins Leere.10 Letztlich wird umgekehrt ein Schuh daraus: Gerade weil Renan nicht nur Gelehrter, sondern vor allem Feuilletonist und Autor ungeheuer populärer Werke wie das Leben Jesu war, erzielte er mit seinen antisemitischen Thesen sehr viel mehr öffentliche Wirkung als die Fachgelehrten.11 Die Debatte mit den Muslimen, um die es in diesem Buch geht, zeigt, wie weit über die Grenzen Europas hinaus Renan gelesen wurde und wie virulent er war. Einige seiner „fixen Ideen“ finden sich bei Islamkritikern bis heute. Die Debatte, um die es hier geht, war nicht nur die erste moderne Islamdebatte zwischen „Europa und den Muslimen“, sie ist auch beispielgebend für die gegenseitigen Fehlwahrnehmungen, die bis heute andauern. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft schrieb Renan natürlich vor dem Horizont seiner Zeit. Die großen Umwälzungen, die die französische und die industrielle Revolution in Europa hervorriefen, führten auch in den europäischen Gesellschaften zu Verwerfungen und Unsicherheiten, trotz aller Triumphe. Der „Rest Europas“ wurde genauso in den Strudel der sich beschleunigt globalisierenden Welt gezogen, wie dies für den „Rest der Welt“ außerhalb Europas (und Nordamerikas) galt. Auch „Euro-

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pa“ trat in eine Phase der Selbstvergewisserung ein, in der Gelehrte und Intellektuelle versuchten, sich selbst und ihren Gesellschaften die sich rasant verändernden Lebenswelten zu erklären. Auch die ungeheuren Erfolge in den Bereichen der Technisierung und Industrialisierung wollten begleitet und mit Sinn gefüllt werden. Dafür fühlten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr die entstehenden Geisteswissenschaften zuständig. Zivilisationskritik am „seelenlosen Materialismus“, den der Kapitalismus mit sich brachte, war dabei ein Thema. Vor allem aber suchte man auf einer neuen, nachbiblischen Basis nach den „Ursprüngen“ und Anfängen Europas und der Menschheit. Wer so viel Erfolg hatte, wie teuer auch immer dieser erkauft wurde, denkt man an die Lage der arbeitenden Klassen oder an den Raubbau, der an der Natur betrieben wurde, der musste doch etwas ganz Besonderes sein, allen anderen Zivilisationen weit überlegen. Die Abkopplung (West-)Europas von der restlichen Welt und sein Weg zu ihrer Beherrschung hatte vielfach einen Dünkel zur Folge, der diese Selbstvergewisserung und Suche nach den eigenen Ursprüngen begleitete. Die triumphierende Geste der Überlegenheit wurde den gelehrten Erklärungsversuchen gleichsam unterlegt und bildete in der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften einen bräunlichen Bodensatz, der bis heute seine Fruchtbarkeit nicht verloren hat. In ihm lauert eines der Gespenster der Moderne. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schuf das gelehrte Europa, das „Wissenschaft“ als Quintessenz der Moderne für sich beanspruchte, auch ein Wissen, das „die Anderen“, die Nicht-Europäer, die nicht-christlichen Religionen, aus dem Fortschritt, aus der „Geschichte der zivilisierten Nationen“, aus der Moderne „herausschrieb“ und von ihr ausschloss. Die historischen und philologischen Wissenschaften, die sich mit den Ursprüngen der Sprachen, Mythologien und Völker beschäftigten, schlossen aus den Sprachen und Mythen auf die geistigen Strukturen von „Rassen“ (das „Genie“ der Völker). Dies führte zu „gelehrten Mythen, Fabeln, Fantasien“, über die man heute nur den Kopf schütteln kann.12

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Verbannt ins Vorzimmer der Geschichte? Die arabisch-islamische Welt hatte ihrerseits über Jahrhunderte das „vergessene“ Wissen der Antike bewahrt und weiterentwickelt, ehe es das lateinische Mittelalter seinerseits wieder aufnahm und weiterentwickelte.13 Renan erkannte dies nicht an. Die neuen Intellektuellen hingegen, die sich im Orient zu Wort meldeten, versuchten an diese alten Errungenschaften wieder anzuknüpfen. Die militärische und technische Überlegenheit Europas machten ihnen die eigene Unterlegenheit als „Zurückgebliebenheit“ schmerzlich deutlich. Angesichts der kolonialen Ambitionen der Großmächte stellte deren Überlegenheit eine Gefahr für die Länder des Ostens dar. 1881, zwei Jahre vor Renans Vortrag, war in Istanbul, der Metropole des Osmanischen Reiches, eine internationale Zwangs-Schuldenverwaltung eingerichtet worden, die das Reich zunehmend auch politisch entmündigte, 1882 hatten die Briten Ägypten besetzt, 1881 die Franzosen Tunesien. Für die Eliten im Orient war dies ein bitteres Erwachen. Bis dahin hatten sie am Fortschrittsdenken der Moderne euphorisch teilgenommen. Nun aber setzte Enttäuschung ein, der Neuorientierung durch Rückbesinnung und die Suche nach der eigenen Authentizität folgten.14 Auch diese Intellektuellen betrieben also wie die Europäer eine Art Selbstvergewisserung, nur unter anderen, entgegengesetzten Vorzeichen: Sie suchten die „Krankheit“ zu heilen und die „Dekadenz“ aufzuhalten, die sie in ihren Gesellschaften sahen. Aus heutiger Perspektive stellt sich diese Selbstsicht durchaus problematisch dar. Der Dynamik immer neuer technologischer Errungenschaften Europas und Nordamerikas und ihres Siegeszuges über den Globus konnte keine andere Weltregion zunächst etwas entgegensetzen. Die neuen Intellektuellen im Orient unterschieden sich von den traditionellen Rechtsgelehrten des Islam gerade dadurch, dass sie diese und die Form des Wissens (fiqh), die sie vertraten, als veraltete Tradition abstempelten. Der Fachausdruck für die Methode, sich an den Rechtswerken früherer Rechtsgelehrter zu orientieren, um zu einem Rechtsgutachten oder Urteil darüber zu gelangen, welches Verhalten für Muslime geboten ist, wird mit dem Begriff „Tradition“ (taqlid) ausgedrückt. Der Fachausdruck, der die Methode des freieren Räsonierens bezeichnete, um zu solch einem Ergebnis zu gelangen, war idschtihad, die (begrenzt) selbstständige

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Interpretation der Schriften (Koran und Prophetenüberlieferungen) und Rechtswerke, zumeist durch einen Analogieschluss (qiyas). Die neuen Intellektuellen spitzten diese Begriffe zu. Sie meinten mit „Tradition“ nunmehr „blinde Nachahmung“ und stellten dieser den aktiven Gebrauch der eigenen Urteilskraft gegenüber, was eine Abwertung der Tradition und eine Ausweitung und Aufwertung des idschtihad bedeutete. Sie zielten damit gegen die Autorität der Rechtsgelehrten, denen sie vorwarfen, die Muslime in Unmündigkeit zu halten. Auch andere theologische Begriffe wie „Erneuerung (des Glaubens)“ und „Reform“ wurden von den Intellektuellen neu gedeutet: als Erneuerung und Reform im politischen und sozialen Sinne, auf der Basis der Vernunft.15 In dieses Denksystem konnten sie auch die klassischen Konzepte der europäischen Aufklärung wie „Freiheit“, „Nation“ und „Souveränität“ umstandslos einarbeiten. Deshalb traf es diese neuen Intellektuellen gewissermaßen mitten ins Herz, als Renan 1883 in Paris vor gelehrtem Publikum darlegte, dass es in der arabisch-islamischen Zivilisation keine Wissenschaft gegeben habe, weil der Islam mit der Wissenschaft unvereinbar sei und Muslime Hass auf die Wissenschaft empfänden. Renans Texte sind ein klassisches Beispiel dafür, wie ein Europäer die Araber und den Islam in ein imaginäres „Vorzimmer der Geschichte“ verweist und ihnen mit erhobenem Zeigefinger und einem Augenzwinkern bedeutet, dass sie dort so lange warten müssten, bis sie sich erfolgreich nach dem Vorbild Europas modernisiert hätten. Vor allem betraf dies die Religion. Erst wenn der Islam grundlegende Veränderungen durchgemacht habe wie sie der deutsche Protestantismus kenne, so schien er zu denken, könne der Islam ein neues Verhältnis zur Philosophie und zur Wissenschaft gewinnen, die ihn mit der Moderne vereinbar machten – ein Programm, das auch das katholische Frankreich noch nicht absolviert hatte. Nur wenn der Islam dazu in der Lage sei, was Renan jedoch zu bezweifeln schien, könne man ihn aus dem Vorzimmer hereinrufen. Mit dieser Meinung stand Renan nicht allein. Er teilte sie mit etlichen anderen Wissenschaftlern. Und auch die muslimischen Intellektuellen schauten auf den Protestantismus. Aber vor allem in Kombination mit seiner entschiedenen Rasselehre, die oft übersehen wird, postulierte Renan eine Geschichts-

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auffassung, in der die Araber und der Islam gleichsam in der Wüste der Arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts eingesperrt werden. Das „Vorzimmer der Geschichte“ ähnelt also einer Zelle mit verriegelter Tür. Egal wie viele Jahrhunderte vergangen waren: Renan sah sowohl in den Arabern als auch den Muslimen seiner Zeit die alten Araber und ersten Muslime der Weltgeschichte und im Osmanischen Reich die noch weiter „degenerierte“ „islamische“ Herrschaft der „Türken“. Diese Kombination erst macht seine Ansichten bis heute so virulent. Hinzu kommt der Umstand, dass er kein strenger Gelehrter war, der im Elfenbeinturm für andere Gelehrte schrieb, sondern einer, den es von Anfang an in die Öffentlichkeit drängte. Er sah seine „Wissenschaft“ durchaus als moralische Orientierung für die Gesellschaft seiner Zeit. Es steckte bis zuletzt ein Priester (allerdings in anderem Gewand) in Renan. Ironischerweise, und das macht die Debatte, deren Geschichte wir hier nachzeichnen wollen, so paradox, nahm auch Renans erster Widerpart, Dschamal ad-Din al-Afghani, Bezug auf Luther. Und auch die modernen Intellektuellen der islamischen Welt des 19. Jahrhunderts bezogen sich wie Renan auf die ersten Muslime. Dies hatte jedoch auch bereits eine vormoderne puritanische Bewegung getan, die Renans Bild vom Islam inspirierte.

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Ein Priester der Wissenschaft am Reißbrett der Geschichte: Ernest Renan Ernest Renan erregt bis heute die Gemüter. Die einen verurteilen ihn als einen Rassisten, die anderen verteidigen ihn als Religionskritiker. Hierzulande ist er vor allem durch seinen Essay „Was ist eine Nation?“ (Qu’est-ce que une nation?) bekannt, der als klassischer Text in wichtigen Lehrbüchern zum Nationalismus zu finden ist. Doch eigentlich war Renan Semitist, Bibelforscher und vergleichender Religionsgeschichtler. Mit seinem „Leben Jesu“ verfasste er 1863 das berühmteste Buch im Frankreich des 19. Jahrhunderts, das mehr Leser fand als jeder Roman von Balzac, Stendhal oder Zola.1 Ernest Renan stammte aus der französischen Provinz und wurde 1823 in Tréguier als jüngster Sohn eines „glücklosen Seemannes“ und einer frömmelnden, „unpraktischen“ Mutter in bescheidene provinzielle Verhältnisse geboren, wie seine Enkelin, zugleich seine Biographin und Herausgeberin seiner Werke, schrieb.2 Mit fünf Jahren verlor er seinen Vater, der ökonomisch ungeschickt und des Lebens überdrüssig der Familie hohe Schulden hinterließ. Von der Mutter und seiner um 11 Jahre älteren Schwester, die der gute Geist seines Lebens werden sollte, behütet wuchs Renan unter weiblichem Einfluss und in der „eigenartigen religiösen Umgebung“ der Bretagne auf, die man von protestantischer Seite (nicht ohne Süffisanz) ein Jahrzehnt nach seinem Tod so beschrieb: „Die bretonische Art der katholischen Frömmigkeit mit ihren innigen Marienliedern und wundersamen Heiligenlegenden gab der Phantasie des Kindes reiche Nahrung und seinem Gemüt unauslöschliche Eindrücke. Tréguier, seine Vaterstadt, war (laut Renan) ‚ein großes Kloster (…) wo man das was andere Leute anstrebten, Eitelkeit nannte und wo das, was die Laien für eine Illusion halten, als einzige Wirklichkeit galt‘“.3 Es gehört zu den Paradoxien der Moderne, dass gerade im zivilisierten Frankreich das flache Land in vielerlei Hinsicht rückständiger war als in anderen europäischen Ländern.4 Renan schrieb am Ende seines Lebens selbst, er sei von Frauen und Priestern erzogen worden – hier liege die Erklärung für seine guten wie

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schlechten Eigenschaften.5 Wie andere begabte Bauern- und Fischersöhne wurde er als Stipendiat der Kirche mit fünfzehn Jahren zur Priesterausbildung nach Paris geschickt, wo er an verschiedenen Instituten lernte. 1843 in das Seminar von Saint-Sulpice aufgenommen studierte er Hebräisch und Deutsch. Tief beeindruckt von seinem Hebräisch-Lehrer Monsieur Le Hir, wie Renan ein Bretone, verschrieb sich Renan dem Hebräischen, auf das er seine weitere Karriere aufzubauen beschloss. Ebenso begeistert interessierte er sich für das deutsche Geistesleben und wurde vor allem vom deutschen Protestantismus angezogen: „Ich habe Deutschland studiert, und geglaubt, in einen Tempel einzutreten. Alles, was ich hier gefunden habe ist rein, erhaben, sittlich, schön und ergreifend“, teilte er 1845 einem Freund mit.6 Dies sei die Fortsetzung von Jesus Christus. Und in seinen Memoiren schrieb er: „Ich war ein Christ wie ein Professor der Theologie in Halle oder Tübingen“.7 Dort schien ihm die Ausgewogenheit zwischen Religiosität und kritischem Denken geglückt zu sein.8 Sein Glaube an die „Wissenschaft“ und den „Fortschritt“ der Vernunft und die Zweifel an der Vereinbarkeit von Katholizismus und Wissenschaft veranlassten ihn schließlich zum Bruch mit der katholischen Kirche, mit der er fortan wiederholt in Konflikt geraten sollte.9 So wurde 1860 seine drei Jahre zuvor erfolgte Ernennung auf den Lehrstuhl des Hebräischen und Chaldäischen am Collège de France auf Grund kirchlichen Druckes rückgängig gemacht. Als er den Lehrstuhl 1862 doch antreten konnte, hielt er seine Antrittsvorlesung zum Thema „Über die Rolle der semitischen Völker in der Geschichte der Zivilisation“ und sprach darin über Jesus nicht als dem Sohn Gottes, sondern als einem unvergleichlichen Menschen. Sein Leben Jesu erschien 1863. 1864 wurde er auf Betreiben der Kirche seines Amtes wieder enthoben. 1870 endlich erhielt er die Professur am Kolleg wieder zurück, wurde 1878 in die Académie Française gewählt und erhielt zahlreiche weitere Ehrungen, darunter 1888 die Ernennung zum Großoffizier der Ehrenlegion. Am 2. Oktober 1892 starb Renan in Paris. Intellektuell verarbeitete er seinen Bruch mit der Kirche in seiner ersten großen Schrift Die Zukunft der Wissenschaft, aus der er Zeit seines Lebens schöpfte, die er aber erst gegen Ende seines Lebens 1890 veröffentlichte. Da er Katholizismus und Wissenschaft für nicht vereinbar hielt, postulierte eine neue ideale Religi-

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on auf der Basis der Wissenschaft.10 War die frühe Geschichte der Menschheit von Religion beherrscht worden und die Aufklärung zu sehr von ihr abgerückt, kam es nun darauf an, eine neue Balance oder Harmonie zwischen Religion und Wissenschaft zu finden. Die Philologie, die er als „exakte Wissenschaft der Tatsachen des Geistes“ verstand, hielt er für geeignet, die Geschichte zu erklären. Dabei sollte der wahre Philologe gleichzeitig Linguist, Historiker, Archäologe, Geologe, Künstler und Philosoph sein.11 Für seine Schrift mit dem holprigen, aber vielsagenden Titel „Historischer und theoretischer Essay über die semitischen Sprachen im allgemeinen und über die hebräische Sprache im besonderen“ erhält Renan 1847 den Volney Preis.12 Für das Hebräische, die Sprache, in der zum ersten Mal über den monotheistischen Gott gesprochen wurde, will er leisten, was große Gelehrte wie Franz Bopp für die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft zustande gebracht haben. In diesem persönlichen Ehrgeiz wurzelt der Leitgedanke, an dem er Zeit seines Lebens festhalten wird: Auf der Suche nach den Ursprüngen der Menschheit, die die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts in Sprachen und von ihr abgeleiteten Rassen zu finden meinte, philosophiert oder besser „fabuliert“ (Olender) Renan über die Beziehung von Semiten und Indoeuropäern. Für Hannah Arendt war er der Erste, der diese beiden „Rassen“ mit solcher Vehemenz gegeneinander in Stellung gebracht hat.13 Vor allem drei Autoren haben das Werk Ernest Renans in diesem zentralen Aspekt seines Schreibens durchleuchtet: Der deutsch-jüdische Romanist Kurt Weinberg veröffentlichte bereits 1958 eine engagierte, zugleich sensible und differenzierte Abhandlung über „Rasse und Rassen im Werk Ernest Renans“. Ungleich berühmter sind Maurice Olenders Studie „Die Sprachen des Paradieses“ von 1989 und Edward Saids Werk „Orientalismus“. Said macht Renan zu einem der Hauptverantwortlichen für ebendiesen Orientalismus, weil er den Orient als negative Projektionsfläche des Abendlandes erst erschaffen habe, das sich sodann angeschickt habe, ihn zu beherrschen. Dabei beschäftigen sich Weinberg und Olender mit Renans Haltung zum Judentum, aber nicht eingehend mit seiner Haltung zum Islam und den Muslimen. Dies gilt auch für Edward Said. Die maßgeblichen Biographien über Renan lassen sein Verhältnis zum Islam und seine

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Rede vor der Sorbonne zum Thema Islam und Wissenschaft ebenfalls unter den Tisch fallen.14 Obgleich der Begriff der „Rasse“ das Werk Renans durchzieht wie ein „Gespenst“ (Weinberg), wird er doch an keiner Stelle definiert. Vielmehr entwirft Renan literarische „Rassenporträts“ (Olender), in denen er den Völkern auf der Basis ihrer Sprachen Eigenschaften zuschreibt, die ihren Rang in der Menschheitsgeschichte (damit meint er die Geschichte Europas) oder ihren Beitrag zur Zivilisation (damit meint er die Zivilisation Europas) bestimmen. Wie die genannten Autoren herausgearbeitet haben, unterscheidet er „Arier“, die er auch „Indoeuropäer“ oder „Indogermanen“ nennt und „Semiten“. Dieses „mögliche Zwillingspaar“ sei aber in früher Kindheit voneinander getrennt worden und habe sich in gänzlich unterschiedliche Richtungen entwickelt, so dass er die arische und die semitische „Rasse“ mit großer Entschiedenheit in allen seinen Schriften und Vorträgen streng voneinander scheidet.15 Die „semitische Rasse“ bestehe ihrerseits aus Juden und Arabern. Weder China noch Afrika noch andere Weltregionen haben in Renans Sicht der Geschichte Anteil an der Zivilisationsgeschichte der Menschheit.

Von Schmetterlingen und Raupen: Renan, der Prophet und der Islam Noch bevor er seine Dissertation abgeschlossen hat, drängt es Renan in die Öffentlichkeit, will er in den Magazinen des gebildeten Bürgertums veröffentlichen. Augustin Thierry hatte ihn der Zeitschrift der Zwei Welten (Revue des Deux Mondes) empfohlen, einem Organ der neuen bürgerlich-aufgeklärten Öffentlichkeit, in der Renan fortan seinen steilen Aufstieg nehmen würde. Renan bot einen Aufsatz über „Mahomet und die Ursprünge des Islam“ an, der akzeptiert wurde (nachdem einer über den Buddhismus abgelehnt worden war).16 Der Artikel erschien im Dezember 1851 und stellt seine tiefste Auseinandersetzung mit dem Islam dar. In diesem Artikel, der bis jetzt in der Literatur über Renan wenig beachtet worden ist, findet sich bereits die am Reißbrett ge-

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zeichnete Schablone, ausgemalt und angeordnet auf seinem Tableau der Geschichte. Renan stellt Erklärungsversuche darüber an, wie die menschlichen Gesellschaften seiner Gegenwart entstanden sind. Er trägt sie im Brustton der Überzeugung des „modernen“ Europäers vor. Noch ganz im Duktus seiner Frühschriften und getreu auch seinem poetischen Programm legt Renan dar, wie Religionen das Produkt der „spontanen Instinkte“ der menschlichen Natur seien, die sich nicht mehr an ihre Kindheit erinnern kann, so wie ein Erwachsener es nicht mehr vermöge, sich an die Geschichte seiner frühesten Tage und an die Entwicklung seines Bewusstseins zu erinnern.17 Wie „geheimnisvolle Schmetterlingspuppen“ erschienen die Religionen eines bedeutsamen Tages bereits in der perfekten Reife ihrer Gestalt, denn mit dem Ursprung der Religionen sei es wie mit dem Ursprung der Menschheit: „Die Wissenschaft zeigt, dass dank der Naturgesetze, die bis dahin ohne Ausnahme und Einmischung von außen die Entwicklung der Dinge bestimmt haben, an einem bestimmten Tag das denkende Wesen erschienen ist, ausgestattet mit allen Fähigkeiten und vollendet in seinen elementaren Eigenschaften“.18 Aber das Erscheinen des Menschen auf der Erde erklären zu wollen, so Renan weiter, hieße, die Tür zu so extravaganten Spekulationen zu öffnen, „dass sich damit kein seriöser Geist auch nur eine Sekunde aufhalten würde“.19 Doch „wie der Mensch eines Tages auf der Erde erschienen ist“ gehört in der Tat zu den Themen, die ihn in dieser Zeit am meisten beschäftigten.20 Renan sieht es als vornehmste Aufgabe der Wissenschaft an, die Ursprünge zu entschlüsseln. Heute sei es schwierig, zu begreifen, wie die Religion entstanden ist, da der Mensch seine religiöse Fruchtbarkeit verloren habe. Aber der Philologe als Geologe, Linguist und Historiker muss den „sich ihrer selbst nicht bewussten Epochen“ nachspüren. Und dabei komme dem Islam eine besondere Bedeutung zu: „Die Geburt des Islam ist in dieser Hinsicht eine einzigartige Tatsache von wahrhaft unschätzbarem Wert. Der Islam ist die letzte religiöse Schöpfung der Menschheit gewesen und in vielerlei Hinsicht die am wenigsten originelle. Anstelle des Mysteriums, mit dem die anderen Religionen ihre Entstehung verhüllt haben, wurde der Islam in voller Sicht der Geschichte geboren, seine Wurzeln liegen auf der Erdoberfläche“.21

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Für Renan verkörpert sich der Islam gewissermaßen in der Person des Propheten Mohammed – eine „moderne“ Sichtweise, die im 19. Jahrhundert eingeführt wurde und bis heute Gang und Gäbe ist. Das Leben des Islamgründers sei uns so bekannt wie das der Reformatoren des 16. Jahrhunderts, schreibt Renan. Den Fluktuationen seines Geistes könne man von Jahr zu Jahr folgen, seinen Widersprüchen, seinen Schwächen. Anderswo verlören sich die religiösen Ursprünge im Traum; die Arbeit des schärfsten Kritikers genüge kaum, um das Wirkliche unter den täuschenden Erscheinungen des Mythos und der Legende zu erkennen. Der Islam aber, der in einem Milieu weit fortgeschrittener Reflexion erscheine, hat nach Renan überhaupt nichts Übernatürliches. Der Prophet Mohammed, der zweite Kalif Omar, der Schwiegersohn und Vetter des Propheten und spätere Kalif Ali seien weder Seher noch Erleuchtete noch Wundertäter. Jeder von ihnen habe ganz genau gewusst, was er tue, keiner habe sich über sich selbst getäuscht, jeder biete sich der Analyse in voller Blöße und mit allen menschlichen Schwächen dar.22 Der Prophet habe also nicht in einer Art religiösen Wahns gehandelt, was für Renan die Voraussetzung für ein authentisches Prophetentum ist, sondern war bei seinen Handlungen bei vollem, alltäglichem Bewusstsein. Damit ist er für Renan kein Prophet. Die „menschlichen Schwächen“ Mohammeds (vor allem auch sein Verhältnis zu Frauen) waren und sind seit Jahrhunderten Thema und Auslöser starker Kritik in der europäischen Literatur über den Islam. Im Gegensatz zum Christentum gibt es in der islamischen Überlieferung tatsächlich eine sehr frühe, dem Leben des Propheten noch recht nahe biographische Literatur über ihn (sira), die detaillierte Auskünfte gibt, bis ins Alltägliche. Renan interpretiert den Propheten als rein historische Gestalt (wie er es später auch mit Jesus und den Aposteln tun wird), spricht ihm aber jegliche Spiritualität und religiöse Tiefe ab. Wenn die Religionsgründer, schreibt Renan, nicht sich selbst, sondern der ganzen Menschheit gehören, „die sie formt nach ihrem Bilde“, kann durch diese menschliche Schöpferkraft „aus der hässlichsten Raupe der schönste Schmetterling werden. So ist es aber überhaupt nicht bei Mohamed“.23 Denn um ihn gebe es keine Legenden, wie zum Beispiel die um Franz von Assisi oder auch 20 andere, die alle unendlich viel mythischer seien als der Islamgründer.24

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Renan stützt sich dabei auf eine auch für seine Zeit begrenzte Literaturauswahl, die er gezielt danach ausgesucht hat, was seinem Mohammed-Bild entgegenkommt.25 Getreu dem Renanschen Diktum, dass die Semiten keine Mythen und Epen gehabt hätten wie Indien, Griechenland oder Persien, die Indo-Europäer also, gebreche es besonders den Arabern an allem, was für Mystizismus und Mythologie nötig sei. Dieses Volk hatte nach Renan „keinen Sinn für heilige Dinge, aber ein sehr lebendiges Gefühl für begrenzte, endliche Angelegenheiten und die Leidenschaften des Herzens“.26 Daraus entwickelte Renan einen seiner „Glaubenssätze“, den er in fast unveränderter Formulierung in etlichen Schriften bis an sein Lebensende wiederholen sollte: „Wenn jemand mir die allgemeine Tendenz der orientalischen Philosophie zum Mystizismus entgegen hält, so entgegne ich, dass man die Bezeichnung ‚arabische Philosophie‘ nur missbräuchlich anwenden kann auf eine Philosophie, die noch nie Wurzeln auf der Arabischen Halbinsel hatte, wo ihr Erscheinen eine Reaktion auf das Genie der Perser war. Diese Philosophie wurde auf Arabisch geschrieben, das ist alles. Sie ist weder in der Tendenz noch im Geiste arabisch.“27 Identisch wird sich dieser Glaubenssatz auch in seinem Vortrag an der Sorbonne mehr als 30 Jahre später wieder finden. Renans Diskussion des Propheten ist trotz seiner Kritik an der mittelalterlichen Islamkritik genau den Themen und Bildern, wie sie seit dem Mittelalter in Europa gepflegt wurden, noch stark verhaftet, wenngleich er sie anders interpretiert. Die vorherrschenden Mohammed-Bilder in den europäischen Religionsdiskursen des Mittealters und der Frühen Neuzeit waren die des Impostors, also des Hochstaplers und Betrügers, des Lüstlings und Frauenhelden und des gewalttätigen Tyrannen. Als Betrüger und Hochstapler galt der Prophet des Islam vor allem deswegen, weil man behauptete, dass er nicht von anderen Propheten angekündigt worden sei und, noch wichtiger, weil er keine Wunder vollbracht habe – was er in der Tat, wie der Koran mehrfach erzählt, mit der Begründung ablehnte, nur der Überbringer der Botschaft zu sein. Renan setzt sich sowohl von den mittelalterlichen als auch von den Aufklärungsdiskursen ab. Denn wenn es die erste Voraussetzung eines Propheten ist, dass er sich eine Illusion von sich selbst mache, so argumentiert er, dann verdiene Mohammed einfach

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den Titel Prophet nicht. Mohammeds Leben verrate eine Reflexion, eine Kombinationsgabe, eine Politik, die nicht im Charakter eines Enthusiasten zu finden seien, der ja besessen ist von seinen göttlichen Visionen. Die Argumentationsweise ist nun ähnlich, wie sie Olender schon als „Falle“ Renans für die alten Hebräer beschrieben hat: „Nie“, so fährt Renan fort, „war ein Kopf klarer als der des Propheten Mohammed, niemals war ein Mann mehr Meister seiner Gedanken“.28 Aber aus dem Argument, der Prophet Mohammed sei ein Mann von Vernunft gewesen, der eine Vernunftreligion gepredigt habe, dreht Renan dem Propheten nun einen Strick: Es sei absolut unmöglich, dass ein Mann mit so klarem Bewusstsein habe glauben können, zwischen seinen Schultern das Siegel des Prophetentums zu tragen und vom Engel Gabriel Inspirationen zu erhalten. Diese habe er vielmehr aus seinen eigenen Leidenschaften und Absichten geschöpft. Für den Religionshistoriker Renan ist Mohammed damit zwar kein Hochstapler, aber eben auch kein echter Prophet, sondern nur eine „hässliche Raupe“, die nicht zum Schmetterling wurde. In der Summe erscheine Mohammed als „süßer, sensibler, treuer Mann ohne Hass, seine Gefühle seien ehrlich und großmütig gewesen. Gar nicht sei er der machiavellistische Ehrgeizling, als den Voltaire ihn dargestellt habe.29 Im Gegenteil, er habe keinerlei Majestäts-Allüren an den Tag gelegt, alles sei einfach gewesen bei ihm zu Hause, seine Schlafstatt ein einfacher Mantel, sein Kopfkissen Dattelblätter; er selbst habe seine Tiere gemolken, auf dem Boden sitzend habe er seine Kleider und Schuhe geflickt. Auch wagemutig sei er nicht gewesen, sondern unsicher, auch in seinen Schlachten, in denen ihn seine Anhänger aus unwürdigen Situationen befreien mussten.30 Dass der Prophet kein Staatsgründer und Kriegsherr, wie oft behauptet wird, sondern ein „Erster unter Gleichen“ in seiner Gemeinschaft und ein so gemäßigter Mann war, wie es die Umstände auf der Arabischen Halbinsel seiner Zeit zuließen, legt ihm Renan mit wenig subtiler Abwertung wiederum zum Nachteil aus. Die Verfeinerungen des Mystizismus seien ihm fremd gewesen, Legenden ebenso, und so konnte er nur eine einfache Religion gründen, begrenzt durch den Gemeinsinn, „ängstlich wie alles was aus der Überlegung heraus entsteht, und eng wie alles, was vom Gefühl des Realen beherrscht“ werde. Der alte Islam gehe überhaupt

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„kaum über eine natürliche Religion hinaus“.31 Er erhebe keine Ansprüche auf Transzendenz, enthalte keine gewagten Paradoxien des Übernatürlichen, wo sich mit so viel Originalität eben die Phantasie der „Rassen“ zeige, die für das Unendliche zugänglich seien.32 Aus all dem zieht Renan den harten Schluss: Die gesamte islamische Bewegung hat sich „quasi ohne religiösen Glauben“ ereignet.33 Das ist in der Tat ein unerhörtes Fazit. Als „natürliche Religion“ spricht Renan dem Islam ab, eine Offenbarungsreligion zu sein. Ebenso wie Gustav Weil, auf den er sich ja stützt, und die gesamte „Mythoswissenschaft“ erklärt Renan den Islam für unfähig, Mythen (die „gewagten Paradoxien des Übernatürlichen“) bilden zu können. Die Mythosfähigkeit aber galt ihm als Gradmesser für die Befähigung eines Volkes zu Wissenschaft und Aufklärung – und als mythosfähig galten nur die Arier.34 Es handelt sich hier also um einen doppelten Ausschluss: Weder besitzen die Muslime für Renan eine Offenbarungsreligion, noch die Mythenfähigkeit. Was bleibt noch übrig? Die Muslime fallen laut Renan auf eine simple politische Bewegung herein – denn die islamische Bewegung habe sich „quasi ohne religiösen Glauben“ ereignet. Aus seinem Mohammed-Bild konstruiert Renan ein beliebtes Stereotyp über die Menschen im Orient: Nobler Charakter und Täuschung zugleich hätten seit dem Propheten selbst zu den Muslimen gehört. So habe „der Chef der Sekte der Wahhabiten, Abdel-Wahhab, ein wahrer Deist, der Socinus des Islam“, seinen Kämpfern vor der Schlacht das Paradies versprochen.35 Überhaupt hätten erst die Wahhabiten die arabischen Beduinen auf allen Teilen der Arabischen Halbinsel, die über die Jahrhunderte den Islam nur oberflächlich angenommen hätten, nachhaltig zum Islam bekehrt.36 Die Wahhabiten kommen in Renans Mohammed-Text in der Tat vier Mal vor, und auch in seinen späteren Schriften erscheinen sie an hervorgehobener Stelle.

Wahhabiten Muhammad ibn Abd al-Wahhab und die Wahhabiten mit ihrem puritanischen Islamverständnis wurden für Renan und viele seiner europäischen Kollegen maßgeblich für ihr Bild des Islams.

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Renan vergleicht Abd al-Wahhab mit dem italienischen Humanisten Faustus Socinus (1539-1604), dem Begründer des Sozinianismus, der sich durch vernunftorientierte Bibelauslegung, Zurückweisung der christlichen Konfessionen und Ablehnung der Dreieinigkeitslehre auszeichnet. Ein besserer Vergleich wäre aber wohl der mit dem Reformator Johannes Calvin (1509-1564) gewesen, der bekanntlich aus Genf eine „Gottesstadt“ machte, in der weltliches Regiment und Kirche eng verzahnt waren. In der Gottesstadt gab es Verordnungen gegen Luxus und alle Arten von Vergnügungen. Eine Art Religionspolizei kontrollierte die Kopfbedeckungen der Frauen und die Stoffe der Kleider. Zahlreiche Bürger wurden verbannt und etliche „Ketzer“ hingerichtet.37 Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703/04-1792) war ein Gelehrter aus dem Nadschd, einem Gebiet im Norden der Arabischen Halbinsel, der eine Reform der Theologie, der Glaubensüberzeugungen des Islam forderte, die sich in seiner Überzeugung in den letzten Jahrhunderten zu weit vom Glauben der ursprünglichen Gemeinde der Muslime im 7. Jahrhundert entfernt hatten. Vor allem die Heiligenverehrung an Gräbern und Mausoleen verurteilte er als unerlaubte Neuerung (bid’a), sie erschien ihm gar als Vielgötterei und er duldete keine Mittler zwischen dem Gläubigen und Gott. Absoluten Monotheismus (tauhid) sah er als Kern des islamischen Glaubens an und alle, die sich diesem „gereinigten“ Islam verschlossen, wurden exkommuniziert und für vogelfrei erklärt. Er verbot das Rauchen von Tabak, Musik, Gesang und seidene Kleidung ebenso wie die Volksfeiern zum Geburtstag des Propheten. Dabei stützte er sich seinerseits auf einen mittelalterlichen Gelehrten, Ibn Taymiyya (1263-1328). Ibn Taymiyyas Familie floh nach der Eroberung und Zerstörung Bagdads durch die Mongolen (1258) nach Damaskus, nur um dort erneut einen Mongoleneinfall zu erleben. In dieser Zeit großer Verheerungen und großer Gewalt hatte auch Ibn Taymiyya den Islam von allen verwerflichen Neuerungen reinigen wollen. Er hatte ein Rechtsgutachten erlassen, in dem er den zum Islam konvertierten Mongolenherrscher nicht als Muslim anerkannte, ganz im Gegensatz zur Tradition, der zufolge auch einem schlechten muslimischen Herrscher zu folgen war. Er begründete damit den Ausschluss von „schlechten Muslimen“ aus dem Islam. Ibn Taymiyya wurde auch für seine Teilnahme an Kriegszügen gegen die Schii-

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ten des Libanongebirges bekannt, für ihn Nicht-Muslime, die ebenso verfolgt werden mussten wie die islamischen Mystiker. Abd al-Wahhabs randständige Sekte wäre unbedeutend geblieben, hätte er sich nicht mit Muhammad ibn Saud, dem Fürsten einer Stadt in der gleichen Gegend verbündet. Zusammen waren sie eine kleine, schlagkräftige Minderheit von Außenseitern. Von Rechtsgelehrten aus Damaskus wurden sie als „Araber aus der Wüste, Nachfolger eines falschen Propheten, ein Stamm von Unwissenden, die die Prinzipien des Islam nicht kennen“ geschmäht.38 Ihre Glaubensstrenge und Bekämpfung allen „Aberglaubens“ wurden wohl auch bewundert, aber die Rechtsgelehrten verurteilten die Wahhabiten: „Sie zogen vom Nadschd aus und bemächtigten sich der beiden Heiligen Stätten. Dabei glaubten sie (…) sie seien die Muslime, und diejenigen, die ihrem Glauben widersprachen, seien Polytheisten. So erklärten sie die Tötung der Sunniten und ihrer Gelehrten für erlaubt, bis Gott ihre Macht brach, ihr Land verwüstete und im Jahre 1233 [1818 christlicher Zeitrechnung] den Truppen der Muslime den Sieg über sie schenkte“.39 1802 zerstörten die Wahhabiten die heiligen Stätten der Schiiten in Nadschaf und Kerbela (Irak) – die Gräber Alis, Fatimas und der Enkel des Propheten) und 1803/04 die Grabstätten Mohammeds und seiner Gefährten in Mekka und Medina. Der osmanische Sultan, dem der Schutz der heiligen Stätten des Islam oblag, befahl seinem Statthalter in Ägypten, Muhammad Ali, dem Spuk ein Ende zu machen. 1818 wurde das wahhabitisch-saudische Bündnis geschlagen, überlebte aber auf der Arabischen Halbinsel in einem kleinen Fürstentum (obwohl sein Anführer aus der Saud-Dynastie in Istanbul hingerichtet wurde). Erst mehr als ein Jahrhundert später, mit der erneuten Eroberung der heiligen Städte Mekka und Medina und der Gründung des Königreichs Saudi-Arabien 1932, konnten die Wahhabiten ihren puritanisch-missionarischen Einfluss wieder geltend machen – bald mit der Schlagkraft der PetroDollars. Diese flossen auch in die Gründung der Islamischen Weltliga 1962 und in unzählige Missionierungsunternehmungen, die die puristische Lehre im 20. Jahrhundert in der gesamten muslimischen Welt verbreiteten. Doch das ganze 19. Jahrhundert hindurch hörte man im Orient nichts mehr von den Wahhabiten. In Europa hingegen waren die Orientalisten von Abd al-Wahhab durchaus fasziniert. Reinhart Dozy (1820-1883) sah in ihm einen islami-

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schen Luther, der den Islam aus dem Katholizismus hinaus und in eine Art von Reformation führen würde.40 Renan verstand unter Islam das Islamverständnis der Wahhabiten, die in sein System passten, weil sie „der Wüste“ entstammten. Allerdings kamen sie nicht aus dem Hedschas mit seinen kulturell fortgeschritteneren Städten, in denen der Islam geboren wurde, sondern aus einer entlegenen Region, dem Nadschd. Wie war es nun möglich, fragt Renan in seinem Aufsatz weiter, dass es überhaupt so etwas wie Philosophie im trocken-unfruchtbaren, rein auf den nüchtern-politischen und damit unschöpferischen Verstand bezogenen Islam geben konnte? Weil bis zum 12. Jahrhundert im Islam alle religiösen Dogmen nur lau dahingetrieben seien, habe die griechisch-hellenistische Philosophie Fuß gefasst. Ihr letzter großer Vertreter sei Ibn Ruschd gewesen. Die Tatsache, dass bis in die Neuzeit (und nicht nur bis ins 12. Jahrhundert, wie Renan fälschlich behauptet), Philosophie, Logik, Medizin, Astronomie, Geographie, Mathematik und Religion in den Gesellschaften des Vorderen Orients nebeneinander existieren konnten, wird nun also auf ein zu „laues Dogma“ zurückgeführt – immer im Vergleich zum strengen Islam der Wahhabiten. Renans Fazit: Der Islam fasse mit seltener Einheit die moralischen, religiösen, ästhetischen Ideen – mit einem Wort: das Geistesleben – einer großen Familie der Menschheit zusammen. Man dürfe von ihm nicht dieselbe Höhe der Spiritualität erwarten, die Indien und Germanien allein gekannt haben, nicht das Gefühl für Maß und vollkommene Schönheit, das Griechenland den lateinischen Rassen vermacht habe, und auch nicht die Gabe der mysteriösen, wahrhaft göttlichen Faszination, die die gesamte zivilisierte Menschheit, egal welcher „Rasse“, in der Anbetung des Ideals vereint habe, das von Judäa ausgegangen sei.41 Mit anderen Worten: Der Islam und die Muslime erreichen nicht die zivilisatorischen Höhen, die die Indo-Europäer zu erklimmen imstande waren. Die Araber und der Islam gehören auch deshalb nicht zur zivilisierten Menschheit, weil sie sich von ihren semitischen Brüdern, den alten Hebräern, als Erfindern des Monotheismus in negativer Weise unterscheiden. Wenngleich die menschliche Natur immer schön sei, so sei sie doch nie überall gleichermaßen schön. „Fülle und Ernst“ seien eben sehr unterschiedlich verteilt – auch dies ein oft wiederholtes Credo Renans.

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In diesem Falle heißt das: Die Wüste ist monotheistisch, aber eben auch nicht in überall gleicher Weise. Judäa ist der Arabischen Halbinsel weit überlegen.42 Das vernichtende Fazit: Der Islam sei „offensichtlich das Produkt einer minderwertigen Kombination der menschlichen Elemente“. Seine zu große Simplizität sei überall ein Hindernis für eine „wahrhaft fruchtbare Entwicklung der Wissenschaft, der großen Dichtung, der zarten Moral“ gewesen.43 Im inneren Widerstreit zwischen Hebräern (auf die er seinen akademischen Ehrgeiz richten wollte) und vollkommenen Hellenen (die er verehrte) und seinem Interesse am Leben Jesu und an den Aposteln fallen die Araber und der Islam als mittelmäßige Epigonen („hässliche Raupen“) bei Renan einfach durch. Doch Renan wäre nicht Renan, wenn er nicht auch positive Aussagen in sein Fazit einstreute: Trotzdem werde der Islam eine einflussreiche Kraft für einen wichtigen Teil der Welt bleiben. Der Islam werde niemals einer anderen Religion weichen müssen, sondern höchstens den modernen Wissenschaften, und er habe in seiner Flexibilität außerdem verborgene Kräfte des Widerstands, denn im Islam gebe es keine Zentralgewalt. Kalifat und Papsttum seien in dieser Hinsicht doch stark voneinander verschieden. Mit dieser Aussage trifft Renan analytisch einen Punkt, auch wenn er diese Erkenntnis vergessen wird.

Kalifat und Papsttum Kalifat und Papsttum sind in der Tat verschieden, obwohl sie über die Jahrhunderte in Europa gleichgesetzt – oder besser: verwechselt wurden.44 Der Prophet hatte verschiedene Funktionen innerhalb der Schar seiner Anhänger inne: Er empfing die göttliche Botschaft als ihr Verkünder, ebenso empfing er Gesandte anderer Religionsgemeinschaften und Stämme, er war Vorbeter (Imam) in der Moschee und er schlichtete Konflikte. Er fungierte jedoch nicht als Gründer eines „Staates“ und auch nicht als weltlicher Staatsmann oder Heerführer, wie oft gesagt wird, sondern war in der kleinen Schar seiner Anhänger, der Prophetengenossen, so etwas wie der Erste unter Gleichen. Für seine Nachfolge hatte er keinerlei Vorsorge getroffen. Das Kalifat, das Amt des Nachfol-

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gers/Stellvertreters des Propheten, wird nicht als solches im Koran beschrieben.45 Es bildete sich historisch durch die Praxis seiner Nachfolger, der Kalifen, heraus. Wäre der Prophet ein politischer Führer gewesen, so kann man argumentieren, hätte er die zentrale Frage jedes politischen Systems, die Herrschaftsnachfolge, geregelt. Wäre der Islam eine Religion, in der Glaube und Staat untrennbar miteinander verbunden sind, wie es heute in schöner Einigkeit in westlichen und in islamistischen Kreisen heißt, so müsste das Kalifat im Koran, dem absoluten Grundtext des Islam, erwähnt sein. Auch die Kalifen waren Imame, Vorbeter der Gemeinde. Von Anfang an waren sie Stellvertreter des Propheten, der als das „ausgezeichnete Vorbild“ für alle Muslime gilt. Seit dem zweiten Kalifen Umar gaben sie sich den Titel „Befehlshaber der Gläubigen“. Die Kalifen, die vom Stamm des Propheten, der Quraisch, abstammen sollten, beanspruchten damit zunächst also sowohl weltliche wie geistliche Macht. Die geistliche Macht teilten sie sich zunehmend mit den Rechtsgelehrten und ihren Schulen, bis sie gänzlich auf diese überging. Gleichzeitig zerfiel das gewaltige Herrschaftsgebiet und die umma, die muslimische Gemeinde, in viele verschiedene Fürstentümer, die von Amiren oder Sultanen beherrscht wurden – und die Kalifen nahmen die symbolische Rolle des geistlichen Oberhauptes aller Muslime an. Sie nahmen so etwas wie eine Investitur, eine Einsetzung dieser Sultane und Amire vor. Sie mochten darin vielleicht äußerlich den Päpsten nun ähneln, hatten aber niemals die Macht des Papstes, der als Stellvertreter Jesu Christi auf Erden gilt und mit der höchsten, vollen, unmittelbaren und universalen ordentlichen Gewalt über die Kirche und die Gläubigen ausgestattet wurde. Die Kalifen hatten im Unterschied dazu keinerlei kanonisierte und institutionalisierte geistliche Macht über die Rechtsgelehrten. Die Amire und Sultane mussten sich als fromme Herrscher gerieren, hatten aber keine religiöse Autorität. Sie konnten nur durch die Berufung bestimmter Rechtsgelehrter Einfluss auf die Religion nehmen, deren Schutz ihnen oblag. Schon vor der Eroberung Bagdads 1258 durch Hülegü und die Mongolen hatte der Kalif also kaum noch Macht über Bagdad hinaus. Nach der Ermordung des letzten Abbasidenkalifen gab es nur mehr Schattenkalifen in Kairo, die von den Mamlukensultanen völlig abhängig waren. Seit dem 8. Jahrhundert

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zeichnet sich also eine reale Trennung zwischen politischer und religiöser Sphäre ab, die sich auch im politischen Schrifttum der „Fürstenspiegel“, der Anleitungen für angehende Herrscher niederschlug. Die Rechtsgelehrten, die die religiöse Sphäre nun allein verwalteten, akzeptierten diese Trennung zumindest vordergründig nicht immer.

Renan und die Wertigkeit der „Rassen“ Zurück zu Renan: Er zieht sogar den Schluss, wenn es dem Orient gelänge, seine Apathie und die Begrenzungen in Bezug auf rationale Spekulationen zu überwinden, sei der Islam kein so ernstes Hindernis für den Fortschritt des modernen Geistes.46 Hier macht er also eher den Muslimen (besonders den Arabern) ihre Rückständigkeit zum Vorwurf, weniger dem Islam. Sollte sich jemals eine Reformbewegung im Islam manifestieren, dürfe Europa aber nur in der allgemeinsten Form Einfluss nehmen. Es müsse aktiv sein „Dogma der Zivilisation“ verkünden, aber den Völkern selbst die delikate Aufgabe überlassen, ihre religiösen Traditionen mit ihren neuen Bedürfnissen in Einklang zu bringen.47 Klingt dies alles noch einigermaßen liberal (es stammt auch aus Renans liberaler Frühphase, rund zwei Jahre nach der Revolution von 1848), so bedeutet es aber nicht, dass Renan koloniale Eroberungen im Auftrag der Zivilisation ablehnte. Im Gegenteil. Alles, „was die Regeneration der niederen oder entarteten Rassen durch die höheren Rassen ermöglicht“, sei zu empfehlen. An diesen Unterschieden hält er fest: „Gewiss, wir weisen als einen Irrtum grundlegender Art die Gleichheit der menschlichen Individuen und die Rassengleichheit von uns; die höheren Teile der Menschheit müssen über die niederen Teile herrschen; (…) Aber die europäischen Nationen, so wie die Geschichte sie hervorgebracht hat, sind die Pairs (Gleiche, Ebenbürtige) eines großen Senats, in dem jedes Mitglied unantastbar ist“.48 Dies gilt auch für Europas jüdische Bürger. In Bezug auf das Judentum mahnt er zur Vorsicht mit dem Rassebegriff. Im Vorwort zur „Allgemeinen Geschichte der semitischen Sprachen“ 1855 räumt er explizit ein, dass „viele Israeliten unserer Tage, die

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in direkter Linie von den alten Einwohnern Palästinas abstammen, nichts (mehr) vom semitischen Charakter“ hätten und „nur noch moderne Menschen seien, assimiliert an die Zivilisation (Europas, B.S.), diese große Kraft“, die den „Rassen“ und ihren Herkunftsregionen weit überlegen sei.49 In Bezug auf die Muslime tut er dies nicht, obwohl, wie wir sehen werden, eine ganze Reihe arabischer und muslimischer Intellektueller in Paris lebten und rege am Geistesleben teilnahmen. Grundsätzlich führt Renan aus, dass es nur zwei wahre, reine Formen des Semitismus gegeben habe: die hebräische oder mosaische Form, und die arabische oder islamische Form. Dabei müsse man anerkennen, dass die hebräische Form sich so bald „vermischt“ und in einigen Punkten die engen Grenzen des „speziellen Geistes einer Rasse“ in so erstaunlicher Weise überschritten habe, dass es „in Wahrheit Arabien (sei), das als das Maß des semitischen Geistes“ zu gelten habe.50 Die „reinsten Semiten“ sind für ihn demnach nicht die Juden, sondern die arabischen Nomaden der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts – die Araber späterer Jahrhunderte und gar der Gegenwart müssten von seinen „Rassenporträts“ dann eigentlich ausgenommen werden. Dem ist aber nicht so.

Renan, die Wüste und die Araber Als Philologe schreibt Renan der indo-europäischen Sprachfamilie die positiven Eigenschaften zu, die die Europäer groß gemacht haben: Ihre Sprachen wandeln sich im Laufe der Jahrhunderte. Also sind die Europäer beweglich, innovativ, phantasievoll. Demgegenüber steht das Semitische: unwandelbar, sich stets selbst gleich, von einem engen „Korsett“ gehalten, wie der Monotheismus, der eines Tages mühelos dieser Sprache entsprang. Unwandelbar und unfruchtbar gleicht das Semitische der Landschaft, in der es entstand – der Wüste mit ihren Nomaden. Generell gilt für Renan: „Die Wüste ist monotheistisch“, erhaben in ihrer unermesslichen Eintönigkeit.51 Doch um welche Wüste, um welchen Monotheismus handelt es sich in diesem vielzitierten Diktum? Gemeinhin wird der Eindruck

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erweckt, es handele sich um die Juden und Judäa. Wie aus Renans Text deutlich wird, handelt es sich um die arabische Halbinsel, die Araber und den Islam. Renan fährt fort: „Deshalb ist Arabien schon immer die Prachtstraße des höchsten Monotheismus gewesen“.52 Der Prophet Mohammed habe den Monotheismus bei den Arabern nicht gegründet, sondern dieser sei schon immer der Grundstock der Religion in Arabien gewesen. Dies ist zwar richtig, denn in der Tat existierte eine Art von Monotheismus bereits vor dem Islam bei einigen arabischen Stämmen der Halbinsel, neben Judentum, Christentum und polytheistischen Strömungen.53 Renan führt den Monotheismus aber in simpler Weise auf die Geographie zurück: Die Dürre und Erhabenheit der Wüste bringe den Monotheismus hervor, spiegele aber den Mangel an Philosophie, Geist und Phantasie der Semiten wider. Demgegenüber stehen die lieblichen Landschaften Griechenlands, in denen die Philosophen denken konnten. Der Islam, dies muss hier festgehalten werden, entstand in Wirklichkeit in den spätantiken Stadtkulturen der arabischen Halbinsel. Mekka, eine Handels- und Kultstadt, und die agrarisch geprägte Oasenstadt Medina waren Städte, deren Bewohner mit den vielfältigen Geistesströmungen der späten Antike vertraut waren. Die Wüste als Ursprung des Islams ist Renans fixe Idee – und die etlicher seiner Kollegen. Der sperrige Titel seines frühesten, preisgekrönten Werkes „Historischer und theoretischer Essay über die semitischen Sprachen im allgemeinen und über die hebräische Sprache im besonderen“ bezeichnet dabei seine Vorgehensweise treffend. Der 24-jährige Gelehrte steht in seiner Studierkammer vor seinem Reißbrett der Geschichte und entwirft die Schablonen seiner Sprachrassen, die er dann mit blumigen Worten ausmalt und auf dem Tableau hierarchisch anordnet.54 In wenigen Fällen wird er diese Schablonen verändern und anders anordnen, etwa beim Verhältnis von Christen und Juden. Nach seiner Reise ins Heilige Land, wo er sich von den Landschaften und Menschen inspirieren lässt, wird er von Galiläa, wo Jesus aufwuchs, ein neues Bild schaffen und es als „lieblich-hellenische Landschaft“ ausmalen. So lässt sich Jesus für das Hellenentum reklamieren.55 Jerusalem hingegen wird er als erhaben und erstarrt beschreiben, als Sitz der jüdischen Rechtsgelehrten, gegen die Jesus seine neue Religion verkündet.

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Renan und zahlreiche andere Bibelreisende ins Heilige Land sahen in den arabischen Beduinenscheichs mit ihren schwarzen Zelten Abraham und die alten Hebräer. Angesichts einer Frau, die in einem Dorf zum Brunnen geht, oder einer anderen, die er auf der Schwelle ihres Hauses sitzen sieht, erstehen vor Renans geistigem Auge Martha, Maria und Magdalena, mit bloßen Füßen, in Leinen gehüllt.56 Derart anschaulich und sinnlich beschreibt er sie in seinem Leben Jesu, das Albert Schweitzer trotz aller Kritik als ein „Ereignis in der Weltliteratur“ bezeichnet.57 Die Menschen, die Renan im Orient sah, interessierten ihn nur als Vertreter einer biblischen Zeit, mit der er sie gleichsetzte, ungeachtet der fast zwei Jahrtausende, die zwischen ihnen lagen. Als seine Zeitgenossen, gar als Vertreter einer zeitgenössischen Kultur, interessierten sie ihn nicht. Seine Thesen von den Arabern, vom Islam und den Muslimen entwickelte er in den Jahren 1846 bis 1852 in seiner Kammer in der Pension Creuzot, einem Internat, wo er als Repetitor (Tutor) arbeitete. Bis an sein Lebensende wird er dogmatisch auf ihnen beharren. Wie entwickelte Renan seine Thesen zum Islam und den Muslimen? Es ist zwar richtig, dass in seinem Werk von vielen Hundert Seiten nur vergleichsweise wenige dem Islam gewidmet sind. Doch kommen eine Reihe von Aussagen zum Islam und den Muslimen, die aus der Frühzeit seines Schaffens stammen, in vielen seiner Schriften immer wieder vor – bis ins hohe Alter fast unverändert. Auch im Leben Jesu tauchen sie auf. Renan war zwar fachlich kein „Orientalist“, doch hat er mehr als andere zur Verbreitung von rassistischen und islamfeindlichen Thesen in der breiteren Öffentlichkeit beigetragen. Seine Reisen in den Orient änderten an seinen Meinungen nichts, sie verschlimmerten seine Abneigung nur noch. Mehr noch: Sie bestärkten ihn in seinen Überzeugungen und verliehen seinen Äußerungen für viele Leser Authentizität. Renan sieht „Arabien als das Maß des semitischen Geistes“ – die Araber und der Islam machen für ihn den Kern des Semitentums aus, mit all den negativen Merkmalen, die er ihnen zuschreibt. Diese Ansichten formuliert er zwischen 1848 und 1852, als er sich, von vielen inneren Kämpfen begleitet, vom Katholizismus abwendet, genauer vom religiösen Dogmatismus der katholischen Kirche, wie es in der Zukunft der Wissenschaft zum Ausdruck

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kommt. Er wendet sich den semitischen Sprachen zu und fällt die Entscheidung, auf dem Semitismus seine Karriere aufzubauen, da die semitische Philologie an der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaft bisher nicht teilgenommen habe. In diesen Jahren lernt er weiter Hebräisch, Arabisch, Syrisch und Sanskrit und arbeitet über das Studium des Griechischen im Mittelalter, als Vorarbeiten zu seiner Dissertation. Wie er später selbst schreibt, hat er das Arabische immer nur mittelmäßig beherrscht.58 Allerdings ist ihm schon früh bewusst, dass das ausschließliche Studium der semitischen Sprachen, „das keine großen Linguisten ausbilden konnte, ebenso wie die Geschichte Chinas keine großen Historiker zu inspirieren wusste“, seinem Ehrgeiz nicht genügen würde.59 Außerdem hatte er auch schon in einer seiner ersten Buchbesprechungen 1847 klar gemacht, dass für ihn die klassischen Sprachen Griechisch und Latein eine Verbindung mit „unseren Ursprüngen“, mit „unseren Vätern“ darstellten, die sie über alle anderen Sprachen erhoben und ohne die keinerlei Bildung möglich war.60 Wie viele seiner Zeitgenossen, und erst recht nach einer Italienreise (1849-1850) auf den Spuren der Renaissance, verfiel Renan zunehmend dem Philhellenismus, einer übersteigerten Begeisterung für das Griechentum. Die Mission der Reise war es, Manuskripte der Bibliotheken in Rom, Florenz, Neapel und Monte Cassino zu klassifizieren, was ihn mit wertvollen Quellen für seine Dissertation versorgte. Wie auch bei anderen Orientalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte der Philhellenismus Auswirkungen, die allerdings bei Renan extrem ausfielen und Folgen für seine Sicht der Welt haben sollten.61 Schon in seiner Doktorarbeit deutet sich dies an. Begonnen 1848, betreut von Viktor Cousin und Victor Le Clerc, handelt sie von Averroes/Ibn Ruschd, dem großen arabischen Aristoteliker aus dem 12. Jahrhundert, den Renan als letzten Philosophen darstellt, den letzten Vertreter einer hohen (islamischen) Zivilisation, bevor ein engstirniger, dogmatischer Islam die griechische Philosophie völlig erstickte – eine Auffassung, die Renan maßgeblich mitbestimmte, die aber seit längerem überholt ist.62 In Ibn Ruschd, den er als einsamen und unverstandenen Kämpfer für Geistesfreiheit schildert, gefangen in einer Welt, die ihn nicht verstehen wollte, konnte sich der junge Renan sicherlich wiederfin-

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den. Jedenfalls klingt es fast wie eine Prophezeiung seiner eigenen Entwicklung, wenn er schreibt: „Es war das Schicksal des Averroes eine doppelte Pflicht im Leben zu haben, eine in der klassischen Lehre, die andere unter eleganten Leuten und Freidenkern.“63 Wie er in seinem Vortrag an der Sorbonne 30 Jahre später ausführen sollte, befand sich „unser Abendland im schönsten Erwachen aus langem Geistesschlaf“, während „Averroes, der letzte arabische Philosoph, zu Marokko in Gemütsverdüsterung und von der Welt verlassen dem Tode entgegensah“.64 Im Vorwort seiner Doktorarbeit finden sich etliche Aussagen, die eine Überhöhung des Griechentums und die Abwertung alles Semitischen zum Ausdruck bringen: „Ich bin der erste, der zugibt, dass wir weder von Averroes, noch von den Arabern, noch vom Mittelalter etwas lernen können“ lautet schon der zweite Satz.65 „Alles was der semitische Orient und das Mittelalter an Philosophischem gehabt haben, schulden sie Griechenland. Wenn man sich also eine philosophische Autorität in der Vergangenheit erwählen müsste, hätte allein Griechenland das Recht, uns etwas zu lehren. Nicht das Griechenland Ägyptens und Syriens, das mit barbarischen Elementen durchmischt und verfälscht worden ist, sondern das echte und authentische Griechenland in seiner reinen und klassischen Ausdrucksform“.66 Anderswo schreibt er von Griechenland als dem „Heiligen Land“ für alle, die die Zivilisation anbeten.67 Wenn Renans Biograph David C. J. Lee mit seiner psychologischen Deutung Recht hat (wofür einiges spricht), spiegelt sich hier auch Renans eigene Entwicklung in dieser Zeit: seine Abkehr von Dogma, Endgültigkeit und patriarchalischer Ordnung (für ihn symbolisiert im Hebräischen) und seine Hinwendung zum freien Denken und zur Kunst (für ihn symbolisiert im Griechischen), was sich vor allem auch in seinem zukünftigen Schreibstil niederschlägt, einem ausgeprägten Essaystil, in dem oftmals Doppeldeutigkeit und Ironie den exakten Ausdruck ersetzen.68 Dazu kommt etwas später noch die Suche nach den eigenen historischen Wurzeln in der keltischen und bretonischen „Rasse“. Aus welchen Motiven auch immer sie gespeist wurden – diese Entscheidungen hatten Tragweite.

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Renan und die Araber seiner Zeit Im Text der Allgemeinen Geschichte der semitischen Sprachen von 1855, in dem der preisgekrönte Historische und theoretische Essay über die semitischen Sprachen im allgemeinen und über die hebräische Sprache im besonderen von 1847 aufgegangen ist, finden sich Beispiele dafür, wie Renan seine Stereotypen der „reinen semitischen Rasse“ auf arabische Menschen seiner Zeit anwendet: „Die Monotonie der islamischen Geschichte, eingesperrt in das Spiel der immer gleichen Leidenschaften“ habe, so Renan, jeden erstaunt, der sich mit dem Orient beschäftigt hat. Die Polygamie, die Folge eines primitiv-nomadischen Lebens, habe sich bei den Semiten der Entwicklung „all dessen was wir Gesellschaft nennen“, entgegengestellt und eine ausschließlich „männliche Rasse“ gebildet, ohne Flexibilität und Raffinesse. Daher das gestrenge Betragen, die ernste Geisteshaltung, jeder Fantasie abhold, die Schwere, die sie davon abhalte, sich jemals aufzuheitern. „Den Semiten fehlt fast vollständig die Fähigkeit zu lachen und die ganz entgegengesetzte Haltung, die die Franzosen auszeichnet, ist für die Araber Algeriens eine ewige Quelle des Staunens“.69 Abgesehen davon, dass sich hier zeigt, dass Renan weder mit Algeriern noch mit anderen Arabern bekannt gewesen sein kann, vergleicht er ganz offensichtlich die zeitgenössischen Algerier mit den zeitgenössischen Franzosen auf der Basis seiner Rassenlehre. Es geht ihm angeblich um die arabischen Semiten des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel, aber er projiziert sie auf die arabischen Menschen und Gesellschaften seiner Zeit. Sein Zeitgenosse Austen Henry Layard, der Ausgräber von Nimrud und Niniveh, der Renan bekannt war, kommt zu gänzlich anderen Ergebnissen die Gelehrtenfrage des Witzes der Araber betreffend. Er beschreibt einen „ächten Beduinenscheikh“, dessen „Lebhaftigkeit, Witz und eigentümliche Unterhaltungsgabe ihn zum angenehmsten Gesellschafter machten“. In einer Fußnote zitiert er hierzu den Schweizer Orientreisenden Jean Louis Burckhardt, der 1809 bis 1817 in englischem Auftrag durch Syrien und die Arabische Halbinsel reiste: „Burckhardt, der unter allen englischen [sic] Reisenden den Charakter der Beduinen am besten kennt und am richtigsten beurteilt: Der gesellige Charakter

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eines Beduinen, wo es sich nicht um Vorteil oder Interesse handelt, kann wirklich liebenswürdig genannt werden. Seine Lustigkeit, Witz, Gemütlichkeit, Gutmütigkeit und sein Scharfsinn (…) machen ihn zu einem angenehmen und oft schätzenswerten Reisegefährten.“ Leider“, so fügt Layard zivilisationskritisch in seiner Fußnote hinzu, habe „seit Burckhardts Zeit die engere Berührung mit den Türken und Europäern manch gute Züge im arabischen Charakter verwischt“.70 Fasziniert waren fast alle Europäer des 19. Jahrhunderts (und übrigens auch die Städter in der arabischen Welt) von den Beduinen der Wüstensteppen, aber eben mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen.71 Wenn den Algeriern das Lachen vergangen war, so hatte dies andere Gründe. Algerier hatten seit der französischen Besetzung ihres Landes 1830 unter der Führung des Emirs Abd al-Qadir (1807-1883) gegen die Franzosen gekämpft. Der Emir, ein nobler und hochgelehrter Mann, dessen islamische Bildung auch Mathematik, Astronomie und Geographie umfasste, hatte sich erst 1847, nachdem die Franzosen zur Kriegstaktik der verbrannten Erde übergegangen waren, geschlagen gegeben. Seine Haftbedingungen in Frankreich verursachten einen Skandal, bis er von Napoleon III. begnadigt und als ehrbarer Gegner, der sich niemals mehr gegen Frankreich zu wenden versprach, mit einer Apanage ausgestattet wurde. Er ging nach Damaskus ins Exil, wo Renan ihn 1865 besuchen sollte. Der Emir, seit 1855 immerhin ein Mitglied der Gelehrten Asiatischen Gesellschaft in Paris und damit ein Kollege von Renan, hatte über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung geschrieben und predigte bis zuletzt ihre Vereinbarkeit auf Grundlage der islamischen Mystik, was allerdings eine Minderheitenposition in dieser Zeit blieb. Er war also ebenfalls ein Vertreter der Moderne gegen die traditionellen Rechtsgelehrten, aber auf Grundlage aus der eigenen Kultur hergeleiteter Argumente, nicht über den Bezug auf die europäische Aufklärung.72 Aber auch er muss in verschiedenen Texten Renans als zeitgenössischer Vertreter der arabischen „Rasse“ herhalten: Wann immer die „Rasse“ der Araber einen geeigneten Boden für ihr Nomadenleben gefunden habe, sei es in Syrien, in Palästina und vor allem in Afrika, hätte sie sich häuslich niedergelassen und zwar so, dass „zu dieser Stunde (also 1847/55) die Grenzen Arabiens die Grenzen der Wüste“ seien.73 Der politische Zustand der

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arabischen „Rasse“ sei von jeher die vollständigste Anarchie gewesen. Sie böte das spektakuläre Schauspiel einer Gesellschaft, die sich auf ihre Weise erhalte, ohne jeden Raum für Regierung und ohne Idee der Souveränität. „Der berühmteste Repräsentant der semitischen Rasse unserer Tage“ (1847/55), „Abd el-Kader“, sei „ein Gelehrter, ein Mann der religiösen Meditation und starker Leidenschaften, gar kein Soldat – wie der Prophet“. Mohammed habe den gleichen Charakter gehabt.74 Der Emir, von dem es hieß, dass er bescheiden in einem Zelt lebte und von dem die Zeitungen Frankreichs voll waren, beeinflusste möglicherweise sogar Renans Mohammed-Bild, ebenso wie die anderen Wüstenbewohner, die Wahhabiten. Moral werde von dieser „Rasse, die von der unseren stark verschieden ist“, anders verstanden. Der Semit kenne „Pflichten nur sich selbst gegenüber“. Seine Rache zu verfolgen und das, was er für sein Recht hält, einzufordern, sei in seinen Augen eine Art Pflicht.75 Renans Vorstellungen, ungetrübt von jeder Kenntnis der komplexen politischen Verfasstheit von Stammesgesellschaften, in denen Zehntausende von Mitgliedern organisiert sein können, sind absurd. Gerade eine Beobachtung der algerischen Verhältnisse hätte ihm zeigen müssen, dass die Siege, die der Emir im Kampf gegen französische Heere erzielen konnte, und der Staat, den er von 1832 bis 1847 aufbaute, Vorstellungen von „Pflichten eines jeden nur sich selbst gegenüber“ zuwider liefen. Wichtiger noch: Er reduzierte auch diesen Gelehrten, der den Islam und die Muslime in der modernen Welt etablieren wollte, auf einen „Semiten der Wüste“.

Fixe Ideen Ein weiteres Vorurteil Renans, das für ihn zur fixen Idee wird und in seiner Rede an der Sorbonne 1883 wieder auftaucht, lautet: Den semitischen Völkern fehle es fast vollkommen an Neugierde. Ihre Idee von der Macht Gottes lasse es nicht zu, dass sie etwas erstaune. Den überraschendsten Berichten, den erstaunlichsten Spektakeln stelle der Araber nur eine einzige Überlegung entgegen: „Gott ist allmächtig“. Er hüte sich im Zweifel, nachdem er Pro und Con-

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tra dargestellt habe, vor einer Schlussfolgerung und ziehe sich mit einem „Gott weiß es“ (Allahu calam) aus der Affäre.76 In der Tat haben die arabischen Chronisten (nicht nur) der islamischen Frühzeit lange Aufzählungen von sich widersprechenden Überlieferungen mit dieser Formel enden lassen. Aber dies hat mit einem Mangel an Neugierde nicht das Geringste zu tun. Man kann sehr wohl darin eine Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit und Doppelsinnigkeit sehen, die in der Moderne verloren gegangen ist und die in der islamischen Welt besonders stark ausgeprägt war.77 Man war in der Lage, widersprüchliche Meinungen nebeneinander existieren zu lassen, ohne dies als „ungelehrt“ (heute würden wir sagen „unwissenschaftlich“) zu empfinden. Der Autor zwang seinem gelehrten Leser (und nur solche gab es in diesen Zeiten) seine Meinung nicht auf und ließ ihn selbst entscheiden. Das dürfte das Gegenteil von dogmatischem Denken sein. Dieser Umgang mit der Überlieferung verweist auch auf eine andere Vorstellung von Wissen, nämlich als etwas, das zu sammeln, zu ordnen und zu bewahren, nicht als etwas, das zu bewerten und auszusortieren ist. Renan hingegen kommt zu einem fatalen Schluss: Daher sei die „semitische Rasse“ fast ausschließlich durch negative Merkmale gekennzeichnet. Sie habe weder Mythologie noch Epos noch Wissenschaft noch Philosophie noch Fiktion noch plastische Künste noch ziviles Leben; im Ganzen sei sie gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Komplexität und Nuancen: Sie kenne nur die Vorstellung von „Einheit“.78 Dies ist eine Herausstellung von grundlegender Differenz zwischen Europa und „den Arabern“, eine Behauptung von deren prinzipieller, essentieller Andersartigkeit und eines gigantischen Mangels an allem, was das Abendland ausmache. Hier wird eine ganze Zivilisation mit einem Federstrich aus der Geschichte herausgeschrieben. Man kann sich gut vorstellen, was solche Worte bei den muslimischen Gelehrten anrichteten, die sie zu diesem historischen Zeitpunkt bei der Allgegenwart der Europäer in ihren Ländern nicht einfach ignorieren konnten. Aus dem vermeintlichen „Mangel an Epos“ und generell an Kunst bei den Arabern des 7. Jahrhunderts entwickelte Renan bereits in den 1850er Jahren eine weitere fixe Idee, die im Zusammenhang mit Äußerungen über seine Reise in den Libanon 1860

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wieder auftaucht: Die Muslime, so glaubt er, hielten Statuen für reale und beseelte Wesen. Das werde durch den bilderstürmerischen Eifer Mohammeds bewiesen, der Götzenbilder aus der Kaaba warf.79 Die indo-germanischen Christen, die stärker künstlerisch veranlagten „Rassen, die fähig sind, die Idee vom Symbol zu trennen“, müssten nicht so streng sein.80 Die Muslime aber sind zu dieser Unterscheidung nach Renan nicht fähig. Gerade an diesem Beispiel werden wir sehen, wie Renan auf seinen Reisen seine fixen Ideen den Menschen einfach überstülpt, anstatt sie zu befragen und aufmerksam zu beobachten. Auch hier hatte er die Sekte der Wahhabiten vor Augen, die zu Anfang des Jahrhunderts Grabmäler und Mausoleen zerstörten, bevor sie im Auftrag des Sultans geschlagen und bestraft wurden. Woher kamen Renans fixe Ideen? Aus eigener Anschauung konnte er sie nicht entwickelt haben. Er hatte noch keine Orientreise unternommen, die sollte er erst im Oktober 1860 antreten. Zum Teil sind sie wohl Resultat der Lektüre für seine Doktorarbeit, für die er auch zeitgenössische Reiseberichte gelesen hatte. So schreibt er dort in einer Fußnote, dass „noch heute in Ägypten der Ausdruck Philosoph ein Schimpfwort sei, ein Synonym für ‚gottlos‘, ‚verdorben‘, ebenso wie farmaςoun (Freimaurer)“81 und zitiert einen Reisebericht Voyage au Ouadây, „der von Dr. Perron veröffentlicht worden“ sei. Man nimmt also an, Dr. Perron (ein Pariser Arabist) sei der Verfasser des Reiseberichts. Doch weit gefehlt! Das Buch wurde von einem europafreundlichen muslimischen Gelehrten verfasst, dem Scheich Muhammad ibn Omar alTunisi, und von dem Pariser Arabisten Perron nur übersetzt und mit einigen Erklärungen versehen, darunter die von Renan zitierte Fußnote zum Gebrauch des Wortes „Philosoph“. Tatsächlich schreibt der Scheich, dass die Muslime in den Naturwissenschaften zutiefst unwissend seien. Derjenige, der ihnen dies auseinandersetze, sei in den Augen der muslimischen Gelehrten „ein Extravaganter (…), ein Philosoph, ein Mann, der vom Wege der Religion abgekommen ist“.82 Der Scheich erklärt das Wort Philosoph also schon selbst und äußert sich kritisch über seine muslimischen Gelehrten-Kollegen: „Sie haben die Ungerechtigkeit und die Blindheit bis zu einem Punkt getrieben, dass mehrere von ihnen sogar das Studium der Logik verurteilen und verdammen“, die es doch brauche, um zu vernünftigen und gerechten Schluss-

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folgerungen zu gelangen.83 Renan jedoch erwähnt den kritischen Scheich, der nicht in das von ihm gemalte Bild passt, mit keinem Wort. Allerdings hatte dieser es auch gewagt, Analogien zwischen den Bevölkerungen des Sudan und einigen Völkern in Europa herzustellen – ein Sakrileg für den „rassebewußten“ Renan. Wie tendenziös Renan in dieser Hinsicht auch mit europäischen Reisenden und ihren Berichten umging, zeigt sich in einer Buchbesprechung, die er unter dem Titel Die Wüste und der Sudan 1854 im Journal des débats veröffentlichte.84 Dort kritisiert er den Reisebericht des Comte d’Escayrac de Lauture, der immerhin acht Jahre lang den afrikanischen Kontinent bereist hatte. Der Graf solle nicht, so doziert der erst seit zwei Jahren promovierte und noch nie im Orient gereiste Nachwuchsgelehrte Renan, seine Belesenheit und Philosophie zur Schau stellen, sondern einzig und allein „gut hinschauen und gut berichten“, was er gesehen habe. Er solle ein „vernünftiger und wahrheitsgetreuer Zeuge und Beobachter ferner Länder sein, die er vor das Tribunal der europäischen Kritik“ bringe, also einen Bericht oder ein Tagebuch verfassen. Der Graf jedoch erzähle und denke zu viel, ziehe zu viele Schlüsse. Renan als aufstrebender bürgerlicher Gelehrter bringt sich hier auch in Stellung gegen einen Vertreter der alten Elite der Aristokratie, die seit 1798 ihre Stellung im Wissensbetrieb immer mehr eingebüßt hatte. Jedenfalls lässt er an der in dieser Hinsicht aufgeklärten Haltung des Grafen kein gutes Haar. Die Geschichtsphilosophie Escayracs sei zu absolut, schreibt er, und wenn man sie mit etwas vergleichen müsste, so mit dem seltsamen Geschichtsessay des einfallsreichsten der „arabischen Chronisten“, Ibn Khaldun. Ibn Khaldun (1332-1406), in Europa als „Vater der Geschichtswissenschaft“ oder auch „Vater der Soziologie“ bekannt, war keineswegs ein schlichter „Chronist“. Er ist berühmt für seine zyklische Geschichtstheorie, war Renan aber offenbar noch unbekannt.85 Was findet Renan nun so seltsam am Konzept des Grafen? – „Beherrscht von der Idee eines einheitlichen (Entwicklungs-)Plans für das Menschengeschlecht nimmt er an, dass alle Völker vom gleichen Zustand, der gleichen Beschaffenheit ausgegangen sind, der gleichen Linie folgen und dem gleichen Ziel zustreben. Er berücksichtigt zu wenig die Verschiedenheit der Rassen“.86 Zum Beispiel rücke er die Germanen der ersten Jahrhunderte unserer Zeit nahe

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an die Bevölkerungen des Sudans heran, in der Annahme, dass diese nur Zeit brauchten und günstige Umstände, um vergleichbare Werke zu schaffen, wie es das Genie der Germanen vermochte. Dies empört Renan: „Aber man muss doch zugeben, dass alle Fortschritte der modernen Wissenschaft im Gegenteil dazu führen, dass man sich jede Rasse eingeschlossen in einen Typus vorzustellen habe, den sie realisieren kann oder auch nicht, aus dem sie aber nicht entkommt. Goethe und Kant waren im Kern der Zeitgenossen Arminius und Widukind angelegt“.87 Bis an sein Lebensende sind in Renans Vorstellung „Rassen“ so etwas wie „kulturelle Einfassungen“ (freilich auch auf Basis des Blutes), in denen „Kerne“ vorhanden sind, die einzelne privilegierte oder berufene Individuen der jeweiligen Elite der „Rasse“ im Laufe der Geschichte entfalten und umsetzen. Von daher kommt bei Renan der Ausdruck „das Genie der Rassen“, von daher das Bild von Arminius und Widukind, in denen Goethe und Kant angelegt seien.88 Einige der größten Rassisten haben Renan als einen ihrer Gründerväter reklamiert. So glaubte Arthur de Gobineau, auf den sich später auch Hitler berief, in Renan einen Verbündeten zu haben. Dass Renan auf Gobineaus Avancen nicht einging, führt der deutsch-jüdische Romanist Weinberg auf dessen Geringschätzung der „bretonischen Rasse“ zurück, mit der sich Renan mangels eines adäquaten familiären Hintergrunds eine „edle Herkunft“ ersonnen hatte.89 Dagegen brauchten für Renan die „noblen und zivilisierten Rassen“ Europas (also die mediterranen und nordischen Völker) das Konzept der Nation nicht mehr. Der Krieg 1870 zwischen Frankreich und Deutschland bekümmerte Renan tatsächlich tief. Unter dem Eindruck des wachsenden Chauvinismus in Deutschland und Frankreich hielt Renan im Jahre 1882 seinen Vortrag Was ist eine Nation?. Hier entwickelte er seine berühmte Formel von der „Nation als einem täglichen Plebiszit“, die sich also in einem aktiven Willensakt immer neu zu sich selbst bekenne. In dieser Rede gab er der Rasse keinerlei Erklärungsmacht für die Entstehung einer Nation. Die großen europäischen Nationen, so sagte er, waren rassisch völlig heterogen. In Frankreich, Großbritannien und Deutschland waren große Teile der Bevölkerung keltischen oder germanischen Ursprungs. In Deutschland gab es viele Slawen. Territoriale Ansprüche auf der Basis von rassischen

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Ursprüngen der Einwohner zu erheben, mache gar keinen Sinn. Auch die Sprachen definierten keine Nation, denn die Schweizer sprächen mehrere Sprachen und englisch- und spanischsprachige Menschen machten auch keine einheitliche Nation aus. So kommt er beim täglichen Plebiszit an. „Die Rasse“, so sein fortschrittliches Fazit, „wie wir Historiker sie verstehen, ist demnach etwas das geschaffen und wieder aufgelöst wird.90 Dieses fortschrittliche Fazit gilt bei Renan jedoch nicht für die Anderen, die Menschen außerhalb Europas, vor allem nicht für die muslimischen Semiten: „Der Türke, frommer Muslim, ist in unseren Tagen viel eher ein wahrer Semit als der Jude, der Franzose geworden ist“.91 Hier macht also nun plötzlich die Religion, der Islam offenbar den Unterschied aus: Der assimilierte Jude ist kein Semit mehr, aber der muslimische Türke, der auf Grund seiner nicht-arabischen Sprache gar nicht zu den Semiten gehören dürfte, wie Renan sie definiert, ist für ihn ein Semit, weil er ihn als „frommen Muslim“ so definiert. Welch eine Verwirrung der Konzepte und Ideen! Wie wir noch sehen werden, ist Dschamal al-Din al-Afghani für Renan kein echter Muslim, weil er für ihn IndoGermane ist. Die „indo-germanische Rassenzugehörigkeit“ dominiert bei Renan dann sogar über den Faktor „Islam“. Die arabische Rasse habe eine „Identität aus Metall“ (dass die Materie der semitischen Philologie, also die semitischen Sprachen, „metallisch“ und damit unbeweglich seien, schreibt er auch schon 1847/5592) und das Privileg, diejenigen, die sie erforschen mit starker Leidenschaft zu erfüllen: „Nie hat eine menschliche Familie eine so verführerische Ansammlung solch brillanter Qualitäten und Defekte geboten. Man liebt sie, obwohl man überzeugt ist, dass sie wenig festen Wert und bis jetzt nichts zum allgemeinen Wohl der Menschheit beigetragen hat“.93 1890, zwei Jahre vor seinem Tod, greift Renan im Vorwort zu Die Zukunft der Wissenschaft genau diesen Gedanken wieder auf und bedauert, sich keine „hinreichend deutliche Vorstellung von der Ungleichheit der Rassen“ gemacht zu haben. Denn: „Die Ungleichheit der Rassen ist erwiesen. Die Ansprüche einer jeden Menschenfamilie auf mehr oder minder ehrenhafte Erwähnung in der Geschichte des Fortschritts sind in etwa entschieden“.94 Man kann Renan für die Zeit nach 1860 nicht vorwerfen, ein Gelehrter im Lehnstuhl gewesen zu sein. Er unternahm immerhin

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zwei Orient-Reisen. Im Oktober 1860, kurz vor seiner Abreise in die Levante, wo er mit einer archäologischen Mission zur Suche nach dem alten Phönizien betraut wurde, erschien ein Beitrag aus seiner Feder mit dem Titel Die religiöse Zukunft der modernen Gesellschaften.95 Dies war eine Kritik an einem jüngst erschienenen Buch, in die er aber wohl auch seine eigenen Vorbereitungen für seinen Aufenthalt im Orient einfließen ließ.96 Der Orient, so heißt es dort einmal mehr kategorisch, „hat niemals etwas so Gutes produziert wie wir“. Was gebe es Jüdisches in „unserem germanischen und keltischen Christentum?“ Der Islam, „der auf keine gute Erde gefallen“ (die Wüste!) sei, habe „alles erstickt durch seine Trockenheit und seine traurige Simplizität“.97 Wenn auch die koloniale Zukunft des Katholizismus weniger glänzend ausfallen werde als die des Protestantismus, so glaubt Renan irrigerweise, könne Rom am östlichen Gestade des Mittelmeers doch wichtige Eroberungen machen. Den christlichen Schulen und den wohltätigen Einrichtungen, die der Eifer des französischen Katholizismus im Orient vermehrt habe, „wie um das schreckliche Loch im Herzen des Islam zuzuschütten“ gibt er jedenfalls eine große Zukunft – wenn er auch glaubt, dass es der Protestantismus sein werde, dem die Christen des Orients dereinst zufallen werden.98 Aber er spricht einen wichtigen Punkt an: Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren christliche Missionare zuhauf im Osmanischen Reich aktiv, bis in entlegene Dörfer. Es gab bereits höhere Bildungsstätten und zahlreiche Dorfschulen, die von Missionaren betrieben wurden und der osmanischen Regierung zunehmend Sorge bereiteten. Die Zukunft des Orients sei jedenfalls prekär: Wenn die Türkei (bzw. das Osmanische Reich) vergebliche Anstrengungen unternehme, um eine Gesellschaft auf der Basis gleicher Rechte zu schaffen, so kämpfe sie gegen ein säkulares und fatales Prinzip. Als „Erbe der Kalifen, also als Vize-Prophet“, könne der Sultan einem gemischten Staat, „in dem Gläubige und Ungläubige die gleichen Rechte haben, genau so wenig vorstehen wie der Papst es vermöchte, wenn die Hälfte seiner Untertanen Juden oder Protestanten wären, diese zu einem Teil der römischen Kongregation zu machen oder des Heiligen Kollegs“.99 Wie wir uns erinnern, war es Renan schon einmal bewusst gewesen, dass Kalifat und Papsttum sich voneinander unterscheiden. Auch den absurden Begriff

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„Vize-Prophet“ hatte er damals nicht verwendet. Nun vergleicht er ausgerechnet den Sultan mit dem Papst und das Osmanische Reich mit dem Kirchenstaat.

Renan, der Sultan und der Papst, oder: die faktische Trennung von Religion und Staat Das größte Reich des damaligen Orients war das Osmanische Reich. Es verstand sich als „ewiger Staat“ (devlet-i ebed müddet), der die anerkannten Religionsgemeinschaften (millet) beherbergte: Muslime, Christen, Juden und Zoroastrier. Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 nahmen die Sultane den Titel „Caesar (Ost-)Roms“ an (Kayser-i Rum). Süleyman der Prächtige (15201566) beschrieb sich als Herrscher so: „Ich bin Süleyman, der die Freitagspredigt in Mekka und Medina in seinem Namen halten lässt. In Bagdad bin ich der Schah, in byzantinischen Gefilden der Caesar, und in Ägypten der Sultan, der seine Flotten in die Meere Europas, Nordafrikas und Indiens entsendet“.100 Das Osmanische Reich sah sich noch als Weltreich, in dem die Herrschaft auf dem „Gerechtigkeitskreis“ beruhte und dessen Kräfte in Balance waren.101 Der Sultan ist noch weniger als die alten Kalifen mit dem Papst zu vergleichen, sondern mit den Kaisern, Zaren und Königen, also den weltlichen Herrschern Europas. Das Osmanische Reich war islamisch, so wie die Reiche Europas christlich waren. Der Sultan stand einer gewaltigen Bürokratie vor, aber er hatte keinerlei religiöse Autorität, die mit der des Papstes auch nur entfernt vergleichbar gewesen wäre. Im Staat gab es ein so gut wie säkulares Staatsrecht (kanun) und parallel dazu das religiöse Recht (scheriat, von schari‘a).102 Renans Grundannahme, der Islam, in der fundamentalistisch-reduzierten Form wie er ihn sah, regele sämtliche Bereiche der orientalischen Gesellschaften und vernebele den Verstand der Muslime, ist nichts anderes als eine fixe Idee. Die Dynastie der Osmanen, die seit rund fünf Jahrhunderten an der Macht war, hatte ein distanziertes Verhältnis zum Kalifat, das als Stellvertretung des Propheten einen Vertretungsanspruch für die Gemeinschaft aller Muslime beinhaltet. Die osmanische Dy-

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nastie war nicht arabischen Ursprungs – und der Kalif sollte nach islamischen Rechtsvorstellungen nicht nur Araber, sondern sogar ein Abkömmling aus dem Stamm des Propheten, der Quraisch, sein. Die Osmanen folgten deshalb der hanafitischen Rechtsschule, weil diese das religiöse Recht so auslegte, dass die historische „Notwendigkeit“ es erfordere, dass die Muslime auch einem starken Herrscher, der nicht vom Stamm der Quraisch abstammte, als Kalif und Imam folgten. Große Juristen argumentierten, dass das Kalifat nur etwa 30 Jahre bis zum Kalifen Ali, dem letzten der vier rechtgeleiteten Kalifen, existiert habe. Danach habe es nur noch Sultane, also weltliche Herrscher, gegeben. Die Lobpreisungen und offiziellen Anreden der Sultane aus dem Hause Osman beinhalteten deshalb jahrhundertelang nicht die Titel Kalif, Imam und „Befehlshaber der Gläubigen“.103 Die osmanischen Herrscher taten lange gut daran, ihre Legitimation eher indirekt aus dem Schutz der Pilger-Karawanen nach Mekka und vor allem natürlich dem Schutz der heiligen Stätten des Islam in Mekka und Medina zu beziehen. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert taucht die Legende auf, und zwar im Werk eines französischen Gelehrten, dass al-Mutawakkil der letzte „Schattenkalif“ von Kairo, dem Sultan Selim das Kalifat feierlich übertragen habe, nachdem dieser ihn 1517 nach der Eroberung von Kairo nach Istanbul hatte bringen lassen.104 Der französische Gelehrte hatte die Legende wahrscheinlich gehört, fixierte sie schriftlich, und die Osmanen bauten ihrerseits darauf auf, wie dies zwischen europäischen Gelehrten und muslimischen oft geschah. Damit waren weltliche und geistliche Macht (Sultanat und Kalifat) nach Jahrhunderten in einer Person vereint, zumindest auf dem Papier. Im russisch-osmanischen Friedensvertrag von 1774 hatte sich Sultan Abdülhamid I. erstmals als „souveräner Kalif der mohammedanischen Religion“ von Zarin Katharina II. bestätigen lassen, dass die muslimischen Untertanen auf der Krim, die er an die Zarin verloren hatte, den Sultan zumindest als geistliches Oberhaupt anerkannten. Nun durften die Krimtataren öffentlich den Namen des Sultans in die Freitagspredigt einschließen. Damit wurde ein geistlicher Souveränitätsanspruch über Muslime außerhalb des osmanischen Reiches angemeldet.105 Nach dem Verlust der christlichen Gebiete seines Reichs im 19. Jahrhundert konzentrierte sich der Sultan Abdülhamid II. auf

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die verbliebenen arabisch-muslimischen Provinzen. In der Verfassung von 1876, an der Namık Kemal mitwirkte, ließ er sich in Artikel 3 und 4 bestätigen, dass „die Herrscherwürde im osmanischen Reich das hohe islamische Kalifat in sich vereinigt“ und der Sultan „als Kalife Schützer der islamischen Religion, Beherrscher und Padischah (sein Ehrentitel) aller osmanischen Untertanen“ sei.106 Der Kalif wird definiert als Schutzherr über die Religion (die heiligen Stätten, die Pilgerfahrt usw., für alle Muslime). Als Kalif schützt er die Religion, wie es seit alters her der Sultan tat, er legt sie nicht aus, wie der Papst. Dies überlässt er weiterhin dem Scheichül-Islam und seinen Rechtsgelehrten. Vom Kalifat, wie es in der Frühzeit des Islam unter den ersten vier rechtgeleiteten Kalifen praktiziert wurde, kann hier keine Rede sein. Dem Kalifat wird, in anderen Worten, von den Rechtsgelehrten keine schari‘a-rechtliche Bedeutung eingeräumt. Der Sultan herrscht als weltlicher Herrscher und dieser Herrschaft muss, so sahen es auch die arabischen Rechtsgelehrten im Herzland des Islam, Gehorsam gezollt werden.107 Politik und Religion sind mitnichten in einer Hand. Die „vergeblichen Anstrengungen, eine Gesellschaft auf der Gleichheit der Rechte zu etablieren“, von denen Renan in seinem unzutreffenden Vergleich spricht, betrafen die Reformen (tanzimat, „Neuordnungen“), die ab 1839, stärker noch seit 1856, einsetzenden Maßnahmen und Gesetze zur Reform des Reiches nach europäischen Vorbildern. Sie führten zu einer Zentralisierung und auch Modernisierung des Reiches. Den Niedergang der Wirtschaft konnten sie aber nicht aufhalten. 1875 kam es zum Staatsbankrott, 1881 zu einer von den europäischen Großmächten kontrollierten Schuldenverwaltung. Zwei große Prozesse prägten also die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich: die massive indirekte Durchdringung seiner Wirtschaft durch die europäischen Großmächte und die Modernisierung des Staates, die die Hohe Pforte von Istanbul aus mit den Tanzimat-Reformen vorantrieb. Die Modernisierung betraf alle Bereiche des Staates, von der Armee über die Verwaltung, über die moderne Kodifizierung des Rechts bis hin zu Bildung, Wissen und Wissenschaft. Die Umbrüche, die durch diese Prozesse herbeigeführt wurden, waren vielfältig. Die Politiker, die diese Reformen umsetzten, waren alle europäisch, vor allem nach Frankreich orientiert.

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1856 erfolgte auf Druck der europäischen Großmächte die rechtliche Gleichstellung der Minderheiten im Reich. Die zahlreichen Religionsgemeinschaften – Muslime, die verschiedenen Kirchen des Ostens, Armenier und Juden (in dieser hierarchischen Reihenfolge) – waren traditionell über das sogenannte millet-System mit großer innerer Autonomie ins Reich integriert worden. Diese Integration hatte über einen sehr langen Zeitraum hinweg funktioniert. Im Gegensatz zu europäischen Staaten, vor allem katholischen, in denen kaum eine historische muslimische Gemeinschaft überdauerte, in denen es immer wieder Pogrome gegen Juden gab und auch die christlichen Gemeinschaften sich gegenseitig bekämpften, war das Osmanische Reich über Jahrhunderte ein buntes Gemisch von Religionen und ethnischen Gruppen gewesen, die unter dem Schutz des Sultans zusammen lebten. 1492 hatte das Reich die Juden aufgenommen, die aus Spanien vertrieben wurden. Diese Koexistenz brach erst im 19. Jahrhundert auf, nicht zuletzt durch die Protektion, die die europäischen Großmächte den Minderheiten gewährten, über die sie Einfluss auf die Politik des Reiches nehmen konnten. Die Muslime begannen, die Minderheiten als „Fünfte Kolonnen“ der Großmächte anzusehen. Ausländer und zunehmend auch die christlichen Minderheiten entzogen sich zunehmend der Gerichtsbarkeit des osmanischen Staates. Auch die verordnete Aufhebung der traditionellen Hierarchie, in der Muslime im Status über den anderen Gruppen standen, kam nicht überall gut an.

Renan im Orient Im Frühjahr des Jahres1860 kam es im Libanongebirge zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Drusen, einer aus dem Islam hervorgegangenen Glaubensgemeinschaft, und den Maroniten, einer nach Rom orientierten orthodoxen christlichen Gemeinschaft. Die Zusammenstöße kosteten eine beträchtliche Zahl von Menschenleben. Hintergrund der Kämpfe waren vor allem wirtschaftliche Verwerfungen, die das gesellschaftliche Gleichgewicht gestört hatten: Die christlichen Maroniten betrieben einen lukrativen Seidenraupen-Handel mit Marseille; die Drusen fühlten sich an

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den Rand gedrängt. Unter dem Druck der Europäer, vor allem Frankreichs, das sich als Schutzmacht der orientalischen Christenheit begriff (England unterstützte die Drusen, Russland die orthodoxen Christen), griffen die osmanischen Behörden hart durch. Der osmanische Außenminister Fuad Pascha selbst reiste vor Ort. Er verhängte Todesurteile für die Rädelsführer und erlegte den Drusen hohe Geldstrafen auf. Die allgemeine Stimmung im Land war schlecht. In dieser Situation traf Renan am 29. Oktober 1860 mit seiner Schwester Henriette auf einem französischen Kriegsschiff im Libanon ein, das zur Beruhigung der Christen, Überwachung der Maßnahmen der osmanischen Behörden und als allgemeine Machtdemonstration entsandt worden war. Französische Truppen waren schon seit August in Beirut. Die Umstände waren damit vielleicht nicht zuträglich für eine vorurteilsfreie Sicht auf die Dinge, aber sie hätten umgekehrt auch dazu anregen können, die Situation vor Ort wirklich verstehen zu wollen. Hatte Renan daran Interesse? Und hatte diese Reise eine ähnliche Wirkung auf ihn wie seine Italienreise 10 Jahre zuvor, als er sich emotional anrühren ließ und seine vorgefasste Haltung zum Katholizismus angesichts des armen, abergläubischen Volkes einer gewissen Milde gegenüber dem gelebten Glauben wich?108 Renan hatte die Mission vor allem deswegen angenommen, weil er für seine Vorarbeiten zum Leben Jesu auf den Spuren Jesu im Heiligen Land wandeln wollte. Er bereiste – wie viele Bibel-Forscher – die Stätten der Bibel. An den Menschen im Libanon und in Palästina war er vornehmlich in dieser gewissermaßen „optischen“ Hinsicht interessiert, also etwa ob sie als lebende Vorlagen für die Schilderung von Maria oder Maria Magdalena taugten, die er dann ja auch sehr sinnlich-literarisch beschrieb. Als zeitgenössische Vertreter einer muslimischen Kultur konnte und wollte er sie nicht sehen. Renans fixe Ideen verfestigten sich sogar noch, als er mit seinen archäologischen Grabungen trotz Genehmigung der osmanischen Behörden auf erwartbares Misstrauen oder Widerstand der Menschen vor Ort stieß. Wie aus fast allen Reiseberichten Orientreisender bekannt, wurden Europäer, die in der Nähe von Dörfern die Erde aufgruben, für Schatzgräber gehalten, die auf der Suche nach antikem Gold und Silber waren, das natürlich auch die Einheimi-

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schen zu finden hofften (und es tauchten ja tatsächlich ab und zu antikes Gold und Silber in den Ackerfurchen auf). Zugleich aber war Renan auf die Ortskenntnis der Einheimischen angewiesen. Er hatte sich zwar der Hilfe der französischen Marine versichert, aber ohne lokales Wissen und lokale Zustimmung ging nichts. Im Schaffensprozess identifizierte er sich außerdem zunehmend mit Jesus, dessen Leben er ja nachzeichnen wollte. In einem Brief aus Tyros an den Historiker Hippolyte Taine schreibt er am 12. März 1861, dass er nun „verstehe, wie Erscheinungen erster Ordnung in diesem Milieu entstehen konnten. Wenn sich in diesem Chaos auch nie ein Mann von gesundem Menschenverstand findet, so heben sich doch manchmal charmante Typen ab. Ich nehme immer mehr die eminente Persönlichkeit von Jesus an. Ich sehe ihn…“.109 In seinem kleinen Reich in Byblos, wo seine Schwester, seine Frau und alle anderen ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen, fühlte er sich wie ein König. Er schwärmte von diesem „Königreich“, wo sein Wort fast Gesetz war.110 Vor allem hier, bei den christlichen Maroniten, hatte er keine Probleme bei seinen Grabungen, durfte sogar Kirchenmauern einreißen lassen. Man war ihm gegenüber stets beflissen, bat ihn um Protektion bei der französischen Regierung. Den jungen Übersetzer des französischen Konsulates in Beirut, Dominique Khadra, der ihm zur Seite stand, nahm Renan später mit nach Frankreich, wo er ihn Napoleon III. vorstellte.111 Außerhalb dieses Reichs aber war man weniger willfährig. So bereiteten ihm die Schiiten von Tyros und Umgebung Probleme bei seinen Grabungen, verweigerten ihm Auskünfte, beobachteten ihn. Er fühlte sich bedroht, schickte nach Waffen und beklagte ihren „unerhörten Fanatismus“. Er berichtet von einem wunderbar erhaltenen byzantinischen Mosaik aus dem Jahr 701und von der Notwendigkeit, es rund um die Uhr bewachen und ständig verlagern zu müssen. Denn wenn die Leute glaubten, es sei unbewacht, kämen sie sofort mit ihren Spitzhacken um es zu zerbrechen. Die archäologische Mission erscheine ihnen als etwas Gottloses, so Renan, denn jedes figürliche Motiv sei für sie ein Götze und er und die Seinen also schändliche Götzendiener. Sie verweigerten jede Auskunft. Nicht einmal das Bakschisch könne diesen sturen Fanatismus besiegen.112

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Diese Interpretation des Verhaltens der Schiiten bei Tyros geht wiederum auf eine von Renans fixen Ideen zurück. Gerade die Schiiten kennen bildliche Darstellungen. Das Bilderverbot in der islamischen Welt bezieht sich auch nur auf Gott (und den Propheten), nicht auf Figürliches an sich. Das Phänomen, dass fundamentalistische Fanatiker wie die Taliban oder der sogenannte Islamische Staat in heutiger Zeit alles zerstören, was sie für nicht islamisch halten, existierte zu Renans Zeit in der vielfältigen Kultur des Osmanischen Reichs nicht. Lediglich die bereits erwähnte Sekte der Wahhabiten hatte zu Anfang des Jahrhunderts schiitische Heiligtümer in Kerbela und Mausoleen in Mekka und Medina zerstört und war dafür hart bestraft worden. Wenn die Leute jede Auskunft verweigerten, wie er schreibt, so haben sie Renan gegenüber ihre Motivation auch nicht erklärt, sondern waren offenbar nur darauf aus, das Mosaik, das ja wertvoll sein musste, wenn ein Europäer es ausgrub, selbst zu bergen und zu Geld zu machen. Dieses Verhalten ist aus zahlreichen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts wohlbekannt, hat aber nichts mit fundamentalistischer Zerstörungswut zu tun. Renan jedenfalls ließ seinem Zorn und seiner Verachtung für „den Islam“ freien Lauf. Gestützt auf seine Notizen des Aufenthaltes in Tyros und mit Bezug auf seine Probleme mit den Schiiten schrieb seine Enkelin Henriette Psichari: „Gegenüber dem Islam kennt seine Empörung keine Grenzen mehr, er wirft ihm vor, christliche Kirchen gestohlen zu haben, um sie zu Moscheen zu machen, und, unverzeihliches Verbrechen, die Wissenschaft zu negieren, die Philologie zu negieren!“ Das Leben dieser Bevölkerungen, versunken in einer düsteren und trüben Wut, im dummen Stolz ihrer Minderwertigkeit, dieses Leben „ohne Liebe“, bringe ihn zu Formulierungen von „unerhörter Heftigkeit“: „Ich, der sanfteste aller Menschen, der ich mir vorwerfe, das Böse nicht genügend zu hassen, und ihm gegenüber nachsichtig zu sein, hege kein Mitleid für den Islam. Dem Islam wünsche ich einen schmachvollen Tod. Ich möchte ihm ins Gesicht schlagen. Ja, man muss den Orient christianisieren, doch nicht zum Vorteil der Christen des Orients, sondern zum Vorteil des Christentums des Okzidents“.113 Renan scheint bei seinen Reisen überhaupt wenig Kontakt mit Muslimen gesucht zu haben. Muhammad Kurd Ali, der Zeitungsherausgeber und Gelehrte aus Damaskus, schrieb spöttisch, der

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große europäische Gelehrte habe lediglich ein paar Fischer gekannt.114 In der Tat war der Emir Abd al-Qadir, der ehemalige Anführer des algerischen Widerstandes gegen die Franzosen, der in Damaskus im Exil lebte und den Renan kannte, der einzige Muslim, mit dem er auf seiner zweiten Orientreise in Damaskus zusammenkam. Er hatte nur noch den neuen armenisch-katholischen Gouverneur im Libanon, und den maronitischen Patriarchen getroffen.115 Diese zweite Reise unternahm Renan 1865 mit seiner Frau im Gedenken an seine Schwester Henriette, die 1861 auf der ersten Orientreise an Malaria gestorben war. Dieses Mal landete Renan in Ägypten, wo er die Pyramiden und den Bau des Suez-Kanals besichtigte. Er bewunderte das „Königreich in der Wüste“ des Bauherren Ferdinand de Lesseps, ein sehr viel größeres Reich als es das seine in Byblos gewesen war. Als er mit dem Zug weiter nach Kairo fuhr, stellte er zu seinem größtem Erstaunen fest, dass die Lokführer Araber waren. In Damaskus wandelte er sehr kurz auf den Spuren des Heiligen Paulus, folgte ihm bis Antiochien und Ephesus, und wandte sich dann nach Athen, ins gelobte Land der Zivilisation.116 Er hegte lange den Plan einer dritten Orientreise.117 Dazu kam es nicht mehr.

Renan, die Wissenschaft und der Islam 1883 traf Renan in Paris Sayyid Dschamal al-Din al-Afghani, einen ebenbürtigen Gegenspieler, dessen Leben noch weit bewegter war als das seine. Der Scheich beeindruckte ihn so nachhaltig, dass er sich herausgefordert fühlte, einen Vortrag zum Islam und der Wissenschaft an der Sorbonne zu halten, den er, wie fast alles aus diesem Themenbereich, im Journal des débats veröffentlichte. Nach allem, was wir nun über Renans Haltung zum Islam und den Muslimen wissen, wird sein berühmter Vortrag nachvollziehbarer. Er ist gewissermaßen das Resümee seiner 30jährigen Beschäftigung mit dem Islam und den Muslimen und zeigt, dass sich weder Renans Wissensstand noch seine Haltung in den 30 Jahren seit seiner ersten Beschäftigung mit dem Islam und den Muslimen verändert hatten. Im Gegenteil. Seine Haltung war seit seinen Reisen noch feindseliger geworden.

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Renan beginnt mit einem Anklang an seinen (europäischen) Nationsbegriff: „Die Rasse als solche, von höchster Wichtigkeit für den Beginn der Geschichte einer Nation“ verliere ihre Bedeutung im Laufe der Geschichte. Griechen, Römer, Germanen, Christentum, Islam, Renaissance, Philosophie der Aufklärung und die Revolution von 1789 – wie eine „zermalmende Walze“ gehe die Geschichte über die frühesten Arten der Menschenfamilie hinweg und dränge sie in große Gruppen zusammen (S. 133). Aus den „Rassen“ der Frühzeit entwickeln sich so die Nationen der Moderne (in Europa). Dann spricht Renan von den „Missverständnissen“, zu denen der Mangel an Genauigkeit bei den Worten führe, welche Nationen und „Rassen“ bezeichnen. Man spreche von Griechen, Römern und Arabern, als ob diese Begriffe Menschengruppen bezeichneten, die immer mit sich selbst identisch gewesen seien. So einfach sei das aber nicht. Franzosen z.B. seien Römer der Sprache nach, Griechen der Zivilisation nach, und Juden der Religion nach. Bei den (angeblichen) Nachfahren der Römer und Griechen, den „zivilisierten“ Menschen unterscheidet er also zwischen Sprache, Zivilisation und Religion. Wer, so fragt sich der Leser nun gespannt, sind denn dann die Araber? Darauf gibt Renan zunächst keine Antwort, eigentliches Thema sollen die Ungenauigkeiten der Bezeichnungen „arabisch“ und „islamisch“ in Wendungen wie „arabische Wissenschaft“, „arabische Philosophie“, „arabische Kunst“, „muslimische Wissenschaft“, „muslimische Zivilisation“ sein. Hier sieht er Anlass für falsche Urteile und schwere Irrtümer. Denn, so sein Urteil zur islamischen Zivilisation, das nahtlos an seine von Abscheu geprägten Notizen aus Tyros anschließt: „Jede Person, die nur einigermaßen an dem Geistesleben unserer Zeit teilnimmt, erkennt deutlich die gegenwärtige Inferiorität der muslimischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken. Wer immer im Orient oder in Afrika gereist ist, dem musste die Wahrnehmung sich aufdrängen von der tatsächlichen Geistes-Beschränktheit eines wahrhaft Gläubigen, von jener Art eisernen Reifens, der um sein Haupt geschlagen ist und dasselbe der Wissenschaft geradezu verschließt, es unfähig macht, irgendetwas zu lernen, irgend eine neue Idee in sich aufzunehmen. So

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wie es in seine Religion eingeweiht ist, um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr, wird das muslimische Kind, das bis dahin zuweilen noch ziemlich geweckt war, plötzlich fanatisch, von jenem Dünkel gesättigt, es besitze Alles, was ihm als absolute Wahrheit gilt, wie über ein Vorrecht über das glücklich, was gerade seine geistige Inferiorität ausmacht“ (S. 134). Minderwertigkeit, Nichtigkeit, Niedergang, Fanatismus – Renan bedient erneut das ganze Arsenal der Mängelbegrifflichkeit, das er zuvor geschaffen hat. Er hat, wie wir schon wissen, am Geistesleben von Beirut und Damaskus nicht teilgenommen, wo es zur Zeit seiner Besuche zahlreiche Intellektuelle gab, die Zeitungen und Zeitschriften herausgaben, die sich vom modernen Wissen Europas anregen ließen und wo die Elite der arabisch-osmanischen Effendis Osmanisch-Türkisch, Arabisch, Persisch und Französisch sprachen. Der Muslim habe die „tiefste Verachtung“ vor der Bildung, der Wissenschaft, vor Allem, was wir das europäische Geistesleben nennen. Und dieses „mächtige Vorurteil“ sei so entscheidend, dass alle Unterschiede der Rasse und der Nationalität durch die einzige Tatsache der Bekehrung zum Islam verschwänden. Es ist also ganz gleichgültig, ob es um Ägypten und die Ägypter, Afghanistan und die Afghanen, Marokko und die Berber, Malaysia und die Malaien geht – Länder und ihre Kulturen zählen nicht, es zählt einzig und allein „der Islam“. Die einzige Ausnahme macht Renan für Persien – indo-germanisch und schiitisch, wie es ist, habe es sich einen eigenen Platz „innerhalb des Islam“ gewahrt. Erst als die Abbasiden an die Macht kommen und der Kalifenhof nach Bagdad wandert, wo vormals die persischen Sassaniden ihr Reich hatten, gebe es im Islam Wissenschaft, zumindest in den Händen der Christen. Die großen Kalifen jener Zeit, die Zeitgenossen der Karolinger, lassen nun griechische und indische Texte übersetzen, und sind wissenschaftsfreundlich – weil sie „kaum Muslime sind“, sich nur äußerlich zum Islam bekennen, und – hier bringt Renan wieder den unzutreffenden Vergleich ins Spiel – dessen „Päpste“ seien. Es herrsche so viel Freigeist in ihrem Staat, dass ein frommer spanischer Muslim empört sei. Rührige Köpfe wie al-Kindi (der Philosoph der Araber) und viele andere brächten die Philosophie zum Erblühen, eine Philosophie, die man als „arabische“ bezeichne, weil sie auf Arabisch geschrieben

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war. Aber in Wahrheit, so Renan, war sie griechisch. Die Überlegenheit Syriens und Bagdads über das lateinische Abendland rühre nur daher, dass man der griechischen Überlieferung geographisch näher war. Und wenn die Byzantiner, die im Besitz der griechischen Originale waren, die sie zu dieser Zeit aber gar nicht lasen, kooperationswilliger gewesen wären, hätte das christliche Abendland den mühseligen Umweg über die arabischen Übersetzungen der griechischen Texte, die man dann ins Lateinische übersetzte, gar nicht zu machen brauchen. Nur über diese Rückübersetzungen gewann die „bescheidene“ Arbeit der mittelmäßigen Übersetzungen jener „armen Syrer, jener verfolgten Philosophen“ einen großen Wert, denn sie war der Gärstoff, den Europa zur Entfaltung seines Genius brauchte. Durch die Übersetzungsarbeit im maurisch-muslimischen Spanien kam der „arabische Aristoteles“ nach Paris. Averroes, Ibn Ruschd, sei in Europa berühmt geworden, während „seine Religionsgenossen“ ihn vergaßen. Und als dann noch die „türkische Rasse“ (Renan meint die Osmanen) die Führerschaft im Islam übernahm, tötete „der Islam“ die Wissenschaft und die Philosophie. Aber diese Wissenschaften der arabisch-islamischen Kultur waren für Renan keineswegs „arabisch“, denn die Wissenschaften des lateinischen Abendlandes seien ja auch nicht „römisch“ gewesen, nur weil sie auf lateinisch geschrieben wurden. Es gibt zwar die Kultur eines lateinisch-christlichen Abendlandes für ihn, aber keinesfalls die Kultur eines arabisch-islamischen, persisch-islamischen oder später osmanisch-islamischen Morgenlands – sondern nur „den Islam“. Der Islam habe rein gar nichts zu den Wissenschaften beigetragen, denn die „ganze schöne Bewegung war ganz und gar das Werk von Parsen, also persischen Anhängern von Zarathustra, Christen, Juden, Harraniern, Ismailiten und Muslimen, die innerlich gegen ihre eigene Religion empört waren“. Der orthodoxe Islam habe die Wissenschaft dagegen nur verdammt und verfolgt. Lediglich zwei Beispiele gebe es auf der Welt, wo das Dogma unbeschränkt herrsche: die islamischen Staaten und den Kirchenstaat des Papstes, als dieser noch weltliche Macht ausübte. Der Kirchenstaat sei nur klein gewesen, der Islam aber drücke auf den Globus und enthalte die dem Fortschritt feindseligste Idee, diejenige des die Gesellschaft beherrschenden Dogmas.

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An dieser Stelle sollte korrigierend erwähnt werden, dass auch in den frühen islamischen Staaten „das Dogma die Gesellschaft“ nicht beherrscht hatte, weil es in den Gesellschaften der islamischen Reiche ein Nebeneinander verschiedener Bereiche gab. Am Kalifenhof wurde Wein getrunken. In den Städten wurde nicht „islamische Medizin“ nach dem Vorbild des Propheten praktiziert (obwohl es diese gab), sondern Medizin nach dem griechischen Arzt Galen. Die Stadtkulturen des Orients hatten weitgehend die antiken Standards bewahrt und diese nach kaum einem Jahrhundert der arabischen Transformation zu immer höherer Komplexität weiterentwickelt. Dies führte zu einer zunehmenden Arbeitsteilung und gesellschaftlichen Differenzierung des Wissens in die Bereiche Recht, Mystik, Theologie, Hadith (Traditionskunde), Medizin, Literatur, die in ganz unterschiedlicher Weise, teilweise auch gar nicht, Bezug auf die Religion nahmen.118 Renans Denken im Papsttums-Modell, im katholischen Dogma, führt ihn zu massiven Fehldeutungen: „Was in der Tat den Muslim wesentlich kennzeichnet, das ist der Hass auf die Wissenschaft, die Überzeugung, dass die Forschung unnütz, frivol, ja fast gottlos sei (…). Ein merkwürdiges Zeugnis hierfür bietet der Scheik Rifaa, welcher mehrere Jahre als Almosenier der ägyptischen Schule in Paris gewohnt hatte und nach seiner Rückkehr nach Ägypten ein Werk voll der sonderbarsten Beobachtungen über die französische Gesellschaft schrieb. Seine fixe Idee ist, dass die europäische Wissenschaft namentlich wegen ihres Prinzips von der Unveränderlichkeit der Naturgesetze von Anfang bis zu Ende eine einzige Ketzerei ausmache; und vom Gesichtspunkte des Islam aus, das muss man zugeben, hat er nicht ganz unrecht“ (S. 146). Am Beispiel Tahtawis, den Renan in der folgenden Passage zitiert – aber offensichtlich ohne ihn gelesen oder verstanden zu haben – zeigt sich, wie wenig Renan vom Geistesleben in den Gesellschaften des Orients kannte, die er bereist hatte. Es lässt sich an diesem Beispiel auch gut darstellen, wie es um traditionelle Bildung und Wissenschaft in muslimischen Gesellschaften stand. Rifa’a al-Tahtawi, 1801 in Tahta in Oberägypten geboren, studierte in der bedeutendsten Hochschule des sunnitischen Islam, der al-Azhar Universität und Moschee in Kairo, wo die Gelehrten in den Säulengängen ihre Schüler um sich scharten. Seine Ausbildung war traditionell. Er hörte islamisches Recht, Traditions-

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bzw. Überlieferungswissenschaft (Hadith), Koranexegese, Logik, Grammatik und Rhetorik, sowie Astronomie, Geographie, Geschichte und Poesie. Hatte der Lehrende den Eindruck, dass sein Student den Stoff beherrschte, den er lehrte, stellte er ihm eine Bescheinigung aus (idschaza), die es diesem erlaubte, den Inhalt des Seminars (oder auch nur eines Buches) selbst an andere weiterzugeben. Der aufgeweckte Tahtawi fiel bald auf und bekam eine besondere Aufgabe zugeteilt. Der Statthalter des Sultans in Ägypten, Muhammad Ali, hatte als Teil seines ehrgeizigen Modernisierungsprogrammes neue Fachschulen in Ägypten eingerichtet, in denen z.B. Militärwissenschaft, Ingenieurwesen und Medizin von Europäern gelehrt wurden. Da diese des Arabischen nicht mächtig waren und der Hilfe von Dolmetschern bedurften, die wiederum in diesen Fächern nicht beschlagen waren, erfolgte dies nicht zu des Herrschers Zufriedenheit. Deshalb entsandte Muhammad Ali eine Gruppe besonders talentierter Studenten nach Frankreich, das als Vorreiter der Zivilisation und moderner Wissenschaften galt, um dort sowohl die französische Sprache als auch das gewünschte Fachwissen zu erwerben und später in Ägypten bessere Lehrbücher zu übersetzen und zu verfassen. 1826 traf die 44-köpfige Studentenmission in Paris ein, darunter gebürtige Ägypter, Türken, Tscherkessen, Georgier und christliche Armenier – eine bunte osmanische Truppe, die die Vielfalt des Reiches widerspiegelte. Natürlich konnte man die jungen Effendis nicht ohne geistliche Betreuung ins christliche Abendland schicken. Als ihr Seelsorger wurde deshalb der selbst noch junge Gelehrte Rifa’a al-Tahtawi mit entsandt. Von französischer Seite war Edme-François Jomard mit der Leitung und Aufsicht der Mission in Paris betraut, zusammen mit dem größten Orientalisten dieser Zeit, Silvestre de Sacy. Dieser erwirkte, dass sich Tahtawi neben dem Studium des Französischen mit den Geisteswissenschaften beschäftigen durfte, nicht mit Technik und Naturwissenschaften wie die anderen Teilnehmer der Mission. Tahtawi las griechische Philosophie, Mythologie und auch Montesquieu, Voltaire und Rousseau. Er beobachtete und interessierte sich für alles – für das politische System der Franzosen (die er nach arabischer Manier auch „Franken“ nannte), ihre Sitten, das Verhältnis der Geschlechter (das ihn erstaunte), ihre Dichtkunst und Literatur. Er verfasste einen Reisebericht,

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für den er berühmt werden sollte, mit dem blumigen Titel Die Läuterung des Goldes in einer zusammenfassenden Darstellung von Paris, in dem er auch die Wissenschaften auflistete, die in Ägypten eingeführt werden müssten.119 Auf dieses angeblich „sonderbare“ Werk bezieht sich Renan. In einer Einleitung voll großer Ehrerbietungen vor Gott, seinem Propheten und dem Herrscher Ägyptens sicherte sich Tahtawi zwar ab, indem er schrieb, er „billige nur das, was nicht in direktem Widerspruch stehe zum Wortlaut unseres islamischen Gesetzes“ (also der Schari‘a), die letzten Zeilen dieser Einleitung aber lauten: „Ich bitte Gott, den Gepriesenen, und Allerhöchsten, (…) dass Er mit diesem Werke alle Völker des Islam – Araber wie Nicht-Araber – aus dem Schlafe der Nachlässigkeit erwecke. Er ist der Hörer und Erhörer; wer sich an ihn wendet, wird keine Enttäuschung erfahren“.120 In seinem zweiten Kapitel widmet sich Tahtawi dann den Wissensgebieten und Wissenschaften, die er in Frankreich beobachtet hat und die in Ägypten neu eingeführt werden müssten: von Verwaltungswissenschaften (einschließlich Naturrecht, Völkerrecht und positivem Recht wie in Frankreich), Militärwissenschaften, Diplomatie, Ingenieurwesen, Chemie, Medizin, Landwirtschaft, Naturwissenschaften bis zur Übersetzungswissenschaft. Auf Grund seines Studiums war es ihm nicht schwer gefallen, sich mit den europäischen Wissenschaften vertraut zu machen. Um dies alles aber einer traditionellen Leserschaft von konservativen islamischen Gelehrten schmackhaft zu machen, argumentiert er, dass, da all diese Wissenschaften ja über das Arabische nach Europa gelangt seien, man sich jetzt nur zurückhole, was einem gehöre. Die fixe Idee, die europäischen Wissenschaften seien für Tahtawi von Anfang bis Ende Ketzerei ist einmal mehr Renans fixe Idee, nicht Tahtawis. Nach seiner Rückkehr nach Ägypten 1831 beauftragte Muhammad Ali ihn mit dem Aufbau dieser Wissenschaften und der Übersetzung weiterer Werke. Er wurde Leiter einer „Hochschule der Sprachen“, in der neben islamischem auch europäisches Wissen gelehrt wurde, z.B. islamisches und französisches Recht. Eine ganze Generation von modern ausgebildeten Männern ging daraus hervor, die später in Gesellschaft und Staat Positionen übernahmen. Tahtawi setzte sich später auch für die Mädchenbildung ein. In seiner Übersetzung der Marseillaise, ver-

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wendete er zum ersten Mal für „la patrie“, „das Vaterland“, das arabische Wort watan, dem wir in seiner osmanischen Variante bei Namık Kemal wieder begegnen werden. Wie lässt sich also Renans Fehlurteil erklären, der Imam Tahtawi habe in seinem Werk die Idee vertreten, dass die europäischen Wissenschaften „eine einzige Ketzerei“ ausmachten? In diesem Fall wohl damit, dass er das Buch einfach nicht gelesen oder nicht verstanden hatte und es umstandslos seinen eigenen „fixen Ideen“ einpasste. In der nächsten Passage seines Vortrages vor der Sorbonne treibt Renan diesen Umgang mit seinen Quellen, der mit Wissenschaft, wie wir sie verstehen, nichts zu tun hat, weiter. Wenn man von dem Gedanken ausgeht, so Renan, „dass menschliche Forschung (bei den Muslimen) ein Angriff auf die Rechte Gottes sei, so gelangt man unvermeidlich zur Geistesträgheit… Allah aalam, ‚Gott weiß besser, was daran ist‘, das (sei) das letzte Wort bei jeder muslimischen Diskussion“ (S. 147). Es sei ja gut, an Gott zu glauben, aber doch nicht in diesem Ausmaß.121 Über dieses Thema hatte er auch früher schon gesprochen, als ein weiteres in der langen Liste der Defizite der Semiten. Aber nun sucht er es mit einer drolligen Geschichte über Herrn Austen Henry Layard, dem wir schon begegnet sind, zu belegen. „Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Mosul“, erzählt Renan also, „wünschte Herr Layard, als Mann der wissenschaftlichen Beobachtung, einige Angaben über die Bevölkerung der Stadt, über ihren Handel, ihre geschichtlichen Überlieferungen zu besitzen. Er wandte sich an den Kadi, der ihm folgende Antwort sandte, deren Übersetzung er (Renan) einer befreundeten Person verdanke“. So habe der Kadi also geschrieben: „O mein berühmter Freund, o Freude der Lebenden! Was Du von mir verlangst, ist zugleich unnütz und schädlich. Obgleich ich alle meine Tage in diesem Lande verbracht habe, so ist es mir doch niemals in den Sinn gekommen, die Häuser zu zählen, noch mich um die Zahl ihrer Bewohner zu kümmern. Und nun die Frage, wie viel Waren der eine wohl auf seine Maultiere packt, der andere in seiner Barke unterbringt, das ist in der Tat ein Gegenstand, der mich in keiner Weise angeht. (…) o mein Lamm, such nicht zu wissen, was Dich nicht angeht. (…) Höre mein Sohn, es gibt keine Weisheit gleich derjenigen, an Gott zu glauben. Er hat die Welt geschaffen. Sollen wir danach streben,

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ihm gleich zu kommen, indem wir suchen, in die Geheimnisse seiner Schöpfungen zu dringen? (…) O mein Freund, wenn Du glücklich sein willst, so rufe: „Gott allein ist Gott!“ (S. 148) Sir Austen Henry Layard (1817-1894), in Paris geboren, war Renans Zuhörern an der Sorbonne wohlbekannt. Er war einer der führenden britischen (Amateur-)Archäologen des 19. Jahrhunderts, hatte 10 Jahre lang die assyrischen Paläste Ninive und Nimrud im heutigen Irak ausgegraben und über seine Erfahrungen und Reisen mehrere sehr erfolgreiche Bücher verfasst. Später wurde er britischer Botschafter in Konstantinopel. Renan macht ihn nun zum Kronzeugen für die absolute Wissens- und Wissenschaftsfeindlichkeit der Araber seiner Zeit als Folge ihres Glaubens an den Islam. Wie wir noch sehen werden, wird diese Geschichte vor allem Namık Kemal, den osmanischen Widerpart Renans, schwer erzürnen. Auch Bajazitov wird sie aufgreifen. Die Geschichte ist fast schon amüsant, weil Historiker wissen, wie akribisch osmanische Beamte, allen voran der Gouverneur und der Kadi, in dessen Zuständigkeitsbereich Rechtsbrüche fielen, die Steuerregister bis ins kleinste Dorf führen und überwachen ließen, die in der Tat auch die Tiere der Bauern und Waren der Händler aufführten und besteuerten. Die Steuern waren die einzige Einnahmequelle des Reiches, und es kam den Beamten deshalb sehr wohl in den Sinn, „die Häuser zu zählen und sich um die Zahl der Bewohner zu kümmern“. Tatsächlich war das ihre Hauptaufgabe. Namık Kemal, der selbst als Gouverneur in osmanischen Provinzen tätig war, griff diese Geschichte in seiner Entgegnung in ganzer Länge auf. Als Louis Massignon, der bekannte französische Orientalist, die Entgegnungen zu Renans Vortrag sammelte, wunderte er sich über Namık Kemals „merkwürdige Polemik“. Massignon prüfte also die Wissenschaftlichkeit seines französischen Kollegen, und stieß auf ein, wie er sagte, „äußerst delikates Problem“ der Quellenprovenienz.122 Er erwartete, das Original des Kadi-Briefes in einem von Layards Büchern zu finden. Bei der Durchforstung der Werke musste er aber „nicht ohne Verblüffung“ feststellen, dass nicht nur kein Brief zutage trat, sondern dass Layard den Kadi als einen Fanatiker von infamstem Charakter beschrieb und der Kadi seinerseits eine herzliche Abneigung gegen Layard hegte. Alles dies legt natürlich die Existenz eines so

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freundlich adressierten Briefs mit einer sehr seltsamen, historisch nirgends verbrieften Anrede, wie Renan ihn uns präsentiert, alles andere als nahe. Massignon jedenfalls kam zu dem Schluss, die Passage seines Kollegen Renan verströme „einen so köstlich sarkastischen Humor“, dass sie sehr wohl als einzigen Autor Renan selbst haben könnte, der seinem ernsten Publikum einen Streich spielte und sich dabei ins Fäustchen lachte, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er Namık Kemal (und natürlich allen anderen Lesern) ein einzigartiges Enigma hinterließ. Dies ist eine recht milde Kritik an einer offenkundig erfundenen Quelle. Renan beendete seinen Vortrag mit einem Appell an die Zivilisation und den Respekt, der den Menschen zu zollen sei – ausgerechnet unter Berufung auf die Erfindung der Feuerwaffen: „Man muss sich bei momentanen Verirrungen nicht aufhalten. Was ist nicht bei ihrem ersten Auftreten gegen die Schusswaffen gesagt worden? Und doch haben sie vieles zum Siege der Zivilisation beigetragen. Was mich betrifft, ich habe die Überzeugung dass die Wissenschaft gut ist, dass sie allein Waffen gegen das Böse liefert, welches man mit ihnen vollbringen kann, dass die Wissenschaft nur dem Fortschritt dient, ich habe hier den wahren Fortschritt im Auge, denjenigen, der unzertrennlich ist von der Menschenliebe und der Freiheit.“ Denn wenn der Kalif Umar oder Dschinghis Khan auf eine anständige Artillerie gestoßen wären, hätten sie „den Saum ihrer Wüste“ ja nicht überschritten – und, so will er damit sagen, der Islam wäre der weiteren Welt erspart geblieben. Renans Vortrag wurde sofort gedruckt und von Dschamal alDin al-Afghani, der ihn ja inspiriert hatte, gelesen. Wie man sich unschwer vorstellen kann, kam Renans Abwertung des Islams und der Araber bei ihm nicht gut an. Mehr noch, Renan traf mit seinen Thesen das Projekt der Erneuerung des Islam direkt ins Herz und damit natürlich auch den wichtigsten Erneuerer, der sich diesem Projekt verschrieben hatte. Wahrscheinlich hatten sich die beiden Männer zwei Monate zuvor, gleich nach Dschamal al-Dins Ankunft in Paris, über die islamische Welt und die Philosophie unterhalten. Ibn Ruschd, über den Renan seine Doktorarbeit geschrieben hatte und an den ihn Dschamal al-Din erinnerte, musste ein Gesprächsgegenstand gewesen sein.

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Dschamal al-Din al-Afghani: Agent und Wanderprediger der umma Der schillernde Dschamal al-Din al-Afghani war Ernest Renan mindestens ebenbürtig in Rhetorik und Ruhm (natürlich nicht in Europa). An globaler Bedeutung übertrifft er Renan weit. Er war der Erste, der im Orient die Notwendigkeit erkannte, aktiv auf die Herausforderungen, die von Europa ausgingen, zu reagieren. Allerdings hinterließ Afghani kein großes Schrifttum, sondern wirkte durch seine Rhetorik, sein Handeln und seine Lehren, die viele Anhänger fanden. Afghanis Leben ist gut erforscht.1 Ganz ähnlich wie Renan war Dschamal al-Din al-Afghani von bescheidener ländlicher Herkunft. Er wurde 1838 (1254 muslimischer Zeitrechnung) in dem Dorf Asadabad bei Hamadan im Nordwesten Persiens geboren. Er selbst sollte später behaupten, er stamme aus Asadabad bei Kabul und nannte sich al-Afghani. In Afghanistan wiederum behauptete er, aus Istanbul zu sein. Diese Verschleierungstaktik hielt er für angebracht, weil er seine schiitisch-persische Herkunft zugunsten einer sunnitisch-afghanischen verheimlichen wollte. Für seine Rolle als Reformer des Islam weit über Persien hinaus wäre es in der Tat eher hinderlich gewesen, nicht zur Mehrheitsströmung der Sunniten zu gehören. Die Taktik ging zu seinen Lebzeiten weitgehend auf, heute gilt seine wirkliche Herkunft zumindest unter Historikern aber als gesichert. Seine Familie war ländlichen Ursprungs, sein Vater stammte aber aus einer der sehr geachteten schiitisch-muslimischen Familien, die für sich in Anspruch nehmen, ihren Familienstammbaum über den Prophetenenkel Husain auf den Propheten zurück führen zu können. Er soll ein zurückhaltender Asket, in Religionsfragen belesen und im Kontakt mit bedeutenden Gelehrten in Persien gewesen sein. Der Vater unterrichtete Dschamal bis dieser zehn Jahre alt war selbst und schickte den lernhungrigen und begabten Jungen dann unter anderem nach Teheran auf bessere Ausbildungsstätten. Er verbrachte auch selbst mehrere Jahre mit seinem Sohn fern des Dorfes. Zusammen pilgerten Vater und Sohn auch nach Nadschaf und Kerbela, den heiligen Stätten der Schiiten im Irak,

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wo Dschamal sein Studium fortsetzte. Neben seinen Studien, in denen er von Anfang an voll aufging, schien der Junge sehr abenteuerlustig und ambitioniert gewesen zu sein. Schon als kleiner Junge wollte er nach Indien reisen und seiner Mutter versprach er, sie zur Gouverneurin der Provinz Khurasan zu machen.2 Über seine Studien in jungen Jahren kann gesagt werden, dass er eine solide Basis in den traditionellen islamischen Disziplinen hatte und darüber hinaus in der Philosophie sehr belesen war. Der schiitische Islam war der Philosophie gegenüber aufgeschlossener als der sunnitische und sie wurde in den schiitischen Lehrzentren wie Nadschaf offiziell gelehrt. Die schiitischen Gelehrten praktizierten mehr den idschtihad, den eigenständigen Rechtsschluß und orientierten sich weniger an schon bestehenden Rechtsgutachten (taqlid, ‚Tradition‘). Die Schia hat deshalb eine gewisse Neigung zur Spekulation. Außerdem war Dschamal interessiert an den islamischen Mystikern, den Sufis. Es ist sicher auf diese Kultur des gelehrten Wissens zurückzuführen, dass al-Afghani später ein so starker Verfechter einer Neuinterpretation des Islam werden sollte.3 Außerdem könnte er auch von zwei radikaleren Bewegungen beeinflusst worden sein, die zu seiner Zeit im Iran en vogue waren und zu Aufständen führten.4 Jedenfalls wuchs er in einer Atmosphäre der Gelehrsamkeit auf, der aktivistische Züge nicht fremd waren. Mit dieser intellektuellen Ausstattung reist er als junger Mann nach Indien. In Indien wurde er Zeuge von Eroberungen der britischen Kolonialherren, wahrscheinlich auch Zeuge des anti-kolonialen Aufstands von 1857, wenn er nicht gar in irgendeiner Form daran teilnahm, wie er später behauptete. Seine Erfahrungen in Indien speisten auf jeden Fall seine lebenslange Agitation gegen die Kolonialpolitik der Briten im Orient. Er war der Erste in der neuen Gruppe von Intellektuellen, die sich im Nahen Osten herausbildete, die sowohl gegen die alte Elite der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit (Juristen und Theologen) als auch gegen die politischen Eliten, die zu dieser Zeit noch den europäischen Mächten nacheiferten, antrat. Und er war wohl der Erste, der mit Klarheit die kolonialen Interessen der europäischen Großmächte durchschaute und die Muslime zu einer antikolonialistischen Bewegung aufrief. Reform des Islam und Anti-Kolonialismus, Philosophie und politische Agitation stellten die zwei Pole seines le-

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benslangen Aktivismus dar. Im Zweifelsfall siegte die Agitation – was auch die Widersprüche in seinen Schriften erklärt In Indien kam er auch mit westlichem Wissen, den Naturwissenschaften aber auch den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts in Berührung. Iran und Irak waren zu seinen Jugendzeiten noch nicht stark mit dem Westen in Berührung gekommen. So erzählt einer seiner Anhänger, der in Ägypten viel mit ihm zu tun hatte, al-Afghani habe sich in Indien so intensiv mit dem Studium der Religionen beschäftigt, dass er areligiös wurde und an die Ewigkeit der Welt glaubte. Er behauptete, so sein Anhänger, dass Atome, die in der Atmosphäre zu finden seien, in natürlicher Entwicklung die Sterne bildeten, die wir sehen und die sich durch die Schwerkraft um einander drehen. Ebenso, dass der Glaube an einen allwissenden Ersten Beweger eine natürliche Täuschung sei, entstanden im primitiven Entwicklungszustand des Menschen, die seinen intellektuellen Entwicklungsstand widerspiegelte. „Als der Mensch ein primitiver Wilder war betete er die niedrigsten Dinge an wie Holz, und Stein, und als er auf der Leiter der Zivilisation und des Wissens fortgeschritten war, steigerten sich auch seine Anbetungsobjekte und er begann Feuer, dann Wolken, dann die Himmel und die Himmelskörper anzubeten. Als der Mensch weiter fort schritt auf der Skala des Wissens bezog er Licht von der Lampe der Wissenschaft. Nun erhob er das Objekt seiner Anbetung zu größerer Erhabenheit und sah es als frei von Qualität und Quantität, frei von Anfang und Ende, unendlich und unverständlich, es füllt alles und ist in allem, es sieht alles, während niemand es sehen kann“.5 Darauf sei der Mensch noch weiter fort geschritten, bis er dies alles als Illusionen und Träume ansah. Er baute sich Schlösser des Glaubens und Türme der Hoffnung und glaubte dass er nach dem Tode ein ewiges Leben hätte. Am Ende aber erbrächten die Naturgesetze als Ergebnis die Überzeugung, das alles dies eitles Geschwätz sei, das in Begierden wurzele und dem keine Wahrheit und Exaktheit zukomme. Offensichtlich hatte sich al-Afghani auf der Suche nach den Ursprüngen der Religion mit Religionsgeschichte beschäftigt. Die Anklänge an Aristoteles (der „allwissende Beweger“) kannte er aus seiner eigenen Tradition und Ausbildung. Die anderen Elemente dieser Stadienlehre hatte er sich aus den westlichen Wissen-

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schaften angeeignet (möglicherweise bei Auguste Comte), oder aus den aufkommenden evolutionären Ideen. Dies klang in den Ohren vieler Zuhörer wie Atheismus, aus seinen skeptischen Bemerkungen sollte man aber nicht schließen, dass er Atheist gewesen sei.6 Was er sich erarbeitet hatte, war eine Sicht auf die Religion, die in Kategorien von Entwicklung dachte. Wie er oftmals wiederholte, hielt er Religion für unabdingbar für die breite Masse der Gesellschaft, ganz ähnlich wie Renan. Die Religion, und zwar eine in Bildern und Gleichnissen sprechende Offenbarungsreligion schien ihm geeignet, den Zusammenhalt der Gesellschaft bei weniger fortschrittlichen Völkern zu sichern. Ganz in der Tradition der Philosophie auf griechisch-hellenistischer Basis, der falsafa, macht er einen Unterschied zwischen der Elite, (arabisch khassa), und dem ‚(all)gemeinen‘ Volk (‘amma). Alle Philosophen der islamischen Welt standen vor dem Problem, die griechischsprachige Philosophie, die als Teil der wissenschaftlichen Literatur der Antike seit dem 8. Jahrhundert ins Arabische übersetzt worden war und die sie seit al-Kindi (801-873), dem ersten „Philosophen der Araber,“ mit eigenen Fragestellungen weiterentwickelten, in ein Verhältnis zum Islam zu setzen. Sie mussten also die Frage beantworten, wie philosophische Erkenntnis und das Wissen, das sich aus der Offenbarung ableitet, zueinander stehen. Dies lösten sie, indem sie den Propheten die Aufgabe zuteilen, die Wahrheit unter all jenen Menschen zu verbreiten, die zu einer Beweisführung außerstande sind, denn, so sagt beispielsweise al-Farabi (870-950), „die Religion (…) dient zur Unterweisung der großen Menge über die theoretischen und praktischen Dinge“, die in der Philosophie abgeleitet wurden. Dies bewerkstelligt die Religion in einer Weise, dass den Menschen das Verständnis entweder durch Überzeugung (Rhetorik) oder durch das Heraufbeschwören von Bildern (Poesie) oder durch beides zusammen erleichtert wird.7 Vor allem Ibn Ruschd/Averroes argumentierte, dass die heilige Schrift des Koran nicht immer auf die gleiche Weise verstanden werden dürfe. Nach ihm gibt es Verse, die jedermann verstehen kann. Daneben gebe es Verse, die von den einfachen Menschen wörtlich verstanden werden müssten, von den Menschen mit starkem Intellekt aber allegorisch (ta’ wil). Und schließlich gebe es

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Verse, die wörtlich oder allegorisch verstanden werden könnten und bei denen die Gelehrten unterschiedliche Auffassungen vertreten dürften.8 Averroes/Ibn Ruschd sieht keinen Widerspruch zwischen dem, was er als Philosoph tut, wenn er die religiösen Wahrheiten mit dem Verstand durchdringt, und dem was die Theologen tun, wenn sie eine Dogmatik entwerfen, oder dem, was fromme Menschen tun, wenn sie in religiösen Bildern denken. Wenn man die allegorischen Interpretationen aber den Massen predige, so untergrabe dies einerseits ihren Glauben und führe andererseits zu sich bekriegenden Sekten und großer Uneinigkeit unter den Gläubigen. Deshalb sei es wichtig, die Elite und die breite Masse auseinanderzuhalten. Al-Afghani übernimmt diese Sicht. Langfristig wollte er jedoch eine rationalere, reformierte Form des Islam auch für die Massen erreichen. Reformation und Protestantismus hielt er auf diesem Weg für wegweisend und sah sich selbst in der Rolle eines Luther für die islamische Welt.9 Nach den Lehrjahren in Indien taucht Afghani in Afghanistan auf, wo er sich al-Rumi, („der aus Istanbul/Ostrom“) nennt. Hier gerät er auch erstmals ins Blickfeld des Westens, genauer des britischen Geheimdienstes. Der Bericht eines afghanischen Informanten beschreibt 1868 den zwei Jahre zuvor nach Afghanistan gekommenen 28-jährigen als einen antibritischen Agitator, der im Verdacht steht, ein russischer Agent zu sein. Er sei schlank, mit blassem Teint, auffallenden Augen, hoher Stirn, geschorenem Kopf und Kinnbart; einer, der ständig Tee trinke, im persischen Stil rauche, sich in Geographie und Geschichte gut auskenne, Arabisch, Osmanisch-Türkisch und Persisch (wie ein Iraner) spreche und eher eine europäische als eine muslimische Lebensweise pflege.10 In Afghanistan versucht sich der junge Dschamal al-Din zum ersten Mal darin, Einfluss auf die Herrschenden zu nehmen. Er avanciert zum Berater des Emirs von Afghanistan, der in einem Konflikt mit seinem Halbbruder einerseits und mit den Briten andererseits verstrickt ist und rät ihm, sich mit den Russen gegen die Engländer zu verbünden. Seine Gründe dafür sind ebenfalls in dem Geheimdienstbericht zu finden: Die englische Regierung halte sich nie an die Verträge, die sie abschließe. Man wisse, dass sie sich nie länger als 10 Jahre an ein Abkommen hielten. Außerdem seien sie Diebe unbekannter Herkunft, die erst kürzlich hochge-

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kommen sind und alles, was sie sich angeeignet haben, ihren Intrigen verdanken. Den russischen Staat gebe es dagegen seit den Zeiten Alexanders des Großen.11 Das Afghanistan-Abenteuer endete so, wie viele von Dschamal al-Dins einschlägigen Aktivitäten auch in Zukunft enden sollten: Der Emir wurde von seinem Halbbruder besiegt und ließ ihn ausweisen. Die nächste Station des rastlosen Wanderers war nun das Zentrum der Macht des damaligen Orients, Istanbul, die Hauptstadt des osmanischen Reiches, seit jeher eine kosmopolitische Stadt. Das Istanbul, in das al-Afghani 1869 kam, war eine schillernde, rastlose Metropole, die neben zahlreichen europäischen Spekulanten und Geschäftsleuten auch viele Intellektuelle aus allen Teilen des Reiches anzog. Der Staatsbankrott war nur noch sechs Jahre entfernt. Das Reich war ökonomisch und politisch unterwandert von den europäischen Großmächten, die den „kranken Mann am Bosporus“ nur deshalb am Leben ließen, weil sie sich sonst über die Aufteilung der Beute hätten bekriegen müssen.12 Doch Sultan Abdülaziz war nach außen noch der stärkste Herrscher im Orient. Die indischen Muslime hatten den Sultan schon zu Hilfe gerufen, die zentralasiatischen Muslime ebenfalls. Sie taten dies auf der Basis des Islam. Damit ermutigten sie den Sultan, die Kalifatsidee wieder aus den Akten zu holen, auf deren Basis er das Recht hätte, Souveränität auch für Muslime außerhalb des Reiches zu beanspruchen und die eher indirekte Herrschaftslegitimation der Schutzherren der Heiligen Stätten aufzugeben. Tatsächlich unternehmen aber sollte dies erst sein Nachfolger. Im Zuge der Umbrüche, die durch die Tanzimat-Reformen eingeleitet wurden, bildete sich auch im Reich eine neue Wissenselite heraus, die eher weltlich ausgerichtet war und deren zunehmender Einfluss vor allem von den traditionellen ‘ulama’, den Rechtsgelehrten bekämpft wurde. Besonders herausgefordert wurden sie jedoch durch die neue Schicht der Intellektuellen, zu der Afghani und der „Jungosmane“ Kemal gehörten, die eine Synthese zwischen europäischem und islamischem Gedankengut unternahm. Diese Intellektuellen waren es, die über den Rechtsbegriff der Tradition (taqlid) alles Traditionelle für veraltet erklärten. Die „Jungosmanen“, die sich 1867 gründeten, waren mit dem aus ihrer Sicht hemmungslosen Ausverkauf von Staat und Gesellschaft an

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die Europäer nicht mehr einverstanden und kritisierten die Männer der Tanzimat-Reformen. Dschamal al-Din, der sich nun al-Afghani nennt, kommt also in die letzte Phase der Reformen. Dschamal al-Din hatte Kontakte zu den Tanzimat-Modernisierern, nicht zu den Jungosmanen, wie gelegentlich behauptet wird. Auch hier gelang es ihm, schnell in hohe Kreise vorzudringen. Zu verdanken hatte er dies seiner geradezu magnetischen Anziehungskraft, die er wohl zum einen aus seiner „adeligen“ Herkunft als Abkömmling des Propheten bezog und zum anderen aus seiner immensen Gelehrsamkeit, die die falsafa, die Philosophie, einschloss. Dies war etwas Besonderes außerhalb Persiens, da in der arabischen Welt die Philosophie seit längerem nicht mehr gesondert gelehrt wurde und eher die praktischen Zugänge zu den Wissenschaften neben den traditionellen Wissensgebieten im Zentrum standen (so wurde zum Beispiel Ibn Khaldun in der osmanischen Verwaltung studiert). Als ein zwar traditionell gebieterisch aussehender Gelehrter (‘alim) mit Turban, der aber ein moderner Intellektueller war und Neues predigte, war Dschamal al-Din für die Bildungsreformer ein Geschenk des Himmels, denn diejenigen, die die Bezeichnung ‘alim sonst führen durften, gehörten zum traditionellen Establishment.13 Im Februar 1870 hielt er an der neuen Universität, genannt Darülfünun ‚Haus der (neuen) Wissenschaften‘, seinen ersten überlieferten Vortrag. Darin ruft er seine „Brüder“ auf, sich daran zu erinnern, dass die Gemeinschaft der Muslime (er spricht hier von milla) einmal ungeheuer stark und kostbar war, voller Klugheit, Verständnis und Besonnenheit. Dann sei sie in „Bequemlichkeit und Faulheit“ verfallen. So seien einige der muslimischen Nationen unter die Herrschaft anderer Nationen gefallen. Aber nun beginne die Gemeinschaft der Muslime, dank dem osmanischen Sultan als Beherrscher der Gläubigen, zu erwachen. Dieser weise Herrscher habe Häuser der Bildung und des Lernens, Schulen und Universitäten geöffnet, in dem die Brüder nun auch alle Arten von Wissenschaft studieren sollten. Er rief dazu auf, sich ein Beispiel an den „zivilisierten Nationen“ zu nehmen und dem, was sie erreicht hätten. Auch „für uns“ sei dies möglich und es gebe kein Hindernis für den Fortschritt.14 In dieser Rede kommt zum Vorschein, warum al-Afghani auch als einer der Väter des Nationalismus im Nahen Osten gehandelt

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wird. Er deutet den Begriff milla, der im Osmanischen Reich für eine Religionsgemeinschaft verwandt wurde, fast im Sinne einer Nation um. Gleichzeitig appelliert er an diese „muslimische Nation“, wieder zu ihrer vergangenen Größe zurück zu kehren. Ende des Jahres 1870 wurde er erneut zu einem öffentlichen Vortrag an der Universität eingeladen, diesmal mit dem Titel „Der Fortschritt der Wissenschaften und der produzierenden Gewerbe“. Er sollte in einer Vortragsreihe im Fastenmonat Ramadan stattfinden, die laut Vorankündigung im Amtlichen Anzeiger die Öffentlichkeit mit allen Zweigen der Natur-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften bekannt machen sollte. Der Sayyid war wohl denkbar ungeeignet für einen Vortrag über „produzierendes Gewerbe“ und tat, was er am besten konnte (und wollte): er dozierte über die Philosophie. Vor großem Publikum sprach er (auf Arabisch) über den Staat als einen lebendigen Körper, in dem die Glieder die einzelnen Gewerbe und Berufe seien (der König das Gehirn, Eisenverarbeiter die Arme, Bauern die Leber etc.), wobei die höchsten Berufe die des Propheten und des Philosophen darstellten. Der Vortragstext ist nicht überliefert, aber allen Berichten zufolge muss er sich dafür ausgesprochen haben, dass nicht alle Epochen einen Propheten bräuchten (eine Religion nähre ja viele Epochen), aber jede Epoche einen besonders erfahrenen und gelehrten Mann, ohne den die Ordnung aus dem Gleichgewicht gerate. Dieser Philosoph, also eine Art Genie, drückt der Epoche dann seinen Stempel auf. Der Philosoph erhalte seine Einsichten durch Argumente und Beweise, der Prophet durch Offenbarung. Der Philosoph habe eine universale Botschaft, der Prophet aber sei durch seine Zeit bestimmt. Damit stand der Philosoph über dem Propheten.15 Wenig überraschend verursachte diese These einen Skandal und bot eine willkommene Gelegenheit für die alte Elite der Gelehrten, alle voran der Scheichül-Islam, die ungeliebten Neuerer mitsamt ihrer Universität zu diskreditieren. Dschamal al-Din wurde aus dem Bildungsrat, in den er kurz zuvor aufgenommen worden war, entlassen und des Landes verwiesen. Zwei Jahre später wurde auch die neue Universität wieder geschlossen. Die nächste Etappe im Leben Dschamal al-Dins wird eine erfolgreichere sein. Wir sehen ihn in Ägypten, wo er acht fruchtbare Jahre verbrachte, und von 1871 bis 1879 gewissermaßen als Pri-

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vatgelehrter einen Kreis der vielversprechendsten jungen Männer Ägyptens um sich zu scharen vermochte. Auch in Ägypten gärte es in dieser Zeit. Kairo war die zweite Metropole des Osmanischen Reiches, wo der Khedive Ismail, der „Vizekönig“, eine Modernisierung und Öffnung betrieb, die der in Istanbul ähnlich war, sie jedoch mit dem Bau des Suez-Kanals noch übertraf. Damit trieb auch er sein Land in eine gigantische Verschuldung. Der Kanal hatte eigentlich mit europäischem Kapital von der Suezkanalgesellschaft gebaut werden sollen. Da Ferdinand de Lesseps aber seine Aktien in Europa nicht verkaufen konnte, schwindelte er mit offizieller Unterstützung Napoleons III. dem ihm freundschaftlich verbundenen und finanzpolitisch naiven Khediven 44% der Anteile auf. Da dieser über die dafür nötigen Finanzen gar nicht verfügte, riet ihm Lesseps zur kurzfristigen Staatsverschuldung durch Schatzanweisungen. Das war der erste Schritt auf dem Weg zum Staatsbankrott, denn um diese Schuld bedienen zu können, musste der Vizekönig immer weiter Auslandsanleihen aufnehmen, bis der Sultan es ihm verbot. Da war es jedoch schon zu spät. Während Ismail wie ein Pharao die Bauern Ägyptens den Kanal in den ersten Jahren in Zwangsarbeit mit den Händen graben ließ (als Renan die Baustelle als das „Königreich von Lesseps“ bewunderte, waren Monat für Monat 25.000 Mann unbezahlt im Einsatz, sehr viele kamen bei der gefährlichen Arbeit ums Leben) gerierte er sich den Europäern gegenüber als europäischer Herrscher und ließ für die pompöse Eröffnung des Kanals 1869 von Verdi die Oper Aida komponieren. Die europäischen Gläubiger schafften es, zu verhindern, dass Ismail sich nach dem Vorbild des Sultans für zahlungsunfähig erklärte. Ägypten wurde als voll zahlungsfähig deklariert. Um die ordnungsgemäße Rückzahlung der Schulden zu gewährleisten, wurde 1878 eine neue Regierung gebildet, mit einem Engländer als Finanzminister und einem Franzosen als Minister für Öffentliche Arbeiten. Als Ismail 1879 gegen diese faktische Entmachtung aufbegehrte, zwangen die europäischen Regierungen den Sultan, ihn abzusetzen, ins Exil zu schicken und seinen Sohn Taufiq zu seinem Nachfolger zu machen.16 Die Lage in Ägypten war also ein geeigneter Nährboden für die Lehren des Sayyid Dschamal al-Din, zum einen für seine Verurtei-

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lung korrupter einheimischer Eliten und seine anti-koloniale Propaganda, zum andern für die innere Reform des Islam. Sein Erfolg in Ägypten beruhte darauf, dass er beide Themen geschickt miteinander zu verknüpfen wusste, im Sinne einer muslimischen Selbstvergewisserung durch die Philosophie und der Selbstbehauptung im Angesicht europäischer Übermacht. Auch in Ägypten war die falsafa, die Philosophie in Vergessenheit geraten, und diejenigen, die mit der Orthodoxie unzufrieden waren, holten sich Inspiration aus dem Mystizismus der großen Sufi-Bruderschaften. Al-Afghanis neuartige Kombination aus islamischer Philosophie, Mystik, ungewöhnlichen Auslegungen der heiligen Schriften und die Verknüpfung all dessen mit aktuellen Fragen machten ihn zu einem Magneten für ganz unterschiedliche intellektuelle junge Männer aller Religionen. Mindestens einer seiner bekannten Anhänger war jüdisch, (Ya’qub Sanu‘a), zahlreiche Christen waren darunter und natürlich Muslime. Aus ihren Berichten wissen wir von der ungeheuren Verehrung, die sie al-Afghani entgegen brachten. Das lag auch an seinen Lehrmethoden. Der „Weise des Orients“, wie er genannt wurde, las und diskutierte mit seinen Schülern, ganz im Stil der alten Philosophen, aber auch der islamischen Mystiker, entweder bei sich zu Hause oder in Kaffeehäusern. Er ermutigte sie, selbst zu denken und zu interpretieren. Und er ermutigte sie, Zeitungen zu gründen und ihre Ideen in ihnen zu veröffentlichen. Muhammad Abduh, der spätere Reformtheologe und Mufti von Ägypten wird später schreiben, dass sich die Ägypter vor dem Jahr 1877 ihrer Regierung bedingungslos ausgeliefert hätten. Niemand wagte es, eine eigene Meinung zu haben, denn der despotische Khedive verfolgte andere Meinungen. Die Menschen hätten sich nicht ausgetauscht, hätten in Vereinzelung gelebt. In dieses düstere Szenario sei im Jahre 1286 (der Hedschra) der Sayyid Dschamal al-Din gekommen, ein „seltsamer Mann, ungeheuer bewandert in der Religion und in den Belangen der Welt“.17 Afghani predigte nicht nur die Solidarität der Muslime, er schien sie auch herzustellen. Als 1877 Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich ausbrach, fielen die Zeitungen und Zeitschriften, die er angeregt hatte, auf fruchtbaren Boden. Auf einmal rissen sich alle um ägyptische Zeitungen. Immer neue Presseorgane wurden gegründet, und mit der Zeit widmeten sie sich

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politischen und sozialen Problemen und begannen sich für den Zustand der ägyptischen Finanzen zu interessieren.18 In der Tat wurde Ägypten ab Mitte der 1870er Jahre zum Zentrum des arabischen Journalismus. Viele Intellektuelle, Journalisten, Literaten aus dem übrigen Reich, vor allem aus Beirut und Damaskus, zog es nach Kairo. Al-Afghani leitete fast schon eine Journalistenschule, schrieb Abduh später, und die Mehrheit der Zeitungen auf dem ägyptischen Markt stand unter seinem Einfluss. Er begann, zahlreiche öffentliche aufrührerische Reden, auch vor dem Volk zu halten. So in Alexandria: „Oh Ihr Bauern, Ihr zerbrecht das Herz der Erde um Eure Familien zu ernähren. Warum brecht ihr nicht das Herz Eures Unterdrückers? Warum brecht Ihr nicht das Herz derer, die die Früchte Eurer Arbeit essen?“19 Ebenso hielt er 1879 eine Rede, wieder in Alexandria, aber vor gesellschaftlich höherem Publikum, in der er diesem eröffnete, dass es entweder von den alten Ägyptern oder, im Falle der Zuhörer, die aus Beirut und Damaskus kamen, von den Phöniziern oder Chaldäern abstammten. Die große Architektur, von der die Ruinen der antiken Monumente Zeugnis ablegten, straften alle diejenigen Lügen, die meinten, die Orientalen seien unfähig und nicht in der Lage, Bedeutendes zu schaffen. In der Gegenwart sei es so, dass die Ausländer die Länder des Ostens aufgeteilt hätten, deren Rückständigkeit einen Grund haben müsse. Wenn man die Realitäten philosophisch untersucht, sagte Afghani, finden wir für unsere Rückständigkeit nur zwei Ursachen: Fanatismus und Tyrannei. Fanatismus sei der Missbrauch der Religion. Wenn man sich die Religionsgründer ansehe – Moses, Jesus, Mohammed – finde man in ihren Lehren nur die Anerkennung Gottes als Ursprung der Wahrheit, den Aufruf zur Tugend und zum „Praktizieren des Guten und der Vermeidung des Bösen“ (eine zentrale Anweisung der Schari‘a als Pflicht für jeden Muslim, B.S.). Die Nachfolger der Religionsgründer hätten aber die Lehren missbraucht um Zwietracht in der Gemeinde zu säen. Afghani stellt also alle Monotheismen auf eine Stufe und macht keine Differenz zwischen ihnen auf. Er betont das Verbindende und wertet Christentum und Judentum nicht ab. Was die Tyrannei betreffe, so bedeute sie, die Nation an die Kette nur eines einzigen Willens zu legen und nur zu dessen Gefallen zu handeln. Er hoffe, so Afghani weiter, dass die Männer im

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Publikum eine patriotische, nationale Partei gründeten, die Sache des Vaterlands unterstützten und darin die parlamentarische Herrschaft stärkten, damit Gerechtigkeit und Gleichheit herrsche und keine ausländische Protektion mehr nötig wäre. In dieser Rede erwähnte er auch einmal Frauenrechte. Sonst mied er das Thema und die Frauen eher. Er warnte die Herren in der Halle, dass man niemals aus der Dummheit, Demütigung und Schwäche herauskomme, solange die Frauen keine Rechte hätten und ihre Pflichten nicht verstünden. Denn es seien die Mütter, die den Kindern Moral beibrächten. Sogar wenn alle Männer einer Nation gebildet wären, würde die Bildung der Nation nur diese Generation überleben. Denn ohne entsprechende Frauen in der Nation kehre sie unweigerlich zur Unwissenheit zurück.20 In seiner jüngsten Renaissance im Gefolge des Arabischen Frühlings hat man Afghani als einen Demokraten gesehen, auch weil er am Ende seines Lebens, im goldenen Gefängnis des Sultans in Istanbul, seine Anhänger aufrief, ihre Zeit nicht damit zu verschwenden, despotische Herrscher überzeugen zu wollen.21 Sie sollten sich auf das Volk konzentrieren, und die Basis der Tyrannei beseitigen, nicht ihre Vertreter: „Oh hätte ich doch die Saat meiner Ideen in den empfänglichen Boden der Gedanken des Volkes gesenkt! …. Sucht die Grundmauern des Despotismus zu zerstören, nicht einzelne seiner Vertreter….“.22 Immerhin hat er in obiger Rede 1879 von einem Parlament und Parteien gesprochen und er hatte in der Tat eine gerechtere Gesellschaftsordnung vor Augen, auch für die breite Masse der Bevölkerung. Wie weit diese partizipieren sollte, hat er freilich nicht ausformuliert. Zuvorderst ging es darum, die Schwäche zu bekämpfen und Einheit herzustellen, auch zwischen Sunna und Schia. Mit der Aufgabe der Würde „des Beherrschers des Wissens (‘ilm), des Rechts (fiqh) und des eigenständigen Räsonnierens (idschtihad)“, das die ersten vier rechtgeleiteten Kalifen noch ausgeübt hätten, vermehrten sich die Sekten und die Konflikte nahmen zu, schrieb er, die Zersplitterung des Islam kritisierend.23 Im Sultan des osmanischen Reiches sah er eine Möglichkeit, die umma zu einen und zu schützen. Der Sultan und der Schah waren die einzigen Herrscher, die es in Westasien gab. Lange setzte er Hoffnungen in sie. Der Schah wird ihn ausweisen, und von einem seiner Schüler ermordet werden, wovon sich Afghani allerdings

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distanzierte. Der Sultan wird ihn am Ende seines Lebens in einem goldenen Käfig festsetzen, in dem er 1897 an Krebs stirbt. Obwohl Afghani auch versucht hatte, als Freimaurer seine Logenbrüder politisch zu instrumentalisieren war es sein publizistischer Einfluss, der dem neuen Khediven Taufiq unheimlich war und der dazu führte, dass Dschamal al-Din noch im gleichen Jahr gewaltsam auf ein Schiff verfrachtet wurde, das ihn von Suez nach Karachi brachte. In den drei Jahren die er daraufhin in Indien verbrachte, schrieb er eine Reihe von Artikeln und seinen einzigen längeren Text, die Polemik Die Wahrheit über die Materialisten, oder, wie es der deutsche Journalist Robert Jedermann, der Dschamal al-Din ein Jahr vor seinem Tod lange interviewte, treffend formulierte: „Über den schädlichen Einfluss des Materialismus auf das Volk“.24 In der Materialismus-Schrift rechnet er mit dem philosophischen Materialismus von Demokrit bis Darwin ab, bzw. dem, was er über Darwin gehört zu haben glaubt, und mit sämtlicher radikaler Kritik an der Religion (auch westlicher), weil sie dem Volk das einigende Band und die Moral nehme. In Europa, so schreibt er, seien die Franzosen das einzige Volk, das nach dem Untergang der Römer das Banner der Wissenschaften getragen und den ganzen Kontinent zivilisiert habe, bis im 18. Jahrhundert Voltaire und Rousseau behauptet hätten, den Aberglauben zu beseitigen und den Geist zu erhellen. Diese beiden hätten Epikur, den Kyniker, aus seinem Grab geholt und mit seinen alten Knochen den Naturalismus wieder zum Leben erweckt, zuletzt sogar die Französische Revolution bewirkt. Napoleon Bonaparte habe die Religion wieder eingeführt, aber die schädlichen Ideen seien immer noch einflussreich und hätten zu der Niederlage Frankreichs gegen die Deutschen 1871 geführt. Außerdem hätte eine Gruppe von Sozialisten, die sich auf diese beiden Männer beriefen, Frankreich genauso schwer geschwächt wie die Deutschen im Deutsch-Französischen Krieg. An den „Sozialisten, Kommunisten und Nihilisten“ lässt er kein gutes Haar und reiht sich in Reihen derer ein, die ihre Kritik damals mit allerlei plumpen Unterstellungen unterlegten: Sie brächten nur „Unzucht (durch die Vergemeinschaftung der Frauen) und Kommunismus“ und den sicheren Untergang für alle Länder, in denen sie stark würden.25 Renan würde ihm hier in vielem zustimmen. Af-

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ghani blieb also auf dem Laufenden, was die Länder Europas betraf. Auffällig ist hier sein Schluss, jede Schwächung der Religion ziehe eine Schwächung des Staates nach sich, den er des Öfteren zieht. Natürlich dreht sich der Großteil des Textes aber um diejenigen innerhalb des Islam, die ihn durch ihren Materialismus schwächen wollten. Der Islam, so wie er ihn zu reformieren hoffte, war ein aktiver, ja aktivistischer Islam. Gegen Ende der Schrift findet sich eine Passage, die diesem Gedanken Ausdruck verleiht und den berühmten Koran-Vers enthält, den er als Erster in die Diskussion gebracht hat und der seitdem mit dem modernen Islam untrennbar verbunden ist. Wenn man ihm sage: „Wenn die islamische Religion so ist, wie du sagst, warum sind dann die Muslime in einer so traurigen Verfassung?“, werde er antworten: Als die Muslime (noch wirkliche) Muslime waren, konnte sich die ganze Welt von ihrer Exzellenz überzeugen. Was die Gegenwart betreffe, so werde er sich mit dem Koranvers begnügen: „Denn Gott verwandelt nicht, was an Menschen ist, bis sie verwandeln, was an ihnen ist“26 Als die Muslime wahrhaft gläubig waren, waren sie also auch stark. Tugend, Zivilisation und Stärke sind im Denken Dschamal al-Dins grundsätzlich miteinander verbunden. Als die Muslime Gott gegenüber gleichgültig wurden, wurden sie auch gegen einander gleichgültig. Ihre Solidarität wurde schwach, und so nahm auch ihre Stärke ab. Wenn die Solidarität wieder erstarke, und sich die Muslime moderne Wissenschaften aneigneten, würden ihre Länder auch wieder erstarken. Was aber verstand Afghani unter modernem Wissen, modernen Wissenschaften? Darüber sprach er in einem Vortrag im November 1882 in der Albert Hall in Kalkutta mit dem Titel „Über das Lehren und Lernen“ (auf Persisch). Dort erklärte er zunächst, was er unter Wissenschaft verstand, nämlich die Wissenschaft der falsafa, der Philosophie, die universell sei, dem Menschen seine Voraussetzungen erkläre und jede Wissenschaft in ihrem geeigneten Bereich anwende. Dann wandte er sich gegen die zeitgenössischen Gelehrten des Islam. Wenn ein Gelehrter ein Gelehrter sein wolle, müsse er Licht auf die ganze Welt werfen, und wenn sein Licht nicht die ganze Welt erreiche, dann sollte er wenigstens seine Region, seine Stadt, sein Dorf oder sein Heim erhellen. (…) Es sei

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völlig unverständlich, dass die islamischen Theologen und Rechtsgelehrten (‘ulama‘) die Wissenschaft in zwei Hälften geteilt hätten. Die eine Hälfte bezeichneten sie als islamische, die andere als europäische Wissenschaft. Deshalb verböten sie, einige dieser nützlichen Wissenschaften zu lehren. Sie hätten nicht verstanden dass die Wissenschaft eine edle Sache und nicht mit irgendeiner Nation verbunden sei, dass sie sich durch nichts anderes auszeichne als durch sich selbst. Es sei eher so, dass alles, was bekannt sei, durch die Wissenschaft bekannt sei und jede Nation die geachtet werde, erwerbe sich diese Achtung durch Wissenschaft. Die Menschen müssten sich zur Wissenschaft in Beziehung setzen, nicht die Wissenschaft zu den Menschen. Es sei doch ungeheuer seltsam, dass die Muslime die Wissenschaften, die Aristoteles zugeschrieben werden, mit dem größten Entzücken studierten. (Hier sprach er allerdings von Indien und Persien, nicht von der arabischen Welt.) Wenn es aber um Galileo, Newton, und Kepler gehe, betrachteten sie sie als Ungläubige und lehnten daher die Physik oder die Astronomie ab. Der Vater und die Mutter der Wissenschaften seien aber der Beweis, und der Beweis sei weder Aristoteles noch Galileo. Wer Wissenschaft und Wissen verbiete, weil er glaube, dass er so die islamische Religion bewahre, sei in Wahrheit der Feind dieser Religion. Der Islam sei die Religion, die der Wissenschaft und dem Wissen am nächsten stehe. Wissenschaft und Wissen stünden nicht im Widerspruch zu den Grundlagen des muslimischen Glaubens. Hier bedient sich Afghani eines Topos, den auch Kemal und Bajazitov aufgreifen und der zum Standardargument des modernen Islam wird. Die erste Bildung, die der Mensch erlangt habe, sei die religiöse Bildung gewesen, da philosophische Bildung nur von einer Gesellschaft erlangt werden könne, die bereits einiges an Wissen besitze und dadurch in der Lage sei, Beweise und Beweisführungen zu verstehen. Die Muslime könnten niemals eine Reform vollziehen, bevor die religiösen Führer sich nicht selbst reformiert hätten und die Früchte der Wissenschaft und des Wissens ernteten. Zerfall und Korruption in den muslimischen Gesellschaften, „wie wir sie erlebt haben“ hätten „Theologen, Juristen und alle religiösen Führer“ befallen, bevor sie auf den Rest der Gemeinschaft übergegriffen hätten.27 Afghani, selbst ein „gelehrter Intellektueller“, will trotz all seiner Agitation gegen die traditionelle Gelehrten-

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schaft diese nicht abschaffen, sondern sie reformieren. Da er aber keine Änderung in der Ausbildung bewirken konnte (dies bewirkte zwar Muhammad Abduh, sein zeitweiliger Anhänger, aber in eine andere, rein theologische Richtung), unterminierte er, wie alle Modernen, die Autorität der Gelehrten, ohne einen adäquaten Ersatz zu schaffen. Dies wird im 20. Jahrhundert schwerwiegende Folgen haben.

Ironie und Eleganz: Afghanis Replik auf Renan 1883, nachdem er sich jahrelang eingehend mit Europa, seiner Politik und vor allem seiner Wissenschaft beschäftigt hatte, entschloss sich Afghani, Europa selbst in Augenschein zu nehmen, zumal ihn der britische Geheimdienst in Indien nicht aus den Augen ließ. Europa bedeutete für die Intellektuellen Westasiens zu dieser Zeit unweigerlich Paris oder London. Beide Städte wollte Dschamal al-Din besuchen, sich aber letztlich für eine Weile in Paris niederlassen. Dort lebten einige seiner Schüler und Gefährten aus seinen Jahren in Ägypten im Exil und gaben weiterhin Zeitungen heraus. Die erste Meldung über seine Ankunft in Paris findet sich denn auch in der Zeitung seines jüdischen Anhängers Ya‘qub Sanu‘a, der sich jetzt James Sanu‘a nannte. Er gab weiterhin eine satirische Zeitschrift heraus, die in Ägypten verboten worden war. Am 19. Januar vermeldete die Rubrik „wichtige Neuigkeiten“, dass der große Dschamal al-Din, der sein Leben im Dienste der Menschheit zubringe und die Ägypter liebe, nun in Paris lebe und fortan für die Zeitung schreiben werde. Dies tat Afghani auch, ebenso wie er im nächsten Jahr zusammen mit seinem Vertrauten, dem muslimischen Reformtheologen und späteren Mufti von Ägypten, Muhammad Abduh, eine eigene Zeitschrift publizierte. Die Hefte wurden in geschlossenen Umschlägen in die muslimische Welt versandt, wo die Zeitschrift bald auf dem Index stand. Afghani veröffentlichte in den nächsten drei Jahren auch Artikel in mehreren französischen Journalen. Der wichtigste und bekannteste Artikel wurde zweifellos seine Replik auf Ernest Renan im Journal des débats. Herr Renan, „dessen Ruf das Abendland erfüllt und bis in die entlegensten Theile des Morgenlandes gedrungen ist“, habe, so

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Afghani in erlesen höflichem Ton und mit feiner Ironie, nicht versucht, „den Ruhm der Araber, der ja unzerstörbar ist, zu zerstören“. Er habe einen dunkel gebliebenen Punkt in ihrer Geschichte aufhellen und den Religionsforschern zur Kenntnis bringen wollen. Leider habe er, Afghani, „nur eine mehr oder weniger getreue Übersetzung seines Vortrags vor Augen gehabt und deshalb nicht tiefer in die Gedanken dieses großen Weisen eindringen können. Möge (er) seinen ehrerbietigen Gruß als eine ihm gebührende Hochachtung und als aufrichtiges Zeichen seiner Bewunderung empfangen“. Mit noch zugespitzter Ironie geht es weiter: „Ich muss Herrn Renan“, schreibt Afghani, „bei dieser Gelegenheit sagen, was alMutanabbi, „ein Dichter, der die Philosophen liebte, vor einigen Jahrhunderten an eine hochgestellte Persönlichkeit schrieb, deren Taten er verherrlichte: Empfange, sagte er zu ihm, das Lob, das ich Dir zu geben vermag; nötige mich nicht, Dir das Lob zu erteilen, das Du verdienst“ (S. 152). Afghani zitiert hier einen Vers aus einem bis zur Ironie übersteigerten Lobgedicht (madih), das der berühmte arabische Poet der Abbasidenzeit, al-Mutanabbi (915-965) für einen Kammerherrn am Kalifenhof schrieb. Für das „Lob“, das so übertrieben ausfiel, dass seine wahre Bedeutung jedem auffiel, zahlte ihm der unzufriedene Kammerherr nur einen Dinar, worauf der Dichter sein Gedicht fortan spöttisch „al-Dinariyah“ nannte.28 Welch exquisiten Spott legt Afghani hier an den Tag, indem er Renan durch Übertreibung verklausuliert mitteilt, was er von ihm und seinen Thesen über die Araber hält! Ob Renan, bekanntlich selbst ein Meister der Ironie, dies erkannte? Renan habe, so Afghani weiter, dem arabischen Volk unterstellt, dass es weder den metaphysischen Wissenschaften (er meint wohl Mythologie/Mythosbildung oder auch Theologie) noch der Philosophie zugeneigt sei – diese wertvolle Pflanze, so umschreibt es Afghani, Renans fixe Idee der Wüste aufnehmend, also „verdorre in muslimischen Händen wie unter dem glühenden Hauch des Wüstenwindes“. Er aber vertrete die Ansicht, dass keine Nation in ihren Urzeiten fähig gewesen sei, sich von der reinen Vernunft leiten zu lassen. Es habe immer „Lehrer und Erzieher“ bedurft, die die Menschen im Auftrag eines höheren Wesens lenkten, dem sie alles „zuschrieben“. Dann folgt ein bemerkenswerter

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Satz, der allen Religionen gleichermaßen eine Bedeutung für die Fortentwicklung der Menschheit zuschreibt: „Das ist ohne Zweifel das schwerste und demütigendste Joch für den Menschen, ich erkenne es wohl, doch kann man nicht leugnen, dass sämtliche Nationen durch diese religiöse muslimische, christliche oder heidnische Erziehung aus dem Zustand der Barbarei herausgetreten und so einer höheren Gesittung entgegen geschritten sind“. Der – uns nicht bekannte – deutsche Übersetzer des Jahres 1883 fragt sich an dieser Stelle fasziniert, ob der gelehrte Afghane wohl Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ kannte, so frappierend sei die Ähnlichkeit der Gedanken. Alle Religionen sind intolerant fährt Afghani fort, jede auf ihre Weise. Aber er stellt ein historisches Argument den essentialistischen Thesen Renans gegenüber: Der Islam sei mehrere Jahrhunderte jünger als das Christentum. Warum sollte also den muslimischen Gesellschaften nicht in der Zukunft gelingen, was den christlichen gelang? Er könne nicht gestatten, dass den Muslimen diese Hoffnung geraubt werde und er verteidige vor Herrn Renan „nicht die Sache des Islams, sondern die Sache mehrerer hundert Millionen Menschen, die, wenn Renan Recht hätte, dazu verurteilt wären, in Barbarei und Unwissenheit fortzuleben“. Tatsächlich habe der Islam versucht, die Wahrheit zu ersticken, und er habe die Philosophie und die wissenschaftliche Wahrheit gehemmt – aber ein solcher Versuch sei ja auch von der katholischen Kirche gemacht worden, deren „verehrte Häupter ihre Waffen“ seines Wissens noch nicht niedergelegt hätten (S. 154). Aber Afghanis Kritik am gegenwärtigen Zustand des Islam ist scharf und unüberhörbar: Ein wahrhaft Gläubiger sei jetzt „an das Dogma, dessen Sklave er ist, wie ein Ochse an den Pflug gespannt“ und müsse „ewig in der derselben Furche, die ihm die Gesetzesausleger vorzeichnen, einherschreiten“. Überdies sei ein solcher Gläubiger auch noch davon überzeugt, „dass seine Religion alle Moral und Wissenschaft“ enthalte – deshalb strebe er nicht nach Wissen und verachte die Wissenschaft. Afghani stimmt Renan auch darin zu, dass die „arabische Rasse“ nicht lange mit der Philosophie und der Wissenschaft in Frieden zusammen gelebt habe, also die Philosophie schon bald unterdrückt habe. Aber er macht die Tatsache geltend, dass sich das arabische Volk in seinem frühen, „barbarischen“ Zustand in er-

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staunlich kurzer Zeit fast sämtliche griechischen und persischen Wissenschaften angeeignet und sie „weiter entwickelt, ausgedehnt, aufgehellt, vervollkommnet und mit Genauigkeit logisch geordnet“ habe – eine Tatsache, die Renan bestritten hatte und die von europäischen Wissenschaftlern bis heute nicht akzeptiert wird.29 Er widerspricht Renans Argumentation, es sei die weite Distanz zu Konstantinopel gewesen, die in Europa die Rezeption der antiken Überlieferung verhindert habe. Es seien die Europäer gewesen, die geographisch näher an Rom und Byzanz gewesen seien, nicht die Araber. Warum haben sie die wissenschaftlichen Schätze der Antike also nicht selbst gehoben? Dann belehrt er Renan, den Theoretiker der Nation: Was die Nationen betreffe, so unterschieden sie sich im Wesentlichen durch ihre Sprachen voneinander. Wenn man nur nach Eroberungen gehe und nicht anerkenne, dass Eroberer und Eroberte zu Völkern verschmelzen und irgendwann eine gemeinsame Sprache sprechen, so würden weder Kardinal Mazarin noch Napoleon Bonaparte Franzosen sein dürfen. In gleicher Weise gehörten Harranier und Syrer zur großen arabischen Familie (S. 159). Doch wenn es um den gegenwärtigen Islam geht, ist er durchaus wieder bei Renan – nur fordert er ein, dass auch das Dogma des Christentums kritisiert werden müsse. Der Islam habe überall da, wo er sich festgesetzt hat, die Wissenschaften zu ersticken versucht und er sei dabei wunderbar vom Despotismus unterstützt worden. Allerdings sieht Afghani dies im Falle des Christentum nicht anders: „Die Religionen gleichen sich alle“. Keine Verständigung sei zwischen den Religionen und der Philosophie möglich. „Die Religion auferlegt dem Menschen ihren Glauben, während die Philosophie ihn ganz oder zum Teil davon befreit“. Als die christliche Religion „in den bescheidensten und verführerischsten Formen“ in Athen und Alexandrien einzog, erstickte sie die exakte Wissenschaft und die Philosophie „unter dem Gestrüpp theologischen Gezänks“, um an ihrer Stelle die „nicht zu erklärenden Mysterien der Trinität, der Inkarnation und der Transsubstantation zu erklären“. Die Dreieinigkeit, die Menschwerdung Gottes und die unsichtbare Verwandlung von Brot in den Leib Christi sind für Muslime in der Tat schwer zu verstehen. Afghani deutet hier an, der Islam sei zu vernünftig für derart unzugängliche Mysterien.

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Er schließt düster: So werde es ewig bleiben. Solange die Menschheit lebe, werde der Kampf zwischen dem Dogma und der freien Forschung, zwischen Religion und Philosophie nicht aufhören. Der Triumph werde wohl nicht auf Seiten der freien Gedanken sein, weil die Vernunft der Menge nicht zusage, ihre Lehren nur von herausragenden Intelligenzen verstanden werden können und weil auch die Wissenschaft die Menschen nicht ganz befriedige, da sie doch nach einem Ideal dürsteten.

Die (Nicht-)Rezeption der Replik im Orient Afghanis Erwiderung rief unter den Muslimen von Paris, vor allem den jungen Muslimen, einige Aufregung hervor. Sie hielten seine Entgegnung für zu milde und für zu islamkritisch. Wie der Professor für Literatur an der Universität Kairo Ahmad Amin schrieb, legten sie keinen Wert darauf, diesen Artikel von Afghani weiter zu verbreiten.30 Auch Muhammad Abduh, immer noch Afghanis Lieblingsschüler, der in Beirut von der Debatte in Paris hörte, wollte zunächst den Text Afghanis auf Arabisch veröffentlichen, entschied sich jedoch dagegen, als er das Journal erhielt und ihn las. In einem Brief schrieb er einen Monat nach Erscheinen der Erwiderung an den Sayyid nach Paris: „Wir halten uns an Dein Diktum: Man köpft das Haupt des Islam nur mit dem Schwert des Islam. Wenn Du uns jetzt sehen könntest, würdest Du nur Asketen und fromm Betende sehen, die knien und sich niederwerfen und Gott gehorchen und alles tun, was sie tun sollen“.31 Neben Afghanis Replik selbst hat auch dieser Brief mit seiner harten Formulierung für viele Diskussionen gesorgt. War Afghani etwa Atheist?32 Das Wortspiel des Briefes ist differenzierter zu erklären: Nur mit der richtigen Interpretation (dem Schwert) des Islam kann man die Häupter des Islam, also die traditionellen Rechtsgelehrten, bekämpfen, meinen die Reformer.33 Der Rest des Briefes an Afghani bedeutete in etwa: „Wir bleiben noch in Deckung.“ Auch wenn Muhammad Abduh die Entgegnung nicht auf Arabisch veröffentlichen wollte, um Afghani und ihr damals noch gemeinsames Reformprogramm innerhalb der muslimischen Welt nicht zu kompromittieren, verstand der spätere Mufti von

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Ägypten Afghanis Aussagen nicht als un- oder anti-islamisch. Es ging hier gegen die „Tradition“ und ihre Gelehrten, also um Taktik gegen einen Gegner, nicht gegen den Islam. In der Folge wurde nur Renans Text ins Arabische übersetzt und im Orient verbreitet. Afghanis Entgegnung wurde verschwiegen. Ahmad Amin nahm zwar einen kurzen Abschnitt über Afghanis Thesen 1948 in sein Buch Reformer im modernen Zeitalter auf, erweckte dabei aber den Eindruck, Afghani habe den Islam gegen Renan verteidigt.34 Bis heute ist diese Meinung vor allem in Ägypten weit verbreitet. Als unlängst eine Journalistin in Kairo den Berater der al-Azhar Universität für inter-religiöse Fragen, einen Professor für Hebräisch, der 14 Jahre lang in Frankreich tätig gewesen war, zu Afghanis Islamkritik, besonders seinem Satz, der Islam habe die Wissenschaft zu ersticken gesucht, befragte, wehrte der entschieden ab. Dies habe doch Renan gesagt, nicht Afghani! Das Gegenteil sei wahr, der Islam habe alle Türen für die Wissenschaft geöffnet – so hätten es Afghani und Abduh gelehrt.35 Afghani hatte seine Entgegnung in arabischer Sprache an die Redaktion des Journal des débats gegeben, die eine Übersetzung, „so getreu wie sie es vermochte“, am 18. Mai 1883 abdruckte. Die lange Zeit zwischen Renans Beitrag vom 30. März und Afghanis Entgegnung wurde zum Anlass für Spekulationen, ebenso die Frage, wer seinen Text übersetzt hatte. Wahrscheinlich diskutierte der Pariser Kreis um Afghani, der Renans Beiträge kannte, Renans Vortrag mit ihm und animierte ihn zu einer Entgegnung. Am wahrscheinlichsten ist es, dass Khalil Ghanim, der auch zu diesem Kreis gehörte, dann im Auftrag der Redaktion die Übersetzung vornahm. Er hatte auch den Kontakt zwischen Afghani und Renan vermittelt, wie dieser selbst in seiner Entgegnung auf Afghani schrieb.36 Ghanim (1846-1903) war ein in Beirut geborener Maronit, der selbst eine Wochenzeitschrift herausgab, ebenfalls im Journal des débats schrieb und später zwei Bücher veröffentlichte.37 Er war im Libanon Dragoman (Übersetzer) für den osmanischen Gouverneur gewesen, dann Übersetzer im Amt des Großwesirs in Istanbul und Abgeordneter im ersten osmanischen Parlament, bis es 1879 aufgelöst wurde. Daraufhin war er nach Paris gekommen, wurde französischer Staatsbürger und Mitglied der Ehrenlegion.38 Ghanim war sprachlich sicherlich der am bes-

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ten Geeignete für diese Übersetzung.39 Andere haben behauptet, dass Renan selbst Afghanis Entgegnung übersetzt und diese genauso erfunden habe, wie den von Massignon als Fälschung entlarvten Brief des Kadi.40 Allerdings war Renans Arabisch nicht gut genug, um die Erwiderung zu übersetzen. Und was Afghani betrifft, so ist bekannt, dass er sehr viel Wert auf seine Veröffentlichungen legte und die Übersetzung sicher prüfte oder prüfen ließ. Er hätte eine ernsthafte Veränderung seiner Thesen sicher nicht hingenommen und im Zweifelsfall eine weitere Entgegnung in seiner eigenen Zeitschrift al-‘urwa al-wuthqa (‚das festeste Band‘) die er ein Jahr später zusammen mit Muhammad Abduh in Paris heraus gab, veröffentlicht. Er erwähnt die Kontroverse dort aber mit keinem Wort. Tatsächlich gab es bis zum Jahr 1997 keine vollständige Übersetzung der Antwort Afghanis ins Arabische. Es dürfte kein Zufall sein, dass es ein Tunesier war, Muhammad al-Haddad, der an der Sorbonne promoviert hatte, der die Entgegnung wortgetreu ins Arabische übersetzte und mit einer Einführung herausgab.41 Nach dem 11. September 2001 veröffentlichte Haddad seine Übersetzung der Antwort Afghanis auf wechselnden Web-Seiten im Internet. In einem neuen langen Vorwort erklärt er nun, dass es der „patriarchalischen Lehrart“ geschuldet sei, dass die Menschen im Orient nicht den ganzen Text von Afghanis Entgegnung auf Renan lesen dürften. Der „Autor-Vater“ erlaube sich, zu entscheiden, was seine Leser wissen dürfen und was nicht, aber mit dem Unterschied, dass es hier nicht um Kinder gehe. Bis zu Ibn Ruschd geht er zurück, um zu beweisen, dass die Neugier eine starke Motivation auf der Suche nach der Wahrheit sei. Die Philologie habe etabliert, dass man Texte nicht als Privatbesitz behandeln und diese nach Belieben verstümmeln dürfe (ein Seitenhieb auf Ahmad Amin). Man muss mit dem Text, sagt Haddad, objektiv und treu umgehen, egal von wem er stamme. Seit 1883 würde nun diese Kontroverse diskutiert, ohne dass die Texte vollständig gelesen würden. Die beste Methode sei aber, dass man den Text im historischen Kontext wiedergebe. Der arabische Leser habe ein Recht darauf und müsse es andererseits aushalten, was über seine Kultur und seine Religion gesagt wird, auch wenn es von einem Ausländer komme. Wenn er aber nicht akzeptiere,

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was da gesagt werde, dann solle er lieber seine Wut gegen diejenigen richten, die das Bild des Islam so repräsentieren, wie Renan es beschrieben habe. Ein Jahrhundert nach dem Disput gebe es nämlich solche Fanatiker, wie sie Renan beschrieben habe, und zwar in großer Zahl. „Wir sehen sie jeden Tag, vor allem seit dem 11. September 2001, nicht in den Büchern der europäischen Orientalisten sondern auf dem arabischen Sattelitensender al-Jazeera“ – und al-Jazeera, sagt Haddad, können wir ja schlecht vorwerfen, für die Orientalisten Partei zu ergreifen. Wenn man sich die Fanatiker aus Pakistan, Afghanistan, Ägypten und Algerien ansehe, die Blutbäder anrichteten und die die Länder des Nahen Ostens zerstören wollten – seien diese nicht das Thema, mit dem sich die Muslime und ihre Gesellschaften beschäftigen sollten, und nicht die Anwürfe eines Orientalisten gegen den Islam?42 Jeder kehre vor seiner eigenen Tür, sagt der Tunesier Haddad hier. Mit „Orientalisten“ meint er in erster Linie Renan, aber alle Orientwissenschaftler stehen heute im Nahen Osten „unter Verdacht“.

Renans Replik auf Afghani Während sein muslimisches Umfeld auf Afghanis Replik ablehnend oder vorsichtig reagierte, hatte er mit seiner Entgegnung Renan aus der Seele gesprochen. Und dieser antwortete postwendend. Bereits am nächsten Tag, dem 19. Mai 1883, wurde seine Erwiderung in der gleichen Zeitung abgedruckt. Renan erkannte Afghani als Bruder im Geiste an, freilich in herablassender Diktion: „Es ist außerordentlich lehrreich, die Denkweise des aufgeklärten Asiaten in ihren aufrichtigen und ureigenen Darlegungen kennen zu lernen“. Die Religion trenne die Menschen, die Vernunft eine sie, und im Grunde gebe es nur ein und dieselbe Vernunft und damit eine Einheit des menschlichen Geistes – ein tröstliches Ergebnis des friedlichen Zusammenstoßes der Ideen, auch wenn die Liga der verständigen Geister des ganzen Erdballs gegen Fanatismus und Aberglauben nur eine kleine Minderheit sei.

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In einem einmal mehr unzutreffenden Vergleich zwischen Europa und dem Orient führt er aus, dass zwar in Europa das Lateinische bis ins 16. Jahrhundert die Sprache der Gelehrten gewesen sei, dass aber Albertus Magnus, Roger Bacon, Baruch Spinoza deshalb keine Romanen gewesen seien. Die mittelalterlichen Chronisten Beda und Alcuin gehörten zu England, Gregor von Tours und Abaelard zu Frankreich, obwohl sie alle auf Latein schrieben. Nicht alles was lateinisch geschrieben ist, gehöre in die Ruhmeskrone Roms. Nicht alles was arabisch geschrieben wurde, sei ein arabisches Erzeugnis. Renans Analyse verkennt dabei, dass das Arabische, das mit der islamischen Expansion verbreitet wurde, im Unterschied zum Lateinischen in Europa sowohl die Sprache der Liturgie, Wissenschaft und Literatur, als auch die gesprochene Sprache in den arabischen Reichen war. Und nicht alles, was im Islam geschrieben wurde, sei eine Frucht des Islam. Das ist zwar richtig, wenn man mit dem Islam nur das Regelwerk der Religion meint, somit also nicht die Frucht der heiligen Texte, der islamischen Theologie oder der Rechtswissenschaft. Meint man aber eine Kultur, die vom Islam inspiriert ist, die neben der Religion auch die mathematischen, optischen, geographischen, astronomischen und nicht zuletzt medizinischen Wissenschaften und die Literatur- und Sprachwissenschaften kannte, so handelt es sich um die Frucht dieser muslimischen Kultur, die zumeist arabisch geschrieben wurde, also das Produkt einer arabisch-muslimischen, später auch persisch-muslimischen und türkisch-muslimischen Kultur. Dazu gehört auch die von Muslimen betriebene Philosophie. Selbst im Osmanischen Reich, das Renan so wenig verstand, blieb das Arabische in den Provinzen (Damaskus, Beirut, Bagdad, Mossul, Jerusalem) erhalten, als Sprache der Liturgie, des Rechts, der Literatur, aber auch als Umgangssprache sowohl der Elite als auch des Volkes. Die Elite sprach darüber hinaus Osmanisch-Türkisch, Persisch und im 19. Jahrhundert Französisch. Was arabisch geschrieben wurde, war eben doch ein Erzeugnis der arabischmuslimischen Kultur. Der Rest von Renans Erwiderung gibt Afghani in den meisten Punkten Recht. Auch die Kirche habe die Wissenschaften unterdrückt, die Muslime müssten unterrichtet werden, das islamische Dogma müsse geschwächt werden, wie das christliche geschwächt

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worden sei. Der Fanatismus im Orient gehe nur von einer kleinen Anzahl von gefährlichen Menschen aus, nicht von der breiten Masse der Bevölkerungen, unter denen es viele „gute Elemente“ gebe. Und da der Scheich wolle, dass er, Renan, die Religionen gleich behandle, so gebe er zu, dass auch gewisse europäische Länder eine Mäßigung des Christentums vertragen könnten. Es bedürfe der Bildung, des Unterrichts allerorten. Die Erneuerung des Islam werde nicht von seinen offiziellen Würdenträgern ausgehen, wie die Erneuerung Europas nicht von der Kirche vollbracht wurde, sondern gegen sie. Und die katholische Kirche sei immer noch dabei, zu bekämpfen, was die Vernunft der Moderne vorschreibt: dass Staat und religiöses Dogma getrennt werden müssten. Renan schließt mit einem Appell, die Freiheit und die Achtung des Menschen als oberste Regel anzuerkennen, die Religionen nicht zu zerstören, sie aber auch nicht gegen diejenigen, die sich von ihnen lossagen wollten zu verteidigen. Zum Schluss lobt er noch einmal Afghani als Vertreter der „indo-europäischen Rasse“ und zieht ihn als Kronzeugen für seine eigenen Argumente heran. Doch Renan rudert zurück und gibt sich den besseren Argumenten Afghanis weitgehend geschlagen. Wenigstens im Alter nimmt Renan nach diesem Disput einen modernen Zeitgenossen des Orients ernst, wenn auch aus Gründen von dessen „Rasse“. Renan und Afghani waren in ihren Positionen zur Frage des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft in der Tat nicht so weit voneinander entfernt. Für beide bedeutete Wissenschaft: Philosophie. Afghanis Skepsis und Religionskritik in der Entgegnung auf Renan sollten also als direkte Folge seines philosophischen Denkens gewertet werden, nicht als Atheismus und Instrumentalisierung der Religion. Für ihn stand die Philosophie über der Theologie, die Philosophen gar über den Propheten. „Anti-islamisch“ aber war er nicht. Gleichzeitig rief er auch nicht zu strikterer Befolgung islamischer Praktiken und größerer Frömmigkeit auf. Eher denkt er, die Gesellschaft käme ohne Religion nicht aus – hier trifft er sich auch mit Renan. Ebenso in der Sicht, dass es einen ständigen Kampf zwischen Philosophie und Religion, zwischen dem freien Denken und dem Dogma gebe.

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Agent und Wanderprediger der umma

Es sind die Historiker, die Afghani in dieser Weise deuten, wie Nikki Keddie, deren Biographie über ihn ein Standardwerk ist und die etliche seiner Texte aus dem Persischen übersetzte, und Albert Hourani, der große Historiker der arabischen Welt. Afghanis arabische Biographen sehen ihn, ähnlich wie weite Teile der älteren Islamwissenschaft, als Theologen. Vor allem in Ägypten wurde sein Bild eifersüchtig gehütet, als das eines frommen Muslims und Theologen, wie Abduh es war, sein früher Anhänger, der die Zeitschrift Das festeste Band mit ihm herausgab, sich aber zunehmend von ihm entfernte und den Kontakt nicht aufrecht erhielt. Das hatte sicher auch inhaltliche und nicht nur persönliche Gründe. In Ägypten erschien erst im Jahre 2005 endlich eine vollständige Übersetzung der Replik auf Renan. Vor allem der Organisation der Muslimbruderschaft nahe stehende Autoren zweifeln seine schiitische Herkunft noch immer an und sehen ihn als Ahnherren der Muslimbrüder.43 Afghani war ein Befürworter der modernen Naturwissenschaften und ein unermüdlicher Kritiker der islamischen Gelehrtenschaft, die er aber nicht beseitigen sondern reformieren wollte. Er war ein Mann des Wortes, nicht der Feder. Er wirkte durch seine Reden und seine Schüler, weniger durch seine politischen Aktivitäten und oft journalistischen Schriften. Ihm ging es neben der Erneuerung der Religion um die Erneuerung der umma, die er zur Aktivität anhalten wollte, damit sie nicht ausländischem Imperialismus und, so sah er es am Ende seines Lebens, einheimischer Despotie ausgeliefert sei. Afghani stellt alle Monotheismen auf eine Stufe und betont das Verbindende, ebenso wie er dies innerislamisch bei Sunna und Schia tut. Wegen seines anti-kolonialen Engagements ist er bis heute die heldenhafte Figur der ersten Generation der islamischen Moderne, auf die sich viele Strömungen, oft zu Unrecht, berufen.

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Die Nationalisierung des Islam: Namık Kemal Namık Kemal (1840-1888) in Tekir-Dagh unweit von Istanbul auf dem europäischen Teil des Bosporus als Mehmet Kemal geboren, wurde in eine altehrwürdige Familie hoher osmanischer Staatsbeamter geboren und wählte später als sein Pseudonym den Vornamen Namık. Sein Großvater, in dessen Haushalt er nach dem frühen Tod der Mutter aufwuchs, war zuletzt Bezirksgouverneur von Sofia, wo Kemal, bereits ein junger Dichter mit eigenem Werk, mit 17 Jahren die 14-jährige Tochter des Kadi von Sofia heiratete. Er beherrschte, wie der gebildete Osmane seiner Zeit, TürkischOsmanisch, Persisch, Arabisch und später Französisch. Allerdings hatte er nur wenig formale Bildung genossen, wie sie die Schulen des Reiches boten, weil er als Kind und Jugendlicher ständig mit seinen Großeltern unterwegs war. Sein Wissen war eher „aristokratisch“. Er war versiert in der Lyrik, wusste viel über das islamische Recht, über Geschichte und islamische Mystik, die in seiner Familie gepflegt wurde, beherrschte die Reitkunst und die Jagd. Er war kein ausgebildeter Theologe, wie Afghani und Bajazitov. 1857 kam er zurück nach Istanbul und zog in den Haushalt seines Vaters, eines Historikers, der zwar noch Hofastrologe am Sultanshof war, dessen Dienste im Zeitalter von Szientismus und Materialismus jedoch nicht mehr gefragt waren. Dies war die Lebensweise in den höheren Beamtenschichten in dieser Zeit: Junge Männer lebten mit ihrer Familie im Haushalt von Vater oder Schwiegervater, bemüht eine eigene Karriere in Militär oder Verwaltung zu beginnen und einen eigenen größeren Haushalt zu gründen. Diese Schicht war reich an Bildung, aber nicht unbedingt reich an Gütern, denn Besitz wurde im osmanischen System oft genug beim Tod eines hohen Beamten eingezogen. Aber hohe Posten standen den männlichen Nachkommen offen. Auch Kemals Familie hatte beständige Geldsorgen, ebenso wie er selbst. Die Familie war dem Sufi-Orden der Bektaschis verbunden, einer der großen mystischen Bruderschaften im Osmanischen Reich. In den großen Häusern dieser Bürokratenschicht ging es aristokra-

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tisch zu. Man empfing hohe Gäste, darunter bevorzugt auch Dichter. Doch wurde diese alte Elite zunehmend abgelöst von Männern mit einer moderneren Bildung. Kemal wandte sich früh den neuen Literaten zu, die in einer aktuellen, einfacheren und mehr am Türkischen orientierten Sprache schreiben wollten als die Generation vor ihnen, ohne die Manierismen, die sie den arabischen und persischen Anteilen des Osmanischen anlasteten. Sie orientierten sich an der französischen Literatur. Namık wurde in dieser Hinsicht wegweisend.1 Seine Werke wurden später in der türkischen Republik hoch geachtet. Auch der Staatsgründer der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, galt in seiner Jugend als ein begeisterter Leser von Namık Kemal. Kemal wurde nach seiner Rückkehr nach Istanbul noch als 17-jähriger im „Regierungsamt für Übersetzung“, das ans Außenministerium angeschlossen war, als Beamter verpflichtet. In staatlichem Auftrag wurden hier französische Klassiker des Zeitalters der Aufklärung wie Fénélon, Montesquieu und Rousseau übersetzt. Namık Kemal übersetzte Montesquieus Geist der Gesetze. Das politische Programm der neuen politisch-literarischen Intellektuellen, zu denen auch Kemal zählte, ist als „Reform für Osmanen, von und durch Osmanen und entlang islamischer Linien“ auf den Punkt gebracht worden.2 Sie waren eine neue Generation von zwar staatstragenden, aber oppositionellen jungen Männern, die die Tanzimat-Politiker Ali Pascha und Fuad Pascha, die sich unterdessen in den höchsten Staatsämtern des Großwesirs und des Außenministers abwechselten und nur ihnen loyale Beamte einstellten, heraus forderten. Die „Jungosmanen“ warfen ihnen vor, die Reformen, die die osmanischen Untertanen ja auch zu Bürgern hatten machen sollen, nicht entschieden genug umzusetzen. Gleichzeitig erschien ihnen die Politik der Reformen als „blinde Verwestlichung“. Vor allem Kemal war der ausschließliche Glaube an positive Wissenschaft und der damit einhergehende Materialismus, den er durch die Tanzimat-Politiker am Werk sah, ein Gräuel. 1865 gründeten sie bei einem Picknick die erste patriotische Partei im Osmanischen Reich nach dem Vorbild einer Geheimgesellschaft, die „Patriotische Allianz“, später „Partei der Jungosmanen“ genannt (Yeni Osmanlılar ‚ die ‚neuen Osmanen‘). Erstes Ziel war eine Verfassung für das Reich. Mittel war vor allem Auf-

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klärung durch Pressearbeit. 1860 war bereits das erste unabhängige Blatt Tercuman-i-Ahval, entstanden der „Interpret der Umstände“. Die jungen Männer, allen voran Namık Kemal, schrieben in solchen schon bestehenden Zeitungen und gründeten neue. Unter den zahlreichen Zeitungen und Magazinen, die in den 1860er Jahren in Istanbul erschienen, befand sich auch der Courrier d’Orient, der sich im Besitz eines Franzosen befand, der sich wie etliche andere Intellektuelle nach dem Staatsstreich Louis Napoleons von 1851 nach Istanbul begeben hatte. Der Courrier war in der osmanischen Intelligenz beliebt, was einmal mehr zeigt, wie stark Europa und der Orient schon verflochten waren. Das Gegenblatt war La Turquie, in französischer Sprache, das von der Hohen Pforte finanziert wurde. Mehrfach wurden die Jungosmanen aus Istanbul verbannt und ins Exil geschickt. Finanziert von großen Persönlichkeiten (mit eigenen Interessen), waren sie auch in Paris und London mit der Gründung von Zeitungen beschäftigt, die Kritik an den TanzimatPolitikern übten.3 Als die Zensur 1867 verstärkt zuschlug, ging Kemal bis 1870 nach Paris und London, wo er die Zeitung Hürriyet (Freiheit) für die Osmanen zu Hause heraus gab, in osmanisch-türkischer Sprache. Die Hürriyet, 1868 gegründet, prangerte gesellschaftliche Missstände an. Vor allem Kemal schrieb in ihr über ökonomische Fragen und geißelte die fortwährende Verschuldungspolitik der Regierung. Die Jungosmanen sagten Jahre vorher den Staatsbankrott voraus. Auch die Armut des einfachen Volkes, das von den Funktionären des Staates ausgepresst werde, damit sie sich Paläste bauen könnten, ist sein Thema, ebenso wie Korruption und Machtmissbrauch.4 Nach der Absetzung von Sultan Abdülaziz 1876 wurde Kemal zum Staatsberater ernannt und in das Komitee berufen, das mit der Ausarbeitung der Verfassung von 1876 betreut war. Er sprach sich für die französische und die belgische Verfassung als Vorbilder aus. Doch Sultan Abdülhamid II. setzte, kaum dass er auf den Thron gelangt war, die Verfassung aus und sandte Kemal ins Exil nach Mytilene auf Lesbos, zu dessen Gouverneur er zwei Jahre später ernannt wurde. Dieses Amt übte er in seinen letzten Lebensjahren auch auf Rhodos und Chios aus, wo er 1888 verstarb. Intellektuell war Kemal ein patriotischer Literat und Journalist, der als hoher Staatsbeamter über eine Menge rechtliches und

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politisches Verwaltungswissen verfügte und die Philosophen der französischen Aufklärung studiert hatte. In seinem kurzen Leben schuf er ein umfangreiches aber auch eklektisches Werk, das aus zahlreichen Artikeln, Theaterstücken, Romanen, dem ersten Band einer auf 12 Bände angelegten Geschichte des Osmanischen Reiches und zwei langen Aufsätzen, einer über die Vergangenheit des Reiches, einer über die ideale osmanische Gesellschaft. Er schrieb, wie schon erwähnt, auch über praktische Fragen in der Politik, setzte sich ein für Fortschritte in der Landwirtschaft, Kredite für die lokale Wirtschaft und eine Steuerreform. Die Finanzpolitik gegenüber Europa, die das Reich in den Ruin stürzte, weil es die einheimische Wirtschaft ausverkaufte, durchschaute und geißelte er. Seine Volksnähe ist auf die Nähe der Familie zum mystischen Sufi-Orden der Bektaschis zurückgeführt worden, denn die Sufi-Orden fungierten auch als große sozial-ökonomische Netzwerke, in denen die Brüder, vor allem die aus dem Volk, in alltäglicher Solidarität und durch gegenseitige Geschäfte verbunden waren.5 Außerdem kam Kemal eben aus einer „Funktionärsfamilie“ – praktische Politik musste er schon als Kind über seinen Großvater kennen gelernt haben. Sein Verständnis des Islam war von Aktivismus geprägt; in diesem Punkt waren Afghani und er ähnlich. Kemal war theoretisch-philosophisch der Ambitionierteste der Jungosmanen, und als Staatsbeamter und Journalist ein politischer Kopf und Polemiker. Dabei versuchte er zum einen, eine Synthese zwischen westlichen politischen Konzepten und islamischen herzustellen, und führte zum anderen politische, vor allem patriotische Schlüsselbegriffe in die politische Sprache ein, die die türkischen Intellektuellen noch etlicher nachfolgender Generationen beeinflussten. Er wird in der Türkei heute noch als der „Dichter des Vaterlandes und der Freiheit“ verehrt. Seine Gedichte gehören zum Schulbuchkanon. 1873 schrieb er sein erfolgreichstes Theaterstück, Vatan oder Silistria, das in Istanbul auch mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. Vatan, zu Deutsch ‚Vaterland‘ war das erste national-patriotische Theaterstück, das von einem Osmanen über Osmanen geschrieben wurde. Davor übersetzte man Stücke aus Europa, oder suchte die Motive in Europa.6 Es traf sofort einen Nerv, weil man in der Hauptstadt den Verlust des Balkans fürchtete.

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Das patriotische Rührstück ist die Geschichte eines Liebespaares, das der Frau immerhin eine patriotische Rolle an der Seite ihres Geliebten zugesteht. Der junge Mann, Islam (!) Bey, unsterblich verliebt in eine junge Frau, deren Vater im Krieg verschollen ist, reißt sich von der Geliebten los und erklärt ihr, dass sein Dienst am Vaterland über allem stehe. Er brennt darauf, an die Front nach Bulgarien zu gehen. Die junge Frau verkleidet sich als Rekrut und folgt ihm nach. In einer belagerten Feste, die gegen den (russischen) Feind zu halten ist, treffen sie sich unter dem Befehl eines Oberst, der sich als der verschollene Vater der jungen Frau herausstellt. Das junge Paar überquert nachts die feindlichen Linien und sprengt ein Munitionsdepot. Am Ende werden in der gehaltenen Festung Sieg und Hochzeit gefeiert. Das Stück endet mit den Worten: Es lebe das Vaterland! Hoch die Osmanen!7 Seine vaterländische Begeisterung machte Kemal für die Regierung zeitweise unbequem; diesem Umstand verdankte er auch mehrjährige Haftstrafen.8 Denn der eher türkische als osmanische Patriotismus, den er vertrat, war problematisch für ein Reich, das noch immer ethnisch und religiös bunt gemischt war. Vor allem bringt das Stück das politische Denken Kemals auf die Bühne. Es zeigt, dass es Kemal in erster Linie um die Verteidigung des Vaterlands ging, und zwar durch den Islam (wenig subtil in Gestalt Islam Beys). Die Metaphorik ist wichtig: Islam Bey verkörpert den Islam und die Nation, die das Vaterland schützt. Das ist eine neue Vorstellung. Bis jetzt, durch die Jahrhunderte, war es das Sultanat, also die osmanischen Sultane, die den „ewigen Staat“ durch das Fortdauern ihrer Dynastie schützten und garantierten. Der Harem, der Europa so faszinierte, war nichts anderes als ein Ort und eine Institution der dynastischen Reproduktion – er garantierte über fünf Jahrhunderte eine ausreichende Anzahl an männlichen Nachkommen. Das osmanische Wort ‚devlet‘ ist aus dem arabischen Wort ‚daula‘ abgeleitet und bedeutete gleichzeitig ‚Dynastie‘ und ‚Staat‘. Es hatte auch die Konnotation ‚Glück‘, ‚Wohlstand‘, ‚Größe‘ und wurde von osmanischen Philosophen und Historikern des 17. Jahrhunderts als ‚spezifische Form menschlicher Gemeinschaftsbildung‘ definiert.9 Devlet bedeutet im komplexen osmanischen Verständnis Dynastie, Staat und (‚harmonische‘) Gesellschaft. Die Sultane galten als die Garanten der Stabilität, des Wohlstands und vor allem der Gerechtigkeit, sie wa-

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ren verpflichtet, die Untertanen und die Religion zu schützen. Die Untertanen hatten ihrerseits durch Loyalität und Wohlverhalten zum Bestand des „ewigen Staates“ beizutragen. Diese alte, vormoderne Vorstellung von Herrschaft und Herrschaftslegitimation hatten die osmanischen Denker schon im 16. Jahrhundert als „Gerechtigkeitskreis“ konzipiert.10 Bemerkenswert ist an dieser Herrschaftslegitimation, dass sie mit Gerechtigkeit (und Frieden als Folge davon) argumentiert, die die Schari‘a schützen – nicht umgekehrt. Die Tanzimat-Reformen modernisierten das Reich im 19. Jahrhundert nach europäischem Vorbild, aber diese alten Vorstellungen wirkten in der Tiefe durchaus weiter. Wenn Kemal nun ‚Vaterland‘ und ‚Nation‘ einführt, so ersetzen diese Begriffe den alten devlet-Begriff für Staat und Gesellschaft. Die beiden Sultane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Abdülaziz und Abdülhamid, die zwar, wie wir gehört haben, mit dem wieder ins Gespräch gebrachten Kalifat liebäugelten, waren für die Jungosmanen alles andere als „gerechte Herrscher“, sondern vielmehr unfähige Despoten, deren Macht begrenzt werden musste. Kemal hatte Montesquieus Vom Geist der Gesetze gelesen, der die Monarchie als eine an Gesetze gebundene Regierungsform beschrieb und als Begründer der konstitutionellen Monarchie gilt. Kemal lebte, daran muss man noch einmal erinnern, in einem politischen System, in dem es seit Jahrhunderten ein so gut wie säkulares Recht (kanun) gab (in der Einleitung sicherte man sich mit dem kategorischen Verweis ab, dass die Vereinbarkeit des imperialen Rechts mit dem göttlichem Gesetz, schari‘a, „erwiesen sei“) ebenso wie alte Vorstellungen von Herrschaft, die auf Gerechtigkeit beruhten. Eben weil eine Trennung von Staat und Religion in der Praxis im Osmanischen Reich gegeben war, und der ScheichülIslam als oberster Rechtsgelehrter faktisch dem Sultan unterstand, hatten die umfassenden Tanzimat-Reformen nach europäischem Vorbild trotz des Missfallens der konservativen Rechtsgelehrten ja auch relativ zügig durchgeführt werden können. Im Rahmen dieser Reformen wurde dann in Kemals Tagen zum ersten Mal in der Geschichte eine moderne Kodifizierung des islamischen Rechts vorgenommen, und zwar in dem berühmten mecelle (Osmanisches Zivilgesetzbuch), das von 1869 bis 1876 erschien. Kemal konnte also mit Montesquieu und auch den anderen französischen Aufklärern viel anfangen, ihre Schriften waren ihm

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nicht fremd. Wahrscheinlich klangen sie für ihn im Gegenteil sogar dem zu ähnlich, war er kannte. Er wollte ihre Begründungen nicht einfach übernehmen (Übernahmen kritisierte er ja an den Tanzimat-Reformern), sondern sie aus der eigenen Kultur begründen. Er orientierte sich an einem neuen Verständnis vom Islam, das ihm nun als modern galt, und klammerte die alten, osmanischen Herrschaftstraditionen aus, wie sie in Fürstenspiegeln und Geschichtswerken niedergelegt waren, wie dem berühmten Gerechtigkeitskreis. Diese waren durch die despotische Herrschaft der Sultane diskreditiert. Man brauchte sie auch nicht mehr, da sich alle modernen politischen Institutionen direkt mit dem Islam begründen ließen, wie er dachte. Kemal war der Erste im Vorderen Orient, der in der traditionellen islamischen Theorie des Kalifats ungeachtet der religiösen Ursprünge ein rechtliches System erkannte, das dem westlichen vergleichbar war – wenn man von den religiösen Ursprüngen absah und formal dachte. Ein Beispiel seiner Argumentation ist der folgende Text von 1868:11 „Wenn die Leute einer Stadt sich zusammen tun,“ schreibt Kemal, „und jemanden zum Richter (qadi) ernennen, damit er über Fälle zwischen ihnen richte, so wäre die rechtliche Aktivität dieser Person nicht gültig. Die rechtliche Amtsgewalt hätte immer noch der Richter inne, der vom Staat ernannt wurde, denn die Rechtsprechung ist Sache der Regierung. Aber wenn die Leute einer Stadt sich versammeln und einem Mann durch ihren Treueid (bai’a) die Gefolgschaft erklären, dann würde dieser Mann Sultan oder Kalif werden, und der bisherige Sultan oder Kalif behielte seine Macht nicht, denn das Imamat (das Recht auf Führung der islamischen Gemeinde) ist das Recht der islamischen Gemeinde (umma, schon im Sinne von ‚Nation‘)“. Hier formuliert Kemal in islamischer Weise das Recht der Volkssouveränität. Er erklärt dies weiter: „… Monarchen haben also keine andere (Quelle der) Herrschaft als die islamische Gemeinde, die ihnen den Treueid leistet (der historisch gegenüber den Kalifen geleistet wurde). Der Monarch ernennt dann die Minister. Dies meint der Ausspruch des Propheten (hadith), ‚der Führer des Stammes ist sein Diener‘“. Für deutsche Ohren klingt dies nach Friedrich II, der bekanntlich befand, dass „der Herrscher der erste Diener seines Staates“ sei

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– und Kemal meinte das auch in ähnlicher Weise. Der Prophetenspruch war bis dahin ganz anders ausgelegt worden. Er will den Sultan zu einem konstitutionellen Monarchen machen, ähnlich wie die Königin in England, die gleichzeitig Oberhaupt der anglikanischen Kirche ist. Der Treueid, der den islamischen Vertrag zwischen Kalif und denjenigen, die ihn gewählt hatten (ursprünglich waren es ja noch die Gefährten des Propheten Muhammad gewesen, die die ersten Kalifen wählten) besiegelte, wird in diesem Modell also auf die ganze Gemeinschaft der Gläubigen (umma) ausgedehnt, die aber schon als Nation gedacht wird. Kemal sprach hier auch von der Möglichkeit, den islamisch gedachten Vertrag zwischen Sultan und Nation rückgängig zu machen, also den Sultan abzusetzen, denn: „das Recht der Souveränität obliegt der Nation“. Kemals Diktum wurde (unter Berufung auf ihn) trotz seiner islamischen Begründung später umstandslos vom Laizisten Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei, übernommen in seiner Maxime: „die Souveränität obliegt bedingungslos der Nation“.12 Sogar sich sozialistisch gebende spätere säkulare Staaten auf dem Boden des Osmanischen Reiches, wie Syrien, gaben sich auf diese Weise einen islamischen und damit moralischen Anstrich: Präsident Asad, den man wohl nicht als Kalifen sehen kann, ließ sich nach seinen (so gut wie einstimmigen) Wahlen durch das Volk über dessen Vertreter mit dem alt-islamischen Treueid huldigen. Wenn Kemal also den osmanischen Staat, den er als „moralische Persönlichkeit mit dem Willen zur Gesetzgebung“ sieht, „islamisiert“, so ist das eine Islamisierung „lite“. Kemal wollte dem osmanischen Staat eine moderne, authentische, philosophischethische Grundlage geben, eine, die nicht europäisch ist, aber eben auch nicht „alt-osmanisch“. Er meinte damit nicht, dass die faktische Trennung von Staat und Religion, in der er lebt, aufgehoben werden soll, sondern dass, wie in der Figur Islam Beys in seinem Theaterstück, der Islam Staat und Vaterland, die auf Religion und Nation beruhen, schützen, garantieren sollte. Kemal besteht auf der Freiheit des Individuums – man kann der Menschheit die Freiheit nicht vorenthalten, es wäre das gleiche, wie wenn man ihr Nahrung vorenthalten würde, schreibt er in einem weiteren bekannten Artikel mit dem Titel „Freiheit“.13

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Doch die Verbindung von „Religion und Staat“ war zum ersten Mal in moderner Weise aufgetaucht – und dies, Ironie der Geschichte, im Herzen des Osmanischen Reiches, in dem faktisch eine Trennung von Religion und Staat geherrscht hatte und im Versuch, sich von Europa zu distanzieren. Einem Europa, das seinerseits die gesamte muslimische Welt als eine unauflösliche Verbindung von „Islam und Staat“ sah – wie Ernest Renan und andere dies taten.

Wut und Frustration: Kemals Replik auf Renan Kemals Replik auf Renan erweist sich als eine wütende Polemik. Er schrieb sie im Juni 1883 in Mytilene auf Lesbos. Sie wurde erst 1908 von seinem Sohn in Istanbul veröffentlicht, der nach dem Putsch der Jungtürken im gleichen Jahr und der Ankündigung der Wiedereinsetzung der Verfassung die Schriften seines Vaters als Gesammelte Werke Kemals herausgab. Die Replik auf Renan, Die Verteidigung (des Islam) gegen Renan stellte den ersten Band der Gesammelten Werke dar.14 Türkische Forscher sind der Meinung, Kemal habe seine Replik auch deshalb so leidenschaftlich pro-islamisch geschrieben, weil er Sultan Abdülhamid, der eine pan-islamische Politik verfolgte, wieder für sich einnehmen wollte.15 Aber er hatte sich ja bereits lange vorher für den Islam als Grundlage des Staates ausgesprochen, und ließ die Replik in seiner eigenen Schublade verschwinden. An seinen Vater schrieb er zunächst, er wolle Renan mit Nachweisen aus der europäischen Literatur und Renans eigenen Werken widerlegen und betrachte dies als heilige Pflicht, als einen „großen Gebetsakt“. Außerdem habe er Renan „nach Herzenslust durchgeprügelt“. Zwei Monate später, am 1. September 1883, schrieb er, die Replik sei fertig, aber die Überarbeitung gestalte sich zäh. Am 4. November erklärte er, mit seiner Arbeit zutiefst unzufrieden zu sein und die Replik nicht veröffentlichen zu wollen.16 Er hatte nach der ersten Wut wohl doch erkannt, dass er seine Antwort ungünstig angelegt hatte und sie seinem eigenen intellektuellen Anspruch nicht genügte. Afghanis Debattenbeitrag erwähnt er nicht. Er erschien erst im Mai, so dass es unwahrscheinlich ist, dass er ihn kannte.

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Kemals Replik erweist sich als wütend-polemischer, apologetischer Rundumschlag, der zuweilen spöttisch, zuweilen auch kleinlich gerät. Gerade Kemal, der sich so ausgiebig mit dem Denken Frankreichs auseinandergesetzt hatte, musste es frustrieren, zu sehen, wie wenig der Franzose Renan den Islam und seine Kultur einerseits und den osmanischen Staat andererseits verstand und wie gering er die zeitgenössischen Intellektuellen im Osmanischen Reich schätzte. Kemals Text ist die längste und kleinteiligste Entgegnung in der Debatte, da er jeden einzelnen Punkt Renans widerlegen will. Damit wird es ihm unmöglich, über Renans Rahmen hinauszugehen. Kemal lässt sich von ihm festlegen – und so kommt einfach meist schlicht die Behauptung des Gegenteils heraus. Sein Hauptargument ist, dass die Werke der islamischen Jurisprudenz und die politischen Vorschriften des Islam mit der Vernunft und der Philosophie übereinstimmten und es deshalb keine Unterschiede zu den juristischen Vorschriften gebe, die die Griechen, Römer und europäischen Philosophen seit 3000 Jahren angesammelt hätten. Deshalb sei es unvernünftig, die europäische Jurisprudenz als überlegen zu betrachten, weil sie säkular sei und die juristischen Vorschriften des Islam als eine „Sklavenkette“ zu bezeichnen, nur weil sie einer Religion entstammten (S. 195). Hier sagt er also einmal sehr klar, wie er denkt, nämlich formal, politisch-rechtlich und analog, nicht theologisch, wie Bajazitov. Er zitiert auch keine Theologen oder Rechtsgelehrten (wie dieser), sondern nur den Koran und die Prophetenüberlieferung (sunna, hadith). Er besteht darauf, dass die islamische Tradition der europäischen ebenbürtig ist. Die extreme Abwertung des Islam durch Renan empört ihn. Anders als Afghani sitzt Kemal aber auch seinen eigenen anti-arabischen, anti-persischen und anti-schiitischen Ressentiments auf. Aus einer Beamtendynastie stammend, schlägt sich hier wohl auch die alte Rivalität zwischen dem Osmanischen Reich und dem der Perser nieder. Kemals Position ist eine diametrale Gegenposition zu Renan. Hatte dieser behauptet, der Islam ersticke die Wissenschaft, so setzt Kemal dem entgegen, der Islam habe die Wissenschaft nicht nur schon immer gefördert, sondern er sei auch die Religion par excellence, die kompatibel mit der Wissenschaft sei.

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Er bläst zum Angriff auf europäische Orientalisten, die arabische Wörter nicht richtig aussprechen könnten, auf das Christentum, überhaupt auf Europa, das die islamische Welt mit seinen Kriegszügen davon abgehalten habe, sich um die Naturwissenschaften zu kümmern. Die Überlegenheit der Araber und Muslime sucht er mit teilweise recht abseitigen Beispielen zu belegen. Oft ist die Kritik sehr kleinlich. Mit der Biographie Renans und französischen gesellschaftlichen Verhältnissen ist er wohlvertraut. Er ordnet Renan soziologisch als bürgerlichen Gelehrten ein und wirft ihm, nicht zu Unrecht, Unredlichkeit vor. So wisse er beispielsweise genau, dass es keine Inquisition im Islam gegeben habe (außer dem berühmten Fall unter dem Kalifen Ma‘mun). Hammer-Purgstall, ein früher Osmanist, wird für seine mangelnden Kenntnisse in der Theologie des Islam kritisiert. Kemal zitiert aus dem alten Universallexikon von d’Herbelot, der Orientalischen Bibliothek von 1697, das in der Tat das bedeutendste Nachschlagewerk des 18. Jahrhunderts, aber 1883 natürlich veraltet war. In der zitierten Passage wird die irrige europäische Vorstellung beschrieben, die „Mohammedaner“ würden ihren Propheten anbeten, was Kemal als Beleidigung auffasst. Ebenso nimmt sie auf die koranische Vorstellung Bezug, dass der Koran einer „Tafel“ entstamme, die bei Gott aufbewahrt wird, spricht aber davon, dass der Koran „vom göttlichen Willen getrennt“ worden sei und also, so Kemal, für die Orientalisten, die oftmals gläubige Christen seien die als solche den Islam ja nicht unvoreingenommen studieren könnten, nicht „göttlich“ sei. Die „Priester“ seien nur darauf aus, Angriffspunkte am Islam zu finden (über Jahrhunderte hinweg wurde das in der Tat getan), weil er für sie eben nicht „göttlich“ sei – also keine Offenbarungsreligion. Die Muslime hingegen, so Kemal, könnten dem Christentum gegenüber objektiv sein, da für sie das Christentum zu den „aufgehobenen“ Religionen gehöre (S. 171). Die „Abrogationstheorie“ kommt nach den alten muslimischen Exegeten im Koran dann zum Einsatz, wenn später offenbarte Suren früher offenbarte aufheben. Da der Islam später kam als das Christentum, wäre es laut dieser Theorie „aufgehoben“, „veraltet“, zumindest die Elemente, die mit dem Islam nicht übereinstimmen (z.B. die Gottessohnschaft Jesu). Dass muslimische Theologen deshalb „objektiver“ seien (weil das Christentum eben keine Gefahr für sie sei) wird durch die

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muslimisch-christlichen Polemiken, die es bereits gab und in der Zukunft verstärkt geben würde, ad absurdum geführt. Nach den jahrhundertelangen anti-muslimischen Polemiken aus Europa ziehen in den modernen Islam nun vermehrt anti-christliche ein. Diese Art von Apologie und Polemik wird ein paar Jahrzehnte später in der muslimischen Welt Schule machen. Wurde der Islam bisher von europäischer Seite aus als „Differenz“ zu Europa in Stellung gebracht, so wird er das nun auch von islamischer Seite aus. Die Atheisten in Europa, so Kemal weiter, sehen in der Religion sowieso nur die „Versklavung menschlichen Denkens“. Außerdem nehmen die Europäer den Islam nicht als Offenbarungsreligion ernst und stellen ihn auf eine Stufe mit dem Glauben primitiver Völker. Dieses Argument macht Kemal mehrmals, es erzürnt ihn immens. Er setzt dagegen, dass der Islam die rationalste Religion sei. Was die Naturwissenschaften betreffe, so sei es klar, dass die Muslime diesbezüglich die stärkste Religion hätten, weil ihre Mathematiker und Naturwissenschaftler durch den Koran ermuntert würden, in dem es Verse gebe, die die Naturwissenschaften vorweg nehmen würden. So werde etwa auf den Sonnenlauf verwiesen, und auf die Biologie des Menschen (S. 175). Spätere islamische Autoren werden diese Sicht noch radikalisieren und behaupten, der Koran hätte bereits von Atomen, Mikroben und ähnlichem gesprochen. Kemal behauptet, die Identität der „Nationen“, die historisch den Islam gewählt hätten, sei der Islam, nicht die Nation – beides trifft zu dieser Zeit, in der die Loyalität zum Osmanischen Reich noch groß war, noch nicht zu. Aber der Islam steht ja erst am Beginn seiner Karriere, eine moderne, politisierte Identität zu werden (und nicht mehr einfach nur ein Glaube oder eine Kultur zu sein). Der osmanische Historiker Kemal lehnt eine historische Betrachtungsweise der Entstehung des Islam ab, so bestreitet er, dass es auf der arabischen Halbinsel Formen des Monotheismus vor dem Islam gab. Auch die altarabische Dichtung, eine wichtige Quelle für die vorislamische Zeit und damit auch für die Entstehung des Islam hält er für irrelevant, bezieht sich hier aber natürlich auf Renans abwertende Bemerkungen über die altarabischen Beduinen, die keine Gelehrten und schon gar keine Philosophen gewesen seien. Kemal setzt dagegen, dass die Werke der Metaphy-

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sik im Arabischen die schönsten, und die Werke der Wissenschaft die klarsten seien. Der Niedergang von Wissenschaft und Philosophie in den islamischen Ländern, so meint er wieder mit einem guten Schuss Apologie, sei auf die Kreuzfahrer und die ungläubigen Tataren zurückzuführen. Als osmanischer Gouverneur reagiert er einigermaßen fassungslos auf den von Renan zitierten (erfundenen) Brief mit der Anekdote vom Kadi, der an allen Tatsachen desinteressiert zu sein vorgibt. Hier bricht der polemisierende Journalist in ihm durch: Könne man den Brief eines Kadis in Mosul als charakteristisch für die islamische Mentalität betrachten, anstelle des Koran, der Hadithe, der theologischen Bücher? Sei das dann nicht vergleichbar damit, das wissenschaftliche Niveau Europas aufgrund der Meinung jenes Priesters zu beurteilen, der unlängst behauptet habe, das Jüngste Gericht werde in drei Tagen stattfinden? War dieser Kadi unwissend? War er verrückt? War er geisteskrank? Hat er solch einen Unsinn gesagt, um sich Herrn Layard vom Halse zu schaffen, weil es damals üblich war, die politischen Geheimnisse vor den Fremden zu verbergen? Oder hat er diesen Brief aus Sarkasmus verfasst? Egal welche dieser Annahmen stimmt! Haben wir jetzt nicht Recht, wenn wir sagen, dass die Halbgelehrten in Europa den Islam mit der gleichen Unterschätzung erforschen, wie sie den Glauben der Zulu erforschen? In diesem Beispiel führen sie ein Stück Papier als Nachweis für den islamischen Glauben an, obwohl dies gar nichts mit dem Glauben zu tun hat (S. 201). Zum Schluss stellt er entnervt fest: wenn Renan am Ende auch noch Empfehlungen über die Tugend der Wissenschaft für die Muslime abgebe, sei das doch einfach ein Widerspruch. Eine Nation, die islamische Nation, die den anderen Nationen sowieso unterlegen bleiben müsse, brauche auch keine Empfehlungen. Erreicht diese Replik auf Renan intellektuell und stilistisch das Niveau der anderen beiden zwar nicht, so macht sie doch die Wut und Frustration der muslimischen Intellektuellen, die sich in ihrem Engagement für die Moderne von „Europa“ und der eigenen Obrigkeit verraten fühlten, sehr authentisch deutlich. Für einen Patrioten wie Kemal müssen diese Demütigungen von allen Seiten schwer zu ertragen gewesen sein. Als nach den ständigen Verbannungen aus der Hauptstadt Sultan Abdülhamid II. auch noch sein

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Werk zur Geschichte des Osmanischen Reiches verbot, verstarb er, schwer lungenleidend (wofür man auch seine Haft in feuchten Kerkern verantwortlich machte), fünf Jahre später mit nur 48 Jahren. Kemal war in der Tat der Erste, der den modernen politischen Islam vordachte, der sich vor allem in Ägypten (und Indien) weiter entwickeln würde. Ihm schwebte nicht ein islamischer Staat vor, wie ihn Abd al-Wahhab wollte und wo der Koran zum alleinigen Gesetzesbuch würde (so wie Renan es sah und wie der sogenannte „Islamische Staat in Syrien und Irak“ es heute sieht). Eher schon ähneln die jüngsten, seit 2005 fassbaren Vorstellungen der ägyptischen Muslimbruderschaft von einem „zivilen Staat mit islamischem Referenzrahmen“ seinen Ideen, obwohl die Muslimbrüder wesentlich frommer sind und den Islam umfassender sehen als er es tat.18 Man berief sich aber nicht auf ihn, weil er osmanisch-türkisch schrieb, eine Sprache, die es nur noch für vier Jahrzehnte geben sollte. Der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, schaffte sie ab, in der laizistischen Republik, die er im Kernland des Osmanischen Reiches gründete.

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Dialektischer Theologe des Islam in Russland: Ataullah Bajazitov Auch von einem gelehrten Muslim aus der Hauptstadt des Zarenreiches kam eine Entgegnung auf Renan. Dies war Ataullah Bajazitov (1846-1911), ein Tatar, der die erste Moschee in St. Petersburg initiierte, die erste tatarischsprachige Zeitschrift gründete und das erste muslimische Gebetsbuch mit Koransuren in kyrillischer Schrift verfasste.1 Bajazitov ist in mehrerlei Hinsicht eine Ausnahme unter den Kontrahenten Renans. Er ist der am wenigsten bekannte der Disputanten. Nicht nur im Orient und in Europa, auch in Russland selbst ist er in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit nach seinem Tod kaum zur Kenntnis genommen worden.2 Aber wichtiger noch: Er lebte und wirkte nicht in einem Land, in dem der Islam die Religion der Mehrheit der Menschen darstellte, sondern im orthodox-christlichen Zarenreich, wo er zur muslimischen Minderheit gehörte. Seit dem Toleranzedikt Katharinas II. von 1773 herrschte zwar Religionsfreiheit in Russland, aber das neue Selbstbewusstsein und die vielfältigen Aktivitäten der Muslime bewegten die russischen Gemüter, ähnlich wie die rechtliche Gleichstellung der Christen und ihr neues Selbstbewusstsein die Muslime im Osmanischen Reich erregten. In Russland wurde bald die „muslimische Frage“ diskutiert und auch die pan-türkischen und pan-islamischen Signale, die aus dem Osmanischen Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ins Land ausstrahlten, beobachtete man mit Misstrauen. In Russland waren Vorstellungen über den Islam im Umlauf, die denen Renans stark glichen oder sogar von ihm entlehnt waren und den Islam als intolerante, fanatische, fatalistische und bildungsfeindliche Religion darstellten. Muslime bedurften in den Augen vieler Regierungsbeamter einer „Zivilisierung“, die man durch christliche Missionierung und säkulare Russifizierung erreichen wollte. Bajazitovs Entgegnung auf Renan und überhaupt sein lebenslanges Engagement richteten sich gegen diese Tendenzen im Zarenreich, er konnte es sich jedoch nicht leisten, an so gewagte

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politische Pläne, wie Afghani und Kemal sie verfolgten, auch nur zu denken. Bajazitov war ein Mann der Mäßigung und des Ausgleichs. Im Unterschied zu allen anderen Teilnehmern der Debatte, einschließlich Renan selbst, kam er niemals mit der Obrigkeit, ob weltlich oder geistlich in Konflikt. Ähnlich wie die anderen Disputanten verfolgte er eine Reform des Islam und eine Modernisierung der umma. Auch Bajazitov stammte aus kleinen ländlichen Verhältnissen, ähnlich wie Afghani und Renan. Er wurde 1846/1847 in einem Dorf namens Temgenev (Tjubenau) in der Nähe von Moskau geboren und gehörte zu der Minderheitsgruppe der Tataren von Kasimov, einer Region, die bereits früh islamisiert worden war und in der es ein eigenes muslimisches Bildungswesen gab. Bajazitov wurde von seinem Vater, einem Dorf-Scheich, in arabischer Sprache und in den Grundlagen des Islams unterrichtet. An der Medrese (einer gehobenen Bildungsinstitution) im Nachbarort studierte Bajazitov neben orientalischen Sprachen dann vor allem Recht, Theologie, Metaphysik und aristotelische Logik – Disziplinen, die er nach Abschluss seines Studiums auch selbst unterrichtete. Er scheint sich auch einige Zeit in der Kunst des scholastischen Disputierens geübt zu haben. Im Jahre 1870 legte er an der Geistlichen Mohammedanischen Versammlung in Orenburg, einer staatlichen Religionsbehörde, die alle zukünftigen muslimischen Geistlichen des Reiches kontrollierte, die Prüfungen ab, die ihn befugten als Imam und Prediger an einer Freitagsmoschee sowie als Lehrer an einer Medrese tätig zu werden. Ein Jahr danach kam er auf Einladung der St. Petersburger Kasimov-Tataren in die Hauptstadt und wurde ihr Imam. In St. Petersburg stieg er in weitere Ämter auf, die ihn zu einem der angesehensten islamischen Geistlichen des Reiches machten. So ernannte ihn die Militärverwaltung zum geistlichen Oberhaupt der muslimischen Soldaten der St. Petersburger Garnison. 1881 war er kurzzeitig als Konsul für Damaskus vorgesehen. Die Asiatische Abteilung des Außenministeriums engagierte ihn als Dolmetscher und Lektor für Turksprachen. Und er unterrichtete die Pagen, also die Söhne einflussreicher Aristokraten am Hofe des Zaren, in den Grundlagen des Islam. Bajazitov bewegte sich also in den höchsten Kreisen und erhielt für seine Loyalität hohe Auszeichnungen: den Stanislaus-Orden und den Annen-Orden sowie

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fünf Medaillen für seine Arbeiten als Übersetzer und Dolmetscher. Als Bajazitov 1871 nach St. Petersburg kam, konnte die dortige Tatarengemeinschaft zwar auf eine über hundertjährige Siedlungsgeschichte zurückblicken, ihr Anteil an der Petersburger Gesamtbevölkerung war jedoch gering. Sie machten nur etwa 0,4 Prozent aus. Das waren zwischen 1869 und 1910 aber immerhin 6000 Kasimov-Tataren, zumeist männliche Arbeitsmigranten. Als Bajazitov ihr geistliches Oberhaupt wurde, gab es in der russischen Hauptstadt noch keine Moschee. Bajazitov war der Hauptinitiator der schließlich im Jahre 1913 fertiggestellten ersten Freitagsmoschee in St. Petersburg, die mit ihren 49 Meter hohen Minaretten die größte Moschee Europas ihrer Zeit (außerhalb Istanbuls) wurde. Das Grundstück wurde vom Emir von Buchara finanziert, der bei der Grundsteinlegung der Moschee 1910 neben vielen anderen hohen Würdenträgern als Ehrengast geladen war. Bajazitov leitete das Gebet zur Eröffnungsfeier und hielt danach eine Ansprache, in der er die ästhetischen Elemente des Islam betonte, die bei allen anderen Disputanten in der Renan-Debatte nicht vorkamen: „Der Koran sagt: ,Gott ist schön und er liebt die Schönheit‘. Unsere Moschee wird schön und wird dem Ruhm der Architektur und der Schönheit der Stadt dienen. Eine solche Moschee, wie es sie in Petersburg geben wird, existiert weder in Paris noch in London. Die Moschee ist schön, doch damit sie nicht nur durch ihre äußere Schönheit glänzt, muss man zu Gott beten, auf dass diese Moschee uns zur geistig-moralischen Schönheit bilde“.3 Sprachen Afghani und Kemal viel von (ehemaliger) Macht und Stärke oder gegenwärtiger Schwäche des Islam, war Bajazitov ein solcher Diskurs als Vertreter einer Minderheitsreligion im christlichen Staat verwehrt, vielleicht aber auch fremd. Bajazitov wurde nicht nur in Russland für seine Verdienste um den Islam geehrt. Vom Emir von Buchara erhielt er ebenfalls einen Orden, von der iranischen Regierung wurde er für seine geistigseelische Unterstützung der in Petersburg studierenden iranischen Studenten ausgezeichnet, und vom osmanischen Sultan erhielt er den Mecediye-Orden Dritter Klasse. Bajazitov schrieb teils auf Tatarisch, teils auf Russisch. Seine Bemühungen, eine tatarisch-sprachige Zeitschrift in der Hauptstadt des Reiches zu etablieren schlugen zwei Mal fehl (1891 mit

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Häftä, „Die Woche“ und 1893 mit Čišmä, „Die Quelle“). Erst im Juni 1905 wurde seine dritte Eingabe für eine Zeitschrift Nūr (‚Das Licht‘) genehmigt. Diese „türk-tatarische Zeitschrift“ hatte zum Ziel, „Wissen und Bildung, Weltgeschehen und Gebote der Zeit“ zu erörtern. Viele Artikel befassten sich mit sozialen, geschäftlichen und spirituellen Angelegenheiten der Muslime im russischen Reich. Auch staatliche Erlasse und Gesetze wurden abgedruckt und Fragen wie der Militärdienst aus der Perspektive des Islam diskutiert. Bajazitov hielt seine Zeitschrift streng auf Kurs, und so galt sie in Regierungskreisen als seriös, sachlich und zurückhaltend, ganz wie ihr Gründer selbst. Bajazitov veröffentlichte drei Werke auf Tatarisch: eine Biographie des Propheten Muhammad (Kasan 1881, 2. Auflage 1885) und zwei Lehrbücher zu den rechtlichen und moralischen Grundgeboten des Islams (Kasan 1883; St. Petersburg 1897). Bereits im Jahr 1883 schrieb er auf Russisch eine Entgegnung auf Renan, dessen Vortrag auch in Sankt Petersburg bereits 1883 in einer russischen Übersetzung erschienen war. Dass er Afghanis Entgegnung oder ihn selbst kannte, ist nicht belegt. Es wäre aber sehr verwunderlich, wenn sich die beiden während Afghanis immerhin zweijährigem Aufenthalt in St. Petersburg (1887-1889) nicht begegnet wären. Dem vorsichtigen und staatstragenden Bajazitov war der Agitator Afghani sicher zu radikal und zu unberechenbar. Er nimmt jedenfalls in seinen Schriften keinen Bezug auf Afghani. Kemals Replik war noch nicht veröffentlicht. Seine Erwiderung auf Ernest Renan sandte Bajazitov an Ahmed Midhat Efendi (1844-1912), einen Schriftsteller, Übersetzer und Verleger der vielgelesenen Zeitschrift Tercüman-ı Hakikat („Der Übersetzer der Wahrheit“).4 Dieser übersetzte Bajazitovs Entgegnung ins Osmanische, und später auch sein zweites Buch. Auch Ahmed Midhat Efendi hatte den Islam in mehreren seiner Schriften gegenüber Angriffen verteidigt und John William Drapers Geschichte des Konflikts zwischen Religion und Wissenschaft, ein Buch, das hauptsächlich die Geschichte der Konflikte zwischen römisch-katholischer Kirche und Vertretern der Naturwissenschaften beschrieb, ins Osmanische übersetzt. Bajazitov ließ das Thema Islam und Wissenschaft nicht mehr los. Innerhalb von 15 Jahren folgten seiner Entgegnung auf Renan zwei weitere Monographien, die den Islam noch ausführlicher als

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eine Religion darstellten, die Wissenschaft und Fortschritt fördere und mit der modernen Zivilisation vereinbar sei: Die Beziehungen des Islam zu Wissenschaft und Andersgläubigen (1887) und Islam und Fortschritt (1898). Bajazitov wollte mit diesen Schriften „die falschen Vorstellungen über das Verhältnis des Islams zu Bildung und Fortschritt ausräumen“, nicht nur bei den Europäern, sondern auch bei den Muslimen selbst, unter denen sich, wie er es ausdrückt „bekanntermaßen eine langandauernde geistige Trägheit ausgebreitet hat, die zu Konservatismus führte“.5 Dass Bajazitov zur Speerspitze des modernen Islam gehört, zeigt sich auch an seiner Auslegung des Koran in Bezug auf die Polygamie. Er fordert auch hier eine zeitgemäße Exegese, durchaus unter Berufung auf mittelalterliche Exegeten wie al-Razi (1149-1209), um den Koranvers, der die Heirat von bis zu vier Frauen erlaubt, als einen unmissverständlichen Aufruf zur Monogamie zu deuten – denn kein Mann ist in der Lage, die völlige Gleichbehandlung aller Ehefrauen zu erfüllen, wie der Koran sie fordert (Sure 4, Vers 129).6 Diese Auslegung des Koran wird zum Kennzeichen der Modernen, als der Richter Qasim Amin (18631908) ein Buch zur Frage veröffentlicht, mit dem Titel Die Befreiung der Frau (1899/1901). Bajazitov schrieb mehr als 10 Jahre früher, wurde aber, da er russisch oder tatarisch schrieb, in Ägypten nicht wahrgenommen. Auch heute noch kann man an der Haltung zur Koranauslegung in dieser Frage den Traditionalisten/ Konservativen vom Modernen/Liberalen unterscheiden: Der konservative Rechtsgelehrte an der Azhar Universität würde darauf verweisen, dass Polygamie (nach Sure 4, Vers 3) grundsätzlich erlaubt sei. Der Moderne (und das ist in dieser Frage bei weitem die Mehrheit) würde wie Bajazitov argumentieren, dass der Koran sie verbiete. Islamisten würden eher apologetisch argumentieren, dass der Koran hier ein Zugeständnis an die menschliche Natur mache, aber den Mann doch durch das Gebot der Gleichbehandlung einschränke.7 Während sich Bajazitov 1883 in seiner Widerrede gegen Renan eines leicht ironischen, aber insgesamt sachlichen Stils bediente, klingt er fünf Jahre später 1898 in „Islam und der Fortschritt“ entnervt angesichts der durch nichts zu erschütternden europäischen Vorurteile über den Islam, die auch noch zur Rechtfertigung kolonialer Eroberungen eingesetzt wurden: „Die falsche

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Vorstellung über den Dschihad als ungezügeltem Angriff zum Ruhme des Propheten und zur Verbreitung des Islams hat derartig in Europa Wurzeln geschlagen, dass daran gar keine Kritik zugelassen wird. Widerlegen denn die allgemein bekannten historischen Fakten wirklich noch nicht ausreichend die Absurdität dieser Idee? Nehmen wir nur einmal die uns nahe liegendsten Ereignisse in Asien und Afrika. Die Realität zeigt doch genau das Gegenteil. Tunis verteidigt sich gegen die Angriffe Frankreichs und sein Nachbar, Marokko bleibt dabei ein ruhiger Zuschauer. Ägypten spannt seine letzten Kräfte an angesichts der englischen Zivilisationsbringer und die Türkei, das gesamte muslimische Afrika und sogar die heiligen Stätten Medina und Mekka, die Heimstätten des Islam, Syrien, und andere mehr warten ruhig auf einen blutigen Ausgang. Man kann eine ganze Reihe ähnlicher Fakten anführen, die ins Auge springen. Können sie denn diese völlig verkehrte Vorstellung wirklich nicht ausräumen?“8

Islamische Theologie, Logik und Philosophie: Bajazitovs Replik auf Renan Bajazitovs Entgegnung auf Renan aber ist eine sorgfältige, logisch argumentierende gelehrte Abhandlung, in der der Mufti und Logiker einerseits den Islam verteidigt, andererseits aber am Schluss die modernen Wissenschaftler dazu aufruft, den „Ausgangspunkt für die Schaffung eines gegenseitigen Einverständnisses zwischen Wissenschaft und Religion zu finden“. Er schöpft aus der reichen islamischen Tradition seine logischen Gegenargumente und führt damit Renans fixe Ideen ad absurdum – vor allem die, Muslime seien nicht rational und fern der Wissenschaft. Seine gründliche Ausbildung in der aristotelischen Logik, wie sie seit dem 12./13. Jahrhundert an muslimischen Medresen üblich war, ist unverkennbar. Er denkt weniger politisch als Kemal und Afghani und sieht seine Aufgabe zuerst als Theologe. Bajazitov setzt sich zum Ziel, die inneren Widersprüche in Renans eigenem Text aufzudecken, nicht, ihn in allen Punkten zu widerlegen, wie Kemal dies versuchte. Eine theologische Abhandlung will er nicht schreiben, schickt aber voraus, dass er an die

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Offenbarung des Propheten hauptsächlich deshalb glaube, weil seine Lehren „der Logik des gesunden Denkens“ nicht widersprächen und das Licht der Wissenschaft nicht scheuten. Vor allem kritisiert er die wissenschaftliche Methode des großen französischen Gelehrten Renan, der leider keine analytische Art der Urteilsfindung betrieben habe. Also führt er ihm dies beispielhaft vor: Nach dem Verständnis „arabischer Wissenschaftler“, so sagt er, gilt diejenige Logik als ungültig bzw. als Unlogik, die die offensichtlichen Fakten in Frage stellt. Wenn Renan also argumentiert, dass das, was als arabische Wissenschaften bezeichnet wird, nicht arabisch sei, weil ihre Anfänge in Griechenland gelegt wurden, so seien auch die (west)europäischen Wissenschaften nicht (west)europäisch, sondern griechisch oder asiatisch, da ihre Anfänge in Griechenland oder Asien lägen (Griechenland sei ja seinerseits von Asien beeinflusst worden) (S. 209). Dies ist eine durchaus moderne Aussage, die heute in kulturwissenschaftlich aufgeklärten Kreisen genauso zu finden ist. Auch Bajazitov bringt das vertraute Argument, dass die islamische Welt 600 Jahre jünger sei als Europa, geht aber weiter: Das christliche Europa, der ältere Bruder, habe volle 1200 Jahre gebraucht, bis es die rationale Wissenschaft, also die griechische Philosophie, vom jüngeren Bruder lernte – Fähigkeit und Vorrang des Jüngeren gegenüber dem Älteren seien damit augenscheinlich. Er denkt also, ähnlich wie Renan („Zwillinge, die früh getrennt wurden“) und die europäische Religionswissenschaft, in Familienbildern. Die rationale Wissenschaft hatte Griechenland zum Vater und Arabien oder den Islam zur Mutter und Erzieherin. Sie ist also ebenso griechisch wie arabisch (S. 210). Auch Bajazitov kritisiert die geographische Ungereimtheit bei Renan, die ja in der Tat auffällt: Den Rückstand Europas gegenüber den arabischen Muslimen über ganze zwölf Jahrhunderte hinweg habe Renan geographisch durch die größere Entfernung Europas von den Schauplätzen der antiken Welt zu erklären versucht. Buchara, Samarkand, Persien und Spanien seien indes nicht weiter von Bagdad oder Syrien entfernt als Frankreich und dennoch hätten sich die Muslime nach Bagdad zum Studium der neuen philosophischen Lehre begeben. Vor allem greift Bajazitov auf sein Studium der aristotelischen Logik zurück und weist Renan mit einem Syllogismus die Unlogik seiner Argumentation nach. Renan hatte behauptet, viele Abbasi-

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denkalifen seien keine Muslime gewesen, da sie „überaus wissbegierig (waren), besonders nach ausländischen und heidnischen Dingen; sie befragten Indien, das alte Persien, Griechenland namentlich“. Bajazitov führt diese Behauptung nun anhand der zwei Prämissen und der Schlussfolgerung des klassischen Syllogismus vor: Prämisse 1: Wer sich für Ausländisches oder Heidnisches interessiert, der gehört ihnen, d.h. den Ausländern bzw. Heiden an. Prämisse 2: Die Kalifen interessierten sich für alles Ausländische und Andersgläubig-Heidnische. Schlussfolgerung: 3. Die muslimischen Kalifen waren keine Muslime. Nach dieser Logik wäre der Prophet selbst kein Muslim, weil er sich für das Juden- und Christentum interessierte. Nach der gleichen Logik wären christliche Wissenschaftler, die sich mit der Antike und dem Islam befassten, keine Christen. Da diese Aussagen aber offensichtlich falsch seien, lasse sich beweisen, darauf zielt sein Argument, dass die Kalifen gute Muslime und offen für alle Arten von Wissen waren. Alle Kalifen hätten immer die besten Wissenschaftler an ihre Höfe geholt, und so seien Islam und Wissenschaft „unzertrennliche Zwillinge“ geworden (S. 213). Dass es auch unter Muslimen zu Verfolgungen von Philosophen und Naturforschern gekommen sei, akzeptiert er, verwahrt sich jedoch dagegen, dass Renan diese Verfolgungen ausschließlich auf den Islam zurückführt. Oppositionelle und Fanatiker gebe es überall. Bajazitov kennt Renans Position in Frankreich, wie er auch Einschlägiges in der Geschichte Europas aufzählt: Martin Luther, die Bartholomäusnacht und den Dreißigjährigen Krieg. Aber er weiß auch um die Auseinandersetzungen im revolutionären Frankreich um religiöse Symbole im öffentlichen Raum. Worin liege hier, so fragt er, die „Schuld der Religion Christi“? Überhaupt greift er das Christentum, anders als Kemal, nie an und ist sehr ausgewogen in seiner Einschätzung. Ganz frei von Apologie ist er nicht, wenn er die politische Opposition in England und Frankreich, die Regierungen stürzen könne, mit den „Angriffen einer arabischen ungebildeten Menschenmenge auf Wissenschaftler oder Philosophen“ vergleicht – oder vielleicht ist ihm – er lebt im Zarenreich – die Bedeutung von politischer Opposition nicht klar. Sein Vergleich mit den einander

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beschimpfenden homöopathischen und allopathischen Ärzten auf einem Moskauer Kongress zeigt aber, woran er denkt: An die Streitereien zwischen muslimischen Theologen, die einander auch mit Hohn und Spott überzogen, die aber nicht auf Scheiterhaufen als Ketzer verbrannt wurden, wie dies in Europa geschah, sondern die sich über Jahrhunderte andere Mäzene in anderen Städten oder Fürstentümern suchen konnten. Dass Renan aber vom Islam die Abschaffung dessen verlange, was Europa bei sich selbst nicht abzuschaffen vermag, ist eine bemerkenswert klarsichtige Analyse. Bajazitov findet dies „nicht ganz gerecht“. Als strenger Denker kritisiert er aber den typischen Stil Renans, halbherzige Zugeständnisse an die Gegenposition in seine Texte einzustreuen. Der von Renan erwähnte Scheich Tahtawi schreibe in seinem Werk, dass die europäische Wissenschaft vom ersten bis zum letzten Wort Ketzerei sei – und, so füge Renan aus eigenen Stücken hinzu, „vom Gesichtspunkte des Islam aus, das muss man zugeben, hat er nicht ganz unrecht. Ein offenbartes Dogma bildet stets einen Gegensatz zur freien Forschung, die ihm zu widersprechen vermag.“ Wie komme Renan dazu, fragt Bajazitov, „vom Gesichtspunkte des Islam aus“ zu sagen und nicht, ‚vom christlichen oder jüdischen Gesichtspunkte aus‘? Wenn diese Religionen alles, was nicht mit ihrer Dogmenlehre übereinstimmt zur Ketzerei zählen, so gehe es ja wohl nicht um den Islam allein. Aus der Logik Renans ergebe sich also folgender Schluss: Die Muslime hassen die Wissenschaft, weil sie sie – vom Standpunkt ihrer Religion aus völlig richtig – als Ketzerei bezeichnen. Auf dieser Grundlage ist es erlaubt, folgende Schlussfolgerung zu ziehen: Jeglichem Menschen, der seine Religion als von Gott offenbarte Wahrheit ansieht, müssen alle Wissenschaften außer den theologischen, die diese Wahrheit stützen, verhasst sein, denn jeder Mensch kann – vom Standpunkt der Religion aus gesehen völlig zu Recht – die Wissenschaft als gottlos und ketzerisch bezeichnen. Ist nun angesichts dessen Renans Schluss, nur der Muslim „hasse die Wissenschaft“, noch logisch, wenn – nach der Logik Renans – fast jeder, der sich zu einer göttlichen Religion bekennt, die Wissenschaft hassen muss? (S. 220) Die erfundene Anekdote um den an allen Fakten angeblich desinteressierten Kadi und die Formel „Gott weiß es am besten“ erklärt er – man könnte sagen: –kulturanthropologisch. Sie sei ein

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Zeichen des Respekts gegenüber einer anderen Meinung oder Überzeugung, eine Absicherung bei der Wiedergabe komplizierter Sachverhalte und eine Höflichkeitsformel gegenüber einem Streitpartner (S. 221). Er hinterfragt ebenfalls die Motive Layards, der die Anekdote überliefert haben soll (S. 223f.). So könnten sich hier zwei politische Agenten ihrer jeweiligen Regierungen umlauert haben – der eine wollte Informationen im Auftrag seiner Regierung einholen, der andere wandte orientalische List im Auftrag der seinigen an, um keine Informationen preiszugeben. Oder aber der Kadi habe befürchtet, es handele sich bei Layard um einen christlichen Missionar, was zu dieser Zeit tatsächlich eine besondere Sorge der osmanischen Politik war, angesichts der zahlreichen Missionsschulen im Reich. So interpretiert er die letzte Aussage des Kadi mit der bemerkenswerten Erklärung, das Missionieren sei ein Übergriff auf ein fremdes Gewissen, und folglich sei es schlecht. Im 20. Jahrhundert werden auch die Muslime missionieren, Bajazitov ist dies jedoch noch völlig fremd. Wo Kemal polemisiert, argumentiert Bajazitov überlegt und weist Renan falsche induktive Schlussfolgerungen nach, die zu falschen Ergebnissen führen. Bajazitov zitiert zum Abschluss seiner Erwiderung mehrere Theologen und schließt mit Verweisen auf die islamische Tradition der Überlegenheit des Verstandesschlusses vor der Überlieferung, wie sie die Theologen, die mutakallimun, betreiben. Dabei zeigt er seine theologische Gelehrsamkeit. So habe al-Izniqi (gest. 1458) mit Blick auf die Überlieferung gesagt: „Jene Stellen der Überlieferung, die der Verstand nicht akzeptieren kann, müssen allegorisch interpretiert werden“. Dies bedeute, so Bajazitov, dass sie nicht dem Buchstaben getreu, sondern gemäß dem gesunden Menschenverstand interpretiert werden, denn, so sage al-Izniqi: „Das Argument, das der Überlieferung entnommen ist, kann nicht als entscheidender Beweis dienen, wenn die Letztbegründung, zu der es gelangt, keine rationale Grundlage hat“. Ebenso argumentiere al-Gupamu’i (gest. 1748), der ein Standardwerk zur Logik verfasste: „Das Argument, das der Überlieferung entnommen ist, kann nicht als entscheidender Beweis dienen, wenn die Letztbegründung, zu der es gelangt, keine rationale Grundlage hat“. Bajazitov zitiert auch „den im Islam für seine Gelehrsamkeit und Frömmigkeit berühmten“ Theologen, in der Tat einen der berühmtesten im Islam, al-Ghazali (gest.

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1111): „Die Logik (mant. iq) ist die Propädeutik und der Waagebalken bei allen Waagen des Denkens gleich welcher Lehre oder Erkenntnis; wer die Logik nicht kennt, der hat keine fundamentalen Kenntnisse und auf seine Erkenntnis ist kein Verlass“ (S. 227). Al-Ghazali habe auch gefordert, das Studium der Logik müsse vor dem gründlichen Studium von Koran, Sunna und Rechtswissenschaft aufgenommen werden. Die Logik sei die wichtigste und nützlichste der Wissenschaften. Wer sie tadele oder verbiete, sei ein vollständiger Ignorant, habe al-Subki gesagt, ein Theologe des 14. Jahrhunderts, der sich gegen die wörtliche Auslegung des Koran wandte. Logik und Medizin seien eine der Gemeinschaft auferlegte Pflicht (und keine individuelle Pflicht des Gläubigen). Traditionell bedeutete dies, dass nicht jeder, sondern die ausgebildeten Experten diese Pflicht erfüllen sollten, wie auch nicht jeder ein Arzt sein kann. Der Prophet habe gesagt, „das erste, was Gott erschaffen hat, ist der Verstand“. Bajazitov zitiert hier durch die Jahrhunderte islamischer Gelehrsamkeit diejenigen, die sich für die Logik in der Theologie stark machten, oftmals gegen die Philosophie, wie Afghani sie betrieb (so al-Ghazali), die aber auch für die Vielfalt des islamischen Denkens stehen und zeigen, dass es mehr gibt als die islamische Jurisprudenz mit ihrer Kasuistik, gegen die sich auch Afghani und Kemal wenden, wie auch die späteren islamischen Intellektuellen. Bajazitov ist fest davon überzeigt, dass das religiöse Gefühl, das dem Menschen in allen seinen Entwicklungsstadien eigen ist, vom Verstand durchdrungen und mit den logischen Denkgesetzen erfasst werden kann und zum Menschen als einzigem Vernunftwesen gehöre. Da jedoch die geistige Verfassung der Menschen unterschiedlich ist, unterscheidet sich auch die Auffassung von Gott und den Naturgesetzen. Gott offenbart sich dem Menschen in dem Maße, wie der Mensch ihn zu verstehen in der Lage ist, und deshalb muss auch ein jeder sein Denken entwickeln. Doch das äußerste Ideal, das die Menschheit anstrebt und das letzte Ziel ihrer Entfaltung auf Erden, sei der Verband von Religion und Wissenschaft, dieser zwei höchsten Sphären der geistigen Welt des Menschen. Gebe Gott dass die heutigen Wissenschaftler zu dieser Wahrheit vordringen und ihr Wissen und ihre Talente nicht zum Schaden der Religion einsetzen und auch nicht dafür, dass sie sie im Schoss der Wissenschaft erdrücken, sondern im

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Gegenteil dafür, zwischen Wissenschaft und Religion einen gegenseitigen Respekt aufzubauen. Die Weisheit der Wissenschaftler und Philosophen besteht nicht darin, ihren wissenschaftlichen, sich ja oft ändernden Systemen zuliebe die Religion als eine der Wissenschaft feindliche Erscheinung zu begraben. Die Aufgabe der heutigen Wissenschaft müsse vielmehr darin bestehen, den Ausgangspunkt für die Schaffung eines gegenseitigen Einverständnisses zwischen Wissenschaft und Religion zu finden, damit sie gemeinsam zur Wahrheit gelangen. Es gelte, eine enge gegenseitige Verbindung zwischen diesen zwei Sphären der geistigen Welt des Menschen herzustellen, dem religiösen Gefühl und dem Verstand, und gleichzeitig den Fanatismus der Fanatiker zu beseitigen, jenen der Religion wie jenen der Wissenschaft. Dann würden Religion und Wissenschaft Hand in Hand gehen auf dem Wege zu eben jenen Wahrheiten, den höheren Idealen vernünftiger Moral und Tugend, die das endgültige Ziel der Menschheit auf Erden bilden. Wie Renan endet auch Bajazitov mit einem Appell – allerdings lässt sich der seine ein ganzes Stück moderner lesen als Renans Feuerwaffengleichnis: Religion und Wissenschaft streben bei Bajazitov nach unterschiedlichen Erkenntnissen. Deshalb sollten sie sich respektieren – weder sollte die Religion der Erforschung der Naturgesetze im Wege stehen, noch sollte die Naturwissenschaft die Religion und ihre sakralen Gestalten abwerten (etwa als Geisteskranke oder Epileptiker). In der Tat erinnert Bajazitovs Schluss etwa an Max Planck, für den sich Religion und Naturwissenschaft nicht ausschlossen, sondern ergänzten und bedingten, weil für den gläubigen Menschen Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende aller Überlegungen stehe.

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(K)eine unendliche Debatte Die Debatte, die Renan 1883 anstieß, fand in einer Hochphase der Moderne statt. Szientismus und Positivismus, kurz gesagt: der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten des „Fortschritts der Wissenschaft“, der sich mit einem oft kruden Materialismus mischte, breiteten sich weltweit aus. Wissenschaft und Technologie wurden, wie der Historiker Michael Adas gezeigt hat, als Vergleichskriterien für ganze Zivilisationen herangezogen. Es war die technologische Überlegenheit, die zum Triumphalismus der Moderne in Europa verleitete, der auf alle Formen des Wissens ausgedehnt wurde. Auf dieses Europa, das sich als Verkörperung der Moderne sah, trafen die Intellektuellen des Ostens – nicht auf „die Moderne“, der gegenüber sie in allen Belangen die Vor- oder Nicht-Moderne verkörperten. wie immer noch vielfach geschrieben wird. Die Spannung in der Moderne, von der Touraine spricht, zwischen den Kräften des Rationalismus und den Kräften der Subjektivität sei von Renan, so ist vielfach gesagt worden, umgesetzt worden. Er habe ihr Ausdruck verliehen, sei die Verkörperung der Moderne gewesen. Dies gilt auch für die Intellektuellen aus dem Orient, wo nach großer Euphorie für Europa Enttäuschung und Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln einsetzte. Mit ihnen stieß Renan auf die erste Generation moderner islamischer Denker, die Europa kannten, seine Länder, seine Philosophen, und seine politischen Systeme. Sie kannten und verstanden Europa viel besser als Renan den Orient kannte und verstand. Trotz der absoluten Differenz, die Renan gegen den Islam und den Orient aufbaute, hatte er viel gemeinsam mit seinen Disputanten. Ihnen allen ging es um die Wissenschaft, die als eine Quintessenz der Moderne gesehen wurde, und um die Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft. Renan war kein Positivist und Rationalist, der die Religion völlig ablehnte. Er war ein Anhänger der Idee einer „Religion der Wissenschaft“, die Religion und Wissenschaft vereinbaren könnte – ein „Prophet in einem wissenschaftlichen Zeitalter“. Den Katholizismus lehnte er als unvereinbar mit der Wissenschaft ab, den Ratio-

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nalismus der Aufklärung verabscheute er jedoch ebenso, als „natürliche Religion“ (religion naturelle), als „dürftige Theologie, ohne Poesie, ohne Einfluss auf die Menschheit“.1 Außerdem habe die Aufklärung die französische Gesellschaft zerrissen – hier klingt er wie Afghani. „Die Wissenschaft ist deshalb eine Religion; die Wissenschaft allein wird von nun an Symbole produzieren; die Wissenschaft allein kann für den Menschen die ewigen Probleme auflösen, nach deren Lösung seine Natur so gebieterisch verlangt.“2 Es ging Renan immer auch um Gefühl, Enthusiasmus, Opfer – er war Romantiker. Sein exaltiertes philosophisches Glaubensbekenntnis lautet: „Wir glauben an das Werk der Moderne, an seine Heiligkeit, seine Zukunft … an die Vernunft … an die Menschheit (…) die Rückkehr zur Religion wird nur die Rückkehr zur großen Einheit des Lebens sein, zur Religion des Geistes (…)“.3 Man hat Renans Haltung zum Islam mit seiner Haltung zum Katholizismus zu erklären versucht und argumentiert, er habe den Islam angesichts der inneren Konflikte der III. Republik als Platzhalter für jegliche Orthodoxie benutzt.4 Dem ist nicht so. Er lehnte den Islam als Essenz des Semitentums ab, als fanatisches Dogma, aber auch mit ähnlichen Begriffen wie er sie für die Aufklärung fand: dürftig, ohne Poesie. Er meint in der Tat den Islam, nicht den Katholizismus, nicht irgendetwas anderes, wenn er über den Islam spricht. Im Islam, der die Philosophie erstickt habe, sah Renan den Grund für die Rückschrittlichkeit, den Mangel an Wissenschaft im Orient. Der Zusammenhang von Philosophie und (natur)wissenschaftlichem Fortschritt ist nicht unmittelbar evident, auch wenn er oft bemüht wird. David King hat nachgewiesen, dass in der Astronomie die muslimischen Wissenschaftler bis ins 16. Jahrhundert ihren westlichen Kollegen voraus waren.5 Aber Renan zielte, wie viele seiner Kollegen, auf etwas anderes mit diesem Argument: Er will auf eine ungenügende Aneignung des hellenischen Erbes der Antike hinaus, das die „armen syrischen Schreiber“ nur unzulänglich übersetzt hätten, das mit „barbarischen Elementen“ durchsetzt, nicht in der Tiefe durchdrungen und nicht weiter entwickelt worden sei. Damit wird eine wichtige Traditionslinie der arabisch-islamischen Kultur negiert. Renan nicht direkt zitierend, aber doch die Hauptstränge seiner Argumentation aufnehmend wurde im Jahre 2008 in Frankreich

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wieder argumentiert, dass sich die muslimische Welt trotz aller Übersetzertätigkeit der Christen die griechische Philosophie nur unzureichend angeeignet habe. Europa wurzele in der griechischen Kultur, im römischen Recht und in der Bibel, „der Islam“ aber auf dem Fundament von Koran, dem Propheten und der religiösen Rechtsprechung. Beide Zivilisationen (!) brächten Bäume, Zweige und Früchte hervor, die das Ebenbild ihrer Wurzeln seien. Auch hier erfolgt wieder die Gegenüberstellung eines (auf positive Werte reduzierten) Europa als Zivilisation, dem aber nicht die Zivilisation des Orients gegenüber gestellt wurde, sondern „der Islam“.6 Renan und andere europäische Gelehrte verorteten den „Geist des Islam“ in der winzigen, randständigen Sekte der Wahhabiten zu einer Zeit, in der diese in einer entlegenen Ecke der arabischen Halbinsel ohne weiteren Einfluss war. Die Wüstenmetapher und die These vom mythosunfähigen, und das hieß in der Konsequenz: vom schöpfungsunfähigen Islam fand Eingang in die Kulturgeschichte. Kein Geringerer als Jacob Burckhardt schrieb 1868, Renan paraphrasierend, dass „der Islam, der eine so furchtbar kurze Religion ist, (…) mit dieser Trockenheit und trostlosen Einfachheit der Kultur wohl vorwiegend eher schädlich als nützlich gewesen“ sei.7 Von hier verläuft eine direkte Linie zu den großen Debatten und Theorien des 20. Jahrhunderts, bis hin zu Max Weber. „Der Islam“ wird weiterhin in verkürzter, fast fundamentalistisch-wahhabitischer Weise als ein rein auf „den Propheten und den Koran“, also auf den ursprünglichen Texten beruhendes normatives Regelwerk gesehen, als wörtlich zu nehmender „Text“, und nicht als ein pluralistisches Traditionsgefüge, das die Lebensund Wissenswelt einer Zivilisation von eineinhalb Jahrtausenden inspirierte. Max Webers Sicht des Islam als Kriegerreligion ist ebenfalls ein Beispiel dafür.8 Deshalb reagierten die Muslime so betroffen – die Doppelmoral, die ihnen aus Europa entgegen gebracht wurde, empfanden sie als zutiefst ungerecht: „Europa“ berief sich als Inkarnation der Moderne auf die Vernunft, ließ die Vernunft der Muslime aber nicht gelten, weil man ihnen das gemeinsame hellenische Erbe absprach. Die drei modernen Denker des Islam, Afghani, Kemal und auch Bayazitov verkörpern in ihrer Person und in ihren Antworten drei

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wesentliche Aspekte muslimischer Kultur, wie sie es 1883 (noch) gab: Islamische Philosophie (falsafa), politisch-rechtliches Denken auf osmanischem Hintergrund, islamische dialektische Theologie (kalam). Sie waren alle drei ausgebildet in ihrem Feld, Kemal war darüber hinaus noch Literat. Ihr Denken spiegelt das weite Spektrum des Islam dieser Zeit wider, den sie für die Moderne reformieren und ertüchtigen wollten. Wenn man so will, wollten sie Prozesse wie die Reformation und die Aufklärung in Europa gewissermaßen gleichzeitig und im Schnelldurchlauf anstoßen – und setzten einen Prozess in Gang, der bis heute andauert. Unter den Bedingungen der sich bereits globalisierenden, kolonialen Moderne war nicht die Zeit für langsamere, nur aus eigenen Quellen schöpfende Modernisierungsprozesse. Dies zu erwarten wäre historisch unrealistisch – „Europa“ war in ihren Ländern bereits allgegenwärtig und mächtig. Es war aber auch nicht so, wie heute oftmals behauptet wird, dass der moderne Islam ein Produkt des Kolonialismus ist. Er bildete sich vielmehr, wie wir gesehen haben, unter asymmetrischen Machtbedingungen in der Auseinandersetzung mit Europa heraus, in eigener Anstrengung. Die extreme Abgrenzung und Abwertung des Islam und des Orients, die Renan und andere vertraten, und die den modernen Muslimen, die die wissenschaftliche Literatur der Europäer zur Kenntnis nahmen, bekannt war, rief die entsprechenden Reaktionen bei den Muslimen hervor: Abgrenzung, Verteidigung, Apologetik und polemische Abwertung.9 Von daher stammt das kategorische Beharren darauf, dass der Islam die vernünftigste Religion überhaupt und mehr als alle anderen Religionen mit der Wissenschaft vereinbar sei. Von daher stammt die Umdeutung des Korans von einem Buch des Gebets und der Rezitation zu einem Buch der Rationalität, in dem die Wissenschaften schon vorweggenommen und alle Antworten für das politische Leben der Gegenwart zu finden seien. Die Repliken auf Renan zeigen Reaktionen auf die Differenz, die Renan aufmachte. Kemal polemisiert gegen die Christen und Atheisten, die den Islam nicht als „göttlich“ anerkannten und ihn auf eine Stufe mit Naturreligionen stellten. Afghani deutet nur an, dass der Islam zu vernünftig sei für die nicht zu erklärenden Mysterien der Dreifaltigkeit, die in Alexandrien die Philosophie ver-

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drängt hätten. Bajazitov spricht von „Beleidigung“ des Islam, der nicht irgendeine unbestimmte philosophische oder metaphysische Träumerei oder eine wissenschaftliche Hypothese sei, sondern im Gegenteil eine positive und präzise bestimmte Glaubenslehre. Es klingt, also habe Bajazitov die Lehrbücher der Theologie des frühen 19. Jahrhunderts gelesen, die die „positive Glaubenslehre“ etwa des Judentums beschrieben, im Gegensatz zur natürlichen Religion. Den Begriff des Gewissens verwendet er in einer protestantisch-modernen Form, wenn er sagt, das Missionieren sei ein Angriff auf ein „fremdes Gewissen“. Diese modernen Muslime setzten sich mit dem ganzen Arsenal modernen europäischen Denkens auseinander. Ihr Ziel war es, den Islam für die Moderne zu rüsten. Damit wird vor allem der Koran zur klaren Botschaft der Vernunft, die mit allen Herausforderungen der Moderne fertig wird, die man offensichtlich ohne weitere Auslegung verstehen und zusammen mit der Sunna zur Beantwortung aller Fragen, auch der alltäglichsten, heranziehen könne. Gleichzeitig saßen sie dem gleichen Missverständnis auf wie die modernen Intellektuellen Europas, technologische Entwicklung „als Maßstab des Menschen“ (Adas) zu nehmen. Sie übernahmen den abwertenden Blick auf ihre eigenen Gesellschaften. Man blickte auf die technologische Überlegenheit Europas, die sich in der Tat oft genug in modernen Waffen ausdrückte, sah die eigene naturwissenschaftlich-technische Rückständigkeit, und führte sie auf einen „Mangel an Islam“ zurück. Man wertete die eigene Kultur, Gesellschaft und Geschichte ab, belegte sie mit Begriffen wie „Krankheit“, „Lethargie“ und „Dekadenz“ und erinnerte an vergangene Größe. Afghani dachte so, Bajazitov ebenfalls, und auch Kemal. Dabei konnte keine der Weltregionen (außer Nordamerika) der technologischen Überlegenheit Europas viel entgegensetzen. Aber man suchte vielfach auch nicht sein Heil in vergangener Größe. Der Libanese Samir Kassir hat in den 1990er Jahren dieses Sich-Orientieren an vergangener Größe für die arabische Welt zu Recht das „arabische Unglück“ genannt.10 Durch die Abwertung der eigenen Traditionen ist man ständig gezwungen, einen neuen Phönix aus der Asche steigen zu lassen (ein eminent beliebtes Symbol, das oft bemüht wird), also eine arabische Renaissance

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(nahda), später eine arabische Wiedergeburt (ba‘th) auszurufen. Diese Sicht auf die Geschichte produziert Frustrationen geradezu. Der moderne Islam ist die religiöse Version dieses Denkens. Das Beharren auf der „Vernunft im Islam“ und der Vorwegnahme naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Koran (was es heute in ähnlicher Weise auch im christlichen Kreationismus mit Bezug auf die Bibel in den USA gibt) ist in der Auseinandersetzung mit Renan und seinen Kollegen und deren Ausgrenzung des Islam und des Orients verständlich. Aber die überstarke Vernunftbetonung hat auch als modernes Einfallstor für extrem verengte Vorstellungen des Islam gedient. Der Koran wurde in der Folge vom Gebetsbuch zum Gesetzesbuch. Die von den modernen islamischen Intellektuellen angestoßene (aber nicht beabsichtigte) Ausschaltung der Traditionen und ihrer Gelehrten und die Rückkehr zu den Quellen des Islam, zu Koran und Sunna des Propheten, wird später von Islamisten als Demokratisierung des Islam gefeiert, hat aber zu einer Fundamentalisierung, zur Buchstabengläubigkeit, zu einer großen Verarmung des Islam beigetragen. Es ist wohl nicht anders als tragisch zu nennen, dass der Islam, wie er uns heute entgegen tritt, in vielem dem Bild gleicht, das Renan von ihm hatte. So argumentierte ja auch Muhammad alHaddad, der erste, der die philosophische Religionskritik Afghanis am Islam in seiner Replik auf Renan einem arabischen Publikum zugänglich machte, als er schrieb, dass die Dschihadisten auf den Fernsehschirmen keine Erfindung von islamfeindlichen Europäern seien. Navid Kermani hat in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015 den gegenwärtigen Zustand des Islam ebenfalls auf wahhabitisch-saudische Einflüsse zurückgeführt und scharf kritisiert.11 Sie sind, so argumentiert dieses Buch, ein Problem der muslimischen und der westlichen Welt, ein Problem der globalen Moderne. Ist der heutige Islam, der in der Wahrnehmung des Westens aus Islamisten, Salafisten und Dschihadisten besteht, ein Produkt der ersten modernen Denker des Islam? Lassen sich die fundamentalistischen Auswüchse, gar der sogenannte Islamische Staat in Syrien und im Irak, die „Metastasen des Islam“, auf Afghani, Kemal und Bajazitov zurückführen? Oder, anders gefragt: Wo kommen sie sonst her?

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Der indische Literat Pankaj Mishra, in dessen wortgewaltigem Plädoyer für den Wiederaufstieg Asiens Afghani eine zentrale Rolle spielt, stellt weniger sein Denken als sein Handeln dar. Er sieht ihn deshalb als Vorläufer von Usama bin Laden, dem Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida, auf dessen Konto die Angriffe des 11. September 2001 gingen.12 Doch dem ist nicht so. Afghani war in der Tat der Agitator (für einen Revolutionär war er zu nahe an den Mächtigen) der ersten Generation islamischer Denker, aber der verengte wahhabitischsalafitische Islam von al-Qaida und deren noch radikalerer Abspaltung, dem sogenannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak entsprach in keiner Weise seinem Denken. In Afghanis Reden kommt, ebenso wie in seiner Entgegnung auf Renan, eine Vorstellung zum Ausdruck, die den Islam eher als eine kulturell-zivilisatorische Kraft sieht, die den Gesellschaften des Orients allgemeine Werte vermittelt, so etwas wie ein „Kultur-Islam“, der ein Motor der Moderne sein sollte.13 Von seiner Ablehnung des „Volksaberglaubens“, der Heiligenverehrung an Grabstätten im Namen der Vernunft bis zur Zerstörung islamischer und nicht-islamischer Grabmale ist es ein sehr weiter Weg. Führt ein direkter Weg vom modernen Islam zum fundamentalistischen Terror? Im Extremfall ähnelt der eine Pol der Moderne den Millenaristen und Fundamentalisten, sagt Touraine. Revolutionärer Terror im Namen der „Selbstreinigung“ gehört in der Tat zur Moderne, seit den Jakobinern der Französischen Revolution. Die Idee der Verengung des Glaubens auf seine „reinen Fundamente“ ist eine, die auf moderne religiöse Bewegungen Anziehungskraft ausübt, im Islam und auch im Protestantismus der evangelikalen Christen etwa der USA. Dieser Fundamentalismus ist, wie Shmuel N. Eisenstadt schreibt, „eine moderne Bewegung gegen die Moderne“.14 Aber einen direkten Weg von Afghani, Kemal und Bajazitov zum heutigen Islam und zum heutigen Terror gibt es nicht, dafür jedoch viele Abzweigungen und Kontingenzen, Zufälligkeiten. Deshalb ist es wichtig, sich die Entwicklungslinien zu vergegenwärtigen. Der Siegeszug des Wahhabismus, der in einer entlegenen Ecke der arabischen Halbinsel entstand, in die globalisierte muslimische Welt ist nur mit der Kontingenz der Geschichte zu erklären. Mit der Vermarktung der immensen Ölvorkommen, die man un-

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ter dem Wüstensand entdeckte, hat sich der wahhabitische Islam seit Gründung der Monarchie Saudi-Arabiens weltweit verbreiten können. Aber der Wahhabismus, die Staatsreligion Saudi-Arabiens, ist nicht die einzige Bewegung der Gegenwart, die Politik/ Staat und Islam eng verbindet. Wie wir gesehen haben, ähnelt das gegenwärtige politische Denken der Muslimbruderschaft in Ägypten dem Kemals. Diese Bewegung hat eine ausgeprägt sozialpolitische, gemeinschaftsorientierte Ader, die soziale Gerechtigkeit fordert. Ihre Führer sind keine theologisch Gebildeten, sondern vielfach Ingenieure und Lehrer. Die moderne Politisierung des Islam wird vor allem von diesem Entwicklungsstrang verkörpert. Dieser sehr konservative, aktivistische politische Islam hat sich in den letzten Jahren in Form von Parteien an Wahlen beteiligt, erkennt also politische Spielregeln im Kampf um die Macht an, konnte sie aber trotz Wahlerfolgen in einigen Ländern, zuletzt in Ägypten, nicht behalten, auch weil das Misstrauen in der eigenen Bevölkerung und natürlich im Westen zu groß ist. Grundsätzlich lassen sich alle islamistischen (oder auch islamisch-fundamentalistischen) Bewegungen wiederum in drei Gruppen einteilen: diejenigen, die eine apolitisch-passive, diejenigen, die eine gemeinschaftsorientierte und diejenigen, die eine militantdschihadistische Variante des Islam vertreten.15 Dies gilt auch für den Salafismus. Die Salafisten (auch: Salafiten), wie sie sich selbst nennen, sind aus dem Wahhabismus hervorgegangen und zeichnen sich durch noch größere Strenge in ihrer Ablehnung der islamischen Mystik, des Volksglaubens, der Schia, und jeglichen Gelehrtentums aus – also auch der wahhabitischen Gelehrten – und oft auch des saudischen Königshauses.16 Diese Salafisten, Neo-Fundamentalisten, wie der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy sie genannt hat, sind Produkte und Agenten des global agierenden Islam. Für sie ist der Islam fast nur noch Ritual. Die Mehrheit der Salafisten ist jedoch apolitisch und passiv, kritisiert Gewalt und lebt einen persönlichen, sehr frommen Glauben aus, weil es auch schon zu Lebzeiten des Propheten keinen akzeptablen Staat gegeben habe. Ein weiterer Teil ist aktivistischgemeinschaftsorientiert und versucht, der Muslimbruderschaft Konkurrenz zu machen. Der dritte Teil, die kleine aber blutrünstige Minderheit, verwirklicht sich in Gewalt.

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Dschihadisten rechtfertigen Mord, Vergewaltigung und Diebstahl im Namen einer Selbst-Reinigung des Islam und dämonisieren alles, was nicht in ihr Bild passt: alle nicht- oder vorislamischen Kunstwerke auf islamischem Boden, ebenso wie alle nicht-sunnitischen Muslime, also alle nicht-orthodoxen muslimischen Gemeinschaften. Aber damit nicht genug: Auch die Sunniten, die diese extremen Frömmigkeitsanforderungen nicht erfüllen, können exkommuniziert und als vogelfrei erklärt werden (takfir). Die extrem kleine Gruppe der Dschihadisten schafft es, das Bild des Islam zu beherrschen, vor allem der sogenannte Islamische Staat, der sich in den Wirren und im Gefolge des Krieges, den die USA mit ihrer Koalition der Willigen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gegen den Irak führten, herausgebildet hat. Am 29. Juni 2014 verkündete die TerrorOrganisation die Gründung eines Kalifats. Abu Bakr al-Bagdadi nahm die Titel „Kalif Ibrahim“ und „Befehlshaber der Gläubigen“ an. Wie wir gesehen haben, bedeutet das Kalifat, das 1924 abgeschafft worden war, den Anspruch, in der Nachfolge des Propheten zu stehen und das Oberhaupt aller Muslime weltweit, der nunmehr globalen umma zu sein. Über 100 anerkannte Rechtsgelehrte der globalen umma haben seinen Anspruch zurück gewiesen. Ein über modernste Medien verbreiteter und aufwendig gepflegter monströser Kult der Gewalt soll neben ganz profanen politischen Zielen auch der Vorbereitung der Apokalypse dienen, der letzten Schlacht zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, die sich der Überlieferung nach auf einer Ebene namens Dabiq in der Nähe von Raqqa, der Hauptstadt dieses „Kalifatsstaates“, abspielen soll.17 Hier wird die Verengung des Islam im Namen seiner Reinigung an einen Punkt geführt, der in letzter Konsequenz seine Auslöschung bedeutet – so wie sich Dschihadisten mit einem Sprengstoffgürtel um den Bauch selbst auslöschen. Das Ende des „Islamischen Staates“ kann, von diesem Nullpunkt ausgehend, nur eine wieder zunehmende Offenheit und Vielfalt des Islam bewirken. Von diesem Horror waren Afghani, Kemal und Bajazitov weit entfernt. Sie waren moderne Denker, die sich die gleichen Fragen stellten wie ihre europäischen Kollegen: über die Verfasstheit ihrer Gesellschaften, über Despotie, über die Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft, und die mit ähnlichen Antworten aufwarteten.18 Der zeitgenössische Islam, den sie als so verknöchert

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geißelten, kannte noch große mystische Bruderschaften allerorten, die Musik und Tanz und Alltagssolidarität pflegten, und einen bunten Volksislam mit seiner Heiligenverehrung, der sie störte. Der wahhabitische Puritanismus mit seiner Zerstörung von Heiligengräbern war ein vorübergehender Spuk gewesen. Weder Afghani, noch Kemal, noch Bajazitov goutierten den Wahhabismus, auch wenn sie den Volksislam als Aberglauben ablehnten. Afghanis Ziel war ein aktivistisches, politisiertes Subjekt, das dem Westen widerstehen sollte. Dieser Widerstand lässt sich ebenso im Namen der Nation anrufen wie auch des Islam – deshalb beziehen sich heute ja ganz verschiedene Bewegungen auf ihn. Namık Kemal wollte ein freies, kreatives Subjekt. Bajazitov wollte den religiösen Menschen, der Glaube und Vernunft und Wissenschaft gleichermaßen schätzte. Alle drei schrieben zu einer Zeit, in der die Ideen des Westens in der muslimischen Welt noch nicht allgemein bekannt waren. Sie wollten auf die grundsätzliche Vereinbarkeit dieser Ideen mit dem Islam hinaus und diese Vereinbarkeit beweisen. Da dem Islam eine enorme Flexibilität inne wohnt, kann man unter Berufung auf ihn sowohl religiöse als auch säkulare Systeme begründen. Erst spätere Bewegungen, ab den 1930er Jahren, grenzten sich radikal vom Westen ab und verschärften von ihrer Seite aus die Differenz. In Kemals Replik finden sich bereits die Versatzstücke solcher späteren Abgrenzungen. Die Moderne hat ihre Gespenster im Gepäck: In Europa ist es das von Renan mit beförderte Denken in „Rassen“, das radikale Gegenüberstellen von „Ariern und Semiten“, das im 20. Jahrhundert katastrophale Konsequenzen hatte und in die „Reinigung“ von Volk und Nation mündete. In Westasien ist es das extreme Streben nach „Reinigung“ des Islam von allen „unerwünschten Elementen“.19 Es gibt jedoch noch ein anderes Gesicht der Modernität und der Widerständigkeit in der muslimischen Welt. Es hat sich im Arabischen Frühling manifestiert und erinnert an die Jugendbewegungen der 1960-1980er Jahre in Europa, eine kreative, subversive Bewegung, die eine demokratische Veränderung der Gesellschaft will. Die Jugendbewegungen des „Frühlings“ in der ganzen muslimischen Welt, den sie nicht zu Unrecht selbst als „Revolution“ bezeichneten, hatten diesen Charakter. Alle Revolutionen, das hat

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die europäische Geschichte zur Genüge bewiesen, küssen, fressen und vergessen ihre Kinder. Aber sie wirken unter der sichtbaren Oberfläche weiter, über sehr lange Zeit. Wir haben noch lange nicht das letzte Wort gehört von den Bewegungen gegen die verkrusteten Bürokratien der säkularen Despoten, die das Erbe der offenen Denker angetreten und die Moderne zu Gunsten eines übermäßig verengten Islam diskreditiert haben. Es ist erst 50 Jahre her (oder, anders ausgedrückt, es hat fast 2000 Jahre gedauert), dass im 2. Vatikanischen Konzil 1965 die Rede von den Juden als „Gottesmördern“ abgeschafft wurde. Erst 30 Jahre darauf hat zum ersten Mal ein Papst vom Judentum als „älterem Bruder“ der Christenheit gesprochen. Der Zeitpunkt wird kommen, an dem man das Familienbild auch mit dem jüngeren Bruder vervollständigt.

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Der Islam und die Wissenschaft Vortrag gehalten an der Sorbonne am 29. März 1883 (anonyme autorisierte Übersetzung von 1883) Meine Damen und Herren!1 Auf die wohlwollende Aufmerksamkeit mich stützend, welche diese Zuhörerschaft mir so oft schon geschenkt, wage ich es heute, einen sehr schwierigen Gegenstand vor Ihnen zu behandeln, der unsern ganzen Scharfsinn herausfordert, und an den man entschlossen herantreten muss, wenn man aus dem Nebelmeer von Vermutungen und ungefähren Ergebnissen die Geschichte zu klarer Erscheinung bringen will. Was in der Geschichte stets zu Missverständnissen führte, das ist der Mangel an Genauigkeit bei Anwendung von Wörtern, welche Nationen und Rassen bezeichnen. Man spricht von Griechen, Römern und Arabern, als ob diese Wörter Menschengruppen bezeichneten, die immer mit sich selber identisch gewesen; man tut es, ohne dabei die Veränderungen in Rechnung zu bringen, welche die Folge kriegerischer, religiöser und sprachlicher Eroberungen, der Mode und der mannigfaltigen Strömungen sind, welche die Geschichte der Menschheit durchziehen. Die Wirklichkeit gestaltet sich nicht nach so einfachen Kategorien. Wir Franzosen z. B. sind Römer der Sprache, Griechen der Zivilisation, Juden der Religion nach. Die Rasse als solche, von höchster Wichtigkeit für den Beginn der Geschichte einer Nation, verliert ihre Bedeutung in dem Maße als die großen universal-geschichtlichen Tatsachen: griechische Zivilisation römische Eroberung, germanische Eroberung, Christenthum, Islam, Renaissance, Philosophie, Revolution gleich zermalmenden Walzen über die frühesten Varietäten der Menschenfamilie hinweggehen und sie in mehr oder minder homogene Massen zusammendrängen. Ich möchte es versuchen, mit Ihnen eine der größten Ideenverwirrun-

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gen zu entwirren, die auf diesem Wissensgebiete begangen werden, ich meine die Ungenauigkeit, die in den Bezeichnungen enthalten ist: arabische Wissenschaft, arabische Philosophie, arabische Kunst, muslimische Wissenschaft, muslimische Zivilisation. Aus den schwankenden Ideen, die man sich über diese Begriffe machte, entstehen zahlreiche falsche Urteile und in der Praxis manchmal sogar sehr schwere Irrtümer. Jede Person, die nur einigermaßen an dem Geistesleben unserer Zeit teilnimmt, erkennt deutlich die gegenwärtige Inferiorität der muslimischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken. Wer immer im Orient oder in Afrika gereist ist, dem musste die Wahrnehmung sich aufdrängen von der tatsächlichen Geistes-Beschränktheit eines wahrhaft Gläubigen, von jener Art eisernen Reifens, der um sein Haupt geschlagen ist und dasselbe der Wissenschaft geradezu verschließt, es unfähig macht, irgendetwas zu lernen, irgend eine neue Idee in sich aufzunehmen. So wie es in seine Religion eingeweiht ist, um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr, wird das muslimische Kind, das bis dahin zuweilen noch ziemlich geweckt war, plötzlich fanatisch, von jenem Dünkel gesättigt, es besitze Alles, was ihm als die absolute Wahrheit gilt, wie über ein Vorrecht über das glücklich, was gerade seine geistige Inferiorität ausmacht. Dieser dumme Hochmuth ist das Laster, welches das ganze Sein des Muslims bestimmt. Die scheinbare Einfachheit seines Gottesdienstes flößt ihm eine wenig gerechtfertigte Verachtung vor den andern Religionen ein. Überzeugt, dass Gott Glück und Macht nach seinen unergründlichen Ratschlägen austeilt, ohne auf Kenntnisse noch auf persönliches Verdienst einen Wert zu legen, hat der Muslim die tiefste Verachtung vor der Bildung, der Wissenschaft, vor Allem, was wir das europäische Geistesleben nennen. Dieses durch den muslimischen Glauben ihm eingeprägte Vorurteil ist so mächtig, dass alle Unterschiede der Rasse und der Nationalität durch die einzige Tatsache der Bekehrung zum Islam verschwinden. Die Berber, die Bewohner des Sudan, die Tscherkessen, die Afghanen, die Malaien, die Ägypter, die Nubier, welche Muslime geworden, sind keine Berber, keine Afghanen, keine Ägypter usw. mehr, es sind Muslime. Persien allein macht eine Ausnahme, es hat seinen eigenen Genius

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sich zu erhalten gewusst; denn Persien hat innerhalb des Islam sich seinen besonderen Platz gewahrt, es ist im Grunde viel mehr schiitisch als muslimisch. Um die traurigen Folgerungen abzuschwächen, die man aus diesem so allgemeinen Factum gegen den Islam zu ziehen geneigt wäre, möchten viele Personen uns überzeugen, dass jener Niedergang vielleicht doch nur eine vorübergehende Erscheinung sei. Um über die Zukunft zu beruhigen, berufen sie sich auf die Vergangenheit; die jetzt so gesunkene muslimische Zivilisation, sagen sie, strahlte ehemals im blendendsten Glanze. Sie besaß Gelehrte und Philosophen; sie war Jahrhunderte lang die Beherrscherin des christlichen Abendlandes. Warum sollte das was gewesen, nicht wieder sein können? Gerade auf diesen Punkt möchte ich die Untersuchung lenken. Hat es in Wirklichkeit eine muslimische Wissenschaft, oder mindestens eine vom Islam anerkannte, vom Islam geduldete Wissenschaft gegeben? In den Tatsachen, die gewöhnlich angeführt werden, liegt gewiss ein ganzes Teil Wahrheit. Ja, etwa vom Jahre 775 ab bis gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, das heißt während eines Zeitraumes von ungefähr 500 Jahren, gab es in muslimischen Ländern Gelehrte, sehr hervorragende Denker. Man kann sogar sagen, dass während jenes Zeitraumes die muslimische Welt, was die Geisteskultur betrifft, der christlichen Welt überlegen war. Es ist jedoch notwendig, diese Tatsache genauer zu betrachten, um nicht irrtümliche Schlussfolgerungen aus ihr zu ziehen. Es ist notwendig, die Geschichte der Zivilisation im Orient von Jahrhundert zu Jahrhundert zu verfolgen, um die verschiedenen Elemente wohl zu unterscheiden, die jene momentane Überlegenheit herbeigeführt, welche bald darauf in eine scharf ausgeprägte Inferiorität umschlug. Das was man Philosophie oder Wissenschaft nennen darf, liegt dem ersten Jahrhundert des Islam vollständig fern. Der Islam, als das Ergebnis eines religiösen Kampfes, der seit mehreren Jahrhunderten sich fortspann und das Geistesleben Arabiens beherrschte, ist unter den verschiedenen Formen des semitischen Monotheismus tausend Meilen von all dem entfernt, was man Rationalismus oder Wissenschaft zu nennen pflegt. Die arabischen Reiter, die sich der neuen Religion anschlossen, sich ihrer wie eines Vorwandes zu Eroberungen und Plünderungen bedienend, waren zu

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ihrer Zeit gewiss die ersten Krieger, aber sicherlich die geringsten Philosophen der Welt. Ein orientalischer Schriftsteller des dreizehnten Jahrhunderts, Abulfaradj, der über den Charakter des arabischen Volkes geschrieben, drückt sich wie folgt aus: „Die Wissenschaft dieses Volkes, diejenige, auf die sie stolz war, bestand in der Wissenschaft der Sprache, in der Kenntnis ihrer Eigenheiten, des Versbaues, der gewandten Prosa-Darstellung…. Was die Philosophie betrifft, so hat Gott diesem Volke nichts davon verliehen, es auch nicht zu dieser Wissenschaft befähigt.“ Das ist vollkommen richtig. Der nomadische Araber, der literarisch begabteste, ist zugleich unter allen Menschen der am Mindesten zum Mystizismus, zu tiefen Betrachtungen Angelegte. Der religiöse Araber, wenn er die Dinge sich erklären will, begnügt sich mit einem Gott als Schöpfer und unmittelbaren Lenker der Welt, der sich den Menschen durch eine Reihe von Propheten offenbart. Solange der Islam in den Händen der arabischen Rasse, d. h. unter den vier ersten Kalifen und unter den Omajjaden war, entstand deshalb auch in seinem Schosse keine geistige Bewegung profanen Charakters. Omar hat nicht, wie dies so oft wiedererzählt worden, die Bibliothek zu Alexandrien verbrannt. Zu Omars Zeit war diese Bibliothek nahezu verschwunden. Das Prinzip aber, das er in der Welt zum Siege führte, war in Wirklichkeit das der Vernichtung der gelehrten Forschung und der so mannigfaltigen Tätigkeit des Geistes. Alles änderte sich, als um das Jahr 750 Persien zur Herrschaft gelangte und die Dynastie der Abassiden über diejenige der Omajjaden den Sieg gewann. Das Centrum des Islams fand sich nun in die Region des Tigris und des Euphrat verlegt. Dieses Land aber war noch besät von den Überresten einer der glänzendsten Zivilisationen, die der Orient gekannt, derjenigen der persischen Sassaniden, die unter der Regierung von Khosroes Anuschirwan den Gipfel ihres Ruhmes erreicht hatte. Kunst und Gewerbefleiß bestanden seit Jahrhunderten in jenen Ländern. Khosroes unterstützte auch noch die intellektuelle Tätigkeit. Die Philosophie, aus Konstantinopel verjagt, flüchtete sich nach Persien, Khosroes ließ die Schriftwerke Indiens übersetzen. Die nestorianischen Christen, welche den beträchtlichsten Teile der Bevölkerung ausmachten, waren mit der griechischen Wissenschaft und Philosophie betraut, die gesamte Heilkunde lag in ih-

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ren Händen, ihre Bischöfe waren Lehrer der Logik, waren Geometer. Man lese die persischen Epopöen nach, die ihre Lokalfarbe den Zeiten der Sassaniden entlehnt haben: wenn Rustem eine Brücke bauen will, so lässt er einen Djathalik kommen, (einen Katholikos, Name der Patriarchen oder Bischöfe der Nestorianer), der die Dienste des Ingenieurs verrichtet. Der fürchterliche Völkersturm, den der Islam erregt hatte, brachte auf ein Jahrhundert diese schöne iranische Entwicklung zum Stillstand. Die endlich zur Herrschaft gelangten Abbassiden schienen aber den erloschenen Glanz des Khosroes erneuern zu sollen. Die Revolution, welche dieser Dynastie zum Throne verhalf, war von persischen Truppen unter persischen Führern gemacht worden. Die Gründer der Dynastie, Abul Abbas und namentlich Mansur sind immer von Persern umgeben. Es sind dies gewissermaßen wiedererstandene Sassaniden; die vertrauten Räte, die Lehrer der Prinzen, die obersten Minister gehören zu den Barmekiden, einer altpersischen, sehr aufgeklärten, dem Nationalkultus der Parsi treu gebliebenen Familie, die erst spät und ohne Überzeugung zum Islam übertrat. Die Nestorianer umgaben sehr bald diese wenig glaubenseifrigen Kalifen und wurden auf Grund einer Art ausschließlichen Privilegiums deren Leibärzte. Eine Stadt, die in der Geschichte des menschlichen Geistes eine ganz besondere Rolle spielt, die Stadt Harran, war heidnisch geblieben und hatte sich die gesamte wissenschaftliche Überlieferung des griechischen Altertums treu bewahrt; sie lieferte der neuen Schule eine beträchtliche Anzahl von Gelehrten, die den offenbarten Religionen fremd gegenüber standen, namentlich tüchtige Astronomen. Bagdad erhob sich als die Hauptstadt dieses wieder erstandenen Persiens. Die Sprache der Eroberer konnte nicht verdrängt, auch die Religion derselben nicht ganz und gar verleugnet werden; immerhin war der Geist dieser neuen Zivilisation ein wesentlich gemischter. Parsi und Christen gewannen die Oberhand; die Verwaltung besonders die Polizei, war den Christen überlassen. Alle jene glänzenden Kalifen, die Zeitgenossen unserer Karolinger, Mansur, Harun al Raschid, Mamun sind kaum Muslime. Sie bekennen sich äußerlich zur Religion, deren Häupter, ja Päpste sie sind, wenn man sich so ausdrücken darf; ihr Sinn aber ist nicht dabei. Sie sind überaus wissbegierig, besonders nach ausländi-

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schen und heidnischen Dingen; sie befragen Indien, das alte Persien, Griechenland namentlich. Bisweilen, das ist freilich wahr, führen die muslimischen Pietisten sonderbare Reaktionen bei Hofe herbei; der Kalif wird zeitweise devot und opfert seine ungläubigen oder freidenkerischen Freunde. Dann weht wieder der Wind der Unabhängigkeit, der Kalif ruft seine Gelehrten und Vergnügungs-Genossen zurück, zum schrecklichen Ärgernis für die puritanischen Muslime; von Neuem beginnt das freie Leben. So erklärt sich die so eigentümliche und anziehende Zivilisation Bagdads, deren zauberhafte Bilder schon bei dem Gedanken an die Märchen von Tausend und Eine Nacht vor unserer Phantasie sich entfalten; eine seltsame Mischung von offizieller Strenge und heimlichem Sichgehenlassen. Es ist das Alter der strebsamen Jugend und des Leichtsinns zugleich, wo die ernsten und die heitern Künste dank der Protektion von leichtlebigen Regenten blühen, die allen religiösen Fanatismus belächeln, wo der Freigeist, obgleich stets den grausamsten Strafen ausgesetzt, bei Hofe gesucht und mit Schmeicheleien überhäuft wird. Unter der Regierung dieser Kalifen, die bald tolerant, bald gegen ihren Willen als Verfolger auftraten, entwickelte sich der freie Gedanke. Die Motecallenim oder Disputanten hielten Sitzungen ab, in denen sämtliche Religionen nach den Gesetzen der Vernunft geprüft wurden. Wir besitzen gewissermaßen das Protokoll einer solchen von einem Strenggläubigen veranstalteten Sitzung. Erlauben Sie mir, Ihnen dasselbe nach der Übersetzung des Herrn Dozy vorzulesen: Ein Gelehrter aus Kairouan fragt einen frommen spanischen Theologen, der die Reise nach Bagdad gemacht hatte, ob er während seines Aufenthaltes in dieser Stadt den Sitzungen der Motecallenim beigewohnt habe. „Ich habe zwei Sitzungen beigewohnt“, erwidert der Spanier, „aber ich habe mich wohl gehütet, ein drittes Mal hinzugehen“. – „Und warum?“ fragte der Andere. – „Urteilet selber“, antwortete der Reisende. „Der ersten Sitzung, an welcher ich teilnahm, wohnten nicht bloß Muslime jeder Gattung, Orthodoxe und Heterodoxe bei, sondern auch Ungläubige, Gebers, Materialisten, Atheisten, Juden, Christen; kurz allerlei Ketzer. Jede Sekte hatte ihr Oberhaupt, welches mit der Verteidigung ihrer Ansichten beauftragt war, und jedes Mal, wenn eines dieser Oberhäupter in den Saal trat, erhoben sich alle andern in ehrerbietiger Weise, und Niemand nahm wieder seinen Platz ein,

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bevor der neu Hinzugetretene sich nicht niedergelassen. Der Saal war bald übervoll, und als man sah, dass die Versammlung vollzählig war, ergriff einer der Ungläubigen das Wort: ‚Wir sind hier versammelt, um der Wahrheit nachzuforschen‘, sagte er. ‚Ihr Alle kennt die Bedingungen. Ihr Muslime werdet keine Beweisgründe aus eurem Buche anführen, oder solche, die sich auf die Autorität eures Propheten stützen; denn wir glauben weder an das eine noch an den anderen. Ein Jeder muss sich auf die Beweisgründe beschränken, die er aus seiner Vernunft geschöpft.‘ Allgemeiner Beifall folgte diesen Worten. „Ihr begreift“, setzte der Spanier hinzu, „dass nachdem ich solches gehört, ich in diese Versammlung nicht zurückkehrte. Man schlug mir vor, eine andere zu besuchen; aber dort begegnete ich demselben Ärgernis.“ Eine wahrhaft philosophische und wissenschaftliche Bewegung war die Folge dieser vorübergehenden Abstumpfung der orthodoxen Strenge. Die syrischen christlichen Heilkünstler, die Fortsetzer der letzten griechischen Schulen, waren in der peripatetischen Philosophie, der Mathematik, der Heilkunde und der Astronomie sehr bewandert. Die Kalifen brauchten sie als Übersetzer der Enzyklopädie des Aristoteles, des Euklid, des Galen, des Ptolemäus, kurz der gesamten griechischen Wissenschaft, wie man sie damals besaß, ins Arabische. Rührige Köpfe, wie z.B. Alkindi, begannen über die ewigen Probleme nachzudenken, zu denen die Menschheit, ohne sie lösen zu können, stets zurückkehrt. Man nannte sie Filsuf (Philosophos) und seit jener Zeit wurde diesem Fremdwort eine üble Bedeutung beigelegt, als etwas, das dem Islam fremd ist. Filsuf wurde bei den Moslemin zu einer verhängnisvollen Benennung, die oft den Tod oder doch Verfolgung nach sich zog wie die Bezeichnung als Zendik und später Farmassun (Franc-Maçon, Freimaurer). Es entstand nämlich der vollständigste Rationalismus im Schoße des Islam. Eine Art philosophischer Gesellschaft, die sich Ikhwan es-safa (Brüder der Aufrichtigkeit) nannte, unternahm die Herausgabe einer philosophischen Enzyklopädie, die wahrhaft bemerkenswert ist ihrer Weisheit und der Höhe ihres Gedankenfluges wegen. Zwei ausgezeichnete Männer, Alfarabi und Avicenna, nahmen alsbald den Rang der größten Denker ein, die jemals gelebt haben. Die Astronomie und die Algebra gelangen, in Persien namentlich, zu bedeutender Entwicklung. Die Chemie setzte ihre lange heimliche Arbeit fort, die sich nach au-

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ßen hin durch erstaunliche Resultate, wie die Destillation, vielleicht auch die Erfindung des Schießpulvers offenbart. Das muslimische Spanien folgt dem Orient in diesen Studien, die Juden werden dabei zu regsamen Mitarbeitern. Ibn-Badja, Ibn-Tofail, Averroës erheben das philosophische Denken im zwölften Jahrhundert zu einer Höhe, auf welcher man dasselbe seit dem Altertum nicht gesehen hatte. Dies ist die Gesamtsumme der Philosophie, die man gewöhnlich als die arabische bezeichnet, weil sie arabisch geschrieben ist; in Wahrheit aber ist sie griechisch-sassanidisch. Noch richtiger wäre es, griechisch zu sagen; denn das eigentlich befruchtende Element von alle dem kam aus Griechenland. Griechenland war die einzige Quelle des Wissens und des richtigen Denkens. Die Überlegenheit Syriens und Bagdads über das lateinische Abendland rührt nur daher, weil man dort der griechischen Überlieferung viel näher war als hier. Es war leichter einen Euklid, einen Ptolemäus, Aristoteles in Harran oder Bagdad aufzutreiben als in Paris. Ja, wenn die Byzantiner minder eifersüchtige Hüter der Schätze hätten sein wollen, die sie in jenem Augenblick gar nicht lasen; wenn es schon vom achten oder neunten Jahrhundert an Männer wie Bessarion oder die Laskaris gegeben hätte! Dann hätte man jenen sonderbaren Umweg nicht zu machen brauchen, auf welchem die griechische Wissenschaft im zwölften Jahrhundert über Syrien, Bagdad, Cordova, Toledo zu uns gelangte. Jene Art geheimer Vorsehung aber, welche will, dass wenn die Fackel des menschlichen Geistes in den Händen eines Volkes erlischt, schon ein anderes Volk dastehe, um sie zu übernehmen und wieder anzufachen, sie gab einen ganz außerordentlichen Wert der sonst wohl bescheidenen Arbeit jener armen Syrer, jener verfolgten Filsufs, jener Harranier, die ihr Unglaube in Acht und Bann der damaligen Gesellschaft tat. Durch jene arabischen Übersetzungen der griechischen Werke der Wissenschaft und Philosophie erhielt Europa den zur Entfaltung seines Genius notwendigen Gärstoff der antiken Tradition. Und in der Tat, während Averroës, der letzte arabische Philosoph, zu Marokko in Gemütsverdüsterung und von der Welt verlassen dem Tode entgegensah, war unser Abendland im schönsten Erwachen aus langem Geistesschlaf. Abälard hat schon den Ruf des neu erstandenen Rationalismus ausgestoßen. Europa hat seinen

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Genius erkannt und beginnt jenen herrlichen Aufschwung, der mit der vollständigen Unabhängigkeits-Erklärung des Menschengeistes abschließen soll. Hier in Paris, auf diesem Hügel Sainte-Geneviève, erstand ein neues Sensorium für die Arbeit des Geistes. Was noch fehlte, waren die Bücher, die reinen Quellen des Altertums. Auf den ersten Blick will es scheinen, dass es natürlicher gewesen wäre, sich an die Bibliotheken von Konstantinopel zu wenden, wo die Originalhandschriften lagen, als zu oft mittelmäßigen Übersetzungen in einer Sprache zu greifen, die wenig zur Wiedergabe des griechischen Gedankens geeignet war. Die religiösen Zwistigkeiten hatten aber einen bedauernswerten Gegensatz zwischen der griechischen und der lateinischen Welt geschaffen, den der unheilvolle Kreuzzug von 1204 nur noch steigerte. Überdies besaßen wir keine Hellenisten. Wir mussten noch drei Jahrhunderte warten, bis uns ein Lefèvre d’Etaples, ein Budé geschenkt wurde. In Ermangelung der wahren, der authentischen griechischen Philosophen, die in den byzantinischen Bibliotheken ruhten, musste man sich nach Spanien begeben und dort eine schlecht übersetzte, verfälschte griechische Wissenschaft holen. Ich will von Gerbert nicht sprechen, dessen Reisen unter Muslimen noch sehr dem Zweifel unterliegen. Seit dem elften Jahrhundert aber ist Konstantin der Afrikaner seiner Zeit und seinem Lande an Kenntnissen voraus, weil er eine muslimische Erziehung genossen hat. Von 1130 bis 1150 lässt ein regsames, in Toledo unter dem Patronat des Erzbischofs Raymond gegründetes Collegium die wichtigsten Werke der arabischen Wissenschaft ins Lateinische übersetzen. Seit den ersten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts hält der arabische Aristoteles seinen Siegeseinzug in der Pariser Universität. Das Abendland hat seiner vier bis fünf Jahrhunderte alten Inferiorität sich entledigt. Bis dahin war Europa wissenschaftlich den Moslemin tributpflichtig. Noch um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts schwankt die Waage. Etwa vom Jahre 1275 ab werden zwei Bewegungen augenscheinlich: einerseits sinken die muslimischen Länder in den traurigsten intellektuellen Abgrund; andrerseits tritt Westeuropa entschlossen in die große Bahn der wissenschaftlichen Erforschung der Wahrheit, eine ungeheure Kurve, deren Weite noch nicht gemessen werden kann. Wehe dem, der dem menschlichen Fortschritt nicht mehr dient! Er wird fast sofort verdrängt. Nachdem die sogenannte arabische

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Wissenschaft ihren Lebenskeim dem lateinischen Abendland eingeimpft hat, verschwindet sie. Während Averroës in den lateinischen Schulen eine Berühmtheit erlangt, die fast derjenigen des Aristoteles gleichkommt, wird er bei seinen Religionsgenossen vergessen. Schon nach dem Jahre 1200 ungefähr gibt es keinen einzigen arabischen Philosophen von Bedeutung mehr. Die Philosophie war stets im Schoße des Islam verfolgt worden, bis dahin aber ohne vollständig unterdrückt werden zu können. Vom Jahre 1200 ab ist die theologische Reaktion ganz und gar siegreich. Die Philosophie wird in muslimischen Ländern abgeschafft. Die Geschichtsschreiber und Polygraphen sprechen noch aus der Erinnerung von ihr, und zwar aus böser Erinnerung. Die philosophischen Handschriften werden vernichtet, sie werden selten. Die Astronomie wird nur noch geduldet, insofern sie dazu dient, die Himmelsrichtung zu bestimmen, nach welcher man zum Gebet sich wendet. Bald übernimmt gar die türkische Rasse die Führerschaft im Islam und lässt in allen Dingen ihren vollständigen Mangel an philosophischem und wissenschaftlichem Geiste erkennen. Von diesem Augenblick an verzeichnet der Islam, einige seltene Ausnahmen, wie Ibn-Khaldun abgerechnet, keinen weitblickenden Geist mehr; er hat die Wissenschaft und die Philosophie getötet. Ich habe nicht gesucht, die Rolle der großen sogenannten arabischen Wissenschaft herabzusetzen, die eine so bedeutungsvolle Epoche in der Geschichte des menschlichen Geistes bezeichnet. Man hat von ihrer Originalität auf einigen Gebieten, namentlich auf dem der Astronomie eine übertriebene Ansicht gehabt; man darf nun nicht ins andere Extrem verfallen und sie allzu sehr entwerten. Zwischen dem Verschwinden der antiken Zivilisation im sechsten Jahrhundert und der Geburt des europäischen Genius im zwölften und dreizehnten gab es eine Periode, welche die arabische genannt werden darf, weil während derselben die Überlieferung des menschlichen Geistes sich auf den dem Islam zugefallenen Religionen fortgepflanzt hat. Und was hat diese sogenannte arabische Wissenschaft wirklich arabisches an sich? Die Sprache, nichts als die Sprache. Die islamitische Eroberung hatte die Sprache des Hedschas bis an das Ende der Welt getragen. Es ging mit dem Arabischen wie mit dem Latein, das im Abendland zum Ausdruck von Gefühlen und Gedanken diente, die mit dem alten La-

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tium nichts gemein hatten. Averroës, Avicenna, Albateni sind Araber, wie etwa Albert der Große, Roger Bacon, Francis Bacon, Spinoza Lateiner sind. Es liegt ein ebenso großes Missverständnis darin, die arabische Philosophie und Wissenschaft auf Rechnung Arabiens zu setzen, als wollte man die gesamte christlich-lateinische Literatur, alle Scholastiker, die ganze Renaissance, die ganze Wissenschaft des sechszehnten und zum Theile des siebenzehnten Jahrhunderts auf Rechnung der Stadt Rom setzen, weil dies alles Latein geschrieben ist. Sehr merkwürdig in der Tat, dass unter den sogenannten arabischen Philosophen und Gelehrten nur ein einziger, Alkindi, arabischen Ursprungs ist, alle übrigen sind Perser, Transoxiner, Spanier, Männer aus Bokhara, Samarkand, Cordova, Sevilla. Nicht nur sind es keine Araber der Herkunft nach, sondern auch ihr Geist hat durchaus nichts Arabisches. Sie bedienen sich des Arabischen, diese Sprache aber ist ihnen eine Fessel, wie das Latein für die Denker des Mittelalters eine Fessel war, die sie sich so gut es ging zurecht legten. Das Arabische, das sich so sehr für die Poesie und eine gewisse Art von Beredsamkeit eignet, ist ein sehr unbequemes Werkzeug für die Metaphysik. Die arabischen Philosophen und Gelehrten sind im Allgemeinen sehr schlechte Schriftsteller. Jene Wissenschaft ist nicht arabisch. Ist sie wenigstens muslimisch? Ist der Islam für jene rationellen Untersuchungen irgendeine Stütze gewesen? In keiner Weise. Jene schöne wissenschaftliche Bewegung war ganz und gar das Werk von Parsen, Christen, Juden, Harraniern, von Ismaeliten und Muslimen, die innerlich gegen ihre eigene Religion empört waren. Von den orthodoxen Moslemin hat sie sich nur Flüche zugezogen. Mamun, derjenige unter den Kalifen, der am meisten Eifer für Einführung der griechischen Philosophie entfaltete, wurde erbarmungslos von den Theologen verdammt; die Unglücksfälle, welche seine Regierungszeit trübten, wurden als Strafen Gottes für die Duldung bezeichnet, welche gegen fremde, mit dem Islam unverträgliche Lehren von ihm geübt wurde. Es war nicht selten, dass man, um die von den Imans zur Empörung gereizte Menge zu beruhigen, die Bücher über Philosophie und Astronomie auf öffentlichen Plätzen verbrannte oder in die Zisternen warf. Diejenigen, welche mit solchen Studien sich beschäftigten, wurden Zendiks (Ungläubige) genannt; man misshandelte sie auf der Straße, man zündete ihre

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Häuser an und oft ließ die Behörde, der Menge zu gefallen, sie sogar hinrichten. Der Islam hat in der Tat die exakte Wissenschaft, und die Philosophie stets verfolgt; er hat sie schließlich erstickt. Nun sind in dieser Beziehung zwei Perioden in der Geschichte des Islam zu unterscheiden; die eine von dessen Beginn bis zum zwölften Jahrhundert; die andere vom dreizehnten Jahrhundert bis auf unsere Tage. In der ersten Periode ist der Islam von Sekten und einer Art Protestantismus, dem Motaselismus durchsetzt, und viel schwächer organisiert und weniger fanatisch als in der zweiten Periode, nachdem er in die Hände tartarischer und berberischer Völkerschaften gefallen, plumper, roher und geistloser Rassen. Der Islam hatte das Eigentümliche, dass ihm von seinen Anhängern eine fortwährend wachsende Gläubigkeit entgegenkam. Die ersten Araber, die sich der Bewegung anschlossen, glaubten kaum an die Sendung des Propheten. Zwei oder drei Jahrhunderte lang wird der Unglaube kaum verhüllt. Darauf kommt die absolute Herrschaft des Dogmas, ohne irgend welche Trennung des geistigen und des weltlichen Teils, eine Herrschaft mit Zwangsgewalt und körperlichen Züchtigungen denen gegenüber, welche die Gebote des Islam nicht erfüllen; ein System, das in seiner Bedrückung einzig und allein von der spanischen Inquisition übertroffen worden ist. Die Freiheit wird nirgends schwerer verletzt als durch eine soziale Ordnung, in welcher das Dogma unbeschränkt das bürgerliche Leben beherrscht. In modernen Zeiten haben wir nur zwei Beispiele einer solchen Herrschaft kennen gelernt: einerseits die muslimischen Staaten, andrerseits den ehemaligen Kirchenstaat, als der Papst noch eine weltliche Macht ausübte. Und man muss sagen, dass das weltliche Papstthum sich nur über ein gar kleines Ländchen erstreckte, während der Islam auf weite Gebiete unseres Globus drückt und daselbst die dem Fortschritt feindseligste Idee erhält, diejenige des auf eine vermeintliche Offenbarung gegründeten Staates, die Idee des die Gesellschaft beherrschenden Dogmas. Die Freisinnigen, welche den Islam verteidigen, kennen ihn nicht. Der Islam ist das nicht mehr wahrnehmbare Band zwischen Geistigem und Weltlichem; er ist die Herrschaft eines Dogmas, die schwerste Kette, welche die Menschheit jemals getragen. In der ersten Hälfte des Mittelalters, ich wiederhole es, hat der Islam die

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Philosophie noch geduldet, weil er nicht anders konnte; er konnte nicht anders, weil er ohne Zusammenhang, weil er nicht ausgerüstet war mit Schreckenswerkzeugen. Die Polizei befand sich in den Händen der Christen und war wesentlich mit Verfolgung der unbotmäßigen Aliden beschäftigt. Eine Menge Dinge schlüpften zwischen die Maschen dieses ziemlich lockern Netzes hindurch. Doch als der Islam über glaubenseifrige Massen verfügte, erstickte er Alles. Religiöse Schreckensherrschaft und die Heuchelei waren an der Tagesordnung. Der Islam war liberal, als er schwach war; er war gewaltsam, als er stark war. Rechnen wir ihm also das nicht zur Ehre an, was er nicht hat hindern können. Den Islam wegen der Philosophie und Wissenschaft ehren, die er nicht bei ihrem ersten Auftreten sofort vernichtete, das hieße die Theologen wegen der Entdeckungen der modernen Wissenschaft ehren. Die abendländische Theologie hat nicht weniger Verfolgungen geübt als diejenige des Islam. Allein sie hat ihr Ziel nicht erreicht, sie hat den modernen Geist nicht erwürgt, wie der Islam den Geist der Länder, die er eroberte. In unserem Okzident hat die theologische Verfolgung nur in einem Lande gesiegt: in Spanien. Dort hat ein entsetzliches System der Unterdrückung den wissenschaftlichen Geist getötet. Beeilen wir uns übrigens mit der Erklärung, dass dieses edle Land sicher seine Wiedergeburt erleben wird. In den muslimischen Ländern hat sich das ereignet, was sich in Europa erfüllt hätte, wenn es der Inquisition, wenn es Philipp II. und Pius V. gelungen wäre, den Menschengeist zum Stillstand zu zwingen. Offen gestanden: es wird mir schwer, den Leuten dafür zu danken, dass sie das Böse, das sie beabsichtigten, nicht auszuführen vermochten. Nein, die Religionen haben ihre großen und ihre schönen Stunden, wenn sie trösten und die schwachen Seiten unseres armen Menschentums stützen; doch soll man ihnen keine Höflichkeiten sagen für Alles, was ihnen zum Trotz entstanden ist, was sie nicht haben hindern können. Von den Leuten, die man ermordet, erbt man nicht; man soll die Verfolger nicht mit dem verherrlichen, was sie verfolgt haben. Und gerade das tut man, wenn man dem Einfluss des Islam eine Bewegung zuschreibt, die trotz des Islam, gegen den Islam entstanden ist, und die der Islam zum Glück nicht hat verhindern können. Dem Islam einen Avicenna, Avensoar, Averroës zur Ehre anrechnen, das hieße den Katholizismus mit Galilei verherrlichen.

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Die Theologie hat Galilei Zwang angetan, sie war doch nicht stark genug, ihn zu überwinden; das ist kein Grund, ihr deshalb zu großem Danke verpflichtet zu sein. Ich bin weit entfernt von jeder Bitterkeit gegenüber irgendeinem der Symbole, in welchen das menschliche Gewissen Beruhigung gesucht bei Erforschung der unlösbaren Probleme, welche das Weltall und sein eigenes Schicksal ihm darbieten. Der Islam als Religion hat schöne Teile. Niemals bin ich, ohne lebhaft ergriffen zu werden, ich möchte sogar sagen, ohne ein gewisses Bedauern, kein Muslim zu sein, in eine Moschee getreten, Für die menschliche Vernunft aber ist der Islam schädlich gewesen. Die Geister, die er dem Lichte verschlossen, waren ihm ohne Zweifel schon durch ihre eigenen inneren Grenzen verschlossen; er hat aber den freien Gedanken verfolgt, ich sage nicht leidenschaftlicher, aber doch wirksamer verfolgt als andere religiöse Systeme. Aus den von ihm eroberten Ländern hat er ein jeder Geisteskultur unzugängliches Gebiet gemacht. Was in der Tat den Muslim wesentlich kennzeichnet, das ist der Hass der Wissenschaft, die Überzeugung, dass die Forschung unnütz, frivol, ja fast gottlos sei: die Wissenschaft als Eingriff in die Attribute Gottes, die Geschichtswissenschaft, weil sie als Beschäftigung mit den dem Islam vorausgegangenen Zeiten zu den ehemaligen überwundenen Irrtümern zurückführen könnte. Ein merkwürdiges Zeugnis hierfür bietet der Scheik Rifaa, welcher mehrere Jahre als Almosenier der ägyptischen Schule in Paris gewohnt hatte und nach seiner Rückkehr nach Ägypten ein Werk voll der sonderbarsten Beobachtungen über die französische Gesellschaft schrieb. Seine fixe Idee ist, dass die europäische Wissenschaft namentlich wegen ihres Prinzips von der Unveränderlichkeit der Naturgesetze von Anfang bis zu Ende eine einzige Ketzerei ausmache; und vom Gesichtspunkte des Islam aus, das muss man zugeben, hat er nicht ganz unrecht. Ein offenbartes Dogma bildet stets einen Gegensatz zur freien Forschung, die ihm zu widersprechen vermag. Das Ergebnis der Wissenschaft endet damit, nicht das Göttliche auszuschließen, aber doch stets zu entfernen, es zu entfernen, sage ich, von der Welt der speziellen Tatsachen, in der man es zu sehen glaubte. Die Erfahrung verdrängt das Übernatürliche, schränkt dessen Gebiet ein. Das Übernatürliche aber ist die Grundlage aller Theologie. Der Islam, indem er die Wissenschaft als seine

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Feindin betrachtet, ist nur konsequent; es ist aber gefährlich, gar zu konsequent zu sein. Der Islam ist dies zu seinem Unglück gewesen. Indem er die Wissenschaft tötete, tötete er sich selbst; verurteilte er sich in der Welt zu einer kläglichen Inferiorität. Wenn man von dem Gedanken ausgeht, dass menschliche Forschung ein Angriff auf die Rechte Gottes sei, so gelangt man unvermeidlich zur Geistesträgheit, zum Mangel an Genauigkeit, zur Unfähigkeit, genau zu sein. Allah aalam, „Gott weiß besser, was daran ist!“, das ist das letzte Wort bei jeder muslimischen Diskussion. Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Mosul wünschte Herr Layard, als Mann der wissenschaftlichen Beobachtung, einige Angaben über die Bevölkerung der Stadt, über ihren Handel, ihre geschichtlichen Überlieferungen zu besitzen. Er wandte sich an den Kadi, der ihm folgende Antwort sandte, deren Übersetzung ich einer befreundeten Person verdanke: ,,O mein berühmter Freund, O Freude der Lebenden! Was Du von mir verlangst, ist zugleich unnütz und schädlich. Obgleich ich alle meine Tage in diesem Lande verbracht habe, so ist es mir doch niemals in den Sinn gekommen, die Häuser zu zählen, noch mich um die Zahl ihrer Bewohner zu bekümmern. Und nun die Frage, wie viel Waren der eine wohl auf seine Maultiere packt, der andere in seiner Barke unterbringt, das ist in der Tat ein Gegenstand, der mich in keiner Weise angeht. Was die Vorgeschichte dieser Stadt betrifft, Gott allein Weiß es, er allein könnte sagen, mit wie viel Irrtümern die Einwohner derselben vor deren Eroberung durch den Islam vollgepfropft waren. Für uns wäre es gefährlich, sie kennen zu wollen. ,O mein Freund, O mein Lamm, suche nicht das zu wissen, was Dich nicht angeht. Du bist zu uns gekommen und wir haben Dich willkommen geheißen; gehe wieder fort in Frieden! In Wahrheit: alle Worte, die Du zu mir gesprochen, haben mir nicht im Geringsten wehe getan; denn derjenige, welcher spricht, ist Einer, und, derjenige, welcher zuhört, ist ein Anderer. Nach der Sitte der Männer Deines Volkes hast Du viele Landschaften durchwandert, und doch hast Du das Glück nirgends gefunden. Wir aber (Gott sei gelobt!) wir sind hier geboren und wir wünschen nicht, von hier fort zu ziehen. Höre, mein Sohn, es gibt keine Weisheit gleich derjenigen, an Gott zu glauben. Er hat die Welt geschaffen. Sollen wir danach streben, ihm gleich zu kommen, indem wir suchen, in

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die Geheimnisse seiner Schöpfungen zu dringen? Sieh jenen Stern, der dort oben um jenen andern Stern kreist; betrachte wieder einen andern Stern, der einen Schweif nach sich zieht und so viele Jahre braucht, zu kommen, und so viele Jahre, sich zu entfernen. Lass ihn, mein Sohn; derjenige, dessen Hände ihn gebildet haben, wird ihn schon leiten und lenken.“ „Doch, Du wirst vielleicht sagen: ,,O Mann, ziehe Dich zurück, denn ich bin gelehrter als Du, und ich habe Dinge gesehen, von denen Du nichts weißt!“ Wenn Du meinst, dass diese Dinge Dich besser gemacht als ich bin, so sei mir doppelt willkommen; ich aber, ich danke Gott, dass ich danach nicht forsche, was ich nicht zu wissen brauche. Du bist in Dingen unterrichtet, die mir gleichgültig sind, und was Du gesehen hast, ich verachte es. Wird Dir ein umfassenderes Wissen einen zweiten Magen schaffen, und Deine Augen, die überall hin sich senken und Alles durchstöbern, werden sie Dir ein Paradies aufspüren? O mein Freund, wenn Du glücklich sein willst, so rufe: ‚Gott allein ist Gott!‘ Tue nichts Böses, dann wirst Du weder die Menschen noch den Tod fürchten, denn Deine Stunde wird kommen.“ Dieser Kadi ist ein großer Philosoph in seiner Art. Folgendes aber ist der Unterschied: Wir finden den Brief des Kadi reizend, er aber würde Alles, was wir hier sagen, abscheulich finden. Für eine Gesellschaft übrigens, nicht für den Einzelnen, sind die Folgen einer solchen Weltbetrachtung verhängnisvoll. Von den beiden Konsequenzen, zu welchen die Abwesenheit wissenschaftlichen Geistes führt, Aberglaube und engherziger Dogmatismus, ist die zweite vielleicht schlimmer als die erste. Der Orient ist nicht abergläubisch, sein großes Übel ist der engherzige Dogmatismus, der sich gewaltsam der ganzen Gesellschaft aufdrängt. Zweck der Menschheit ist nicht die Ruhe in einer Gott ergebenen Unwissenheit, sondern die erbarmungslose Bekriegung des Falschen, der Kampf gegen das Böse. Die Wissenschaft ist die Seele einer Gesellschaft; denn die Wissenschaft ist die Vernunft. Sie erzeugt die militärische und die gewerbliche Überlegenheit. Sie wird eines Tages die gesellschaftliche Überlegenheit erzeugen, ich will sagen einen Gesellschaftszustand, in welchem die Summe von Gerechtigkeit, welche mit dem Wesen des Universums verträglich ist, auch gewährt wird. Das Wissen stellt die Kraft in den Dienst der Vernunft. Es gibt in Asien Ele-

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mente der Barbarei, denjenigen ähnlich, welche die ersten muslimischen Heere und jene großen Völkerstürme eines Attila oder Dschingis-Khan erzeugten. Die Wissenschaft versperrt ihnen den Weg. Wenn Omar, wenn Dschingis-Khan auf eine gute Artillerie gestoßen wären, so hätten sie den Saum ihrer Wüste gewiss nicht überschritten. Man muss sich bei momentanen Verirrungen nicht aufhalten. Was ist nicht bei ihrem ersten Auftreten gegen die Schusswaffen gesagt worden? Und doch haben sie Vieles zum Siege der Zivilisation beigetragen. Was mich betrifft, ich habe die Überzeugung, dass die Wissenschaft gut ist, dass sie allein Waffen gegen das Böse liefert, welches man mit ihnen vollbringen kann, dass die Wissenschaft nur dem Fortschritt dient, ich habe hier den wahren Fortschritt im Auge, denjenigen, der unzertrennlich ist von der Menschenliebe und der Freiheit.

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DSCHAMAL AL-DIN AL-AFGHANI

Kritik (anonyme autorisierte Übersetzung von 1883)

Vorwort des Übersetzers. Vorstehender in der Sorbonne gehaltener Vortrag des Herrn RENAN kam zuerst im „Journal des Débats“ zur Veröffentlichung. An dasselbe Blatt richtete einige Wochen später ein Muslim, der Afghane Djemmal Eddin 1 ein Schreiben, in welchem der gelehrte Orientale die Verteidigung seiner Glaubensgenossen gegen den Vorwurf, dass sie Feinde der Wissenschaft seien, unternimmt. Wir lassen seine werthvolle Auseinandersetzung und darauf die Antwort des Herrn RENAN hier folgen. Das Schreiben Djemmal Eddins war in arabischer Sprache abgefasst und an den Direktor des „Journal des Débats“ gerichtet. Es lautet in der Übersetzung:

Mein Herr! Ich habe in Ihrem schätzenswerten Blatte einen in der Sorbonne vor einer auserlesenen Zuhörerschaft gehaltenen Vortrag über den Islam und die Wissenschaft gelesen, einen Vortrag des großen Philosophen unserer Zeit, des berühmten Herrn Renan, dessen Ruf das ganze Abendland erfüllt und bis in die entlegensten Theile des Morgenlandes gedrungen ist. Da dieser Vortrag mich zu einigen Betrachtungen anregte, so nahm ich mir die Freiheit, dieselben in diesem Briefe zu formulieren, den ich die Ehre habe, Ihnen mit der Bitte zuzusenden, ihm in den Spalten Ihres Blattes die erbetene Gastfreundschaft zu gewähren. Herr Renan hat einen bis jetzt dunkel gebliebenen Punkt in der Geschichte der Araber aufhellen wollen und auf deren Vergangenheit ein lebhaftes Licht geworfen, ein Licht, das vielleicht diejenigen ein wenig irre macht, welche ihre besondere Verehrung einem

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Volke gewidmet haben, von dem man gewiss nicht sagen kann, dass es den Platz und Rang, den es, einst in der Welt eingenommen, sich unrechtmäßig angeeignet. So hat denn auch Herr Renan, glauben wir, nicht gesucht, den Ruhm der Araber, der ja unzerstörbar ist, zu zerstören; er hat sich bestrebt, die historische Wahrheit zu entdecken und sie denjenigen zur Kenntnis zu bringen, die sie nicht kennen, gleichwie denjenigen, welche in der Geschichte der Völker, und namentlich der Zivilisation, die Entwicklung der Religionen erforschen. Ich beeile mich, von vornherein anzuerkennen, dass Herr Renan dieser so schwierigen Aufgabe in wunderbarer Weise gerecht geworden ist, indem er gewisse Tatsachen beibrachte, welche bis heute unbeachtet geblieben waren. Ich finde in seiner Rede bemerkenswerte Betrachtungen, neue Gesichtspunkte und einen unbeschreiblichen Reiz. Indessen, ich habe nur eine mehr oder weniger getreue Übersetzung seines Vortrages vor Augen. Wenn es mir gestattet wäre, ihn im französischen Text zu lesen, so hätte ich wohl tiefer in die Gedanken dieses großen Weisen eindringen können. Möge er meinen ehrerbietigen Gruß als eine ihm gebührende Hochachtung und als das aufrichtigste Zeichen meiner Bewunderung empfangen. Ich muss bei dieser Gelegenheit ihm sagen, was Al-Mutenaby, ein Dichter, der die Philosophen liebte, vor einigen Jahrhunderten an eine hochgestellte Persönlichkeit schrieb, deren Taten er verherrlichte: „Empfangene“, sagte er zu ihm, „das Lob, das ich Dir zu geben vermag; nötige mich nicht, Dir das Lob zu erteilen, das Du verdienst.“ Der Vortrag des Herrn Renan enthält zwei Hauptpunkte. Der ausgezeichnete Denker hat sich zu beweisen bestrebt, dass die muslimische Religion ihrem eigentlichen Wesen nach der Entwicklung der Wissenschaft widerstrebe, und dass das arabische Volk seiner Natur nach weder den metaphysischen Wissenschaften noch der Philosophie zugeneigt sei. Diese kostbare Pflanze, scheint Herr Renan zu sagen, verdorrt in muslimischen Händen, wie unter dem glühenden Hauch des Wüstenwindes. Nachdem mau den Vortrag zu Ende gelesen, drängt sich Einem indessen die Frage auf, ob das Übel einzig und allein von der muslimischen Religion selber oder von der Art und Weise ihrer Verbreitung in der Welt, vom Charakter, den Sitten und natürlichen Anlagen der Völker herrühre, die jene Religion angenommen oder denen sie

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gewaltsam aufgedrängt worden. Die Kürze der ihm zugemessenen Zeit hat ohne Zweifel Herrn Renan gehindert, diese Punkte aufzuklären. Die Krankheit besteht deshalb nicht weniger, und wenn es nicht leicht ist, die Ursachen derselben genau, durch unwiderlegliche Beweise zu bestimmen, so ist es noch schwieriger, das Heilmittel anzugeben. Was den ersten Punkt anbetrifft, so sage ich, dass keine Nation bei ihrem Beginn fähig ist, sich von der reinen Vernunft leiten zu lassen. Von schreckhaften Vorstellungen heimgesucht, denen sie sich nicht zu entziehen vermag, ist sie unfähig, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, das was ihr Glück auszumachen vermöchte von dem zu sondern, was die unversiegbare Quelle ihrer Leiden und Missgeschicke sein kann. Sie versteht es mit einem Worte nicht, weder zu den Ursachen hinabzusteigen noch die Wirkungen zu erkennen. Diese Lücke erlaubt es nicht, dass man sie durch Gewalt oder durch Überredung dazu führe, das zu tun, was ihr am meisten zum Vorteil gereichen würde, noch sie von dem fernzuhalten, was ihr schädlich ist. Es konnte deshalb nicht anders sein, als dass die Menschheit außer ihrem Kreise einen Zufluchtsort, eine friedliche Stätte suchte, wo ihr beunruhigtes Gewissen Ruhe finden konnte, und so entstand ihr irgend ein Erzieher, der, wie ich oben gesagt, weil er nicht die nötige Macht besaß, sie zu zwingen, dass sie den Eingebungen der Vernunft Folge leistete, sie in das Unbekannte leitete und ihr die weiten Horizonte eröffnete, in denen die Einbildungskraft sich so gern bewegt, und wo die Menschheit, wenn nicht die völlige Befriedigung ihrer Wünsche, so doch wenigstens ein unbegrenztes Gebiet für ihre Hoffnungen gefunden hat. Und da die Menschheit bei ihrem Ursprung die Ursachen der Ereignisse, die unter ihren Augen vorgingen, nicht kannte, das unergründliche Rätsel nicht zu lösen vermochte, so war sie notwendig gezwungen, die Ratschläge ihrer Lehrer und die Befehle zu befolgen, welche diese ihr gaben. Dieser Gehorsam wurde ihr im Namen des höchsten Wesens auferlegt, dem jene Erzieher alle Ereignisse zuschrieben, ohne dass es gestattet war, deren Nützlichkeit oder Schädlichkeit zu erörtern. Das ist ohne Zweifel das schwerste und demütigendste Joch für den Menschen, ich erkenne es wohl, doch kann man nicht leugnen, dass sämtliche Nationen durch diese religiöse muslimische, christliche oder heidnische Erziehung aus

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dem Zustande der Barbarei herausgetreten und so einer höheren Gesittung entgegengeschritten sind.2 Wenn es wahr ist, dass die muslimische Religion ein Hindernis für die Entwicklung der Wissenschaften ist, kann man deshalb auch behaupten, dass dieses Hindernis nicht eines Tages verschwinden wird? Worin unterscheidet sich die muslimische Religion in diesem Punkte von andern Religionen? Alle Religionen sind intolerant, jede auf ihre Weise. Die christliche Religion, ich will sagen die Gesellschaft, welche ihren Ideen und Lehren folgt und die sie nach ihrem Bilde gestaltet hat, ist aus der ersten Periode hervorgegangen, welche ich so eben angedeutet habe. Später frei und unabhängig, scheint sie rasch auf der Bahn des Fortschritts und der Wissenschaften voranzukommen, während die muslimische Gesellschaft sich noch nicht von der Vormundschaft der Religion befreit hat. Wenn ich nun aber bedenke, dass die christliche Religion um mehrere Jahrhunderte früher in der Welt aufgetreten ist als die muslimische, dann kann ich mich der Hoffnung nicht entschlagen, dass auch die muslimische Gesellschaft eines Tages dazu gelangen wird, ihre Fesseln zu brechen und entschlossen auf der Bahn der Zivilisation fortzuschreiten nach dem Beispiel der abendländischen Gesellschaft, für welche der christliche Glaube trotz seiner strengen Gesetze und seiner Intoleranz kein unüberwindliches Hindernis gewesen ist. Nein, ich kann nicht gestatten, dass diese Hoffnung dem Islam geraubt werde. Ich verteidige hier vor Herrn Renan nicht die Sache der muslimischen Religion, sondern diejenige mehrerer hundert Millionen Menschen, die ihm zufolge verurteilt wären, in der Barbarei und Unwissenheit fortzuleben. In Wahrheit hat die muslimische Religion die Wissenschaft zu ersticken und ihre Fortschritte zu hindern sich bemüht. Es ist ihr gelungen, die geistige oder philosophische Bewegung zu hemmen und die Geister von der Erforschung wissenschaftlicher Wahrheit abzuhalten. Ein solcher Versuch, wenn ich mich nicht täusche, ist auch seitens der christlichen Religion gemacht worden und die verehrten Häupter der katholischen Kirche haben meines Wissens die Waffen noch nicht niedergelegt. Sie fahren fort, mit Eifer gegen das zu kämpfen, was sie den Geist des Schwindels und des Irrtums nennen. Ich kenne die Schwierigkeiten alle, welche die Muslime zu überwinden haben werden, um dieselbe Stufe der Zivilisation zu

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erreichen, da ihnen der Zutritt zur Wahrheit auf philosophischem und wissenschaftlichem Wege untersagt ist. Ein wahrhaft Gläubiger soll sich in der Tat von Studien abwenden, deren Ziel die wissenschaftliche Erkenntnis ist, von denen überhaupt jede Erkenntnis nach einer in Europa gültigen Ansicht abhängt. An das Dogma, dessen Sklave er ist, wie ein Ochse an den Pflug gespannt, muss er ewig in derselben ihm von den Auslegern des Gesetzes vorgezeichneten Furche einherschreiten. Dazu noch überzeugt, dass seine Religion alle Moral und alle Wissenschaften in sich enthalte, schließt er sich ihr auf das Entschiedenste an und, bemüht sich durchaus nicht, über sie hinaus zu gehen. Wozu sich in fruchtlosen Anstrengungen erschöpfen? Wozu soll es ihm nützen, nach Wahrheit zu forschen, wenn er die Wahrheit ganz zu besitzen glaubt? Wäre er etwa glücklicher an jenem Tage, an dem er den Glauben verloren, dass alle Vollkommenheit in der Religion liegt, die er ausübt, und nicht in einer andern? So verachtet er denn die Wissenschaft. Ich weiß das, aber ich weiß auch, dass jenes muslimische oder arabische Kind, von welchem Herr Renan uns in so kräftigen Zügen ein Bildnis gibt, und das in vorgeschrittenem Alter „ein Fanatiker wird, voller Hochmuth das zu besitzen, was es für die absolute Wahrheit ansieht,“ einer Rasse angehört, die ihr Auftreten in der Welt nicht allein durch Feuer und Schwert, sondern durch glänzende und fruchtbringende Taten bezeichnet hat, welche ihren Geschmack an der Wissenschaft, an allen Wissenschaften, die Philosophie mit inbegriffen, bewiesen, mit welcher, ich muss es zugeben, sie freilich nicht lange in Frieden zusammengelebt. Jetzt bin ich zu dem zweiten Punkt gelangt, den Herr Renan mit nicht zu bezweifelnder Autorität in seinem Vortrag behandelt hat. Jedermann weiß, dass das arabische Volk, als es noch im Zustande der Barbarei war, sich auf die Bahn des intellektuellen und wissenschaftlichen Fortschritts begeben, und darin mit einer Raschheit sich fortbewegt hat, die nur mit derjenigen ihrer politischen Eroberungen zu vergleichen ist. Denn im Zeitraum eines Jahrhunderts hat es fast sämtliche griechische und persische Wissenschaften, die sich während mehrerer Jahrhunderte auf ihrem heimischen Boden langsam entwickelt hatten, angeeignet und assimiliert, gerade so rasch, wie es seine Herrschaft über die arabische Halbinsel bis zu dem Himalaya-Gebirge und den Pyrenäen ausdehnte.

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Man kann sagen, dass während dieser ganzen Periode die Wissenschaften erstaunliche Fortschritte bei den Arabern und in allen ihrer Herrschaft unterworfenen Ländern machten. Rom und Byzanz waren damals die Hauptstätten der theologischen und philosophischen Wissenschaften und zugleich das leuchtende Centrum, man möchte sagen der Sammelpunkt aller menschlichen Kenntnisse. Seit mehreren Jahrhunderten auf der Bahn der Zivilisation, durcheilen Griechen und Römer mit sicherem Schritt das weite Gebiet der exakten Wissenschaft und der Philosophie. Und doch kam eine Zeit, wo ihre Forschungen aufgegeben, ihre Studien unterbrochen wurden. Die Denkmäler, die sie der Wissenschaft errichtet haben, stürzen ein, ihre kostbarsten Bücher geraten in Vergessenheit. Die Araber, bei aller Unwissenheit und Barbarei, in welcher sie ursprünglich sich befanden, nahmen das auf, was von gesitteten Nationen aufgegeben worden war, sie belebten die erloschenen Wissenschaften wieder, entwickelten sie und verliehen ihnen einen Glanz, den sie früher nie besessen hatten. Ist das etwa nicht das Anzeichen, ja der Beweis ihrer natürlichen Liebe zu den Wissenschaften? Wahr ist, dass die Araber den Griechen ihre Philosophie entlehnten, wie sie den Persern abnahmen, was deren Ruhm im Altertum ausmachte. Diese Wissenschaften aber, die sie durch das Recht der Eroberung sich angeeignet, sie haben sie entwickelt, ausgedehnt, aufgehellt, vervollkommnet, vervollständigt und mit auserlesenem Geschmack, mit seltener Bestimmtheit und Genauigkeit logisch geordnet. Und dann: die Franzosen, die Deutschen und die Engländer waren von Rom und Byzanz nicht so weit entfernt, wie die Araber, deren Hauptstadt Bagdad war. Es war ihnen also leichter, die wissenschaftlichen Schätze auszubeuten, welche in jenen zwei großen Städten vergraben lagen. Sie haben in dieser Richtung nichts getan bis zu dem Tage, wo die Fackel der arabischen Zivilisation auf dem Gipfel der Pyrenäen erschien und ihr Licht ihren Glanz über das Abendland ergoss. Die Europäer haben den ausgewanderten, arabisch gewordenen Aristoteles wohl aufgenommen; aber sie dachten nicht an ihn, als er noch in seinem griechischen Gewande in ihrer Nachbarschaft ruhte. Ist das nicht ein zweiter, nicht minder augenscheinlicher Beweis von den intellektuellen Vorzügen der Araber und ihrer natürlichen Liebe zur Philosophie. Nach dem Sturze des arabischen Reiches im Ori-

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ent wie im Okzident, verfielen freilich die Länder, welche die leuchtenden Herde der Wissenschaft geworden waren, wie Irak und Andalusien, in Unwissenheit und wurden die Zentren des religiösen Fanatismus. Aus diesem traurigen Schauspiel darf nicht geschlossen werden, dass der wissenschaftliche und philosophische Fortschritt im Mittelalter nicht dem damals herrschenden arabischen Volke zu verdanken war. Herr Renan lässt ihm übrigens diese Gerechtigkeit zu Teil werden. Er erkennt an, dass die Araber Jahrhunderte lang den Herd der Wissenschaften gehütet und in Glut erhalten haben. Gibt es eine edlere Aufgabe für ein Volk? Doch während er anerkennt, dass etwa vom Jahre 775 der christlichen Zeitrechnung an bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, das heißt während ungefähr fünfhundert Jahren, es in den muslimischen Ländern Gelehrte, sehr hervorragende Denker gegeben, und dass die muslimische Welt während jener Periode der christlichen Welt an intellektueller Kultur überlegen war, sagt Herr Renan, dass die Philosophen der ersten Jahrhunderte des Islam, sowie die Staatsmänner, die sich zu jener Zeit auszeichneten, größtenteils aus dem Harran, aus Andalusien und aus Persien stammten. Es gab unter ihnen aber auch Männer von jenseits des Oxus und Priester aus Syrien. Ich will die glänzenden Eigenschaften der persischen Gelehrten nicht leugnen, noch die schöne Rolle übersehen, die sie in der arabischen Welt gespielt; indessen möge mir die Bemerkung gestattet sein, dass die Harranier Araber waren und dass die Araber, als sie Spanien und Andalusien besetzten, damit nicht ihre Nationalität verloren; sie sind Araber geblieben. Die arabische Sprache war mehrere Jahrhunderte vor dem Islam diejenige der Harranier. Die Tatsache, dass sie ihre alte Religion, den Satanismus, beibehalten haben, soll nicht sagen, dass sie der arabischen Nationalität, nicht angehörten. Die syrischen Priester waren ebenfalls der Mehrzahl nach ghassanische, zum Christenthum bekehrte Araber. Was lbn-Bajah, lbn-Roschd (Averroës) und Ibn-Tapbail betrifft, so kann man nicht sagen, dass sie nicht ebenso gut Araber waren wie Al-Kindi, weil sie nicht in Arabien selbst geboren sind, namentlich wenn man in Betracht zieht, dass die Nationen sich nur durch ihre Sprachen voneinander unterscheiden, und dass, wenn diese Unterschiede verschwänden, die Nationen gar bald ihren verschiedenen Ursprung vergessen würden. Die Araber, die ihre

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Waffen in den Dienst der muslimischen Religion gestellt und zugleich Krieger und Apostel gewesen, haben ihre Sprache nicht den Besiegten aufgedrängt und überall, wo sie sich niedergelassen, haben sie dieselbe mit eifersüchtiger Absicht für sich bewahrt. Ohne Zweifel hat der Islam in die Länder, die er durch Waffengewalt eroberte, seine Sprache, seine Sitten und seine Doktrin verpflanzt, und diese Länder haben sich seither seinem Einfluss nicht entziehen können. Ein Beispiel hiervon ist Persien. Vielleicht aber, wenn man bis zu den Jahrhunderten vor dem Erscheinen des Islam zurückginge, fände man, dass die arabische Sprache damals den persischen Gelehrten doch nicht völlig unbekannt war. Die Ausbreitung des Islam hat ihr in der Tat einen neuen Aufschwung gegeben und die zum Islam bekehrten persischen Gelehrten machten sich eine Ehre daraus, ihre Bücher in der Sprache des Koran zu schreiben. Die Araber dürfen sich keineswegs mit dem Ruhme schmücken, der jenen Schriftstellern zukommt; wir glauben aber, dass sie dessen gar nicht bedürfen, sie haben berühmte Gelehrte und Schriftsteller in hinreichender Anzahl unter sich aufzuweisen. Was würde geschehen, wenn man, bis zu den frühesten Zeiten der arabischen Herrschaft zurückgehend, Schritt vor Schritt den Weg der ersten Gruppe verfolgte, aus welcher das erobernde Volk hervorging, das seine Macht über die Erde ausbreitete; wenn man, Alles ausschließend, was dieser Gruppe oder ihrer Nachkommenschaft nicht angehört, weder den Einfluss in Betracht zöge, den sie auf die Geister ausgeübt, noch den Anstoß, den sie den Wissenschaften gegeben? Käme man bei solchem Verfahren nicht dazu, den erobernden Völkern keine anderen Verdienste noch andere Tugenden zuzuerkennen, als diejenigen allein, die aus der materiellen Tatsache der Eroberung entspringen? Alle besiegten Völker würden dann ihre geistige Autonomie sich zuschreiben, sich allein allen Ruhm aneignen, so dass kein Teil davon von der Macht in Anspruch genommen werden dürfte, welche die vorhandenen Keime befruchtete und entwickelte. Demnach würde Italien zu Frankreich sagen, dass weder Mazarin noch Bonaparte dem letzteren Lande angehört haben; Deutschland oder England würden ihrerseits die Gelehrten sich gut schreiben, die, nach Frankreich übergesiedelt, daselbst den großen Ruf der öffentlichen Lehrstühle, der französischen Wissenschaft erhöht haben. Die Franzosen ihrerseits würden den Ruhm der Abkömmlinge jener erlauchten

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Familien für sich in Anspruch nehmen, die nach Aufhebung des Edikts von Nantes nach allen Ländern Europas auswanderten. Wenn nun doch alle Europäer desselben Ursprungs sein sollen, so darf man mit gleichem Rechte behaupten, dass die Harranier und Syrer, welche Semiten sind, auch zur großen arabischen Familie gehören. Bei alle dem ist freilich die Frage gestattet, wie es wohl gekommen, dass die arabische Zivilisation, nachdem sie einen so lebhaften Glanz über die Welt verbreitet, plötzlich erloschen ist, warum jene Fackel seither sich nicht neu entzündet und warum die arabische Welt stets in tiefe Finsternis gehüllt bleibt. Hier tritt uns voll und ganz die Verantwortlichkeit der muslimischen Religion entgegen. Es ist klar, dass diese Religion überall da, wo sie sich festgesetzt, die Wissenschaften zu ersticken gesucht, und sie ist in diesem ihrem Zweck wunderbar vom Despotismus unterstützt worden. Al-Siuti erzählt, dass der Kalif AlHadi in Bagdad 5000 Philosophen hat abschlachten lassen, um die Wissenschaften in muslimischen Ländern bis auf die Wurzel auszurotten. Wenn man auch annimmt, dass jener Geschichtsschreiber die Zahl der Opfer übertrieben, so steht darum nicht minder fest, dass jene Verfolgung stattgefunden, und es ist dies ein Schandfleck für die Geschichte einer Religion wie für die Geschichte eines Volkes. Ich könnte aber in der Vergangenheit der christlichen Religion analoge Tatsachen auffinden. Die Religionen, mit welchem Namen man sie auch bezeichnen möge, gleichen sich alle. Keine Verständigung, keine Aussöhnung ist zwischen den Religionen und der Philosophie möglich. Die Religion auferlegt dem Menschen ihren Glauben, während die Philosophie ihn ganz oder zum Teil davon befreit. Wie will man nun, dass sie sich unter einander verstehen? Als die christliche Religion in den bescheidensten und verführerischsten Formen in Athen und Alexandrien einzog, wie Jedermann weiß, die wichtigsten Centren der Wissenschaft und der Philosophie, war es ihr erstes Bestreben, so wie sie sich in jenen beiden Städten befestigt hatte, sowohl die exakte Wissenschaft wie die Philosophie zu verdrängen, indem sie beide unter dem Gestrüpp theologischen Gezänkes zu ersticken suchte, um an ihrer Stelle die nicht zu erklärenden Mysterien der Trinität, der Inkarnation und der Transsubstantiation zu erklären. So wird es ewig bleiben. Jedes Mal, wenn die Religion das

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Übergewicht hat, wird sie die Philosophie verdrängen. Das Gegenteil findet statt, sobald die Philosophie als oberste Herrin waltet. Solange die Menschheit lebt, wird der Kampf zwischen dem Dogma und der freien Forschung, zwischen Religion und Philosophie nicht aufhören, ein heftiger Kampf, in welchem, wie ich befürchte, der Triumph nicht auf Seiten des freien Gedankens sein wird, weil die Vernunft der Menge nicht zusagt und ihre Lehren nur von auserlesenen Intelligenzen begriffen werden, weil auch die Wissenschaft trotz all ihrer Schönheit die Menschheit nicht ganz befriedigt, die nach einem Ideal dürstet und, gern in dunkeln und fernen Regionen schwebt, welche die Philosophen und Gelehrten weder zu schauen noch zu erforschen vermögen. Djemmal Eddin, Afghane.

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Erwiderung (anonyme autorisierte Übersetzung von 1883) Man hat mit dem ihnen gebührenden Interesse die sehr verständigen Reflexionen gelesen, zu denen mein letzter in der Sorbonne gehaltener Vortrag dem Scheik Djemmal Eddin die Veranlassung gegeben. Es ist außerordentlich lehrreich, die Denkweise des aufgeklärten Asiaten in ihren aufrichtigen und ureigenen Darlegungen also kennen zu lernen. Wenn man die mannigfaltigsten Stimmen anhört, die von allen Seiten des Horizonts uns erreichen, so gelangt man zu der Überzeugung, dass wenn die Religionen die Menschen trennen, die Vernunft sie einander nähert, und dass es im Grunde nur eine und dieselbe Vernunft gibt. Die Einheit des menschlichen Geistes ist das große und tröstende Ergebnis, das aus dem friedlichen Zusammenstoß der Ideen sich darstellt, wenn man die gegenteiligen Aussprüche der sogenannten übernatürlichen Offenbarungen bei Seite lässt. Die Liga der verständigen Geister des ganzen Erdballs gegen den Fanatismus und Aberglauben wird scheinbar nur von einer unbedeutenden Minorität gebildet. Im Grunde ist dies die einzige dauerhafte Liga, denn sie stützt sich auf die Wahrheit, und sie wird schließlich den Sieg gewinnen, nachdem die rivalisierenden Fabeln sich in Jahrhunderte langen ohnmächtigen Konvulsionen erschöpft haben werden. Vor ungefähr zwei Monaten machte ich die Bekanntschaft des Scheik Djemmal Eddin.1 Wenige Personen haben einen lebhafteren Eindruck auf mich gemacht. Die Unterhaltung, die ich mit ihm gehabt, führte mich wesentlich zu dem Entschluss, als Thema meines Vortrages in der Sorbonne die Beziehungen des wissenschaftlichen Geistes zum Islam zu wählen. Der Scheik Djemmal Eddin ist ein Afghane, der von den Vorurteilen des Islam völlig frei geworden; er gehört jenen kräftigen Rassen des oberen, an Indien grenzenden Iran an, in denen der arische Geist noch so energisch unter der dünnen Hülle des offiziellen Islam fortlebt. Er

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ist selber der beste Beweis jenes großen Axioms, das wir so oft proklamiert haben, dass die Religionen das wert sind, was die Rassen wert sind, die sich zu ihnen bekennen. Die Freiheit seines Denkens, sein edler und offner Charakter überzeugten mich, während ich mit ihm mich unterhielt, dass gewissermaßen auferstanden ich in ihm einen meiner alten Bekannten von Angesicht zu Angesicht sah, Avicenna, Averroës, oder einen andern jener großen Ketzer, die fünf Jahrhunderte lang die Überlieferung des freien Menschentums vertreten haben. Der Kontrast war besonders auffallend für mich, wenn ich seine überraschende Gestalt mit dem Schauspiele verglich, das die muslimischen Länder diesseits Persiens darbieten, Länder, in denen der philosophische Wissensdrang so selten ist. Der Scheik Djemmal Eddin ist der schönste ethnische Protest gegen die religiöse Eroberung, den man nur anführen könnte. Er bestätigt das, was die intelligenten Orientalisten Europas oft gesagt haben, dass nämlich Afghanistan, Japan etwa ausgenommen, das Land ist, welches am meisten von den wesentlichen Bestandteilen dessen besitzt, was wir eine Nation nennen. Ich sehe in der gelehrten Abhandlung des Scheik nur einen Punkt, in welchem wir wirklich nicht übereinstimmen. Der Scheik erkennt die Unterscheidungen nicht an, welche die historische Kritik uns bei jenen großen komplexen Tatsachen zu machen nötigt, die man mit den Worten Reiche und Eroberungen bezeichnet. Das römische Reich, mit welchem die arabische Eroberung so vieles gemein hat, machte aus der lateinischen Sprache bis zum sechszehnten Jahrhundert das Organ des menschlichen Geistes im ganzen Okzident. Albertus Magnus, Roger Bacon, Spinoza haben lateinisch geschrieben. Sie sind nichtsdestoweniger darum doch keine Romanen. In einer Geschichte der englischen Literatur gibt man Beda und Alcuin einen Platz, in einer Geschichte der französischen Literatur Gregoire de Tours und Abelard. Gewiss verkennen wir nicht den Einfluss Roms in der Geschichte der Zivilisation, ebenso wenig als wir dem Einfluss der Araber verkennen. Diese großen menschheitlichen Strömungen aber wollen analysiert sein. Alles was lateinisch geschrieben worden ist, gehört nicht in die Ruhmeskrone Roms; Alles was griechisch geschrieben worden, ist nicht hellenisches Werk; Alles was arabisch geschrieben worden, nicht arabisches Erzeugnis; Alles was in christlichem

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Lande entstanden, ist nicht die Wirkung des Christentums; Alles was in islamitischen Ländern erzeugt wurde, nicht die Frucht des Islam. Dieses ist das Prinzip, das der tiefsinnige Geschichtsschreiber des muslimischen Spanien, Reinhard Dozy, dessen Verlust in diesem Augenblick von dem gelehrten Europa beklagt wird, mit so seltenem Scharfblick zur Anwendung brachte. Die Unterscheidungen dieser Art sind durchaus notwendig, wenn man nicht will, dass die Geschichte ein Gewebe von nur ungefähren Linien und von Missverständnissen sei. Nach einer Seite hin habe ich dem Scheik ungerecht erscheinen mögen, indem ich jenen Gedanken nicht hinreichend entwickelt habe, dass jede geoffenbarte Religion zur Widersacherin der positiven Wissenschaft wird, und dass das Christenthum in dieser Beziehung den Islam nicht zu beneiden hat. Das steht außer Zweifel. Galilei ist vom Katholizismus nicht besser behandelt worden als Averroës vom Islam. Galilei hat die Wahrheit in einem katholischen Lande gefunden, trotz des Katholizismus, wie Averroës trotz des Islam in muslimischem Lande philosophiert hat. Wenn ich bei diesem Punkte nicht länger verweilte, so rührt dies daher, weil meine Ansichten hierüber bekannt genug sind, als dass ich noch nötig hätte, auf dieselben vor einem Publikum zurückzukommen, das mit meinen Arbeiten vertraut ist. Ich habe es oft genug gesagt, um es nicht mehr bei jedem Anlass wiederholen zu müssen, dass der menschliche Geist sich von jedem Glauben an übernatürliche Dinge befreien muss, wenn er an seiner wesentlichen Aufgabe, dem Aufbau der positiven Wissenschaft, mitarbeiten will. Das impliziert keine gewaltsame Zerstörung noch einen unmittelbaren Bruch. Es handelt sich für den Christen nicht darum, das Christenthum aufzugeben, noch für den Moslem, den Islam aufzugeben. Es handelt sich für die aufgeklärten Christen und Muslime darum, zu jenem Standpunkte wohlwollender Indifferenz zu gelangen, auf welchem der religiöse Glaube harmlos wird. Das hat sich nahezu in einer Hälfte der christlichen Länder vollzogen. Hoffen wir, dass dasselbe für den Islam geschehen wird. Jenen Tag werden wir, der Scheik und ich, natürlich mit einmütiger Freude begrüßen. Ich habe nicht gesagt, dass sämtliche Moslemin, ohne Unterschied der Rasse, unwissend sind und es stets bleiben werden. Ich habe gesagt, dass der Islam der Wissenschaft große Schwierigkei-

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ten bereitet und dass es ihm unglücklicherweise seit fünf oder sechs Jahrhunderten gelungen ist, sie in den von ihm beherrschten Ländern fast vollständig zu unterdrücken, was für diese Länder eine Ursache ihrer äußersten Schwäche ist. Ich glaube in der Tat, dass die Wiederbelebung der muslimischen Länder nicht durch den Islam vollbracht werden wird, sondern durch die Schwächung des Islam, wie denn auch der große Aufschwung der christlich genannten Länder mit der Zerstörung der tyrannischen Gewalt der Kirche des Mittelalters begonnen hat. Einige Personen haben in meinem Vortrag einen gegen die Bekenner der muslimischen Religion nicht eben wohlwollenden Gedanken wahrgenommen. Das ist ein Irrtum. Die Moslemin sind die ersten Opfer des Islam. Mehrere Male habe ich während meines wiederholten Aufenthaltes im Orient bemerken können, dass der Fanatismus von einer kleinen Anzahl gefährlicher Menschen ausgeht, welche die andern durch den Schrecken zur Beobachtung der religiösen Formen anhalten Den Muslim von seiner Religion befreien, das ist der beste Dienst, den man ihm leisten könnte. Wenn ich jenen Bevölkerungen, unter denen so viele gute Elemente vorhanden sind, die Befreiung von dem Joche wünsche, das auf ihnen liegt, so glaube ich nicht, ihnen etwas Böses zu wünschen. Und da der Scheik Djemmal Eddin will, dass ich gleiche Waage und gleiches Gewicht für die verschiedenen Bekenntnisse anwende, so glaube ich auch gewissen europäischen Ländern nichts Böses zuzumuten, wenn ich den Wunsch ausspreche, dass das Christenthum auch bei ihnen einen minder dominierenden Charakter annehme. Die Uneinigkeit unter Freidenkern über diese verschiedenen Punkte geht nicht sehr tief, denn, sie mögen dem Islam gewogen sein oder nicht, sie gelangen alle zu derselben praktischen Schlussfolgerung: man muss unter den Moslemin den Unterricht verbreiten. Das ist vollkommen richtig, vorausgesetzt, dass es sich um einen ernsten Unterricht handelt, um einen Unterricht, der die Vernunft entwickelt. Mögen die religiösen Häupter des Islam an diesem vortrefflichen Werke sich beteiligen, mich wird es hoch erfreuen. Aber offen gestanden, ich zweifle ein wenig, dass sie es tun. Es werden sich hervorragende Persönlichkeiten ausbilden (es wird deren wenige so ausgezeichnete geben wie der Scheik Djemmal Eddin), die vom Islam sich trennen, wie wir uns vom Katholizismus trennen. Gewisse Länder werden mit der Zeit nahezu mit

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der Religion des Koran brechen; doch bezweifle ich, dass die Erneuerung der alten Religion vom offiziellen Islam unterstützt werde. Die wissenschaftliche Erneuerung Europas ist auch nicht durch den Katholizismus vollbracht worden; sie ist gegen den Katholizismus geschehen und noch in gegenwärtiger Stunde, das ist nicht sehr auffallend, kämpft der Katholizismus, um das zu verhindern, was die rationellen Bestrebungen der Menschheit mit einem Worte ausdrückt: der neutrale Staat steht außerhalb der angeblich geoffenbarten Dogmen. Stellen wir höher als Alles, als oberste Regel, die Freiheit und die Achtung des Menschen. Die Religionen nicht zerstören, sie sogar mit Wohlwollen behandeln als freie Offenbarungen der menschlichen Natur, sie aber nicht garantieren, namentlich sie nicht gegen ihre eigenen Angehörigen die sich von ihnen lossagen möchten, verteidigen, das ist die Pflicht der bürgerlichen Gesellschaften. Solcher Weise zu etwas Freiem, Individuellem gestempelt, wie die Literatur, der Geschmack, werden die Religionen sich gänzlich umbilden. Des offiziellen oder konkordatären Bandes beraubt, werden sie zerbröckeln und ihre bedenklichsten Nachtheile verlieren. Alles das ist zur Stunde noch eine Utopie, es wird in der Zukunft Wirklichkeit sein. Wie wird sich nun jede Religion unter der Herrschaft der Freiheit verhalten, die nach vielen Vor- und Rückwärtsbewegungen für die menschlichen Gemeinschaften zum Gesetze werden muss? Ein solches Problem ist nicht in wenigen Zeilen zu prüfen. In meinem Vortrag, habe ich bloß eine historische Frage behandeln wollen. Der Scheik Djemmal Eddin scheint mir wichtige Argumente zu meinen Hauptthesen beigebracht zu haben: „Während der ersten Hälfte seines Bestehens hinderte der Islam die wissenschaftliche Bewegung nicht auf muslimischem Boden sich geltend zu machen; während der zweiten Hälfte seines Bestehens erstickte er in seinem Schoße die wissenschaftliche Bewegung, und das zu seinem eigenen Unglück.“

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Die Verteidigung des Islam gegen Renan (deutsche Erstübersetzung von Fatih Ermiş)

Titel der Originalausgabe von Kemals Verteidigung des Islam

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„Dies ist die unwiderlegbare Gegenschrift eines Vortrags von Ernest Renan, einem verstorbenem Mitglied der Französischen Akademie, worin er behauptet, dass der Islam ein Hindernis für Fortschritt und Wissenschaft sei. Die Gegenschrift preist den Islam mit eindeutigen theologischen und logischen Begründungen.“1

DIE VERTEIDIGUNG DES ISLAM GEGEN RENAN Ein Vortrag mit dem Titel „Der Islam und die Wissenschaft“, gehalten und publiziert vom französischen Schriftsteller Herrn Ernest Renan, ist seit längerem in den Zeitungen thematisiert worden. Ich habe erst neulich das Original erhalten. Obwohl der Vortrag ziemlich kurz ist, könnte der Inhalt in hunderten Bänden kritisiert werden. Daher bin ich sicher, dass ich nicht allgemein bekannte Ideen wiederhole, wenn ich mich darüber äußere. Ich bedauere, dass ich keine ausreichenden Quellen bei mir habe, um nachzuweisen, dass der Islam kein Hindernis für Wissenschaft ist, sondern dass er sie fördert. Auf der anderen Seite hat der Verfasser so viele Nachweise über die Unrichtigkeit seiner Position in seinem eigenen Text, dass die Mühe sich erübrigt, andere Quellen nachzuschlagen. Bevor ich den Vortrag analysiere, möchte ich die Biographie des Vortragenden in ein paar Zeilen zusammenfassen, damit wir etwas über seine Neigungen und Tendenzen erfahren und die Herleitungen, die wir auf den nächsten Seiten machen werden, leichter verständlich sind. Herr Ernest Renan, der jetzt sechzig Jahre alt ist, wurde als Kind von seinen Eltern auf eine theologische Schule geschickt. Wegen seiner Erfolge zu Beginn seines Studiums wurde er von seinen Lehrern ermutigt, sich mit den Glaubenslehren des Christentums zu beschäftigen. Da er besonderes Vergnügen beim Erlernen von Sprachen und bei der Philosophie hatte, lernte er Hebräisch, Arabisch und Aramäisch.2 Aber weil sein freies Denken mit einem theologischen Studium nicht kompatibel war, hat er diese Klasse verlassen und selbst studiert. Später hat er an den Prüfungen in Philosophie und semitischen Sprachen3 teilgenommen und sie mit Auszeichnung bestanden. Er wurde vom Erziehungsministerium Frankreichs mit einem Auftrag, der sich auf Literaturwissenschaften bezog, nach Italien

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geschickt. Die Ergebnisse seiner Recherche dort hat er in einem Buch über Ibn Ruschd (Averroes) gesammelt. Danach wurde er an der Nationalbibliothek angestellt und später Mitglied der Académie Française. Er reiste darauf mit einem wissenschaftlichen Auftrag nach Syrien. Das Werk von Ernest Renan, das am meisten für Aufsehen sorgte, ist sein Buch mit dem Titel Das Leben Jesu.4 Sammelte man die Bücher und Aufsätze, die als Kritik zu diesem Buch verfasst wurden, an einem Ort, könnte man alleine damit eine Bibliothek gründen. Wegen heftiger Kritik seitens der Kirche musste er sein Amt als Hebräisch-Dozent kündigen. Ich erachte es für unnötig mehr über seine Biographie zu schreiben, denn diese Zusammenfassung reicht aus, um zu zeigen, dass Herr Renan zu den extremen (Glaubens-)Verleugnern (ġulāt-i munkirīn) gehört, die, je mehr sie die ruchlosen Grausamkeiten der Priester (papas) und besonders der Inquisition über die Jahrhunderte in Europa kritisierten, dahin gelangten, alle Missetaten auf die Einflüsse der Religion zurückzuführen und in dieser Hinsicht alle Religionen gleichzusetzen. Nun, wenn dieser Tendenz des Vortragenden seine komplette Unkenntnis in der Sache hinzugefügt wird, kann man sich vorstellen wie unsinnig der Artikel ist. Es sollte nicht überraschen, dass ich behaupte, dass Herr Ernest Renan keine Kenntnis des Islam besitzt, wenngleich er auf Grund seiner Beherrschung von orientalischen Sprachen Mitglied des französischen Wissenschaftsrates geworden ist, eine Position, die nur schwer zu erreichen ist. Ich kann ganz leicht nachweisen, dass nicht nur Ernest Renan, sondern viele berühmte Orientalisten in Europa überraschend unwissend in der Theologie des Islam sind. Dies gilt sogar für Hammer(Purgstall), der viele Jahre in Istanbul lebte und nicht nur Arabisch und Persisch, sondern auch (Osmanisch-)Türkisch beherrschte, die schwierigste der islamischen Sprachen für einen Fremden, weil sie die anderen zwei Sprachen braucht und weil ihre Grammatik noch nicht systematisch dargestellt wurde. Er beherrscht diese Sprache so gut, dass er darin sehr gut schreiben kann, und der Verfasser des Werkes Geschichte des Osmanischen Reiches5 ist. Doch ist er unwissender als die Fremden, die kein einziges Buch über den Orient gelesen haben, wenn es um die Theologie des Islam geht.

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Bitte beachten Sie diesen Absatz im 10. Band dieses Werkes, auf den Seiten 400 und 401: „Laut der Vorschrift des Islams wird das Mittagsgebet nicht in dem Augenblicke, wo die Sonne in den Meridian tritt, sondern einige Minuten darnach verrichtet, weil nach einer Überlieferung des Propheten im Augenblicke des astronomischen Mittags alltäglich der Teufel die Sonne als die Krone der Weltherrschaft zwischen seine Hörner nimmt und damit als Pantokrator der Erde stolziert, dann aber dieselbe wieder abgibt, wenn der Gebetsausruf: Gott ist groß! ertönt. So hatte die Dämonen-Herrschaft der Blutgier, der Wollust, des Aufruhrs, unter den Regierungen des Wüterichs Murad [IV.], des Wüstlings Ibrahim und des Unmündigen Mohammed [Mehmed IV.] den Zenit des Mittags erreicht; die bluttriefendste, lasterhafteste, gräuelvollste Periode der osmanischen Geschichte war beschlossen.“6 Gibt es ein einziges Wort, das solch einen Glauben impliziert, in den ganzen Hadithen des Propheten, die uns überliefert wurden? Keine von den fünf Gebeten dürfen vor der vorgeschriebenen Zeit verrichtet werden. Weil beim astronomischen Mittag die Zeit für das Mittagsgebet noch nicht erreicht ist, kann man dieses Gebet natürlich noch nicht verrichten. Weist die Tatsache, dass Hammer solch einen Unsinn – wer weiß von wem er das gehört hat– als eines der islamischen Prinzipien erwähnt, obwohl er die Wahrheit kennen könnte, hätte er auch nur irgendeinen Anfänger danach befragt, nicht auf das Niveau seiner Unwissenheit über die Prinzipien des Islam hin? Einen Teufel mit Hörnern kann man in manchen Kirchen sehen. Aber in welchem islamischen Buch kann jemand den Teufel in Gestalt von solch einem Tier sehen? Nein! Es gibt keinen einzigen osmanischen Historiker, der gesagt hat: „die Dämonen-Herrschaft der Blutgier, der Wollust, des Aufruhrs hatte unter den Regierungen der drei Sultane den Zenit des Mittags erreicht.“ Dieser Satz hat an sich keine Bedeutung, und schon gar nicht, wenn man ihn einem osmanischen Historiker zuschreibt. Auch wenn jemand solch einen Unsinn gesagt hätte, kann man aus seinen Worten nicht schließen, dass es im Islam solch einen Glauben gab, dass der Teufel die Sonne zwischen seine Hörner nimmt. D’Herbelot, der erfolgreich über den Islam in Europa berichtete und dessen Werk mit dem Titel Bibliothèque Orientale für jene,

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die sich mit orientalischen Sprachen und islamischen Wissenschaften in Europa beschäftigen, immer noch das wichtigste Nachschlagewerk ist, schreibt in diesem Buch im Teil Alcoran: „Die Mohammedaner, die ihren Propheten anbeten (! N.K.), schätzen dieses Buch (also den Koran) sehr. Sie sagen, dass der Koran am Anfang der Erschaffung der Welt vom göttlichen Willen getrennt und in einem der sieben Himmel, die sich unter den stabilen Himmeln befinden, vorläufig aufbewahrt wurde. Danach hat Gabriel, der einer der Engel vom ersten Rang ist, den Koran Mohammed (Friede sei mit ihm) Vers für Vers gebracht.“7 Es ist überflüssig zu sagen, dass kein Muslim weder solch etwas gesagt, noch solch einen Glauben gehabt hat. In Europa wenden die Wissenschaftler ein ganzes Leben auf, um z. B. die kleinsten Insekten zu klassifizieren und machen auf diese Weise unglaubliche Entdeckungen. Tausende von solchen Wissenschaftlern beschäftigen sich mit orientalischen Sprachen und doch bleibt das Wesen der Religion für Europa unentdeckt, obwohl hunderttausende Bücher der Nation,8 die seit 1300 Jahren einen großen Teil der Erde beherrscht, im Umlauf sind! Ist das nicht erstaunlich? Ja, erstaunlich ist es. Aber die Gründe dafür sind auch ersichtlich. Ich möchte meine Meinung darüber folgendermaßen äußern: Es ist bekannt, dass die Europäer, die sich mit den islamischen Wissenschaften beschäftigen, entweder gläubig sind oder nicht (ya h-ristiyānliġa mu’taqiddir ya değildir). Wenn der Forscher selber Christ ist, ist er daran gehindert, von der Sache zu abstrahieren und objektiv darüber zu entscheiden. Weil das Christentum nach unserer Meinung zu den (vom Islam) aufgehobenen Religionen gehört, kann ein islamischer Gelehrter beim Studium der christlichen Theologie die aufgehobenen Aspekte, d. h. die Elemente im Christentum, die sich mit dem Islam nicht vereinbaren lassen, objektiv und die Wahrheit suchend bewerten. Auf der anderen Seite, weil der Islam für Christen nicht göttlich ist, suchen die christlichen Gelehrten in den Werken, die sie studieren, nur Angriffspunkte. Was die nicht-christlichen Wissenschaftler betrifft: fast alle Wissenschaftler in Europa, die keiner Religion angehören, bewerten die Religionen als Versklavung menschlichen Denkens und als das größte Hindernis für die wissenschaftliche Entwicklung.

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Wegen der Verbreitung dieses Ansatzes, suchen auch diese Wissenschaftler, wie die Priester, nur Angriffspunkte in ihrem Studium des Islam. Wenn man eine Religion ohnehin als nicht göttlich betrachtet, negiert dies auch den Respekt vor dieser Religion. Wenn man eine Sache als aufdringliches Geschwätz betrachtet, bemüht man sich nicht wirklich, das Wesen dieser Sache zu begreifen. Außerdem haben die Europäer eine eigenartige Überzeugung. Einen Teil dieser Überzeugung reflektiert Herr Renan in seinem Traktat, mit dessen Antwort ich mich auseinandersetze: „So wie es in seine Religion eingeweiht ist, um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr, wird das muslimische Kind, das bis dahin zuweilen noch ziemlich geweckt war, plötzlich fanatisch, von jenem Dünkel gesättigt, es besitze Alles, was ihm als die absolute Wahrheit gilt, wie über ein Vorrecht über das glücklich, was gerade seine geistige Inferiorität ausmacht. Dieser dumme Hochmuth ist das Laster, welches das ganze Sein des Muslims bestimmt.“ Solche Leute glauben, dass Muslime sich größer als andere Nationen sehen, wobei sie in der Tat die Muslime unterschätzen. Weil sie die Wertschätzung der Glaubenssätze solch einer Nation für unnötig erachten, nehmen die Orientalisten die islamischen Grundsätze nicht ernst, genauso wie das Studium des Glaubens mancher primitiven Völker. Es gibt noch einen Punkt, den man beachten sollte. Die Beherrschung der östlichen Sprachen ist sowohl wegen schwieriger Grammatik als auch wegen der Schriftart sehr schwer für einen Fremden. Das ist so schwer, dass sogar Hammer, der als einer der größten Gelehrten der osmanischen Sprache in Europa zählt, die Bedeutung des Beleidigungswortes gidi [Schurke] nicht verstand. Daher hat er das Wort gidi im Schlachtruf der Grenzhelden „Yoktur sizinle viremiz – Eğrili, gidi Eğrili“ missverstanden und glaubte, dass die Bedeutung „Katze“ [kedi] sei. Er übersetzte es in seinem Werk in dieser Bedeutung.9 Herr Renan, der für seine umfassende Beherrschung (!) der arabischen Sprache bekannt ist, spricht in diesem Traktat über das Wort feylesūf, dass die Vokalisation dieses Wortes für die Araber in der Form von filsūf sei! Manche Interessenten der islamischen Sprachen in Europa verfassen Grammatikbücher, um das Lernen dieser Sprachen zu erleichtern, die sie von den Grammatikbü-

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chern dieser Völker selbst nicht lernen können. Sie glauben diese Sprachen durch diese Bücher gelernt zu haben. Das Lernmaterial ist sehr eigenartig. Während ich in Paris war, habe ich an einem Türkischunterricht teilgenommen. Ich konnte kein Wort von der Rede des Lehrers verstehen. Hätte ich nicht ein Paar türkische Konjunktionen gehört, hätte ich geglaubt, eine mir unbekannte Sprache zu hören und dies wäre entschuldbar gewesen. Außerdem darf in den Schriften der Europäer über den Islam die Frage der Pseudo-Gelehrsamkeit nicht vergessen werden. Diejenigen mit einem oberflächlichen Wissen, die die Bücher, die sie lesen, nicht ganz verstehen können, betrachten sie denn nicht diese für sie unverständlichen Themen als Geschwätz, auch wenn alles, was da geschrieben ist, der Wahrheit entspricht? Ist es vernünftig anzunehmen, dass die Schriften eines Europäers etwas anderes als sinnloses Gerede werden, wenn wir bedenken, dass die Europäer die Vorschriften des Islam – dessen Wesen und Errungenschaften man nur nach einem langjährigen Studium verstehen kann – als etwas ansehen, das das freie Denken zerstört und den Fortschritt der Zivilisation hemmt? Und als Ergebnis dieses Gedankens ein solches Studium als das Studium eines unwichtigen Glaubens bezeichnen und jedes Thema innerhalb dieses Glauben so oberflächlich behandeln, als wäre das ein Thema – Gott behüte! – über den Glauben der Zulu. Und wenn sie dabei diesen oberflächlichen Ansatz als ausreichend betrachten und die Beherrschung der nötigen Sprachen ein Niveau hat, mit dem sie selbst die Wörter nicht richtig aussprechen können? Ich muss noch etwas gestehen: Man kann nicht sagen, dass in Europa niemand eine oder einige der islamischen Sprachen beherrscht. Aber solche Kenner behaupten nicht – wie die meisten jener, welche behaupten den Orient zu kennen und welche Traktate schreiben und Vorträge halten, um es auch allen mitzuteilen – dass sie die Einflüsse des Islam auf den Fortschritt der Wissenschaft in einem vierzigseitigen Traktat erklären könnten. Mit diesen Erklärungen sollten die Gründe für die Unwissenheit der meisten Europäer, die sich mit dem Orient befassen, über die Theologie sowie andere Aspekte des Islam klar sein. Es darf nicht ignoriert werden, dass auch Herr Renan zu der Gruppe gehört, die falsche Informationen und unvollständige Forschungen verbreiten.

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Ich glaube, dass ich nichts mehr sagen muss, um den Charakter sowohl des Vortragenden als auch seinesgleichen zu erklären. Deswegen beginne ich jetzt mit dem Inhalt des Traktats. Bevor ich das Traktat von Herrn Renan sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass man in solch einem kurzen Vortrag so viele Fehler machen kann. Nun möchte ich diese Fehler einen nach dem anderen aufzählen. Der Vortragende beginnt damit, dass „eine Nation ihre Identität nicht immer behält“ – eine Tatsache, die wahrlich jeder weiß, die er aber als eine wieder entdeckte, verborgene Weisheit preist. Er spricht davon, dass er die Ungenauigkeit der Begriffe wie arabische Wissenschaft, arabische Zivilisation, arabische Philosophie, arabische Kunst, islamische Wissenschaft, islamische Zivilisation beseitigen möchte. Nach seiner Überlegung verursachen solche Unklarheiten schwankende Ideen, und solche schwankenden Ideen verursachen zahlreiche falsche Urteile und in der Praxis manchmal sogar sehr schwere Irrtümer! Es ist doch bekannt, dass keine Unklarheit bei den von ihm genannten Begriffen besteht. Er behauptet diese Unklarheit jedoch als Vorbereitung für die Idee, dass islamische Wissenschaft, islamische Zivilisation, islamische Philosophie, islamische Kunst eigentlich gar nicht existieren. Er behauptet sogar, dass die Ideen, die von dieser Unklarheit herrühren, zahlreiche falsche Urteile und schwere Irrtümer verursachen. Er begründet diese Behauptung jedoch in keiner Weise. Es darf auch niemanden überraschen, dass er keine Begründung liefert. Jedes Wort der europäischen Gelehrten mit ähnlichem Charakter wie Ernest Renan wird von ihnen als frei von dem Bedürfnis nach irgendeiner Begründung, wie eine Anfangsprämisse betrachtet. Wenn wir von solchen Personen eine Begründung für ihre Worte verlangen, bekommen wir sehr oft die Antwort als Begründung „ich sage es“. Danach behauptet Herr Renan weiter: „Jede Person, die nur einigermaßen an dem Geistesleben unserer Zeit teilnimmt, erkennt deutlich die gegenwärtige Inferiorität der muslimischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken. Wer immer im Orient oder in Afrika gereist ist, dem musste

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die Wahrnehmung sich aufdrängen von der tatsächlichen GeistesBeschränktheit eines wahrhaft Gläubigen, von jener Art eisernen Reifens, der um sein Haupt geschlagen ist und dasselbe der Wissenschaft geradezu verschließt, es unfähig macht, irgendetwas zu lernen, irgend eine neue Idee in sich aufzunehmen.“ Die Muslime in den Wissenschaften niedriger zu sehen als die Menschen in China, die Feuer anbeten, die Menschen in Indien, die Tiere anbeten, oder Menschen in unbekannten Regionen bzw. auf den Inseln im Pazifik, die andere Menschen essen, ist für Herr Renan möglich, und er braucht seine Behauptungen nicht zu begründen. Aber falls er denkt, dass der Leser diesen Unsinn glaubt, dann hat er ein sehr naives Selbstvertrauen in seinem Ruhm. Es ist unglaublich! Nach seiner Meinung haben wir einen eisernen Reifen um unsere Köpfe, weil wir Muslime sind, und dieser Reifen hindert uns am Erlernen der Wissenschaften und macht uns unfähig, irgendeine neue Idee aufzunehmen. Und wir sind uns all dessen gar nicht bewusst! Wie kann Herr Renan es leugnen, dass die Muslime, die die Möglichkeit haben eine Schule zu besuchen – trotz großer Mängel in vielen Dingen –, erfolgreicher sind als Schüler anderer Nationen? Oder, genauso wie er es nicht nötig hat, seine Behauptungen zu begründen, ist es auch seine Art der Auseinandersetzung, die Begründungen seines Gegners willkürlich abzulehnen? Wie aus seinem Traktat ersichtlich und wie auch weiter unten diskutiert, denkt Herr Renan, dass die Muslime, die sich mit den Naturwissenschaften und Mathematik beschäftigten, mit den theologischen Prinzipien ihrer Religion nichts zu tun hätten. Wenn er sich jedoch etwas mit Muslimen unterhalten hätte, hätte er erkennen können, dass Muslime die stärkste Religion haben, weil die Muslime, die sich mit Naturwissenschaften und Mathematik beschäftigen, im Koran Verse zur Verfügung haben wie „und die Sonne. Sie läuft …“ und „und von den Regenwolken [haben wir] … herabkommen lassen“ und „Wir haben euch als Paare erschaffen“ als klare Nachweise (für die Naturwissenschaft), was ihren Glauben noch stärkt.10 Das oben erwähnte Zitat von Herrn Renan, das mit „sowie es in seine Religion eingeweiht ist“ anfängt und mit „welches das ganze Sein des Muselmanns bestimmt“ endet, folgt diesem Zitat. Diese frühere Behauptung von Herrn Renan lassen wir auch nicht unbeantwortet:

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Ist es nach Meinung des Vortragenden typisch für Muslime, ihre Religion und Nation für ehrenwerter als andere Religionen und Nationen zu betrachten? Ist es möglich zu behaupten, dass Christen, Juden, Feueranbeter, Götzendiener und ihre Religionen und Nationen niedriger als andere Religionen oder Nationen oder genauso ehrenwert wie andere Religionen oder Nationen zu betrachten sind? Natürlich ist das nicht der Fall. Warum soll also die Betrachtungsweise, ihre Nation für ehrenwerter als andere zu sehen, für Muslime eine Schande sein und nicht für Christen oder Juden? Soll man etwa an ein so wichtiges Thema wie „Die Einflüsse des Islam auf die Wissenschaft“ mit solchen Herleitungen heran gehen … . Der Autor sagt weiter: „Die scheinbare Einfachheit seines Gottesdienstes flößt einem Muslim eine wenig gerechtfertigte Verachtung vor den andern Religionen ein.“ Auch wenn es Herrn Renan nicht bekannt ist, so ist es doch für die Experten klar, dass die Muslime niemals an die Schwierigkeit oder Leichtigkeit ihrer Religionsvorschriften denken. Und kein Muslim verachtet andere Religionen. Andere Religionen, deren Basis ein Buch Gottes ist,11 werden nicht verachtet, sondern Aspekte ihrer Lehre werden als „durch Neues aufgehoben“ betrachtet.12 Jene, die ihre Götzen selber hergestellt haben, und sie in dem Glauben anbeten, dass diese Götzen sie erschaffen hätten, werden nicht nur von Muslimen, sondern auch von Christen, Juden und Atheisten verachtet und gering geschätzt. Für Herrn Renan, der selber keiner Religion angehört, kann Christen und Juden verziehen werden, dass sie den Islam nicht als eine richtige Religion betrachten. Wie können also die Muslime angegriffen werden, weil sie Christentum und Judentum als durch den Islam aufgehobene Religionen betrachten? Ich glaube, dass Herr Renan wegen eines Gedankens über Götzendiener, Feueranbeter und Atheisten, den die Muslime mit Christen und Juden teilen, nicht nur Muslime tadeln kann. Nach der irrigen Vorstellung des Autors verachten die Muslime die Bildung und die Wissenschaft sowie das europäische Geistesleben, das die Idee „Europa“ bildet, weil sie den Glauben haben, dass Gott Erfolg und Macht rein nach seinem Willen verleiht, weil Er von aller Art Voraussetzungen und Beschränkungen befreit ist! Ist es ein falscher Glaube, die Wohltaten des ab-

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soluten Gebers von allen Voraussetzungen und Beschränkungen befreit zu wissen? Wenn der berühmte Redner behaupten möchte, dass alle, die Erfolg und Macht erreichten, Gelehrte waren oder besondere Fähigkeiten hatten und alle Gelehrten oder Personen mit besonderen Fähigkeiten eine gute Position und Macht erreichten, so würde nichts die Wissenschaftler überzeugen können, und wenn er auch die ganze Menschheitsgeschichte sowohl aus den Bibliotheken als auch aus den Gedächtnissen der Menschen löschen würde. Er müsste in diesem Fall auch eine Lösung dafür finden, die Lage der Zeitgenossen voreinander zu verbergen! Auf der anderen Seite: auch wenn die Muslime diesen Gedanken hätten, wie kann man daraus schlussfolgern, dass sie die Wissenschaft verachten? Lernt man die Wissenschaften nur, um damit Macht und Erfolg zu erreichen? In den Zeiten, als es für Nichtadlige unter den Franzosen, zu denen auch Herr Renan gehört, fast unmöglich war, eine gehobene Stellung innezuhaben oder erfolgreich zu sein, für welche Stellung oder welchen Erfolg haben Descartes, Pascal und dergleichen gearbeitet? Hat Kopernikus gearbeitet, um in Polen König zu werden oder hat Galilei seine wissenschaftliche Leistung erbracht, um in Rom Papst zu werden? Wissenschaft ist solch eine zarte Schönheit, welche die ihr Verfallenen ihr ganzes Leben damit zubringen lässt, um ihr nur etwas näher zu kommen. Jene, die die Wissenschaft nur lernen, um damit etwas zu erreichen, erreichen nie einen Rang des Vorrechts oder der Vollkommenheit. In der Tat sind sogar diese logischen Begründungen überflüssig. Als Nachweis genügt alleine die Realität. Wenn die Muslime die Wissenschaft verachtet hätten, wäre niemand unter ihnen ein Gelehrter geworden. Wenn Herr Renan so weit gehen möchte, dass er sagen kann, dass es unter den Muslimen keine Gelehrten gibt, dann soll er das explizit sagen, so dass wir dementsprechend unsere Position verteidigen können. Bitte achten Sie darauf, dass Herr Renan immer komischer wird. Wie oben zitiert wurde, an der Stelle, an der er sagt, dass die Muslime die Bildung, die Wissenschaft und das europäische Geistesleben verachten, setzt er fort: „Dieses durch den muslimischen Glauben eingeprägte Vorurteil ist so mächtig, dass alle Unterschiede der Rasse und der Nationa-

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lität durch die einzige Tatsache der Bekehrung zum Islam verschwinden. Die Berbern, die Bewohner des Sudan, die Tscherkessen, die Afghanen, die Malaien, die Ägypter, die Nubier, welche Muslime geworden, sind keine Berbern, keine Afghanen, keine Ägypter u.s.w. mehr, es sind Muslime.“ Jemandem, der die Verbindung zwischen Prämisse und Ergebnis entdecken kann, geziemt eine Belohnung! Was soll da passiert sein? Die Muslime würden alle Arten von Erfolg und Macht dem absoluten Geber zuschreiben. Deswegen würden sie Bildung und Wissenschaft verachten. Somit, wenn jemand zum Muslim wird, verliert er seine Nationalität und wird Muslim! Nun, gibt es eine logische Verbindung zwischen Verachtung der Wissenschaft und der Tatsache, dass jemand mit seiner Bekehrung zum Islam seine Angehörigkeit zu einer Nation verliert? Für einen Autor ist es eine Schande, solch einen Unsinn zu verzapfen, sogar dann, wenn er das im Schlaf gemurmelt hätte, nicht nur in einem Vortrag. Es ist historisch nachgewiesen, dass fast alle Nationen, die den Islam als ihre Religion ausgewählt haben, in Konflikten doch ihre nationale Identität bewahren konnten. Aber wenn die Mitglieder dieser Nationen nach ihrer Identität gefragt werden, bevorzugen sie die Bezeichnung „Islam“ gegenüber anderen Bezeichnungen, wie Tscherkesse oder Afghane. Das gilt aber nicht nur für den Islam, sondern auch für andere Religionen. Trotzdem muss man den Vortragenden fragen: Wenn der Islam tatsächlich die Angehörigkeit zu den Nationen abgeschafft und auf diese Weise eine wichtige Quelle von Konflikten zwischen den Menschen vermindert hätte, wäre das aus philosophischer Sicht etwas Unerwünschtes? Der Autor setzt weiter fort: „Persien allein macht eine Ausnahme, es hat seinen eigenen Genius sich zu erhalten gewusst; denn Persien hat innerhalb des Islam sich seinen besondern Platz gewahrt, es ist im Grunde viel mehr schiitisch als muslimisch.“ Was bedeutet eigentlich mehr schiitisch als muslimisch zu sein? Gibt es auch Schiiten, die nicht Muslime sind?! Solche Wortspiele können in literarischen Werken hingenommen werden. Aber in einem Werk mit ernsthaftem Anspruch ist dies nicht zu tolerieren.

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Für Herr Renan gehört der schiitische Islam allein dem Iran, und auf diese Weise kann der Iran unter muslimischen Ländern eine besondere Position behaupten! Würde er die islamische Geschichte kennen, wüsste er, dass es keine Nation und keine Region in den islamischen Ländern gibt, in der nicht Schiiten lebten. Es ist bekannt, dass es nicht länger als drei Jahrhunderte her ist, dass der schiitische Islam im Iran angenommen wurde. Es ist auch historisch nachgewiesen, dass viele Iraner ums Leben kamen, bis der schiitische Islam im Iran angenommen wurde. Außerdem finden sich in vielen Regionen der islamischen Welt Schiiten, die viel früher als die Iraner den schiitischen Islam wählten und bis heute Schiiten sind. Was soll ich noch sagen, wenn trotz solcher Nachweise den Iranern immer noch eine besondere Position in der islamischen Welt zugeschrieben wird und sie als mehr schiitisch als muslimisch gesehen werden? Nachdem Herr Renan so viele eigenartige Schlussfolgerungen gezogen hat, kritisiert er diejenigen, die die Vergangenheit in Betracht ziehen, um über die Zukunft sicherer sprechen zu können und die sich folgenderweise äußern: „Die jetzt (seiner Meinung nach) so gesunkene muslimische Zivilisation, strahlte ehemals im blendendsten Glanze. Sie besaß Gelehrte und Philosophen; sie war Jahrhunderte lang die Beherrscherin des christlichen Abendlandes. Warum sollte das was gewesen, nicht wieder sein können?“ Nachdem er ausgedrückt hat, dass dieser Ansatz ihm nicht gefällt, setzt er fort: „Gerade auf diesen Punkt möchte ich die Untersuchung lenken.“ Und danach fragt er: „Hat es in Wirklichkeit eine muslimische Wissenschaft, oder mindestens eine vom Islam anerkannte, vom Islam geduldete Wissenschaft gegeben?“ Bei der Diskussion dieser Frage gesteht er zunächst ein, dass es in den islamischen Ländern ca. drei Jahrhunderte lang große Wissenschaftler und Philosophen gegeben hat und dass damals die islamischen Länder wissenschaftlich fortgeschrittener waren als die christlichen Länder. Nach seiner Meinung muss diese Tatsache genauer betrachtet werden, und dafür muss die Geschichte der Zivilisation im Orient von Jahrhundert zu Jahrhundert verfolgt werden, um die verschiedenen Elemente wohl zu unterscheiden, damit man keine irrtümlichen Schlussfolgerungen zieht. Er beginnt seine Analyse mit folgenden Worten:

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„Das was man Philosophie oder Wissenschaft nennen darf, liegt dem ersten Jahrhundert des Islam vollständig fern. Der Islam, als das Ergebnis eines religiösen Kampfes, der seit mehreren Jahrhunderten sich fortspann und das Geistesleben Arabiens beherrschte, ist unter den verschiedenen Formen des semitischen Monotheismus tausend Meilen von alle dem entfernt, was man Rationalismus oder Wissenschaft zu nennen pflegt.“ Was soll dazu gesagt werden? Laut Herrn Renan gab es vor dem Islam zwischen den Arabern religiöse Kämpfe, die aus „verschiedenen Formen des semitischen Monotheismus“ resultieren! Die Behauptung, dass es ein paar Jahrhunderte vor dem ersten Jahrhundert des Islam in Arabien Monotheismus gab und es sogar diesbezüglich unter arabischen Stämmen Kämpfe gab, stand bisher in keinem Buch zu lesen und es gibt auch keine Beweise dafür. Dies hat Herr Renan selbst entdeckt und niemand außer ihm nimmt dies an. Laut ihm war Wissenschaft im ersten Jahrhundert des Islam nicht verbreitet unter den Muslimen. Wenn er mit Wissenschaft Mathematik und Naturwissenschaften meint, ja tatsächlich war die Wissenschaft nicht verbreitet. Aber kann man daraus schließen, dass der Islam gegen wissenschaftlichen Fortschritt ist? Hat der Islam dort wo er sich verbreitet hat, gelehrte Menschen gefunden und sie zur Unwissenheit geführt? Was die Philosophie anbelangt: Herr Renan könnte solches nicht behaupten, hätte er die Sammlungen, die die Worte der Gefährten des Propheten beinhalten, oder mindestens das Werk Nahdsch al-Balagha13 („Die Methode der Rhetorik“) gelesen. Danach erwähnt der Autor, obwohl es völlig irrelevant ist, die dichterischen Fähigkeiten der Beduinen und dass sie aber auf keinen Fall Gelehrte waren. Und obwohl er eingesteht, dass Omar (möge Gott an ihm Gefallen finden) die Bibliothek in Alexandrien nicht verbrannt hat, sagt er weiter unsinnig, dass die islamischen Prinzipien, die sich in der Welt verbreitet haben, angeblich die wissenschaftliche Forschung und vielfältige Tätigkeiten vernichtet hätten. Danach setzt er fort: „Alles änderte sich, als um das Jahr 750 Persien zur Herrschaft gelangte und die Dynastie der Abbasiden über diejenige der Omajjaden den Sieg gewann. Das Centrum des Islams fand sich nun in die Region des Tigris und des Euphrat verlegt. Dieses Land aber

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war noch besät von den Überresten einer der glänzendsten Zivilisationen, die der Orient gekannt, derjenigen der persischen Sassaniden, die unter der Regierung von Khosroes Anuschirwan den Gipfel ihres Ruhmes erreicht hatte. Kunst und Gewerbefleiß bestanden seit Jahrhunderten in jenen Ländern. Khosroes unterstützte auch noch die intellektuelle Tätigkeit. Die Philosophie, aus Konstantinopel verjagt, flüchtete sich nach Persien, Khosroes ließ die Schriftwerke Indiens übersetzen. Die nestorianischen Christen, welche den beträchlichsten Teil der Bevölkerung ausmachten, waren mit der griechischen Wissenschaft und Philosophie betraut, die gesamte Heilkunde lag in ihren Händen, ihre Bischöfe waren Lehrer der Logik, waren Geometer. Man lese die persischen Epopöen nach, die ihre Lokalfarbe den Zeiten der Sassaniden entlehnt haben: wenn Rustem eine Brücke bauen will, so lässt er einen Djathalik kommen, (einen Katholikos, Name der Patriarchen oder Bischöfe der Nestorianer), der die Dienste des Ingenieurs verrichtet. Der fürchterliche Völkersturm, den der Islam erregt hatte, brachte auf ein Jahrhundert diese schöne iranische Entwicklung zum Stillstand. Die endlich zur Herrschaft gelangten Abbasiden schienen aber den erloschenen Glanz der Khosroes erneuern zu sollen. Die Revolution, welche dieser Dynastie zum Throne verhalf, war von persischen Truppen unter persischen Führern gemacht worden. Die Gründer der Dynastie, Abul Abbas und namentlich Mansur sind immer von Persern umgeben. Es sind dies gewissermaßen wiedererstandene Sassaniden; die vertrauten Räte, die Lehrer der Prinzen, die obersten Minister gehören zu den Barmekiden, einer altpersischen, sehr aufgeklärten, dem Nationalkultus der Parsi treu gebliebenen Familie, die erst spät und ohne Überzeugung zum Islam übertrat. Die Nestorianer umgaben sehr bald diese wenig glaubenseifrigen Kalifen und wurden auf Grund einer Art ausschließlichen Privilegiums deren Leibärzte.“ Wir hören so viel Geschwätz dieses Autors der beweisen will, dass der Islam wissenschaftlichen Fortschritt hemmt. In den Aussagen selbst gibt es weder solche Nachweise, noch stimmen die Aussagen überhaupt. Richtig ist nur die Kritik gegen die verbreitete Meinung der Priester (papas), dass Omar (möge Gott an ihm Gefallen finden) die Bibliothek zu Alexandrien nicht verbrannt hat. Es stimmt auch, dass manche Christen Leibärzte einiger Kalifen der Abbasiden waren.

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Was die anderen Behauptungen betrifft: Welchen Einfluss auf die Entwicklung der islamischen Zivilisation konnte es haben, Bagdad als Hauptstadt zu wählen? Die von Herrn Renan behauptete sassanidische Zivilisation im Iran konnte nur dreißig oder vierzig Jahre überdauern, und sie ging mit dem Auftreten des Islam unter. Warum sollten also die Araber, als ihre Hauptstadt Damaskus war, das Wissen der Griechen, die mehr als tausend Jahre unzählige Werke hervor brachten und die ganze Menschheit die Philosophie lehrten – nach Herrn Renan verdanken die Sassaniden ihren Fortschritt den übersetzten griechischen Werken in ihren Bibliotheken – nicht direkt von den Griechen erhalten haben, sondern über die sassanidische Zivilisation? Waren tatsächlich die Werke der iranischen Zivilisation zwischen Tigris und Euphrat reichhaltiger als die griechische Weisheit in Damaskus? Wir haben keine Belege für solch ein Niveau der Wissenschaft im Iran in den Zeiten von Anuschirwan und Chosrau außer den Worten von Herrn Renan. Wie kann ein Volk solch ein Niveau der Wissenschaft durch die Nutzung der griechischen Philosophie für einige Jahre und durch Übersetzungen indischer Werke erreichen? Von welchen wissenschaftlichen und literarischen Werken Irans ausgehend behauptet Herr Renan, dass so viel Information von den Sassaniden auf die Araber übertragen wurde? Wenn die Iraner damals in den Wissenschaften so fortgeschritten waren, wo sind ihre Werke jetzt? Oder wird jetzt noch eine Lüge erfunden werden, dass ihre Bibliotheken genauso wie die Bibliothek in Alexandrien von Muslimen verbrannt wurden? Ist es plausibel, dass ein Volk, das in den Wissenschaften so fortgeschritten war, keine guten Architekten für den Bau einer Brücke hatte und deswegen die Geistlichkeit anderer Religionen als Architekten beschäftigte? Somit schreibt Herr Renan den Iranern von damals ein hohes Niveau der Wissenschaften zu. Der erste Kalif der Abbasiden Imam Ibrahim war dagegen anderer Meinung. Er schickte oft seinen Gouverneuren in Chorasan Befehle wie: „Lasst dort keine Araber am Leben. Wegen ihrer Intelligenz und ihrem Wissen können sie nicht gut beherrscht werden. Die Einheimischen, auf der anderen Seite, sind wie (Maul)tiere. Ihr könnt sie an ihren Halftern greifen und dorthin führen, wohin ihr wollt.“

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Behauptet Herr Renan das wissenschaftliche Niveau der Iraner zur Zeit der Geburt der Dynastie der Abbasiden besser zu wissen als ihre Zeitgenossen? Ist es plausibel, dass in der sassanidischen Zeit die Mehrheit der Bevölkerung im Iran Christen waren? Wie konnte dann der sassanidische Staat seine Unabhängigkeit gegenüber dem Oströmischen Reich, einem der größten Beschützer des Christentums, bewahren? Khalid, der Sohn von Barmak, dem Namensgeber der Barmakiden-Dynastie, war Muslim. Wenn nur eine Person in einer Dynastie nicht zum Islam bekehrt ist, bedeutet das, dass diese Dynastie sich erst sehr spät zum Islam bekehrt hat? Und woher weiß Herr Renan, dass die Bekehrung der Barmakiden zum Islam nicht aufrichtig gewesen ist? Ich glaube nicht, dass er mit diesen Leuten gesprochen und ihre Geheimnisse von ihnen erfahren hat! Es wurde kein Wort oder kein Verhalten der Barmakiden überliefert, die auf Heuchelei oder Abfallen vom islamischen Glauben hinweisen könnten. Man findet nicht einmal einen kleinen Absatz in einem Buch, der auf die Heuchelei der Barmakiden hinweisen könnte. Wenn ein Nachweis auf die Heuchelei der Barmakiden existiert hätte, würden die Staatsmänner, die diese Familie zerstört haben, diese Nachweise nicht benutzen, sowohl um sich vor der Kritik der Bevölkerung zu schützen als auch die Barmakiden in den Augen der Bevölkerung zu desavouieren? Warum sollten sie diese Aufgabe Herrn Renan überlassen, der elf Jahrhunderte nach ihnen auf die Welt kam? Ist es nicht eine Übertreibung amateurhafter Art, zu behaupten, dass in den Zeiten der Abbasiden, als die Wissenschaft blühte, die Barmakiden Staatssekretäre, Lehrer der Prinzen und Wesire wurden, obwohl die Förderung der Barmakiden nur ein Teil der Politik des Kalifen Harun war? Herr Renan behauptet noch, dass Abu’l-Abbas Saffah und Abu Ja‘far Mansur nicht richtige Gläubige waren. Auf diese Weise lässt jeder Absatz des Artikels erkennen, dass der Autor sich nicht vorzustellen vermag, dass ein Muslim die Wissenschaften lieben kann. Im Koran gibt es Verse wie: „Und wer die Weisheit erhält …“ und „Und wir haben doch (seinerzeit) dem Luqmaan die Weisheit gegeben“ und „damit (auch) Gott diejenigen von euch, die glauben, und denen das Wissen gegeben worden ist, (dereinst)

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um Rangstufen erhöht“ und „Sag: Sind (etwa) die Wissenden den Nichtwissenden gleich (zusetzen)?“ und „Herr! Lass mich an Wissen zunehmen!“14 Und in zuverlässigen Büchern [Sammlungen] gibt es Hadithe wie: „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten.“ und „Der Tod des Gelehrten ist wie das Ende der Welt.“ und „Verlangt nach Wissen, sei es auch in China.“15 und „Verlangt nach Wissen von der Wiege bis zum Grab.“16 All diese verweisen eindeutig auf die Ehre der Gelehrten und die Notwendigkeit für jeden Muslim nach dem Erwerb der Wissenschaften zu streben. Ist es demnach nicht skandalös zu behaupten, dass die Muslime „keine Wissenschaft erwerben können, solange sie sich nicht von den Vorschriften ihrer Religion abwenden“, obwohl die Religion, an die sie glauben, die Muslime beauftragt, sich Wissen und Weisheit anzueignen? Ist dies nicht ebenso skandalös wie die Behauptung unsinnig ist, dass das Vergehen der Dunkelheit vom Sonnenuntergang abhänge? Nehmen wir an, dass kein wahrhaft gläubiger Muslim nach Wissenschaften und Philosophie strebte und es sogar richtig ist, dass die Muslime die Wissenschaften verachten. Wenn so viele göttliche Befehle und Hadithe des Propheten über die Ehre der Wissenschaft und Philosophie existieren, ist es dann eine Schande für die Religion, wenn ihre Anhänger die Befehle dieser Religion missachteten? Der Autor behauptet, dass als Bagdad die Hauptstadt des noch einmal blühenden Irans wurde, die neue Zivilisation eine gemischte Zivilisation gewesen sei, obwohl es nicht möglich war, Arabisch, die Sprache der Eroberer, abzuschaffen und den Islam zu leugnen, und dass die Iraner und die Christen die Oberhand hatten und die Verwaltung und besonders die Sicherheitskräfte völlig in den Händen der Christen gewesen seien. Es ist erstaunlich! In welcher Sprache hätten die Abbasiden sprechen sollen, wenn sie Arabisch abgeschafft hätten? Obwohl sie als Kalifen des Islam die Herrschaft der Welt innehatten, sollten sie diese aufgeben, indem sie ihre Religion und Sprache ablehnten? Die Namen und Titel der Wesire, der verschiedenen Amtsleiter, des Ministers der Sicherheitskräfte der Abbasiden stehen in den Geschichtsbüchern geschrieben. Kann Herr Renan unter diesen

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einen Christen finden? Kann man in solchen Auseinandersetzungen historische Fakten fälschen, um seine Position zu verteidigen? Herr Renan behauptet, dass auch Harun ar-Raschid und Ma’mun keine gläubigen Muslime waren. Jedoch ist Harun dafür bekannt, dass er in seiner Amtszeit sehr lange mit der Pilgerfahrt und Kriegen beschäftigt war und dafür zählt er zu den „Hochverehrten“ des Islam. Im Glauben Ma’muns gab es keine Schwäche, sondern Fanatismus, und das kann man aus seinen Bemühungen schließen, seine Schule der Mu‘tazila durch Gewalt zu verbreiten. Warum soll ein Herrscher, der keine religiösen Sorgen hat, versuchen, eine Konfession zu verbreiten um sich auf diese Weise bei der Bevölkerung unsympathisch zu machen? Können wir diesen Ma’mun, der Imam Riza seinen eigenen Verwandten und Kindern vorgezogen und zu seinem Thronfolger erklärt hat, für ungläubig erklären? Wie leichtfertig ist es, dass der Autor die oben genannten vier muslimischen Herrscher17 Saffah, Mansur, Harun und Ma’mun zusammen mit ihren Offizieren als ungläubig bezeichnet – als wäre er bei ihren geheimen Sitzungen mit dabei gewesen und wüsste ihre Geheimnisse –, obwohl er so gar nicht nachweisen kann, dass der Islam den wissenschaftlichen Fortschritt hemmt, selbst wenn wir annähmen, dass diese Behauptungen des Autors stimmten! Auf diese Weise besteht Herr Renan darauf, dass die wissenschaftliche Entwicklung in Bagdad sich nur auf diese Könige und ihre Männer stützt und dass diese aber ungläubig waren. Daraufhin erzählt er eine Anekdote: Das Oberhaupt einer Sekte, das von Kairuan nach Bagdad ging, trat in einen Saal ein, wo eine wissenschaftliche Sitzung von Gelehrten diverser Religionen und Konfessionen stattfand. Einer der Nichtmuslime in der Sitzung ergriff das Wort: „Wir sind hier versammelt, um der Wahrheit nachzugehen. Ihr Muslime werdet keine Beweisgründe aus eurem Buche anführen, oder solche, die sich auf die Autorität eures Propheten stützen; denn wir glauben weder an das eine noch an den anderen.“ Ohne Zweifel möchte Herr Renan diese Ausdrucksfreiheit auf die Toleranz der damaligen Regierung zurückführen, wobei er glaubt, dass die damalige Regierung der Religion gegenüber distanziert war.

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Denken wir einmal vernünftig nach! Wenn diese Freiheit in der religiösen Forschung gemäß der Schari‘a nicht legal wäre, hätte irgendeine Regierung der Welt damals so offen erlauben können, gegen die religiösen Vorschriften zu handeln? Auf vielen Seiten seines Traktats spricht Herr Renan verkennend über „das wissenschaftliche Niveau der Araber“, das durch Übersetzungen und andere Werke zustande gekommen sei. Zum Beispiel behauptet er, wie oben erwähnt wurde, dass die Araber die Philosophen filisūf (philosophe) genannt haben. Dieser Begriff sei genauso gefährlich wie zındık [zindīq] (Ungläubiger, Ketzer) gewesen und habe oft den Tod oder Verfolgung nach sich gezogen! Die Griechen, die als Gründer der Zivilisation in der Antike genannt werden, haben Sokrates, der der echte Gründer der Philosophie ist, hingerichtet, weil er einen monotheistischen Glauben hatte. Die Italiener, die im Mittelalter eine fortgeschrittene Nation waren, haben Galilei, der versucht hat, die neue Astronomie zu bestätigen und nachzuweisen, zwar nicht getötet, aber fast genauso schlimm gefoltert. In der Neuzeit haben die Franzosen, die als Schützer der Meinungsfreiheit gelten, Jean Jacques Rousseaus Buch Emile verbrannt, das er selbst nicht publizieren konnte, und haben versucht ihn zu ergreifen und zu verhaften. Wir lesen und hören solche Fakten aus den Geschichtsbüchern. Kann Herr Renan uns eine Person aus der wissenschaftlichen Blütezeit der Araber finden, die wegen der Beschäftigung mit Philosophie hingerichtet oder gefoltert worden ist? Sind die Biographien von al-Kindi, Farabi und Ibn Sina, die er auch nennt, mit den Biographien von Sokrates, Galilei oder Rousseau vergleichbar? Der Autor erwähnt in diesem langen Absatz, dass die Andalusier sich, nach der Bagdad-Periode, mit den Wissenschaften beschäftigt haben. Er erwähnt jedoch nicht, dass die Herrscher von Andalusien genauso wie die Herrscher von Bagdad „frei von religiösen Sorgen“ waren. Ist der Grund dieses Schweigens, dass tausende Gegenbeweise genannt werden können? Oder glaubt er, dass es jeder sowieso glauben würde, dass „kein Muslim sich mit Wissenschaften beschäftigt“, weil dieser Satz mehrmals von Herrn Renan wiederholt wurde? Eine andere eigenartige Meinung von Herrn Renan ist, dass die arabische Philosophie in der Tat sassanidisch-griechisch sei. Es sei sogar richtiger, wenn man sie griechische Philosophie nennen

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würde. Wenn Herr Renan sich nur entscheiden würde, ob er die arabische Philosophie sassanidische Philosophie nennen möchte oder eine Mischung von sassanidischer und griechischer Philosophie, oder nur griechische Philosophie, so wären seine Aussagen besser zu verstehen. Eines bleibt noch offen: Nehmen wir an, dass die arabische Wissenschaft und Philosophie von den Sassaniden und Griechen übernommen wurde. Werden wir sie in diesem Fall nicht arabische Philosophie nennen, weil diese Philosophie nicht ganz und völlig von den Arabern erfunden wurde? Wenn das der Fall ist, wie weisen wir nach, dass die Wissenschaft und die Philosophie, die andere Nationen von den Griechen übernommen haben, ganz und völlig von den Griechen erfunden wurden? Wie können wir leugnen, dass auch die Griechen viele Dinge von den früheren Kulturen übernommen haben, obwohl es sehr viele klare Nachweise darüber gibt. Werden wir jetzt diese Wissenschaft und Philosophie griechische Wissenschaft und Philosophie nennen? Oder wird jetzt behauptet, dass die Araber den Wissenschaften, die sie von den Griechen übernommen haben, nichts hinzugefügt hätten ... . Herr Ernest Renan erwähnt, dass „wenn die Fackel der Philosophie in den Händen einer Nation zum Verlöschen neigt, eine andere Nation diese Fackel übernimmt. Als Averroes, der letzte arabische Philosoph, zu Marokko in Gemütsverdüsterung und von der Welt verlassen dem Tode entgegensah, hatte Abälard mit seinen Studien angefangen.“ Vor allem hatte Herr Renan vorher behauptet, dass das Blühen der Wissenschaft und Philosophie nur in drei Jahrhunderten des Islam stattfand. Und nun akzeptiert er Averroes als den letzten muslimischen Philosophen. Das Auftreten der Abbasiden, die laut Herr Renan die Quelle der Philosophie für die Araber waren, geschah im Jahre 132 nach der Hedschra. Averroes ist nach einer Überlieferung im Jahre 595 und nach einer anderen im Jahre 603 gestorben. Ist die Zeit zwischen den Jahren 132 und 595 oder 603, nach Meinung des Autors, nur drei Jahrhunderte? Zweitens, Herr Renan erzählt, dass Averroes in „Gemütsverdüsterung und von der Welt verlassen dem Tode entgegensah.“ Behauptet er jetzt, dass Abälard, dem seine Männlichkeit geraubt wurde, weil er ein Mädchen ohne Erlaubnis ihres Erziehungsbe-

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rechtigten geheiratet hat und der wegen seiner Studien sein ganzes Leben lang verfolgt wurde, in Glückseligkeit und Gunst gestorben ist! Bei dieser Aussage des Autors gibt es auch einen historischen Fehler: Es stimmt, dass Averroes eine Weile in Marokko „in Gemütsverdüsterung und von der Welt verlassen“ war. Aber als er starb, hatte er eine wichtige Stelle inne und besaß ein großes Vermögen. Herr Ernest Renan macht auch die Behauptung, dass die Philosophie von den Muslimen immer verachtet worden sei und nach dem Jahre 1200 gemäß dem christlichen Kalender in den islamischen Ländern völlig abgeschafft worden sei. Wenn spätere Intellektuelle, laut Herr Renan, über die Philosophie, die einmal in den islamischen Ländern existiert hatte, gesprochen hätten, dann hätten sie darüber so gesprochen, als würden sie über eine Bosheit sprechen! Von den zwei größten arabischen Philosophen Avicenna und Averroes war der erste Großwesir in zwei islamischen Staaten und der zweite war der oberste Richter in zwei islamischen Staaten. Dieser Fakt ist ein Beweis dafür, ob die Philosophie von den Muslimen verachtet oder verehrt wurde. Die Medizin-Schulen um die Fatih Moschee herum, erbaut von Sultan Mehmed [II.], der 1453 Istanbul eroberte, existieren heute noch. Sogar das ist nicht nötig als Beweis. Heute sehen wir, dass in vielen großen Moscheen aus Philosophie-Büchern unterrichtet wird. Wenn es erlaubt ist, dass eine Disziplin sogar in den Moscheen unterrichtet wird, kann das bedeuten, dass diese Disziplin dort verachtet wird? Man darf dagegen nicht einwenden, dass die jetzt in den islamischen Ländern unterrichtete Philosophie etwas anders als die in Europa unterrichtete Philosophie ist. Die Philosophie, von der Herr Renan behauptet, dass sie aus den islamischen Ländern vertrieben worden ist, ist genau diese von den Arabern übernommene und jetzt bei uns vorhandene Philosophie. Wir sind sicher, dass Herr Renan keinen einzigen bekannten und hochangesehenen Intellektuellen nennen könnte, wenn er gefragt würde, wer die Intellektuellen sind, die über die Philosophie wie eine untergegangene Bosheit sprechen. Der Autor sagt: „Die philosophischen Handschriften werden vernichtet, sie werden selten. Die Astronomie wird nur noch gelduldet, insofern

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sie dazu dient, die Himmelsrichtung zu bestimmen, nach welcher man zum Gebet sich wendet.“ Möchte dieser Mann Millionen von Büchern, die im Orient durch ungläubige Tataren und im Okzident von fanatischen Christen vernichtet worden sind, auf den Einfluss des Islam zurückführen? Wenn Herr Renan die Erlaubnis zum Studium der Astronomie nicht lediglich auf die Bestimmung der Gebetsrichtung beschränkt und mindestens auch noch erwähnt hätte, dass die Höhenmessung für die Bestimmung der Gebetszeiten nach Vorschrift des Islam nicht verboten war, hätte er seine Großzügigkeit uns gegenüber gezeigt! Ich weiß nicht, ob die Wissenschaftler, die im Observatorium unter der Aufsicht Ulug Begs im Jahre 832 der Hedschra, 30 Jahre gearbeitet und die Sternentabelle von Ulug Beg hergestellt haben, nicht Muslime waren. Wurde die osmanische Flotte unter der Herrschaft von Süleyman von Seefahrern bis nach Spanien oder Indien geführt, die nur bis zu dem Grad Astronomie-Kenntnisse hatten, die Gebetsrichtung zu bestimmen? Voltaire erzählt eine kleine Anekdote über den Kenntnisstand der Russen in einem Geschichtsbuch, das er über die Zeit des schwedischen König Karl XII. schrieb: „Neulich haben die Bewohner Moskaus versucht, den Sekretär des iranischen Botschafters zu verbrennen, weil er eine Sonnenfinsternis vorausgesagt hat.“ Nach Herrn Renan, haben die Moskauer einen Kenner der Astronomie angegriffen, weil er Muslim war? Ist die Behauptung, dass der Islam Studien der Astronomie nicht erlaubt hätte, nicht genauso unsinnig wie wenn jemand die Existenz der Sterne leugnen würde, wenn wir jeden Tag so viele Nachweise dafür erbringen können? Der Autor fährt mit seinen Erfindungen fort und wagt es zu sagen: „Von diesem Augenblick an (d. h. seit 1200 nach christlichen Kalender) verzeichnet der Islam, einige seltene Ausnahmen, wie Ibn Khaldun abgerechnet, keinen weitblickenden Geist mehr; er hat die Wissenschaft und die Philosophie getötet.“ Woher soll Herr Renan all die Sa’du’d-Dine oder Sayyiden, Zeitgenossen Ibn Khalduns, und diejenigen, die später gelebt haben – die Aufzählung ihrer Namen bräuchte unzählige Bände – auch kennen, so dass er keine solch dummen Sätze bildet?

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Ich hatte es oben erwähnt: Auch wenn alle Aussagen Herrn Renans wahr wären und es historisch richtig wäre, dass kein Muslim sich mit den Wissenschaften und der Philosophie beschäftigt hätte, wäre es trotzdem nicht möglich, die Behauptung nachzuweisen, dass der Islam wissenschaftlichen Fortschritt hemmt, es sei denn es würde eine neue Logik angeführt werden. Es gibt so viele Koranverse und Hadithe des Propheten zur Verehrung der Wissenschaft und der Philosophie. Wenn er gerecht wäre, würde auch Herr Renan eingestehen, dass die Kreuzfahrer und die Tataren, die in Córdoba, Granada, Bagdad, und Samarkand so viele wertvolle Bücher verbrannt und so viele Wissenschaftler verfolgt haben, nicht Muslime waren! Nach dem Angriff der Barbaren waren auch die Europäer mehrere Jahrhunderte lang in Unwissenheit geblieben. Hatte damals das Christentum die Wissenschaft und Philosophie im Westen abgeschafft, oder die Goten, die Hunnen, und die Awaren? Wenn es das Christentum war, warum sollen es nicht Christen und Tataren sein, die die Wissenschaft und die Philosophie des Islam fast vernichtet haben, sondern die Muslime selbst? Ich weiß nicht, welchen Nutzen Herr Renan von solch einem Vortrag über ein sehr wichtiges Problem der Geschichte zieht. Aber ich bin mir sicher, dass er neunzig Prozent seines Ruhms als Orientalist in den Augen der Wissenschaftler verliert. Obwohl Voltaire einer der größten Feinde des Christentums war, hat er ein Theaterstück mit dem Titel Mahomet geschrieben, um sich beim Papst einzuschmeicheln und persönliche Interessen zu verfolgen. In diesem Theaterstück hat er einerseits die Geschichte und Moral des Islam völlig verändert und andererseits hat er seine Unwissenheit bis zu dem Grad dargestellt, dass er in die arabische Sprache den Buchstaben „p“ einführte.18 Auf diese Weise hat er sich in der ganzen Welt lächerlich gemacht. Ich weiß nicht, ob auch Herr Renan geheime Vorteile dadurch hatte, dass er in einem vierzigseitigen Artikel tausende Lügen eingearbeitet hat! Es steht fest, dass niemand so viel Geschwätz macht, ohne Vorteile davon zu haben. Nach all diesen Worten versucht Herr Renan auf einmal gerechter zu werden und sagt, dass er „nicht gesucht hat, die Rolle der großen sogenannten arabischen Wissenschaft herabzusetzen.“ Danach setzt er fort: „Und was hat diese sogenannte arabische

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Wissenschaft wirklich arabisches an sich? Die Sprache, nichts als die Sprache.“ Laut Herr Renan sind Personen wie Avicenna oder Averroes Araber, so wie Bacon oder Spinoza Lateiner sind. Es ist nicht unangebracht für jemanden, der über Philosophie redet, eine Verbindung zwischen folgenden zwei Gruppen von Menschen zu suchen: jenen Menschen, die religions- und wertemäßig einer Nation angehören, obwohl sie ethnisch dieser Nation nicht angehören und den Menschen, die einem Volk angehören und die Sprache dieses Volkes sprechen, die aber in einer toten Sprache Bücher verfasst haben. Gibt es Zweifel daran, dass genauso wie Napoleon, der von einer italienischen Familie stammt, Franzose und Bismarck, der nach einer Überlieferung slawischer Herkunft war, Deutscher war, Avicenna, Averroes und Farabi Araber waren? Herr Renan behauptet, dass bis auf al-Kindi keiner der sogenannten arabischen Philosophen Araber war. Er setzt fort, dass „auch ihr Geist durchaus nichts Arabisches hat.“ Wir konnten noch nicht verstehen, was der Autor damit meint, dass der „Geist etwas Arabisches hat“, so dass wir nicht nachforschen können, ob diese Feststellung stimmt! Hat eine Nation überhaupt eine eigene Meinung, die sie nicht mit anderen Nationen teilt?! Herr Renan macht eine andere eigenartige Behauptung. Er sagt: „Sie bedienen sich des Arabischen, diese Sprache aber ist ihnen eine Fessel. Das Arabische, das sich so sehr für die Poesie und eine gewisse Art von Beredsamkeit eignet, ist ein sehr unbequemes Werkzeug für die Metaphysik. Die arabischen Philosophen und Gelehrten sind im Allgemeinen sehr schlechte Schriftsteller.“ Man darf nicht überrascht sein, wenn jemand, der nicht einmal arabische Worte richtig aussprechen kann, solch eine Meinung hat. Man darf aber tatsächlich überrascht sein, wie er mit so wenig Wissen die arabische Sprache, die arabische Wissenschaft und die arabische Philosophie zu bewerten versucht und dass er es geschafft hat, von ihm produzierte Fehler und Lügen der Welt als Wahrheit zu offenbaren. Die Experten akzeptieren, dass manche Sprachen aus der Sicht der Literatur genauso stark wie Arabisch sein können. Aber sie akzeptieren auch, dass keine Sprache außer dem Altgriechischen wegen der Klarheit der Sprache und wegen der leichten Übernahme der Wörter aus anderen Sprachen so gut für wissenschaftliche Werke geeignet ist wie Arabisch. Wenn Herr

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Renan jemanden, der Hocharabisch beherrscht, fragt, so erfährt er, dass die Werke der Metaphysik im Arabischen die schönsten, und die Werke der Wissenschaft die klarsten sind. Nachdem der Autor mit seinen vor Klugheit übersprießenden Worten sich selber versichert hat, dass Klarheit darüber besteht, dass keine arabische Wissenschaft oder arabische Philosophie besteht, sagt er weiter: „Jene Wissenschaft ist nicht arabisch. Ist sie wenigstens muslimisch? Ist der Islam für jene rationellen Untersuchung irgend eine Stütze gewesen? In keiner Weise. Jene schöne wissenschaftliche Bewegung war ganz und gar das Werk von Parsen, Christen, Juden, Harraniern, von Ismaeliten und Muslimen, die innerlich gegen ihre eigene Religion empört waren. Von den orthodoxen Moslemin hat sie sich nur Flüche gezogen. Mamun, derjenige unter den Khalifen, der am meisten Eifer für Einführung der griechischen Philosophie entfaltete, wurde erbarmungslos von den Theologen verdammt; die Unglücksfälle, welche seine Regierungszeit trübten, wurden als Strafen Gottes für die Duldung bezeichnet, welche gegen fremde, mit dem Islam unverträgliche Lehren von ihm geübt wurde.“ Die Wichtigkeit der Wissenschaft und Philosophie für den Islam wurde durch oben genannte Koranverse und Hadithe nachgewiesen. Kann Herr Renan die Existenz dieser Verse und Hadithe leugnen? Wie wird er dann seine Behauptungen nachweisen, wenn er sie nicht leugnen kann? In den blühenden Zeiten der Wissenschaft in der arabischen Geschichte gab es auch ein paar christliche, jüdische oder harranische Wissenschaftler. Aber die Geschichtsbücher stellen fest, dass die Zahl solcher Wissenschaftler nicht mehr als einer von tausend vielleicht sogar von zehntausend war. Kann man in diesem Fall die philosophischen Werke der damaligen Zeit den Christen, Juden oder Harranern (die Mehrheit der Bevölkerung waren Sabäer) zuschreiben? So wie es aussieht hat Herr Renan die arabische Geschichte nicht einmal aus den französischen Werken gelesen! Wenn er das Kapitel über Ma’mun in der Bibliothèque Orientale von D’Herbélot gelesen hätte, wüsste er, dass der Grund des Widerstands (nicht des Fluchs) gegen ihn nicht sein Interesse an Philosophie war, sondern dass er der Schule der Mu‘tazila angehörte. Es ist auch ganz klar,

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dass es gar keine Verbindung zwischen der Schule der Mu‘tazila und der griechischen Philosophie und Wissenschaft gibt. Es gab keine große Katastrophe unter der Herrschaft Ma’muns, so dass die islamischen Gelehrten diese Katastrophe auf den schwachen Glauben Ma’muns zurückführen könnten. Wir müssen Herrn Renan auch noch daran erinnern, dass das Vertrauen der Muslime in die göttliche Gerechtigkeit viel fortgeschrittener ist als der Glaube, dass Gott eine ganze Gesellschaft wegen der Sünden einer Person bestrafen würde. Der Autor, basierend auf seiner Kompetenz im Arabischen, sagt: „Es war nicht selten, dass man, um die von den Imams zur Empörung gereizte Menge zu beruhigen, die Bücher über Philosophie und Astronomie auf öffentlichen Plätzen verbrannte oder in die Zisternen warf.“ Doch, es war sehr selten. Der Grund dieser Seltenheiten war nicht die Beschäftigung mit Philosophie, sondern gegen die Religion oder eine Konfession Bücher verfasst zu haben. Und es ist auch beachtenswert, dass solche Verstöße in Regionen vorgekommen sind, wo Unwissenheit dominierte. Auf der anderen Seite, ist es so erstaunlich, dass Menschen, die sich gegen den Islam äußerten vom Volk bestraft wurden, während in Europa Menschen mit dem Verdacht, am Freitag Fleisch gegessen zu haben, verbrannt wurden? Bleiben diejenigen, die sich über eine Religion lustig machen, sogar in den zivilisierten Ländern, die sich für weise und frei halten, ganz unbestraft? Nachdem Herr Renan, der den Franzosen angehört, die vor einem Jahrhundert alles was mit Religion zu tun hat, geleugnet haben, sein Buch Das Leben Jesu veröffentlichte, durfte er wegen des Widerstands der Geistlichkeit nicht mehr Hebräisch unterrichten. Wenn er jenes Jahrhundert mit dem jetzigen vergleicht, sollte er sich, – meiner Meinung nach – wegen seiner Behauptungen schämen. Danach wiederholt der Autor, dass der Islam immer die Wissenschaft und die Philosophie verfolgt, sie schließlich erstickt hat und fügt dann diesen Unfug hinzu: „Nun sind in dieser Beziehung zwei Perioden in der Geschichte des Islam zu unterscheiden; die eine von dessen Beginn bis zum zwölften Jahrhundert; die andere vom dreizehnten Jahrhundert bis auf unsere Tage. In der ersten Periode ist der Islam von Sekten

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und einer Art Protestantismus, dem Motaselismus durchsetzt, und viel schwächer organisiert und weniger fanatisch als in der zweiten Periode, nachdem er in die Hände tartarischer und berberischer Völkerschaften gefallen, plumper, roher und geistloser Rassen.“ Die Mu‘tazila, die diejenigen, die große Sünden begehen, aus dem Islam ausschließen will, als eine gemäßigte Konfession zu betrachten ist Herrn Renan vorbehalten! Wir konnten nicht verstehen, welche Basis für die Behauptung des Autors existiert, dass der Islam „viel schwächer organisiert“ war! Die Gelehrten, die die Vorschriften des Islam zusammen stellten und die die heute existierenden Konfessionen gründeten, lebten alle in dieser Zeit. In dieser Zeit war Fanatismus, der in der osmanischen Sprache taassub genannt wird, nicht nur wenig vorhanden, er war völlig abwesend. Der wahre Islam legalisiert Fanatismus nicht. Wie kann also in der Meinung der Nation solch eine Bosheit existieren? Der folgende Satz stammt auch vom Autor: „Der Islam hatte das Eigentümliche, dass ihm von seinen Anhängern eine fortwährend wachsende Gläubigkeit entgegenkam.“ Unter den Muslimen gibt es keine einzige Person, die behauptet, gläubiger als die ersten Muslime zu sein. Trotzdem, nehmen wir an, dass diese Behauptung stimmt. Ist das dann ein Mangel des Islam? Nun kommt noch eine eigenartige Aussage von Herrn Ernest Renan: „Darauf kommt die absolute Herrschaft des Dogmas, ohne irgend welche Trennung des geistigen und des weltlichen Teils, eine Herrschaft mit Zwangsgewalt und körperlichen Züchtigungen denen gegenüber, welche die Gebote des Islam nicht erfüllen; ein System, das in seiner Bedrückung einzig und allein von der spanischen Inquisition übertroffen worden ist.“ Ich frage mich, ob Herr Renan eine Katastrophe wie die Bartholomäusnacht19 in der Geschichte des sunnitischen Islam findet, wogegen er sich besonders äußert? Er behauptet, dass er keinen anderen Fall außer der Inquisition finden kann, der in seiner Gewalttätigkeit den Islam überholt? Tatsächlich! Nachdem Herr Renan behauptet hat, dass der Islam nur von der spanischen Inquisition übertroffen wurde, fährt er ein paar Zeilen später mit

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einem Vergleich des Papsttums mit dem Islam fort. Er behauptet, dass die Gewalt des Papsttums sich nur über ein gar kleines Ländchen, während die Fortschrittsfeindlichkeit des Islam sich auf weite Gebiete unserer Erde erstreckt. Ich glaube, dass Herr Renan es nicht hätte wagen können, solch einen Artikel zu schreiben, wenn er an die Lage des Papsttums vor sechs oder sieben Jahrhunderten gedacht hätte. Ich habe oben nachgewiesen, dass die Behauptung, dass der Islam fortschrittsfeindlich sei, gegen klare Wahrheiten verstößt. Die Gründe für den Rückgang der Zivilisation und der Wissenschaft in den islamischen Ländern erläutere ich später. Herr Renan sagt: „Die Freisinnigen, welche den Islam verteidigen, kennen ihn nicht. Der Islam ist das nicht mehr wahrnehmbare Band zwischen Geistigem und Weltlichem; er ist die Herrschaft eines Dogmas, die schwerste Kette, welche die Menschheit jemals getragen.“ Wie gut kennt Herr Renan den Islam, wenn die Freisinnigen ihn nicht kennen! Die politischen Vorschriften des Islam stimmen mit der Vernunft und Philosophie überein. Die juristischen Vorschriften wurden seit dreitausend Jahren von den Griechen, den Römern und der europäischen Philosophen akkumuliert. Kann man in den FiqhBüchern bezüglich des Zivilgesetzes und des Strafgesetzes – natürlich ausgenommen die Eheschließung – wesentliche Unterschiede zu diesen Vorschriften finden? Ist es also vernünftig, die Jurisprudenz Europas als überlegen zu betrachten, weil sie nicht von einer Religion stammt, und die Fiqh-Vorschriften des Islam – die im Grunde keinen großen Unterschied zu diesen aufweisen – als eine Sklavenkette, weil sie von den Vorschriften der Religion stammen? Das Geistliche vom Weltlichen zu trennen zählt zu einer der größten Errungenschaften der letzten Revolutionen in Europa. Obwohl sich das Christentum ursprünglich auf das Prinzip „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ gestützt hatte, hatten die Geistlichen später in die Politik eingegriffen, und die Menschen haben darunter sehr gelitten. Deswegen erschien es als eine Notwendigkeit, dass das Geistliche vom Weltlichen getrennt wird, oder besser gesagt, dass die Geistlichen auf ihr religiöses Gebiet zurückgedrängt werden. Wenn man das zu einem allgemeinen Gesetz macht und manche politischen Vorschriften ignoriert, obwohl sie der Wahrheit ent-

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sprechen und weil sie von der Religion stammen, ist das nicht so ähnlich wie die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit vorzuziehen, weil die erste nicht von der Religion stammt? Laut Herrn Renan ist der Grund für die Existenz der Toleranz für die Philosophie unter den Muslimen für eine bestimmte Zeit die fehlende Kraft, sie zu vertreiben! Die Sicherheitskräfte waren unter der Kontrolle von Christen und sie waren beschäftigt mit der Verfolgung der Schiiten! Herr Renan hatte auch behauptet, dass „es nicht selten war, dass man, um die von den Imans zur Empörung gereizte Menge zu beruhigen, die Bücher über Philosophie und Astronomie auf öffentlichen Plätzen verbrannte oder in die Zisternen warf.“ Warum konnten also die Imame die Philosophie nicht völlig vernichten, wenn sie solch eine Macht hatten? Wenn der Autor erklärt hätte, wer die christlichen Streitkräfte waren, die die Schiiten verfolgten, hätten wir etwas über eine neue Entdeckung gehört! Die muslimischen Historiker berichten nie über ein islamisches Land, wo die Sicherheitskräfte Christen waren. Noch ein paar eigenartige Meinungen von Herrn Ernest Renan möchte ich noch zusammenfassend übersetzen: „Der Islam war liberal, als er schwach war; er war gewaltsam, als er stark war… Die abendländische Theologie hat nicht weniger Verfolgungen geübt als diejenige des Islam. Allein sie hat ihr Ziel nicht erreicht, sie hat den modernen Geist nicht erwürgt, wie der Islam den Geist der Länder, die er eroberte… In unserem Okzident hat die theologische Verfolgung nur in einem Lande gesiegt: in Spanien. Dort hat ein entsetzliches System der Unterdrückung den wissenschaftlichen Geist getötet. Beeilen wir uns übrigens mit der Erklärung, dass dieses edle Land sicher seine Wiedergeburt erleben wird… Die Religionen haben ihre großen und ihre schönen Stunden. Doch soll man ihnen keine Höflichkeiten sagen für Alles, was ihnen zum Trotz entstanden ist, was sie nicht haben hindern können. Manche führen die philosophischen Fortschritte, die gegen den Islam und ihm zum Trotz entstanden sind, auf den Einfluss des Islam zurück … Der Islam als Religion hat schöne Teile. Niemals bin ich ohne lebhaft ergriffen zu werden, ich möchte sogar sagen, ohne ein gewis-

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ses Bedauern, kein Muslim zu sein, in eine Moschee getreten. Für die menschliche Vernunft aber ist der Islam schädlich gewesen … Der Scheik Rifaa, welcher mehrere Jahre in Paris gewohnt hatte, hat nach seiner Rückkehr nach Ägypten ein Werk verfasst und da hat er behauptet, dass die europäische Wissenschaft namentlich wegen ihres Prinzips von der Unveränderlichkeit der Naturgesetze von Anfang bis zu Ende eine einzige Ketzerei ausmache; und vom Gesichtspunkte des Islam aus, das muss man sagen, hat er nicht ganz unrecht. Ein offenbartes Dogma bildet stets einen Gegensatz zur freien Forschung, die ihm zu widersprechen vermag… Indem der Islam die Wissenschaft tötete, tötete er sich selbst; verurteilte er sich in der Welt zu einer kläglichen Inferiorität.“ Erstens: der Islam war während der Herrschaft der Abbasiden am stärksten. Die Untertanen kannten die Kalifen zu dieser Zeit nicht als Tyrannen wie die Umayyaden oder die Herrscher der tawā’if20. Sie wurden als legitime Herrscher akzeptiert. Auch war es in der Zeit der Abbasiden-Dynastie, dass die Philosophie am meisten gefördert wurde. Wie kann man also diese Förderung der Schwäche des Islam zu schreiben? Kann Herr Renan in den Geschichtsbüchern eine Sekte in den islamischen Ländern finden, die keiner Konfession angehörte, die sich nur mit Wissenschaft, Philosophie oder Atheismus beschäftigte und gegen die Regierung war? Während die islamischen Regierungen sich nicht weigerten, die fanatischen und opferbereiten Kharidschiten und Ismailiten zu bekämpfen, sollten sie vor ein paar Philosophen, die sich mit der Wissenschaft beschäftigten, Furcht gehabt haben, so dass sie sie wegen dieser Furcht tolerieren mussten! Zweitens: Wir brauchen nicht nachzuweisen, inwieweit die Theologen im Westen versuchten, die menschliche Vernunft zu unterdrücken. Der Islam aber hat die menschliche Vernunft zum Fortschritt und zur Vervollkommnung motiviert. Aus theologischer Sicht ist das endgültige Ziel für einen Menschen die göttliche Wahrheit zu begreifen. Und das ist mit Unwissenheit nicht realisierbar. Sind die Gründe für den Rückgang der Wissenschaft und Philosophie in den islamischen Ländern denn so verborgen? Ist es nicht klar, dass die Kreuzfahrer und die ungläubigen Tataren in den islamischen Ländern tausend Mal mehr Schaden verursachten als die barbarischen Stämme in Europa? Wie viele Jahr-

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hunderte wären für ein Volk notwendig, damit es wieder blühen kann, wenn es aus weniger als einem Tausendstel seiner Gelehrten und Bücher besteht? Besonders wegen der Europäer hat seit 1200 nach christlichem Kalender (das Datum, das Herr Renan als Datum des Rückgangs der islamischen Zivilisation markiert) in keinem islamischen Land Ordnung existiert, so dass man sich mit den Wissenschaften hätte beschäftigen können! Drittens: Wieso erwartet Herr Renan, dass die Wissenschaft in Spanien, wo sie zerstört wurde, ihre Wiedergeburt erleben kann, während wir auf keinen Fall Fortschritte machen können? Können wir nicht die Wissenschaft Europas benutzen und dadurch ein hohes Niveau erreichen, während die Europäer ihren Widerstand gegen die Tyrannei der Kirche durch die Wissenschaften leisteten, die sie von den Arabern lernten? Auf der anderen Seite weiß Herr Renan selber, dass es keine mit der Inquisition vergleichbare Institution, die gegen Philosophen und Gelehrte war und die philosophische und wissenschaftliche Bücher verbrannte, bei den Muslimen gibt, denen der Erwerb von Wissen vom Islam auferlegt ist! Viertens: Wie kann man wissenschaftlichen Fortschritt im Islam nicht auf den Einfluss der Religion zurückführen, während für die Muslime das Erlernen der Wissenschaften einerseits eine Freude ist und andererseits das Erfüllen eines religiösen Befehls? Mit dieser Motivation verbrachten die Muslime ihr Leben mit dem Erlernen der Wissenschaften. Sie hatten sogar das Lernen solcher Disziplinen gefördert, die Informationen gegen ihre Konfessionen beinhalteten. Ihre Motivation war, dass sie dadurch die Laien vor Aberglauben schützen konnten. Aber nehmen wir an, dass die arabischen Wissenschaften nicht auf den Einfluss des Islam zurückgeführt werden können. Auch dadurch kann die ursprüngliche Behauptung Renans nicht nachgewiesen werden. Die Wissenschaften nicht erfunden zu haben ist eins und sie zerstört zu haben ist etwas anderes. Fünftens: Nicht nur die Ideen von Herrn Renan, sondern auch seine Gefühle sind eigenartig. Auf der einen Seite erzählt er, dass der Islam für die menschliche Vernunft schädlich ist und auf der anderen Seite wird er lebhaft ergriffen, wenn er in eine Moschee eintritt oder bedauert es gar kein Muslim zu sein. Wie sollen wir solch einen Fall oder solch eine Natur interpretieren? Sechstens: Ja, Scheich Rifa‘a hat Recht. Aber der Grund, warum er Recht hat, ist nicht – wie Herr Renan glaubt – der Wider-

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stand einer auf der Offenbarung basierenden Religion gegen freie Forschung. Wenn eine Religion im Allgemeinen gegen die Forschung ist, dann erklärt sie sich für schwach gegenüber Rivalen. Der Islam, auf der anderen Seite, fordert seine Rivalen mit folgendem Koranvers heraus: „Bringt doch euren Beweis vor, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt!“21 Der Scheich Rifa‘a hat Recht, weil es keine Nachweise für die Unveränderlichkeit der Naturgesetze gibt. Es ist sogar unnötig zu sagen, dass solch eine Analogie wie „wenn diese Naturgesetze sich bis jetzt nicht geändert haben, sollen sie also ewig unverändert bleiben“ keine richtige Analogie ist. Wir bezweifeln nicht, dass für Scheich Rifa‘a die „Unveränderlichkeit der Naturgesetze“ gegen die Prinzipien der Religion ist. Aber wir glauben nicht daran, dass er die europäische Wissenschaft auf das Prinzip der Unveränderlichkeit der Naturgesetze zurück führte und sie deswegen als gegen die islamischen Prinzipien betrachtete. Es muss geklärt werden, in welchem seiner Werke eine solche Aussage existiert. Siebtens: Der Islam hat weder die Wissenschaft ruiniert, noch ist er mit ihr untergegangen. Wenn Herr Renan daran glaubt, sollte er mit ein paar Muslimen sprechen, die die Bildungsinstitutionen absolviert haben, die die aktuellen Wissenschaften lehren, so dass er selber sieht, dass seine Behauptung nicht stimmt. Was die Behauptung anbelangt, dass „der Islam zu einer kläglichen Inferiorität verurteilt ist“: Wenn die Berichte der Zeitungen stimmen, sind die Engländer nicht dieser Meinung. Man sagt sogar, dass sie muslimische Kinder in Indien nicht in die Schulen einschreiben, weil sie gesehen haben, dass sie weit fortgeschrittener als die englischen Kinder sind. Nun kommen wir zu dem lustigsten Geschwätz von Herrn Renan. Passen Sie bitte auf, was er sagt: „Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Mosul wünschte Herr Layard, als Mann der wissenschaftlichen Beobachtung, einige Angaben über die Bevölkerung der Stadt, über ihren Handel, ihre geschichtlichen Überlieferungen zu besitzen. Er wandte sich an den Kadi, der ihm folgende Antwort sandte: ‚O mein berühmter Freund, o Freude der Lebenden! Was Du von mir verlangst, ist zugleich unnütz und schädlich. Obgleich ich

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alle meine Tage in diesem Lande verbracht habe, so ist es mir doch niemals in den Sinn gekommen, die Häuser zu zählen, noch mich um die Zahl ihrer Bewohner zu bekümmern. Und nun die Frage, wie viel Waren der eine wohl auf seine Maultiere packt, der andere in seiner Barke unterbringt, das ist in der Tat ein Gegenstand, der mich in keiner Weise angeht. Was die Vorgeschichte dieser Stadt betrifft, Gott allein weiß es, er allein könnte sagen, mit wie viel Irrtümern die Einwohner derselben vor deren Eroberung durch den Islam vollgepfropft waren. O mein Freund, o mein Lamm, suche nicht das zu wissen, was Dich nicht angeht. Du bist zu uns gekommen und wir haben Dich willkommen geheißen; gehe wieder fort in Frieden! In Wahrheit: alle Worte, die Du zu mir gesprochen, haben mir nicht im Geringsten wehe getan; denn derjenige, welcher spricht, ist Einer, und derjenige, welcher zuhört, ist ein Anderer. Nach der Sitte der Männer Deines Volkes hast Du viele Landschaften durchwandert, und doch hast Du das Glück nirgends gefunden. Wir aber (Gott sei gelobt!) wir sind hier geboren und wir wünschen nicht, von hier fort zu ziehen. Höre mein Sohn, es gibt keine Weisheit gleich derjenigen, an Gott zu glauben. Er hat die Welt geschaffen. Sollen wir darnach streben, ihm gleich zu kommen, indem wir suchen, in die Geheimnisse seiner Schöpfungen zu dringen? Sieh jenen Stern, der dort oben um jenen andern Stern, der einen Schweif nach sich zieht und so viele Jahre braucht, zu kommen, und so viele Jahre, sich zu entfernen. Lass ihn, mein Sohn; derjenige, dessen Hände ihn gebildet haben, wird ihn schon leiten und lenken. Doch, Du wirst vielleicht sagen: ‚O Mann, ziehe Dich zurück, denn ich bin gelehrter als Du, und ich habe Dinge gesehen, von denen Du nichts weißt!‘ Wenn Du meinst, dass diese Dinge Dich besser gemacht als ich bin, so sei mir doppelt willkommen; ich aber, ich danke Gott, dass ich danach nicht forsche, was ich nicht zu wissen brauche. Du bist in Dingen unterrichtet, die mir gleichgültig sind, und was Du gesehen hast, ich verachte es. Wird Dir ein umfassenderes Wissen einen zweiten Magen schaffen, und Deine Augen, die überall hin sich senken und Alles durchstöbern, werden sie Dir ein Paradies aufspüren? O mein Freund, wenn Du glücklich sein willst, so rufe: ‚Gott allein ist Gott!‘ Tue nichts Böses, dann wirst Du weder

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die Menschen noch den Tod fürchten, denn Deine Stunde wird kommen. Dieser Kadi ist ein großer Philosoph in seiner Art. Folgendes aber ist der Unterschied: Wir finden den Brief des Kadi reizend, er aber würde Alles, was wir hier sagen, abscheulich finden. Für eine Gesellschaft übrigens, nicht für den Einzelnen, sind die Folgen einer solchen Weltbetrachtung verhängnisvoll.“ Wir können nicht feststellen, inwieweit dieser Brief bei der Übersetzung vom Original ins Französische verändert wurde. Wir können aber sicher sein, dass er keine exakte Übersetzung vom Arabischen, Persischen oder Türkischen ins Französische ist, weil der Stil dieses Briefs mit keiner der drei Sprachen übereinstimmt. Es ist auch klar, dass es keine Verbindung zwischen den Argumentationen gibt und manche Teile sogar völlig sinnlos sind. Ungeachtet dessen, ob dieser Brief dem Original entspricht oder nicht, kann man den Brief eines Kadis in Mosul als charakteristisch für die islamische Mentalität betrachten anstelle des Koran, der Hadithe, der theologischen Bücher usw.? Ist das dann nicht vergleichbar mit der Haltung, das wissenschaftliche Niveau Europas mit der Meinung eines Priesters (rāhib) zu bewerten, welcher in letzter Zeit behauptet hat, dass das Jüngste Gericht in drei Tagen stattfinden würde? War dieser Kadi unwissend? War er verrückt? War er geisteskrank? Hat er solch einen Unsinn gesagt, um sich Herrn Layard vom Halse zu schaffen, weil es damals üblich war, die politischen Geheimnisse vor den Fremden zu verbergen? Oder hat er diesen Brief aus Sarkasmus verfasst? Egal welche dieser Annahmen stimmt! Haben wir jetzt nicht Recht, wenn wir sagen, dass die Halbgelehrten in Europa den Islam mit der gleichen Unterschätzung erforschen, wie sie den Glauben der Zulu erforschen? In diesem Beispiel führen sie ein Stück Papier als Nachweis für den islamischen Glauben an, obwohl dies gar nichts mit dem Glauben zu tun hat. Die Leser erwarten natürlich auch eine Schlussfolgerung in diesem Traktat von Herrn Renan. Aber ich fürchte, dass diese Erwartung umsonst ist, weil die Schlussfolgerung keinerlei Verbindung zu dem Vortrag hat! … Herr Ernest Renan sagt im letzten Abschnitt seines Vortrags, dass die Wissenschaft und die Philosophie, die die Quelle für die

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in Bagdad, Samarkand, Córdoba und Granada existierende Zivilisation sind, nicht den Arabern gehörten, dass sie von den islamischen Völkern keine Unterstützung bekommen haben, dass der Islam wissenschaftliche Forschung verhindert hat und dass die Muslime, verglichen mit anderen Nationen, immer unterlegen bleiben müssen; nachdem er noch ein paar Worte über die Vorteile der Wissenschaft sagt, schreibt er Folgendes: „Was ist nicht bei ihrem ersten Auftreten gegen die Schusswaffen gesagt worden? Und doch haben sie Vieles zum Siege der Zivilisation beigetragen. Was mich betrifft, ich habe die Überzeugung, dass die Wissenschaft gut ist, dass sie allein Waffen gegen das Böse liefert, welches man mit ihnen vollbringen kann, dass die Wissenschaft nur dem Fortschritt dient, ich habe hier den wahren Fortschritt im Auge, denjenigen, der unzertrennlich ist von der Menschenliebe und der Freiheit.“ Ich glaube, dass solch eine Verbindung zwischen einem Vortrag wie diesem und seiner Schlussfolgerung auch zwischen den zwei Zeilen des folgenden Gedichts zu finden ist: „Ich habe die Hacke auf den Boden geschlagen, die Schönen tragen das Yazma-Kopftuch“.22 Wenn Herr Renan seine Empfehlungen über die Tugend der Wissenschaft für die Muslime abgibt, ist das nicht ein Widerspruch? Wozu nutzen solche Empfehlungen für eine Nation, die den anderen Nationen sowieso unterlegen bleiben muss? Wenn er aber den Islam als ein Hindernis für wissenschaftlichen Fortschritt darstellt, um die Europäer zu motivieren, ist es in der Tat nicht angemessen für eine Person, die durch ihre wissenschaftliche Kompetenz und ihre Tugend bekannt ist, durch solch eine ungewöhnliche Einführung solch ein Ziel zu erreichen. Das einzige Ergebnis, das Herr Renan von diesem Vortrag voll von irrigen Vorstellungen, die aus Unwissenheit stammen, erreichen kann, ist, meiner Meinung nach, dass er gezeigt hat, wie groß seine Feindschaft gegen Religionen ist. Und mit seinen Angriffen gegen den Islam hat er gezeigt, wie abscheulich er sein kann! Der Einfluss, den er mit solch einem Ergebnis auf die islamische Welt haben kann, ist nur die Verachtung dieses armen Professors der Akademie wegen seiner Unwissenheit, die ich in diesem Traktat aufgezeigt habe!

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Eine Erwiderung auf Ernest Renans Rede „Der Islam und die Wissenschaft“ vom Sankt-Petersburger muslimischen geistlichen Oberhaupt, Imam der Freitagsmoschee, Freitagsprediger und Lehrer A.B.

(deutsche Erstübersetzung von Anke von Kügelgen)

Einleitung1 Bevor wir uns einer Untersuchung der Rede des besagten bekannten französischen Wissenschaftlers Ernest Renan zuwenden, die er in Paris anlässlich einer Versammlung der „Wissenschaftlichen Französischen Vereinigung“ vom 29. März 1883 gehalten hat, und die in russischer Übersetzung als gesonderte Broschüre unter dem Titel Islam i Nauka (übersetzt von Aleksej Vedrov, St.-Petersburg, 1883) erschienen ist, erachten wir es für notwendig zu sagen, dass die hohe Stellung, die Renan in der wissenschaftlichen Welt nicht nur in seinem Heimatland, sondern in ganz Europa einnimmt, in uns seit langer Zeit tiefen Respekt gegenüber seinen philosophischen Werken und seiner wissenschaftlichen Autorität hervorruft. Umso schmerzlicher traf es uns zu lesen, wie unerbittlich Renan meinte, über die kulturelle Bedeutung des Islams urteilen zu können, über die Religion, zu der wir uns bekennen, und die – wie wir immer dachten und auch weiterhin denken – zu den rationalsten theologischen Systemen bzw. religiösen Formen zählt, die dem menschlichen Verstand in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung zugänglich sind, und die mehr als alle anderen imstande ist, die Anforderungen der geistigen und physischen Natur des Menschen miteinander zu versöhnen.

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Wir wollen uns nicht auf einen theologischen Streit über die – unserer Meinung nach – vielen nicht wirklich begründeten Ausführungen Renans einlassen, sondern uns auf die Darlegung derjenigen Teile seiner Rede beschränken, deren Logik uns anderen Teilen desselben Vortrags zu widersprechen scheint. Indes halten wir es für nötig anzumerken, dass wir die Lehre unseres Propheten Mohammed für uns als bindend erachten, nicht nur weil sie, wie auch die anderen biblischen Religionen, den Stempel der übermenschlichen Offenbarung trägt, sondern hauptsächlich deswegen, weil sie unserer Meinung nach in ihren Grundaussagen (Dogmen) über Gott, die Seele und ihre Unsterblichkeit nicht der Logik des gesunden Denkens widerspricht und das Licht der Wissenschaft nicht scheut. Bei der Lektüre der Rede Renans taucht unwillkürlich die Frage auf: Wieso hat dieser französische Wissenschaftler, bei der Rede auf der Versammlung der „Wissenschaftlichen Französischen Vereinigung“, in der er es auf sich nahm, den Islam als eine eigenständige Lehre und in seinem Verhältnis zur Wissenschaft zu bewerten, es nicht für passend erachtet, der allgemein anerkannten wissenschaftlichen Methode zu folgen, den in Rede stehenden Gegenstand allseitig und genau zu untersuchen bzw. zu analysieren. Zieht man eine Parallele zwischen dem Islam und der Wissenschaft, sollte man doch, so scheint es, zuallererst das Publikum mit der Lehre des Islams und seinem inneren Gehalt bekannt machen, mit anderen Worten, das Wesen des Islams und ebenso auch seine einzelnen Bestandteile analysieren, und nicht einfach stehen bleiben bei der oberflächlichen Betrachtung seiner äußeren Seiten bzw. Erscheinungsweisen, die – wie auch bei anderen religiösen Formen – manchmal falsch sein können. Der Islam ist nicht irgendeine unbestimmte philosophische oder metaphysische Träumerei oder eine wissenschaftliche Hypothese. Im Gegenteil, der Islam ist eine positive und präzise bestimmte Glaubenslehre, deren Untersuchung keine große Mühe bereitet. Seine elementaren Teile sind in drei Quellen enthalten: 1.) im Koran, 2.) in den Aussprüchen Mohammeds (sunnatu qaul), und 3.) in einigen seiner Handlungen, die seinen Nachfolgern als Beispiel dienten (sunnatu fi’l). Eben auf diese schriftlichen Dokumente sollte man zuerst eingehen, um das Verhältnis des Islams zur Wissenschaft vollständig richtig zu beurteilen und erst danach logische Schlüsse bezüglich der Feind-

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schaft oder Freundschaft des Islams gegenüber der Wissenschaft ziehen. Zu unserem, der Muslime, größten Bedauern, hat der von uns geschätzte große Mann der Wissenschaft, Renan, dies unterlassen. Er hat einer solchen analytischen Art der Urteilsfindung die synthetische vorgezogen, indem er den gegenwärtigen geistigen Entwicklungszustand der Muslime (musul’manstvo) mit dem anderer europäischer Völker verglich und schlussfolgerte, dass der Islam der rationalen Wissenschaft gegenüber feindlich eingestellt ist. Da wir unsererseits von einem logischen Standpunkt aus erörtern möchten, wie unbegründet die für den Islam beleidigenden Schlüsse von Renan sind, werden wir uns bemühen, unsere Erwiderungen folgerichtig, Punkt für Punkt geordnet darzulegen, indem wir – zur Stärkung unserer Argumente – auf die jeweiligen Stellen in Renans Rede verweisen. Danach werden wir uns erlauben, unsere Gesamteinschätzung der Rede Renans kundzutun. §1 Renan fragt: „Hat es in Wirklichkeit eine muslimische Wissenschaft, oder mindestens eine vom Islam zugelassene, vom Islam geduldete Wissenschaft gegeben?“ und beantwortet beide Fragen negativ. Danach führt er aus, dass über einen langen Zeitraum, d. h. über sieben Jahrhunderte hinweg die geistige, philosophische Bewegung ausschließlich in den Händen der Nachfolger des Islam lag; Farabi und Avicenna nahmen dabei den Rang unter den vielseitigsten Denkern ein, die je existierten. Renan aber will um keinen Preis die Bezeichnung ‚arabische‘ oder ‚muslimische‘ Wissenschaft zulassen auf Grund der Tatsache, dass diese Wissenschaften in Griechenland ihren Anfang nahmen. Weiter sagt Renan: „Griechenland war die einzige Quelle des Wissens und des richtigen Denkens.“ Darauf dürfen wir erwidern, dass wir voll und ganz zugestehen, dass die Araber die Wissenschaften von den Griechen geerbt haben, das streitet auch niemand ab. In der Tat darf die ganze Ehre der Zugehörigkeit dieser Wissenschaften in ihrer ursprünglichen Ausformung nicht nur Griechenland zugeschrieben werden, sondern auch Ägypten und Indien, von wo aus ebenfalls eine Vernunftwelle ausging. Weshalb aber sollte man die Existenz einer

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arabischen oder muslimischen Wissenschaft in dieser sieben Jahrhunderte währenden Periode großer geistiger Bewegung leugnen unter deren Obhut eine philosophische Gesellschaft entstand, die von Renan erwähnten „Ikhwan-es-Safa“, „Lauteren Brüder“, welche seinen eigenen Worten zufolge eine „philosophische Enzyklopädie“ herausbrachten, die sich durch ihren vernünftigen Charakter und Erhabenheit des Denkens auszeichnet? Eine Periode, in der Astronomie und Chemie, wie Renan selbst versichert, eine erstaunliche Entwicklung erreichten; in der die Algebra – das fügen wir von uns aus hinzu, denn Renan vergaß es zu erwähnen – von dem arabischen Wissenschaftler Abul-Chassan-Bek-Kjurra unter dem Kalifen al-Mutazid zum ersten Mal für die Raummessung in der Geometrie angewandt wurde, was für die damaligen griechischen Mathematiker eine unbekannte Anwendung darstellte; in der die mutakallimūn, oder Disputanten, ihre Versammlungen ins Leben rufen, in denen die ganze Religion gemäß den Grundsätzen der Vernunft und auf der Basis des strengsten Rationalismus erörtert wurde. Wenn all die aufgeführten Fakten für die Bezeichnung der Periode der aufblühenden Wissenschaft als Periode arabisch-muslimischer Wissenschaft wenig bedeuten, mit welchem Recht gebührt es dann aber Europa, als europäische Wissenschaft jene Wissensbestände zu bezeichnen, deren anfängliche Ausgangspunkte ebenfalls jenem glücklichen Griechenland angehören?! Ja mehr noch – Europa hätte, der Logik Renans folgend, noch weniger Recht dazu, als europäische Wissenschaften jene Erkenntnisse zu bezeichnen, die es erreichten, nachdem sie fast alle muslimischen Städte passiert hatte; es erhielt sie somit nicht einmal aus erster Hand, sondern durch und dank den arabischen Werken. Die Schlussfolgerung Renans muss man in diesem Falle also als nicht ganz logisch ansehen. Würde man sie hingegen als richtig ansehen, müssten wir auch die Rechte der Europäer auf die Wissenschaft anfechten, welche Renan als europäisch anerkennt, was ein gleich starker Beweis dafür wäre, dass seine Behauptung der Kritik nicht standhält. Nach dem Verständnis arabischer Wissenschaftler, gilt diejenige Logik als ungültig bzw. als Unlogik, die die offensichtlichen Fakten in Frage stellt. Wir erlauben uns, ein Beispiel anzuführen, welche Gestalt diese Logik bei Renan annimmt: Das, was als arabische Wissenschaften bezeich-

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net wird, ist, so seine Meinung, nicht arabisch, weil ihre Anfänge Griechenland gehören. Einer solchen Logik folgend, sagen wir nun unsererseits: Die Erkenntnisse, die als europäische Wissenschaften bezeichnet werden, sind nicht europäisch, sondern griechisch oder asiatisch, da ihr Anfang Griechenland oder Asien gehört. Dabei ist auch noch der Umstand zu beachten, dass der Islam, das ihm gegenüber sechs bis acht Jahrhunderte ältere Europa überholt hat und trotz der Seniorität, die ihm dieses voraus hatte, dennoch den von den Griechen begonnenen geistigen, wissenschaftlichen Fortschritt zu würdigen und weiterzuentwickeln vermochte, während das ältere Europa eben diese Wissenschaften erst sechs bis acht Jahrhunderte später zu studieren anfängt und dieses Studium bei seinem kleineren Bruder aufnimmt, was Renan selbst zugibt. Mit anderen Worten, der Islam oder die Religion Mohammeds, die Renan zufolge „die exakte Wissenschaft und die Philosophie stets verfolgt; ... sie schließlich erstickt [hat]“, hat zwei Jahrhunderte nach seiner Entstehung die griechische Lehre übernommen und übergibt seine lebendige Kraft im Jahre 1275 an den lateinischen Westen; das christliche Europa lässt sich auf eben diese Lehre somit zwölf Jahrhunderte nach ihrer geistigen Geburt ein. Die Fähigkeit und der Vorrang des Jüngeren gegenüber dem Älteren ist hier augenscheinlich. So ist womöglich dieses Faktum die Folge von Mohammeds Ausspruch: „Erlange Wissen von der Wiege bis zum Grab.“2 Den Rückstand Europas gegenüber den arabischen Muslimen über ganze zwölf Jahrhunderte hinweg bemüht sich Renan mit geographischen Bedingungen zu erklären. Buchara, Samarkand, Persien und Spanien sind indes nicht weiter von Bagdad oder Syrien entfernt als Frankreich und dennoch hat sich der Muslim, ein Bucharer, Samarkander und Spanier nach Bagdad zum Studium der neuen philosophischen Lehre begeben. Sollte das nicht ein Beweis dafür sein, dass im Islam selbst der Ansporn zu den Wissenschaften liegt und dieser eine logische Folge von Mohammeds Ausspruch ist, der folgendes predigte: „Suchet Wissenschaft und Erkenntnis, selbst wenn sie sich in China oder am Rande der Welt befinden.“3 Das Streben nach Wissen ist eine Pflicht für die Muslime (talabul-ilm farizatun alja kjulli muslimin).4 Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen kann man zugunsten und zur Ehre des Islams auch noch Folgendes sagen: Für das Leben und

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eine blühende Zukunft reicht es doch nicht aus, einen zeugenden Vater zu haben, es bedarf doch auch einer Mutter, die das Kind zur Welt bringt und sich um sein Schicksal sorgt, sonst kann es passieren, dass ein wohlbehalten geborener Säugling aus mangelnder Fürsorge zugrunde geht. Nun fragt sich, ob der Mutter, die sich um das Schicksal des Kindes dergestalt kümmert, dass es zu einem blühenden, jeglichen Respekt verdienenden Jugendlichen heranwächst, Dankbarkeit gebührt? Ja: selbstverständlich sie verdient diese Dankbarkeit. Weshalb also, um einen Vergleich zu bemühen, sollte man nicht anerkennen, dass Griechenland in Bezug auf die rationalen Wissenschaften den Platz des Vaters eingenommen hat und Arabien oder der Islam den der fürsorglichen Mutter? Wenn man diesen Vergleich für passend hält, so kann man zu dem Schluss kommen, dass Europa dem Islam, qua Mutter, große Dankbarkeit dafür schuldet, ihm einen so wohlerzogenen Jugendlichen übergeben zu haben, dessen Vater Griechenland ist. Europa kannte zu jener Zeit den Vater gar nicht, weshalb also sollte man den herangewachsenen Jugendlichen nicht nach der Mutter, d.h. Arabien, seiner Erzieherin, benennen?! Infolgedessen halten wir fest, dass die Wissenschaft, von der Renan gesprochen hat, ebenso griechisch wie arabisch ist. §2 Die gesamte siebenjahrhundertjährige rationale Bewegung der Araber und die wissenschaftliche Tätigkeit der muslimischen Kalifen sieht Renan als eine Bewegung an, die nicht dem Willen des Islams entsprang, sondern trotz des Islam, ja gegen ihn stattfand Zu diesem Schluss gelangt Renan auf der Grundlage der folgenden zwei Überlegungen: 1) Niemand war dem, was Philosophie oder Wissenschaft genannt wird, fremder als das erste Jahrhundert des Islams, und 2) Die Araber sind ganz und gar keine Philosophen. Der nomadisierende Araber sei von allen Menschen am wenigsten Mystiker, er neige nicht zur tiefen Betrachtung, sagt Renan; und solange der Islam nur unter dem arabischen Stamm verbreitet gewesen sei, d. h. unter den ersten vier Kalifen und den Umayyaden, so Renan weiter, habe er jeglicher geistiger Bewegung weltlichen Charakters entbehrt. Gewandelt habe sich das alles um das Jahr 750, da Persien zusammen mit der Dynastie der

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Nachfahren von Abbās die Oberhand über die Dynastie der Banu Umayya gewann. Zunächst einmal, wenn es erlaubt ist, auf die Unfähigkeit des Islam zum Rationalismus oder zur Wissenschaft und auf die Unfähigkeit des Arabers zur Philosophie, und ebenso auf die Entstehung der geistigen Bewegung der Araber trotz und gegen den Islam allein davon ausgehend zu schließen, dass sich die Araber im ersten Jahrhundert von den Wissenschaften weltlichen Charakters fern hielten und sich ihrer nicht annahmen, so wird es auch erlaubt sein, mit eben derselben Logik zu einer ähnlichen Schlussfolgerung auf Europa bezogen zu gelangen. Man kann sagen, dass Europa zum Rationalismus nicht fähig sei und seine gegenwärtige geistige Bewegung als extern und gegen seine Natur verursacht erklären, denn Europa hielt sich von jeder philosophischen und geistigen Bewegung nicht nur im ersten Jahrhundert, sondern sogar in den ersten zwölf Jahrhunderten nach seiner geistigen Wiedergeburt durch die Annahme des Christentums fern; zudem wandelte sich in ihm alles erst nach dem 13. Jahrhundert und infolge der Eroberung Spaniens durch die Araber und ihre durch sie nach Europa getragene Kultur – erst seit dieser Zeit befasst sich das christliche Europa mit der Wissenschaft. Ausgehend von der Prämisse Renans über den Islam einen solchen logischen Schluss bezüglich Europas anzufechten, würde bedeuten, die offensichtliche Tatsache anzufechten, welche die Araber „muġālat.a“ [Trugschluss] nennen. In der Tat haben die Kriege und teilweise auch das Nomadenleben der Araber ihre innere Entwicklung und ihre wissenschaftliche Aktivität gebremst, doch nur für kurze Zeit. Als ein ausgezeichneter Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht ist der Umstand zu werten, dass, nachdem sie sich von den äußeren Sorgen mehr oder minder befreit hatten und zu einem organisierten gesellschaftlichen Leben übergegangen waren, sich bei ihnen sofort eine geistige Beschäftigung kundtat und sich die muslimischen Araber gemeinsam an die wissenschaftliche Arbeit machten. Es soll aber auch nicht das natürliche Gesetz der Entwicklung der Natur des Menschen, der Tiere und der Pflanzen verschwiegen werden, demzufolge sie nicht sofort, nachdem sie auf Gottes Erde gekommen sind, gleich alle Fähigkeiten aufweisen; bilden sich diese doch allmählich heraus, bei den einen schneller, bei den anderen langsamer. Nach demselben Muster müssen sich auch ein

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Staat und eine sich neu formierende Nation zunächst stärken und Stabilität in ihrer inneren wie äußeren Organisation erlangen. Geleitet von diesen Erwägungen, wird man wohl die Vorwürfe, die Renan dem Kalifen Umar wegen dessen Handlungsweise macht, welche unserer Meinung nach die Grenzen der Gerechtigkeit nicht überschritt, kaum als begründet anerkennen können. Man darf nicht vergessen, dass, wenn unter dem aufgeklärtesten Volk das Prinzip, an dem Umar aus Notwendigkeit festhielt, sich oft als geeignet erwies und sich auch jetzt noch unter den Menschen als gebräuchlich erweist, die fähig sind, die ganze Gerechtigkeit der gesetzlichen Forderungen einer etablierten Macht zu begreifen und auch den moralischen Wert der Gesetze zu erkennen, dieses Prinzip von Umar in seiner praktischen Anwendung um so mehr rechtens gewesen ist zu einer Zeit, in der er von einem ungebildeten Volk mit rohen heidnischen Vorstellungen umgeben war, das nicht in der Lage war die Bestimmungen auch nur der Moralgesetze zu verstehen. Zur Verteidigung von Umars Prinzip können Renans eigene Worte angeführt werden: „Man muss sich bei momentanen Verirrungen nicht aufhalten. Was ist nicht bei ihrem ersten Auftreten gegen die Schusswaffen gesagt worden? Und doch haben sie Vieles zum Siege der Zivilisation beigetragen.“ Humanismus und Philanthropie sind bei der Lenkung der in moralischer und geistiger Hinsicht bunt gemischten Volksmassen der Verbreitung und Festigung kultureller Grundlagen in eben solchen Massen nicht immer zuträglich. Wenn Umar in seiner Zeit nicht an jenem Prinzip festgehalten hätte, das Renan als destruktiv ansieht, so hätte es tatsächlich sein können, dass die eingeleitete Reform und die neue Lehre – vom ungebildeten Volk, unter dem sie ja aufgekommen waren, unbeachtet – gleich zu Beginn hätten zu Grunde gehen können, so wie es mit den Arabern am Ende des 13. Jahrhunderts nach der Eroberung von Bagdad durch die heidnischen Stämme geschah. Unter den damaligen Umständen hätten die griechische Philosophie und die anderen Wissenschaften, die durch die Araber vermittelt nach Europa gelangten, auch vernichtet werden können, wie so viele andere wertvolle Denkmäler der alten Kultur; das aber dürfte selbstverständlich dem mit der Antike aufs Tiefste vertrauten Renan, besser bekannt sein als irgendjemand anderem.

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§3 Bei der Beweisführung für die Entstehung der arabischen Wissenschaft trotz und gegen den Islam verwendet Renan höchst seltsame Methoden. Er analysiert den verborgenen Seelenzustand der muslimischen Zivilisatoren, namentlich der durch ihre Gelehrsamkeit und Tatendrang berühmten Kalifen. So sagt Renan beispielsweise: Die Kalifen „Mansur, Harun al Raschid, Mamun sind kaum (?!) Muslime“. Das Nichtmuslimsein (nemusul’manstvo) jener Kalifen sieht Renan allein darin begründet, dass, so ruft er aus: „Alle diese Kalifen sind wissbegierig – besonders nach allen ausländischen und andersgläubig-heidnischen Dingen; sie befragen Indien, das alte Persien, Griechenland namentlich!“ Aus diesen zitierten Worten ergibt sich folgende logische Formel: 1. Wer sich für Ausländisches oder Heidnisches interessiert, der gehört ihnen, d. h. den Ausländern bzw. Heiden an. 2. Die Kalifen interessierten sich für alles Ausländische und Andersgläubig-Heidnische. Daraus folgt: 3. Die muslimischen Kalifen waren keine Muslime. Mit Hilfe einer solchen Logik kann man, bitte schön, auch die Zugehörigkeit selbst Mohammeds zum rechten Glauben anfechten oder gar die Zugehörigkeit jener Europäer und christlichen Wissenschaftler zum Islam beweisen, die sich für die alten Wissenschaften und den Islam interessiert haben; die entsprechende logische Formel sieht dann so aus: ‚Mohammed war kein Rechtgläubiger, da er sich für die Lehre der Christen und Juden, für die Lehre von Moses und Jesus interessiert hat‘. Dass diese Logik Renans nicht mit den realen Fakten übereinstimmt, ist offensichtlich. Anstatt den Einfluss des Islam auf die Wissenschaft zu schmälern, sprechen die zuvor zitierten Überlegungen Renans vielmehr zu seinen Gunsten und beweisen somit doch nur eines, nämlich, dass Mohammed selbst und ebenso alle muslimischen Kalifen nicht engstirnige, einseitige Fanatiker waren, sondern in höchstem Maße aufgeschlossen auf die Wissenschaft blickten, wobei sie sich an allen ihren Zweige stark interessiert zeigten und auch in keiner Weise die heidnischen Quellen missachteten. Für den Fall, dass ein solcher Schluss das Fehlen des Fanatismus im Islam nicht ausreichend aufzeigt, führen wir noch einen weiteren

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an. Nehmen wir – mit Renan – an, dass die Kalifen Mansur, Harun und Ma’mun keine Muslime gewesen sind, so haben doch nicht nur sie die Wissenschaften gefördert, sondern ausnahmslos auch alle Kalifen der verschiedenen anderen Dynastien, wie z. B. die Buyyiden in Fars, die Umayyaden in Spanien, die Fatimiden in Ägypten, die Hamdaniden in Aleppo, usw. Überall, wo die Kalifen agieren, fordern sie die besten Wissenschaftler an, holen diese herbei, wetteifern dabei gegenseitig um ihre Förderung. Auf diese Weise sind der Islam und die Wissenschaft ebenso unzertrennlich wie Zwillinge und erscheinen überall zusammen; wohin der Islam drang, dorthin drang auch die Wissenschaft. Welchem Umstand ist ein solches Phänomen zuzuschreiben, wenn nicht der Förderung der Wissenschaft durch die Lehre von Mohammed selbst. Wie will nun Renan noch erklären und damit überzeugen, dass alle wissenschaftliche Tätigkeit in der sogenannten arabischen Periode trotz und gegen den Islam vor sich ging? Ziehen wir eine Parallele zwischen dem christlichen Europa und den asiatischen Muslimen (musul’manstvo) jener Zeit, über die Renan spricht, so sehen wir einen merkwürdigen Kontrast. Auf der einen Seite bemühen sich Muslime überall um Philosophie und Wissenschaft und belohnen die Kalifen die Wissenschaftler mit freigebiger Hand. Auf der anderen Seite wohnt zur selben Zeit das christliche Europa teilnahmelos der geistigen Bewegung der Araber bei und zeigt sich dieser Ideenbewegung gegenüber völlig interesselos. Erst im 11./12. Jahrhundert schließlich, und das aufgrund irgendeines Zufalls, dringt die Wissenschaft nach Frankreich. Auf diese Weise zeigt sich, dass der Islam in seiner ersten Erscheinungsform überall die Wissenschaften sucht, während die Wissenschaft ihrerseits bereits lange zuvor das katholische Europa gesucht und nur mit Mühe – über die muslimischen Araber vermittelt – gefunden hatte. Wäre es nun nicht logischer anzuerkennen, dass die Wissenschaft durch einen „Wirbelsturm“ nach Frankreich und Europa getragen wird als, wie Renan, zu sagen, dass der Islam „wie ein Wirbelsturm“ die Entwicklung des Irans zum Stillstand brachte? Uns scheint es, dass diese Schlussfolgerung angemessener ist und den historischen Fakten näher kommt, als die Erklärung Renans, dass die Wissenschaft trotz des Islam zu den Muslimen durchdrang.

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§4 Renan sagt: „Der Islam hat nicht nur der Wissenschaft keine Förderung zukommen lassen, sondern auch die Wissenschaft und die Philosophie in seinem Schosse erdrückt.“ Zu diesem für den Islam traurigen Schluss gelangt Renan aus folgendem Grund: „Nachdem die sogenannte arabische Wissenschaft ihre Lebenskraft dem lateinischen Abendland eingehaucht hat, verschwindet sie. [...] Schon nach dem Jahre 1200 ungefähr gibt es keinen einzigen arabischen Philosophen von Bedeutung mehr.“ „Die Philosophie war stets im Schosse des Islam verfolgt worden bis dahin“, fährt Renan fort, „aber ohne vollständig unterdrückt werden zu können. Vom Jahre 1200 ab gewinnt die theologische Reaktion endgültig die Oberhand. Die Philosophie wird in muslimischen Ländern abgeschafft.“. Gemäß den Worten Renans folgt daraus, dass der Islam, nachdem er seine Zeit der wissenschaftlichen Aktivität hinter sich hatte, die von ihm wohl behütete Wissenschaft dem Westen Europas zur Weiterenentwicklung übergibt, wie wenn der Ältere zum Jüngeren im übertragenen Sinne sagt: ‚Nun, Europa, befasse dich mit der für dich neuen Wissenschaft; es reicht, dass du in den ganzen dreizehn Jahrhunderten an der Bewegung des Geistes teilnahmslos geblieben bist“. Kurzum, es beginnt – versteht man Renans Rede sinngemäß – jener Rückschlag im Schoße der Muslime (musul’manstvo), den zuweilen auch andere Kulturvölker erlebten. Die wissenschaftliche Stagnation der Araber jedoch allein ihrer Religion zuzuschreiben und jenen Niedergang von ihr abhängig zu machen, während bei anderen Völkern ein ähnlicher Rückschlag außerhalb der Religion liegenden Ereignissen zugeschrieben wird, ist nicht ganz gerecht. Angemessener wäre es gewesen, die Stagnation der wissenschaftlichen Tätigkeit der Araber jenen natürlichen Ursachen zuzuschreiben, von denen diese Erscheinung auch bei anderen Völkern abhängt. Warum nicht die Aufmerksamkeit u.a. auch auf das allgemein bekannte historische Faktum des Überfalls der wilden Horden und ihrer Eroberung der Stadt Bagdad lenken? Es unterliegt doch wohl keinem historischen Zweifel, dass diese heidnischen Völker aus den Tiefen Mittelasiens über dessen südlichen, kultivierten Teil hergefallen sind mit der ganzen Wucht ihrer zügellosen Barbarei, wobei sie auf ihrem Weg alles zerstört haben, was zu zerstören war. Indes darf dabei nicht

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vergessen werden, dass eben diese barbarischen Eroberer sich später dem Islam unterwerfen und unter dem Einfluss dieser Religion gedeihen, wenn auch – aus unterschiedlichen Gründen, über die hier zu sprechen nicht der Ort ist – langsam, aber dafür unerschütterlich und Schritt für Schritt, so dass es in nicht allzu ferner Zeit sein kann, dass – sobald sich ihre geistige Entwicklung an Europa angeglichen hat –, sie Hand in Hand mit ihm auf dem Wege des wissenschaftlichen Fortschritts voranschreiten werden. §5 „Ist die Religion des Propheten für jene rationellen Untersuchungen irgend eine Stütze oder Schirmherrin gewesen?“ fragt Renan und antwortet: Nein, „in keiner Weise“. Weiter sagt Renan: „Die Religion Mohammeds hat in der Tat die exakte Wissenschaft und die Philosophie stets verfolgt; er hat sie schließlich erstickt.“ Diesen Schluss zieht Renan u. a. aus jenem Umstand, dass sich in einigen Teilen des muslimischen Volkes in der Zeit, von der er spricht, eine feindliche Bewegung gegen die philosophischen Wissenschaften bemerkbar machte. Die Menschen, die sich mit jenen Wissenschaften befassten, wurden, so Renan, zindiq (Unfromme, Ungläubige) genannt. „Zur Beruhigung der durch die Imame aufgewiegelten Menschenmenge (sie waren wohl eher durch die Derwische aufgebracht, also durch Leute in der Art jener, welche in Russland ‚Besessene‘, ‚Narren‘, etc. genannt werden)5 verbrannte der Pöbel die philosophischen Werke. Beschimpfungen gingen manchmal in Massenprügeleien über und selbst gegen den Kalifen Mamun wurden Verwünschungen ausgestoßen, weil er der philosophischen Lehre Förderung angedeihen ließ.“6 Es ist wahr, all das geschah, doch diese Phänomene des Volkslebens ausschließlich dem Islam zuzuschreiben oder der Lehre des Propheten, wie Renan das tut, ist zumindest eigenartig. Selbstverständlich sollte man nicht behaupten, dass es unter den Muslimen, besonders jener in Rede stehender Zeit, keinen einzigen Fanatiker, Derwisch oder Mystiker, gegeben habe; doch kann Renan seinerseits auch nicht gerade sagen, dass sich in Paris, dem Zentrum der heutigen Zivilisation, ganz zu schweigen von andern Städten Europas, keine katholischen Mönche oder ihresgleichen fänden, die ihn und seine Art zu denken, hassen, und die es nicht

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ablehnen würden, noch heutzutage für ihn und seine Gleichgesinnten die Folter der spanischen Inquisition wiederzubeleben. Allen ist noch im Gedächtnis, was für eine Unzufriedenheit und welchen Aufruhr bei der katholischen Geistlichkeit in Frankreich das Projekt auslöste, aus den Gerichtssälen und anderen Regierungsgebäuden die Ikonen, Bilder, Kreuze und andere Embleme des Christentums zu entfernen und auch in den Lehranstalten den Unterricht des Gottesgesetzes zu verbieten. Alle diese Handlungen der französischen Regierung lösten und lösen weiterhin unter vielen, zweifelsohne gebildeten Franzosen, Unzufriedenheit aus und in Folge dessen werden diese Handlungen dem Wunsch zugeschrieben, den Atheisten gefällig zu sein. Worin liegt hier, so fragt man sich, die Schuld der Religion Christi? Der Logik von Renan folgend müsste man nicht nur der Regierung, sondern den Franzosen und Engländern selbst Vorwürfe machen und die Schuld dafür geben, dass unter ihnen Menschen leben, die mit den Reformen der Liberalen oder Konservativen unzufrieden sind; und müsste man diesen Nationen auch vorwerfen, dass aus ihren Schulen Radikale und Reaktionäre mit entgegen gesetzten politischen Überzeugungen hervorgehen, die sich untereinander über die staatlichen Reformen streiten. Es ist bekannt, dass in Frankreich und England die Opposition gegen die neuen Ideen und Reformen oft zu parlamentarischen Skandalen führt, die den Sturz eines Parteiführers oder eines ganzen Ministeriums nach sich ziehen. In England werden Meetings abgehalten, die sich gegen ein Ministerium richten und in Frankreich versammeln sich Menschen, die mit der Regierung oder der derzeitigen gesellschaftlichen Ordnung unzufrieden sind. Worin, so fragt man sich, unterscheiden sich diese Meetings und Versammlungen, die oft eine Wende herbeiführen, von den Angriffen einer arabischen ungebildeten Menschenmenge auf Wissenschaftler oder Philosophen? Es stimmt, unter den Arabern gab es einen Kampf unter den Gelehrten, aber das war ein literarischer Kampf. Die Angriffe von Wissenschaftlern einer bestimmten Richtung gegen ihre Widersacher beschränkten sich auf Polemiken und überschritten niemals die Grenzen der Höflichkeit. Diese literarischen Angriffe opponierender Theologen waren nicht gegen die philosophischen Wissenschaften an sich gerichtet, sondern brachten missbilligende Reaktionen auf einige Persönlichkeiten unter den Philosophen oder

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Wissenschaftlern zum Ausdruck, die – von einer philosophischen Lehre mitgerissen, im Eifer ihrer Leidenschaft ihre liebgewonnenen Systeme verteidigend – sich respektlos gegenüber einigen Dogmen der herrschenden Religion des Islam äußerten und dadurch die religiösen Gefühle ihrer Leserschaft verletzten. Noch im 19. Jahrhundert sehen wir doch ähnliche literarische Kämpfe zwischen Wissenschaftlern verschiedenster Richtungen; nehmen wir beispielweise die verbalen Ausfälle, den Streit, der vor nicht langer Zeit in Sankt Petersburg zwischen den homöopathischen und den allopathischen Ärzten ausgebrochen war, bei dem – für einen Streit unter Wissenschaftlern – höchst anstößige Ausdrücke verwendet wurden. Die einen wurden Scharlatane, die anderen Giftmischer genannt. Solche Auseinandersetzungen, nur natürlich ohne dergleichen beleidigende Ausdrücke, gab es bei den Arabern zwischen den Schulen bzw. den Lehren der alten Theologen und der Lehre der neuen Philosophen. Wir erlauben uns – von den Verfolgungen des Reformators Martin Luther, der Bartholomäusnacht, dem Dreißigjährigen Krieg, u. dgl. einmal ganz abgesehen – zu bemerken, dass es ungerecht ist, vom Islam die Abschaffung dessen zu verlangen, was Europa bei sich selbst nicht abzuschaffen vermochte. Man darf natürlich wünschen, aber man sollte es nicht fordern, dass alle, die sich zum Islam bekennen, Wissenschaftler und Philosophen von einhelliger Meinung sind und nicht gegen die Theorien neuer philosophischer Schulen opponieren oder demonstrieren. Die Standhaftigkeit der eigenen Meinung bei den Muslimen Fanatismus zu nennen, während man bei sich in Europa dafür den vornehmen Ausdruck Opposition verwendet, ist wohl aber ebenfalls nicht ganz gerecht. Ehre und Ruhm des Islams sind ausreichend dadurch gewahrt, dass im Verlaufe vieler Jahrhunderte unter der Herrschaft verschiedener muslimischer Kalifen und Fürsten, die Wissenschaft blühte, Kenner und Verteidiger fand, und dass die Religion Mohammeds in ihrer Umgebung eine katholische Inquisition gegen die freie Bekundung des religiösen Denkens weder geschaffen noch zugelassen hat. §6 Danach wird in Renans Rede ein spanischer Muslim erwähnt, der in Bagdad den Versammlungen von mutakallimūn beige-

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wohnt und an diesen Versammlungen keinen Gefallen gefunden hat. Renan gibt dessen Bericht – so ist anzunehmen – wohl als Beweis dafür wieder, wie groß der Hass und die Intoleranz der Muslime gegen die Wissenschaften und die freie Erörterung religiöser Fragen sind. Zunächst einmal ist zu bemerken, dass die Persönlichkeit des erwähnten Muslims von Renan nicht beschrieben wird und es nicht geklärt ist, um wen es sich bei ihm handelt; es muss daher angenommen werden, dass er nicht zur wissenschaftlichen Zunft der Theologen jener Zeit gehörte, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – alle Mitglieder der Gesellschaft der Ikhwan-es-Safa waren. So ist anzunehmen, dass der Muslim, von dem Renan spricht, irgendein ungebildeter Derwisch oder wenig gebildeter Mystiker war, der sich vermutlich nur mit dem Ziel auf den Weg gemacht hatte, den heiligen Stätten seine Verehrung zu erweisen. Nun fragt sich aber, ob eine solche Person dergleichen hochphilosophische Unterhaltungen, wie sie unter den mutakallimūn stattfanden, angemessen zu beurteilen vermag; und, ob die Meinung einer Person, selbst wenn es sich um eine äußerst gebildete handeln sollte, als Grundlage für ein Urteil über die Geisteshaltung der ganzen muslimischen Gesellschaft dienen kann. Es ist völlig verständlich, dass irgendein Besessener, beispielsweise ein katholischer Mönch, der auf seiner Pilgerfahrt zum römischen Papst in Paris Station macht, nicht in der Lage gewesen sein mag, die wissenschaftlichen Unterhaltungen Renans angemessen zu beurteilen und mitzufühlen, umso mehr wenn die Gespräche die Nichtexistenz eines göttlichen Elements in den Naturphänomenen behandeln. Es will uns scheinen, dass die Existenz mitten unter den Muslimen von dergleichen offiziell zugelassenen Gesellschaften wie der der oben erwähnten Ikhwan-es-Safa, in denen die Mitglieder, namentlich die mutakallimūn, frei über alle religiösen Fragen auf der Basis der reinen Vernunft diskutieren, und in denen die Materialisten, Atheisten, Spiritualisten, Deisten, usw., kurz, die Vertreter aller philosophischen Systeme dieselben Rechte und Respekt genießen, als größerer Beweis für die Förderung von Wissenschaft und Philosophie durch den Islam und für seine Toleranz dienen kann, als der Bericht Renans über irgendeinen frommen Reisenden.

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§7 Renan sagt: „Was in der Tat den Muslim wesentlich kennzeichnet, das ist der Hass der Wissenschaft.“ Als Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptung führt er die Meinung von Scheich Rifaa [at.-T.aht.āwī] an, der einige Jahre in Paris als Geistlicher an der ägyptischen muslimischen Schule verbracht hatte. Besagter Scheich schreibt in seinem Werk, dass die europäische Wissenschaft vom ersten bis zum letzten Wort Ketzerei sei!, insbesondere ihre Grundannahme von der Unveränderlichkeit der Naturgesetze – und, so fügt Renan aus eigenen Stücken hinzu, „vom Gesichtspunkte des Islam aus, das muss man zugeben, hat er nicht ganz unrecht. Ein offenbartes Dogma bildet stets einen Gegensatz zur freien Forschung, die ihm zu widersprechen vermag.“ Wir erlauben uns zu fragen, warum Renan „vom Gesichtspunkte des Islam aus“ sagt und nicht, ‚vom christlichen oder jüdischen Gesichtspunkte aus‘? Hat die christliche Kirche oder die jüdische Synagoge etwa aus ihrer Religion von Gott offenbarte Dogmen gestrichen? Wenn nicht, wie bezeichnet denn dann die christliche oder jüdische Religion die Lehre von der Unveränderlichkeit der Naturgesetze angesichts von Wundern und anderen sogenannten übernatürlichen Phänomenen, nicht etwa auch als Ketzerei? Wenn diese Religionen alles, was nicht mit ihrer Dogmenlehre übereinstimmt zur Ketzerei zählen, so bringt das Wort „Ketzerei“, das der Scheich für die Lehre von der Unveränderlichkeit der Naturgesetze verwendet, und das Renan vom Standpunkte ausschließlich des Islam aus rechtfertigt, das Denken des Scheichs nicht nur vom islamischen, sondern auch vom christlichen und jüdischen Standpunkt aus richtig zum Ausdruck. Aus der Schlussfolgerung Renans bezüglich der Worte des Scheichs, dass es nämlich vom Standpunkt des Islam aus richtig war, die europäischen Wissenschaften ketzerisch zu nennen, kann folgende logische Formel gebildet werden: 1) Ein offenbartes Dogma bildet stets einen Gegensatz zur freien Forschung. 2) Jegliche Lehre, die auf einer freien Erforschung der Natur beruht, ist – vom Standpunkt der Religion aus – eine Ketzerei. 3) Die jüdische, christliche und muslimische Religion umfasst jeweils offenbarte Dogmen – daraus folgt:

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4) Jegliche freie Erforschung der Natur muss – vom Standpunkt dieser Religionen aus – als Ketzerei angesehen werden. Aus der anderen Formel der Renanschen Logik ergibt sich Folgendes: Die Muslime hassen die Wissenschaft, weil sie sie – vom Standpunkt ihrer Religion aus völlig richtig – als Ketzerei bezeichnen. Auf dieser Grundlage ist es erlaubt, folgende Schlussfolgerung zu ziehen: jeglichem Menschen, der seine Religion als von Gott offenbarte Wahrheit ansieht, müssen alle Wissenschaften außer den theologischen, die diese Wahrheit stützen, verhasst sein, denn jeder Mensch kann – vom Standpunkt der Religion aus gesehen völlig zu Recht – die Wissenschaft als gottlos – ketzerisch bezeichnen. Ist nun angesichts dessen Renans Schluss, nur der Muslim „hasse die Wissenschaft“, noch ein logischer, wenn – nach der Logik eben jenes Renan – fast jeder, der sich zu einer göttlichen Religion bekennt, die Wissenschaft hassen muss? §8 Renan sagt: Der Muslim hat „die Überzeugung, dass die Forschung unnütz, unnötig, ja fast gottlos sei“ und weiter ergänzt Renan: „Wenn man von dem Gedanken ausgeht, dass menschliche Forschung ein Angriff auf die Rechte Gottes sei, so gelangt man unvermeidlich zur Geistesträgheit und verliert die Fähigkeit, genau und klar zu denken. Alla aaljam [Allāhu a‘lam], ‚Gott weiß besser, was daran ist‘, das ist das letzte Wort bei jeder muslimischen Diskussion.“ Er möchte diesen Ausspruch nutzen, um zu beweisen, dass die Muslime einer Geistesträgheit und Unfähigkeit zum klaren Denken anheimgefallen sind, daher äußern sie am Ende eines Disputs die Worte „Alla aaljam“, weshalb denn sonst, so Renan, sollte dieser in der Tat gewöhnliche Ausspruch des Muslims erfolgen. Nun, wie wir jetzt sehen werden kann dieser Ausspruch nicht als Beweis für die Richtigkeit der oben genannten Schlussfolgerung Renans dienen; und zwar aus folgenden Gründen nicht: Erstens werden die Worte „Alla aaljam“ als Zeichen des Respekts gegenüber einer anderen Meinung oder Überzeugung geäußert, besonders nach einem Zitat oder einem Verweis oder bei der Erläuterung von Kommentaren zu irgendeiner Frage, wie z. B. in der Antwort des Kadis auf die Forderung von Layard, die der

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Wissenschaftler Renan zitiert – doch ist der Kadi wirklich der Meinung, die ihm Renan zuschreibt, nämlich, dass allein Gott es weiß? Diese Wendung wird auch noch bei schwierigen Fragen verwendet, bei deren Lösung die Meinungen vieler Wissenschaftler auseinandergehen. Bei der Wiedergabe eines fremden Gedankens dem eigenen Verständnis entsprechend, passiert es häufig, dass dieser nicht ganz richtig, mithin nicht so wiedergegeben wird, wie es der Autor selbst getan hätte; es kann daher vorkommen, dass jener Gedanke mehr der eigenen Überlegung, dem eigenen Verständnis der betreffenden Frage entsprechend wiedergegeben wird und in einem solchen Falle sagt der Muslim eben „Alla aaljam“, d. h. Gott weiß besser, was Sache ist – mit diesem Ausspruch will er gewissermaßen die Verantwortung für eine fehlerhafte Wiedergabe eines fremden Gedanken von sich nehmen und dem Vorwurf der Verleumdung des Autors entgehen bzw. ihm zuvorkommen: „Soweit ich seine Worte verstanden habe, meinte er ebendies, doch ob ich ihn richtig verstanden habe oder nicht, ‚Alla aaljam‘, Gott weiß es besser.“ Zweitens wird dieser Ausspruch auch aus Höflichkeit gegenüber einem Streitpartner verwendet. Um den unangenehmen Eindruck zu mildern, der meist nach einem heftigen Disput über irgendeine Frage, über die keine Einigung erzielt wurde, zurückbleibt, bemüht sich der Muslim beim Abschiednehmen von der Person, mit der er sich gestritten hat, mit diesen Worten eben jenen unangenehmen Eindruck abzuschwächen bzw. etwa folgende Gedanken zu vermitteln: „Nun, mein Freund, wenn ich in deinen Augen falsch liege, so entschuldige bitte meine Hartnäckigkeit beim Streiten. Doch, solltest du dich irren, wovon ich überzeugt bin, so sei darob nicht betrübt, ist doch das sich Irren dem Menschsein eigen – wir sind beide fehlbare Menschen und können leicht dem Irrtum anheimfallen, besonders in solchen wichtigen Fragen, welche die Wahrheit aufdecken. Die Wahrheit ist unserer Meinung nach so und so, doch Gott ist weiser als wir und kennt die Wahrheit besser als du und ich.“ So beweist der von Renan angeführte Ausspruch „Alla aaljam“ zum einem bloß, dass die Araber bei der Wiedergabe fremden Denkens immer äußerst vorsichtig gewesen sind, es ernst nahmen und überhaupt andere Überzeugungen respektierten; und zum an-

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deren, dass diese Worte auch bloß aus Höflichkeit gegenüber dem Streitpartner verwendet werden. In dieser Art also findet sich diese Wendung bei den Muslimen, und sie wird von ihnen in Gesellschaft in der Weise gebraucht, wie die Russen den Ausdruck „Bog znaet“ [„Gott weiß es“] verwenden. §9 Am Ende seiner Rede zitiert Renan den Brief eines Kadis, den dieser aus der Stadt Mosul an Layard schreibt, und führt ihn so an, als ob er die Richtigkeit seiner Schlussfolgerung stütze, dass die Muslime die Wissenschaft und überhaupt auch jegliche Art wissenschaftlicher Forschung hassen. Bevor wir uns der Analyse dieses Briefes zuwenden, halten wir es für erwähnenswert, dass der Brief des Kadis den Schlüssen Renans gegen den Islam durchaus dienen könnte, wenn Renan aufzeigen würde oder sich auf irgendeinem Wege vergewissert hätte, dass der Brief des Kadis wirklich von einem seriösen Wissenschaftler an einen anderen Gelehrten gerichtet ist, denn als einen solchen betrachtet Renan diesen Brief. Allerdings muss auch eine andere Möglichkeit in Betracht gezogen werden, nämlich, dass der oben erwähnte Brief – mit den Mitteln rein orientalischer List verfasst – von einem politischen Agenten an einen anderen, ebensolchen Agenten gerichtet war. In diesem Falle würde der Brief die Bedeutung, die ihm Renan zuzuschreiben wünscht, verlieren. In jedem Fall sind der Schluss bzw. die Folgerung, die diesen Brief zur Grundlage nehmen und zuungunsten des Islams ausfallen, nur auf eine Annahme, eine Hypothese gegründet, und der Logik der arabischen Philosophen zufolge (lja chudžata ma al’-ichtemal’) [lā h.uğğata ma‘ al-ih.timāl] kann aus einer zweifelhaften Ausgangsprämisse keine richtige Konklusion folgen. Unsere Vermutung bezüglich der Person des Kadis, die den Brief an Layard geschrieben hat, namentlich dass er ein politischer Agent gewesen ist, wird durch einige Aussagen im Brief gestützt. Angesichts einer solchen Vermutung wird völlig verständlich, dass der Kadi jene Informationen, um die er gebeten worden war, nicht geben konnte und sich auch nicht auf eine philosophische Erörterung einlassen wollte. Denn Philosophie und Politik sind schließlich zwei vollkommen entgegengesetzte Dinge. Die

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Philosophie strebt nach der Wahrheit, die Politik hingegen sucht sie zu verdecken. Der Kadi, der sich in Regierungsdiensten in der Funktion eines Richters befand, konnte nicht gleichzeitig den Interessen Layards, dem Vertreter Englands, dienen. Es könnte auch sein, dass der Kadi in Layard einen reisenden Missionar gesehen hat – es gab sehr viele von ihnen in Asien –, der statistische Daten zu Zahlen und ökonomischen Verhältnissen der Bevölkerung und ihrer Konfessionen sammeln wollte. — Hier nun die Aussagen des Kadis, die mit einigem Recht zur Vermutung Anlass geben, dass er in Layard einen politischen Agenten oder Missionar gesehen hat. Mit der ersten Aussage: „Was Du von mir verlangst, ist zugleich unnütz und schädlich“, wollte der Kadi zweifelsohne zum Ausdruck bringen, dass die Herausgabe statistischer Informationen über ein Land, welche einem fremden Staat nützen oder unentbehrlich sind, selbstverständlich den Interessen jenes Landes schaden, und es sich daher nicht schickt sie herauszugeben. Mit der zweiten Aussage: „O mein Freund, [...], suche nicht das zu wissen, was Dich nicht angeht. Du bist zu uns gekommen und wir haben dich willkommen geheißen; gehe wieder fort in Frieden!“, wollte der Kadi zum Ausdruck bringen: „Wenn du zu uns als werter Gast gekommen bist, und nicht als Missionar oder politischer Agent, nun, so lebe ruhig für dich und dringe nicht darauf, Geheimnisse des Landes zu erkunden, welche du kaum um der Wissenschaft willen, sondern viel eher für die merkantilen Zwecke deiner Regierung sammelst; geh’ in Frieden“; d. h. säe nicht zwischen zwei Völkern Zwietracht bzw. beschwöre durch dein Missionieren keine religiöse Feindschaft zwischen den Christen und den Muslimen. Mit der dritten Aussage: „Nach der Sitte der Männer Deines Volkes hast Du viele Landschaften durchwandert“ möchte der Kadi sagen: Die Engländer haben die Gewohnheit viel zu reisen und überall Informationen für ihre politischen Zwecke zu sammeln, so wie sie es in Indien und mit den arabischen Scheichen in der Umgebung von Indien und in letzter Zeit auch mit Ägypten gemacht haben. Wollt Ihr [Engländer] nicht auch mit uns in dieser Weise verfahren? Das ist Eure Angelegenheit, nur vergesst nicht, wir werden unser Heimatland ihnen nicht einfach überlassen, das ist unser Heimatland, und es ist für uns da und nicht für irgendjemand anders; wir sind hier geboren und wollen unser Vaterland nicht Euch zur Verfügung lassen und in

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die Tiefen Asiens abziehen. Die vierte Aussage: „Höre, mein Sohn, es gibt keine höchste Weisheit gleich derjenigen, an Gott zu glauben“ besagt: Spart Euch die Mühe zu missionieren, denn wir Muslime glauben bereits an Einen Gott, und es gibt keinen besseren Glauben als den Islam: er vermittelt glaubwürdigeres Wissen über Gott als die anderen Religionen; gebt Euch daher nicht mit Missionieren ab, das ist eine vergebliche Mühe. Die fünfte Aussage: „Ich preise Gott dafür, dass ich danach nicht forsche, was ich nicht brauche“ besagt: Layard, misch’ auch du dich nicht in fremde Angelegenheiten ein; das Missionieren ist ein Übergriff auf ein fremdes Gewissen, folglich ist es schlecht. Tat der Kadi nicht Recht daran, nach den Ereignissen in Ägypten in Layard eben einen politischen Agenten und keinen Studienreisenden zu sehen? Weder Layard noch Renan können wohl derzeit glaubhaft versichern, dass Layards Besuch der Stadt Mosul und sein Wunsch, statistische Informationen zu erhalten, rein wissenschaftlichen Zwecken entsprang und nicht dem alleinigen Wunsch, die für England notwendigen Informationen zu erhalten, um für sich den Handelsweg nach Indien zu sichern. In der heutigen Zeit rechtfertigt die Eroberung Ägyptens das Misstrauen des Kadis; er beweist mit seinem Brief nur eine äußerst lobenswerte Ergebenheit seinem Vaterland gegenüber. Renan schaut sich diesen Brief anders an, selbstverständlich ohne daran zu denken, dass der muslimische Kadi scharfsinnig genug sein könnte, um zu verstehen, dass das aufgeklärte England – unter dem Vorwand wissenschaftlicher Ziele – diplomatisches Material zu politischen Zwecken sammelt; nun ist Renan aber auch – soweit uns bekannt ist – ein gebildeter Philosoph und Orientalist jedoch kein Politiker. Übrigens nennt man in unserem Zeitalter der Aufklärung alles wissenschaftlich; Beaconsfield [Benjamin Disraeli] hat sich doch sogar die Bezeichnung irgendeiner wissenschaftlichen Grenze Afghanistans ausgedacht. Renan findet, dass der Kadi, der den erwähnten Brief an Layard geschrieben hat, in seiner Art ein guter Philosoph sei; wir unsererseits halten ihn für einen scharfsinnigen Menschen und einen guten Untertan seiner Regierung, der, auch wenn er kein großer Wissenschaftler gewesen sein mag, so doch sofort kapiert hat, worum es geht.

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Schluss

Am Ende unserer bei weitem unvollständigen Untersuchung der Rede des berühmten und von uns geachteten französischen Wissenschaftlers, erlauben wir uns, noch einmal unserem tiefen Bedauern darüber Ausdruck zu verleihen, dass Renan es versäumt hat, jene Dogmen bzw. Grundsätze des Islams zu benennen, die ihm als Grundlage dienten, um allein dieser Religion jenen geistigen Stillstand im kulturellen Fortschritt zuzuschreiben, die Renan in der muslimischen Welt beobachtet hat. Induktiv aus einzelnen Phänomenen, wie z. B. dem spanischen Pilger, Scheich Rifaa [at.-T.aht.āwī], dem muslimischen Kadi, usw. eine allgemeine Schlussfolgerung auf alle übrigen Muslime zu ziehen, ist, zuwenigst, ungerecht. Die induktive (istikra-y-nakys [istiqrā’-i nāqis.]) Urteilsweise, an die sich Renan bei seiner Untersuchung des Islams gehalten hat, die er auch in seiner Rede zum Ausdruck bringt, und die ihn zu dem endgültigen Schluss kommen lässt, dass der Islam der Wissenschaft feindlich gesinnt war und ist, wurde von ihm in diesem Fall nicht richtig angewandt und hat daher zu einem Ergebnis geführt, das nicht der Wahrheit entspricht. Renans empirische Methode des Schließens, die hauptsächlich in den Naturwissenschaften angewendet wird, kann kaum mit demselben Nutzen zum Studium nicht nur nicht des Islams, sondern auch der anderen Religionen angewendet werden, ja überhaupt kaum zum philosophischen Studium. So darf man beispielsweise auch nicht aus den unmoralischen Erscheinungen, die im Christentum des Mittelalters und auch noch heute im gesellschaftlichen und privaten Leben einiger Christen existieren, den Rückschluss ziehen, dass die christliche Religion der Moral feindlich gesinnt sei. Es scheint uns ausreichend, auf einige berühmte arabische Wissenschaftler und Theologen zu verweisen, die hohes Ansehen in der muslimischen Welt genießen, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass der Islam – qua religiöser Lehre – dem freien Denken bzw. Rationalismus und Logik beim Urteil niemals feindlich gesinnt war und ist. Das schreibt übrigens auch der berühmte muslimische Theologe Chiali in seinem Kommentar zu dem Werk eines anderen bekannten Theologen, Imam Šarchu (a kaedo allematu-taf tazani) mit Blick auf die Überlieferung (naql): „Jene

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Stellen der Überlieferung, die der Verstand nicht akzeptieren kann (warit fi mumtane’atul‘ akli [wārit- fī mumtana’ātu l‘‹aql]) müssen, so schreibt er,7 allegorisch interpretiert werden (jažibe ta aveljugu [yağību ta’wīluhu])“, d.h. sie sollen nicht dem Buchstaben getreu, sondern gemäß dem gesunden Menschenverstand interpretiert werden, denn, so erläutert Chiali: „Der Verstand ist der Überlieferung vorzuziehen“.8 Der arabische Autor Muhamed-Mubjarjak-Benu-Muhamed Dajmi schreibt in seinem „Kazy Chašejatu Sulljam“ betitelten Werk zur Logik (mant. iq) bei der Analyse der logischen Argumente: „Das Argument, das der Überlieferung entnommen ist, kann nicht als entscheidender Beweis dienen, wenn die Letztbegründung, zu der es gelangt, keine rationale Grundlage hat“. Der im Islam für seine Gelehrsamkeit und Frömmigkeit berühmte Imam Zajneddin-Abuchamad-Muhamed-al-Ghazali sagte bezüglich der Philosophie: „Die Logik (mant. iq) ist die Propädeutik und der Waagebalken bei allen Waagen des Denkens gleich welcher Lehre oder Erkenntnis; wer die Logik nicht kennt, der hat keine fundamentalen Kenntnisse und auf seine Erkenntnis ist kein Verlass.“ Eine andere wissenschaftliche Berühmtheit, (Šaraful’Alljama)9 sagt über den einstimmigen Konsens der Wissenschaftler, dass das Studium der Logik eine Pflicht für alle sei, was auch Ghazali betont, und erkennt sie damit als eine Pflicht an, die der Gemeinschaft obliegt (farzu-kifaja [fard.u kifāya]). Der Imam Syabyaki schreibt, dass man „das Studium der Logik vor dem gründlichen Studium von Koran, Sunna und Rechtswissenschaft aufnehmen soll“. Die Logik ist – jenem Imam zufolge – die wichtigste und nützlichste der Wissenschaften. Wer sie tadelt oder verbietet, ist nach Meinung des Imams Syabyaki ein vollständiger Ignorant. Der Autor des Buches Tatar-Xaniya und ebenso auch Imam Ghazali in seinem „Ichija-ul’-uljum“ betitelten Werk,10 sagen, dass die medizinischen Wissenschaften gleichfalls als eine der Gemeinschaft auferlegte Pflicht (farzu-kifaja) anerkannt werden müssen. Schließlich hat Mohammed „über den Verstand“ als die höchste Kraft bzw. Eigenschaft des Menschen gesagt: „Das erste, was Gott erschaffen hat, ist der Verstand (‘aql)“, und in einer anderen Überlieferung erläutert er, dass „die erste Schöpfung Gottes aus seinem Licht (nūr) hervorging“. Infolgedessen ist „der Verstand“ der Überlieferung und Lehre des Islams zufolge „ein

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Licht aus dem Göttlichen Licht“. Weiter sagt Mohammed, dass Gott zum Verstand gesagt habe: „Ich habe nichts Besseres erschaffen, nichts Vollendeteres, nichts Schöneres als dich. Wegen dir erlangt die Menschheit den Segen. Dank dir werde ich anerkannt, dank dir werde ich bekannt.“11 So also fragt sich, was mehr überzeugt, die Argumente Renans für den Hass und die Intoleranz des Islam gegenüber der Wissenschaft, die auf rein äußeren Erscheinungen und Ereignissen aus dem Leben von Muslimen beruhen, oder hingegen die schwerwiegenderen logischen Schlüsse, die sich aus dem sachlichen Studium des Islam ergeben und aus der Literatur der arabischen Muslime selbst, die sich so lobend über alle Wissenschaften äußern? Über eben diese Richtung des Islam und über vieles andere, was jene Lehre betrifft, hat Renan jedoch geschwiegen. Er musste aus einem uns nicht verständlichen Grund, jene Meinung unterstützen, dass die muslimische Wissenschaft nicht existierte, und dass die arabische Zivilisation trotz und gegen den Islam entstanden ist. Auf diese Weise sieht er denn den Ausgangspunkt und die Grundlage seines Urteils, namentlich die zweifelhafte Prämisse dass die arabische Zivilisation „gegen den Islam entstand“ als eine vollständig bewiesene Wahrheit an, und es gelingt Renan daraus den falschen Schluss zu ziehen, dass der Islam, und nichts anderes, die Wissenschaft endgültig erstickt hat. Wie inadäquat Renans Meinung in dieser Frage ist und welche anderen Gründe es für jene von Renan erwähnte Schwäche der muslimischen Länder und den Niedergang der vom Islam dominierten Staaten – neben und unabhängig vom Islam als geoffenbarter Religion – gegeben hat und noch gibt – überzeugender aufzuzeigen, als wir es hier versucht haben, gehört nicht zum Programm unserer vorliegenden Erwiderung. Wir wollten hier nur die innere Widersprüchlichkeit Renans hinsichtlich ein und desselben Gegenstandes sowie die mangelnde Logik einiger seiner Schlüsse aufzeigen. Zum Abschluss erlauben wir es uns nun noch, unserem aufrichtigen Wunsch Ausdruck zu verleihen, dass die Vertreter der Wissenschaft, wie der von uns verehrte Ernest Renan und überhaupt die heutigen Wissenschaftler, Philosophen, Rationalisten, Positivisten, Orientalisten, usw. verstehen mögen, dass es weder eine wahre Aufklärung noch eine wahre Wissenschaft gibt ohne Religion, denn beide sind untrennbare Bestandteile der menschlichen

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Seele. Seit Anbeginn der Menschheit bis in unsere Tage stellt die Religion die geistige Nahrung von Abermillionen von Menschen dar. Keine menschliche Gesellschaft ist je ohne Religion ausgekommen. Sie erfüllte die tiefsten Bedürfnisse der Seele und befriedigte das moralische Empfinden, ohne die der Mensch als Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist, nicht denkbar ist, und daher muss die Religion nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart und in der Zukunft ihre hohe Bedeutung für das Leben der Menschen bewahren. Ebenso bilden auch die Wissenschaften – im Sinne von Erkenntnissen, welche wir aus den betrachteten Dingen und Naturerscheinungen gewinnen –, eine Notwendigkeit für den Verstand des gesund denkenden Menschen. Das religiöse Gefühl, z.B. das Streben nach der Erkenntnis Gottes, das dem Menschen in allen seinen Entwicklungsstadien eigen ist, ist vom Verstand durchdrungen und kann mit den logischen Denkgesetzen erfasst werden. Der bekannte muslimische Wissenschaftler „Željal’Davvani“ sagt:12 „Das Nachdenken, um zur Gotteserkenntnis zu gelangen, ist eine von der Scharia auferlegte Pflicht, denn durch das richtige Nachdenken erreicht man das Wissen über Gott (Annazar fi maarifjatu lla važi-bun šar’-an vjabin’- nazarussachich jachsulju maarifjat [an-naz. ar fī ma‘rifat Allāh wāğibun šar‘an wa-bin-naz. ar as.-s.ah.īh. yah.s.ulu ma‘rifat]).“ Somit gehört das religiöse Gefühl zum Menschen als einzigem Vernunftwesen. Da jedoch die geistige Verfassung der Menschen unterschiedlich ist, unterscheidet sich auch die Auffassung von Gott und den Naturgesetzen. Gott offenbart sich dem Menschen in dem Maße, wie der Mensch ihn zu verstehen in der Lage ist, und deshalb muss auch ein jeder sein Denken entwickeln, so wie Mohammed es sagt: „Denkt über die Schöpfung Gottes nach (tafja kkaru fi-chalkyllachita-alja13 [tafakkarū fī h-alqi Allāhi ta‘āla])“ und ebenso: „Es gibt keine höhere Wohltat als das Nachdenken“ (lja ibadata, kattjafja kjuri [lā ‘ibādata kat-tafakkuri])“. Der Bruch zwischen der Wissenschaft und der Religion, die man von Zeit zu Zeit bei einigen Völkern beobachtet, gehört zu den bekannten Entwicklungsstadien; er entspringt bald ungenügenden Kenntnissen, bald einem ungenügenden Verständnis der Religion. Doch ist das äußerste Ideal, das die Menschheit anstrebt und das letzte Ziel ihrer Entfaltung auf Erden, der Verband von Religion und Wissenschaft, dieser zwei höchsten Sphären der

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Ataulla Bajazitov

geistigen Welt des Menschen. Gebe Gott, so sagen wir, dass die heutigen Wissenschaftler zu dieser Wahrheit vordringen und ihr Wissen und ihre Talente nicht zum Schaden der Religion einsetzen und nicht dafür, dass sie sie im Schoss der Wissenschaft erdrücken, sondern im Gegenteil dafür, zwischen Wissenschaft und Religion einen gegenseitigen Respekt aufzubauen. Die Weisheit der Wissenschaftler und Philosophen besteht nicht darin, ihren wissenschaftlichen, sich ja oft ändernden Systemen zuliebe die Religion als eine der Wissenschaft feindliche Erscheinung zu begraben. Nein, tausend Mal nein, die Aufgabe der heutigen Wissenschaft muss darin bestehen, den Ausgangspunkt für die Schaffung eines gegenseitigen Einverständnisses zwischen Wissenschaft und Religion zu finden, damit sie gemeinsam zur Wahrheit gelangen. Das muss, unserer Meinung nach, die Devise der heutigen Wissenschaft sein. Es gilt, eine enge gegenseitige Verbindung zwischen diesen zwei Sphären der geistigen Welt des Menschen herzustellen, dem religiösen Gefühl und dem Verstand, und gleichzeitig den Fanatismus der Fanatiker zu beseitigen, jenen der Religion wie jenen der Wissenschaft. Dann werden Religion und Wissenschaft Hand in Hand gehen auf dem Wege zu eben jenen Wahrheiten, den höheren Idealen vernünftiger Moral und Tugend, die das endgültige Ziel der Menschheit auf Erden bilden. Darin besteht, unserer tiefen Überzeugung nach, die nächstliegende Aufgabe der heutigen Männer der Wissenschaft.

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Anmerkungen Der lange Schatten einer Debatte des 19. Jahrhunderts 1

Dies waren nicht die einzigen, aber die bedeutendsten Entgegnungen. Einen Überblick bietet Cündioğlu, Renan.

„Der Islam und Europa“ in der globalen Moderne: Eine verwickelte Geschichte 1

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Kittsteiner hat in dem Buch Stabilisierungsmoderne dies für Deutschland darzustellen unternommen, konnte jedoch sein Werk nicht vollenden. „La modernité n‘est ni un concept sociologique, ni un concept politique, ni proprement un concept historique. C‘est un mode de civilisation caractéristique, qui s’oppose au mode de la tradition, c’est-à-dire à toutes les autres cultures antérieures ou traditionnelles: face à la diversité géographique et symbolique de celles-ci, la modernité s’impose comme une, homogène, irradiant mondialement à partir de l’Occident.“ – http://www.universalis. fr/encyclopedie/modernite (20.11.2015). Touraine: Critique, S. 28; Touraines kritische Theorie der Moderne wurde von wichtigen Vertretern des multiple modernities-Ansatzes als damit kompatibel begrüßt. Interessant auch Knöbl, Theory. Besser bringt es der englische Untertitel zum Ausdruck: The Hidden Agenda of Modernity. S. a. Toulmin: Kosmopolis. Eisenstadt, „Achsenzeit“, S. 40. Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, vol. 127, 3, 1998, Early Modernities; und vol. 129, 1, 2000 Multiple Modernities, Preface: Der erste Satz lautet: „The term ,multiple modernities‘ is not in common usage today. There is no way of knowing whether it will ever achieve the renown or instant recognition that certain other more hyperbolic phrases like „the end of history“ and „the clash of civilizations“ have managed to secure in these last years“. Der Rest ist Geschichte, ist man versucht zu sagen. In diesen Anfangssätzen steckt auch die Motivation Eisenstadts, nämlich den Gefahren der Polarisierung der sich entgrenzenden Welt am Ende des Milleniums eine verbindendere Weltsicht entgegen zu setzen, die die nicht-westlichen Kulturen ernst nimmt. Anders ausgedrückt ist dies auch eine Reaktion auf die Herausforderungen der Hegemonie des Westens, die von den nicht-westlichen Gesellschaften und von den post-kolonialen Studien ausging, denen er die klassische Soziologie in

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der Nachfolge von Max Weber entgegensetzte. Es ist nicht von ungefähr, dass Eisenstadt die Welt von Jerusalem aus beobachtete und analysierte, der Stadt, in der man das Gewicht der Monotheismen fast zu spüren meint und die mit an vordersten Front aktueller Konflikte liegt. Ich verdanke diese Einsichten auch Eindrücken und Gesprächen, die ich in einem Freisemester am Van-Leer-Institut auf seine Einladung in Jerusalem mit ihm führen durfte. Siehe auch Schäbler, Nachruf auf Shmuel Noah Eisenstadt und „Zum Verhältnis von Regionalgeschichte (Area History) und Globalgeschichte (Global History). Zum Konzept siehe Schäbler, Area Studies und die Welt, kürzer: Regionalgeschichte (Area History) und Globalgeschichte (Global History). An dieser Stelle sollte vielleicht angefügt werden, dass die Autorin vor längerer Zeit ein traditionelles Studium der Geschichtswissenschaft (also Deutschlands, Europas) sowie des Nahen Ostens absolviert hat, wie auch eines der Islamwissenschaft/Orientalistik. Ein solches Studium ist nur an wenigen Universitäten in Deutschland möglich. Said, Orientalismus. Für diese beiden Argumente: Schäbler, Riding the Turns und Postkoloniale Konstruktionen; zu Said gibt es eine ausufernde, aber leicht zugängliche Literatur. Jung, Orientalists. Damit ist seine strikte Trennung zwischen „arischer Rasse und semitischer Rasse“ und die Abwertung letzterer gemeint. Den französischen Juden gegenüber verhielt sich Renan nicht in anti-semitischer Weise, wertete Araber und Muslime als Verkörperung des Semitentums aber extrem ab. Dies ist das Thema von Olender, Sprachen des Paradieses. Speer/Wegener (Hg.), Wissen über Grenzen. Schäbler, Civilizing Others. Hunter, Reformist Voices, S. 4.

Ein Priester der Wissenschaft am Reißbrett der Geschichte. Ernest Renan 1

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Lee, Ernest Renan, S. 5; Reinhardt, Hauptwerke der Geschichtsschreibung, S. 513-516. Psichari, Renan, S. 5. Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, s.v. Renan, Ernest, S. 650. Osterhammel, Verwandlung, S. 1282. Renan, Feuilles détachées, in OC II, S. 935. Realenzyklopädie, ibid. Souvenirs d’enfance et de jeunesse, S. 311, zit. nach Realenzyklopädie, ibid.

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Dörries, Prophet, S. 1-21. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, s.v. Renan, Ernest, Sp. 23-27. Dörries, Prophet, S. 1-21. Renan, L’Avenir de la Science, in OC III, S. 949. Psichari, Renan, S. 97. Arendt, Ursprünge, S. 383, 384. Wardman, Renan; Lee; Renan. Olender, Sprachen, S. 91 Renan; Mahomet. Der Text wurde bis auf einige Fußnoten unverändert in den Études d’histoire religieuse von 1857 wieder abgedruckt, nach denen ich im Folgenden zitiere. Ich gebe „Mahomet“ mit der gebräuchlicheren historischen Form „Mohammed“ wieder. „Islamisme“ wird in der deutschen Übersetzung von Olenders Buch (und auch in anderer Literatur) fälschlich mit „Islamismus“ übersetzt. „Islamisme“ wurde jedoch im Französischen analog zu „Christianisme“ (= Christentum) gebildet und bedeutet einfach „Islam“. „Islamismus“ dagegen bezeichnet erst in jüngerer Zeit moderne politische Bewegungen, die auf dem Islam fußen. Diese Instinkt-Theorie der Religion wurde vor allem von Max Müller abgelehnt. Kippenberg, Religionsgeschichte, S. 72. Renan, Etudes, S. 217, 218. 1857, als dieser Aufsatz von 1851 in den Religionsgeschichtlichen Studien (Études d’Histoire Religieuse) nahezu unverändert zum zweiten Mal publiziert wurde, standen die Überlegungen Charles Darwins zur Evolution zwei Jahre vor ihrer Veröffentlichung. Zur Entstehung des Menschen äußerte sich Darwin zwar erst 1871, in naturwissenschaftlichen Kreisen war die Idee der Entwicklung jedoch bereits seit längerem verbreitet. The Origin of Species kam 1862 auf Französisch heraus. Im Oktober 1863 übergab Renan dem Journal des débats einen „offenen Brief“ an seinen Freund seit Jugendtagen, den Chemiker Berthelot, betitelt „Die Naturwissenschaften und die Geschichtswissenschaften“ in dem er schrieb, dass es zwar sein könne, dass man einige Hypothesen Darwins ungenügend oder ungenau finden könne, dass sie aber ohne Frage auf eine große Erklärung der Welt und eine wahre Philosophie zusteuerten. Nun sei die dunkle Zeit, in der der Mensch entstand, nicht mehr völlig „verboten“. Was die vergleichende Philologie für die Geschichte sei, werde die allgemeine Anthropologie für die vergleichende Philologie sein. OC I, S. 638. Dies entspricht ganz seinem deterministischen Rassen-und-Sprachen-Programm, mit dem er Darwin missversteht und eher zu Spencer und Haeckel neigt. In seinen Jugenderinnerungen bedauert er, keine Karriere in den Naturwissenschaften eingeschlagen zu haben, die ihn in jungen Jahren so begeistert hätten und behauptet, dass er zu „mehreren der Forschungsergebnisse Darwins gelangt wäre, die (er) voraussah“. Stattdessen hätte es ihn zu den historischen Wissenschaften gezogen, „kleinen Wissenschaften, die auf Spekulationen beruhen, die sich ständig wieder auflösen und die man in 100 Jahren nicht mehr beachten“ würde. OC II, S. 852. Diese Aussage beschreibt den Großteil seiner historischen Forschungen und ihr Schicksal einigermaßen hellsichtig.

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Psichari, Renan, S. 104, an Hand seiner frühen Interessen-Skizzen. Renan, Etudes, S. 220. Schöler, Charakter, S. 142. Dieses Renan-Wort wird erstaunlicherweise (und unverdient) seit Gregor Schölers bahnbrechender Studie über Echtheit und Quellenwert der islamischen Überlieferung bis in die heute geradezu boomende Forschung zur „Geburt des Islam“ immer wieder zitiert. Auf den Boom, der auch durch die radikale Kritik an der islamischen Überlieferung ausgelöst wurde (der Prophet „existiert“ in außerislamischen Quellen nicht), und der auch die Feuilletons erreicht hat, kann hier nicht eingegangen werden. Siehe exemplarisch Amman, Geburt, Neuwirth: Koran und zuletzt Schulze: Koran. Renan, Etudes, S. 221. Renan, Etudes, S. 230. Renan, Etudes, S. 231. Fück, Studien, S. 175, 176 über Weils Mohammed-Biographie, die aufgrund seiner Quellenauswahl bereits 1861 überholt war. Weil: Mohammed; Caussin de Perceval, Essai. Der jüdische Orientalist Gustav Weil vertrat eine historische Ausrichtung in den orientalischen Studien, nutzte auch die poetische Literatur der Araber vor Mohammed als Quelle und verfasste eine historisch-kritische Einleitung in den Koran. Er interpretierte den Propheten als Epileptiker. Daneben stützte sich Renan auf den Romancier Washington Irving. Renan, Etudes, S. 235. Renan, Etudes, S. 234, Fn. 1, (1851 Journal des débats, Fn. 5). Renan, Etudes, S. 254. Renan, Etudes, S. 248. Er zitiert Voltaires Mahomet, jedoch nicht den Namen des Autors. Renan, Etudes, S. 250. Renan, Etudes, S. 282. Renan, Etudes, S. 282. Renan, Etudes, S. 265. Vergleiche hierzu Schulze, Religionswissenschaft, S. 101, 102. Renan, Etudes, S. 253. Renan, Etudes, S. 261, Fn 1. Kittsteiner, Stabilisierungsmoderne, S. 128. Commins, Islamic reform, S. 23. Ibn Abidin, zit. nach Steppat, Loyalität, S. 184. Schulze, Religionswissenschaft, S. 140. Renan, Etudes, S. 295. In diesem Text von 1851 ist das alte Judäa noch die Wiege von Judentum und Christentum. Nach seiner Reise ins Heilige Land (1860-61), wo er in den Beduinenscheichs der syrischen Steppe in ihren schwarzen Zelten die alten Hebräer verkörpert sah und sich von den Landschaften Palästinas inspirieren ließ, machte Renan Jesus zum Sohn der lieblichen Landschaft Galiläas, damit zum Hellenen und trennte so Judentum und Christentum voneinander ab. Renan, Etudes, S. 295, 296. Zum Kalifat siehe Arnold, Caliphate. Crone/Hinds, Caliph gehen durch das reiche Schrifttum der islamischen Gelehrten zu dieser Frage, gelangen

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aber nicht zu signifikant anderer Einschätzung. Dass religiöse Gelehrte sich schwer tun, dem Kalifat die religiöse Bedeutung abzusprechen, selbst wenn sie davon profitieren, liegt auf der Hand. Im Koran kommt das Wort 10 Mal vor. Es bezieht sich jedoch in neun der Fälle auf die gesamte Menschheit, auf Adam und in einem Fall auf den jüdischen König David der Bibel. Renan, Etudes, S. 298. Renan, Etudes, S. 299. Renan, Réforme, in OC I, S. 455. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 139. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 154. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 147; ebenso in einem Vortrag vor der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 1859 und in anderen Texten. Olender zitiert diesen Satz ebenfalls, erweckt aber den Eindruck, es handele sich um das Judentum, Olender, Sprachen, S. 93. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 147. Zum Koran als Text der Spätantike, Neuwirth, Koran. Said, Orientalismus, S. 164. Allerdings erst in seinem Leben Jesu. 1847/55. In der Geschichte der semitischen Sprachen „sind es nur ein paar Tage von Jerusalem zum Sinai und vom Sinai nach Mekka“. Alle drei monotheistischen Religionen werden hier noch im gleichen Raum angesiedelt und zusammen gedacht, während er das Christentum nach seiner Reise nach Palästina aus diesem Verbund löst, indem er Jesus zum Hellenen erklärt. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 145. Psichari, Renan, S. 196. Schweitzer, Geschichte, S. 207-208. Renan, Souvenirs, S. 210. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 137. Renan, Histoire de l’instruction, in OC II, S. 602 Schäbler, Humanism; dies., Historismus. Die neuere Forschung geht davon aus, dass es eine Philosophie nach 1200 in der islamischen Welt gegeben hat, die offenkundig über die Jahrhunderte fortdauerte und in bestimmten Regionen der islamischen Welt bis in die Gegenwart reicht. Rudolph, Philosophie, S. 8-9. Sie wurde mehr in schiitischen Gebieten als in sunnitischen gepflegt, wo aber die Logik als Teil der Theologie weiter bestand. In der arabischen Welt selbst wurde Renans Buch weithin rezipiert, nachdem vor allem der ägyptische Christ und erklärte Säkularist Farah Antun, ein Anhänger und Übersetzer Renans, einen Artikel darüber veröffentlichte. Zur positiven Rezeptionsgeschichte im Orient bis in die frühen 1990er Jahre, Kügelgen, Averroes. Renan, Averroes, in OC III, S. 100. Renan, Islam – S. 135 in dieser Ausgabe. Renan, Averroes, in OC III, S. 15. Renan, Averroes, in OC III, S. 17-18. Renan, Etudes, S. 59. Lee, Renan, S. 217-218; zu Renans Stil wird gemeinhin Chadbourne, Renan zitiert.

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Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 152. Layard, Nineveh, S. 179. Schäbler, Noble Arab. Commins, Reform, S. 26, 27; Weismann, Modernity, S. 192. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 154. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 154. Diese Darstellung steht durchaus im Widerspruch zu seinem Bild des Propheten in den Etudes. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 154. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 150. Bauer, Ambiguität. Dies bezieht sich wohl auf tauhid, wie ihn ebenfalls Abd al-Wahhab vertrat. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 155. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 152. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 152. Renan, Averroès, in OC III, S. 42, Fn 2. el-Tounsy, Voyage, S. 307. Herausgeber war B. Duprat, Edme-Franςois Jomard schrieb ein Vorwort. Ouaday war ein kleines Land im östlichen Sudan. Perrons Fußnote findet sich auf S. 673, nicht 663, wie Renan angibt. el-Tounsy, Voyage, S. 307. Renan, Le Désert et le Soudan, in OC II, S. 540-549. Sechs Jahre später hat er die Übersetzung von de Slane gelesen und gesteht Ibn Khaldun immerhin eine „große Zusammenschau und eine Geschichtsphilosophie“ zu, bevor sich die Idee einer exakten Wissenschaft von der Geschichte entwickelt hatte“. Renan, Avenir religieux, in OC I, S. 237. Renan, Désert, in OC II, S. 541. Renan, Désert, in OC II, S. 541. Ausgerechnet Kant! So schrieb Weinberg schon 1958 ironisch, Kant, habe sich in seiner „Rasse“ so unwohl gefühlt, dass er schottische Vorfahren für sich reklamierte. Außerdem war er östlich der Elbe geboren und damit nach Renans Rassenkriterien Slawe und nicht Sachse wie Arminius und Widukind. Weinberg, Race, S. 160. Weinberg, Race, S. 129-164. In der Nationalismus-Debatte wird seine Rede als Klassiker zitiert. Geoff Eley und Ronald Grigor Suny wählten Renans Rede als einziges Beispiel für einen „klassischen Text“ in ihrem Band und priesen ihn als intellektuellen Vorläufer von Benedict Andersons Konzept der Nation als „imagined community“. Eley/Suny, Becoming National, S. 49. Zit. nach Weinberg, Race, S. 160 und Olender, Sprachen, S. 97, die aber beide diesen Zusammenhang nicht herstellen. Renan, Histoire Générale, in OC VIII, S. 137. Renan, Désert, in OC II, S. 542. Zit. nach Olender, Sprachen, S. 102; Weinberg, Race, S. 164. Renan, L’avenir religieux des societés modernes, in OC I, S. 233-281. Salvador, Paris, Rom et Jerusalem. Renan, Avenir religieux, in OC I, S. 240. Renan, Avenir religieux, in OC I, S. 249.

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Renan, ibid. Aktürk, Pillars, S. 15. Ermis, Ottoman Thought. Kreiser, Staat, S. 64. Arnold, Caliphate, S. 163, 164. Mouradgea d’Ohsson, Tableau général, S. 269-270, zit. nach Arnold, Caliphate, S. 146, 147. Der Vertrag existiert in drei Sprachen, osmanisch, italienisch und französisch. In allen drei Versionen kommt „Kalif“ vor. Im Reich stand damit die Idee der Trennung vom Sultanat als politischem Herrscheramt und vom Kalifat als geistlichem Amt im Raum. Auf der Grundlage dieser Trennung wird der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, am 1. November 1922 das Sultanat und am 3. März 1924 das Kalifat abschaffen. Deringil, Origins, S. 177. Es ist erstaunlich, dass zumeist nicht-osmanistische wissenschaftliche Literatur hier vielfach leichtfertig für diese Epoche vom „osmanischen Kalifat“ spricht. Ein außenpolitischer Anspruch bedeutet jedoch nicht eine innenpolitische Realität. Die Debatte um das Kalifat konsequent weiter denkend argumentierte der Azhar-Gelehrte Ali Abd al-Raziq (1888-1966) 1925 auf der Grundlage von Koran und Sunna, dass Staat und Religion im Islam von Anfang an getrennt gewesen seien und das islamische Gesetz rein spirituell zu verstehen sei. Seine Kollegen lehnten das Buch ab und straften seinen Autor: Er verlor seinen Posten an der Azhar-Universität. Kaelitz-Greifenhorst, Verfassungsgesetze, S. 31. Steppat, Loyalität, S. 175, 176. Der Gehorsam darf zwar nicht zu einem Ungehorsam gegen Gott führen, aber selbst der ungerechte, durch Gewalt an die Macht gekommene Sultan ist dem herrschaftslosen Chaos vorzuziehen, wie schon die klassischen arabischen Rechtsgelehrten lehrten. Ich danke Christoph Herzog für diesen Literaturhinweis. Wardman meint, er habe in Rom seine spirituelle Tiefe wieder entdeckt, Wardman, Renan, S. 53, 54. Renan, Correspondance, in OC X, S. 307-308. Wardman, Renan, S. 73. Mallat, Renan, S. 16. Mallat, Renan, S. 19, 20. Psichari, Renan, S. 213, 214; dt. Übersetzung nach Olender, Sprachen, S. 108, Fn. 37. Kurd Ali, Islam, S. 15. Reiseplan in Gaulmier, Note. Wardman, Renan, S. 91-96. Zit nach Gaulmier, Note, S. 237. Thomas Bauer, Ambiguität, S. 197, 198. Rifā’a Rāfi’ at.-T.ah-t.āwī, Tah-līs. al-ibrīz ilā talh-īs. Bārīz. In Kapitel 2 nennt er: französische Zivilverwaltung, basierend auf Naturrecht, Vökerrecht, positives Recht; Kunde von den Ländern, ihren Interessen und Belangen; Wirtschaftswissenschaft, Finanzverwaltung u.v.m. Stowasser, Tahtawi, S. 10; Stowassers Begleittext ist arg veraltet. Dieser Satz ist in der deutschen Übersetzung entfallen.

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Massignon, Lettre, S. 297.

Dschamal al-Din al-Afghani: Agent und Wanderprediger der umma 1

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Die sorgfältige Biographie Nicki Keddis ist noch immer ein Standardwerk, daneben gibt es einige neuere Literatur vor allem aus Indien, die sich aber auch größtenteils auf Keddie beruft. Veröffentlichte Dokumente machen deutlich, dass al-Afghani aus Persien stammte, nicht aus Afghanistan, wie er behauptete, was allerdings von sunnitischer Seite nach wie vor angezweifelt wird, die sich dabei bewusst auf ältere Literatur stützt. Keddie, Islamic Response, S. 13. Keddie, Islamic Response, S. 18. Auch die Neigung zum Verschleiern hat man „schiitisch“ interpretiert als eine Form der taqiyya, der erlaubten Verschleierung des eigenen Glaubens, um ihn und sich selbst nicht zu gefährden, die die Schia praktiziert. Das Agenten-Leben, das al-Afghani wählte, wäre aber wohl für jeden, egal welcher Religion nicht ohne gewisse Verschleierungen zu führen gewesen. Dies waren die Shaikhi und die Babi Bewegung, die bei den Gelehrten der Zwölfer-Schia als häretisch galten. Nach Keddie, die Anhuri zitiert, Islamic Response, S. 31. Über den „religiösen Unglauben“ von Afghani und Abduh gibt es zahlreiche, aber veraltete Debatten, die einer stark literalistischen Deutungsweise anhängen, v.a. Keddourie, Afghani. Zit. nach Rudolph, Islamische Philosophie, S. 33. Rudolph, Islamische Philosophie, S. 72. Dies hatte er wohl aus der Lektüre von Guizots Geschichte der Zivilisation in Europa; Keddie, Sayyid, S. 95; Hourani, Arabic Thought, S. 114, 115. Keddie, Islamic Response, S. 45. Keddie, Islamic Response, S. 46, 47. Immer noch eine exzellente Zusammenfassung: Schölch, „Der arabische Osten im 19. Jahrhundert“. Berkes in Keddie, S. 61, Fn. 6. Zur Universität siehe Ihsanoglu, Science, S. 827-842; Vortrag nach Keddie, Islamic Response, S. 63, 64. Keddie, Sayyid, S. 65-80. Schölch, „Der arabische Osten“, S. 393-395. Al-‘urwa, S. 24. Keddie, Sayyid, S. 95, 95. Keddie, Sayyid, S. 102, 103. Keddie, Sayyid, S. 109, 110. Murtaza, Die Demokratisierung der muslimischen Welt: Ansichten des muslimischen Philosophen Gamal al-Din al-Afghani, auf: www.muslimischestimmen.de (20.11.2015)

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Brief an einen Iraner, zit. nach Keddie, S. 419. Al-‘urwa al-wuthqa, S. 34. Jedermann, „Scheik“, S. 2. „The Truth about the Neicheri Sect“, übersetzt in Keddie, Islamic Response, S. 160, 161. Sure 13, Vers 11 nach der Übersetzung von Rückert. Afghani, „On teaching“, in Keddie, Islamic Response, S. 58-62. Ich danke Ghassan Masri von Corpus Coranicum für diese Auskunft. Wie Sylvain Gouguenheim, Aristoteles. Amin, zu‘ama’, S. 89. Milson, „The elusive Jamal al-Din al-Afghani“, S. 304, 305. Veraltet literalistisch: Keddourie, Afghani, S. 45. Moazzam, Jamāl Al-Dīn Al-Afghāni, S. 117; ähnlich Milson, „The elusive Jamal al-Din al-Afghani“. Amin, zu‘ama’, S. 87-88. Weber, Anne-Françoise, „Ringen um Tradition und Reform“. Der Satz fehlt in der deutschen Übersetzung. Ghanim, L’éducation des princes ottomans; sowie Ghanim, Études d’histoire orientale. Kedourie, Afghani, S. 40. Auch Haddad geht davon aus, dass er der Übersetzer war, argumentiert allerdings, Ghanim habe seine eigenen Überzeugungen Afghanis Text untergeschoben. Haddad, Al-Afghani. Siehe Moazzam, ibid. Ein Jahr später, 1998, erschien ein Buch eines Wissenschaftlers von der Universität Kairo zur Renan-Afghani-Kontroverse, in dem die Originalantwort von Afghani immer noch nicht veröffentlicht wurde; al-Hušt, Muh.ammad ’Ut-mān, al-Islām wa-l-‘ilm. Erst im Jahr 2005 erschien eine Übersetzung in: ‘Abd al-Hāfiz, Mağdī, al-Islam wa-l-‘ilm, Kairo 2005. Haddad, al-Afghani, S. 124-133. Haddad, „al-nas.s. al-h.aqīqī“ auf: http://nachaz.org/index.php/fr/textes-a-lappui/histoire/53-2012-07-18-01-32-26.html, gesehen am 24.9.2015. So Tariq Ramadan, der Enkel des Gründers der Muslimbrüder, in seiner umstrittenen Dissertation.

Namık Kemal: Die Nationalisierung des Islam 1

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Menemencioğlu, Namık Kemal Abroad, S. 29-49; Mardin, Genesis of Young Ottoman Thought, S. 288-336. Mardin, Genesis, S. 21. Mardin, Genesis, S. 33. Czygan, Criticism of the Tanzimat, S. 44. Czygan, ibid., S. 48, 49. Mardin, Genesis, S. 288.

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Nour, Grand poète turc, S. 1-25. Kemal, Vaterland oder Silistria, S. 124, 128. Babinger, Geschichtsschreiber der Osmanen, S. 342. Ermis, Ottoman Economic Thought, S. 24. Der „Gerechtigkeitskreis“ beinhaltete eine zirkuläre Herrschaftstheorie, die besagte, dass Gerechtigkeit Frieden in der Welt bedeutete, die Welt ihrerseits ein Garten und dessen Zaun der Staat sei, in den das göttliche Gesetz (schari‘a) die Ordnung bringe, für die es keinen besseren Garanten gebe als die Regierung, die ihrerseits ohne eine Armee nicht bestehen könne, die wiederum ohne Reichtum/Wohlstand nicht aufrecht erhalten werden könne, welcher wiederum durch die Untertanen hergestellt werde, die ihrerseits dem gerechten Herrscher gehorchen müßten. Der osmanische Moralphilosoph Kinalizade (st. 1511) stellte diese Vorstellung in einem Kreis dar, in dem das letzte Wort eines Satzes zugleich das erste Wort des nächsten Satzes ist. Ermis, Ottoman Economic Thought, S. 69. Kemal, „wa shawirhum fi’l-amr“, in der Zeitung Hürriyet, 1868, S. 1-4, zit. nach Kurzman, Modernist Islam, S. 145. Deringil, „Ottoman Origins“, S. 172. Zit. nach Mardin, Genesis, S. 297. Köprülü, Vorwort zu Renan Müdafaanamesi (1962), S. 1. Er gibt fälschlich 1910 für 1326 (h.) an. Gencer, Islam’da, S. 534-535; Tansel, „Kemal, Mehmed Namık“, S. 876, zit. nach Norman, „Disputing the „Iron Circle“, S. 685, Fn. 5. Tansel, „Namık Kemal’in Midilli’ye nefyi“, S. 58-90, zit. nach Guida, „Replies to Ernest Renan“, S. 67. Siehe hierzu Ranko, Muslimbruderschaft, S. 75f.

Ataullah Bajazitov: Dialektischer Theologe des Islam in Russland 1

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Das biobibliographische Lexikon der russischen Turkologen. Zaristische Periode. Moskau, 1974. Bajazitov ist noch recht unerforscht. Im Folgenden nach von Kügelgen, Progressiver Islam, S. 937-945. Zit. nach von Kügelgen, Progressiver Islam, S. 937. Das Enzyklopädische Wörterbuch von Brockhaus und Efron (verfasst in den Jahren 1890 bis 1907): „Die Biographie Mohammeds, zusammengestellt auf Tatarisch von Bajasitov unter dem Titel »Entstehung des Islams« (1881), und ein Buch für die Grundbildung auf Tatarisch, »Dunja-Manschat« (»Leben und Licht«), sind unter den Muslimen der Mittel- und Ostgouvernements Russlands sehr beliebt.“ Mein Dank an Daniil Pospelov für die Übersetzungen der Lexika-Einträge. Zu ihm vgl. von Kügelgen, Wissenschaft.

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Bajazitov, Islam i progress, S. 92., zit. nach von Kügelgen, Progressiver Islam, S. 939. Von Kügelgen, ibid., S. 945. Seidensticker, Islamismus, S. 34. Bajazitov, Islam i progress, S. 56, zit. nach von Kügelgen, „Progressiver Islam“, S. 940; er verweist hier auf die Times vom 8. Oktober 1887.

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(K)eine unendliche Debatte 1 2 3 4 5 6 7 8

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Avenir, S. 1106, zit. nach Dörries, Prophet, S. 4. Avenir, S. 814, zit. nach Dörries, Prophet, S. 5. Avenir, S. 779, 1106, zit. nach Dörries, Prophet, S. 7. Jung, Orientalists, S. 110. King, World Maps, S. XXIII. Gouguenheim, Aristoteles, S. 168. zit. nach Schulze, Religionswissenschaft, S. 122. Weber sah den „Krieger“ als „Ideal der Religiosität“ des Islam. Weber, Wirtschaft, S. 358. Siehe hierzu auch Flores, Zivilisation, S. 126, 127. Kassir, Unglück, S. 37f. Kermani, www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de, gesehen am 28.11.2015. Mishra, Ruinen, S. 149. Er impliziert Afghani nur lose in einer Passage über den Arabischen Frühling, wo er sehr viel eher zu verorten ist. Goldziher, der Afghani in Kairo traf, scheint ähnliches festgestellt zu haben, drückt dies aber, auch er folgt der Sichtweise seiner Zeit, in verquerer Form mit „Kultur-Wahhabismus“ aus. Vor allem aber sieht er, wie die meisten älteren Orientalisten und Islamwissenschaftler, Afghani nur als Theologen, nicht als islamischen Philosophen, so wie er in Ägypten als Seniorpartner Muhammad Abduhs immer noch gesehen wird. Goldziher, Richtungen, S. 321. Die Diskussion um die „Salafiyya“ scheint dies fortzuführen, so Griffel, Salafiyya. Eisenstadt, Vielfalt, S. 174. Rudy, Subjectivity, S. 63-65 nennt die ersten beiden Strömungen “quietistisch” und „kommunitaristisch“. Welche der Richtungen sich entwickelt, hängt nach ihm davon ab, ob Sujektivität, Verwirklichung des Subjekts, möglich ist, oder zumindest eine Wahlmöglichkeit gegeben ist. Seidensticker, Islamismus, S. 26, 27. Al-Dabiq ist auch der Name des Magazins, das die Gruppe herausgibt und in dem sie ihre apokalyptischen Vorstellungen beschreibt. Man hat in der Islamwissenschaft vielfach die modernen islamischen Denker in Ägypten verortet, in der Genealogie Afghani-Abduh-Rida, und sie „Salafiyya“ genannt – nach den „rechtschaffenen Altvorderen“ (al-salaf al-sālih.), auf die man sich bezieht, wenn man zu Koran und Sunna zurück-

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geht und die lange Tradition der Gelehrten ausschaltet. Dieses Buch hat am Beispiel der Debatte von 1883 gezeigt, dass die erste Generation islamischer Denker weit über Ägypten hinausgeht (die Generation davor, wie Tahtawi, dachte weniger systematisch). Außerdem sollte man Afghani von Abduh und Rida lösen. Da der Begriff Salafiyya streng genommen keine Eigenbezeichnung war und heute irreführend ist, sollte man ihn fallen lassen. Die Salafisten beziehen sich auf die gleichen „rechtschaffenen Altvorderen“. Das Bedürfnis nach Erneuerung des Glaubens und seine Reinigung von „unerlaubten Neuerungen“ im Islam sind nicht neu, dies trat über die Zeiten immer wieder auf. Der puristische Extremismus heute ist jedoch neu in seiner Kombination von vormodernen, anti-modernen und modernen Argumentationen, seiner technischer Versiertheit und seiner Globalität.

Der Islam und die Wissenschaft 1

Der unbekannte Übersetzer hat das französische musulman zum Teil mit „muselmännisch“ (im Substantiv „Muselmann“) zum Teil mit „mahomedanisch“ übertragen. Im ersten Falle handelt es sich um eine unzureichende Übersetzung ins Deutsche, das dem Arabischen hier näher ist („Muslim/ in/e“ entspricht muslim, muslima, muslimin im Arabischen; ähnlich wie im Falle der „Ottomanen“, die im Deutschen der Originalsprache sehr viel getreuer mit „Osmanen“, „osmanisch“ wiedergegeben werden können). Im vorliegenden Text der Übersetzung ist der Wortgebrauch an diesem Punkt daher zu „muslimisch“ und „Muslimen“ angepasst worden. Auch die Orthografie wurde leicht modernisiert. (Birgit Schäbler)

Kritik 1

Der Scheik Djemmal Eddin, 1848 in Kabul geboren, stammt aus einer fürstlichen Familie. Nachdem er seine Studien in Kabul abgeschlossen, betheiligte er sich zu Gunsten des Emirs Afdal Khan an einem der häufigen Bürgerkriege seines Landes. Der Emir wurde geschlagen und Djemmal Eddin flüchtete sich nach Indien und von dort nach Konstantinopel. Der Sultan ermächtigte ihn, in der Aja Sophia und in der Moschee Achmed’s religiöse Vorträge zu halten; aber Djemmal Eddin erbitterte durch seine freisinnigen Lehren die Ulemas so sehr, dass er die türkische Hauptstadt verlassen musste. Er kam nun nach Kairo und wurde Lehrer der Philosophie bei den Zöglingen der Moschee der Ashar. Als in Egypten eine nationale und zugleich liberale Parthei auf der Scene erschien, trat Djemmal Eddin als politischer Redner auf. Er machte es sich zur Aufgabe, die Pläne

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Englands auf Egypten an’s Licht zu ziehen und vor ihnen zu warnen, was seine Verhaftung durch die egyptischen Behörden und seine gezwungene Uebersiedlung nach Indien zur Folge hatte, wo er zwei Jahre lang unter englischer Polizeiaufsicht verweilte. Djemmal Eddin lebt seit Anfang dieses Jahres in Paris, er trägt die Tracht eines Ulema. (A. d. Ü. 1883) Ob der gelehrte Afghane wohl Lessing’s „Erziehung des Menschengeschlechts“ kannte, als er obige Zeilen niederschrieb? Es ist nicht wahrscheinlich. Um so interessanter ist die Uebereinstimmung seines Gedankenganges mit demjenigen des grossen Deutschen. (A. d. Ü. 1883)

Erwiderung 1

Obige Zeilen sind am 18. Mai 1883 geschrieben worden. (A. d. Ü. 1883)

Die Verteidigung des Islam gegen Renan 1

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Dieser Paragraph stammt nicht von Namık Kemal. Er wurde von seinem Sohn 1910 bei der ersten Veröffentlichung des Buches dem Traktat vorangestellt. Ich danke Dr. Necati Alkan für die Durchsicht meiner Übersetzung aus dem Osmanischen ins Deutsche. (Fatih Ermiş) [Anmerkung Kemals:] Wir können nicht wissen, inwieweit er Hebräisch und Aramäisch beherrscht. Aber wir haben auf den nächsten Seiten viele Nachweise dafür, dass er Arabisch nicht beherrschte. [Anmerkung Kemals:] Semitische Sprachen sind diejenigen, die von den Nachkommen von Sem gesprochen werden. Das Wort, das Namık Kemal benutzt ist ecnebî, was ‚nicht-muslimische Ausländer‘ bedeutet. Man meinte damit meistens Europäer. Das Wort wurde in diesem Text als „Fremder“ übersetzt. (A.d.Ü.). [Anmerkung Kemals:] Dieses Werk besteht aus 18 Bänden. Es fängt mit dem Auftreten der osmanischen Dynastie an und endet mit dem Abkommen von Kaynarca. Obwohl das Werk viele Fehler und falsche Überlegungen beinhaltet, ist es denjenigen, die die Geschichte der Nation kennen, zur Ausweitung des Wissens zu empfehlen, weil es viele Details der inneren Angelegenheiten und besonders der internationalen Beziehungen enthält. Der hier vorliegende deutsche Text stammt aus Joseph Hammer-Purgstall, Geschichte des Osmanischen Reiches, Band 5, Pest: Hartleben, 1829, S. 657-58 (im Internet: http://www.archive.org/details/geschichtedesos08purgoog) und weicht von Namık Kemals Übersetzung ab; bei ihm fängt der letzte Satz wie folgt an: „So schreiben die Historiker des Osmanischen Reiches, dass ...“ siehe hierzu den 2. Paragraph nach diesem Zitat (A.d.Ü.).

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Das Original dieses Absatzes lautet: „Les Mahométans, adorateurs de leur faux Prophete, nous donnent une idée fort relevée de ce Livre; car ils disent qu’il a été tiré du grand Livre des Décrets divins; qu’il en fut détaché dès la création du monde, pour être mis comme en dépôt dans un des sept Cieux qui font sous le firmament, & que c’est de ce Ciel qu’il fut apporté à Mahomet, verset par verset, par Gabriel, un des Anges de la premiere Hiérarchie.“ Vgl. Barthélemy d’Herbelot de Molainville, Bibliothèque Orientale, Paris: Compagnie des Libraries, 1697, Band 1, S. 232. (A.d.Ü.). Kemal benutzt das Wort ‚millet‘ im Sinne von ‚islamischer umma‘, ‚islamischer Nation‘, und nicht mehr im ursprünglichen osmanischen Sinn einer Religionsgemeinschaft mit weitgehender innerer Autonomie. (d.Ü.) Das Wort vire bedeutet ‚Eroberung einer Burg ohne Töten und Plündern‘. Den Ruf kann man wie folgt übersetzen: „Wir verschonen euer Leben und Gut nicht, ihr Schurken aus Eğri! ihr Schurken aus Eğri!“. Eğri ist die ungarische Stadt Egri/Eger, auf Deutsch Erlau. Dies bezieht sich auf die Eroberung der Burg 1596 durch die Osmanen, als diese mit jenem alten Schlachtruf angriffen. Hammer-Purgstall geht darauf ein und übersetzt den Spruch wie folgt: „Mit euch ist unsere Übergabe nichts, Erlauer Katzen! ihr Erlauer Katzen!“; siehe Geschichte, Band 4 (Pest, 1829), S. 265-66 (online Zugang am 15.10.2010, http://www.archive.org/details/geschichtedesos07purgoog). Eine der osmanischen Quellen über die Eroberung Eğris und den Spruch ist Ibrahim Peçevi, Tarih-i Peçevi, Band 2, Istanbul: Matbaa-i Âmire, 1866), S. 194 (online Zugang am 15.10.2010, http://www.archive.org/ details/tarihipeevi02peuoft). (d.Ü.) Die hier zitierten Koranverse lauten in Gänze, nach Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2007: 1. Vers (36:38): „Desgleichen (w. und) die Sonne. Sie läuft (tagsüber) einem Ort zu, an dem sie sich (während der Nacht) aufhält. Das ist (alles) von ihm bestimmt, der mächtig ist und Bescheid weiß.“ sowie 2. Vers (78:14): „und von den Regenwolken [haben wir] Wasser in Strömen (auf die Erde) herabkommen lassen.“ (A.d.Ü.) Also die Buchreligionen Christentum und Judentum (A.d.Ü.). Der Begriff mans.uh- („abrogiert“) wird auch für Suren im Koran verwendet, die durch später offenbarte Suren „aufgehoben“ bzw. für „überholt“ erklärt werden. (A.d.Ü.) Ali, dem Schwiegersohn und Vetter des Propheten, dem vierten Kalifen, zugeschriebene Sammlung von Predigten und Briefen (A.d.Ü.). Die hier zitierten Koranverse lauten: 1. Vers (2:269): „Er gibt die Weisheit, wem er will. Und wer die Weisheit erhält, erhält (damit) viel Gutes. Aber nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen.“ und 2. Vers (31:12): „Und wir haben doch (seinerzeit) dem Luqmaan die Weisheit gegeben (indem wir ihn aufforderten): Sei Gott dankbar! Wenn einer Gott dankbar ist, ist er es zu seinem eigenen Vorteil. Und wenn einer (ihm) undankbar ist (tut das Gott keinen Abbruch). Gott ist reich (oder: auf niemand angewiesen) und des Lobes würdig.“ 3. Vers (58:11): „Ihr Gläubigen! Wenn man zu euch sagt, ihr sollt bei den Zusammenkünften (mit dem Propheten?) (für weitere Gäste) Platz machen, dann tut das, damit (auch) Gott (dereinst?) für euch Platz macht! Und wenn man (zu euch) sagt, ihr

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sollt euch erheben, dann tut das, damit (auch) Gott diejenigen von euch, die glauben, und denen das Wissen gegeben worden ist, (dereinst) hoch aufsteigen läßt! Gott ist wohl darüber unterrichtet, was ihr tut.“ 4. Vers (39:9): „Sag: Sind (etwa) diejenigen, die Bescheid wissen, denen gleich (zu setzen) die nicht Bescheid wissen?“ 5. Vers (20:114): „Herr! Lass mich an Wissen zunehmen!“ (A.d.Ü.) Vollständig: „Verlangt nach Wissen, sei es auch in China. Denn die Aneignung von Wissen ist jedem Muslim auferlegt“ findet sich in keiner der sechs sogenannten kanonischen, die glaubwürdigen Prophetenüberlieferungen tradierenden Hadithsammlungen und wird auch nicht in den Sammlungen der beiden Rechtsschulbegründer Mālik ibn Anas (St. 795) und Ah.mad ibn H.anbal (St. 855) aufgeführt. (A.d.Ü.) Der Hadith „Verlangt nach Wissen von der Wiege bis zum Grab“ ist ebenfalls nicht in den einschlägigen Hadith-Sammlungen zu finden. (A.d.Ü.) die abbasidischen Kalifen (A.d.Ü.) den es nur im Persischen gibt (A.d.Ü.) Mit Bartholomäusnacht (Saint Barthélemy) wird das Massaker der Katholiken an den Hugenotten bezeichnet, das ein Mob in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 in Paris anrichtete, unter dem Vorwand, sie hätten geplant, den König zu ermorden. Diese Massaker stellten einen grausamen Höhepunkt der französischen Religionskriege dar und fanden in den beiden darauffolgenden Monaten Nachahmer in einer ganzen Reihe französischer Städte. (A.d.Ü.) Als tawā’if werden die vielen unabhängigen arabischen Gebiete in Andalusien nach dem Untergang der Umayyaden-Dynastie bezeichnet (A.d.Ü.). Koran, 27:64. (A.d.Ü.) „Bahçeye vurdum kazmayı –– Güzeller bağlar yazmayı!“ Hier handelt es sich um ein stark gereimtes Volksgedicht (türkü). Dabei kommt es nur auf den Reim an, der Inhalt hat keinen Sinn. Kemal will damit sagen: Vielleicht klingen Renans Worte schön, aber der Inhalt ist sinnlos. (A.d.Ü.)

Eine Erwiderung auf Ernest Renans Rede 1

Bajazitov spricht von „Muslimen“ und „muslimisch“ meist, wenn er konkrete Einzelpersonen oder eine bestimmte Gruppe bezeichnet, und vom „Islam“, wenn er die normativen und historischen Institutionen der islamischen Religion und der von ihr geprägten Kultur benennt. Darüber hinaus verwendet er – wohl in Analogie zum russischen „christianstvo“ (Christentum, Christenheit) – das Abstraktum „musul’manstvo“ einerseits als Ausdruck für die Gesamtheit der Muslime und andererseits für das „Muslimsein“, das Selbstverständnis als Muslim. Um diese Differenzierung zu erhalten, wurde in runden Klammern musul‘manstvo wiedergegeben. Für die Philologen unter den Lesern wurde Bajazitovs arabische Umschrift unverändert in die gängige deutsche Umschrift der Kyrillica übernommen

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(nur das harte Zeichen (ъ) wird nicht wiedergegeben) und ist in eckigen Klammern die arabische Umschrift der entsprechenden Begriffe und Sätze nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hinzugefügt worden. Bei der Übertragung der arabischen Zitate, die Bajazitov z.T. auch im Original anführt, habe ich mich an Bajazitovs eigene Übersetzung gehalten. Ebenso wurden auch die Zitate des Renanschen Vortrages, die Bajazitov der russischen Übersetzung entnimmt, direkt aus Bajazitov übersetzt (die russische Originalübersetzung lag mir nicht vor), dessen Wortlaut, nicht aber inhaltliche Aussage, bisweilen leicht verändert erscheint. Für die genaue Überprüfung der Übersetzung und die Glättung einiger stilistischer Unebenheiten danke ich herzlichst Herrn Dr. Bahodir Sidikov (Berlin). (Anke von Kügelgen) Dieses Hadith ist in keiner der sechs sogenannten kanonischen, die glaubwürdigen Prophetenüberlieferungen tradierenden Hadithsammlungen enthalten und wird auch nicht in den Sammlungen der beiden Rechtsschulbegründer Mālik ibn Anas († 795) und Ah.mad ibn H . anbal († 855) aufgeführt. (A.d.Ü.) t.alabu l-‘ilm farīd. atun ‘alā kulli muslimin. In der Form „Suche das Wissen, auch wenn es in China wäre“ (ut.lub al-‘ilm wa-law fī S. īn) zählt dieser Ausspruch zu den am häufigsten zitierten Prophetenworten, er ist allerdings ebenfalls nicht in den einschlägigen Hadithsammlungen enthalten. Da seine inhaltliche Aussage (matn) als korrekt (s.ah.īh.) gilt wurde er in eine spätere, wichtige Hadithkollektion aufgenommen. (A.d.Ü.) Nachgewiesen bei Ibn Māğa, Muqadimma 17. (A.d.Ü.) Der jurodivyj ist im russisch-orthodoxen Christentum ein „heiliger Narr“, eine Art „Narr in Christo“. Auf eine Reihe muslimischer Mystiker treffen die ihn kennzeichnenden Charakteristika zu, und es gibt Beispiele aus Russland von „Narren in Muhammade“. (A.d.Ü.) Bajazitov weicht hier entweder stark von der russischen Übersetzung ab oder aber diese bereits vom französischen Original. (A.d.Ü.) [Anmerkung Bajazitovs:] S. 130. Dem Verstandesschluss den Vorzug vor einer Aussage der religiösen Überlieferung zu geben, die jenem widerspricht, ist die goldene Regel aller scholastischen muslimischen Theologen (mutakallimūn) seit spätestens dem 11. Jahrhundert. Der Ausweg aus dem daraus erwachsenden Dilemma war und ist die symbolische oder allegorische Exegese (ta’wīl). (A.d.Ü.) Šarafu l-‘allāma ist eine bloße Ehrenbezeichnung. (A.d.Ü.) Ih.yā’ ‘ulūm ad-dīn („Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“), so der vollständige Titel, gilt als das Hauptwerk al-Ġazālīs. (A.d.Ü.) Diese Prophetenüberlieferung entstand vermutlich in Kreisen muslimischer Neuplatoniker, buchstabengetreue Koranexegeten erachten sie als apokryph. (A.d.Ü.) [Anmerkung Bajazitovs:] In seinem Kommentar mit dem Titel Željlaluddivani šarxu akaedu azdejja, S. 18-21. [Anmerkung Bajazitovs:] Šarxu atarykai muchammjadija lil’-Chadimi, Bd. 2, S. 957. [Abū Sa’īd al-H - ādimīs († 1762) Šarh. at.-T.arīqa al-muh.ammadīya (auch: Barīqa-i mah.mūdīya fī šarh.-i T.arīqa-i muh.ammadīya betitelt) ist

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einer der zahlreichen und besonders weit verbreiteten Kommentare zur Morallehre des osmanischen Predigers Muh.ammad al-Birgivī (auch Birgili oder Birkawī genannt, † 1573).(A.d.Ü.)]

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Glossar Abälard: Petrus Abaelardus (1079-1142), bei Nantes geboren, Schlüsselfigur der Theologie und der Philosophie des 12. Jahrhunderts und einer der wichtigsten Logiker des Mittelalters. Sprach der Vernunft in Glaubensfragen eine bestimmte Rolle zu, was ihm die Feindschaft verschiedener Personen einbrachte und ihn später zu einem Helden der Aufklärung machte. Gründete außerhalb von Paris auf dem Hügel der heiligen Genovefa (SainteGeneviève) eine Schule. Abassiden: al-’Abbāsīyūn, zweite Kalifatsdynastie (nach den Umayyaden, s. Omajjaden). Die Abbasiden regierten von 750-1258 mit Herrschaftszentrum in Bagdad (danach bis 1516 symbolisch in Kairo) und standen sowohl in der Organisation des Militärs als auch der Verwaltung unter iranischem Einfluss (s. Barmekiden). Abul Abbas: Abu l-Abbas as-Saffah (Abū l-’Abbās as-Saffāh., reg. 749-54), erster Kalif (s. Kalifen) der Abbasiden. Wurde 749 in Kufa (Irak) zum Kalifen ernannt und vervollständigte den Sieg der Abbasiden über die Umayyaden (s. Omajjaden). Starb 754 in al-Anbar nahe Bagdad. Abulfaradj: Gregorius Abu l-Faradsch Ibn al-Ibri (Abū l-Farağ b. al-’Ibrī) oder Barhebraeus (1225/26-1286), bedeutendster Gelehrter der syrisch-orthodoxen Kirche. Sein Hauptwerk ist eine Weltgeschichte mit dem Titel Geschichte der Dynastien, die er auf Wunsch von muslimischen Freunden geschrieben haben soll. Starb von Muslimen und Christen hochrespektiert in Maragha im heutigen Iran. Albateni: Muhammad Ibn Dschabir al-Battani (Muh.ammad b. Ğābir al-Battānī, vor 858-929), einer der bedeutendsten arabischen Astronomen, höchstwahrscheinlich in Harran geboren. Sein Hauptwerk Astronomisches Lehr- und Tafelwerk (Kitāb azZīğ) hat während des Mittelalters und der Renaissance auch die Entwicklung der Astronomie und der sphärischen Trigonometrie

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in Europa wesentlich beeinflusst. Es wurde auch von Galilei und Kopernikus rezipiert. Albert der Grosse: Albertus Magnus (um 1193-1280), erster großer deutscher Philosoph, Naturforscher und Dominikanermönch. Hat sich u.a. unermüdlich darum bemüht, Europa mit den Schriften des Aristoteles vertraut zu machen, dies auch mithilfe der ins Lateinische übersetzten arabischen Aristoteles-Kommentare. Alfarabi: Abu Nasr al-Farabi (Abū Nas.r al-Fārābī, um 870-950), einer der wichtigsten arabischsprachigen Philosophen des Mittelalters. Erhielt wegen seiner wichtigen Kommentare und eigenen Werke zu Aristoteles den Beinamen „der zweite Lehrer“ (der zweite Lehrer nach Aristoteles). Seine Texte wurden im 12. Jahrhundert in Toledo (Spanien) ins Lateinische übersetzt und entfalteten so ihre Wirkung in Europa. Aliden: Nachkommen des vierten rechtgeleiteten Kalifen und ersten schiitischen (s. schiitisch) Imam (s. Imans) ‘Alī b. Abī T.ālib. Um die Aliden bildete sich eine Vielzahl religiöser Gruppierungen, die v.a. während der frühen Abbasidenzeit (s. Abbasiden) gegen die Herrschaft der Kalifen revoltierten und von diesen verfolgt wurden. Gründeten in Spanien, Nordafrika und Persien sowie auf der Arabischen Halbinsel eine Vielzahl regionaler Dynastien. Alkindi: Abu Yaqub al-Kindi (Abū Ya’qūb al-Kindī, um 800870). Weil er den entscheidenden Beitrag zur Begründung der Philosophie in arabischer Sprache leistete, wurde er bereits von seinen Zeitgenossen „der Philosoph der Araber“ genannt. Sein Hauptwerk war eines über Metaphysik (Fī l-Falsafa al-ūlā, dt. Über die Erste Philosophie). Seine Schrift Über den Intellekt (Fī l-‘Aql), die sich mit Aristoteles’ Über die Seele beschäftigt, stiess auch im europäischen Mittelalter auf großes Interesse. Almosenier: hier: Empfänger eines Stipendiums (auch: Almosens). Attila: der König der Hunnen (406-53, reg. 434-53), errichtete zwischen Rhein und Kaspischem Meer ein kurzlebiges Reich. We-

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gen der Brutalität seiner Eroberungszüge erhielt er den Spitznamen „Geißel Gottes“. Avensoar: Abu Marwan Ibn Zuhr (Abū Marwān b. Zuhr, gest. 1161) oder Avenzoar, in Sevilla (Spanien) geborener arabischer Arzt. Für die europäische Medizin war sein Werk Praktisches Manual über die Therapien und Diäten (at-Taysīr fī-l-mudāwāt wat-tadbīr) wichtig. Er beschrieb darin neben vielem anderen als erster Abszesse im Herzbeutel (perikardiale Abszesse). Averroës: Abu l-Walid Ibn Ruschd (Abū l-Walīd b. Rušd, 11261198) oder Averroes. Der in Cordoba (s. Cordova) geborene Philosoph, Jurist und Arzt wurde im europäischen Mittelalter v.a. wegen seiner Aristoteleskommentare bekannt und hoch geschätzt. In seiner Schrift Die entscheidende Abhandlung (Fas.l al-maqāl) kommt er zum Schluss, dass das islamische Religionsgesetz (die Scharia) es jenen, die dazu fähig sind, zur Pflicht macht, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Zudem sei es erlaubt, bestimmte Koranverse allegorisch, d.h. sinnbildlich und nicht nur wortwörtlich zu deuten. Avicenna: Abu Ali Ibn Sina (Abū ‘Alī b. Sīnā, um 980-1037) oder Avicenna, in der Nähe von Buchara (s. Bokhara) geboren, war Philosoph und Mediziner. Begründete eine neue Metaphysik, die auch im lateinischen Europa auf großes Interesse stiess. In ihr unterschied er zwischen zwei Seinsbereichen: einem notwendig an sich Seienden (Gott), in dem Essenz und Existenz zusammenfallen, und den möglich-seienden, bedingt-notwendigen Geschöpfen. In seinem fünfbändigen Kanon der Medizin (Qānūn fī t. -t. ibb) systematisierte er das gesamte zu seiner Zeit vorhandene medizinische Wissen. Das Werk war auch in Europa bis ins 17. Jahrhundert an allen Universitäten eine der wichtigsten Grundlagen des Medizinstudiums. Bacon, Francis: 1561-1626, englischer Staatsmann und Naturphilosoph. In der Frühen Neuzeit einer der bedeutendsten Propagatoren der empirischen und auf Experimenten beruhenden Wissenschaften, als deren Ziel er die Beherrschung der Natur zum Wohle der Gesellschaft sah.

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Bacon, Roger: englischer Naturphilosoph, Theologe und Mitglied des Franziskanerordens (um 1215-1292). Förderte u.a. die Reform der naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden. Barmekiden: al-Barāmika, eine aus dem heutigen Afghanistan (nahe der Stadt Balch) stammende Familie, deren Mitglieder während der frühen Abbasidenzeit (s. Abbasiden) am Kalifenhof wichtige Sekretärs- und Ministerposten innehatten. Ursprünglich wahrscheinlich Buddhisten (und nicht wie Renan meint Zoroastrier, s. Parsi u. Gebers), konvertierte Chalid Ibn Barmak (H - alīd b. Barmak, gest. 781/82) als erster der Familie zum Islam. Er stand bereits im Dienste von Abū l-’Abbās as-Saffāh. (s. Abul Abbas). al-Birgivi: (auch Birgili oder Birkawī genannt, gest. 1573), osmanischer Prediger aus Birgi (Großraum Izmir), verfasste arabische Grammatik-Lehrwerke für die osmanischen medresen; bekannt für seine puritanisch-strenge Haltung im Islam war er ein Kritiker des Scheichül-Islam Abu al-Su‘ud Efendi. Berber: Sammelbegriff für die autochthone Bevölkerung Nordafrikas zwischen Nil und Atlantik. Seit der Eroberung Nordafrikas durch die arabischen Heere im 7./8. Jh. gründeten verschiedene Berberstämme eigene Dynastien und widersetzten sich der Herrschaft der Kalifen in Damaskus und Bagdad. Zwei der bekanntesten Berberreiche waren jenes der Almoraviden (1056-1147) und jenes der Almohaden (1130-1269). Am Hof der Almohaden wirkte auch Ibn Rušd (s. Averroës). Bessarion: byzantinischer Theologe und Humanist (1403-1472). Förderte in Italien das Studium der griechischen Sprache und Literatur und setzte sich seit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen erfolglos für einen Kreuzzug gegen diese ein. Bokhara: Buchara, bis ins 19. Jahrhundert bedeutendes islamisches Kulturzentrum in Zentralasien. Heute im Staat Usbekistan gelegen. Budé: Guillaume Budé (1467-1540), französischer Humanist. Bedeutender Gelehrter, der in Frankreich das Studium der griechi-

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schen Sprache und Literatur förderte. Auch Gründer des Collège des lectures royaux, dem späteren Collège de France. Chiali: wahrscheinlich ist Mūsā al-H - ayālī al-Iznīqī (gest. 1458) gemeint, der eine H.āšiya (“Glosse“ bzw. „Superkommentar“) zu dem höchst verbreiteten und viel an Medresen unterrichteten Kommentar des „hochgelehrten“ (allāma) Sa’daddīn at-Taftazānī (st. 1389) zur Dogmenlehre al-‘Aqā’id von Nağmaddīn Abū H . afs. an-Nasafī (gest. 1142) verfasste. Cordova: Cordoba (sp. Córdoba, arab. Qurt.uba), Stadt in Andalusien (Spanien), bis 1031 Herrschaftssitz der Umayyaden (s. Omajjaden), nachdem sie von den Abbasiden aus Damaskus vertrieben worden waren. Eines der bedeutendsten islamischen Kulturzentren, in dem eine Vielzahl von Gelehrten aller drei großen monotheistischen Religionen (s. Monotheismus) wirkte, bis die christliche Rückeroberung (Reconquista) durch Ferdinand III. von Kastilien der Blüte der Stadt 1236 ein jähes Ende setzte. Davvani, Željal’: Ğalāl ad-Dīn Daw(w)ānī (gest. 1502), schrieb Šarh. al-‘Aqā’id al-’Ad.udīya, einen affirmativen Kommentar der Dogmenlehre des aš‘aritischen Theologen ’Ad.ud ad-Dīn al-Īğī (gest. 1355). Dozy: Reinhart P. Dozy (1820-1883), bedeutender Orientalist, geboren im holländischen Leiden. Bekannt v.a. für seine 1861 erschienene vierbändige Geschichte des muslimischen Spaniens mit dem Titel Histoire des Musulmans d’Espagne. Dschingis-Khan: Dschingis Khan (gest. 1227) gründete unter der Devise „Nur eine Sonne am Himmel, nur ein Herrscher auf Erden“ das mongolische Großreich, das sich zur Zeit seiner größten Ausdehnung über ganz Asien, von Korea bis nach Ungarn erstreckte – Indien und Südost-Asien ausgenommen. Die Mongolenstürme hatten für viele der eroberten Gebiete katastrophale Auswirkungen. Dschingis Khans Enkel Hülegü (gest. 1265) eroberte 1258 Bagdad und setzte dort der Herrschaft der Abbasiden ein Ende.

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Epopöen (sg. Epopöe): veraltet für Epen (sg. Epos). Farmassun: Freimaurer. Vereinigungen von Männern, die sich seit dem frühen 18. Jh. in Europa zu sog. Logen zusammenschlossen, um humanitäre Ideale zu pflegen. Europäer brachten die Freimaurerei im 18. Jh. auch in den islamischen Orient, wo die Logen wie auch in Europa immer wieder verboten wurden, da von ihnen subversive und gar revolutionäre Aktivitäten ausgingen. Ihre säkulare Ausrichtung missfiel zudem den religiösen Autoritäten. Filusuf: faylasūf (pl. falāsifa) bedeutet auf Arabisch „Philosoph“ im Allgemeinen. Je nach Kontext fallen unter den Begriff im engeren Sinne auch nur die antiken griechischen Philosophen oder aber jene muslimischen Denker, die sich ausführlich mit diesen befassten (wie z.B. Ibn Rušd, s. Averroës). Schließlich können damit auch Theologen (s. Motecallenim) gemeint sein, die der menschlichen Vernunft eine bestimmte Rolle bei der Auslegung des Korans beimaßen. Für orthodoxe Religionsgelehrte war faylasūf auch ein Schimpfwort. Gebers (sg. Geber): Als gabr wird in der persischen Literatur, meist in abschätziger Weise, ein Zoroastrier bezeichnet. Oft bedeutet der Begriff auch einfach „Ungläubiger“. Der Zoroastrismus ist eine auf Zarathustra zurückgehende, vor mind. 2600 Jahren gegründete iranische Religion. Geber: auch: Abū Mūsa Jābir ibn Hayyān, als Vater der Chemie bezeichneter muslimischer Gelehrter. Gerbert: Gerbert d’Aurillac (um 945-1003), ab 999 Papst Silvester II. Erhielt einen Teil seiner Ausbildung in Spanien, wo er wahrscheinlich mithilfe arabischer Texte die Mathematik studierte. Ihm wird die Überlieferung wichtiger Elemente der arabischen Wissenschaften (etwa im Bereich der Astronomie) wie auch des Abakus (ein Rechenbrett) nach Westeuropa zugeschrieben. Ghassanische Christen: Die Ghassaniden waren ein arabischer Stammesverband, in der Spätantike wichtiger Verbündeter OstRoms; siedelten im Ostjordanland, monophysitische Christen.

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Ghazali, Abū H . āmid: Muh.ammad al-Ġazālī (gest. 1111) integrierte die aristotelische Logik erfolgreich in die islamische Theologie (‘ilm al-kalām), wenngleich sein Verhältnis zur Philosophie auch gespalten blieb. al-Gupāmū’ī, Muh.ammad Mubārak ibn Muh.ammad Dā’im alFārūqī (gest. 1748): Kadi, dessen H.āšiya („Glosse“ bzw. „Superkommentar“) zu den Sullam al-‘ulūm von Muh.iballāh bin ‘Abdaššakūr al-Bihārī (gest. 1707) in Indien zu den Standardwerken der Logik zählte. Harran: Stadt in der heutigen türkischen Provinz Şanlıurfa in Nordmesopotamien, in der während der Abbasidenzeit (s. Abbasiden) wichtige Werke der Mathematik und Astronomie ins Arabische übersetzt wurden. Geburtsort u.a. des bekannten Astronomen al-Battānī (s. Albateni), der dort auch wirkte, sowie des Gelehrten Ibn Taymiyya (1263-1328). Harranier: Einwohner der Stadt Harran. Harun al Raschid: H . arūn ar-Rašīd, fünfter Kalif (s. Kalifen) der Abbasiden (reg. 786-809) und in den Märchen von 1001 Nacht idealisierte Herrscherfigur. Seine Herrschaftszeit war von vielen politischen Unruhen geprägt und markierte den Beginn des politischen Zerfalls des islamischen Reiches. Hedschas: al-Hiğāz, nordwestlicher Teil der Arabischen Halbinsel, in dem sich die beiden für Muslime heiligen Städte Mekka und Medina befinden. Hellenisten: hier: Gelehrte, die sich mit der griechischen Literatur, Geschichte und Kultur beschäftigen. D’Herbelot, Barthélemy de Moulainville (1692-1695): schuf die Bibliothèque orientale oder Dictionnaire universel contenant tout ce qui regarde la connoissance des peuples de l‘Orient, das bedeutendste Nachschlagewerk der orientalischen Studien des 18. Jahrhunderts, das 1697 bei Galland erschien. Ibn-Badja: Ibn Baddscha (Ibn Bāğğa, gest. 1138 oder 1139), bei Saragossa (Spanien) geboren, gilt als Begründer der arabischen

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Philosophie im muslimischen Spanien, war aber auch Poet, Musiker und Komponist von Volksliedern. Da ihm wichtige Schriften wie jene von Avicenna noch nicht bekannt waren, orientierte er sich an den Fragestellungen von Philosophen des 10. Jahrhunderts wie z.B. jenen al-Fārābīs (s. Alfarabi). Ibn-Khaldun: (Ibn H - aldūn, 1332-1406), in Tunis geborener Historiker, Geschichts- und Sozialphilosoph, zudem Rechtsgelehrter und Staatsmann. Eine der bekanntesten Figuren der muslimischen Geistesgeschichte. Verfasser einer Universalgeschichte, in deren mehrbändigem Vorwort (Muqaddima) er sich theoretische Überlegungen zu Entstehung und Verfall von Herrschaft nachte. Wird immer wieder auch in Europa als Pionier der modernen Geschichts- und Sozialwissenschaften genannt. Ibn-Tofail: Abu Bakr Ibn Tufayl (Abū Bakr b. T.ufayl, gest. 1184), in Granada (Spanien) geborener Arzt, Staatsmann und Philosoph. In seinem philosophischen Roman Der Lebende, Sohn des Wachenden (H.ayy b. Yaqz. ān) gelangt der einsam auf einer Insel lebende H.ayy b. Yaqz. ān durch Beobachtung seiner Umwelt, also ohne die Hilfe eines Propheten oder Lehrers, zu fast den selben Erkenntnissen wie das Volk einer anderen Insel, das H.ayy im Alter von 50 Jahren trifft. Während H.ayy die Wahrheit jedoch unverhüllt erkannte, erhielt das Volk diese durch einen Propheten symbolisch offenbart. Ikhwan es-safa: Ikhwan as-Safa (Ih-wān as.-s.afā’) oder „Die lauteren Brüder“. Autorenkollektiv aus Basra (Irak), das im 10. Jahrhundert eine Enzyklopädie mit dem Ziel verfasst hat, den Leser in alle Gebiete der Philosophie (inkl. der Naturwissenschaften und der Theologie) einzuführen. Wie genau das immense Werk mit dem Titel Die Schriften der lauteren Brüder (Rasā’il Ih - wān as.-s.afā’) historisch einzuordnen ist, ist umstritten. Das Werk hatte eine didaktische Funktion, scheint aber auch die wahrscheinlich ismā’īlitischen (s. Ismaeliten), persönlichen Sichtweisen der Autoren propagieren zu wollen. Imans: Imam, pl. Imame (arab. imām, pl. a’imma), hier: Vorbeter beim Gemeinschaftsgebet. Auch Ehrentitel für Gelehrte. Ebenso

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wird der Leiter der muslimischen Gemeinschaft als Imam bezeichnet, weshalb Imam oft als Synonym von Kalif (s. Kalifen) verwendet wird. Für die Schiiten (s. schiitisch) ist der Imam als legitimer Nachfolger des Propheten der rechtmäßige, unfehlbare Führer ihrer Gemeinschaft. Er steht dem Propheten nur insofern nach, als dass er keine Offenbarung erhalten hat. Ismaeliten: Anhänger der Ismā’īlīya, einem Zweig der Schia (s. schiitisch), auch Siebener-Schiiten genannt. Im Gegensatz zu den Zwölferschiiten gehen sie davon aus, dass der Sohn des sechsten Imams (s. Imans), Ğa’far as.-S.ādiq (gest. 765), namens Ismā’īl der siebte Imam der Schiiten sei. Sie glauben, dass Ismā’īl nicht tot ist, sondern in der Verborgenheit (ġayba) lebt und erwarten seine Wiederkunft als Mahdi, als Erlöser der Menschheit, am Ende der Zeit. Die Ismā’īlīya spaltete sich im Verlauf der Geschichte wiederum in verschiedene Gruppierungen auf. Kadi: qād.ī (pl. qud.ā’), arabisch für „Richter“, v.a. Richter nach islamischem Recht. Kairoan: al-Qairawān, Stadt im heutigen Tunesien, gut 50 km von der Hauptstadt Tunis entfernt. Kalām: Dialektische (oder auch: scholastische) Theologie des Islam. Kalifen: Kalif (pl. Kalifen; arab. h - alīfa, pl. h - ulafā’) bezeichnet den Nachfolger des Propheten Muh.ammad nach seinem Tod. Da Muh.ammad selber keinen Nachfolger bestimmt hatte, wurde er zu Beginn durch den Konsens der Ältesten bestimmt. Später wurde das Kalifat zu einem dynastisch vererbbaren Amt. Konflikte um die Bestimmung des Kalifen waren in der islamischen Frühgeschichte verantwortlich für die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten (s. schiitisch). Erstere akzeptieren die „vier rechtgeleiteten Kalifen“ und frühen Prophetengefährten Abū Bakr, ‘Umar (s. Omar), Ut-mān und ‘Alī als die rechtmäßigen Nachfolger, letztere machten das Recht der Familie des Propheten auf das Amt geltend. Die Kalifen hatten im Verlauf der Geschichte höchst unterschiedliche Funktionen und unterschiedlich viel Macht. 1924

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wurde das Amt durch ein Gesetz von der türkischen Nationalversammlung abgeschafft. Karolinger: fränkische Adelsfamilie, die in Westeuropa von 750987 regierte. Der bekannteste Karolinger war Karl der Grosse (um 742-814). Khalifen s. Kalifen. Khosroes Anuschirwan: Chosrau I. (gest. 578), genannt Anuschirwan („der mit der unsterblichen Seele“), Großkörnig des Sassanidenreichs (s. Sassaniden). Er wurde als Literaturliebhaber und Leser griechischer Philosophie (v.a. Platons) bekannt. Seine Herrschaftszeit war von Toleranz und wissenschaftlicher, literarischer und architektonischer Blüte geprägt. Kjurra, Abul-Chassan-Bek: Abū l-H.asan T-ābit ibn Qurra (um 826-901 n. Chr.), bekannter Mathematiker und Astronom, der lange in Bagdad wirkte. Konstantin der Afrikaner: Constantinus Africanus (gest. 1087), arabischer Name unbekannt, geboren im heutigen Tunesien. Mit seinen Übersetzungen arabischer und ursprünglich griechischer Medizinbücher ins Lateinische hat der Laienbruder des Benediktinerordens als erster Europa mit der arabischen Medizin in Kontakt gebracht. Seine Ankunft in Salerno (Italien) um 1075 hat die dort ansässige bekannte Medizinschule zur Blüte gebracht und die Medizin in Europa neu belebt. Laskaris: byzantinische Adelsfamilie, die eine Reihe wichtiger Humanisten hervorbracht hat, so etwa Constatin Laskaris (14341501). In Konstantinopel geboren, unterrichtete er in Italien Griechisch, so etwa seit 1468 in Messina, wo ihm Bessarion zu einem Lehrstuhl verhalf. Layard: Sir Austen Henry Layard (1817-1894), ursprünglich Anwalt, machte sich als Pionier der britischen Archäologie u.a. durch seine Ausgrabungen in Ninive (heute innerhalb der Stadt Mosul im Irak gelegen), der letzten Hauptstadt des assyrischen

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Reiches einen Namen. Als britischer Botschafter in Istanbul (1877-1880) unterstützte er Beaconfields (Benjamin Disraelis) expansive Orientpolitik. Lefèvre d’Etaples: Jacques Lefèvre d’Etaples (um 1460-1536), französischer Humanist, Bibelübersetzer und -kommentator. Edierte, kommentierte und übersetzte während seiner Lehrtätigkeit am Collège du Cardinal Lemoine (Paris) Werke des Aristoteles. Mamun: al-Ma’mūn, Kalif (s. Kalifen) der Abbasiden (reg. 813833). Gründete in Bagdad das Haus der Weisheit (bayt al-h.ikma) als Zentrum zur Übersetzung der griechischen Schriften ins Arabische und legte somit den Grundstein für die eigenständigen außergewöhnlichen Leistungen arabischer Denker im Bereich der Philosophie und der Naturwissenschaften. Förderte die Mu‘tazila (s. Motaselismus). Mansur: Abu Dschafar al-Mansur (Abū Ğa’far al-Mans.ūr, reg. 754-775), zweiter Kalif der Abbasiden, Nachfolger und Bruder von Abu l-Abbas as-Saffah (s. Abul Abbas). Gründete 762 Bagdad, das am Ende seiner Herrschaft eine blühende Metropole war, und konsolidierte die Herrschaft der Abbasiden. Monotheismus: Eingottglaube. Dass es nur einen einzigen, allumfassenden Gott gibt, ist die zentrale Lehre des Korans. Zu den großen monotheistischen Religionen gehören neben dem Islam das Judentum und das Christentum. Dagegen glauben Polytheisten wie die alten Griechen an die Existenz mehrerer Götter. Motaselismus: Mu‘tazila, eine im 8. Jh. in Basra (Irak) entstandene, sehr einflussreiche theologische Schule, die von der griechischen Philosophie beeinflusst war. Eine ihrer Hauptlehren war die Erschaffenheit und somit Nicht-Ewigkeit des Korans als Wort Gottes. Der Kalif al-Ma’mūn (s. Mamun) erhob diese Erschaffenheits-Lehre zum offiziellen Glaubenssatz, zu dem sich alle Gelehrten seiner Zeit unter Androhung von Strafe bekennen mussten. Er blieb bei der Durchsetzung der Erschaffenheits-Lehre aber wenig erfolgreich.

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Motecallenim: Die mutakallimūn (sg. mutakallim) sind jene Gelehrten, die sich mit der ‘ilm al-kalām, wörtl. der „Wissenschaft von der Rede, dem Disput“, beschäftigen. Gemeint sind die Theologen, also jene, die sich in argumentierender Weise über Gott und die göttlichen Dinge unterhalten und die Lehren des Islams verteidigten. Al-Mutazid: Abbasidischer Kalif, al-Mu’tad.id bi-Llāh (reg. 891902), ist weniger als Mäzen der Wissenschaften als vielmehr durch geschickte Militärführung in die Annalen eingegangen. nestorianische Christen, Nestorianer: Nach Nestorius, dem Patriarchen von Konstantinopel (428-31) benannte christliche Glaubensgemeinschaft, auch „Ostsyrer“ genannt. Sie wurden aufgrund ihrer Sichtweise der Doppelnatur Jesus Christus seit 431 aus dem römischen Reichsgebiet vertrieben. An den Höfen der Abbasidenkalifen (s. Abbasiden und Kalifen) waren sie als begabte Administratoren und Kenner der Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie willkommen. Auch als Übersetzer griechischer Werke zuerst ins Syro-Aramäische und dann ins Arabische waren sie (etwa im Haus der Weisheit von Mamun) unabkömmlich. Nubier: hier: Einwohner Nubiens, des Gebiets im südlichen Ägypten und nördlichen Sudan. Nubien wurde im 6. Jh. christianisiert und während der Herrschaft der Mamluken ab dem 13. Jh. islamisiert. Omajjaden: al-’Umawīyūn, erste Kalifatsdynastie (vor den Abbasiden). Ihre Mitglieder regierten 661-750, bis sie von den Abbasiden besiegt wurden, in Damaskus. Danach hatten sie 756-1031 ihren Herrschaftssitz in Cordoba (s. Cordova), wo sie seit 929 wieder den Kalifentitel trugen. Omar, Umar: Umar Ibn al-Khattab (‘Umar b. al-H - at.t.āb, reg. 634644) war der zweite der vier rechtgeleiteten Kalifen. Eine der großen Figuren der islamischen Frühgeschichte und bekannt für seine Frömmigkeit. Gilt auch als Begründer des islamischen Weltreiches, da er die Expansion desselben wesentlich vorantrieb.

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Parsi: Zoroastrier (s. Gebers), die seit dem 10. Jahrhundert nach Indien auswanderten. peripatetische Philosophie: Bezeichnung für die Philosophie, die in der Tradition des Aristoteles steht; aristotelische Philosophie. Philipp II.: Philipp II. von Spanien (1527-1598), u.a. seit 1556 König von Spanien. Unterdrückte den Protestantismus im eigenen Land und bekämpfte ihn im Rest Europas. Schlug 1568 einen Aufstand der nur nominell zum Katholizismus konvertierten arabischen Bevölkerung von Granada nieder und ließ sie per Dekret deportieren. Er verdächtigte die Araber, mit dem osmanischen Sultan zu kollaborieren. Mitglied der Heiligen Liga von Pius V. Pietisten: hier: Jene, die sich für außergewöhnlich starke religiöse Hingabe, Frömmigkeit und Sittlichkeit einsetzen. Der Begriff Pietismus geht auf eine Erneuerungsbewegung innerhalb des Protestantismus zurück, die seit dem 17. Jh. auf eine Verinnerlichung und Individualisierung des Glaubens abzielte. Pius V.: 1504-1572, seit 1566 bis zu seinem Tod Papst, feuriger Verfechter der Inquisition, bekannt für seine Judenfeindlichkeit. Tat alles, um im Süden Europas die Muslime, im Norden die Protestanten zu bekämpfen. Regte 1571 die Gründung der Heiligen Liga mit dem Ziel an, die osmanische Präsenz im Mittelmeer zurückzudrängen und das Christentum gegen den Islam zu verteidigen. Der Liga gehörte auch das Spanien Philipps II. an. puritanisch: Auf den Islam übertragen werden Gruppierungen als puritanisch bezeichnet, die sich für eine besonders rigide Durchsetzung islamischer Normen im Alltag einsetzen und den Islam von allem „Unislamischen“ gereinigt sehen wollen. Ursprünglich war der Puritanismus eine Bewegung innerhalb des calvinistischen Protestantismus, die alle Überreste des Katholizismus ablehnte und ausgesprochen sittenstreng war. Rationalismus: Sichtweise, dass der Vernunft beim Erlangen von Wissen eine primäre oder gar ausschließliche Rolle beizumessen

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ist. Demnach kann man alleine durch Nachdenken Erkenntnisse über die Welt gewinnen. Dagegen geht der Empirismus davon aus, dass Wissen nur durch sinnliche Erfahrung erlangt werden kann. Raymond, Erzbischof: Raimund von Toledo, Geburtsdatum unbekannt, war von 1125/26-1151/52 Erzbischof von Toledo. Förderte Gelehrte wie Gerhard von Cremona (gest. 1187), die Werke von Philosophen und Naturwissenschaftlern, speziell des Aristoteles, aus dem Arabischen über das Kastilische ins Lateinische übersetzten. Rifaa, Scheik: Rifaa Raafi at-Tahtawi (Rifā’a Rāfi’ at.-T.aht.āwī, 1801-73), einer der wichtigsten arabischen Intellektuellen seiner Zeit. Geboren in Ägypten, schickte ihn der dortige Herrscher Muhammad Ali 1826 auf eine Studienmission nach Paris, wo er Französisch lernte, um europäische Werke der Geschichte, Geografie, Philosophie und Literatur lesen zu können. Er schilderte seine Erlebnisse in seinem berühmten Reisebericht mit dem Titel Tah-līs. al-ibrīz ilā talh - īs. Bārīz. Zurück in Ägypten betreute er als Direktor der neu gegründeten Schule der Sprachen (Dār al-alsun) u.a. die Übersetzung wichtiger europäischer Werke verschiedener Wissensgebiete ins Arabische. Samarkand: Stadt in Zentralasien, heute im Staat Usbekistan gelegen. Erlebte v.a. während der Zeit der Samaniden im 10. Jh. und als Timur Lang (gest. 1405) Samarkand zur Hauptstadt seines Reichs machte Zeiten der intellektuellen und architektonischen Blüte. Sassaniden: Letzte vor-islamische persische Dynastie (224-650), deren Großreich sich bis zur Eroberung durch die arabischen Heere über weite Teile Westasiens erstreckte. Syabyaki: Vermutlich Tağ ad-Dīn Abū Nas.r ibn Taqī ad-Dīn asSubkī (d. 771/1370), der sich gegen traditionalistisch-buchstäbliche Koranauslegungen zur Wehr setzte und für eine in der Logik fundierte rationale Exegese aš‘aritischer Prägung eintrat.

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schiitisch, Schiiten: Die Spaltung der Muslime in Schiiten und Sunniten geht auf politische Differenzen in der islamischen Frühgeschichte zurück. Die Schiiten sind jene Muslime, die den Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muh. ammad namens ‘Alī b. Abī T.ālib (gest. 661) und seine Nachkommen als einzige legitime Nachfolger (h - alīfa, s. Kalifen u. Imans) des Propheten anerkennen. Dagegen akzeptiert die Mehrheit der Muslime (die später als Sunniten bezeichnet wurden) die „vier rechtgeleiteten Kalifen“ Abū Bakr, ‘Umar (s. Omar), Ut-mān und ‘Alī als die rechtmäßigen Nachfolger. Die „Partei ‘Alīs“ (šī’at ‘Alī oder Schia) spaltete sich im Verlauf der Geschichte in weitere Gruppierungen auf (s. Ismailiten). Der Großteil der Schiiten (die Zwölferschiiten) anerkennt eine Kette von 12 Imamen (s. Imans), von denen der erste ‘Alī war und der zwölfte namens Muh. ammad al-Mahdī nicht gestorben ist, sondern in der Verborgenheit (ġayba) lebt und am Ende der Zeit als Erlöser wiederkehrt. Die ursprünglich politischen Differenzen zwischen Schia und Sunna schlugen sich später auch in dogmatischen und rechtlichen Divergenzen nieder. Scholastiker: Denker der Scholastik. Scholastik ist ein Sammelbegriff für die europäisch-mittelalterlichen, philosophisch-theologischen Methoden und Lehr- und Denkweisen. Spinoza: Baruch de Spinoza (1632-77), niederländischer Philosoph, einer der wichtigsten der frühen Moderne. tartarisch: Als „Tataren“ oder „Tartaren“ wurden seit dem 8. Jh. verschiedene Stämme und Völker aus Zentralasien bezeichnet. Tscherkessen: ethnische Gruppe, die bis zur russischen Expansion im 19. Jh. v.a. im Nordwest-Kaukasus lebte, danach v.a. in der Türkei. Nahmen zwischen dem 16. und 18. Jh. den Islam an. Ulug Beg (1394-1449): Berühmter Astronom und Mathematiker, Enkelkind Timurs und Herrscher des Timuridenreiches. Er ließ in Samarqand ein Observatorium bauen und verfasste Zīğ-i Sultānī, eine astronomische Abhandlung mit umfangreichem

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Sternenkatalog. Er entwickelte in diesem Buch auch trigonometrische Tabellen. Zendik: zindīq (pl. zanādiqa), ein Lehnwort aus dem Persischen, heißt im Arabischen in seiner genauen Bedeutung „Manichäer“, öfter aber „Ungläubiger“, „Ketzer“ oder „Abtrünniger“.

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Danksagung Dieses Buch ist Teil eines größeren Projekts und wendet sich an eine allgemeine Leserschaft. Fachfragen wurden deshalb weitgehend in die Anmerkungen verwiesen. Ich konnte einzelne Aspekte davon am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt diskutieren, am Zentrum für Nah-Ost-Studien der Universität Lund, am Simon-Dubnow-Institut Leipzig und am Orient Institut, Beirut. Ich danke allen, auch meinen Studierenden in Seminaren, für Kommentare und Anregungen, meinem Kollegen Christoph Bultmann für protestantisch-theologische Diskussionen und Philipp Lehmann für Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Diethard Sawicki hat es behutsam begleitet. Michael Frey hat die Einträge des Glossars zu den Texten von Renan und Afghani übernommen, Fatih Ermiş die zu Kemal und Anke von Kügelgen diejenigen zu Bajazitov. Verbleibende Einträge stammen von mir.

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Editorisch-bibliographische Notiz Den Übersetzungen der Debattenbeiträge in diesem Buch liegen folgende Textausgaben zugrunde: Ernest Renan: Der Islam und die Wissenschaft. Vortrag gehalten in der Sorbonne am 29. März 1883 von E.R. Kritik dieses Vortrags vom Afghanen Scheik Djemmal Eddin und Ernest Renan’s Erwiderung. Autorisirte Übersetzung, Basel: M. Bernheim 1883 Namık Kemal: Renan Müdafaanamesi, Istanbul: Mahmut Bey Matbaası, 1326 [1908] Ataulla Bajazitov: Vozraženie na reč‘ Ėrnesta Renana, skazannoe v Naučnoj francuzskoj associacii (Objections au discours d’Ernest Renan), Sankt Petersburg 1883 Die Texte wurden leserfreundlich erarbeitet. Deshalb finden sich im Text vereinfachte Umschriften von Namen. Transkribierungen finden sich nur vereinzelt, sowie in den Anmerkungen und im Glossar.

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Literatur

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Literatur

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Begriffsregister Abrogation 103 Abbasiden 59, 83, 102, 180ff., 197, 249ff. Abendland 11, 23, 40, 44, 60, 62, 82, 135, 140, 141f., 145, 151, 154ff., 179, 196, 215, Académie française 7, 22, 169 Achsenzeit 15, 231, 270 ‘aql (Verstand) 227 Aliden 145, 250 ‘amma (Volk) 70 antisemitisch, Antisemitismus 16, 232, 269 Arabischer Frühling 78, 128, 241 Area History 15, 232, 275 Arier 24, 29, 128 Atheismus 70, 91, 197, Azhar Universität 61, 87, 111, 237 bai’a (Treueid) 99f. Barmakiden (Barmekiden) 137, 181, 183, 249, 252 ba‘th (Wiedergeburt) 124 Beduinen 29, 38, 41f.,180, 234 Bektaschi-Orden 93, 96 Berber 59, 134, 144, 178, 194, 252 bid’a (unerlaubte Neuerung) 30 Buyyiden 214 Byzantiner 60, 140 Chaldäer, chaldäisch 22, 77 Christentum 12, 26, 37, 49, 56, 58, 77, 84f., 91, 103, 114, 163, 168, 171, 178, 183,190, 195, 211, 217, 226, 233ff., 244ff., 259, 261 Collège de France 22, 253 Courrier d’Orient 95 Darülfünun 73 devlet, devlet-i ebed müddet 50, 97f. Dogma 32, 35, 38f., 40, 44, 60f., 71, 84f., 86, 90f., 115, 120, 144, 146, 148, 155, 160, 194f., 197, 220, 263 Drusen 53f.

Dschihad/Dschihadisten/dschihadistisch 112, 124, 126f. falsafa (Philosophie) 70, 73, 76, 80, 122, 250 Fanatismus (osmanisch: taassub) 194 fard.u kifāya (eine Pflicht, die der Gemeinschaft obliegt) 227 farmassun (Franc-Maçon, Freimaurer) 139, 254 Fatimiden 214 fiqh (Recht) 18, 78, 195 Fundamentalisten/Fundamentalismus 12, 15, 50, 56, 121, 124f., 125, 126 Globalgeschichte 13, 15, 232, 274f. Globalisierung 13f., 274 Griechen/tum 39f., 58, 102, 133, 156, 182, 186f., 195, 207, 209, 259 ġulāt-i munkirīn ((Glaubens-)Verleugner) 169 hadith 61f., 99, 102, 105, 170, 184, 190, 192, 201, 245f. Hamdaniden 214 Hanafitische Rechtsschule 51 Harranier 60, 85, 140, 143, 157, 159, 192, 255 Hebräer 28, 32f., 38, 234 Hürriyet (‚Freiheit‘) 95, 240, 270 idschaza (‚Bescheinigung‘) 62 idschtihad (,freies Räsonnieren‘) 18f., 68, 78 Ikhwan es-safa (‚Die lauteren Brüder‘) 139, 208, 219, 256 Imam/e/s (bei Renan Imans) 143, 193, 196, 250, 257, 263 Indoeuropäer/Indogermanen 23f., 27, 32, 36, 45, 48, 59, 91 „Islamischer Staat in Syrien und Irak“ 124f., 127, Islamische Weltliga 31 Islamisten 12, 111, 124

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Begriffsregister

Ismaeliten 143, 192, 257 Israeliten 35 Journal des débats 46f., 82, 86f., 151, 233f. Judentum 23, 35, 37, 77, 123, 129, 176, 234f., 244, 259 Jungosmanen (Yeni Osmanlılar) 72f., 94ff., 98 Kalif/en 33f., 49, 59, 61, 78, 83, 100, 114, 136, 138f., 143, 184, 197, 210, 213f., 218 Kalifat 72, 98f., 127, 234f., 237 „Kampf der Kulturen“ (Huntington) 15 Katholizismus 22, 32, 38, 49, 54, 119f., 145, 163f., 165, 261f. kanun (osm. ‚Recht‘) 50, 98 Khedive 75, 79 khassa (Elite) 70 kolonial/anti-kolonial/Kolonialmacht 12f., 18, 35, 49, 68, 76, 92, 111, 122, 231, post-kolonial/Postkolonialismus 16, 231, 232, 274 Koran 19, 27, 34, 62, 70, 80, 102ff., 109, 111, 117, 121ff., 156, 165, 171, 175, 183, 190ff., 201, 206, 227 Logik 32, 45, 62, 108, 112-117, 137, 181, 190, 206, 208-213, 217, 221, 223, 226-228, 235, 249, 253-255, 263 Luther, Martin 20, 32, 71, 114, 218 madih (Lobgedicht) 83 Mamluken 34, 260 Maroniten 53, 55 Marseillaise 63 Materialismus 17, 79f., 93f., 119 mecelle (Osmanisches Zivilgesetzbuch) 98 millet, milla 50, 53, 73f., 244 Moderne 8-10, 12f., 14-19, 91f.,105,119-129 - koloniale/imperiale 13, Gespenster der 17, 128 Monotheismus 30, 32, 36f., 104, 135, 180, 253, 259 muġālat.a (Trugschluss) 211

Mu‘tazila (bei Renan „Motaselismus“) 185, 192ff., 259, 260 Muslimbrüder/brüder/derschaft 92, 106, 126, 239f. mutakallimun (bei Renan „Motecallenim“) 116, 138, 208, 219, 246, 260 Mythologie/Mythosfähigkeit/-bildung 26, 29, 83, 121 Mystik/er, Mystizismus 27f., 31, 42, 61, 68, 76, 93, 126, 136, 210 nahda (arabische Renaissance) 124 naql (Überlieferung) 226 Nation 8, 17, 19, 21, 35, 47f., 58, 73f. 77f., 81-85, 96-100, 105 Nestorianer 137, 181, 260 nūr (Licht) 227 Offenbarungsreligion 29, 70, 103f. Okzident 11, 13, 56, 145, 157, 162, 189, 196 Orientalismus 16, 23, 232, 235, 274 Osmanisches Reich 7, 49f., 53 Papsttum 33, 49, 61, 195 Parsen 60, 143, 192 Patriotische Allianz (später „Partei der Jungosmanen“) 94 Philhellenismus 39 Phönizier 77 Polygamie 41, 111 Protestantismus 19, 22, 49, 71, 125, 144, 194, 261f. qadi/Kadi (Richter) 64ff., 88, 93, 105, 115f., 147f., 199, 201, 221f., 223ff. al-Qaida 125 qiyas (Analogieschluss) 19 Quraisch 34, 51 rāhib (Priester) 201 Rationalität/Rationalismus 14, 119, 122, 135, 139f,, 180, 208, 211, 226, 262 Reformation 11, 13, 32, 71, 122 Revue des Deux Mondes 24 Römer 58, 79, 102, 133, 156, 195 Salafismus/Salafisten 124, 126

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Begriffsregister Salafiyya 241, 242 Sarazenen 11 Sassaniden 59, 136f., 181f., 187, 258, 263 Scheichül-Islam 52, 74, 98, 252 scheriat/schari‘a 50, 52, 63, 77, 98, 186, 229, 240, 251, 238, 263 Schia/Schiiten 31, 55f., 67, 69, 79, 92, 126, 178f., 196, 257f., 263 Semiten/tum, Semitismus 23f., 27, 36f., 38f., 41, 43, 48, 64, 120, 128, 159, 232 Sozialisten 79 Sozinianismus 30 Sufis/Sufi-Orden 68, 76, 93, 96 Sulpice, Saint (Seminar) 22 Sunniten – sunna 31, 61, 67f., 78, 92, 102, 117, 123f.,127, 194, 227, 237 (Prophetenüberlieferung)/sunnatu qaul/sunnatu fi‘l 206 takfīr 127 tanzimat 52, 72f., 94f., 98f. taqlīd 18, 68, 72 Tataren 51, 105, 108, 189f., 197, 263 tawā’if 197, 245 ta’wīl 227, 246 Trinität 85, 159

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La Turquie 95 Tyrannei 77f., 198 ‘ulama‘, ‘alim 72, 73, 81 Umayyaden/Omajjaden 136,180,197, 210, 214, 245, 260 Umma 34, 68, 92, 99, 100, 108, 127, 244 al-‘urwa al-wuthqa („das festeste Band“) 88 Vernunft 42, 83, 86, 89, 91, 102, 117, 120-128, 138f., 146, 148, 153, 160f., 164, 195ff., 197f., 207f., 219, 229 Vielfalt der Moderne 15 Wahhabismus/Wahhabiten 29, 31f., 43, 45, 56, 121, 124ff., 128, 241 watan/vatan („Vaterland“) 64, 96 Westasien 11, 12, 15, 78, 82, 182, 263

zindiq/Zendik 139, 143, 264 Zivilisation 62, 66, 69, 80, 111f., 119, 121, 133, 134-142, 149, 152, 154, 156, 159, 162, 173f., 179-195, 198, 202, 212, 216, 228

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Namensregister Abaelard 90, 140, 187, 249 Abd al-Qadir 42, 57 Abd al-Wahhab 29ff., 106, 236 Abduh, Muhammad 76f., 82, 86ff., 92, 238, 241f. Abdülaziz 72, 95, 98 Abdülhamid I., 51 Abdülhamid II. 51, 95, 98, 101, 105 Abul-Chassan-Bek-Kjurra 208, 258 Abulfaradj 136, 249 Al-Afghani, Dschamal ad-Din 7, 20, 48, 57, 66-69, 71ff., 76-93, 96, 102, 108ff., 112, 117, 120-125, 127f., 150f., 160, 238f., 241f., 269-272, 274f. Albateni 143, 249, 255 Albert der Große 90, 143, 162, 250 Alcuin 90, 162 Alfarabi/al-Farabi 70, 139, 250, 256 Ali, Kalif 26, 250 Ali Pascha 94 Amin, Ahmad 86ff., 239, 269 Amin, Qasim 111 Anuschirwan, Khosroes 136, 181f., 258 Arendt, Hannah 23, 233, 269 Aristoteles 60, 69, 81, 139-142, 156, 239, 241, 250f., 259, 261f., 270 Assisi, Franz von 26 Attila 149, 250 Avensoar 145, 251 Averroes/Ibn Ruschd 32, 39f., 60, 66, 70f., 88, 140, 142f., 145, 157, 162f., 169, 187f., 191, 235f., 251f., 254, 272f. Avicenna/Ibn Sina 139, 143, 145, 162, 186, 188, 191, 207, 251, 256 Atatürk, Mustafa Kemal 94, 100, 106, 237, 270 Bacon, Francis 143, 251 Bacon, Roger 90, 143, 162, 191, 252 al-Bagdadi, Abu Bakr („Kalif Ibrahim“) 127

Bajazitov, Ataullah 7, 65, 81, 93, 102, 107-118, 123ff., 127f., 205, 240f., 245f., 272 al-Banna, Hasan 272 Beaconsfield (= Disraeli, Benjamin) 225, 259, 272 Beda 90, 162 Bessarion 140, 252, 259 Bin Laden, Usama 125 Bonaparte, Napoleon 79, 85, 191 Budé, Guillaume 141, 252 Burckhardt, Jacob 121 Burckhardt, Jean Louis 41f. Calvin, Johannes 30 Chakrabarty, Dipesh 9, 269 Chiali 226f., 253 Cousin, Viktor 39 Darwin, Charles 79, 233 Demokrit 79 Descartes, René 14, 177 Dozy, Reinhart 31, 138, 163, 253, 270 Draper, John William 110 Dschingis-Khan 149, 253 Efendi, Ahmed Midhat 110 Eisenstadt, Shmuel N. 15, 125, 231 f., 241, 269 f., 274 Epikur 79 Euklid 139 f. Fénélon 54, 94 Fuad Pascha 94 Fukuyama, Francis 15 Galen 61, 139 Galilei, Galileo 145 f., 163, 177, 186, 250 Gerbert 141, 255 Ghanim, Khalil 87, 239, 270 Al-Ghazali 116 f. Gobineau, Arthur de 47 Goethe, Johann Wolfgang von 11, 47 al-Gupamu’i 116, 253 f.

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Namensregister

al-Haddad, Muhammad 88, 124, 271 al-Hadi, Kalif 159 Hammer-Purgstall, Joseph von 103, 169, 243 f. D’Herbelot, Barthélemy 103, 170, 192, 244, 256 Hobsbawm, Eric 13 Hourani, Albert 92, 238, 271 Hülegü 34, 254 Husain 67 Huntington, Samuel P. 15 Ibn Badja/lbn-Bajah 140, 157, 256 Ibn Khaldun 46, 73, 142, 189, 236, 256 Ibn Ruschd siehe Averroes Ibn Taymiyya 30, 255 Ibn Tofail/Ibn-Tapbail 140, 157, 256 Ibrahim (1. Abbasiden-Kalif) 182 Ismail, Khedive 75 al-Izniqi 116, 253 Jaspers, Karl 15 Jedermann, Robert 79, 239, 271 Jesus Christus 22, 26, 37, 55, 77, 213, 234f., 260 Jomard, Edme-François 62, 236

Lee, David C. J. 40, 232f., 235 Lefèvre d’Etaples, Jacques 141, 259, Lesseps, Ferdinand de 57, 75 Lessing 84, 243 Luther, Martin 20, 32, 71, 114 Magnus, Albertus 90, 162, 250 Ma’mun, Kalif 103, 185, 192f., 214, 259f. Mansur, Abu Ja‘far 137, 181, 183, 185, 213, 259 Massignon, Louis 65f., 88, 238, 272 Mazarin, Kardinal 85, 158 Mehmed II. 188 Midhat, Ahmed 110 Mishra, Pankaj 125, 241, 272 Mohammed, Muhammad (Prophet) 26-29, 31, 37, 43, 45, 51, 77, 100, 103, 108, 110, 170f., 206, 209, 213f., 216, 218, 227f., 229, 233f. Montesquieu 62, 94, 98f. Moses 77, 213 Muhammad Ali 31, 62f., 262 Al-Mutanabbi 83 Al-Mutawakkil 51, al-Mutazid, Kalif 208, 260 Napoleon III. 42, 55,

Karl XII. 189 Kassir, Samir 123, 241 Katharina II. 51 Keddie, Nicki 91, 238f., 271 Kemal, Namık 7, 52, 64ff., 72, 81, 93106, 108ff., 112, 114, 116f., 121128, 166f., 239f., 243ff., 265, 267, 270-273, 275 Kermani, Navid 124, 241, 271 Khadra, Dominique 55 King, David 120, 241 Al-Kindi 59, 70, 157, 186, 191, 250 Konstantin der Afrikaner 141, 258 Kopernikus 177, 250 Kurd Ali, Muhammad 56, 237 Laskaris 140, 259 Lauture, Comte d’Escayrac de 46 Layard, Austen Henry 41f., 64f., 105, 116, 147, 199, 201, 221, 223ff., 236, 259, 272 Le Clerc, Victor 39

Olender, Maurice 23f., 235ff., 273

28,

232f.,

Pascal 177 Perron 45, 236 Philipp II. 145, 261 Pius V. 145, 161 Planck, Max 118, 270 Psichari, Henriette 56, 232-235, 237, 273f. Ptolemäus 139f. al-Raschid, Harun 137, 183, 185, 213 Raymond, Erzbischof 141, 262 Renan, Ernest 7f., 16, 18-30, 32f., 3550, 52-61, 63-67, 70, 75, 79, 82-85, 87-92, 101-116, 118-122, 124f., 128, 132, 151-155, 157, 161, 167ff., 171-177, 179-199, 201f., 205-223, 225f., 228, 231-237, 239f., 243, 245f., 252, 265, 267, 269-275

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Namensregister Riza, Imam 185 Rousseau, Jacques 62, 79, 94, 186 Roy, Olivier 126, 274 Sacy, Silvestre de 62 Saffah, Abu’l-Abbas (bei Renan nur als Abul Abbas) 137, 181, 183, 211, 249, 252, 259 Said, Edward 16, 23, 232, 235, 274 Sanu’a, Ya’qub (auch James) 76, 82 Saud, Muhammad ibn 31 Schweitzer, Albert 38, 235, 275 al-Siuti 159 Socinus, Faustus 29f. Spinoza, Baruch 90, 143, 162, 191, 263 al-Subki/Syabyaki, Imam 117, 227, 263 Süleyman der Prächtige 50, 189

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Taine, Hippolyte 55 Al-Tahtawi, Rifa’a 61-64, 115, 237, 242, 262 Taufiq (Khedive) 75, 79 Thierry, Augustin 24 Toulmin, Stephen 14f., 231 Touraine, Alain 13, 14, 119, 125, 231, 271 Tours, Gregor von 90, 162 Al-Tunisi, Muhammad ibn Omar 45 Ulug Beg 189, 264 Umar, Kalif (auch Omar) 26, 34, 66, 136, 149, 180 f., 212, 258, 261, 263 Voltaire 28, 62, 79, 189, 190, 234 Weber, Max 121, 232, 241, 275 Weinberg, Kurt 23, 24, 47, 236, 275 Weil, Gustav 29, 234, 275

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Ortsregister Afghanistan 59, 67, 71f., 89, 162, 225, 238, 252 Afrika 24, 42, 46, 50, 58, 112, 134, 174, 250, 252 Ägypten 11, 13, 31, 40, 45, 50, 57, 59, 61ff., 69, 74ff., 82, 87, 89, 92, 106, 111f., 126, 146, 197, 207, 214, 224f., 241f., 260, 262 Aleppo 214 Alexandria 77 Algerien 41, 89 Asadabad (bei Hamadan, Persien) 67 Athen 57, 85, 159 Bagdad 30, 34, 50, 59, 60, 90, 113, 137f., 140, 156, 159, 182, 184ff., 190, 202, 209, 212, 215, 218, 249, 252, 254, 258f. Beirut 54f., 59, 77, 86f., 90, 265, 271 Buchara 109, 113, 209, 251f. Byzanz 85, 156 China 24, 39, 175, 184, 209, 245f. Chios 95 Cordoba 190, 202, 251, 253, 261 Damaskus 30f., 42, 56f., 59, 77, 90, 108, 182, 252f., 261.

Galiläa 37, 234 Granada 190, 202, 256, 261 Griechenland 11, 27, 32, 37, 40, 113f., 138, 140, 207-210, 213 Halbinsel, arabische 20, 27-31, 33, 36f., 41, 104, 121, 125, 155, 250, 255 Hedschas 32, 142, 255 Indien 27, 32, 50, 68f., 71, 79, 81f., 106, 114, 136, 138, 161, 175, 181, 189, 199, 207, 213, 224f., 238, 242f., 253f., 261 Iran 68f., 71, 109, 161, 179, 182ff., 189, 214, 239, 249, 254

Irak 31, 65, 67, 69, 106, 124f., 127, 157, 249, 256, 259f. Istanbul/Konstantinopel 18, 31, 51f., 67, 71f., 75, 78, 87, 93-96, 101, 109, 169, 188, 244, 259, 267 Jerusalem 27, 90, 232, 235f., 274 Judäa 32f., 27, 234 Kalkutta 80 Kairo 24, 51, 57, 61, 75, 77, 86f., 239, 241f., 249, 269 Kairouan 138 Kasimov 108f., Kerbela 31, 56, 67 Khurasan 68 Konstantinopel 65 London 82, 95, 109 Marokko 40, 59, 112, 140, 187f. Medina 31, 37, 50f., 56, 112, 255 Mekka 31, 37, 50f., 56, 112, 235, 255 Mytilene (auf Lesbos) 95, 101 Nadschaf 31, 67f. Nadschd 30, 31 Nimrud 41, 65 Ninive/Niniveh 41, 65, 259 Oxus 157 Persien 27, 59, 67, 73, 81, 113f., 134ff., 157f., 162, 178, 180f., 209f., 213, 238, 250 Raqqa 127 Rhodos 95 Rom 39, 49, 50, 53, 85, 90, 143, 156, 162, 177, 236f., 255 Russland 5, 54, 76, 107, 109, 216, 240, 246 Samarkand 113, 143, 190, 202, 209, 262 Sevilla 143, 251 Sofia 93

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Ortsregister

Spanien 53, 60, 113, 140f., 145, 157, 163, 189, 196, 209, 211, 214, 250, 251, 253, 255f., 261 St. Petersburg 7, 107ff. Suezkanal 57, 75 Syrien 40ff., 60, 100, 112f., 124f., 140, 157, 169, 209, 271

Teheran 67 Temgenev (Tjubenau) 108 Toledo 140 f., 250, 262 Tunesien 18, 257f. Tréguier 21 Tyros 55f., 58

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