Mnemotopie im mexikanischen Film: Orte nationaler Umbrüche in der Filmkultur der Época de Oro 9783839456583

Im postrevolutionären Mexiko der 1930er Jahre war das Bedürfnis nach stabiler historischer Selbstverständigung groß und

245 17 20MB

German Pages 448 [443] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Mnemotopie im mexikanischen Film: Orte nationaler Umbrüche in der Filmkultur der Época de Oro
 9783839456583

Citation preview

Sergej Gordon Mnemotopie im mexikanischen Film

Film

Sergej Gordon lehrt romanische Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit dem Schwerpunkt lateinamerikanische Literatur- und Filmgeschichte. Er ist Mitglied des Zentralinstituts der Lateinamerikastudien und Leiter der Lateinamerikanischen Filmtage München.

Sergej Gordon

Mnemotopie im mexikanischen Film Orte nationaler Umbrüche in der Filmkultur der Época de Oro

Dies ist die überarbeitete Fassung der im Sommersemester 2018 von der Sprachund Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität EichstättIngolstadt als Dissertation angenommenen Arbeit. Der Tag der öffentlichen Verteidigung war der 11. Februar 2019. Die Vorbereitungen der Dissertation wurden gefördert durch ein Stipendium des Graduiertenkollegs »Philosophie des Ortes« an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Die Veröffentlichung wurde mit einem Zuschuss der Pädagogischen Stiftung Cassianeum realisiert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagcredit: Templo de Kukulkán, Inv. 301521, Sinafo, Fototeca Nacional del INAH Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5658-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5658-3 https://doi.org/10.14361/9783839456583 Buchreihen-ISSN: 2702-9247 Buchreihen-eISSN: 2703-0466 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung ................................................................................... 9 Einführung: Orte als Spiegel der Zeit .......................................................... 11

A. Mnemotopie – Nation – Film 1.

Zum Begriff der Mnemotopie ........................................................... 23

2.

Kollektive Erfahrungsschwellen im mexikanischen Nation-Building...................... 31

3.

Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur....................................... 41

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire 1.

Die Ruine als Vergegenwärtigung des Unvordenklichen ................................. 57

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko ........................................................ 67 2.1. Die Ruine als Resonanzkörper von Ursprungsnarrativen................................... 67 2.2. Die Funktion der Ruine im Mechanismus des Nation-Building ............................. 73 3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage ...................................... 81 3.1. Que viva México! (1931/1979) .............................................................. 92 3.1.1. Die Ruine als »chôra« der Mexikanität ............................................ 92 3.1.2. Exhumation ewiger Formen ....................................................... 97 3.1.3. Polyphonie der Vergangenheitsbezüge ............................................ 99 3.2. La noche de los mayas (1939) .............................................................106 3.2.1. Terror der ewigen Wiederkehr.....................................................106 3.2.2. Die Ruine als Mystery Theatre ..................................................... 113 3.3. Raíces (1953) ............................................................................ 122

3.3.1. Mnemotope hinter der cortina de nopal ............................................ 122 3.3.2. Verteidigung eines Identitätsbollwerks ............................................125 3.4. Chilam Balam (1955)..................................................................... 133 3.4.1. Verortung der Conquista ......................................................... 133 3.4.2. Die Ruine als Wiege des Mestizentums ............................................140 4.

Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie .......................................... 149

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution 1.

Mexikanische Invarianten an der Epochenschwelle ..................................... 171

2. Topogenese der Hacienda .............................................................. 177 2.1. Von der época gachupina bis zur pax porfiriana ........................................... 177 2.2. Postrevolutionäre Sehnsucht nach der Prämoderne ..................................... 189 3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik ......................................201 3.1. Que viva México! (1931/1979) ............................................................. 209 3.1.1. Das Martyrium als Mythologem ................................................... 209 3.1.2. Die heiße Mnemotopie des Revolutionsfilms ...................................... 223 3.2. El compadre Mendoza (1934) ............................................................. 233 3.2.1. Der Hacendado im ideologischen Kreuzfeuer ..................................... 233 3.2.2. Mnemotopie der mauvaise conscience ............................................. 241 3.3. Allá en el Rancho Grande (1936) .......................................................... 248 3.3.1. Die kalte Mnemotopie des Heimatfilms ........................................... 248 3.3.2. Der Charro als Referent der Folklorezeit .......................................... 259 3.3.3. Kulturelles Vergessen als Deckerinnerung ........................................ 269 3.4. Flor silvestre (1943) ..................................................................... 278 3.4.1. Konziliatorische Gedächtnisstiftung des Melodrams............................... 278 3.4.2. Habitualisierung der Hacienda-Mnemotopie ...................................... 293 4.

Hacienda-Mnemotopie – Gründungsmythen auf dem Prüfstand ........................ 303

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime 1.

Das Gedächtnis der Grenze ............................................................. 317

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten.......................................... 327 2.1. Die offene Wunde und das Invasionsphantasma ......................................... 327 2.2. Memory-Building im Spannungsverhältnis mit Extrakulturen ............................. 337 3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion ...................... 347 3.1. Pito Pérez se va de bracero (1948) ....................................................... 363

3.1.1. Der pikareske Grenzgänger ...................................................... 363 3.1.2. Retrograde Selbstvergewisserung ................................................ 369 3.2. Espaldas mojadas (1955) ................................................................ 378 3.2.1. Zensierte Umschreibung der Grenz-Mnemotopie .................................. 378 3.2.2. Überhistorisch stabilisierte Kulturfront ........................................... 382 4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum ...................... 393 4.1. Sleep Dealer (2008) – Futuristische Vertrautheiten ....................................... 396 4.2. Bajo California: los límites del tiempo (1998) – Zeitreisen der transnationalen Selbstverortung ......................................... 403 Conclusio: Mnemotopie und die große Zeit ................................................... 411 Bibliographie ................................................................................. 419 Filmographie ................................................................................ 443

Danksagung

Diese Arbeit wäre ohne die zahlreichen Begegnungen und institutionellen Förderungen nicht möglich gewesen. Allen voran möchte ich Christian Wehr und Barbara Kuhn danken, die mich mit Wohlwollen und fachlichem Rat betreut haben – ohne ihre Expertise wären die folgenden Seiten um ein Vielfaches ärmer. Dem intensiven Austausch mit den Konstipendiat:innen des Graduiertenkollegs »Philosophie des Ortes« der KU Eichstätt-Ingolstadt verdankt die Arbeit ihre kritische Topophilie: Annika Schlitte, Sarah Eichner, Adrian Navigante, Tobias Holischka, Thomas Hünefeldt, Silvia Canelli, Galya Rosenstein, Moritz Bensch, Raphael Schwegmann, Marion Stahl und Tsutomu Ben Yagi haben aus je anderen Blickwinkeln mein Ortsbewusstsein geschärft und erweitert. Annika Schlitte, Daniel Romić und dem Zentrum für Forschungsförderung der KU Eichstätt-Ingolstadt danke ich für die zahlreichen Gastvorträge am Kolleg sowie die Ermöglichung eigener Vortrags- und Forschungsreisen. Anregend waren die Denkanstöße in den Promotionskolloquien der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt unter der Leitung von Michael Neumann, Kerstin Schmidt und Michael Zimmermann. Kurt Hahn und Victor Andrés Ferretti bin ich für die Einblicke in mein Vorhaben und die Inspiration dankbar, die Niederschlag in dieser Studie gefunden hat. Verena Richter und Wunibald Heigl haben mit ihrem aufmerksam-aufrichtigen Lektorat geholfen, die Rohform des Manuskripts zu verfeinern. Miriam Lay Brander danke ich von Herzen für das Vertrauen und die Unterstützung während der Endphase des Projekts. Entscheidend waren auch die Begegnungen mit dem Universum der mexikanischen Filmwissenschaften. Der akademische und nicht zuletzt auch der persönliche Austausch mit Patricia Torres San Martín, Aurelio de los Reyes, Álvaro Fernández, Fabiola Alcalá, Diego Zavala, Lauro Zavala, Siboney Obscura und Maximiliano Maza haben mein Bild von Mexiko vor und hinter der Kamera mitgeprägt, mein Erkenntnisinteresse belebt und mitgelenkt. Diana Koreta und Luis Urrutia hatten mit ihrer bedingungslosen Cinephilie und der nie versiegenden Gesprächsbereitschaft ebenfalls großen Anteil an meiner Horizonterweiterung in Bezug auf die septième art und ihre gesellschaftliche Einbettung in Mexiko. Dem Zirkel um das Bremer Filmsymposium, darunter Delia González de Reufels, Wolfgang Pauleit, Angela Rabing und Rasmus Greiner, bin ich verbunden für das Inter-

10

Mnemotopie im mexikanischen Film

esse an meinen Vorstößen in die mexikanische Filmgeschichte. Für die Wahlverwandtschaften und geteilten Lebenspfade sei ausdrücklich Florian Kienzle, Nils Droste, Oliver D. Liebig, Sven Pötting, José González, Benjamin Loy, Carla Zabe Molina, María Rosa Astorga, Georgina Zárate, Ricardo González, Raúl Herrera, Karla Santos und Alberto Fregoso gedankt. Indes will ich Leah, die meine unzähligen Stunden der Versenkung mit Geduld und Zuspruch begleitet hat, meinen größten Dank aussprechen. Ihr und Oskar sei dieses Buch gewidmet.

Einführung: Orte als Spiegel der Zeit

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. (Thomas Mann, Joseph und seine Brüder)   La verdad histórica, para él, no es lo que sucedió; es lo que juzgamos que sucedió. (J. L. Borges, Pierre Menard, autor del Quijote)   Recordar el futuro. Imaginar el pasado. (Carlos Fuentes, La gran novela latinoamericana) Im Jahr 1992, ein halbes Jahrtausend nach Beginn der Conquista, einem der bedeutendsten Gründungsakte der Neuzeit, erschien Carlos Fuentes Langessay El espejo enterrado, den der mexikanische Schriftsteller ursprünglich als Drehbuch für die gleichnamige Serie von Dokumentarfilmen für das mexikanische Fernsehen konzipiert hatte. Einen Erkenntnisschlüssel bei seinem groß angelegten Panorama zur mexikanischen Geschichte boten Spiegel, Relikte der totonakischen Kultur, die den Verstorbenen als Grabbeigabe für die Reise ins Jenseits mitgegeben wurden.1 Zusammen mit einer Reihe von Spiegelmotiven, die Fuentes auf beiden Seiten des Atlantiks aufgreift, erhebt der Autor den vergrabenen Spiegel zu einer hermeneutischen Metapher bei seiner Suche nach kulturellen Kontinuitäten. Im Angesicht der Krise lateinamerikanischer Nationalstaaten und den Auflösungserscheinungen einer transatlantischen hispanidad, die der modernen mexikanischen Identität laut Fuentes als dominante Bewusstseinsprägung zu Grunde liege2 , bilden die aus den hinabstrebenden Sedimenten gehobenen Spiegel eine Einladung zur Triangulation der Zeiten, bei welcher Retrospektion, Gegenwartsbestimmung und Zukunftsprognose sich gegenseitig durchdringen und bedingen. Auffällig sind dabei drei Aspekte der polyvalenten Spiegelmetapher: Zum einen bedient sich Fuentes implizit eines zentralen Credos der klassischen Historiographie, die

1 2

Vgl. Fuentes 1992, 11. Vgl. hierzu die Besprechung des Werks im Lichte einer »historia patria para adultos« und im Sinne eines mexikanischen Bekenntnisses zur hispanidad bei Aguilar Camín 1993, 83-105.

12

Mnemotopie im mexikanischen Film

Leopold von Ranke als »Vermögen der Wiederhervorbringung«3 gefasst und dem geschichtswissenschaftlichen Dreisatz von Sammeln, Fassen und Durchdringen – sowie den entsprechenden empirischen Methoden der Heuristik, Kritik und Interpretation4 – als einen der Kunst entlehnten epistemologischen Hebel zur Verfügung gestellt hatte. Zum anderen steht Fuentes Spurenlese im Dienste einer kulturellen Kontinuitätsstiftung, wodurch die Angewiesenheit einer Gesellschaft auf kollektive Vertrautheiten und einen formativen Traditionskanon hervorgehoben wird. Bei Fuentes Ausführungen vermengen sich biographische Berührungspunkte mit einem historischen Tiefenblick, der hinter dem kommunikativen Gedächtnis des Reisenden den unbezeugten Erfahrungsschatz eines kulturellen Langzeitgedächtnisses erkennen lässt. Wenn der Autor mit dem Blick in die Spiegel der Zeit eine bis an die Anfänge der Menschheit zurückreichende Spurensuche nach gegenwartsbestimmenden Gedächtnisankern der mexikanischen Identität initiiert, lässt sich im Spiegelmotiv mithin ein Mechanismus der gesellschaftlichen Kohäsion erkennen, den Jan Assmann unter dem kulturevolutionären Prinzip der Hypolepse fasst. In der grundlegenden Studie des Ägyptologen und Kulturwissenschaftlers zu den anthropologischen Bedingungen der Gedächtnisformation konstituiere sich das kulturelle Kontinuum mit Hilfe einer textbasierten Rückholung des Geschehenen und Gesagten und sei einer »progressiven Variation«5 unterstellt, die der kollektiven Horizontbildung im Zusammenspiel der Kategorien Schrift, Rahmen und Wahrheit Vorschub leistet. In der Anerkennung einer »hypoleptische[n] Diskursorganisation«6 offenbart sich eine gesellschaftliche Intertextualität oder Reziprozität kultureller Texte, die der Vergangenheit ihr Fortbestehen, ja ihr Nachleben sichert, wie Aby Warburgs vielfach und gegensätzlich rezipierter Kulturmechanismus lautet.7 Aus der Gegenwartsperspektive betrachtet werden fortbestehende Elemente der Vergangenheit folglich auch als »Inventar der nachweisbaren Vorprägungen«8 begreifbar, wie es Warburg in der Einleitung seines Bilderatlasses Mnemosyne für den Dialog der Kunstschaffenden mit ihren Vorgängern einführt. Aus dem Widerspiel von Geschichte und Gedächtnis, zwei komplementären wie einander überlappenden Modi der Vergangenheitsschau, resultiert auch die dritte, konstruktivistische Prämisse der kulturellen Selbstverständigung: Als Hilfsmittel und Medium der Selbsterkenntnis stellt der Spiegel in Fuentes historischer Synthesebildung

3 4

5 6 7

8

Zit. in. Rüsen 2011, 119. Die wissenschaftstheoretische Erweiterung des Dreisatzes führt Rüsen zurück auf den Grundriss der Historik von Johann Gustav Droysen, eines weiteren Pioniers der modernen Geschichtstheorie (vgl. Rüsen 2011, 119-122). J. Assmann 2013, 281. Ebd., 280. Dem in dieser Arbeit eher allgemein geführten Verständnis von Nachleben als einer Gegenwartsrelevanz der Vergangenheit steht die Definition aus Karl Siereks Studie zu Warburg als medientheoretischem Stichwortgeber zur Seite, die festlegt, dass »Nachleben« just als »Verschärfung der Differenz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem« zu verstehen sei (Sierek 2007, 9f.). Angesichts der vielfältigen Verwendungsformen nimmt George Didi-Huberman die »erdrückende Arbeit« auf sich, etwas Klarheit in die ontologischen Unschärfen des Begriffs zu bringen (DidiHuberman 2010, »Der Exorzismus des Nachlebens: Gombrich und Panofsky«, 102-115, hier 105). Warburg 2010, 634.

Einführung: Orte als Spiegel der Zeit

auch ein bedeutsames Element der Identitätskonstruktion dar. »¿No es el espejo tanto un reflejo de la realidad como un proyecto de la imaginación?«9 , fragt sich der Autor und verweist damit indirekt auf die Dimension des historischen Imaginären, mit dem eine intersubjektiv geteilte Vergangenheit aufbereitet und rekonstruiert, verfügbar und intelligibel gemacht, einverleibt und im wahrsten Sinne des Wortes vergegenwärtigt wird. Die Pflege einer kollektiven Identität wird damit in ein Korrespondenzverhältnis mit einer gesellschaftlichen Nachfrage nach konsistenten Vergangenheitsmodellierungen gestellt. Wenn Fuentes also in seiner umfangreichen Tour d’Horizon einen selbstbildformenden Dialog mit der Zeit vornimmt bei dem gerade auch die Gegenwartsbestimmung weit zurückliegender Zeitschichten freigelegt wird, rückt das performative Potenzial der historischen Rückholung in die Nähe einer anthropologischen »Inszenierungsnotwendigkeit«10 des Unverfügbaren, bei der jede Rückholung einer nachempfindenden Interpretation gleichkommt. Was dabei ins Auge fällt und in dieser Arbeit an einer Selektion repräsentativer mexikanischer Filme untersucht wird, ist die Tatsache, dass Orte mit einer überindividuellen historischen Semantik für Rankes Vermögen der Wiederhervorbringung und die Herausbildung von Gemeinschaftssinn in kollektiver Erinnerungsleistung in besonderer Weise geeignet sind. In dem fünf audiovisuelle Episoden, bzw. 18 Buchkapitel umfassenden Projekt, mit dem Fuentes den Spuren der mexikanischen Nation als einer vielfältigen Gemeinschaft mit komplexer Herkunft nachspürt, legt der Autor seine Bilanzierung der »nationalen Biographie«11 anhand von Begehungen konkreter Orte vor, an welchen ein kollektives Geschichtsbewusstsein aufgerufen und geprägt wird. Sowohl im Medium der Schrift als auch im audiovisuellen Filmtext handelt es sich um eine Reise durch Zeit und Raum, bei der Fuentes den Leser zu Schauplätzen diverser Phasen und Vorstufen der mexikanischen Natiogenese mitnimmt und eine nationale Gedächtnisrahmung – sowie deren Depotenzierung in übernationaler Rahmensetzung – entwirft. Vor allem die audiovisuelle Spielart von El espejo enterrado arbeitet mit konkreten Ortsbegehungen, bei welchen der mexikanische Schriftsteller die Überlieferungsbestände zu den jeweiligen Schauplätzen der Geschichte in situ abruft und in prägnanter Form expliziert. Die Vermittlung der überindividuellen mexikanischen Identitätskonkretisierung12 erfolgt im audiovisuellen Medium damit in mimetischer Abhängigkeit von den konkreten Drehorten, die die Kommentierungen evozieren und gleichzeitig beglaubigen. Es ist also in erster Linie die nichtmetaphorische Begehbarkeit der Drehorte, die in der gefilmten Version von El espejo enterrado den besonderen Realitätseindruck bewegter Bilder auszuspielen vermag. Fuentes’ Parcours führt den Zuschauer von den Antillen und Veracruz, wo die Spanier um Hernán Cortés zum ersten Mal ihren Fuß auf amerikanisches Land gesetzt

9 10 11

12

Fuentes 1992, 13. Vgl. Iser 1993, 504-515, hier: 506. Bei der Wendung handelt es sich um eine Anleihe bei Benedict Andersons Studie zum modernen Phänomen des Nation-Building und der Imaginationspraxis von Nationalkollektiven, der die vorliegende Arbeit in vielerlei Hinsicht verpflichtet ist (vgl. Anderson 1991, 204-206). Zur Herausbildung einer »Identitätskonkretheit« oder »Gruppenbezogenheit« als bedeutenden Funktionen des kulturellen Gedächtnisses vgl. J. Assmann 1988, 13.

13

14

Mnemotopie im mexikanischen Film

hatten, über die Tropfsteinhöhlen und die Anfänge der Menschheit, über präkolumbinische Ruinenstätten sowie spanische Kirchen und Landhäuser als Kristallisationspunkte des mexikanischen Selbstbildes, bis nach Los Angeles, wo eine große hispanische Minderheit sich in die US-amerikanische Gesellschaft fügt. Fast immer sind es konkrete, topographisch fixierte Orte, an welchen Fuentes vergangene Epochen rekonstruiert, um ihr Nachleben in der Gegenwart zu betonen; Es sind vor allem auch Orte, an welchen sich historische Umbrüche ereignet haben, die den Lauf der Zeit erst erkennbar machen; Es sind schließlich Orte, die kollektive Gedächtnisvektoren13 auf sich ziehen und damit zukunftsrelevante Vorlagen für Verknüpfungen der Gegenwart mit der Vergangenheit bilden. Kurzum, was den meisten Orten, die Fuentes bei seiner Reise durch Raum und Zeit zum Verweilen einladen, gemein ist, ist ihre Verweisfunktion auf historische Zäsuren, an welchen ein gemeinschaftliches Selbstverständnis sich im Anschluss an überwundene, aber gerade post rem identitätsstiftende Etappen abrufen lässt. Auffällig scheint im mexikanischen Fall die Prominenz von drei Orten, an welchen eine historische Dynamik greifbar wird: es sind zunächst Ruinen, die an die einschneidende Erfahrungsschwelle der Conquista gemahnen; es sind koloniale Landhäuser (haciendas). Orte der transatlantischen hispanidad, die während der Unabhängigkeitsbestrebungen im 19. Jhd. und während der Mexikanischen Revolution im 20. Jhd. einer Revision unterzogen wurden; und es sind schließlich die nördlichen Grenzregionen, die infolge des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges (1846-1848) durch eine massive Verschiebung der nationalen Nordgrenze in den Süden zum eingeschränkten territorialen Selbstverständnis der jungen mexikanischen Nation beigetragen haben. Indem Fuentes bei seiner Zustandsbeschreibung die historische Semantik emblematischer Orte freizulegen versucht, folgt er jener hermeneutischen Vorgabe, die Walter Benjamin in seinem Denkbild Ausgraben und Erinnern als »behutsamen, tastenden Spatenstich ins dunkle Erdreich«14 skizziert hatte. Was dabei aus den Sedimenten der Zeit hervortritt sind metaphorische Spiegel der Vergangenheit, in welchen ein kollektives mexikanisches »Selbstgefühl«15 nach Vorstellung des Schriftstellers in seiner Funktion als Kulturarchäologe abgebildet wird. Am Templo Mayor angekommen, dem Epizentrum der aztekischen Kultur, das in Mexiko-Stadt lange unter den Bauformen Neuspaniens begraben lag und im 20. Jhd. partiell wieder freigelegt wurde, erkennt Fuentes sich selbst als Spiegelbild der historischen Vielschichtigkeit Mexikos: Nuestros fantasmas estaban aquí. Nos dimos cuenta de que lo que creímos parte de un pasado muerto estaba vivo. Y con nuestra imaginación era real. Y que en México el pasado vive y la historia es presente. (El espejo enterrado – 2: La batalla de los Dioses (2:54)) Die mit den Ortsbegehungen performativ geleistete prise de conscience für eine mexikanische Kopräsenz unterschiedlicher Zeitepochen – eine für den Gemeinschaftssinn konstitutive Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – führt das Moment der subjektiven Selbst-

13

14 15

Die geistreiche raumzeitliche Metapher Vectors of Memory ist enthalten im Titel der Studie von Nancy Wood (1999) zur kinematographischen Verarbeitung traumatischer Geschichtsereignisse und der Nachlassverwaltung des kulturellen Erbes als Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Benjamin 1991d, 138. Gumbrecht 2012, 68.

Einführung: Orte als Spiegel der Zeit

vergewisserung, die in Fuentes Pluralformen unweigerlich auch kollektive Dimensionen annimmt, mit einer ortsgestützten Erfahrung der Vergangenheit zusammen. In metonymischer Abhängigkeit zur Zeitschichtung, die emblematischen Raumeinheiten zu Grunde liegt, lassen sich die Orte selbst als Spiegel der Zeit betrachten, die zur kollektiven Selbstreflexion herangezogen werden können. Die abstrakte Vorstellung einer individuellen Selbstverortung wird damit nicht nur in ein Abhängigkeitsverhältnis zur gemeinschaftlichen Sinnbildung gerückt, sondern auch aufgefangen von einer konkreten räumlichen Umgebung mit Vergangenheitsbezug, die man mit Jan Assmann als »Zeitinseln«16 bezeichnen kann, an welchen »anachrone Strukturen«17 in die Alltagszeit einbrechen. Die aus Fuentes’ ›Selbstbespiegelung‹ resultierenden Momente der »Zeitsynthese«18 , die Jörn Rüsen als Eigentümlichkeit des Geschichtsbewusstseins diskutiert, erhebt den Ort als Koordinate und topographische Relationsgröße im »reinen spatium«19 zu einem kollektiv semantisierten Sinnträger. Der Ort als Spiegel der Zeit wird so zu einem mit Vergangenheitsbezug aufgeladenem Zeichenträger, der einer Gemeinschaft als Projektionsfläche für Identitätskonkretisierungen dient. Die Besinnung auf eine geteilte Identität geht bei Fuentes somit notwendigerweise mit dem bedeutenden Zugeständnis an das Imaginäre bei der kollektiven Horizontbildung einher. Sein Ensemble erinnerungsbesetzter Orte bietet dem Betrachter – jenseits einer konkreten, zeitlosen, verwitterten oder wieder instandgesetzten Materialität – ein Archiv der Affekte, Stimmungen und historischen Emotionen, die als Diskursgegenstände erfasst sind und das Bewusstsein für eine kollektiv geteilte Vergangenheit formen. Nur so wird das paradoxe Diktum »[i]maginar el pasado, recordar el futuro«20 , das Carlos Fuentes an anderer Stelle als Formel für die Vergegenwärtigungspraxis kollektiver Gedächtnishorizonte entwirft, dechiffrierbar als eine poetische Lizenz, die der Rückholung der Vergangenheit nicht erst erteilt werden muss, sondern als notwendige Begleiterscheinung der historischen Bewusstseinsbildung anzuerkennen wäre.   Der hier mit Fuentes Großprojekt zur mexikanischen Selbstverständigung aufgeworfene Einblick in die Möglichkeit einer ortsgestützten Lesbarkeit der Welt muss sich unweigerlich an einer ideengeschichtlichen Unvollständigkeit versündigen, doch hat der einleitende Parforceritt durch die Geschichts- und Ortsphilosophie, durch die Medienwissenschaft und Memoria-Forschung, durch die mexikanische Geschichte und deren Gegenwartsrelevanz lediglich die Funktion, die theoretischen und thematischen Fluchtpunkte des Dissertationsprojekts zu skizzieren und Prolegomena anzubieten, die auf den Begriff der Mnemotopie hinführen wollen. Die Bedeutung des geographisch erfassten Ortes als diskursiv aufgeladenem Raum, als einer »meaningful location«21 mit identitätsstiftender Eigenschaft, bildet nämlich den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit. 16 17 18 19

20 21

J. Assmann 1988, 12. J. Assmann 1991, 349. Vgl. Rüsen 1994, 8. Deleuze zit. in Andreas Mahlers Diskussion des Topologie-Begriffs (Mahler (2015)). Zum Widerspiel der Topologie und der Topographie als eine der wesentlichen Differenzierungsnotwendigkeiten des spatial turn, vgl. Dünne 2009, 18. Fuentes 1994, 55 und wieder aufgegriffen in Fuentes 2011, 56. Cresswell 2004, 7.

15

16

Mnemotopie im mexikanischen Film

Ausgehend von einer ortsbasierten Gedächtnisarbeit, die in der Época de Oro (1936-1957), der Blütezeit des mexikanischen Nationalfilms, geleistet wurde, wird der Versuch unternommen, die beiden Begriffskategorien Ort und Gedächtnis an drei Ortstypen engzuführen. Die daraus resultierende Schnittstelle soll in der vorliegenden Arbeit mit dem Terminus des »Mnemotops« bezeichnet werden, der in Jan Assmanns grundlegender Studie Das kulturelle Gedächtnis (1992) im Schatten der ungleich prominenteren Kategorie der lieux de mémoire des französischen Historikers Pierre Nora eine erste Erwähnung findet.22 Wenn Jan Assmann die Stabilisierung des kulturellen Gedächtnisses anhand von gesellschaftlich geformten kulturellen Objektivationen als notwendigen Mechanismus der kulturellen Selbstverständigung herausarbeitet, tangiert er auch die Existenz von sogenannten Erinnerungsräumen, in welchen bereits Aby Warburg eine »mnemische Energie«23 vermutet hatte. Eine arbiträre Raumeinheit, so kann man Assmanns flüchtig aufgeworfener Begriffsprägung entlehnen, wird dabei immer dann zu einem Mnemotop, das heißt einem bedeutungsvollen topographischen Kristallisationspunkt eines Gedächtniskollektivs, wenn bestimmte historische Ereignisse und soziale Funktionalisierungen in kollektiven Prozessen der Semiose etabliert und über Generationen hinweg tradiert werden. Ein Mnemotop wird im Folgenden verstanden als ein intersubjektiv wahrgenommener, kollektiver Ort, der in der ersten Hälfte des 20. Jhd., in welcher die meisten der hier analysierten Filme entstanden sind, noch wesentlich durch einen nationalen Gemeinschaftssinn geprägt war. Für die Veranschaulichung der gesellschaftlichen Arbeit an der Mnemotopie ist das Filmmedium gerade in seiner massenmedialen und populärkulturellen Ausprägung besonders geeignet. Vor allem in Phasen der nationalen Filmkultur lässt sich der Beitrag zur gesellschaftlichen Homöostase und Traditionsbildung besonders gut untersuchen. Auch im mexikanischen Nationalfilm wurde eine »identitätsstabilisierende Langzeitkommunikation«24 häufig in der Hinwendung zu Orten vorgenommen, die erinnerungsstützende und bedeutungsstiftende Eigenschaften für das postrevolutionäre mexikanische Nationalkollektiv entfalten konnten. In der vorliegenden Arbeit entfällt die Selektion auf drei Orte, die nicht nur in Carlos Fuentes’ Vorgang des Ausgrabens und Erinnerns eine repräsentative Funktion für das mexikanische Selbstbewusstsein entfalten, sondern auch bedeutsame und vielfach erschlossene Bezugsgrößen der klassischen mexikanischen Filmproduktion darstellen. In den drei Fallstudien, die sich der Ruine, der Hacienda und schließlich der Nordgrenze widmen, soll erkennbar werden, wie sich ein mexikanischer Gemeinschaftssinn im kinematographischen Beitrag zum NationBuilding herausbildet und daran anschließend diskutiert werden, inwiefern die Narrativisierungen der drei exemplarischen Orte im Einklang oder im Konflikt mit dem Zeitgeist und den ideologischen Vorgaben der postrevolutionären mexikanischen Gesellschaft standen. Eine bedeutende Arbeitshypothese, der auch die Ortsselektion zu Grunde liegt, ist hierbei die Vermutung, dass die Diskurse der Selbstverständigung im

22 23 24

J. Assmann 2013, hier: 60. Zit. in J. Assmann 1988, 12. Aleida Assmann zit. in Erll/Wodianka 2008, 4.

Einführung: Orte als Spiegel der Zeit

Dialog mit der kollektiv geteilten Vergangenheit sich vor allem an Orten manifestieren, an welchen sich große historische Zäsuren ereignet haben. Ein Epochenbewusstsein konstituiert sich folglich retrospektiv und retroaktiv an Orten, die im Zuge von kollektiven Erfahrungsschwellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen und einem raumsemantischen Bedeutungswandel ausgesetzt waren. Im Kontext dieser Arbeit werden die drei großen Erfahrungsschwellen der mexikanischen Geschichte in der Conquista, der Mexikanischen Revolution und dem Mexikanisch-Amerikanischem Krieg gesehen, die ihr Nachleben jeweils in den Mnemotopen der Ruine, der Hacienda und der Nordgrenze am stärksten entfalten. Nach den einleitenden Reflexionen zur relativ kurzen Begriffsgeschichte der Mnemotopie in Abhängigkeit und Abgrenzung zu sinnverwandten raumwissenschaftlichen Konzepten, zur Prominenz von Erfahrungsschwellen als nationalen Wunden der Zeit sowie einer historischen Kontextualisierung der frühen mexikanischen Kinematographie in ihrer Rolle für das Nation-Building, wird in den drei anschließenden Fallstudien eine Konkretisierung gesellschaftlich relevanter Mnemotopie-Gestaltung im Film vorgenommen. Um der gesellschaftlichen Relevanz der drei Ortstypen und ihrem Beitrag zum kulturellen Gedächtnis Nachdruck zu verleihen, wird den einzelnen Filmanalysen jeweils eine Passage vorausgeschickt, die einen historischen Tiefenblick auf das jeweilige Mnemotop ermöglichen soll. So wie Carlos Fuentes, geht auch der Verfasser dieser Arbeit der Notwendigkeit nach, die Zeitschichten historischer Orte behutsam freizulegen, um die gegenwartsbestimmende Bedeutung der Mnemotope für die Wiederhervorbringung, Rekonstruktion und Interpretation der mexikanischen Vergangenheit zu ergründen. Dass die drei Mnemotope ihre Bedeutung auch nach der Blütezeit des Nationalfilms nicht eingebüßt haben und auch in postnationalem Setting25 das »Gemeinsame und Übergreifende«26 einer zunehmend fragmentierten mexicanidad prägen und für hypoleptische Verhandlungen eines kollektiven Selbstgefühls herangezogen werden, soll in den Ausblicken diskutiert werden, die die drei Fallstudien jeweils abrunden.

25 26

Den Hinweis auf die Kategorie des Postnationalen im Film verdanke ich Christian Wehr (vgl. Wehr (2017) und Satarain/Wehr (2020)). Rüsen 1994, 5.

17

  Hijos pródigos de una Patria que ni siquiera sabemos definir, empezamos a observarla. (Ramón López Velarde, Novedad de la Patria)   oye los pasos del tiempo inventor de lugares sin peso ni sitio (Octavio Paz, Como quien oye llover)   No ofrezco hechos probados, sino conjeturas razonables. (Javier Cercas, Soldados de Salamina)   Il est une manière d’aller au cinéma comme d’autres vont à l’église et je pense que, sous un certain angle, tout à fait indépendamment de ce qui s’y donne, c’est là que se célèbre le seul mystère absolument moderne. (André Breton, La Clé des Champs)

1. Zum Begriff der Mnemotopie

»Das ursprünglichste Medium jeder Mnemotechnik ist die Verräumlichung«1 , lautet Jan Assmanns Feststellung mit der er in seiner wegweisenden Studie Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992) dem Raumsinn eine außerordentliche Bedeutung für Prozesse der Gedächtnisbildung bescheinigt. Gerade für das kollektiv organisierte Gedächtnis seien »Zeichensetzungen im natürlichen Raum«2 ausschlaggebend für Prozesse der Identitätsstabilisierung im Zuge einer Vergangenheitsrekonstruktion, die sich entlang von Orten als signifikanten Raumeinheiten konstituiert. Bereits an einer früheren Stelle seiner prominenten Studie zum kulturellen Gedächtnis hebt der Ägyptologe mit Sinn für kulturwissenschaftliche Universalien die Bedeutung von kollektiv erschlossenen Orten im unmarkierten Raum hervor: Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung. Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung.3 Wenn Assmann mit dem Verweis auf eine anthropologische »Tendenz zur Lokalisierung«4 ein »particular somewhere« aus einem universalen »everywhere«5 löst, ist der Ortsbegriff noch ambivalent und meint gleichermaßen konkrete wie abstrakte Referenzobjekte. Allerdings wird die Metaphorik der Begriffe ›Verräumlichung‹ oder ›Ver-

1 2 3

4 5

J. Assmann 2013, 59. Ebd., 60. A. a. O., 39. Die konzeptuelle Nähe zu Maurice Halbwachs ist in dieser Passage besonderes offensichtlich, denn bereits 1941 stellt der Soziologe und Vordenker der modernen Memoria-Forschung fest: »[L]a mémoire d’une société […] a besoin de points de repère, et, puisqu’il s’agit de localisations, il faut que se détachent pour elle, par rapport à tous les autres, les emplacements les plus chargés de signification religieuse. De même, dans la mémoire collective en général, il y a des figures particulières, des dates, des parties du temps qui prennent un relief extraordinaire. Elles concentrent en elles d’autres figures, des événements qui se sont produits à d’autres moments« (Halbwachs 1971, 148). J. Assmann 2013, 39. Vgl. Casey 1998, xii.

24

A. Mnemotopie – Nation – Film

ortung‹ in der Studie immer wieder auf den Ort als konkrete, geographisch determinierte res extensa zurückgeführt. In Anlehnung an Maurice Halbwachs’ Diskussion von Palästina als einem mehrfach kodierten kommemorativen Raum, führt Assmann den Begriff »Mnemotop« ein und weitet die Dimension der Orte auf ganze Landschaften aus, die das kulturelle Gedächtnis stützen und organisieren.6 In seiner Untersuchung von Mechanismen der kollektiven Gedächtnisformation in frühen Hochkulturen wird der Mnemotopie-Begriff indes nur kursorisch definiert: Mnemotope seien »topographische ›Texte‹ des kulturellen Gedächtnisses«7 , schreibt der Ägyptologe und bietet eine Begriffsklärung, die weitgehend synonym ist zu Pierre Noras ungleich bekannterem Konzept der Gedächtnisorte (lieux de mémoire). Im Unterschied zu Noras ambigem Ortsverständnis, das eine lebensweltliche Erfahrbarkeit eines konkreten Ortes immer wieder zu Gunsten einer symbolischen und abstrakten Bedeutungsdimension aufgibt8 , liegt dem neu geschöpften Mnemotopie-Begriff bei Jan Assmann ein Raumbezug im nichtmetaphorischen Sinne zu Grunde. Freilich wäre die Mehrdeutigkeit des klassischen Topos-Begriffs, der gleichermaßen eine geographische Ortshaftigkeit wie einen ideengeschichtlich gereiften Gemeinplatz9 bezeichnen kann, auch im Neologismus der

6

7 8

9

Es gilt hierbei zu bedenken, dass es sich auch bei der Raumkategorie der Landschaft um diskursiv aufgeladene Raumeinheiten handeln kann, deren Qualität der »meaningful location« (Cresswell 2004, 7) sie ebenfalls als individuell oder kollektiv erschlossene Orte begreiflich macht. In Georg Simmels Definitionsversuch zur Landschaft als räumliche Kategorie ist bereits die Rede von einem »Ausschnitt der Natur«, der als Einheit betrachtet werde (vgl. Simmel 1913, 636f). Die Aggregation des Landschaftsbegriffs zur kollektiven Dimension erfolgt in Maurice Halbwachs Studie zur Legendentopographie des Heiligen Landes nach religiösen Aspekten der Gedächtnisformation (Halbwachs (1971)). J. Assman 2013, 60. Vgl. Nora 1984, xxxiv. Zur nachhallenden Ambivalenz rhetorischer Topik in Noras Verständnis der Gedächtnisorte schreibt Bodo Mrozek: »[I]n Noras mehrschichtigem Modell wird die Grenze ins Metaphorische überschritten: »lieux« sind für ihn ausdrücklich auch Symbole, die in einem nichtspatialen Sinn als Orte zu verstehen sind – etwa Flaggen, Hymnen oder Feiertage.« (Mrozek 2012, 418). Einen Überblick zur kritischen Rezeptionsgeschichte, die den Siegeszug von Noras Konzept der lieux de mémoire begleitet, darunter die immer wieder vorgebrachten Vorwürfe einer mangelnden theoretischen Kohärenz, die mitunter zur Beliebigkeit führe, der elitenzentrierten Vergangenheitsmythisierung oder der Ausklammerung der französischen Kolonialgeschichte, bietet Patrick Schmidt 2004, 25f. Eine bis in das 19. Jhd. dominante Vereinnahmung der räumlichen Mnemotechnik vom »Lehrgebäude der Rhetorik« wird in der klassischen Studie zur ideengeschichtlichen Präsenz der Antike und des Mittelalters in der europäischen Literatur von Ernst Robert Curtius unter dem Begriff der »Topik« verhandelt. Als »Vorratsmagazin« der Rhetorik sei die Topik das kollektive Fundament allgemeingültiger Kommunikationsformen, auch wenn der Topos-Begriff hier lediglich die Dimension rhetorischer loci communes oder argumentorum sedes (»Fundgruben für den Gedankengang« (Quintilian)) tangiert, die früher auch mit dem obsolet gewordenen Begriff der »Gemeinörter« bezeichnet wurden (vgl. Curtius 1993, 79 und 89). Zur ursprünglichen und in dieser Arbeit restituierten Polyvalenz des Topos-Begriffs als einem Behältnis im räumlichen und nichträumlichen Sinne, wie sie in der aristotelischen Opposition von topos koinos und topos idios stets mitzudenken war, vergleiche man auch das 3. Kapitel (»Place as Container«) in Edward Caseys raumphilosophischer Genealogie des Ortsbegriffs (Casey 1998, 50-71). Zur Ambivalenz des Ortsbegriffs in der Geschichte der Mnemotechnik schreibt prägnant Aleida Assmann 2006, 298ff.

1. Zum Begriff der Mnemotopie

Mnemotopie zu vermuten, doch bildet die topographische Konkretheit eine kategorische Voraussetzung für das Phänomen der Mnemotopie, mag sie auch im Dickicht sinnstiftender Diskurse in den Hintergrund treten. Einen Akzent auf den geographischen Aspekt von Mnemotopen legt auch Jörg Dünne in seinem Werk Die kartographische Imagination – Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. Im Gegensatz zur antiken Rhetorik, die eine Exteriorisierung des Gedächtnisses mit Hilfe des Raumbewusstseins vollzieht, dabei aber »weitgehend von konkreten Topographien abstrahiert«, bildet erst die topographische Bestimmtheit des Mnemotops einen Vorlage für die kulturelle Erinnerungspraxis.10 Dünnes Diskussion kartographischer oder poetologischer Ausgestaltungen von Mnemotopen unterstreicht jedoch auch die notwendige Medialität von Erinnerungen. Die Bedeutung einer präexistenten Raumeinheit wird also erst in Vermittlungsprozessen konstruiert und ein Gedächtniskollektiv erst mit Hilfe mediengestützter Sinnbildung regional geschlossen und zentralisiert.11 Eine daraus resultierende medientheoretische Erweiterung, die bei Halbwachs oder Assmann unterbelichtet bleibt, bildet also die prinzipielle doppelte Logik von Mnemotopen als medienlosen Orten und gleichzeitig Referenzobjekten topographischer Erinnerungsformen. Mnemotope sind damit Gegenstände und Medien des Erinnerns zugleich. Dass kollektive Erinnerung immer mediengestützt ist, wird auch in weiteren gedächtnistheoretischen Beiträgen diskutiert, die von sozialkonstruktivistischen Prämissen ausgehen. Eine grundsätzlich mediale Prägung unserer Wirklichkeiten postuliert zum Beispiel Astrid Erll in der Einführung zu Medien des kollektiven Gedächtnisses (2004), in der raumbasierte Gedächtnisspeicher eingerückt werden in eine Reihe von weiteren Medientechnologien, und Kommunikationsinstrumenten, die das kulturelle Gedächtnis stützen, darunter auch audiovisuelle Dispositive wie Film und Fernsehen, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird.12 Entscheidend ist für die weiteren Überlegungen jedoch der Konstruktionscharakter kultureller Erinnerungshorizonte und die Schlussfolgerung, dass medial externalisierten Wissensbestände einer hochgradigen Selektivität und kreativen Auslegungsfreiheit unterstellt sind und damit auch Mnemotope als eine Spielart der kulturellen Übertragungs- und Speichermedien keine »neutralen Träger von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen«13 sind. Die Interdependenz zwischen kollektiver Gedächtnisbildung und konkreten Raumeinheiten, die Assmann und Dünne postulieren, stellt indes eine weitere gedächtnistheoretische Anleihe bei Maurice Halbwachs dar, der als Pionier der modernen

10

11 12 13

Vgl. Dünne 2011, 93f. Dünne verweist bei seiner Annäherung an den Begriff der Mnemotopie auch auf von Barbara Ventarola, die in einem Kapitel ihrer Studie Kairos und Seelenheil der Frage nachgeht, inwiefern die Landschaft ein Mnemotop darstellt, das der poetischen Lesbarkeit der Welt dienen kann und explizit einer räumlich artikulierten Zeitbewältigung zuarbeitet. Wenngleich eine Definition des Mnemotopie-Begriffs bei Ventarola ausbleibt, wird die räumliche Exteriorisierung von Erinnerungen auf den individuellen Fall des Laura-Gedächtnisses im Canzoniere von Petrarca appliziert, so dass die kollektive Dimension der Mnemotopie, die in vorliegender Arbeit zum ortsbasierten Memory-Building einer Nation entscheidend ist, eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. Ventarola 2006, 9f und 185-257). Vgl. Dünne 2011, 93 und 98. Vgl. Erll 2004, 13. Ebd. 4f.

25

26

A. Mnemotopie – Nation – Film

Memoria-Forschung um die Duplizität des Topos-Begriffs wusste, die Stabilität der Erinnerung jedoch auch an die anfänglich physische Bedingtheit kommemorativer Landschaften knüpfte: [I]l en est ainsi toutes les fois qu’un souvenir collectif se trouve avoir un double objet, d’une part une réalité matérielle, figure, monument, lieu dans l’espace, et, d’autre part, un symbole, c’est-à-dire la signification spirituelle qui, dans l’esprit d’un groupe, s’attache et se superpose à cette réalité.14 Halbwachs’ weitreichender Befund, der die anthropogene Überformung des Naturraums für Prozesse der Ortssemiose auf eine Stufe mit Prozessen der symbolischen Zeichenwerdung stellt, lässt die Behauptung zu, dass Mnemotope umso bedeutendere Orientierungspunkte (»points de repère«15 ) für ein Kollektiv darstellen, je stärker die konkreten Spuren im Raum verblassen. Angesichts der drohenden Auslöschung kultureller Überlieferungsbestände entfalten Mnemotope neben anderen Speichern des kulturellen Gedächtnisses eine kompensatorische Funktion für die Selbstverständigung und raumzeitliche Verankerung eines Kollektivs.16 Hier greift die kulturelle Logik der Mnemotechnik als Vorrichtung gegen Katastrophen des Vergessens, wobei die räumliche Disposition oder das Beziehungsgeflecht von Symbolorten im Raum eines der signifikantesten Speichermedien des kulturellen Gedächtnisses bildet. Da ein fragiles soziales Gedächtnis sich gerade nach historischen Diskontinuitätserfahrungen anhand räumlicher Fixpunkte auszurichten tendiert, wird die Rolle von Mnemotopen als räumlichen Kontinuierungen einer kollektiv geteilten Vergangenheit infolge von einschneidenden Verlust- und Umbruchserfahrungen besonders prominent. Neben der Betonung des konkreten Ortscharakters von Mnemotopen sowie ihrer Eigenschaft, als Umbruchsorte auf historische Zäsuren eines Gedächtniskollektivs hinzuweisen, gilt es auch, die Anwendungsfelder des Konzepts zu präzisieren. In der Diskussion einer räumlichen Gedächtnisrahmung, die sich in Halbwachs’ La topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte. Étude de mémoire collective (1941) entlang der christlichen Ortskunde konstituiert und auch bei Jan Assmann hauptsächlich von religiösen Kohäsionsmechanismen früher Hochkulturen bestimmt ist, wäre der MnemotopieBegriff zunächst am ehesten in die Nähe sakraler Pilgerorte und heiliger Stätten zu rücken. Ein neuerer Definitionsversuch zur Mnemotopie, der die konzise Assmannsche Begriffsprägung aus der Exklusivität religiöser Gemeinschaftsbildung löst und auf das Feld moderner Gesellschaftswissenschaften übersetzt, findet sich bei Nicolas Pethes. »Als Mnemotope«, so der Literaturwissenschaftler, »bezeichnet man Landschaften oder Stadträume, die entweder als ganze oder hinsichtlich einzelner Bestandteile den identitätsstiftenden Vergangenheitsbezug einer Gruppe oder Kultur sichtbar machen bzw. zu etablieren und aufrechtzuerhalten helfen«17 . Auch in diesem Fall ist es der Raum,

14 15 16 17

Halbwachs 1971, 128. A. a. O., 148. Vgl. a.a.O., 128f. Pethes (2015). Eine erste Approximation des Autors an den Begriff liegt bereits vor in Pethes/Ruchatz 2001, 383f.

1. Zum Begriff der Mnemotopie

in dem Zeit lesbar wird und kollektiv gültige Vergangenheitsversionen anhand konkreter Raumeinheiten narrativ reinszeniert und stabilisiert werden können. Mnemotope als Orte, die mitunter mit »mythologischen Erinnerungsbezügen«18 aufgeladen seien, konstituieren sich damit ausschließlich in intersubjektiven Kommunikationsprozessen über die Zeit, womit Pethes implizit Jan Assmanns Vorstellungen von kulturellen Mechanismen der Kontinuitätsstiftung aufgreift, darunter die raumgestützte »Rekonstruktivität«19 , also die Vorstellung, dass nur erhalten bleibt, was im gegenwärtigen Bezugsrahmen einer Gesellschaft nachgebildet wird, oder die »hypoleptische Diskursorganisation«20 , also die Kontinuitätslinien, die ein Gedächtniskollektiv im Dialog mit seiner Vergangenheit in die Gegenwart projiziert. Unter Berücksichtigung der Gedächtnisdynamik kultureller Horizontbildung kann man auch davon ausgehen, dass die geographisch verorteten Vergangenheitsbezüge in »fortwährend sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart«21 organisiert werden und dabei stets mit kanonischen Kodifizierungen der Mnemotope in Verbindung stehen. Die Rolle von Mnemotopen als Orten, die zu einer »retrospektiven Besonnenheit«22 einladen, kann somit, in Analogie zu anderen materiellen Gedächtnisstützen und Relikten der Zeit, als Nexus zwischen dem kulturellen Gedächtnis und seinem topologischen Formenhaushalt verstanden werden. Erst im Rückgriff auf die Vergangenheit kristallisiere sich im Zuge einer kollektiven Text- und Sinnpflege ein Wissensbestand heraus, der sich handlungsleitend auf die Gegenwart auswirkt. Ein mnemotopisch organisiertes Kollektiv wird damit unweigerlich durch mediale Kanonisierungsprozesse konstituiert, die einen Ort oder einen Verbund miteinander korrespondierender Orte intelligibel macht.23 Das Konzept der Mnemotopie ist, vor allem mit Blick auf moderne Praktiken des kollektiven Memory Building, auch im Kontext profaner Sinnbildung anwendbar. In dieser Arbeit wird etwa am Beispiel der mexikanischen Ruine in ihrer vierfachen Qualität als Archäo- Hiero-, Nekro- und Mnemotop die Relevanz metaphysisch semantisierter Orte für das mexikanische Nationalbewusstsein aufgezeigt, an welchen zivilisationsgeschichtliche Zäsuren einer Gesellschaft mit überhistorischen Erklärungszusammenhängen aufgeladen werden. Gleichwohl ist die Ruine auch ein gutes Beispiel für säkulare Kulte und die Medialisierung kollektiver Gedächtnishorizonte. Ihre topologische Eigengesetzlichkeit, die Vergangenheit aber auch die Vergängnis sichtbar zu

18 19 20

21 22 23

Pethes (2015). Assmann 2013, 40ff. In Anlehnung an das rhetorische Verfahren der Anknüpfung an den Vorredner, etwa im Rhapsodenwettstreit, entwickelt Jan Assmann mit seiner kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Hypolepse-Begriffs eine mnemische Lesart der kulturellen Intertextualität, wobei sein Textbegriff in anthropologisch- pantextueller Entgrenzung gedacht werden muss, so wie der Semiose von Mnemotopen im Falle eines filmisch vermittelten Memory-Building auch ein intermediales Zusammenspiel oraler, schriftlicher und kinematographischer neben anderen Tradierungsformen vorliegt (vgl. J. Assmann 2013, 280-289). J. Assmann 2013, 41f. Warburg zit. in Matussek 2001, 378. Vgl. J. Assmann 2004, 88. Mnemotope verstanden als Erinnerungslandschaften gewinnen, wie Jörg Dünne hervorhebt, erst dank der »Relationen zwischen den einzelnen Orten eines lokal begrenzten Raums« ihre besondere semiotische Qualität (vgl. Dünne 2011, 97).

27

28

A. Mnemotopie – Nation – Film

machen, eignet sich für unterschiedliche Zugriffe und Formen der Identitätskonkretisierung. Wie auch andere Mnemotope bildet die Ruine damit einerseits eine Vorlage für Zeitsynthesen und gegenwartsbestimmende oder prospektive Erinnerungen, sie ermöglicht aber als Medium unterschiedlicher Zeithorizonte auch Überblendungen einer Alltagszeit und einer historischen Zeit 24 oder auch der profanen und der heiligen Zeit 25 . Mnemotope wären damit umfassender als Orte zu verstehen, die im Zuge von Transformationen und Kontinuitätsbrüchen zu identitätsstiftenden Wahrzeichen kollektiv organisierter Kulturgemeinschaften werden, generationsübergreifend zirkulieren und mit Narrativen angereichert werden, die für die Sozialisation in einem Gedächtniskollektiv signifikant sind. Eine Erweiterung des Mnemotopie-Begriffs auf profane Orte, die allenfalls mit einer quasireligiösen, staatlichen stabilitas loci aufgeladen sind, wird zum Beispiel auch im Kapitel zur mexikanischen Hacienda diskutiert und scheint auch bei der Besprechung einer Quasireligiösität staatlich institutionalisierter Erinnerungsvorlagen wieder auf, die sich an der mexikanischen Nordgrenze verdichten. Wenn also das Mnemotop in dieser Studie als ein das Gedächtnis stützender räumlicher »Semiophor«26 verstanden wird, kann man es in Anlehnung an Aby Warburgs Studien zum Nachleben vorgeprägter Formen als Andachts- und Denkort gleichzeitig begreifen, in welchem die »Tendenz zur ruhigen Schau« als auch zur »orgiastischen Hingabe«27 bewusste oder unbewusste Rückholungen der Vergangenheit bedienen können. Die Mnemotopie bildet folglich nicht nur einen Interessensgegenstand der Religionsforschung, sie bedient auch ein allgemeines gesellschaftswissenschaftliches Interesse an sozialen Orten, die ein sinnstiftendes Potenzial bei der Pflege und Verhandlung kollektiver Identitäten bereithalten. In Warburgs Widerspiel von Andachts- und Denkräumen, kultischen Orten und Forschungsstätten, offenbart sich auch die Ambivalenz der Erinnerung, die auch die Rahmensetzung eines Mnemotops in individueller und immer auch

24 25

26

27

vgl. Koselleck 1995, 10. Das Widerspiel einer konsekutiv fließenden profanen Zeit und einer heiligen Zeit, in der Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig werden, ist eine grundlegende Unterscheidung von Mircea Eliade (Eliade 1959, 35), auf die sich Jan Assmann immer wieder implizit bezieht (vgl. J. Assmann 2013, 75. oder auch J. Assmann 2005, 58). Das modifizierte Zeitempfinden, das den Menschen im religiösen Ritus in eine andere Zeit transponiert oder die Ewigkeit als große Synthese der Zeiten nachempfinden lässt, ist auch in diesem Fall erweiterbar auf eine überinstitutionelle und mithin säkulare Dimension der Vergangenheitsbeschwörung, die etwa in der vielfältigen Kulturpraxis der Andacht oder des Totengedenkens aufscheint, oder auch in kalendarischen oder ortsgebundenen Erinnerungsvorlagen nationaler Erinnerungskollektive enthalten ist. Vgl. Rüsen 1994, 8f. Den Begriff Semiophor führt der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen zur Bezeichnung von Objekten der historischen Faszination und Sinnstiftung ein (vgl. Rüsen 1994, 8f). Die Mnemotopie als räumlicher Träger einer latenten oder evidenten Zeichenhaftigkeit bildet aus kultursemiotischer Perspektive eine Spielart der »Semiophorie«, die den Blick auf gegenwartsbestimmende Überlieferungsbestände schärft. Im Hinblick auf die Zeitschichten einer unfassbaren und überdeterminierten Vorvergangenheit lässt sich auch von der Ruine als einem Medium der »Mythophorie« sprechen, wobei die etwas unglückliche Begriffsprägung von Jean-Jacques Wunenburger für einen Mythos als offenen Text, der wie eine Metapher auf neue Sinnzusammenhänge übertragen werde, hier auf den in dieser Arbeit dominanten Verständnishorizont räumlicher Sinnträger umgeschrieben sei (vgl. Wunenburger 2003, 292). Warburg 2010, 629.

1. Zum Begriff der Mnemotopie

intersubjektiver Dimension gestaltet, als empathische Identifikation mit einer »Kollektivpersönlichkeit«28 einerseits und einer bewussten Distanznahme zur Außenwelt andererseits. Beide Modi der Vergangenheitserfahrung sind bei Warburg gleichbedeutend und stehen in einem zyklischen Bedingungszusammenhang, dem »Rhythmus von Einschwingen in die Materie und Ausschwingen zur Sophrosyne«29 . Die Mnemotopie kann einen Schmelztiegel kollektiver Bewusstseinsprägungen darstellen, markiert aber auch Grenzen zwischen unterschiedlichen Gedächtnisrahmungen und bildet Vorlagen für soziologische Alteritätserfahrungen. Bedenkt man mit Renate Lachmann einen prinzipiellen Gedächtnispluralismus, der überregionale Gedächtniskollektive als Verbund von sogenannten »Gedächtnisdialekte[n]«30 verstehen lässt, leuchtet unmittelbar ein, dass Mnemotope keine universale Gültigkeit besitzen können. Als räumliche Erinnerungsmedien in komplexen oder fragmentierten Gesellschaftsgefügen haben Mnemotope vielmehr auch die Funktion von gedächtnispolitischen Identitätsschranken, mit der koexistierende Kollektive sich voneinander scheiden oder geschieden werden.31 Gerade im Hinblick auf eine nationale, staatlich kontrollierte Kulturproduktion, die mit dem Aufstieg der mexikanischen Filmindustrie ab Mitte der 1930er Jahren koinzidiert, ist der Anpassungsdruck an eine einheitliche historische Nationalfolklore besonders groß gewesen. Im Medium des Films wurde jene »heterogeneidad multitemporal«32 , also die Koexistenz von unterschiedlichen und teilweise konträren Zeitregimen, die Néstor García Canclini lateinamerikanischen Gesellschafen in seinem Werk Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad attestiert, auf eine Zerreißprobe gestellt. Eine Homogenisierung und Domestikation der vielfältigen Gedächtnisdialekte in Mexiko wird in der kinematographischen Massenproduktion an den einheitlichen Lesarten der drei Mnemotope erkennbar, die allumfassende, wenn nicht gar normative Identifikationsvorlagen für die krisengerüttelte, postrevolutionäre Gesellschaft Mexikos boten. Vor allem in Bezug auf semiotische Extrakulturen, die in dieser Arbeit an der Mnemotopie der mexikanischen Nordgrenze untersucht wird, kann man klare Tendenzen einer nationalen Abschottung erkennen – einer geographischen Trennlinie, die zur Begrenzung der Identitäts- und Gedächtnisvorlagen monolithisch imaginierter Nationalkollektive werden kann. In vorliegender Arbeit werden die Anwendungsmöglichkeiten der Mnemotopie anhand ihrer Vermittlung in der mexikanischen Filmkultur erörtert und die Herausbildung von Identifikations- und Imaginationsvorlagen immer wieder mit historischen

28 29 30

31

32

Ebd. Ebd. Den Begriff der »Gedächtnisdialekte« führt Renate Lachmann ein um auf einen prinzipiellen Pluralismus der Vergangenheitsbezüge eines räumlich abgesteckten Kollektivs hinzuweisen: »Der Kultur- und Gedächtnisraum ist […] keineswegs einheitlich, sondern ist durch Untergruppen gegliedert, die eigene ›Gedächtnisdialekte‹ herausgebildet haben und damit zu einer mnemonischen Pluralisierung des Systems beitragen.« (Lachmann 2012, 110.) Das Phänomen der Gleichörtlichkeit gegensätzlicher Gedächtnisströme wird in der Ruine als ›Schmelztiegel‹ eines mestizischen Bewusstseins untersucht, in der markanten sozialen Stratifizierung der Hacienda-Gesellschaft nachvollzogen und im Grenzsaum als Kontaktzone nationaler Gedächtnisformationen wieder aufgegriffen. García Canclini 1990, 72.

29

30

A. Mnemotopie – Nation – Film

Wissensbeständen der Zeit kontrastiert. Die Kinematographie und die darin enthaltenen Formen einer ortsgestützten Selbstinszenierung bilden ein geeignetes Reflexionsmedium für das kollektive Geschichtsbewusstsein. Inwiefern die Mnemotopie ein hermeneutisches Erkenntnisinstrument bei der Betrachtung gesellschaftlicher Kohäsion darstellen kann, wird in dieser Arbeit an konkreten Anschauungsbeispielen gezeigt, in welchen die methodische Eignung des Begriffs empirisch erschlossen wird. Stellt man sich aber zunächst die Frage, wie Mnemotope entstehen und welche mnemotechnische Funktion sie für eine Gemeinschaft haben, so ist die exemplarische Einhegung des Begriffs auf einen nationalen mexikanischen Rahmen für die weiteren Überlegungen notwendig. Darin eingebettet ist die Hypothese, dass Mnemotope eines Gedächtniskollektivs sich in Folge von historischen Diskontinuitätserfahrungen etablieren und in fortwährender Aktualisierung der Vorstellung von einer kollektiv geteilten Vergangenheit ihr gemeinschaftsstiftendes Potenzial ausspielen. Die Notwendigkeit zur Konkretion liegt nicht zuletzt auch in dem seit Halbwachs etablierten Axiom begründet, dass selbst individuelle Gedächtnisformationen ohne eine kollektive Rahmung undenkbar sind.33 Der nachfolgende Reflexionsbogen zur Nation als übergeordnetem cadre social und spatial stellt somit eine Gegenstandspräzisierung und zeitgeschichtliche Kontextualisierung des Mnemotopie-Konzepts dar, die auf die Betrachtung der mexikanischen Filmkultur und die drei Fallstudien zu den gedächtnisstiftenden Aspekten der Ruinen, der Haciendas sowie der Nordgrenze überleiten sollen.

33

Vgl. dazu Halbwachs’ einflussreiche soziologische Studie Les cadres sociaux de la mémoire (1925) zur kontextabhängigen Gedächtnisformation in »Interessen- und Denkgemeinschaft[en]« (Halbwachs 1985, 195-201, hier 199f). Die Interdependenz eines persönlichen/autobiographischen und eines sozialen/historischen Gedächtnisses wird in seinem nicht minder bedeutenden, posthum erschienenen Werk La mémoire collective (1950) wieder aufgegriffen (vgl. Halbwachs 1968, 36).

2. Kollektive Erfahrungsschwellen im mexikanischen Nation-Building

Im Hinblick auf die Mnemotopie als kollektive Erinnerungsstütze im Raum bedeutet die Emphase des Imaginären bei der Vergegenwärtigung des Unwiederbringlichen, dass vor allem Orte, die mit markanten Diskontinuitätserfahrungen semantisiert sind, obsolet gewordenen Kulturelementen zu einer bleibenden Gültigkeit verhelfen können. Aus diesem Grund liegt es nahe, den Begriff der Erfahrungsschwelle einzuführen, der Prozesse der kollektiven Gedächtnisstiftung als Folgeerscheinungen eines gesellschaftlichen Bewusstsein für historische Perioden oder Epochen begreifen lässt. Reinhart Koselleck spricht im Rekurs auf große historische Zäsuren von »Erfahrungsschwellen, die einmal institutionalisiert oder überschritten, gemeinsame Geschichte stiften«1 . Gerade die Umbruchsmomente einer geteilten Geschichte, die in Jörn Rüsens Betrachtungen zur gesellschaftlichen Geschichtskultur das »Gemeinsame und Übergreifende«2 eines Erinnerungskollektivs bildet, kann man mit Aleida Assmann auch als bedeutende Elemente im »Funktionsgedächtnis«3 oder »bewohnte[n] Gedächtnis«4 einer Gemeinschaft verstehen, so dass gerade auch anachronistische oder dysfunktional gewordene Orte zu Orientierungspunkten einer kollektiv geteilten Identität hinzugerechnet werden müssen. Was hier auf dem Spiel steht ist die Frage, inwiefern sich die metaphorische Bewohnbarkeit geteilter Erinnerungen auf Orte übersetzen lässt, an welchen große historische Diskontinuitätserfahrungen im räumlichen Medium eingebettet finden; die Frage, inwiefern Mnemotope eine gemeinschaftsbildende longue durée bewahren und ein weit in die Vergangenheit reichendes Zeitbewusstsein nachhaltig stützen können. Nicht

1 2 3

4

Koselleck 2013, 36. Rüsen 1994, 5. Zum Widerspiel zwischen dem unbewohnten »Speichergedächtnis« und dem »bewohnten« Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft vgl. A. Assmann 1999, 133-142. Das gesellschaftliche Funktionsgedächtnis, das Aleida Assmann mit den Eigenschaften »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« versieht, sind für das kollektive Ortsgedächtnis einer nationalbewussten Filmkultur, die in dieser Studie untersucht wird, in besonderem Maße relevant. Ebd., 133.

32

A. Mnemotopie – Nation – Film

minder interessant ist in diesem Kontext natürlich auch die Dimension kollektiver Identifikationsprozesse und die Frage, ob sich das kulturelle Gedächtnis auch in einer mnemischen Rahmung einer überregionalen Nationalkultur denken lässt? Bedeutsam scheint im Hinblick auf das räumlich vermittelte Erleben vergangener Gegenwarten die Tatsache, dass das ortsgestützte Gedächtnis einer narrativ verschränkten »communauté affective«5 laut Halbwachs eher selten nationale Dimensionen erreicht und die Nation als verhältnismäßig junge Gemeinschaftsform hinter den traditionellen Milieus der Familie, der Religionsgemeinschaft, des Standes oder der Klasse nur selten zum Vorschein kommen. Die von Halbwachs postulierte Unerheblichkeit der Nationen als cadres lointains6 muss jedoch im Hinblick auf massenmedial gestützte Prozesse der kollektiven Gedächtnisbildung die Bedeutung nationaler Kohäsion im 19. Und 20. Jahrhundert relativiert, wenn nicht dementiert werden. Gerade in der neuzeitlichen Rahmung der Nationalkollektive ermöglichen Kommunikationstechnologien der Informationsstreuung eine zunehmend größere Breitenwirkung, darunter auch Medien der staatlich institutionalisierten Gedächtnispflege. Eine wichtige theoretische Erweiterung zum Konzept der Mnemotopie als gemeinschaftsbildenden Erinnerungslandschaften stellen daher die sozialkonstruktivistischen Thesen zu Prozessen des Nation-Building dar, die Benedict Anderson in seinem viel rezipierten Werk Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism diskutiert. Ähnlich wie Jesús Martín Barbero, der die Bedeutung »kultureller Matrizen«7 für den kulturellen Gemeinschaftssinn anführt, sieht Anderson das moderne Gefüge der »community in anonymity«8 durch eine nationalbewusste Identitätskonstruktion etabliert. Die Funktion der »Identitätskonkretisierung«9 , die zuvor größtenteils auf supranationale Glaubensgemeinschaften entfiel, werde im Zeitalter säkularer Gemeinschaftsbildungen im 19. und 20. Jhd., wenn man Andersons soziohistorischen Ausführungen folgt, von dem neuzeitlichen Konstrukt der Nation aufgefangen, das zur dominanten Agentur kultureller Kontinuitäten wird und die neu entstehenden Nationalsphären mit »indefinitely stretchable nets of kinship«10 überzieht. Der Ausbau von Kommunikationstechnologien der Nationen in statu nascendi spielte eine entscheidende Rolle für die Verbreitung zentralisierter Imaginationsvorlagen. Waren es in Andersons Fokus noch wesentlich Schriftmedien, Bücher und Periodika, die ihre Breitenwirkung zur Geltung bringen konnten11 , so war im 20. Jahrhundert zunehmend das Filmmedium dafür verantwortlich, Bildungs- und Identitätshorizonte einer Nation konvergieren zu lassen und das Gefühl einer geteilten Nationalzeit zu vermitteln. Die schriftlose, audiovisuelle Kommunikation war vor allem für multilinguale Gesellschaften mit heterogenen Bewusstseinsprägungen und historischen Pfadabhängigkeiten, wie etwa Mexiko, ein geeignetes Medium gewesen, das sich über die 5 6 7

8 9 10 11

Theißen zit. in J. Assmann 2013, 41. Halbwachs 1968, 66. Jesús Martín Barbero prägt im Kontext der überindividuellen Identitätsstiftung einen treffenden Begriff, wenn er von »kulturellen Matrizen« spricht, die narrativ vermittelt und massenmedial institutionalisiert werden (vgl. Martín Barbero (1984)). Anderson 1991, 36. Vgl. J. Assmann 1988, 13 und sinnverwandt bereits bei Halbwachs 1985, 261. Anderson 1991, 6. Vgl. Anderson 1991, 35.

2. Kollektive Erfahrungsschwellen im mexikanischen Nation-Building

Zugangsbarriere der Alphabetisierung hinwegsetzen konnte und auch von der Schriftkommunikation ausgeschlossene Bevölkerungsteile an der Dissemination des Nationalbewusstseins partizipieren lassen konnte. Unter die Kategorie nationaler Vertrautheiten fallen selbstverständlich auch kollektive Orte, an welchen überregional gültige Vergangenheitsversionen und Gedächtnisbilder inszeniert werden können.12 Wenn man nun die Funktion der Mnemotopie im modernen Nation-Building zu eruieren versucht, gilt es zu bedenken, dass bei der Medialisierung des Nationalbewusstseins in Narrativen einer »secular continuity«13 ein gemeinsamer Erinnerungshaushalt nur mit zentralistischen gedächtnispolitischen Maßnahmen herausgebildet werden konnte und ein nationaler Kitt mit einer Homogenisierung widerstrebender Überlieferungszusammenhänge einherging.14 Mnemotope stellten hierfür sehr geeignete Referenzobjekte für die Rückbesinnung auf eine geteilte Vergangenheit und boten Legitimationsgrundlagen für weitläufige territoriale Relektüren im Geiste des Nationalismus. In kulturwissenschaftlicher Auslegung der nationalistischen Hochkonjunktur im 19. und am Anfang des 20. Jhd. kann man dabei festhalten, dass gerade kollektiv geteilte Bruch- und Krisenerfahrungen, die mit Koselleck als Erfahrungsschwellen bezeichnet wurden, in besonderem Maße zum Nationalbewusstsein beitragen konnten. Folgt man Nicolas Pethes kulturwissenschaftlichen Ideen zum Krisenbewusstsein als Katalysator eines kollektiven Erinnerungsbedürfnisses15 , kann man Mnemotope daher als notwendige Identifikationsvorlagen begreifen, an welchen sich die Vergangenheit neu entstehender Nationalkulturen nach staatstragenden Vorstellung an die Gegenwart knüpfen ließ. Die Kultur verstanden als »Traditionszusammenhang einer Gemeinschaft«16 ging damit einher mit der Ausdehnung eines Memory-Buildings, das eine nationale Rahmung über die Divergenzen der Gedächtnisdialekte, der koexistierenden Bewusstseinsprägungen und Vergangenheitsbezüge stellte. 12

13 14 15

16

Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist Andersons Diskussion der topographischen Erfassung neu formierter nationaler Territorien relevant, einer im wahrsten Sinne des Wortes raumgreifenden Kolonisationspraxis, mit der die Souveräne der ›Neuen Welt‹ ihre Macht konsolidieren konnten. Die Karte als Nebenprodukt des Printkapitalismus war dabei nicht nur bedeutsam für territoriale Grenzziehungen, sie prägte auch eine einheitliche Weltvorstellung entlang geschichtsträchtiger und sakraler Stätten, die anhand von performativen Explorationen – wenn man so will ›Parcours durch die lokale Geschichte‹ – rekonstruiert und einverleibt wurden. Die topographische Durchdringung der neu formierten Nationen ging somit auch in Mexiko einher mit einer semiotischen Einverleibung der lokalen Vorvergangenheit innerhalb der kreolischen Historiographie im 19. Jhd (vgl. Anderson 1991, Kap.4: »Creole Pioneers«, 47-65). Anderson 1991, 12. Vgl. Anderson 1991, 201. Im Hinblick auf die Vielfalt konkurrierender Gedächtnisdialekte innerhalb moderner Gesellschaften siehe auch Pethes 2008, 20. Pethes 2008, 12f. Der Autor greift hierbei auf die klassische Vorstellung der Gedächtnisformation, die vordergründig in einer Besinnung auf eine traumatische Vergangenheit konstitutiv wird. Hier finden Isaiah Berlins historische Wunden als kausale Wegbereiter des Nationalismus in ähnlichem Maße Resonanz wie auch Aby Warburgs Diskussion der »Aufstachelung als mnemische Funktion« (Warburg 2010, 635f). Nicht zuletzt das Totengedenken, das unter anderem Jan Assmann als »UrErfahrung jenes Bruchs zwischen Gestern und Heute« diskutiert, lässt die kommemorative Trauer als zentrales Movens gesellschaftlicher Überlieferungsprozesse verstehen, wenn nicht gar als formatives Element der kulturellen Horizontbildung schlechthin (J. Assmann 2013, 33f). Pethes 2008, 16.

33

34

A. Mnemotopie – Nation – Film

Mit diesem soziohistorischen Horizont zum ortsgestützten Gedächtnis einer Nation vor Augen ist es an der Zeit, in den mexikanischen Kontext vorzudringen. Blickt man nämlich auf die Besonderheiten der mexikanischen Nationalgeschichte, so kann man behaupten, dass das mexikanische Nationalbewusstsein sich ausgehend von drei großen Verlusterfahrungen konstituieren konnte, die als Erfahrungsschwellen im postrevolutionären kulturellen Gedächtnis der Nation im 20. Jhd. rezipiert und präsent gehalten wurden und Identifikationsvorlagen für das fragile mexikanische Nationalkollektiv boten: Zunächst ist eine große caesura historica in der Conquista als bedeutsamste kontinentale Umbruchserfahrung zu sehen, die an die Ursprünge der mexikanischen Nation im überregionalen Paradigma lateinamerikanischer Staatenbildung erinnert. Im 19. Jhd. stehen wir vor der zweiten Erfahrungsschwelle, die in der Loslösung der kreolischen Eliten von der spanischen Metrópoli begründet liegt, der transatlantischen Vorherrschaft, die der Gesellschaft einen flächendeckenden spirituellen Stempel aufgedrückt hatte. Dass die Unabhängigkeit auf tönernen Füßen stand, sieht man dabei an den kriegerischen Konflikten um die Selbstbestimmung, die das 19. Jhd in Mexiko nachhaltig geprägt haben. Vor allem die großen Gebietsverluste in Folge des MexikanischAmerikanischen Krieges (1846-1848) lassen sich ex post als Restriktionen aber auch Stützen des mexikanischen Nation-Building betrachten. Ein dritter historischer Einschnitt ist schließlich in der mexikanischen Revolution zu sehen, in der am Anfang des 20. Jhd. die semifeudalen Strukturen als Rudimente der Kolonialzeit in opferreichen Überwindungsversuchen in Angriff genommen wurden. Die Revolution kann man hierbei als einen Katalysator des Strukturwandels betrachten, der auch die mexikanische Gesellschaft im Zuge einschneidender Modernisierungsprozesse in eine neue Epoche befördern sollte. Aus der Synthese dieser drei Umbruchsmomente resultiert im 20. Jhd. eine Phase des nachrevolutionären mexikanischen Nationalismus, in welchem ein dauerhaftes Krisenbewusstsein nach einem Masternarrativ der nationalen Geschlossenheit verlangte und die Suche nach einer einheitlichen mexicanidad im Dialog mit ihrer Vergangenheit zum Gebot der Stunde, ja zum epochemachenden Kennzeichen der Staatsräson und Kulturpolitik wurde.17 Die posttraumatische gesellschaftliche Stimmung nach der mexikanischen Revolution war dabei in besonderem Maße für die Ausprägung eines nacionalismo revolucionario verantwortlich, den der Historiker Hector Aguilar Camín sehr treffend im Zeichen einer zentralistischen Rückbesinnung auf eine nationale Geschichte diskutiert: En la refundación de las señas de identidad del país, el nacionalismo revolucionario incluyó y amplió las huellas del pasado en una mezcla única. Fue indigenista y anties17

Sehr eindrücklich wird die Einheitsstiftung der Revolution als nationales Projekt bei Arthur Schmidt diskutiert, der in einem Dreischritt den Umschwung von der Revolution zur Evolution ab den 1940er Jahren, gefolgt von einer »demolition« nationaler Mythen ab den 1970er Jahren nachzeichnet (vgl. A. Schmidt (2001)). Für den zeitlichen Kontext der vorliegenden Arbeit ist die kulturpolitische Integration der Many Mexicos (Lesley Byrd Simpson) in eine nationale Klammer von besonderer Relevanz, da die nationalen Mikrokosmen der Época de Oro als Metonyme der Gran Familia Revolucionaria imaginiert wurden.

2. Kollektive Erfahrungsschwellen im mexikanischen Nation-Building

pañol, como el patriotismo criollo, pero fue también proteccionista y tutelar, como las leyes de Indias con las comunidades y los pueblos; fue jacobino, laico y republicano, como la reforma liberal, pero no fue democrático, sino centralizador, presidencialista y autoritario, como habían deseado las inercias monárquicas novohispanas y la causa conservadora decimonónica, emblematizada por Lucas Alamán. En este aspecto, dio su propia respuesta revolucionaria al exacto coloquialismo de Tomel: »El único medio posible: monarquía, y monarca sin nombre.18 Vor allem im Hinblick auf die mexikanische Revolution als dritte Erfahrungsschwelle, die im Nachgang staatspolitisch ausgestaltet wurde, ist auch ein kulturhistorischer Kontext zu sehen, der für die makropolitischen Vorgaben des zeitgenössischen Kulturbetriebs maßgeblich war und zu verstehen hilft, warum die drei nachfolgend untersuchten Mnemotope vordergründig in ihrer nationalen Dimension betrachtet werden. Für unzweideutige Indienstnahmen der nationalen Vergangenheit waren historische Einschnitte und ihre Spuren im Nationalterritorium zentral und führen auf die einschlägige Nationalismushypothese zurück, die Isaiah Berlin als Antwort eines stets fragilen Nationalkollektivs auf Verlusterfahrungen und historische Wunden diskutiert. Die »Wunde der Eroberung oder sogar kultureller Erniedrigung«19 als Nährboden des Nationalismus war in Mexikos gebrochenem Selbstverständnis des Mestizentums, das in erster Linie der apóstol de la educación José Vasconcelos bei der Verklärung rassenbiologischer Synthesen in La raza cósmica (1925) propagiert hatte, zweifelsohne gegeben und als mnemischer Mechanismus der Selbstverständigung vor allem in der nationalen Konsolidierungsphase und der Rückbesinnung auf die eigenen Ursprünge im frühen 20. Jhd. wirkmächtig. Im postrevolutionären Selbstverständnis Mexikos wird die Rückbesinnung auf nationale Erfahrungsschwellen zentralstaatlich organisiert und überzieht die Informationsgesellschaft mit einer überregionalen und »konnektive[n] Struktur«20 . Dass die Rolle des kollektiven Gedächtnisses laut Jan Assmann eben auch darin besteht, prägende Erfahrungen und Erinnerungen aktuell zu halten und »Bilder und Geschichten einer anderen Zeit«21 in den fortschreitenden Gegenwartshorizont zu integrieren, lässt nachvollziehen, dass die Biographie der modernen mexikanischen Nation seit der kreolischen Unabhängigkeitsbewegung am Anfang des 19. Jhd. in besonderem Maße von präkolumbinischen Zeitschichten als Vorlagen einer gemeinschaftsstiftenden Gegenidentität beeinflusst wurde und Mexiko als imagined community sich in Abkehr von der spanischen und später der habsburgischen und US-amerikanischen Hegemonie zu konstituieren versuchte.22

18 19 20 21 22

Aguilar Camín 1993, 40. Berlin 1990, 59. Assmann 2013, 16. Ebd. Die Besinnung auf präkolumbinische Epochen als lateinamerikanische Formel der modernen Selbstverständigung untersucht Benedict Anderson in seinem Kapitel zu den Besonderheiten des postkolonialen Patriotismus: »Spanish-speaking mestizo Mexicans trace their ancestries, not to Castilian conquistadors, but to half obliterated Aztecs, Mayans, Toltecs and Zapotecs.« (Anderson 1991, 154).

35

36

A. Mnemotopie – Nation – Film

Ein Versuch die Thesen Berlins auf mexikanische Verhältnisse zu übersetzen findet sich auch bei Carlos Fuentes, der sie in dem Essay La herida mexicana (1991) auf die Besonderheiten des mexikanischen Nationalbewusstseins im 20. Jhd. appliziert: En gran medida, el nacionalismo mexicano […] [n]ace para sustituir lazos perdidos o imponerse a lazos antiguos que la modernidad considera arcaicos. Nace, en consecuencia, como parte de un proyecto de modernidad, a fin de darle cohesión y velocidad. Y nace, siguiendo a Berlin, para dar respuesta a heridas infligidas a la sociedad.23 Folgerichtig erhebt Carlos Fuentes die drei historischen Ereignisfolgen der Conquista, der Independencia und der Revolución ex post betrachtet zu leitgebenden gesellschaftlichen Umbruchsmomenten in der mexikanischen Geschichte. Stellt man sich nun die Frage, inwiefern die drei für die Época de Oro wesentlichen heridas mexicanas als in das nationale Territorium eingelassene Raumeinheiten objektiviert und abgerufen werden konnten, so lassen sich die Erfahrungsschwellen in ein Korrespondenzverhältnis mit jeweils einem Ortstyp rücken, der die prospektive Vergegenwärtigung der Vergangenheit befördert. Für die Conquista als erste historische Wunde, die Carlos Fuentes als Aufkündigung einer unbedingten »adhesión indígena«24 behandelt, sind es zweifelsohne die präkolumbinischen Bauformen, die oftmals bereits vor der Ankunft der Spanier im 16. Jhd. verlassen waren, in ihrer Funktion der Mahnmale altamerikanischer Imperien jedoch stets an die große Zäsur des folgenschweren interkontinentalen Kulturkontakts und an die Krise lokaler Kosmovisionen erinnern. Eine zweite Verlusterfahrung führt Fuentes auf die territorialen Beschneidungen der jungen mexikanischen Republik zurück, die sich infolge der Gebietsabtretungen an die USA im Jahr 1847 an der weit in den Süden verschobenen Nordgrenze nachvollziehen lassen. Schließlich markiert die herbeigesehnte Abspaltung von der nachhaltigen spanischen Kolonialherrschaft, die im 20. Jhd. in der mexikanischen Revolution gipfelte, eine dritte Erfahrungsschwelle, die sich vor allem an dem ganz Mexiko erfassenden Netzwerk der Haciendas ablesen lässt, die während der revolutionären Umstrukturierung des ruralen Mexikos in den Fokus gerieten und nicht selten zerstört oder verbrannt wurden. Bis zu den Auflösungserscheinungen im Zuge der schleichenden Modernisierung des mexikanischen Agrarstaats an der Schwelle zum 20. Jhd. und den aus der Revolution resultierenden Reformen unter Lázaro Cárdenas in den 1930er Jahren, war das mexikanische Hinterland dominiert von

23

24

Fuentes (1994). Ein weiterer Gewährsträger für Fuentes Diskussion von chronologischen Wunden und Erfahrungsschwellen als historischen Orientierungspunkten der nationalen Kohäsion stellt Émile Durkheim dar, der in Le suicide (1897) seine grundlegenden soziologischen Thesen der gesellschaftlichen Desintegrationserfahrung und dem modernen Krisenbewusstsein als Folge der Zerschlagung klassischer Identifikationszentren und sozialer Milieus wie der Stammes- oder der Glaubensgemeinschaft sowie der Familie entwickelt. Wenngleich in der Folgezeit vielfach kritisiert, stellen Durkheims Überlegungen zum gesellschaftlichen Kollektivismus im Rahmen der hier untersuchten Prozesse filmgestützter Gesellschaftsbildung im Sinne einer »zentripetale[n] Staatseinheitskultur« (Lachmann 2012, 114) ein durchaus gültiges Gesellschaftsparadigma dar, das erst ab den 1960er Jahren und spätestens seit der jüngsten Erfahrungsschwelle des Massakers von Tlatelolco (1968) einem Umdenken hin zu einer dehierarchisierenden Gegenkultur zu weichen beginnt und damit auch einer Pluralisierung der Bewusstseinsprägungen und Gedächtnisbilder. Ebd.

2. Kollektive Erfahrungsschwellen im mexikanischen Nation-Building

der kolonialen Hacienda-Wirtschaft und der entsprechend hierarchisch strukturierten Hacienda-Gesellschaft. Eingedenk der von der Nachwelt als gravierende Umbruchsmomente empfundenen ›chronologischen Zentren‹ in der mexikanischen Geschichte, widmet sich die vorliegende Arbeit daher der ortsgestützten Erinnerungsarbeit im Film anhand der drei Ortstypen – der Ruine, der Hacienda und der Nordgrenze –, an welchen sich ein Nationalsinn entlang von einschneidenden Diskontinuitätserfahrungen konstruieren ließ. Der Selektion der drei Mnemotope liegen drei wesentliche Hypothesen zu Grunde: Einerseits lässt sich die Ausprägung von Mnemotopen als kollektiven Gedächtnisstützen vordergründig infolge von Erfahrungsschwellen im Sinne von historischen Krisenmomenten beobachten, die das kulturelle Gedächtnis einer Nation stützen und bedingen. Ein national gerahmtes Gedächtnis, das sich entlang von ›Wunden der Zeit‹ konstituiert, lässt eine Tendenz der nationalen Mnemotopie zu Orten kollektiver Traumata erkennen. Nicolas Pethes Vermutung, dass Erinnerungsräume, die einer tatsächlichen Wiederbegehung aufgrund historischer Verwerfungen entzogen sind, sich in die Kategorie »negativer Mnemotope« fügen25 , hat für die nationale Akzentuierung der Mnemotopie eine besonders hohe Relevanz. Dass die drei hier behandelten Mnemotope in erster Linie als nationale »Schattenorte«26 fungieren, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im topologischen Intonationsinventar der kulturellen Rückbesinnung nicht auch positive Wendungen der Mnemotope enthalten waren, die eine Fixierung auf ortsgestützte Diskontinuitätstraumata depotenzieren und hinter scheinbar ungebrochene historische Kontinuitäten rücken.27 In der kollektiven Verklärung selektiver Vergangenheitsbezüge liegt auch die zweite Hypothese, die das kollektive Gedächtnis mit Maurice Halbwachs als einen Kompensationsmechanismus begreift, mit dem eine posttraumatische Gesellschaft sich der Kontinuitäten abgeschlossener Epochen versichert: Il faut bien que la société vive; quand même les institutions sociales seraient profondément transformées, et al.ors surtout qu’elles le sont, le meilleur moyen de leur faire prendre racine, c’est de les étayer de tout ce qu’on peut ressaisir de traditions. Alors, au lendemain de ces crises, on se répète : il faut recommencer au point où on a été interrompu, il faut reprendre les choses à pied d’œuvre. Et quelque temps, en effet, on se figure que rien n’est changé, parce qu’on a renoué le fil de la continuité. Cette illusion, dont on se débarrassera bientôt, aura au moins permis qu’on passe d’une étape à l’autre sans que la mémoire collective ait eu à aucun moment le sentiment de s’interrompre.28 Eine posttraumatische Aufbruchsstimmung korrespondiert also stets mit den konservativen Regungen einer Erinnerungskultur und dem Wiederanknüpfen an einen ge-

25 26 27

28

Vgl. Pethes (2015). Vgl. Sabrow (2015). Vor allem in den Kapiteln zur Hacienda und zur Nordgrenze wird die gegensätzliche Gestaltung der Mnemotopie als Formenvielfalt kollektiver Erinnerungsleistung im Widerspiel mit Tendenzen der Desemiotisierung negativer Mnemotope erörtert. Halbwachs 1968, 72f.

37

38

A. Mnemotopie – Nation – Film

fährdeten oder obsolet gewordenen Traditionskanon. Die kollektive Hinwendung zum genius loci eines Mnemotops ist jedoch nur auf den ersten Blick die Suche nach einem verschollenen genius saeculi, denn bei genauerem Hinsehen handelt es sich um gegenwartsrelevante Reaktionen auf gesellschaftliche Transformationsprozesse. Paraphrasiert heißt das, dass die Selektion und retroaktive Interpretation überliefernswerter Kulturbestände stets in einem Dependenzverhältnis zu den gegenwärtigen makrostrukturellen Entwicklungen und Vorgaben einer Gesellschaft erfolgt. Während der postrevolutionären mexikanischen Umbruchsphase, in der die meisten der hier untersuchten Filme entstanden sind, besitzt die kinematographisch vermittelte Gedächtnisarbeit damit das doppelte Antlitz der Inszenierungen brüchig gewordener Kontinuitäten einerseits, die andererseits Vorlagen für eine kollektive Erinnerungs- oder Trauerarbeit bieten, die in besonderem Maße konstitutiv ist für das Selbstverständnis einer Nation. Mnemotope als ›Gedächtnisanker‹ der kollektiven Erinnerungspraxis fungieren damit simultan als symbolisch perpetuierte »foyer[s] des traditions«29 und werden in dieser Arbeit als ›kalte Mnemotope‹ bezeichnet, die im Rückgriff auf die Vergangenheit eine »Überraschungsresistenz«30 gegenüber dem Wandel der Zeit auszuspielen versuchen. Hierbei erklärt sich auch eine wesentliche funktionale Differenz gesellschaftlicher Erinnerungsleistung auf die Jan Assmann aufmerksam macht, denn die »einen erinnern sich an die Vergangenheit aus Angst, von ihrem Vorbild abzuweichen, die anderen aus Angst, sie wiederholen zu müssen«31 . Spielarten einer ›heißen Mnemotopie‹, die letztgenannte Befindlichkeiten kanalisieren, werden vor allem bei der Betrachtung der mexikanischen Revolution als frische, noch nicht periodisierte, oder auch nie ganz zu überwindende Erfahrungsschwelle manifest, die sich in den gegenwartskritischen Vergangenheitsbezügen vereinzelter Filme übersetzt findet und vor allem in der postnationalen Revision habitualisierter Mnemotopie-Gestaltung wieder greifbar wird.32 Eine dritte Hypothese, die ebenfalls die kinematographische Gedächtnisstiftung adressiert, resultiert aus Kosellecks Emphase sinnstiftender Institutionalisierungsprozesse, also der Überzeugung, dass erst serialisierte Inszenierungen und Narrativisierungen der Mnemotope den jeweiligen Erfahrungsschwellen ihre Prominenz und kanonische Allgemeingültigkeit innerhalb der Kulturgrammatik einer Nation verleihen. Wie Hans Robert Jauß es im Hinblick auf die gesellschaftliche Rezeptionsleistung der historischen Dynamik fasst, sei nämlich der »Umbruch vom Alten zum Neuen […] nicht schon an historischen Zäsuren, sondern erst an dem […] post rem sich abzeichnenden Limes von >Epochenschwellen< erkennbar«33 . Die »epochalen Metakinesen«34 , wie 29 30

31 32 33 34

Ebd., 74. A. a. O., 24. Die auf historischen Präfigurationen basierende Bedeutungsstiftung der Ruine lässt sich mit Hans Blumenberg auch als eine »Mäßigung des (historisch) Unerträglichen, Überführung des Erschütternden zum Andringlichen und Bewegenden« begreifen, wodurch eine harmonisierte Lesbarkeit der Ruinen-Mnemotopie in der Populärkultur gewährleistet wird (Blumenberg 2006, 85). J. Assmann 1988, 16. Die Opposition von heißen und kalten Orten historischer Dynamik ist angelehnt an die Diskussion heißer Orte bei Schlögel 2003, 294-303. Jauss zit. in Schnackertz 2010, 671. Blumenberg 1958, 94.

2. Kollektive Erfahrungsschwellen im mexikanischen Nation-Building

Hans Blumenberg historische Umbruchsmomente bezeichnet, helfen hierbei nicht nur der professionellen Vergangenheitsdeutung, historische Zusammenhänge retrospektiv zu erfassen, sondern ziehen auch die Aufmerksamkeit der Popularkultur auf sich, darunter auch der Sinnproduktion des Filmmediums, das im 20. Jhd. zu einem gesellschaftsübergreifenden Übertragungsmedium avanciert. Mit Hilfe der medialen Breitenwirkung der Audiovision können Mnemotope ihren Geltungsanspruch in massenwirksamer Kommunikation ausspielen und ihre Funktion der gemeinschaftsbildenden und gegenwartsbestimmenden Vergangenheitsreaktivierung entfalten. Mit anderen Worten ist im Nachleben einer ortsgestützten Erinnerungsvorlage in der Sphäre der Popularkultur auch ein Gradmesser für die Verankerung einer historischen Zäsur im kulturellen Gedächtnis eines Nationalkollektivs zu sehen. Die drei Fallstudien dieser Arbeit entfallen auf kollektive Orte, an welchen sich drei einschneidende mexikanische Erfahrungsschwellen explizieren ließen. Doch gerade die letzte Hypothese kann Vorbehalte schüren, wenn man Mechanismen der Gedächtnisstiftung als eine naturwüchsige gesellschaftliche Dynamik missversteht und jene »Allianz zwischen Herrschaft und Gedächtnis«, respektive »zwischen Herrschaft und Vergessen« außer Acht lässt, die Jan Assmann bereits in den frühesten Gesellschaftsformen der Menschheit erkennt und diskutiert.35 Da die nationale Kohäsion von einem Verbund von kollektiv geteilten Selbstbildern, Ursprungsmythen und Erinnerungsnarrativen gestützt wird, scheint es allzu plausibel, dass die subjektive Vergangenheitsgestaltung im kollektiven Medium des Films durch Zensurapparate sowie Mechanismen des Marktes restringiert wird und der Geltungsanspruch einer Vergangenheitsversion in der Regel von staatlichen Kontrollinstanzen aber auch der Akzeptanz des Publikums und einem marktwirtschaftlichen Kalkül abhängig ist. An den volksnahen, bisweilen populistischen Werken der Época de Oro lässt sich gut nachvollziehen, dass Ambiguitäten des Sinnpluralismus innerhalb der neu entstandenen Ordnungsgefüge häufig durch eine ›monoglotte‹, das heißt standardisierte Massenproduktion beigelegt wurden, wobei die Reproduktion und Dissemination nationaler Narrative im Zeitalter des Printkapitalismus (Benedict Anderson) eine unvorhergesehene Verbreitung und Homogenisierung des kollektiven Imaginären nach sich zog.36 Wenn das vorliegende Projekt sich also der Repräsentation der Mnemotopie im filmischen Kunstwerk widmet, so liegt der Akzent stärker auf den Funktionsformen einer zeitgenössischen Erinnerungskultur im Film, deren Automodellierung sich entlang dieser besonderen kulturellen Fixierungen manifestiert. Die Kinematographie, die dem Vergangenheitsbezug einer Gesellschaft eine massenwirksame Projektionsfläche bietet, wird damit aufgewertet zur Institution einer kollektiven Sinnpflege. In der hierarchisch und zentralistisch organisierten Diskursvielfalt Mexikos wurde die Lizenz zur

35 36

Vgl. J. Assmann 2013, 70-73. Anderson 1991, 30f. Eine wesensverwandte Betrachtung massenmedialer Sinnstiftung bietet Walter Benjamins einflussreicher Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Benjamin(1991b)). Ein Verlust der ortsaffinen Aura wird in dieser Arbeit in der Untersuchung eines verflachenden, kanonisch fixierten Geschichtsbewusstseins diskutiert, das während der Época de Oro von einer Habitualisierung der Gedächtnisvorlagen potenziert wurde.

39

40

A. Mnemotopie – Nation – Film

Vergangenheitsdeutung in der nationalen Filmkultur Mexikos nur den Filmprojekten erteilt, die sich auf einer Linie mit der staatstragenden Doxa befanden. Mnemotope, die mit Carlos Fuentes eingangs als metaphorische Spiegel der Zeit eingeführt wurden, werden damit auch zu potenziellen Zerrspiegeln der Vergangenheit, die von einer ideologischen Bindung und den Tücken des Präsentismus, sprich einer spekulativen Rekonstruktion der Vergangenheit nach den Geboten der Gegenwart, bedingt sind. Allerdings stellt der in der Geschichtsphilosophie häufig monierte Präsentismus als Phänomen der Vergangenheitsverzerrung und gegenwartsfixierten Erkenntnisvoraussetzung sowie der häufig mit ihm einhergehende Whiggismus, die trügerische Annahme einer logischen Ausgerichtetheit vergangener Entwicklungsstufen auf die Gegenwart37 , just das Unterscheidungskriterium zwischen einer kritischen, quellenabhängigen Historiographie und einer gegenwartsrelevanten, volksnahen Vergangenheitspflege dar. Genau hier verläuft nämlich die Verwerfungslinie zwischen einer klassischen quellenbasierten Geschichtswissenschaft und dem, was Pierre Nora als »histoire au second degré«38 bezeichnet – einer Vergangenheitsdeutung, bei dem der Fokus auf ihrem Stellenwert in der Gegenwart einer Gesellschaft liegt und Kontinuitätslinien einer Kollektividentität im Vordergrund stehen. Wie bei der nachfolgenden Betrachtung des nachrevolutionären Filmbetriebs in Mexiko untersucht wird, ist die Vergangenheitsdeutung im Nationalfilmparadigma und die Inszenierung von Mnemotopen besonders aussagekräftig für die gültigen Identifikationsvorlagen der Epoche. Der Film als ein Ermöglichungsmedium für Wiederhervorbringungen des Vergangenen ist aber gleichzeitig immer auch ein sozialer Kontrollmechanismus des kollektiven Imaginären, der umso strenger ist, je restriktiver die Produktionsbedingungen ausfallen.

37

38

Zum Whiggismus als Kennzeichen nationalistischer Automodellierungen bzw. eines monolithischen Memory-Building vor der Wende zum postnationalen Paradigma der splintered societies vgl. Landy 1996, 2 sowie Geertz 1995, 22. Nora 1993, 25.

3. Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur

Wenn man sich die Frage stellt, weshalb das Medium des Films im Aufschreibesystem1  des nachrevolutionären Mexikos zur bedeutendsten Vermittlungsinstanz kollektiver Gedächtnisvorlagen avancierte, muss man die gesellschaftliche Konfiguration Mexikos als prädisponierenden Kontext berücksichtigen. Es ist kein Zufall, dass die Época de Oro, die Blütezeit der mexikanischen Kinematographie zwischen 1936 und 19572 , sich im Anschluss an die kollektive Umbruchserfahrung der mexikanischen Revolution herausbilden konnte. Dass die Revolution als umfassende gesellschaftliche Erfahrungsschwelle eine nationale Konsolidierungsphase nach sich ziehen musste, weiß Octavio Paz’ in El laberinto de la soledad (1950), seinem bedeutenden Bestimmungsversuch der mexicanidad zu bestätigen, wo sich ein Passus findet, der dem konziliatorischen Zeitgeist im postrevolutionären Mexiko nachspürt: Si se contempla la Revolución mexicana […] se advierte que consiste en un movimiento tendente a reconquistar nuestro pasado, asimilarlo y hacerlo vivo en el presente. Y esta voluntad de regreso, fruto de la soledad y de la desesperación, es una de las fases de esa dialéctica de soledad y comunión, de reunión y separación que parece presidir toda nuestra vida histórica. Gracias a la Revolución el mexicano quiere reconciliarse con su Historia y con su origen.3 Die Sehnsucht nach einem nationalen Konsens im Anschluss an eine krisenhafte gesellschaftliche Umstrukturierung und die Suche nach einer identitätsstiftenden Assimilation der Vergangenheit kann man als eine der weitreichendsten Folgen der kultu-

1

2

3

Im Nachwort zur einschlägigen medienhistorischen Studie Aufschreibesysteme 1800/1900 von Friedrich Kittler wird das Aufschreibesystem in seiner je eigenen historischen Konfiguration definiert als »Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.« (Kittler 1995, 519.) Die konventionelle Periodisierung der Época de Oro orientiert sich an zwei Erfahrungsschwellen der mexikanischen Filmgeschichte: der richtungsweisenden Premiere des ersten mexikanischen Kassenschlagers Allá en el Rancho Grande (1936, Fernando de Fuentes) und dem tragischen Tod des Publikumslieblings Pedro Infante, der bei einem Flugzeugabsturz verunglückt war (vgl. Maza 2014, 11). Paz 2016a, 300.

42

A. Mnemotopie – Nation – Film

rellen Umwälzung nach dem Siegeszug von Francisco I. Madero (1873-1913) deuten, der das Ende des Porfiriats und die graduelle Überwindung eines autokratischen CaudilloRegimes nach sich gezogen hatte. Auch Carlos Monsiváis, der mexikanische Kulturwissenschaftler mit großem Faible für die nationale Filmgeschichte, erkennt in der Revolution eine »general commotion whose greatest significance was a prologue to calm«4 . Das Bedürfnis nach einer historischen Revision war sicherlich eine der kollektiven Triebfedern der Revolution und zweifelsohne auch vor der nationalen Stabilisierungsphase ab den 1920er Jahren gegeben. Der Wille nach einem Neuanfang musste aber erst in einer Serie von Gesellschaftskrisen reifen, wie etwa den Missernten vor der Revolution, der Hungersnot, der massiven Landflucht oder der Chaotisierung bestehender Gesellschaftshierarchien im Bürgerkrieg. Wie Jan Assmann im Hinblick auf gemeinschaftsbildende Überlieferungsdynamiken schreibt, korrespondiert die Suche nach kulturellen Verbindlichkeiten mit der Herausbildung eines historischen Kanons, der notwendigerweise mit einer »Zuspitzung der Invarianz«5 , bzw. einer »Bändigung der Varianz«6 divergenter Vergangenheitsdeutungen einhergeht. Die Aufgabe der gesellschaftlichen Homogenisierung, die in den Pionierschriften Forjando Patria (1916) von Manuel Gamio oder La raza cósmica (1925) von José Vasconcelos bedeutende programmatische Wegweiser besaß, konnte im Zeitalter des nationalen Printkapitalismus vom Medium des Films effektiv umgesetzt werden, da es in besonderem Maße geeignet schien, zentralistische Identitätsdiskurse zu übertragen und die gespaltene Nationalgesellschaft mit »indefinitely stretchable nets of kinship«7 zu überziehen. Im Gegensatz zu anderen Formen der darstellenden Kunst, bot die Kinematographie die technische Voraussetzung, die Vergangenheit in massenwirksamer Lebendigkeit von Spielfilmen nachzustellen oder in faktographischen Zugriffen auf die Gegenwart in die Zukunft zu tragen. Neben der Möglichkeit der Multiplikation und beliebigen Wiedergabe, lag der Vorzug der Filmtechnologie vor allem auch in der langfristigen Speicherung mit der die Vergangenheit sich in lebendig wirkenden Laufbildern einbalsamieren ließ, wie es Sergei Eisenstein und André Bazin in ihren theoretischen Durchdringungsversuchen des neuen Mediums unter den Schlagworten der »dynamic mummification« oder des »embaument mobile« fassten.8 4 5 6 7 8

Monsiváis 1985, 240. Vgl. J. Assmann 2013, 122f. Vgl. ebd., 123f. Anderson 1991, 6. Eine genealogische Reflexion zu Eisensteins Begriff der »dynamischen Mumifizierung« findet sich im Vorwort von Antonio Somaini in Eisenstein 2016, 81. Bereits Jean Epstein hat 1921 im Hinblick auf das Filmmedium von der Qualität eines »embaument mobile« gesprochen. In möglicher Anlehnung an Epstein findet sich die Prägung einer dynamischen Mumifizierung (dinamicheskaia mumifikatsiia) in Eisensteins unveröffentlichten Notes for a general history of cinema, die 2016 von Naum Kleiman und Antonio Somaini mit vielen aufschlussreichen Kommentierungen herausgegeben wurden Während Eisenstein die präzedenzlosen Möglichkeiten des Filmmediums unterstreicht, wird die Photographie in einer entgegengesetzten Bewegung mit der altägyptischen Mumie als medienhistorische Geburtsstunde des photographischen Gewerbes zusammengeführt, das eine starre Zeitresistenz ausspielt (vgl. Somaini in Eisenstein 2016, hier: 22, 72-84 und 119). Im selben Band untersucht auch Philip Rosen die Trias von reenactment, mummification und symbolization, die Eisenstein in seinen Skizzen zur General History of Cinema entwirft (Rosen in Eisenstein 2016, 393-

3. Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur

Indes hatte die mexikanische Kinematographie ihre Geburtsstunde ein gutes Jahrzehnt vor dem Ausbruch der mexikanischen Revolution, so dass man, cum grano salis, behaupten kann, dass das erste Kino in Mexiko-Stadt, das der Filmpionier Salvador Toscano (1872-1947) im Jahre 1897 eröffnet hatte, bereits eine medienhistorische Revolution angekündigt hatte. Da der schleichende medienspezifische Strukturwandel zunächst kaum wahrgenommen wurde, wird Hans Blumenbergs Axiom bestätigt, demnach jede Epochenwende als ein »unmerklicher Limes«9 passiert wird, da erst in der nachzeitigen Betrachtung die Bedeutung der septième art für Mexiko in all ihrer Tragweite erkennbar wird. Auf den graduellen Vormarsch der neuen Kunstform weist, wie vermutlich kein anderes Werk der mexikanischen Filmgeschichte, das Nachleben des Filmmaterials hin, das Salvador Toscano selbst in Mexiko um die Jahrhundertwende eingefangen hatte und das seine Tochter Carmen Toscano viele Jahrzehnte später zum Kompilationsfilm Memorias de un mexicano (1950)10 montieren konnte. Mit dem Wissensvorsprung der Retrospektive wird im Voice-Over des Films die Bedeutung der ersten Laufbilder zu Mexiko nachempfunden: Cuantas cosas han pasado desde entonces. El perfil de las cúpulas no había sido ocultado por los rascacielos y aún parecía cercano el espíritu de la colonia. Ciudad tranquila, apenas se conmovió con la llegada del nuevo invento, que con su magia podía transportar al espectador a lugares tan remotos como Mérida en Yucatán o al Paseo de los Cocos en Veracruz sin moverse de su asiento. (3:02-3:29) Die Verweisfunktion des Bildarchivs auf die historische Dynamik Mexikos bot Carmen Toscano eine geeignete Vorlage zur raumgestützten Rekonstruktion der Vergangenheit und sicherte den sedimentierten Schichten der Zeit ein Nachleben infolge der massiven Rezeption. Freilich konnte Carmen Toscanos Tatsachenfilm, der einen Bruchteil des väterlichen Archivs wiederverwertete, auch die mexikanische Vergangenheit nur in repräsentativer Reduktion darbieten. Das effektive Modell der kinematographischen Beglaubigung vergangener Zeitläufte bot jedoch eine sehr geeignete Vorrichtung für die Konstruktion eines nationalen Gedächtnishorizonts, der von Reduktionen und Auslassungen lebt. Zuzana M. Pick weist in ihrer Analyse von Memorias de un mexicano darauf hin, dass der Film von der ersten Stunde an – lange vor dem Schisma, das den Spielfilm

9

10

404). Von Rosen stammt auch die umfangreiche Monographie Change mummified (Rosen (2001)) zum Geschichtsbewusstsein der Kinematographie im Wandel der Zeit. Die polyvalente Metapher der dynamischen Mumifizierung, die heute vor allem mit Andre Bazins einflussreichen filmontologischen Schriften in Verbindung gebracht wird (vgl. Bazin 1994, 9-16), wird in Eisensteins Auseinandersetzung mit der Mnemotopie mexikanischer Ruinen näher behandelt. »Es gibt keine Zeugen von Epochenumbrüchen. Die Epochenwende ist ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden. Aber in der differentiellen Betrachtung markiert sich eine Schwelle, die als entweder noch nicht erreichte oder schon überschrittene ermittelt werden kann.« (Blumenberg 1976, 20.) Zur Diskussion der Entstehungs- und vor allem der Wirkungsgeschichte des einzigartigen Kompilationsfilms, das bis heute als bedeutendstes Pionierwerk der mexikanischen Filmgeschichte gilt und 1967 feierlich zum Monumento histórico de México erklärt wurde, schreibt Zuzana M. Pick in ihrer kenntnisreichen Monographie zur audiovisuellen Konstruktion der mexikanischen Revolution im Filmmedium und der Bedeutung von Bildarchiven für die Formation des kulturellen Gedächtnisses in Mexiko (vgl. Pick 2010, 25-28).

43

44

A. Mnemotopie – Nation – Film

von dem Dokumentarfilm trennen sollte11 – als eine Selektion und Interpretation von überliefernswerten Momenten der nationalen Entwicklung zu verstehen sei: These segments reveal how documentary images were used to organize events, places, and personalities into a compelling story whose power derives, as I argue, from a compulsion to turn the newsworthy instant into a memorable visual archive of Mexico’s history. The Toscano de Moreno compilation validates this role of film as an archival artifact in restoring and preserving personal and collective histories.12 Wie bereits der desfile histórico zur Hundertjahrfeier der mexikanischen Unabhängigkeitsbewegung, die der mexikanische Filmpionier 1910 im Vorfeld zu den einschneidenden Transformationen einfangen sollte und eine monumentale Inszenierung der Vergangenheit darstellte, mit dem das wackelnde Regime von Porfirio Díaz (1830-1915) als historisches Erbe legitimiert werden sollte, sind auch die anderen Fragmente des Films stets als eine Fiktionalisierung der Realität zu verstehen, die als Karneval der Zeiten vor den Augen des Zuschauers vorbeimarschiert. Für die gemeinschaftsbildende Eigenschaft des Filmmediums ist es dabei bezeichnend, dass Porfirio Díaz retrospektiv als einer der ersten Schauspieler des mexikanischen Kinos betrachtet wurde.13 Die Selbstinszenierung des Caudillos zeigt, dass bereits die sogenannten Aktualitäten (vistas), kurze Filmreportagen der Stummfilmära, ihre Eignung als Propagandainstrumente ausspielen konnten. »La adhesión de los espectadores«, schreibt der Filmhistoriker Felipe Leal, »conseguida mediante la reproducción de la imagen de Díaz, se complementaba con los valores morales y patrióticos difundidos a las masas«14 . Weit davon entfernt, ein selbstkritisches Bewusstsein zu schärfen, bot das kollektive Medium des Films lange Zeit ein Dispositiv der historischen Alphabetisierung der Massen, mit dem das Imaginäre des Nationalkollektivs auf eine patriotische Symbolik ausgerichtet und das Publikum mit einer regimefreundlichen Lesart der Nationalgeschichte vertraut gemacht wurde. Die Möglichkeit des neuen Mediums, die Vergangenheit in bewegter Form zu konservieren und das Geschehene als ein dynamisches ça a été zu vergegenwärtigen, sollte in den nächsten Jahrzehnten eine immense Rolle für Prozesse der kollektiven Gedächtnisbildung spielen. Memorias de un mexicano konnte nämlich gerade auch deswegen als emblematisches Filmdokument der historia patria institutionalisiert werden, weil es in der Nachbereitung, wie Margarita de Orellana feststellt, zu einer wirkmächtigen »simu-

11

12 13 14

Die Begriffsprägung des documentary geht gemeinhin auf den britischen Filmpionier John Grierson zurück, der 1932 die Prinzipien der dokumentarischen Ästhetik umreißt. Allerdings finden sich bereits in dem ersten Definitionsversuch Hinweise auf die Bedeutung von »arrangements, rearrangements and creative shapings« (Grierson 1976, 20) beim Filmen und Montieren der Realität, wodurch das skeptische Diktum des Filmsemiotikers Christian Metz »Chaque film est un film de fiction« (zit. in Hediger 2017, 37) seine Gültigkeit von jeher auch für dokumentarische Formen ausspielen kann. Die Spannungen zwischen der Spiel- und Dokumentarfilmästhetik werden in dieser Arbeit bei der Betrachtung von Eisensteins Filmsymphonie Que viva México! diskutiert. Pick 2010, 26. Vgl. Miquel 2005,12. Leal 2012, 164.

3. Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur

lation of ›collective memory‹«15 ausgestaltet wurde. Mehr als eine »nouvelle source de l’histoire«16 , wie das Filmmedium an der Schwelle zum 20. Jhd. gefeiert wurde, leistet die Kinematographie daher einen Beitrag zur Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses, indem sie ihr Potenzial der gegenwartsbestimmenden Vergangenheitspflege ausspielt. Neben den illustren Persönlichkeiten der Zeit, waren es auch Orte mit überregionaler Relevanz, an welchen sich eine »patriotic awareness«17 schüren ließ und nationalbewusste Sentimente kultiviert werden konnten. Wie auch die Mnemotopie ein wirksames Übertragungsmedium einer geteilten Vergangenheit darstellt, machte auch das Filmmedium Zugeständnisse an selektive Hypolepsen und Interpretationen einer geteilten Geschichtskultur, die sich aus dem kulturellen Gedächtnis als einer kreativen und prospektiven Form der Zeitbewältigung speist. Das Filmmedium als Projektionsfeld für das historische Imaginäre18 , das zu Beginn dieser Arbeit mit Carlos Fuentes paradoxer Denkfigur »[i]maginar el pasado, recordar el futuro«19 eingeführt wurde, übernahm auch in Mexiko eine wichtige Rolle bei Prozessen der vergangenheitsbasierten Selbstverständigung und leistet einen Beitrag bei der Formation des kulturellen Gedächtnisses, den auch Juri Lotman in seinem Spätwerk Die Innenwelt des Denkens für die paradoxe Vorstellung einer prognostizierten Vergangenheit verantwortlich macht und als gegenwartsbestimmenden »Generator« versteht, der die Vergangenheit als eine »imaginäre Realität«20 reproduziert. Mit dem graduell wachsenden Wirkradius der Audiovision war Diskursen der mexikanischen Zusammengehörigkeit ein neues Instrument an die Hand gegeben. Etwa drei Jahrzehnte nachdem der unmerkliche mediengeschichtliche Limes überschritten war, 15 16 17

18

19 20

de Orellana 1990, 213. Die Bezeichnung geht zurück auf den frühen gleichnamigen Aufsatz des polnischen Filmpioniers Bolesław Matuszewski (vgl. Matuszewski (1898)). Knight 1994, 411. Die Studie des Historikers, dessen zentraler Untersuchungsgegenstand die mexikanische Revolution und ihrer Folgen für die Gesellschaft darstellt, bietet tiefe Einblicke in die zentralistisch gesteuerte postrevolutionäre Suche nach kulturellen Kontinuitäten sowie die sich neu formierende Staatskultur als eine Art Religionsersatz bei der Konstruktion von kollektiven Identifikationsvorlagen. Zum geschichtsphilosophischen Topos des historischen Imaginären sei hier in erster Linie auf Hayden White verwiesen, der im Rückgriff auf Nietzsche und dessen Skepsis gegenüber dem Geschichtsbewusstsein, das schöpferische, in die Zukunft gerichtete Impulse ersticke (vgl. Nietzsche 1988, 303), in Metahistory – the Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe seine kontroverse Vorstellung vorlegt, der zufolge die spekulative, rhetorisch überformte Imagination eine unumgängliche, wenn auch häufig als populärwissenschaftlich verrufene, Komponente der Historiographie darstellt (vgl. White 1966, 116 und White 1975 45-80). Weitere Anknüpfungen an den Themenkomplex der historischen Wahrheitsfindung nach dem linguistic turn finden sich bei Jörn Rüsens Diskussion fiktionaler Aspekte des Geschichtsbewusstseins (vgl. Rüsen 1994, 13). Im mexikanischen Kontext werden Nietzsches geschichtsphilosophische Betrachtungen bei Luis González y González, dem Begründer der mexikanischen microhistoria, rezipiert, wobei er die Kategorie der monumentalischen Historie mit der treffenden Umschreibung einer nach außen gekehrten und in Statuen gegossenen »historia de bronce« engführt (González 2005, 64ff). In jüngster Zeit rekurriert auch der mexikanische Historiker Mauricio Tenorio Trillo auf Nietzsche bei seinen Reflexionen zur »imaginación histórica« (Tenorio Trillo 2012, 97 und 138-181). Fuentes 1994, 55. Lotman 2017, 375.

45

46

A. Mnemotopie – Nation – Film

avancierte der Film zum Leitmedium der mexikanischen Unterhaltungsindustrie und zeitgleich zum wirkmächtigsten Vehikel für nationale, politische und historische Bewusstseinsbildung. Vor allem für die nachrevolutionäre Suche nach einer gesellschaftlichen Selbsterkenntnis spielte die Sinnproduktion der nationalen Kinematographie eine bedeutende Rolle und folgte dabei einer zentralisierten Doxa, die der Historiker Hans Werner Tobler einem Zeitgeist des »Revolutionären Nationalismus«21 unterordnet und die der Filmkritiker Jorge Ayala Blanco in der Spielart eines um positive Automodellierungen bemühten »nacionalismo repelente«22 auf die Spielfilmproduktion der Época de Oro übersetzt findet. Über Tatsachenfilme hinaus, die auf einer registrierenden Filmästhetik der Filmpioniere Auguste und Louis Lumière basierten, waren in Mexiko aber auch bald dezidiert fiktionale Filmproduktionen in Umlauf, die eher in einer genealogischen Linie mit dem illusionsstiftenden Filmwerk von Georges Méliès stehen. Die Popularität der Spielfilme als neues Unterhaltungsmedium ist hierbei nicht minder aufschlussreich im Sinne eines reflektierten Repräsentationssystems, das sich für Betrachtungen soziologischer, psychologischer oder ästhetischer Konfigurationen der Zeit eignet. Wie Siegfried Kracauer in seiner einflussreichen theoretischen Studie zur Psychologie und Soziologie des Filmmediums Von Caligari zu Hitler (1947) hervorhebt, bieten vor allem Spielfilme aufschlussreiche Vorlagen für die Betrachtung psychologischer Grundmuster einer Nation. Gerade weil diese auf der Produktionsseite immer im Kollektiv entstehen und sich, auf der Rezeptionsseite, an ein anonymes Publikum richten und sich an dominanten Massenbedürfnissen orientieren müssen, geben Spielfilme beredte Zeugnisse von dem kollektiven Imaginären einer Epoche ab.23 Bedeutsam bei der Betrachtung einer nationalen Filmkultur war für Kracauer vor allem das Implizite, Unscheinbare oder Unreflektierte, das die hermeneutische Lust am Freilegen von »Tiefenschichten der Kollektivmentalität« weckt, »die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimension erstrecken«24 . Kracauers Interesse am kollektiven Unbewussten ist besonders interessant im Zusammenhang mit kollektiven Gedächtnishorizonten, die fortwährend von den Übertragungsmedien einer Gesellschaft aktualisiert werden müssen. Vor allem im Hinblick auf filmische Nachstellungen der Vergangenheit in Spiel- und Unterhaltungsfilmen, lässt sich die latente Dimension historischer Grundannahmen entbergen, die im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft eingebettet ist. Mehr als ein Vehikel für die historische Alphabetisierung der nationalen Gemeinschaft, waren Filme auch in Mexiko vor allem kultursemiotische Texte, die einer kollektiven Identitätskonkretisierung zuträglich waren, da sie auf expliziter, aber noch häu21

22 23

24

Tobler 1984, 337. Aus einem ähnlichen Blickwinkel beschreibt auch Hector Aguilar Camín die »aparición del pueblo« und die postrevolutionäre Einheitsschmiede unter der Losung eines konservativen »nacionalismo revolucionario« (Aguilar Camín 1993, 37-43). Ayala Blanco 1968, 76. Vgl. die grundlegende Einleitung zu Film und den eigentümlichen aber stets dynamischen Mentalitätsprofilen einer Nation in Kracauer 1995, 9-18. Die kritische Rezeptionsgeschichte des Werks, dessen Ansätze häufig als essentialisierende oder mentalitätsgeschichtliche Filmbetrachtung missverstandenen wurden, umreißt Karsten Witte im Nachwort zur Neuauflage von 1984 (Kracauer 1995, 605-615). Eine Übersetzung von Kracauers Thesen auf die Anfänge der mexikanischen Filmgeschichte leistet Felipe Leal in Koautorschaft mit Aleksandra Jablonska in Leal 2012, 165-168. Kracauer 1995, 12.

3. Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur

figer auf subliminaler Ebene zentralistisch gepflegte Überzeugungen mitführten. Wie Jochen Mecke bei seiner Betrachtung des filmgestützen Nation-Building in Mexiko postuliert25 , war die Spiegelfunktion der nationalen Kinematographie überaus bedeutsam für die Herausbildung einer weithin gültigen mexikanischen Selbstverständigung und beförderte den Film bereits zu Beginn des 20. Jhd. zum prominentesten populärkulturellen Medium der Selbsterfahrung und Wahrheitskonstitution. Auf diese Weise wurde Mexiko als eine imagined community in der Epoche des nationalen Einheitsglaubens, der zweifellos nicht nur in Mexiko den grand récit der Nationalfilmkulturen bildete, auch von einer symbolischen Repräsentationsform und einem Marktmechanismus gestützt, die dem kollektiven Gedächtnis ihren audiovisuellen Stempel aufdrücken konnte.26 Für die aufkeimende mexikanische Filmindustrie, die eine nach Selbstbildern suchende Gesellschaft bedienen wollte, war der Blick auf Orte der nationalen Geschichtskultur eine restaurative Geste, die den landesweiten Umwälzungen am Anfang des 20. Jhd. mit einer befriedenden Logik begegnete und die nationale Biographie nach den geltenden historischen, politischen und archäologischen Paradigmen zu deuten versuchte. Suchten die kreolischen Eliten im 19. Jhd. noch nach einem massenwirksamen Medium, um ihre diskursive Vormachtstellung zu sichern, so hatten die Revolutionsfürsten diese schon bald in der septième art gefunden, denn mit ihrer Hilfe ließ sich ein affirmativer Nationalsinn über Rekonstruktionen der mexikanischen Biographie gut steuern. In präzedenzloser Breitenwirkung konnte das Filmmedium Einfluss auf das kollektive Bewusstsein ausüben und die Vorstellung von der Gesellschaft regulieren. Daran anknüpfend ging noch während der Revolution eine erste Welle kinematographischer Zensur durchs Land, mit dem Ziel, das in der Revolution kritisch gewordene Selbstverständnis zu restaurieren: El gobierno usurpador comprendió que para restaurar la paz porfírica lo mejor era hacer que la gente olvidara la política y prohibió a la prensa debatir sobre la situación del país. […] Al poco tiempo se sintieron los rigores de la censura al prohibirse la exhibición y producción de películas que alteraran la orden. El gobierno federal intervenía por primera vez en la regulación del cine con un decreto; con anterioridad, durante el porfirismo y el maderismo, existieron solamente reglamentos. El Estado comprendió que, en cuanto espectáculo de masas, el cine podía ser peligroso y »más valía prevenir que lamentar«.27

25

26 27

Der Aufsatz ist enthalten in dem Band Nationbuilding en el cine mexicano desde la Época de Oro hasta el presente (2015), in dem die Herausgeber Friedhelm Schmidt-Welle und Christian Wehr ihren Fokus dezidiert auf die Bedeutung des Filmmediums im Kontext der mexikanischen Natiogenese richten und auch das Nachleben des nationalistischen Cine de Oro in späteren Phasen der mexikanischen Filmkultur einschließen. Darunter ist der Aufsatz von Jochen Mecke, der seiner Analyse von Tiempo de morir (1965) von Arturo Ripstein einen luziden Überblick zum Kino der Época de Oro als einer überindividuellen Spiegelphase des Nation-Building an die Seite stellt, in der das mexikanische Nationalkollektiv seine Integrität zum ersten Mal nicht nur in imaginärer, sondern auch symbolischer Form vor Augen geführt bekommen hat (Mecke 2015, 111-115). Vgl. Hahn 2015, 38. de los Reyes 1987, 50.

47

48

A. Mnemotopie – Nation – Film

Neben dem dekretierten Verbot für aufwiegelnde Filmproduktionen, war die Selbstzensur schließlich ein weiterer, der Marktlogik unterstellter Grund dafür, dass sich eine standardisierte Massenproduktion rasch etablieren konnte, wobei der Erfolgsdruck der Kinematographie ungleich stärker als bei anderen Medien ins Gewicht fiel. Der Kanon staatlich regulierter Selbstbilder beförderte schon bald die Nachahmung probater Erfolgsmodelle und die Herausbildung von kulturellen Stereotypen. In der nationalen Filmproduktion wurde folglich neben einer einschlägigen Filmsprache alsbald auch ein Wissenskanon opportuner Gemeinplätze institutionalisiert. Der Filmschaffende wurde zum überwachten Missionar des Nationalismus, der im säkularen Ritus der kollektiven Filmschau beschworen wurde. Vor allem während der Blütezeit der nationalen Filmindustrie, die im Nachgang als Época de Oro getauft wurde, war die mexikanische Filmproduktion zum zentralen Disseminationsmedium volksnaher »modelos de representación« und »mitos de masa«28 geworden, die wesentlich zur Formation der mexikanischen Nationalidentität beigetragen hatten. Im Gefolge der offiziellen Diskurse rückten vor allem auch Mnemotope als Orte mit kollektivem Vergangenheitsbezug ins Zentrum der kinematographischen Identitätskonkretisierung. Die im Folgenden untersuchte Verarbeitung von Mnemotopen mit nationaler Dimension entfällt daher hauptsächlich auf die breite Masse von Filmen der Época de Oro (1936-1957), die retrospektiv betrachtet ein beispielloses kulturelles Archiv bereithält und die (Selbst-)Wahrnehmung Mexikos aus thematisch und formalästhetisch verwandten Blickwinkeln zusammenträgt. Wie Carlos Monsiváis es treffend fasst, bildet das Cine de Oro aus heutiger Sicht un conjunto extraordinario de testimonios visuales (así era México), testimonios artísticos (el gran nivel de los actores secundarios y la solidez de algunos mitos fílmicos o primeras figuras), testimonios sociológicos (en ésto se creía, así se creía) […].29 In Monsiváis Einladung, fiktionale Filmtexte als soziale Zeugnisse zu lesen, steckt natürlich auch das Echo der Kracauerschen Vorliebe für Kollektivdispositionen und symptomatische Fixierungen. Der Zugriff auf Spielfilme der Época de Oro im Sinne von Zeitzeugnissen hilft die gesellschaftlichen Masternarrative der Zeit freizulegen und die Kinematographie im Kontext der Neuordnung nach den revolutionären Wirren ab 1910 zu verorten. Dass die politische Instabilität und die kultursemiotische Verunsicherung erst im Zuge des Reformwillens unter Lázaro Cárdenas (1934-1940) beigelegt werden konnte, war auch dem Film als Medium der Zeitbewältigung und Generator nationaler Selbstentwürfe im Dialog mit der Vergangenheit geschuldet.30

28 29 30

Vgl. Obscura Gutiérrez 2015, 42. Monsiváis 2006, 512. Exemplarisch für die Homogenisierungstendenzen des Cardenismus sei hier ein Fragment aus einer Rede von Lázaro Cárdenas aus dem Jahr 1938 zitiert: »Un pueblo no es una mezcla heterogénea de clases, cada una de las cuales lucha por sus intereses; es una gran unidad histórica, enraizada en el pasado y en la lucha conjunta por un futuro común« (zit. in Aguilar Camín 1993, 38). Zu den frühesten nationalistischen Tendenzen in der mexikanischen Filmproduktion schreibt der Filmhistoriker Aurelio de los Reyes in seiner kenntnisreichen Gesellschaftsstudie zur Bedeutung der septième art für die Entstehung einer Nationalkultur (de los Reyes 1996, 215 et passim).

3. Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur

Ein kurioser ideologischer Vektor, der in den nationalen Blaupausen des cardenistischen Kinos erkennbar wird, bestand im Rückgriff auf ein überholt geglaubtes, prärevolutionäres Legat. An den Filmanalysen der Arbeit wird in unterschiedlichen Intensitätsgraden erkennbar, dass die mexikanische Nationalfilmkultur ein tendenziell konservatives, wenn nicht gar retrogrades Funktionsgedächtnis bediente, und dass politische oder kulturelle Umbrüche im Diffusionsmedium des Spielfilms sich oft auf ein ornamentales Geschichtsbewusstsein reduziert finden. Der Film als neues »historisches Supplement«31 dient der Konstruktion eines mexikanischen Selbstgefühls, indem er den kulturellen Gemeinsinn auf populärkultureller Kommunikationsebene mitprägt und den gesellschaftlichen senso comune32 mitgestaltet, den Antonio Gramsci im Zusammenhang mit dem Phänomen der historischen Folklore untersucht hat. Analog zu den Ideen, die Benedict Anderson im Hinblick auf die restaurativen Impulse von Revolutionsbewegungen entwickelt33 , kann man auch im mexikanischen Fall eine Elitenkontinuität und einen Rückfall in die prärevolutionäre héritage erkennen, so dass die unlängst bekämpfte zentralistische Hegemonie unter Porfirio Díaz in der neuen Gesellschaftsordnung partiell rehabilitiert wurde.

31

32

33

Vgl. Sommer 1989, 113. Der Film beginnt im 20. Jhd. dank seiner gesellschaftsumfassenden Wirkmacht mit dem lateinamerikanischen Roman, den Doris Sommer unter dem Schlagwort der gemeinschaftsstiftenden foundational fictions diskutiert, zumindest in medienhistorischer Hinsicht, zu konkurrieren, wenngleich das Verfahren der allegorischen Familie als filmische Imaginationsvorlage einer nationalen Einheit seine Anleihen fraglos bei livresken Vorlagen nimmt, wie viele der in dieser Arbeit behandelten Filme bezeugen. Gramscis Überlegungen zum historischen Alltagsverstand im Sinne einer Reiteration dominanter Vorstellungen ist für Prozesse des kollektiven Memory-Building in Mexiko von großer Relevanz, da die mexikanische Filmindustrie der Época de Oro zweifelsohne einen der effektivsten Träger und Multiplikatoren einer populärkulturellen Folklore darstellt und eine höhere Signifikanz für Prozesse der kollektiven Kohäsionsstiftung aufweist als die Vielfalt historiographischer Diskurse. Unter dem Begriff des senso comune betrachtet Gramsci widersprüchliche, vorübergehend zum Alltagsverstand geronnene kollektive Übereinkünfte oder historische »luoghi comuni« (Gramsci 1977, 75), die in der Folklore einer Volksgemeinschaft eingelassen sind: »Ogni corrente filosofica lascia una sedimentazione di »senso comune«: è questo il documento della sua effettualità storica. Il senso comune non è qualcosa di irrigidito e immobile, ma si trasforma continuamente, arricchendosi di nozioni scientifiche e opinioni filosofiche entrate nel costume. Il »senso comune« è il folklore della »filosofia« e sta di mezzo tra il »folklore« vero e proprio (cioè come è inteso) e la filosofia, la scienza, l’economia degli scienziati. Il »senso comune« crea il futuro folklore, cioè una fase più o meno irrigidita di un certo tempo e luogo.« (ebd., 76). Für die vorliegende Arbeit ist vor allem die Rezeption Gramscis leitend, die Marcia Landy bei der Betrachtung der kinematographischen Verarbeitung der Vergangenheit untersucht (vgl. Landy 1996, 3f). Einen kritischen Überblick zu Gramscis ideengeschichtlichem Nachlass und seinen in den Gefängnisheften enthaltenen Ideen zu den Phänomenen des senso comune und der gesellschaftlichen folklore bietet auch Forgacs 2000, 323-362. Vgl. Anderson 1991, 160. Der von Anderson geprägte Begriff des Official Nationalism hilft die Institutionalisierungsversuche zu erklären, mit der die neuen mexikanischen Eliten die Revolution in geordnete Bahnen führen wollten. Wenn man bedenkt, dass der Partido Revolucionario Institucionalizado (PRI) von 1929 bis 2000 ein Machtmonopol in Mexiko besaß, wird die paradoxe Sonderformel der mexikanischen Staatsräson offensichtlich, die die verblassten Revolutionsideale mit ehernem aber häufig nur rhetorischem Traditionsbewusstsein perpetuieren konnte.

49

50

A. Mnemotopie – Nation – Film

Die dynastischen Machstrukturen im revolutionären Deckmantel wurden nicht nur in der politischen Landschaft neu belebt, sondern auch in der sich darauf stützenden Kulturindustrie. Ein star system34 hatte sich bald in der Filmbranche etabliert und setzte auf eine Gruppe national hofierter Schauspieler, welchen die Gunst der Massen und Mäzene zukam und die einer generischen mexicanidad ein wiedererkennbares Gesicht verliehen. Ganz ähnlich wie bei der Selektion der Schauspieler verhielt es sich auch mit der Selektion von Sujets und Drehorten. Probate Modelle wurden in der Massenproduktion des Cine de Oro nachgeahmt und vervielfältigt und fügten sich zu narrativen und visuellen Clustern, in welchen das nationale Selbstbild fixiert und seriell reproduziert wurde. Die Identitätsvorlagen des Genrekinos, der Melodramen und der comedias rancheras, die sich aus einem überschaubaren kulturellen Formenhaushalt speisten und sich palimpsestartig um verwandte Motive konfigurierten, entfalteten sich vor allem auch an rekurrenten Schauplätzen der nationalen Kulturgeographie. Auf besonders markante Weise offenbarte sich ein filmisches Memory-Building an Orten, an welchen sich das Kollektivgedächtnis der mexikanisches Nationalgesellschaft aggregieren und inszenieren ließ, also an Mnemotopen, die präexistente Erinnerungsvorlagen zur Modellierung kollektiver Selbst- und Fremdbilder boten. Eine Folge der mnemotopischen Zeit- und Kontingenzbewältigung im Nationalfilm war in der Tat in einer Reduktion gegensätzlicher Vergangenheitsversionen auszumachen. Dass die nationalistische Arbeit an den Mnemotopen einer Domestikation des historischen Bewusstseins unterstand, kann seit Ernest Renan, der markante Auslassungen, Tilgungen und Klitterungen des kollektiven Geschichtsbewusstseins als notwendige Begleiterscheinung jeder Natiogenese diskutiert hatte, als evident angenommen werden.35 Umso interessanter werden die wenigen Abweichungen sowie nachzeitige Auseinandersetzungen mit der nationalen Filmkultur. Wie in den drei Fallstudien der Arbeit sichtbar wird, lässt sich das kinematographische Memory-Building der Época de Oro als eine Herausforderung begreifen, die heterogenen Bewusstseinsprägungen und Vergangenheitsbilder innerhalb der mexikanischen Gesellschaft in einem nationalen Rahmen konvergieren zu lassen.36 34 35

36

Zum mexikanischen star system als Anleihe US-amerikanischer Normen des Filmbetriebs schreibt u.a. Carlos Bonfil in Monsiváis/Bonfil 1994, 22. Eine Verknüpfung von Renans einflussreichen Ideen zum Wesen der Nation mit dem mexikanischen Nation-Building und Prozessen einer filmgestützten Sinnbildung finden sich bei Mecke 2015, 109ff. Auf Renans Emphase von »l’oubli« und »l’erreur historique« (Renan 1882, 7f.) als Voraussetzungen nationaler Gemeinschaftsbildung wird vor allem bei der Besprechung der HaciendaMnemotopie in Allá en el Rancho Grande und der darin eingelassenen Geschichtsklitterung Bezug genommen. Dass die Vielfalt der Bewusstseinsprägungen und Gedächtnisvorlagen in Mexiko als einer historisch und kulturell sehr gegensätzlich konfigurierten Nation kaum anzufechten ist, ist eine Grundannahme, die u.a. der Historiker Enrique Florescano in seiner Studie Memoria Mexicana (1987) entwickelt: »Los grupos que poblaron el territorio nacional no produjeron una, sino muchas imágenes del pasado, provocado por diferentes estímulos: para liberarse del paso corrosivo del tiempo sobre las creaciones humanas, para tejer solidaridades fundadas en orígenes comunes, para demarcar la posesión de un territorio, para afirmar identidades arraigadas en tradiciones remotas, para sancionar el poder establecido, para respaldar con el prestigio del pasado vindicaciones del presente, para fundamentar en un pasado compartido la aspiración de construir una nación, o para

3. Mexiko im Schaufenster der nationalen Filmkultur

Am Beispiel der drei in dieser Arbeit untersuchten Mnemotope wird nachvollziehbar, inwiefern das Medium der mexikanischen Kinematographie eine massenwirksame Projektionsfläche für nationale Selbstbestimmungsversuche darstellte. Die Ruine bot als Relikt einer unvordenklichen altamerikanischen Antike ein geeignetes Auffangbecken für nationale Ursprungssetzungen, die weiter unten als kollektive points de capiton37 (Stepppunkte) untersucht werden, mit welchen sich die diffusen mexikanischen Identitätsstränge topologisch auffangen ließen. Die Hacienda hingegen war ein »Generationenort«38 , in dem sich eine vorrevolutionäre Stabilität inszenieren ließ und die massiven Urbanisierungsprozesse mit einer nostalgischen Rückkehr in ein rurales »foyer des traditions«39 kompensiert werden konnten. Schließlich deutet die Thematisierung der Nordgrenze als einer problematischen Kontaktzone in der nationalen Peripherie auf eine von jeher angespannte Beziehung zu den USA hin und zeigt, wie ein disperses mexikanisches Publikum mit Hilfe von extrakulturellen Kontrastfolien gebündelt wurde. Dass diese drei besonderen Drehorte in der Época de Oro nicht als Schauplätze einer abgeschlossenen Historie, sondern als gegenwartsbestimmende Mnemotope instrumentalisiert wurden, zeigt sich vor allem im Auseinanderklaffen von kollektivem Gedächtnis und Geschichte: Eine mnemotopische Kontinuitätsstiftung kommt nämlich vor allem dort zum Tragen, wo die Historiographie im Dunkeln tappt und der télé-histoire (Fernand Braudel) eines Ortes nicht habhaft werden kann, wie im Falle der Ruine. Nationale Mnemotope werden aber auch dann relevant, wenn Machtträger (in staatlichem wie marktlogischem Sinne) eine Monopolstellung bei der Verwaltung des kulturellen Gedächtnisses ausspielen und eine regimekompatible oder publikumsgefällige Sinnpflege zur Vorschrift wird, wie das vor allem am Beispiel der HaciendaMnemotopie untersucht wird. Schließlich kann man die Hinwendung zu Mnemotopen auch dann beobachten, wenn traumatische Verlusterfahrungen in das kollektive Unbewusste ausgelagert werden, aber dennoch als latente Anwesenheit einer peinigenden Abwesenheit einen Einfluss auf das alltägliche Raumbewusstsein ausüben, wie im Falle der mexikanischen Nordgrenze zu zeigen sein wird. Neben anderen kollektiven Orten fügten sich diese drei nationalen Mnemotope zu einem Ensemble von Fixpunkten in der mexikanischen Kulturlandschaft, die ab den 1950er Jahren einer kritischen Revision aus zunehmend postnationaler Perspektive unterstellt wurde. Doch auch in der präindustriellen Phase lassen sich Werke finden, die sich nicht ohne weiteres in den Chor nationalbewusster Selbstdarstellungen einreihen lassen. Ein bedeutender Impulsgeber für das ortsgestützte Memory-Building im mexikanischen Film war hierbei Sergei Eisenstein mit seiner unvollendeten, aber dennoch sehr einflussreichen Filmsymphonie Que viva México! (1931). Die prägenden Einflüsse der US-amerikanischen Kinematographie komplementierend, bildete das Werk eine häufig

37 38 39

darle sustento a proyectos disparados hacia la incertidumbre del futuro. En estos y en otros casos, la recuperación del pasado, o la invención de un pasado propio, se manifiestan como una compulsión irreprimible cuyo fin último es afirmar la existencia histórica del grupo, el pueblo, la patria o la nación.« (Florescano 1987, 7.) Lacan 1991, 178ff. Vgl. A. Assmann 2006, 301ff. Halbwachs 1968, 74.

51

52

A. Mnemotopie – Nation – Film

herangezogene Stilvorlage der Época de Oro. Eisensteins Episodenfilm stellt im Kontext dieser Arbeit vor allem auch deswegen einen relevanten Hypotext dar, weil dort das Phänomen der Mnemotopie in einer beachtlichen Formenvielfalt abgebildet wird. Das Bewusstsein des Filmpioniers für das Nachleben vergangener Epochen, das auch in seiner Vorstellung von einer Kreisläufigkeit der mexikanischen Zeitenfolge aufscheint, findet darüber hinaus zahlreiche Anknüpfungen in Eisensteins theoretischem Nachlass.

  Cantan a través de los siglos las ruinas su canción. (José Bohr, Canto a mi Tierra)   Quand les hommes sont morts, ils entrent dans l’histoire. Quand les statues sont mortes, elles entrent dans l’art. Cette botanique de la mort, c’est ce que nous appelons la culture. (Chris Marker/Alain Resnais, Les statues meurent aussi)   Une ruine est un accident ralenti. (Jean Cocteau, Mon premier voyage)

1. Die Ruine als Vergegenwärtigung des Unvordenklichen

Wenn man die Filmproduktion als alternative »Biographie einer Nation«1 versteht, lohnt es sich, den Parcours bei historisch weit zurückliegenden Zeiträumen beginnen zu lassen. Die historischen Landschaften Mexikos bergen dabei einen besonderen Schauplatz für Spuren der altamerikanischen Zivilisationen: die historische Ruine aus prähispanischer Zeit, eine ruhende Reminiszenz an das Unvordenkliche. In der Ruine, der verwitterten Bausubstanz, der zweckbefreiten, von der Natur rückeroberten Stätte untergegangener Kulturen, schlummert das Potenzial einer Selbstverständigung im Dialog über Jahrtausende. Wenn architektonische Hinterlassenschaften, ganz allgemein gesprochen, »vom Geiste ihrer Erbauer und ihrer Zeit [zeugen], auch dann wenn sie längst nicht mehr ihren ursprünglichen Zwecken dienen«2 , kann man die Ruine durchaus als idealtypischen Verweis auf die télé-histoire einer Gesellschaft begreifen, wie es Fernand Braudel im Hinblick auf den mediterranen Kulturraum fasst und sich auf die Suche nach Zeitschichten begibt, die einen hohen Spekulationsgrad zur Überbrückung großer historischer Unschärfen erforderlich machen.3 Um bei Braudels einflussreichem Begriffskanon zu bleiben, ist die Analyse der télé-histoire also gleichbedeutend mit der Suche nach einer maximalen longue durée mit Hilfe von latenten, bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Relikten der Zeit. Im europäischen Kontext wird das Phänomen der Ruine im Zuge der humanistischen Rückbesinnung auf die Antike emergent.4 Die Arbeit an der Ruine als Versuch, die verlorene Kontinuität zur Antike wiederherzustellen, markiert auch die Geburtsstunde der als klassisch aufgefassten Archäologie im 18. Jhd., deren geisteswissen-

1 2 3 4

Anderson 1991, 201. Vgl. Peter Schamonis und Alexander Kluges Filmessay Brutalität in Stein (1961), hier 00:14. Braudel 1985, 163. Aleida Assmann spricht der kommemorativen Reise eine Bedeutung zu, die sich bis in die antike Gelehrtenreise, etwa zu den Ruinen der Platonischen Akademie, zurückverfolgen lässt. Die ungleich bedeutendere Rückbesinnung auf die Ruine als einem transgenerationellen Speicherort datiert sie jedoch, zumindest im europäischen Kontext, auf die Renaissance und damit der Epoche markanter Überblendungen von Vergangenheit und Gegenwart (vgl. A. Assmann 2009, 159).

58

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

schaftliche Ausläufer und interdisziplinäre Derivate neue Reflexionsbögen im Hinblick auf das ortsgebundene Gedächtnis eröffnet haben: Seit Gelehrte und Künstler der Renaissance die Kunst und Architektur der Antike entdeckt haben, gibt es die Faszination der Ruinen. An ihnen entwickelt sich historisches Denken, nimmt die »Archäologie des Wissens« ihren Ausgang. Kunstwissenschaft, Historie, Altertumskunde, Philologie, ja selbst die Psychoanalyse, die Freud in einem durchaus nichtmetaphorischen Sinn mit der Archäologie verwandt sieht, arbeiten an Trümmern, Bruchstücken, Relikten, Torsi, Fragmenten. Nicht ohne Grund kennzeichnet Michel Foucault die Arbeit jedes Humanwissenschaftlers als archäologische: die Vergangenheit insgesamt ist Ruine. Das einst lebendig erfüllte Gehäuse vergangener Gegenwart wird durch bloßes Verrinnen der Zeit, durch Vergessen, aber auch durch Verdrängen und Überlagern zur Ruine.5 Das Interesse am materiellen Nachlass entlegener Zeiten ging zweifellos auch einher mit der Entdeckung neuer Kulturkreise und der synthetisierenden Deutungslust, die den Sinnpluralismus der Neuzeit in universalhistorische Schemata zu fügen suchte. Einen prominenten Platz in der Gesellschaft erlangte das Phänomen der Ruine auch im 19. Jhd. als romantischer locus classicus sowie als Korrespondenzort für die melancholische Kontemplation. Nicht selten wird die Ruine zum bevorzugten Objekt des Sentimentalismus und zum Symbol eines Verfalls, der noch bei Walter Benjamin als »malerische Kulisse vergänglicher Pracht«6 eine ästhetische Ausschöpfung der Vergängnis ermöglicht. Auch in der ›Neuen Welt‹ war die Ruine ein häufig herangezogener Ortstypus, dessen Symbolkraft in anthropologischen, staatstheoretischen und nicht zuletzt lyrischen Zugriffen manifest wurde.7 Während aber in Europa die Ruine im 19. Jhd. als mate5

6 7

Böhme 1988, 353. Der Verweis auf Foucault gilt offensichtlich dessen Werk Archäologie des Wissens, in welchem die sinnträchtige Engführung der Geschichtswissenschaften mit der Archäologie als methodologische Leitdisziplin vorgenommen wird. Die Ruine als Monument wird klassischerweise im Prozess der Aufschlüsselung zu einem Dokument, das die Spuren der Vergangenheit lesbar macht. In Foucaults Verständnis gerinnt die Ruine aber gerade nicht zum Dokument einfacher historischer Kausalitäten, sondern behält sich eine vorbegriffliche Komplexität eines Monuments multipler Zeitschichten und Verstehensebenen vor, die je nach Blickwinkel oder diskursiver Formation arrangiert werden: »Es gab eine Zeit, in der die Archäologie als Disziplin der stummen Monumente, der bewegungslosen Spuren, der kontextlosen Gegenstände und der von der Vergangenheit hinterlassenen Dinge nur durch die Wiederherstellung eines historischen Diskurses zur Geschichte tendierte und Sinn erhielt; man könnte, wenn man etwas mit den Worten spielte, sagen, daß die Geschichte heutzutage zur Archäologie tendiert – zur immanenten Beschreibung des Monuments.« (Foucault 1981, 15). Benjamin 1991a, 354. Neben Salomé Ureña de Henríquez, die mit Ruinas (1876) einen Abgesang auf die koloniale Größe der Dominikanischen Republik vorlegt, ist im mexikanischen Kontext José María Heredia hervorzuheben, der in En el Teocalli de Cholula (1820), auf dem Gipfel der Pyramide sitzend, einen elegischen Aus- und Rückblick vornimmt. In Heredias mnemotechnischer Verquickung der Landschaftserfahrung mit der Retrospektive lässt sich eine Nähe zu Petrarcas Mont Ventoux-Epistel Ascesa al Monte Ventoso (1336) erkennen, die eine »Epochenschwelle in der Geschichte der ästhetischen Erfahrung« markiert (vgl. Stierle 1979, 11), auch wenn die erhabenen Landschaften, die der kubanische Romantiker beschreibt, in viel stärkerem Maße einer Gipfelmeditation zur Lokalge-

1. Die Ruine als Vergegenwärtigung des Unvordenklichen

rialisierte Vergangenheitsspur in den Fokus des Historismus geriet, gilt es im Kontext Mexikos das Moment der architektonischen Transkulturation zu bedenken. Die koloniale Bautätigkeit stand im Hinblick auf Spuren mesoamerikanischer Zivilisationen zunächst weniger im Zeichen der Anastylose, d.h. der sorgfältigen Rekonstruktion zerstörter, oder zum Zeitpunkt der Conquista bereits verwahrloster Bauformen, als vielmehr im Zeichen der Rehabilitierung verwitterter Monumente für symbolische Akte der territorialen Bemächtigung. In der alsbald kanonisierten historischen Abhandlung zur Eroberung Mexikos von William H. Prescott (1843) wird die sukzessive architektonische Überblendung der aztekischen Zivilisation als eine rasche Bemächtigung und imperiale Auferlegung importierter Formen auf dem Sockel aztekischer Ruinen apostrophiert: In less than four years from the destruction of Mexico, a new city had risen on its ruins, which, if inferior to the ancient capital in extent, surpassed it in magnificence and strength. It occupied so exactly the same site as its predecessor that the plaza mayor, or great square, was the same spot which had been covered by the huge teocalli [nahuatl für ›Gotteshaus‹, ›Tempel‹, Anm. d. Vf.] and the palace of Montezuma.8 In der Vereinnahmung der Ruine für eigene architektonische Ewigkeitsgesten liegt ein sehr anschauliches Beispiel für Prozesse der Einverleibung vor, die Aby Warburg als »Auseinandersetzung mit der Formenwelt vorgeprägter Ausdruckswerte«9 definiert. Doch mehr als eine ehrerbietige Übernahme vergangener Bauformen, besaß die Einverleibung altamerikanischer Ruinen natürlich den Stachel der imperialen Aneignung. Das monumentale architektonische und symbolische Substrat einstmaliger hieroi topoi wurde zwar restauriert, allerdings unter neuen Vorzeichen und in einem radikal veränderten Machtgefüge inszeniert, wie im nachfolgenden Kapitel zur mexikanischen Kulturarchäologie besprochen wird. Einleitend soll die Funktion der Ruine als Ort des Unvordenklichen vertieft werden, um zu illustrieren, dass die Unterscheidung zwischen Geschichte und Mythos an der Ruine zu einer Gratwanderung wird. In den Filmanalysen wird deutlich, dass gerade diese Kippbewegung die Ruine für mnemotopische Fragestellungen auszeichnet, die einen Fokus auf eine ortsbestimmte Konfiguration des kulturellen Gedächtnisses legen.   Einen Knotenpunkt in der Wahrnehmung des Ruinenphänomens im 20. Jhd markieren die soziologisch-anthropologischen Ausführungen zur Ruine von Georg Simmel. In einem geradezu melancholischen Schlüssel beschreibt Simmel in seinem Aufsatz Die Ruine (1907) eine ortstypische Inversionsdynamik: der Zivilisationsprozess, den Simmel als »allmähliches Herrwerden des Geistes über die Natur« fasst, werde umgekehrt, sobald

8 9

schichte zugeführt werden. Eine Vorwegnahme für die Mnemotopie im Filmkontext ist der Umstand, dass Heredias lyrisches Ich, wie bereits bei Petrarca, bei der Betrachtung der Landschaft auch die darin eingebettete Vergangenheit abzurufen vermag und, aus der Kontemplation in einen Dämmerzustand fallend, das Aztekenreich aus der »profunda noche de los tiempos« erwachen sieht (Heredia 1892, 156). Auf diese Weise wird die Ruine nicht nur zum Medium der Vergangenheitsschau und zum Katalysator der historischen Imagination, sondern trägt auch zu einer plastischen Wiederhervorbringung der Geschichte vor dem geistigen Auge des Träumenden bei. Prescott 1979, 447. Warburg 2010, 634.

59

60

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

»natürliche Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen«10 . Der schleichende Verfallsprozess erhält bei Simmel eine Aura des Unheimlichen, da die architektonisch bezwungene Natur zu einer personifizierten Gewalt wider den Menschen wird, um sich zielgerichtet für die am Naturzustand begangene Vergewaltigung zu rächen. Ihrer ursprünglichen Funktionen beraubt, verkommt die Ruine so zu einem Mahnmal ehemals prosperierender Epochen und erlangt einen neuen Sinn und mithin einen neuen ästhetischen Reiz der »kosmischen Tragik«11 , bei der das von Menschen geschaffene Bauwerk sich allmählich wieder in das vorhergehende Landschaftsbild eingliedert. Die Ruine werde so zu einem Ort des statischen, befriedeten Geistes, der sie »wie ein heiliger Bannkreis«12 umgibt und damit eine topologische Stimmung der zeitlichen Abgeschlossenheit und räumlichen Isolation markiert. Die anschließende Aufgabe der kontemplativen Würdigung entfällt auf die Nachwelt, die der Ruine mit einem zweiten Beherrschungsimpuls – der epistemologischen Durchdringung einer abgeschlossenen Zeitspanne – beizukommen habe. Simmel scheint in seinem vielfach zitierten Beitrag einen konkreten Ruinentyp im Sinn zu haben: Es sind weniger die von Menschenhand zerstörten Bauwerke und Trümmerlandschaften, die eine reizvolle Dekadenz ausstrahlen, als diejenigen, die eine historische Distanz markieren und einer natürlichen Verwitterung ausgesetzt sind, mit anderen Worten eher unmerklich in eine sukzessive Dysfunktionalität gleiten. Dieses Ruinenverständnis lässt sich sehr treffend mit jenem Diktum beschreiben, mit dem Jean Jacques Cocteau in seinen Reisechroniken altägyptische Ruinen belegt: »Une ruine est un accident ralenti«13 , eben eine im graduellen Verfallsprozess erreichte Schwundstufe verjährter Bausubstanz, die für Simmel gerade im dauerhaften Vergehen einen Reiz der Eigengesetzlichkeit ausstrahlt und sich in eine unmittelbar anschauliche Gegenwart fügt.14 Im mexikanischen Kontext hat der Kulturwissenschaftler Roger Bartra

10 11

12

13

14

Simmel 2008, 34. Ebd. In großer Ähnlichkeit zu Simmels Ruinenverständnis betrachtet Walter Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels die Ruine als einen melancholisch aufgeladenen Ort, der die Geschichte »nicht als Prozeß ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls« veranschauliche. Analog dazu, vollziehe sich in der Ruine auch der Umschlag von Geschichte in Natur oder Mythos (vgl. Benjamin 1991a, 353 und 358). Ebd., 40. Sinnverwandt ließe sich hier auch von einem »Stimmungsring« sprechen, den Claudia Schmölders im Hinblick auf die Bibliothek als Denk- und Spannungsraum einführt (Schmölders 2005, 695). Ein Bewusstsein für die räumliche Dimension der Stimmung bietet auch Hans Ulrich Gumbrecht, wenn er von einem die Kommunikationsprozesse überformenden »Stimmungsrahmen« spricht und die Stimmung allgemein zum Gegenstand der geschichtsphilosophischen Reflexion erhebt (Gumbrecht 2011, 21 und 18). Ein Bewusstsein für die Gestimmtheit einer Raumeinheit findet sich bei Simmel angewandt auf die Kategorie der Landschaft, wenn er feststellt, dass die »Stimmung der Landschaft alle ihre einzelnen Elemente [durchdringt]« (Simmel 1913, 641). Die Stimmung der Ruine lässt sich folglich auch als kollektiv gereifte und individuell abrufbare Einladung zur Retrospektion verstehen. »Une ruine est un accident ralenti. C’est pourquoi la lenteur du choc n’empêche pas la beauté morte d’avoir cet air de femme changée en statue, de vitesse devenue immobile, de bruit devenu silence, sans avoir eu le temps de faire ses préparatifs. La lenteur ne lui évite que les grimaces et les poses d’épouvantails des morts violentes. Mais un effroi l’environne.« (Cocteau 1936, 45). Vgl. Simmel 2008, 34.

1. Die Ruine als Vergegenwärtigung des Unvordenklichen

auf ähnliche Weise den langsamen Reifungsprozess der Ruine hervorgehoben und den Begriff des Archäotops eingeführt, das im Gegensatz zu modernen Ruinen ein Bindeglied zu weit zurückliegenden Epochen bildet.15 Eine Präferenz des Telehistorischen findet sich auch bei Hartmut Böhme, dessen Essay Die Ästhetik der Ruine (1989) diverse Funktionen und Lesarten der Ruine entlang der europäischen Geistesgeschichte untersucht. Auch hier ist es weniger das moderne Trümmerfeld oder die Industriebrache als die antike Ruinenlandschaft, der die Aufmerksamkeit gilt. Als Signifikanten der Abwesenheit sind Ruinen für Böhme »Gegenstände nachträglicher Reflexion«, die der Funktionsverschiebung von imperialen Institutionen hin zu »Schauplätzen neuer signifikatorischer Akte«16 ausgesetzt sind. Das Grundmerkmal aller Ruinen liege in ihrer Ermöglichung einer Erfahrbarkeit von Zeit sowie in ihrer Eigenschaft, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an einem Ort zusammenzuführen.17 Wenn bereits bei Simmel ein starker Gegenwartsbezug der Ruine aufscheint, so erkennt auch Böhme ihre synchrone Relevanz in Prozessen der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung. Bedeutsam ist dabei zunächst, dass die Ruine einen konkreten Referenzort darstellt, bis die Natur die Spuren der Zeit unwiederbringlich getilgt hat und die Vergangenheit nur noch mit Hilfe der schriftlichen Überlieferung aufgefangen werden kann: Es scheint, daß historische Spurenlese nicht nur an Ruinen sich entzündete, sondern über lange Jahrhunderte auch deren materialen Vergegenwärtigung bedurfte. Wo keine Ruinen vor Augen stehen, wo Geschichte sich restlos in Natur aufgelöst hat, dort hat Erinnerung keinen Halt mehr oder muß vollständig in Schrift übergegangen sein […].18 Ruinen als »Signaturen der Vergängnis«19 seien hingegen noch heute optimale Artefakte für rekonstruktive Erinnerungsarbeit darzustellen. Interessant ist hierbei, was

15

16 17

18 19

Den Begriff des Archäotops prägt Bartra in seiner mythenkritischen Studie zur mexikanischen Identität und meint hierbei Orte, die Spuren präkolumbinischer Bausubstanz tragen und an den subvertierten Garten Eden Mexikos gemahnen. Auch wenn die Denkfigur des edén subvertido, die in dieser Arbeit bei der Analyse der Ruinen aber auch der Haciendas im Film zum Tragen kommt, auf eine in der Gegenwart empfundene Defizienzerfahrung hinweist, argumentiert Bartra gegen eine vergangenheitsfixierte und nostalgische Funktionalisierung der mexikanischen Archäotope als Orte der überhöhten Melancholie (vgl. Bartra 2015, 34). Böhme 1989, 287. Böhmes Ideen zur der Ruine eigenen Überblendung der Zeitschichten deutet auf das allgemeine Phänomen der Zeitsynthese (vgl. Rüsen 1994, 7), die dem historischen Bewusstsein zu Grunde liegt und steht in konzeptueller Verwandtschaft zu Reinhart Kosellecks »temporale[r] Vielschichtigkeit« (Koselleck 2013, 67 und 82), die das Primat der Zeitlichkeit in historischen Reflektionen zu Gunsten einer topologischen Dimension in Frage stellt. Kosellecks prominente Formel der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als einer »Grunderfahrung aller Geschichte« (Koselleck 1995, 325) erfolgt in unmarkierter Anlehnung an das Phänomen der »Ungleichzeitigkeit«, wie Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit Vorgänge der diachronen Überblendung der Gegenwart bezeichnet (vgl. E. Bloch 1981, 68f). In Karl Schlögels Akzentuierung einer »Gleichörtlichkeit« wird in jüngster Zeit die Dominanz der historischen Sequentialität gegen eine räumliche Logik des Nebeneinanders ausgespielt (Schlögel 2011, 584-586). Böhme 1989, 289. Böhme 1989, 290.

61

62

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

mit der Ruine vor ihrer Auflösung und Transformation in Übertragungsmedien geschieht, denn analog zu Simmels Denkfigur der »Eigengesetzlichkeit des Materials«20 , die im Dienste einer nachzeitigen Sinngebung steht, wird die Ruine im Dialog mit der Vergangenheit mit einer sakralen Aura der »topographischen Anomalie«21 versehen, die das historische Bewusstsein schult, ja geradezu herausfordert. Simmels heiliger Bannkreis trägt in Böhmes Weiterführung zu einer kulturellen Isolierung der Ruine als hieros topos bei. Die Einladung zur Vergangenheitsschau erhält hierbei eine ganz eigene Sakralität des Vergangenheitskultes. Die Hierotopie ist, so besehen, eine Spielart der überhistorischen Mnemotopie, der angesichts telehistorischer Unschärfen eine Prädisposition für Prozesse der mythologischen oder religiösen Überdeterminiertheit zu Grunde liegt. Gerade in der Verweisfunktion der Ruine auf das Überhistorische22 liegt auch ihre zentrale mnemotopische Beschaffenheit einer kollektiven Gedächtnisstütze, die sich an der Schwelle zur absoluten Vergangenheit befindet und zwischen der Referenzierung einer mittelbaren Vergangenheit und einer mythischen Zeitlosigkeit schwebt. Ein noch jüngerer Beitrag, der wiederum mit der Oszillation zwischen Geschichte und Gedächtnis spielt, liegt in Marc Augés anthropologischer Ruinendeutung Le temps en ruines (2003) vor. Die historische Überformung eines Ortes trifft im hieros topos der Ruine auf eine Aura der absoluten Vergangenheit, die er als eine pure, um historische Referenzen bereinigte Zeitlichkeit versteht: La vue des ruines nous fait fugitivement pressentir l’existence d’un temps qui n’est pas celui dont parlent les manuels d’histoire ou que les restaurations cherchent à ressusciter. C’est un temps pur, non datable, absent de notre monde d’images, de simulacres et de reconstructions, de notre monde violent dont les décombres n’ont plus le temps de devenir des ruines. Un temps perdu qu’il arrive à l’art de retrouver.23 Nicht zufällig erscheint die anthropologische Restaurationsarbeit mehr als eine Deutungskunst denn als objektiver Zugriff auf die Vergangenheit. Augés Vorstellung von einer puren, historisch nicht zu vereinnahmenden Eigengesetzlichkeit der Ruine, die unweigerlich und fast ausschließlich auf das historische Imaginäre angewiesen ist, wird 20 21 22

23

Simmel 2008, 34. Anderson 1991, 170. Der Begriff des »Überhistorischen« (Nietzsche 1988, 330), den Nietzsche in dem viel rezipierten geschichtsphilosophischen Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« einführt, besitzt zweifelsohne eine konzeptuelle Nähe zum Begriff des »Transhistorischen«, den Mircea Eliade bei der Besprechung des Mythos der ewigen Wiederkehr verwendet (Eliade 1959, 141ff.). Darüber hinaus liegt hier auch eine Verwandtschaft zum Konzept der Großen Zeit, das sich ebenfalls bei Eliade (Eliade 1959, xi.), aber auch bei Bachtin findet, nämlich bei seiner Besprechung einer potenziell zeitlosen Gültigkeit der Literatur (vgl. Бахтин 1979, 331). An die Vorstellung eines entgrenzten Zeitregimes knüpft auch Gumbrecht bei der Vorstellung von der Postmoderne als einer breiten Gegenwart an (vgl. Gumbrecht 2012, 83f, wieder aufgegriffen und für die Diskussion differenter Zeitregime aufbereitet bei A. Assmann 2013, 247-265). Augé 2003, 9. Im Vorwort zu seinen anthropologischen Reflexionen zur Ruine rehabilitiert der Autor die schönen Künste für die Wiederaufbereitung jener verschollenen Zeitlichkeit, die in diesen sich in der Welt befindenden und gleichzeitig der Welt enthobenen Orten lesbar ist. Damit stellt er sich gegen die Vorstellung von einer Horizontbildung des »Unhistorischen«, die Nietzsche der Kunst und der Religion attestiert (vgl. Nietzche 1998, 330).

1. Die Ruine als Vergegenwärtigung des Unvordenklichen

in der Doppelfunktion der Ruine als archäo- und epistemologischem Steinbruch an einer spätere Stelle erneut greifbar, einem Steinbruch aus dem ein Inventar von Mythen und verschollenen Objekten geborgen und der wissenschaftlichen inventio überführt werden könne.24 Eine zentrale und in der folgenden Diskussion filmischer Repräsentationen der Ruine maßgebliche Spannung, liegt hierbei in der symbolischen Dichte des Ortes. die archäologische, historische oder anthropologische Durchdringungsversuche anzieht und eine Kaskade der Interpretationen und Narrative verursacht. Gerade die historische Indeterminiertheit befördert dabei die Spekulation und lässt die Archäotopie zu einem großen Projektionsfeld wissenschaftlicher wie künstlerischer Zugriffe werden. Wenn das Archäotop Träger einer nur mehr schwach determinierten télé-histoire ist, ist das Nachleben der Ruine in historischen, aber auch populärkulturellen Diskursen von einer geradezu zeitresistenten Hartnäckigkeit, was uns an dieser Stelle einlädt, bei einer Reflexion zur Tradierung einer weit zurückliegenden Historie zu verweilen, so wie sie Mircea Eliade mit Blick auf eine archaische Ontologie traditioneller Gesellschaften entwirft. Eine der Fragen, die der Religionswissenschaftler in seiner Studie zum Mythos der ewigen Wiederkehr erörtert, ist dabei, wie lange und in welchem Umfang historische Ereignisfolgen im kollektiven Gedächtnis bewahrt werden können.25 Eine bedeutende Erkenntnis ist dabei die kulturelle Dynamik einer »popular memory«, die im Wandel der Generationen abgeschlossene Zeitschichten auf mythologische Verstehensebenen verlagert, auf Ebenen also, die die Chronologie und Akkuratesse der Geschichtsschreibung zu Gunsten eines archetypischen und ritualisierten Geschichtsbewusstseins opfert: The recollection of a historical event or a real personage survives in popular memory for two or three centuries at the utmost. This is because popular memory finds difficulty in retaining individual events and real figures. The structures by means of which it functions are different: categories instead of events, archetypes instead of historical personages. The historical personage is assimilated to his mythical model (hero etc.), while the event is identified with the category of mythical actions (fight with a monster, enemy brothers etc.). If certain epic poems preserve what is called »historical truth,« this truth almost never has to do with definite persons and events, but with institutions, customs, landscapes.26 Die Auslagerung der Vergangenheit ins Archetypische und Kategorische findet in der Ruine ein ideales mnemotopisches Medium für politische Mythen, die aus einer diffusen Vergangenheit stammen mögen, aber dennoch dank einer kollektiven Sinnpflege

24

25 26

»Ce que les anthropologues avaient sous les yeux, c’était bien une sorte de chantier sur lequel on faisait l’inventaire des mythes et des objets perdus, où l’on élaborait […] des théories interprétatives, des séquences historiques et des épisodes mythiques. Mais c’était bien un chantier. C’est dire que l’avenir, si incertain qu’il fût, en était la raison d’être.« (Augé 2003, 17). Eliade 1959, 37. Ebd., 43.

63

64

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

aktuell bleiben.27 Allerdings sei gerade das Phänomen der »mnemonic lacuna«28 als Merkmal der archaischen Ontologie tief verankert in der Folklore aller Nationen, wie Eliades breit angelegte Studie zur Vielfalt der Zeiterfahrung aufdeckt. Das kollektive Gedächtnis sei, universal gesehen, ahistorisch und nicht im Stande, historische Ereignisse jenseits archetypischer Dimensionen zu verwahren29 – ein Traditionsmechanismus, der sich auch bei Gramscis Ausführungen zum senso comune und der Produktion eines populärhistorischen Alltagsverstands findet.30 Eliades Ausführung zur Mythologisierung der Geschichte enthält darüber hinaus einen Dualismus der Zeitlichkeit, der sich in höchstem Grade für die Besprechung der Mnemotopie sakraler Orte eignet. Was Simmel bereits als einen Bannkreis beschreibt, der einen heiligen Ort umgibt, ist bei Eliade die Schwelle zu einer anderen raumzeitlichen Logik: Just as profane space is abolished by the symbolism of the Center, which projects any temple, palace, or building into the same central point of mythical space, so any meaningful act performed by archaic man, any real act, i.e., any repetition of an archetypal gesture, suspends duration, abolishes profane time, and participates in mythical time.31 Als topologischer Zielort für rituelle Praktiken, ist die Ruine dabei in ähnlicher Weise wie ein Wallfahrtsort oder ein Tempel mit einer kulturellen Zentralität ausgestattet und wird im Zuge ritueller Kulturpraxis zu einer überhistorischen Wiege kultureller Tiefenstrukturen. In der Ruine als hieros topos schlummert daher eine bedeutende gemeinschaftsstiftende Funktion, die häufig jener archaischen Ontologie der rituellen Nachahmung folgt, die Jan Assmann treffend als kulturelle Liturgie bezeichnet.32 Im Beitrag zur Horizontbildung eines Kollektivs ist die Ruine ein Mnemotop im engeren Sinne, da sich hier die signifikante Überlagerung eines historischen Schauplatzes mit einer sakralen Sinnstiftung entfaltet, die Aleida Assmann in Anlehnung an Halbwachs als »sakrale Topographie« oder »mythische Gedächtnislandschaft« operationalisiert.33 Wenn eine Ruine folglich die Qualität eines kulturell rezipierten Textes und das Potenzial der generationsübergreifenden Sinnstiftung besitzt, lässt sich jedes Archäotop also insofern auch als ein Mnemotop begreifen, als es ein gegenwartsbestimmendes mnemisches Potenzial für ein Kollektiv entfalten kann. Es ist schließlich naheliegend, die Ruine mit dem philologischen Begriff des Palimpsests engzuführen, da auch hier eine semiotische Verdichtung der Lesarten – seien es Reaktualisierungen, Refunktionalisierungen oder auch Rekonstruktionen des Archäo-

27

28 29 30 31 32 33

Vgl. Münkler 1992, 39ff. Hier bietet sich auch der Verweis auf Jacques Rancières Vorstellung von vergangenheitsbezogenen fictions dominantes an (Rancière 2008, 84), auf die bei der Besprechung des Filmbeispiels Raíces noch einzugehen sein wird. Eliade 1959, 46. Vgl. ebd. Vgl. Landy 1994, 28f. Eliade 1959, 36. Vgl. J. Assmann 2013, 18. A. Assmann 1999, 303f.

1. Die Ruine als Vergegenwärtigung des Unvordenklichen

tops – an einem Bauobjekt als kulturellem Textkörper stattfindet.34 Die Ruine ist aus diesem Grund ein geeignetes generationsübergreifendes Referenzobjekt für die »identitätsstabilisierende Langzeitkommunikation«35 einer Gesellschaft. Mehr als nur ein locus melancholicus, mehr als eine »allegorische Urlandschaft des Verfalls«36 , ist die Ruine, wie es der Kulturanthropologe Quetzil Castañeda im Rückgriff auf Eliade vorschlägt, immer auch ein Museum, das die vergangene Kosmovision nach den Regeln der geltenden Kulturgrammatik ordnet.37 Und gerade diese moderne Funktion der Ruinen als didaktisch aufbereitete Geschichtstrümmer birgt, ungeachtet der semiotischen Instabilität, eine bedeutende Funktion für kollektive Selbstentwürfe in Form einer Familiarisierung mit einer kollektiv geteilten Geschichtskultur des »Gemeinsame[n] und Übergreifende[n]«38 . Denn trotz ihrer brisanten ontologischen Unruhe ist die Ruine vielfachen Versuchen der Sinnfixierung und Institutionalisierung ausgesetzt worden. Die Dechiffrierung der Ruine als kulturelles Arkanum mag ihre spekulativen Spielräume bieten, doch mit gedächtnispolitischen Vorgaben lässt sich auch ein konkretes und unzweideutiges Vergangenheitsbild in die Gesellschaft tragen, wie am Beispiel des mexikanischen Nation-Building zu zeigen sein wird. Vor allem die Filme im Anschluss an die Época de Oro zeigen, dass die an der Ruine vorgenommene gesellschaftliche Gedächtnispflege immer dann auf Gegenwehr stößt, sobald ein standardisiertes Vergangenheitsbild als aufoktroyierte Identitätsvorlage empfunden wird. Im Zuge der nachrevolutionären Neuausrichtung avancierte auch die mexikanische Ruine zu einem viel befragten stummen Zeugen der Vergangenheit und erlangte ihre gemeinschaftsstiftende, wenngleich kontrovers diskutierte Bedeutung. Augés epistemologischer Steinbruch wurde zu einem Ort, an dem die Geschichte nicht nur fort-, sondern auch umgeschrieben werden konnte. Das Kuriose daran war sicherlich die zeitliche Inversion, da ausgerechnet ein Relikt längst vergangener Zeiten zum Projektionsfeld für neue Zukunftsvisionen wurde. Auf dem Spiel stand dabei nichts Geringeres als die Deutungshoheit bei der Bestimmung der komplexen mexikanischen Origo und damit der ätiologischen Formel für ein kollektives mexikanisches Selbstverständnis. Von diesen theoretischen Prämissen ausgehend, wird im nächsten Schritt die Eignung der Archäotopie für Ursprungsnarrative erörtert, die im postrevolutionären, auf nationale

34

35 36 37

38

Zur Reaktualisierung der philologischen Metapher des Palimpsests im Kontext der MemoriaForschung und der Ambiguität von Gedenkstätten mit imperialer oder transnationaler Bewandtnis, siehe Huyssen (2003) sowie Winter (2009). Das Palimpsest birgt eine funktionale Analogie zur klassischen platonische Gedächtnismetapher der Wachstafel, auf die Sigmund Freud 1925 in seiner berühmten Veranschaulichung des Gedächtnisses als Wunderblock rekurriert (vgl. A. Assmann 1991, 13 und Freud (2008). A. Assmann zit. in Erll/Wodianka 2008, 4. Böhme 1989, 299. In pantextueller Zuspitzung erfasst Castañeda die museale Bewandtnis der Ruine mit Freuds einflussreicher Gedächtnismetapher des Wunderblocks. In monumentaler Verkörperung wird Freuds individualpsychologische Vorstellung von einer palimpsestartigen Gedächtnisformation damit als ein Speicherort für dauerhafte, wenngleich verzerrte und fortwährend überschriebene Erinnerungsspuren imaginiert (vgl. Castañeda 1995, 186f). Vgl. Rüsen 1994, 4.

65

66

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Integration drängenden Mexiko eine hohe Konjunktur hatten. Der zeithistorische Kontext wird helfen, die filmische Repräsentation der Ruine in der mexikanischen Filmproduktion der Época de Oro einzuordnen und die Verwendungsmöglichkeiten dieser emblematischen Spielart der Mnemotopie in der Popularkultur zu illustrieren.

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

2.1.

Die Ruine als Resonanzkörper von Ursprungsnarrativen

Im Zusammenhang mit der Entstehung moderner Staaten ist die Ruine als Verweiselement auf die lokalhistorische Vergangenheit von großer Bedeutung. Die Existenzgrundlage einer Nation entsteht typischerweise im Rückgriff auf Ursprungsmythen, die »material traces of the historical past«1 in der Gegenwart verankern. Wenn jedoch der Suche nach nationalen Gründungsakten wie im Falle Mexikos die Brisanz der unverfügbaren oder undechiffrierbaren zivilisationsgeschichtlichen Episteme zu Grunde liegt, ist die Vielfalt möglicher Lesarten, die eine ätiologische Deutungslust hervorruft, charakteristisch, wenn nicht unvermeidbar, Wie der mexikanische Archäologe Román Piña Chan unterstreicht, ist nicht nur das Studium prähistorischer Zivilisationsspuren in Mexiko mit den üblichen Schwierigkeiten der Paläontologie behaftet, sondern das Studium der prähispanischen Ära per se: Los pueblos indígenas de México – en tiempos un poco anteriores a la conquista española – acostumbraban perpetuar y trasmitir sus hechos históricos o acontecimientos de importancia por medio de narraciones, unas veces en forma oral y otras en documentos pintados, ya fueran códices, tiras, lienzos o mapas, muchos de los cuales desaparecieron, en parte debido a la naturaleza perecedera de sus materiales y en parte por su destrucción intencional.2 Der historische Umbruchmoment der Conquista war entscheidend für die hier vorgeschlagene zweite Form der Obliteration kultureller Überlieferung: zum einen ging die spanische Kolonisierung des amerikanischen Kontinents mit einer Verwüstung bisheriger Mnemotope und der Profanation vieler heiliger Stätten einher, sofern diese nicht bereits verlassen waren, wie im Falle vieler hauts lieux der Maya-Kultur; Die Vertreibung und Dezimierung indigener Völker trug auch zur irreversiblen Zerstörung der Idole, Sprachen und kultureller Praxen bei, einem ›Epistemizid‹, der einen Scherbenhaufen der prähispanischen Zivilisationsgeschichte hinterlassen hat. Wie Quetzil Castañeda 1 2

Huyssen 2003, 1. Piña Chan 1972, 7.

68

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

anmerkt, folgte auf die territoriale Bemächtigung eine physische Verwahrlosung indigener hieroi topoi, wobei die immaterielle Verwahrlosung des Ortssinns erschwerend hinzukam, da eine kontinuierende Sinnpflege von der spanischen Krone delegitimiert wurde und die untergegangene Kosmologie mit einer nachhaltigen damnatio memoriae belegt war: Censorship of publications had a material and symbolic double in the way tens of thousands of Indian cities – those on which Spanish towns had not been built – were in the course of centuries covered over by jungle, »lost« both in sociogeographic space and in knowledge.3 Was also die symbolischen Nachwirkungen der Conquista betrifft, beginnt in Folge des folgenschweren Kulturkontakts auch eine narrative Überschreibung der Ursprünge.4 Im Hinblick auf die Mnemotopie der Ruine ist es lohnend, zwei topologische Folgen der kolonialen Umschreibungsprozesse zu unterscheiden: Blickt man auf die territoriale Erschließung Amerikas, so zeigen sich zum einen Tendenzen der Topoklastik, also der physischen Ortsvernichtung oder, viel bedeutsamer, durch die Auslöschung der Eingeweihten, die das kollektive Ortswissen pflegen und präsent halten, weiter gefasst, durch die Auslöschung eines ideographisch oder oral tradierten Ortssinns.5 Hierunter fällt natürlich auch die Entweihung der hieroi topoi als bedeutsame geographische Referenzoder Pilgerorte, die die topologische Orientierung eines Kollektivs gewährleisten. In der Regel wurde die Zerstörung des indigenen Kosmos komplementiert durch Aneignung fremder Elemente in die eigene Kosmovision, die man als imperiale Einverleibungsprozesse verstehen kann. Im Fall der Archäotope auf mexikanischem Staatsgebiet liegt ein sehr anschauliches Beispiel für die Einverleibung der indigenen Antike im bereits erwähnten Teocalli de Cholula vor. Nicht zuletzt weil in der monumentalen Größe der Tempelanlage ein enormer Hinderungsgrund für deren Demontage vorlag, wurde der religiöse Ortssinn mit der Errichtung der Iglesia de Nuestra Señora de los Remedios auf der Spitze der Pyramide umgeweiht (Abb. 1). Von ähnlicher Signifikanz ist die »synkretistische Einschmelzung«6 des Cerro del Tepeyac. Heute das bedeutendste mexikanische Heiligtum zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe, war der Hügel bereits vor dem historischen Umbruchmoment ein sakraler Ort an dem Tonantzin, die aztekische Gottesmutter verehrt wurde. In beiden Fällen handelt es sich um das Zusammenspiel von Topoklastik und einem »bautismo retrospec-

3 4

5

6

Castañeda 2001, 462. Die Conquista ist, bei all den Vorbehalten die man gegenüber monodimensionalen Auslegungen der leyenda negra haben muss, ein sehr plastisches Beispiel für Prozesse der Resemiotisierung neu erschlossener Territorien, einer kolonialen écriture de l’histoire (Michel de Certeau), deren Nachhaltigkeit bei der Betrachtung des Films Chilam Balam (1955) demonstriert wird. Dass in Mesoamerika sehr differenzierte Formen der Gedächtnispflege vorgeherrscht haben, ist eine zentrale Erkenntnis des mexikanischen Historikers Miguel León-Portilla, der mit seiner Anthologie Visión de los vencidos eine quellenbasierte Inversion der herkömmlichen Darstellung der Conquista vorgelegt hat und ein alternatives historisches Bewusstsein diskutiert, das Enrique Florescanos Kategorie der memoria indígena stützt (León-Portilla (2012)). J. Assmann 2005, 386.

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

Abb. 1: Die Einverleibung präkolumbinischer Zeitschichten symbolisiert durch die architektonische Einschreibung, die die Sakralität des Ortes unter neuen kosmologischen Vorzeichen aufrechterhält.

Quelle: Winsor 1884, 177.

tivo del pasado indígena«7 , der Resakralisierung profanierter Heiligtümer unter neuen religiösen Vorzeichen. In der Wiederanknüpfung an die kontinentale Vorzeitigkeit im Symbolort der Ruine wird eine Strategie der kolonialen Verwaltung erkennbar, die sich als ein Auseinanderdriften der monumentalischen und der antiquarischen Historie beschreiben lässt, zwei verschiedene und mitunter komplementäre Modi des Umgangs mit der Vergangenheit.8 Im Blick auf die mexikanische Verwaltung des kolonialen Erbes werden Nietzsches klassische Modelle der Vergangenheitspflege von Jorge Rabasa aufgegriffen: In the span of a decade after the conquest of Mexico, Mesoamerican civilizations came to be conceptualizations as a form of antiquity by missionaries and crown officials. War, the burning of books, the persecution of spiritual leaders forced a way of life into clandestinity. Indigenous cultures, in the lingo of the early missionaries, became antigual7

8

Brading 2004, 52. Auch vor der welthistorischen Zäsur der Conquista war die Einverleibung altamerikanischer Monumente in früheren, prähispanischen Eroberungszügen gängige Praxis, etwa während der aztekischen Expansion zu Beginn des 16. Jhd. Vgl. Nietzsche 1988, 262-272. Diese beiden Modalitäten der Historiographie korrespondieren jeweils stark mit zwei Gedächtnistypen, die Aleida Assmann diskutiert, nämlich dem gegenwartsrelevanten Funktionsgedächtnis einerseits und dem latenten Speichergedächtnis andererseits (A. Assmann 2010, 408f). Die Komplementarität der Doublette, die bei Nietzsche noch um die kritische Historie erweitert ist, liegt im Widerspiel der Inhumation/Exhumation von Wissensbeständen begründet. Ein nicht unmittelbar zugängliches kulturelles Archiv, das Jan Assmann (2005) auch unter der architektonischen Metapher der kulturellen »Krypta« (385ff) begreift, birgt damit stets das Potenzial der Aktualisierung des Funktionsgedächtnisses im Sinne eines Entbergen stillgelegter, in ein kollektives Latenzgedächtnis ausgelagerter Wissensbestände.

69

70

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

las (ancient history, old customs) – an array of cultural practices that Indians held in esteem regardless of their proscription by the Catholic Church. Paradoxically, the missionary’s impulse to eradicate (to extirpate idolatries and superstitions) was intimately bound to a will to preserve (to resurrect the grandeur and moral order of old). Mexican historiography of the pre-Columbian period has been from its inception Janus-like: it at once has preserved a memory of old and severed contemporary Indian »presents« from history. […] Ancient Mexico is conceptualized as dead – which does not exclude a ghostlike continuity that forevermore threatens the social order or progress – and becomes a patrimony of the patria (the fatherland) as early as Fray Diego de Durán’s Historia de las Indias de la Nueva España e islas de la Tierra Firme (ca. 1580) and of the nación (the nation) since the Independence from Spain in 1821. […] Colonialist discourses first proscribe Mesoamerican cultures and then reduce the effects of the destruction – the Indian »presents« – to shadows of their ancient grandeur.9 Mit der Verklärung eines totgesagten kulturellen Substrats wird die mexikanische Antike in eine absolute Vergangenheit ausgelagert und mit einer abgeschlossenen Gedächtnisstiftung belegt, während die Präsenz der indigenen Kosmologie in den offiziellen Diskursen der kolonialen Epoche in ein Latenzgedächtnis befördert wird. Die Vernachlässigung jener antiguallas, zu welchen freilich auch die prähispanische Architektur gehört, sollte aber drei Jahrhunderte später, im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen in Lateinamerika einer Neubewertung unterstellt werden, und zwar dann, als die Funktion der historischen Ruine als Semiophor weit zurückliegender Zeitschichten und als Denkmal von »abandoned utopias«10 rehabilitiert wurde. Bereits in der letzten Phase des kolonialen Virreinato am Ende des 18. Jhd. mussten die Bannbullen zur Erforschung der indigenen Antike dem aufklärerischen Geist der letzten spanischen Gouverneure weichen.11 Mit der Abspaltung von der spanischen Madre Patria kristallisierte sich zum ersten Mal auch ein mexikanisches Nationalbewusstsein heraus, das natürlich mit der Schwierigkeit konfrontiert war, die indigene Antike und die verwahrlosten Ruinen als ihre monumentalsten Referenzobjekte zu rehabilitieren.12 Auf der Suche nach einer Wiederanknüpfung an Zeiten vor der spanischen Vormachtstellung, werden die für obsolet erklärten Wissensbestände, die sich im Mnemotop der Ruine eingebettet finden, einer Revision unterzogen. Die schwierige Loslösung der kreolischen Eliten von der iberischen metrópoli wurde in diesem Zusammenhang selbstredend auch im symbolischen Bereich vorgenommen. In der Auseinandersetzung mit der Kolonialherrschaft stießen die liberalen Emanzipationsbewegungen auf das lange Zeit diskreditierte und in Versenkung geratene indigene Kultursubstrat.

9 10 11 12

Rabasa 2010, 18. Zum »pasado indígena« als Fundament der neuen mexikanischen Nation siehe auch Florescano (1991a). v. Moltke 2010, 409. Vgl. Florescano 1987, 264-266. Dass Ruinen gerade nach gesellschaftlichen Konvulsionen ein besonderes identitätsstiftendes Potential entfalten können, sieht man auch am französischen Beispiel von Constantin François Volney, der mit seinem kulturgeschichtlichen Essay Les Ruines, ou méditations sur les révolutions des empires (1791) das Prinzip der Gleichheit und das Entwicklungsmodell der Revolutionen als ein historisches Paradigma anhand der Ruinen zu naturalisieren versucht hat.

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

Die Wiedereingliederung der Ruine in das nach lokaler Verwurzelung und Autonomie strebende Programm der Libertadores war dabei ein ganz natürlicher, wenn auch mit vielen Tücken der spekulativen Selbstverortung behafteter Vorgang.13 In der radikalen Neubewertung der politischen und kulturellen Situation wurde die spanische Conquista zunehmend von einem triumphalen in ein traumatisches kollektives Gedächtnis überführt. Die Ehrerbietung, die Cortés und der spanischen Krone im offiziellen Diskurs der monumentalen Historiographie zukam, wich einer Abkehr von den spanischen Wurzeln.14 Damit finden sich die kreolischen Volkssouveräne als Pioniere des mexikanischen Nation-Building auf einem terrain vague der historischen Unschärfen wieder, die sie mangels handfester oder intelligibler Überlieferungen zur historischen Spekulation zwingt und die historische Imagination potenziert15 , woraus ein Vergangenheitsbild resultiert, in dem das historisch Imaginäre mit einem pragmatischen Kalkül fusioniert. In Analogie zu der Inszenierungsnotwendigkeit der Ursprungsmythen, die Wolfgang Iser als anthropologische Universalie postuliert, liegt den Gründungsakten lateinamerikanischer Nationen ein sinnverwandtes Phänomen, wenn nicht gar ein existentieller Selbstlegitimationszwang zu Grunde. Die Vergangenheitsfixierung, die Hans Robert Jauß im Kontext der Aufklärung als eine »Sehnsucht nach dem Anfänglichen«16 gefasst hatte, führt Iser auf die Unzugänglichkeit vergangener Kardinalpunkte zurück: Anfang und Ende, deren Unverfügbarkeit es jedoch nicht erst zu entdecken gilt. Als Quelle menschlicher Beunruhigung waren sie immer schon gegenwärtig – nicht zuletzt, weil sich ihre Gewißheit selbst noch der Erfahrung entzieht. Unfaßbare Gewißheiten – vor allem solche kardinaler Natur – lassen sich offenbar nicht aushalten, und werden daher massiv besetzt.17

13

14

15

16 17

Castañedas Erklärungsversuch greift auf die Fabel der Lost Civilization zurück, der die kreolische Intelligenz mit einer problematischen Rekonstruktion begegnete, die jedoch in hohem Maße einer Konstruktion (wenn nicht gar Erfindung) einer objektiven Vergangenheit glich. (Castañeda 2001, 453). Zur inventio als einem prominenten Mechanismus konstruktivistischer Sinnstiftung legten für den lateinamerikanischen Kontext bereits Alfonso Reyes (»El Presagio de América« (1942)) und Edmundo O’Gorman (La Invención de América (1958)) zu einem frühen Zeitpunkt Zeugnisse ab. Grundlegend zur Conquista als kulturhistorisches Aneignungs- und Überschreibungsprojekt liegt vor in Mignolo (1998). Eine neuere Genealogie zur eurozentrischen Erfindung des Kontinents findet sich bei Rabasa (2009). Es handelt sich hierbei um einen Widerstreit, der seinen Nachhall auch in dem revolutionären Kampf 100 Jahre nach der Unabhängigkeit findet, wie im Kapitel zur Mnemotopie der Hacienda vertieft wird. Zur historischen Imagination als notwendiges Attribut der Geschichtsschreibung siehe den Beitrag des mexikanischen Historikers Mauricio Tenorio Trillo 2012, 138-181. Eine Rehabilitierung der literarischen Fiktion als Quelle der nationalen Kohäsion findet man im einschlägigen Beitrag zu den foundational fictions von Doris Sommer (1989) und (1991). Jauß 1989, 23. Iser 1993, 506. Vor den Beiträgen von Jauß und Iser war es bereits Aby Warburg, der in seinen Kreuzlinger Vorträgen eine mythologische Erfassung der Natur als Antwort auf ihre Unfassbarkeit untersucht und den »Akt der kosmologischen Phantasie« als eine Form antiker historischer Bewusstseinsbildung betrachtet hatte. Auch bei Warburg lässt sich dabei die triebhafte Setzung von Ursachen für unerklärte Folgen auf individueller wie kollektiver Ebene nachvollziehen (Warburg 2010, 553).

71

72

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Die kreolische Vergangenheitsobsession während der Epoche lateinamerikanischer Staatsgründungen war der wohl wichtigste Grund für eine Hinwendung zu den Ruinen, denn gerade die schwierige Abnabelung von Europa entfachte die Suche nach einer prähispanischen Vorzeitigkeit. Die lateinamerikanische Fixierung auf die Ruine ist einer grundlegenden »hantise des origines« geschuldet, in der Marc Bloch ein Symptom der beharrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sieht, die sich an einem »point initial« abarbeitet, wenngleich dieser kaum fassbar – »singulièrement fuyante« – bleibt.18 Im Zuge der Säkularisierungswelle liberaler Reformen Mitte des 19. Jhd., geriet das spanische Kulturerbe auf den Prüfstand, was mitunter das Gefühl der welthistorischen Verwaisung und ein Anschlussbedürfnis an die lokale Antike verschärfte. Zum Identifikationsort des emanzipatorischen Geistes wurde die Ruine aber nicht nur als Wahrzeichen der kontinentalen Ursprünge, sondern auch als epochaler Umbruchsort. In dieser Doppelfunktion liegt auch die charakteristische Eigenschaft der Mnemotopie, denn die Ruine wird zu einem Ort, der Kontinuität stiftet, obwohl erst historische Diskontinuitätsmomente zu seiner Entstehung beigetragen haben.19 In den Fiktionen des Anfangs, die sich im heutigen Mexiko entlang monumentaler Erfahrungsschwellen konstituieren (Conquista, Independencia, Reforma, Revolución) ist dabei nicht nur ein Symptom historiographischer Retrospektion zu sehen, sondern auch ein gesellschaftlich privilegiertes Leitprinzip, das im Zeitregime der Moderne und einer globalen Akzentverschiebung von der Kontinuität zum Bruch, auch universale Anknüpfungspunkte findet. Wie Aleida Assmann in ihrer Abhandlung zum Zeitverständnis der Moderne feststellt, folgt das Bewusstsein für Brucherfahrungen dem kollektiven Bedürfnis nach neuer Setzung von Anfängen20 – ein Zeitregime, das in Lateinamerika eine von jeher gepflegte Tradition der historischen und epistemologischen Zäsursetzung entspricht. Im mexikanischen Fall lässt sich die Bedeutung der Ruinen als kollektiv imaginierte Ursprungs- und zugleich Umbruchsorte besonders gut während der neu entfachten Nationalisierungsimpulse am Anfang des 20. Jhd. untersuchen. Als Träger einer unverfügbaren und tragischen télé-histoire waren sie prädestiniert für mnemotopische Prozesse einer gegenwartsbestimmenden Gedächtnisstiftung, wie im nächsten Schritt erörtert wird.

18 19

20

Bloch 1952, 19f. Die Ruine als Kontemplationsort historischer Diskontinuität ist gerade für den lateinamerikanischen Kontext, in dem kollektive Umbruchserfahrungen konstitutiv sind, in besonderer Weise symbolträchtig und sind Archetypen einer »sich zwanghaft wiederholenden Serie von Kontinuitätsbrüchen«, die Wolfgang Matzat im Hinblick auf lateinamerikanische Identitätsentwürfe feststellt, und die in der mexikanischen Revolution erneut zur Geltung kommen sollte (Matzat 1996, 159). Zur mexikanischen Spielart der ruptura als paradigmatischer Lossagung von sämtlichen kulturhistorischen Affiliationen schreibt Paz 2016a, 234f und 269. Mit unverhohlener Missbilligung sieht Fuentes in der unentwegten Lossagung von historischen Kontinuitäten im 2010 nachgereichten Epilog zum kulturgeschichtlichen Langessay El espejo enterrado just das Anzeichen einer »incultura de la ruptura« (Fuentes (2016)). Vgl. A. Assmann 2013, 149-157.

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

2.2.

Die Funktion der Ruine im Mechanismus des Nation-Building

Dass die mexikanische Ruine im späten 19. Jhd. als eine materialisierte Spur der Vergangenheit Einzug in das Inventar des historiographischen Repertoires hält, hängt nicht zuletzt auch mit der politischen Hochkonjunktur der modernen Staatstheorie und der Proliferation neuer Staatsgründungen nach US-amerikanischem Modell zusammen. Die Nation wurde, gemäß Benedict Andersons Ausführungen zum postkolonialen Nation-Building, zu einer umfochtenen aber mit Inbrunst verteidigten kulturellen Kategorie einer Zusammengehörigkeit heterogener Kollektive.21 Selbstredend gerieten auch Ruinen in den Fokus der historischen Revision und wurden zu staatspolitischen »Schauplätzen neuer signifikatorischer Akte«22 . Die Notwendigkeit einer sinnstiftenden und repräsentativen Vergangenheit bei der Konstruktion eines soliden nationalhistorischen Fundaments, hatte schon Ernest Renan 1882 in seinem richtungsweisenden Vortrag zum Wesen der Nation zur Sprache gebracht. Konstitutiv sei für eine Nation das kollektive Erbe (héritage) sowie der Wille dieses zu perpetuieren: Une nation est une âme, un principe spirituel. Deux choses qui, à vrai dire, n’en font qu’une, constituent cette âme, ce principe spirituel. L’une est dans le passé, l’autre dans le présent. L’une est la possession en commun d’un riche legs de souvenirs ; l’autre est le consentement actuel, le désir de vivre ensemble, la volonté de continuer à faire valoir l’héritage qu’on a reçu indivis.23 Im Falle postkolonialer Staatsgründungen war die Suche nach der héritage allerdings eine problematische. Die kreolischen Eliten der emergenten Nationen waren in einem Dualismus begriffen: Emanzipation von kolonialer Autorität einerseits, und die Konsolidierung der Vormachtstellung andererseits. Dieser Widerstreit führte dazu, dass der Umbruchseifer kreolischer Pioniere von einer elegischen Grundstimmung begleitet war und eine Nostalgie nach imperialer Größe zur paradoxen Begleiterscheinung der Loslösung vom spanischen Imperium war.24 Die Formation von modernen, narrativ vernetzten Nationalgesellschaften, die Benedict Anderson als imagined communities beschriebt, wäre undenkbar ohne eine massenmediale Vermittlung eines überregionalen Zusammengehörigkeitsgefühls. Vor dem Siegeszug der Audiovision spielten vor allem volksnahe Printmedien eine wichtige Rolle bei der Dissemination von Imaginationsvorlagen. Nicht nur in Mexiko wurde die Hegemonie der kreolischen Pioniere im anbrechenden Zeitalter des Printkapitalismus vom wachsenden Wirkungsradius der Medien gestützt.25 Mit Hilfe der Printmedien ließ sich bereits im 19. Jhd. aus den ciudades letradas (Ángel Rama), lateinamerikanischen Zentren einer schriftbasierten Dominanz, ein Nationalbewusstsein in periphere Territorien streuen. Nebenbei wurde auch eine Geschichtsvermittlung durch Foundational Fictions, in den lokalen historischen Kontext eingebettete literarische Fiktionen,

21 22 23 24 25

Anderson 1991, 5f. Böhme 1989, 287. Renan 1882, 26. Vgl. Sommer 1989, 117. Vgl. Anderson 1991, Kap.3 (»The Origins of National Consciousness«), 37-46.

73

74

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

zu einem wichtigen Komplement bei der Herausbildung des nationalen Geschichtsbewusstseins.26 Die Narrativisierung der Vergangenheit erhielt durch die Verbreitung der Printmedien wichtige Identifikationsvorlagen, in welchen das Imaginäre eines heterogenen, in Entstehung begriffenen Volkskörpers modelliert wurde. Unter der Annahme der Nation als einer imaginierten Gemeinschaft, kann man die Suche der modernen Nationalgesellschaften nach historischer Selbstlegitimation ebenfalls als einen Mechanismus des sozialen Konstruktivismus begreifen, in welchem die Informationsströme als offizielle Diskurse einer historia patria in Umlauf gebracht wurden und zur Entstehung eines flächendeckenden common sense beigetragen haben.27 Eng verknüpft mit der Vorstellung eines offiziell objektivierten Geschichtsbewusstseins ist auch die Vorstellung von einem kulturpolitisch gesteuerten Erbe des Nationalkollektivs – einer »Patrimonialization of history«28 , die wiederum das Nationalbewusstsein in Lateinamerika beförderte. Die Epoche der florierenden Staatsgründungen in Lateinamerika wurde aus den oben erwähnten Sachverhalten auch zu einer Blütezeit der Konstruktion vermeintlicher Traditionen, die weit in die Vergangenheit projiziert wurden. Eric Hobsbawms bekannte Dekonstruktion des nationalen Traditionsbewusstseins unter der sozialkonstruktivistischen Prämisse der »invention of traditions« bildet in diesem Zusammenhang eine Technologie der nationalen Integration und Selbstbehauptung, die sich nahtlos in Andersons Paradigma der imagined communities fügen lässt. Die Dekonstruktion scheinbar unerschütterlicher, von jeher befolgter Traditionen legt nebenbei den pragmatischen Charakter der Nationalfolklore offen: ›Invented tradition‹ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past.29 Im Falle Mexikos steht man ebenfalls vor einer aktiven Traditionsschmiede, die einen opportunen Schulterschluss mit der präkolumbinischen héritage unternimmt. Und gerade in der Narrativisierung der Ruine als Verweisobjekt auf unvordenkliche Zeitschichten lässt sich auch bedeutender gesellschaftsbildender Mechanismus erkennen, bei dem ein ursprüngliches topologisches Legat einverleibt und in das »bewohnte Gedächtnis« (A. Assmann) einer Gesellschaft integriert wird.30 Die Umakzentuierung musste aller-

26

27

28

29 30

Doris Sommer geht sogar von einer Überlegenheit der Foundational Fictions als besonders anschauliche Vorlagen für die historische Imagination junger lateinamerikanischer Nationen aus (vgl. Sommer 1989, 115). Im 19. Jhd. nimmt die Bedeutung der Massenmedien bei der Konstruktion und Pflege eines umfassenden sensus communis zu und mündet später mit unvorhergesehener Intensität in das Zeitalter des Films, dessen Dominanz Marcia Landy im Rückgriff auf Antonio Gramsci diskutiert (vgl. Landy 1996, 1-29). Wood 1999, 33. Nancy Wood geht explizit auf die Idee einer mémoire patrimoine ein, die Pierre Nora als den formativen Beitrag der staatstragenden und institutionellen Gedächtnispolitik bespricht (vgl. Wood 1999, 26 und Nora 1986, 650). Hobsbawm/Ranger 2013, 1. Vgl. Anderson 1991, 97.

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

dings in einer allgemein verständlichen Sprache kommuniziert werden, so dass wir in Mexiko viele Synthetisierungen der europäischen und mesoamerikanischen télé-histoire vorfinden, die man als lateinamerikanische Spielart eines »orientalismo filológico«31 begreifen kann. Auch das Ideologem des bautismo retrospectivo war ein probater Einverleibungsmechanismus, etwa in Form von Rückprojektionen eines auch vor der Evangelisierung des Kontinents schon immer vorhandenen Protochristentums. So ließen sich die gekappten Verbindungen zwischen dem spanisch-kreolischen und dem indigenen Traditionsbewusstsein wieder restituieren und die schwierige ideologische Emanzipation auch in theologischen Diskurssphären vornehmen.32   Wie erklärt sich nun aber das Oxymoron der Vergegenwärtigung totgesagter Kulturschätze? Wie lässt sich die Interdependenz kultureller Sub- und Superstrate im kollektiven Gedächtnis begreiflich machen? Für Beat Wyss trägt die kreolische Kannibalisierung der Kolonien und die postwendende Heiligsprechung ausgelöschter Wissensbestände die psychomechanischen Züge einer Totemisierung mortifizierter Kulturgüter, analog zu der Entwicklung wie sie Freud in seinen kulturanthropologischen Gedankengängen in Totem und Tabu festgehalten hatte. Im Akt des kulturellen Kannibalismus, einer staatspolitischen Spielart der Warburgschen Einverleibung, die in einer Aneignung fremder Kulturobjekte bei der Verhandlung selbstbezogener Geschichtsbilder bestand, offenbarte sich eine Paradoxie, die auch in der Alten Welt gängige Praxis bei ikonologischen Identitätsüberholungen gewesen war, nämlich der Formel »seinen Herrschaftsanspruch mit der Abstammung von einem Volk zu rechtfertigen, auf dessen Auslöschung die eigene Kultur beruht«33 . Wenn kollektive Orte im Vorwort der vorliegenden Arbeit als potenzielle Spiegel der Zeit eingeführt wurden, so muss man die Ruine als Mnemotop angesichts der kalkulierten Selektion und machterhaltenden Interpretation der lokalen Antike immer auch als Zerrspiegel der télé-histoire im Dienste der Gegenwart verstehen. Zur Illustration nationalhistorischer Verzerrungen am Phänomen der RuinenMnemotopie soll hier die Rekonstruktion der Pyramide von Kukulkan Modell stehen, einem der prominentesten Archäotope Mexikos. Als Teil der verlassenen Maya-Stadt Chichén Itzá ruhte der Tempel, den die Spanier auf die generische Bezeichnung »El 31

32

33

Lubrich zit. in Nagy-Zekmi 2008, 14. Zum Phänomen der Einverleibung einer »eingeborenen Antike« (vgl. Wyss 2012, 106ff.) kann zum Beispiel die Hellenisierung des Unbekannten herbeigezogen werden, von der die koloniale Geschichtsschreibung auch lange nach der kolumbinischen Überschreibung Amerikas nach Motiven der biblischen Heilslehre Gebrauch gemacht hatte: »Texcoco era la Atenas de Anáhuac y Nezahualcóyotl el Solón de aquellos pueblos.« (Francisco Xavier Clavijero, Historia antigua de Méjico, zit. in Aguilar Camín 1993, 23). Der okzidentale epistemologische Standpunkt bei Erfassungen fremder Kulturkreise, die Edward Said unter dem Schlagwort Orientalism prominent gemacht hat, findet sich übersetzt auf den lateinamerikanischen Kontext im Sammelband von Nagy-Zekmi 2008. Vereinzelte Hinweise auf einen späten mexikanischen Orientalismus bei Octavio Paz führt auch Kurt Hahn an (vgl. Hahn 2008, 122). Zur transkulturellen Überblendung der Jungfrau Maria mit Tonantzin und anderen Restitutionsgesten vgl. das Kapitel zum patriotismo criollo in Aguilar Camín 1993, 22-26 und vor allem auch die Hinweise in der umfangreichen Monographie zum alternativen, indigenen Gedächtnis von Enrique Florescano 1999, 260ff. Wyss 2012, 100.

75

76

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Castillo« umgetauft hatten, über viele Jahrhunderte im Zustand der natürlichen Verwitterung und Überwucherung, wie es die Photographien sporadischer Expeditionen bezeugen (Abb. 2).

Abb. 2: Der verlassene Tempel von Kukulkan in seinem natürlichen Zustand des »accident ralenti« (Jean Cocteau), aufgenommen im Jahr 1860 von dem französischen Archäologen und Neue-Welt-Enthusiasten Désiré Charnay.

Quelle: Lerner 2008, 170.

Nachdem Felipe Carrillo Puerto, Gouverneur von Yukatan, am 14. Januar 1923 die Verkehrsanbindung zu Chichén Itzá in Gegenwart der postrevolutionären Kulturapostel Diego Rivera, Adolfo Best Maugard, José Vasconcelos und Roberto Montenegro feierlich eingeweiht hatte, geriet die zuvor schwer zugängliche Stadt im yukatekischen Urwald unverzüglich ins Zentrum weltweiter Öffentlichkeit.34 Noch im selben Jahr beauftragte das reformierte mexikanische Bildungsministerium (Secretaría de Educación Pública (SEP)) die Carnegie Institution of Washington zur archäologischen Aufbereitung der Stätte. Bei den nachfolgenden Arbeiten, die erst 1944 vollendet werden konnten, wurde der Ruine nach und nach die Simmelsche Natürlichkeit genommen und die Aura eines mortifizierten Ortes fixiert. Die Ruine wurde ruiniert, so die Scheintautologie von Quetzil Castañeda: In eighteen years of cutting, chopping, digging, sifting, drawing, measuring, writing, painting, photographing, and cleaning, the archaeologists – Mexican, Anglo, and Yucatec North Americans – literally peeled back the jungle growth to carve out of, and inscribe in, puro monte their visions of the Maya. With hundreds of Maya workmen […] 34

Vgl. de la Vega Alfaro (2012a).

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

the archaeologists created ruins, ruins in ruins, and ruined ruins. This »foundational act« was the ritual and originary reenactment of the scientific cosmovision of earlytwentieth-century archaeology that created – out of the chaos of the profane and »undifferentiated« space of the everyday, that is, out of earth, stone, paper, and ink – the sacred and ordered space of modern ruins.35 Was Castañeda in ein kritisches Licht rückt ist der kuriose Sachverhalt, demnach die archäologische Aufbereitung nur eine Replik der ehemaligen Ruine hinterließ, die Rekonstruktion also mehr einer Neuerfindung glich, bei der geltende wissenschaftliche Ideale und Moden dem Ort eingeschrieben und der langwierige Prozess der natürlichen Ruinenwerdung ausgeblendet wurde. Die vermeintliche Instandsetzung trüge weiterhin zu einer Monologisierung des Ortssinns sowie einer Verhinderung alternativer Geschichtsdeutungen.36 Im Bestreben der Ruine ihre Authentizität wiederzugeben, habe man so die Kopie eines Originals kreiert das nie existiert hat – ein verformtes und von der Natur isoliertes Referenzobjekt der Vergangenheit (Abb. 3).

Abb. 3: Die Instandsetzung der Ruine als topologische Remodellierung der Ursprünge und Aufbereitung der nationalen ›télé-histoire‹.

Quelle: Lerner 2008, 170.

Bei all der Kritik an der archäologischen ›Schönheitschirurgie‹ bestand der große Mehrwert des monumentalen Unternehmens aber nicht nur in den neuen Vermarktungsmöglichkeiten von Chichén Itzá als ein »Mecca of Travel«37 ; die Revolutionseliten,

35 36 37

Castañeda 2001, 455. Vgl. ebd. Ebd. 456.

77

78

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

die sich wieder dem einheitsstiftenden politischen Metanarrativ der Evolution näherten, konnten ihr historisches Erbe nun auf ein neues, weltweit gefeiertes Emblem der mexicanidad projizieren, jenes diffusen Schirmbegriffs, der just in der postrevolutionären Rekonsolidierungsphase ab den 1920er Jahren verstärkt zu zirkulieren begann.38 Aus den hier beschriebenen Vereinnahmungen der mesoamerikanischen Antike geht hervor, dass zwischen der Reproduktion archaischer Orte und der Konstruktion der modernen heritage industry ein starker Bedingungszusammenhang bestand.39 Wie bereits im 19. Jhd. wird die »eingeborene Antike« erneut zu einem »Identifikationsfetisch«40 der sich nach einer politischen Krise neu ordnenden mexikanischen Nation. Die Gefahren der schiefen Geschichtsbilder, die später Einzug in die filmischen Narrative halten sollten, lassen sich bereits vor dem Aufkommen des Films aufspüren, der die tragende Bedeutung der Printmedien in staatsbildenden Prozessen auf eine neue Qualitätsstufe heben sollte. Auf diese Weise wird die Vergänglichkeit der Vergangenheit durch einen architektonischen Eingriff stillgelegt und die historische Sinnbildung institutionalisiert.41 Diese Praxis der hierarchisch überformten Einverleibung, Organisation und Interpretation der Vergangenheit wird bei Rabasa aus postkolonialer Perspektive problematisiert: Colonialist writing practices […] do not just pertain to the (early) colonial period; rather, they inform contemporary modernization programs that folklorize forms of life and deplore the loss of old – thereby confining Indian cultures to the museum and the curio shop. Mexico’s Clio, from the reconstruction of the pre-Columbian world in the Codex Mendoza (ca. 1540) to the collection of past and present indigenous artifacts in the Museo Nacional de Antropología e Historia in Mexico City (1964), has tended to privilege antiquarian historiography.42 Im Kontext der folkloristischen Einverleibung des indigenen Anderen wird auch allzu deutlich, dass die Ruinen inklusive den dazugehörenden museos del sitio nur ein musealisiertes und unbewohntes Gedächtnis zum prähispanischen Kulturerbe an sich binden konnten. Die Regulierung und Standardisierung selbstbezogener historiographischer Diskurse war von einer rigide kontrollierten Kulturproduktion flankiert, mit der eine hierarchische Subordination kolonialer Prägung nahtlos fortgeführt wurde. So betrachtet wurde Kultur zu einer Spielart der performativen Exploration eigener Territorien und einer Simplifizierung und Homogenisierung der kulturellen Diversität auf

38 39 40 41

42

Vgl. Joseph/Rosenstein/Zolov 2001, 7f. Zur Rolle des historischen Erbes als begehrtes Gut der Kulturindustrie im 20. und 21. Jhd. schreiben Lowenthal (1985) (1998a) (1998b), Huyssen (2003) und Harrison (2012). Wyss 2012, 110. Bereits Renan sieht im stabilisierten Vergangenheitsbezug ein wesentliches Merkmal der modernen Nation: »La nation moderne est donc un résultat historique amené par une série de faits convergeant dans le même sens« (Renan 1884, 9). Rabasa 2010, 17f. Hier findet man eine für autoritäre Staaten bezeichnende Kombination der monumentalen und antiquarischen Geschichte, deren positivistische Ausrichtung nicht selten Nietzsches dritte Spielart der Historie, nämlich die kritische, außen vor lässt.

2. Kulturelle Archäologie in Mexiko

mexikanischem Staatsgebiet. Was Benedict Anderson als »nekrologischen Zensus«43 bezeichnet, das Einkassieren einer fremden Lokalhistorie für nationale Zwecke, wurde im nachrevolutionären mexikanischen Setting vor allem an der Ruine als Retrospektionsvorlage praktiziert. Eine Regalie des Kolonialstaates, wurde die Ruine erneut zum nationalen Emblem und einem mnemotopischen Referenzpunkt für pristine Selbstbilder. Diesmal konnte die institutionelle Reproduktion dieses Nationalemblems aber auf innovative und besonders flächendeckende Zirkulationstechnologien zurückgreifen, etwa reproduziert auf Geldscheinen, vervielfältigt mit Hilfe der Funkübertragung, vor allem aber mit Hilfe des Filmmediums. In den sich formierenden nationalen Archiven des patrimonio nacional wurden diese stabilisierten und um inopportune Unschärfen bereinigten Geschichtsbilder aggregiert, multipliziert und einem institutionalisierten Verwertungsmechanismus zugeführt. Für die Dissemination nationaler Symbole und normierter Geschichtsbilder war der Spielfilm, Multiplikator und Beglaubigungsmedium zugleich, eine massenwirksame Urkunde der nationalen Sinnstiftung. Anhand der Ruine als materielles Zeichen der Vergangenheit ließen sich daher viele Traditionen im Einklang mit einem Geschichtsbild konstruieren, das politische Relevanz für die Gegenwart besaß und unterworfene Kulturen zu Identifikationsvorlagen ummünzte. Das neue historische Gleichgewicht, das sich anhand nachträglich idealisierter Relikte der télé-histoire konstituierte, bildete eine Art »Homöostase mit neuen Wahrheitsinteressen«44 und trug damit in starkem Maße zu einer Monologisierung des historischen Pluralismus bei. Für Mexiko gilt dabei eine ähnliche Tendenz der historischen Monumentalisierung wie für andere Nationen des 19. Jhd. wie man etwa bei Andreas Huyssen nachlesen kann: The main concern of the nineteenth-century nation-states was to mobilize and monumentalize national and universal pasts so as to legitimize and give meaning to the present and to envision the future: culturally, politically, socially.45 Dass in Mexiko im Zuge der historischen Selbstlegitimierung aber auch immer wieder Rückholungen traumatischer Kulturkontakte bemüht wurden, wird an dem Film La noche de los mayas (1939) gezeigt, in dem präkolumbinische Mystik auf das 19. Jhd. projiziert wurde. In den filmischen Relektüren ›historischer Fossilien‹ wurde das profanierte mexikanische Archäotop häufig mit einer sakralen Aura belegt, die die Quasireligiösität nationaler Selbstvergewisserungsgesten der Época de Oro unterstreicht, wie nachfolgend vor allem an dem Film Raíces (1953) veranschaulicht wird. In den Ruinen als Speicher eines unverfügbaren Gedächtnisses kann man schließlich eine Prädestination als topologische Stepppunkte (points de capiton) erkennen, die Jacques Lacan Signifikanten zuschreibt, mit welchen sich ein Sinnüberschuss rückwirkend ordnen lässt.46 In der »Wiederanknüpfung an das Ursprüngliche«47 ließ sich an-

43 44 45 46 47

Anderson 1991, 180. Der nekrologische Zensus lässt sich als Initiation nachfolgender, mit Aleida Assmann besprochener »kommemorativer Reisen« zu imperialen Zwecken begreifen. Vgl. ebd., 106. Huyssen 2003, 2. Lacan 1991, 178ff. Den Hinweis verdanke ich Victor A. Ferretti. J. Assmann 1991, 348.

79

80

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

hand der Ruine eine Repristination48 des kollektiven Selbstverständnisses durchführen, die in der gemeinschaftsstiftenden Ursprungsfiktion Chilam Balam (1955) untersucht wird – einem epigonalen mexikanischen Pendant zur US-amerikanischen Gründungssaga The Birth of a Nation (1915, D. W. Griffith). Wie Christian Wehr in seiner Studie zur historischen Erfahrung in Lateinamerika im Schlüssel der Mythopoiesis hervorhebt, war die Conquista zu einer Art traumatischem Stepppunkt für ein überregionales lateinamerikanisches Kollektiv geworden und die »Mythisierung der Conquista zum Sündenfall« zu einer »obsessiv wiederkehrenden Thematik […] des gesamten Subkontinents«49 . Analog zu literarischen Diskurssphären, in welchen die Ruine als Mnemotop des fatalen Kulturkontakts instrumentalisiert wurde, wird in diesem Kapitel ihre gedächtnisstiftende Funktion anhand von Filmen untersucht, in welchen vordergründig Maya-Tempel als Drehorte gewählt wurden und an welchen ein nationales Selbstbewusstsein in Szene gesetzt werden konnte. Den Einzelanalysen wird, wie auch in den Betrachtungen der anderen beiden Mnemotopie-Typen, eine erweiterte Selektion von Filmen vorgestellt, die eine kinematographische Verarbeitung des kulturhistorischen Kontexts auf zentrale Stimmungen, Funktionalisierungen und topologische Kanonisierungstendenzen befragt, bevor diese in den exemplarischen Werkbetrachtungen vertieft und ausgebaut werden. In den Filmanalysen wird evident, dass eine Tendenz zur Homogenisierung des kollektiven Bewusstseins in den Ruineninszenierungen der Época de Oro dominant war. Eine Schließung der Periode monumentaler Nationalfilme wird in den kritischen Relektüren der mexikanischen Ruine ab den 1960er Jahren sichtbar.

48 49

Ebd. Wehr 2003, 384.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Wenn man André Bazins berühmte Formel des Films als einer momie du changement wieder aufgreift und sich die mediale Eigenschaft einer Objektivierung der Vergangenheit gegen den Strom der Zeit, ja einer Einbalsamierung der Zeit vor Augen führt1 , rückt die Kinematographie in eine besondere mediale Nähe zur Ruine, die ebenfalls ein Medium der Veranschaulichung vergangener Zeitschichten darstellt. Im Gegensatz zur Photographie als Medium der zeitlichen Stilllegung bietet das Laufbild eine dynamische Reproduktionsmöglichkeit der Vergangenheit, die auch Sergei Eisenstein in seinem unabgeschlossenen filmtheoretischen Großprojekt Notes for a general history of cinema als dynamische Mumifizierung skizziert.2 Bei der filmischen Reproduktion einer Ruine handelt es sich folglich um eine doppelte Indexikalisierung der Vergangenheit3 , sprich um die Inszenierung der Vergangenheit in der Vergangenheit – eines vermeintlich unverrückbaren kulturhistorischen Plusquamperfekts das wieder in Bewegung gesetzt wird. Die Ruine als Speichermedium des kulturellen Gedächtnisses spielt in der kinematographischen Remedialisierung ihre Eignung für Prozesse der »prospektiven Erinnerung«4 aus und wird nach je eigenen ideologischen und normativen Vorgaben in das Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft eingespeist. Während andernorts die Stunde monumentaler Historienfilme wie Ben Hur (1925, Fred Niblo) oder Cleopatra (1934, Cecille B. DeMille) schlug, in welchen die europäische Antike in aufwendigen Produktionen auf die Leinwand und in das Bewusstsein der Zuschauer gespielt wurde5 ,

1 2 3

4 5

Vgl. v. Moltke 2010, 400. Ursprünglich in: Bazin 1994, 9-16. Vgl. Somaini in Eisenstein 2016, 22 und 72-84. »The cinema and the ruin plough common epistemological ground: as peculiarly modern forms of grasping contingency and temporality, they activate ways of knowing the past and its relation to the present« (v. Moltke 2010, 396). Erll 2004, 15. Zu den ersten Historienfilmen, Prototypen späterer »Peplum-« oder »Sandalenfilme«, in welchen in der Regel ein gegenwärtiger Alltagsverstand in kostümierter Form enthalten ist, eignet sich der Aufsatzband von Ferro/Rother (1991). Ein Beispiel für US-amerikanische Monumentalproduktionen in welchen die mexikanische Antike mit aufwendiger Szenerie und Tempelrepliken eingefangen wurde liegt vor in Captain from Castile (1947) mit Stella Inda in der Rolle der Malinche.

82

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

verfügte Mexiko über ein eigenes Repertoire monumentaler Relikte, das den Filmproduzenten ermöglichte, eine Selbstdeutung an mit dem Zeitgeist korrespondierenden Vergangenheitsrekursen vorzunehmen und nationale Divergenzen aufzufangen. Die Ruine als Schauplatz für Nationalepen, in welchen ein Wir-Gefühl transportiert werden konnte, wurde, wie im vorhergehenden Kapitel diskutiert, zu einem nationalistischen Stepppunkt der retroaktiven Ordnungsstiftung und einer Projektionsfläche für erfundene Traditionen und foundational fictions. In der Filmruine als für Identitätsdiskurse besonders geeignete Kombination, ließ sich das Bewusstsein eines dispersen postrevolutionären Publikums mit Veranschaulichungen einer monumentalen historia patria steuern und domestizieren. In dieser zeitgeschichtlichen Rahmensetzung wurde der Film mit der Qualität eines didaktischen Massenmediums aufgeladen und der filmischen commemoratio aus ideologischen oder auch medienökonomischen Gründen die Lizenz zur Reduktion und Geschichtsklitterung erteilt. Der unumkehrbare Lauf der Geschichte, der seinen symbolischen Widerhall in der ethnischen Synthese findet, markiert ein ideologisches Masternarrativ, das im Kino der Época de Oro mit Hymnen an den mestizaje aufgefangen wurde. Neben kinematographischen Narrativisierungen der Ruinen als Schauplätze traumatischer Brucherfahrungen, die in Chilam Balam (1955) paradigmatisch zum Tragen kommen, lassen sich auch filmische Dokumente finden, die hinter dem Firnis nivellierender Staatsdiskurse auch einen Glauben an die Renaissance untergegangener Kulturen transportieren, und damit ein Gedächtnis favorisieren, das einer Identifikation mit den historischen Opfern der Conquista in die Hände arbeitet. Eine dieser filmischen Going-Native-Attitüde zu Grunde liegende Bewusstseinsströmung lag sicherlich auch im mexikanischen Indigenismo und einer daran gekoppelten Überidentifikation mit den latenten Spuren der Zeit, wie sie vor allem in der Strömung der Mayologie als Störsignal gegen die Einheitsbeschwörung orthodoxer Kulturproduktion zu beobachten war.6 In diesem Zusammenhang stellte der Mayologe und Dichter Antonio Mediz Bolio einen wichtigen Multiplikator dar, nicht zuletzt weil er entscheidend zu den Drehbüchern von La noche de los mayas (1939, Chano Urueta) und Deseada (1950, Roberto Gavaldón) beigetragen hatte, in welchem yukatekische Ruinenkomplexe zu Schauplätzen von Kostümfilmen wurden und die darin eingebettete kosmische Tragik angesichts des Untergangs der Maya einen lokalen Millenarismus stützte – freilich inkompatibel mit einem nationalen mestizischen Gedächtnishorizont und eher an ein separates Memory-Building Yukatans erinnernd. Ob die zentralisierte Staatsräson stützend, die in Manuel Gamios Forjando Patria ein programmatisches Dokument hatte, oder auch lokale Zukunftsutopien aufgreifend, die vor allem in Yukatan zirkulierten, ist die filmisch repräsentierte Ruine in beiden Fällen als eine bedeutende architektonische Referenz an den Kulturkontakt im 16. Jhd. zu sehen, der im Zuge der Emanzipationsbewegungen des 19. Jhd. zu einem traumatischen Signum des Ethno- und Epistemizids wurde. Mit der Erinnerung an die Conquista wird in filmischen Vermittlungsprozessen daher häufig ein latenter Antihispanismus, und

6

Anita Brenner erkannte bereits am Ende der 1920er Jahre den Indigenismus als Modeerscheinung des urbanen Mexikos: »Quite true, it is fashionable now to be lyric and mystic and avidly hymnal about the Indian. Whatever he does is justified by his sufferings, if you like, or because he is that way, if you prefer.« (Brenner 1967, 104).

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

weiter gefasst, eine latente Xenophobie und Alarmbereitschaft im Hinblick auf die geschändeten und geplünderten Idole vergangener Zeiten manifest, wie an Raíces (1953) eingehender zu untersuchen ist. Die Zerstörung prähispanischer Sakralität birgt also eine konservative Warnung vor Umwälzungen und der Auslöschung althergebrachter Traditionen. Die Ruine bleibt dennoch sakral, wenngleich sich eine signifikante Sinnverschiebung hin zu einer säkularen Totemisierung vollzieht und die Ruine als hieros topos die sakrale Aura eines monumentalen kulturellen Totems beibehält. Neben der Warnfunktion vor Invasoren die nach der Destabilisierung der nationalen Souveränität trachten, transportiert die Ruine in den meisten nachfolgend untersuchten Filmen eine weitere kollektive Erinnerung mit gegenwartsbezogener sozialer Signifikanz, nämlich die einer identifikatorischen Vorlage für ein kollektives Selbstverständnis; Eine Funktion die in engem Zusammenhang mit der bereits erörterten Eigenschaft der Ruine als Resonanzkörper von Ursprungsnarrativen steht. Mag die Identifikationsvorlage auch im Optisch-Unbewussten des Films verankert sein, ist der Rückgriff auf ein Archäotop in der frühen mexikanischen Kinematographie immer auch das Angebot einer Wiederverortung der Nation in prähispanischer Vorzeitigkeit. Die Spiegelfunktion des Films wird noch plausibler vor der Sinnfolie virulenter zeitgenössischer Rassendiskurse, die in La raza cósmica (1925) von José Vasconcelos ihren prominentesten Exponenten hatten. Als postrevolutionärer apóstol de la educación verwob er ein mestizisches Sendungsbewusstsein mit dem Glauben an das mystische Kulturlegat der »hombres rojos«, deren Spuren nach wie vor sichtbar seien »en Chichén Itzá y en Palenque y en todos los sitios en donde perdura el misterio atlante«7 . In der Verweisfunktion der Ruine auf die kulturelle und seinerzeit vor allem auch genetische Abstammung der modernen mexikanischen Gesellschaft, liegt eine fundamentale Beigabe für die eugenische Kasuistik der raza de bronce. Vasconcelos Glorifikation der »quinta raza universal«8 , der Fusion aller an der Entstehung der mexikanischen Nation beteiligten Menschen- und Kulturtypen erhält mit der Ruine die Materialisierung des sonst eher unsichtbaren indigenen Substrats.9 An der Verwertung der lokalen Antike wird einmal mehr die simplifizierte Inszenierung der Vergangenheit als Indiz für die Gegenwartsbezogenheit verfilmter Historie erkennbar, denn nur durch die Reduktion historischer Distanz ließ sich ein didaktischer und vor allem auch finanzieller Erfolg in die Wege leiten. Der Abbau sprachlicher Distanz, sprich der Verzicht auf Vernakularsprachen in der Inszenierung der ehemaligen Tempelhüter, ist eine weitere einschneidende Assimilation zurückliegender Zeitschichten an das vorherrschende Geschichtsbild. Andersons scharfsinnige

7

8 9

Vasconcelos 1966, 18f. Wie im Zitat erkennbar wird, war der Autor Anhänger der Hypothesen zu Yukatan als Rückzugsort des untergangenen Kontinents Atlantis, die im mexikanischen Kontext vor allem der französische Mayologe Augustus Le Plongeon in Umlauf gebracht hatte. Vasconcelos 1966, 21. Einen ähnlichen Geist der kulturellen Synthese im Dienste eines mexikanischen Nationalismus liegt im anthropologischen Pionierwerk Forjando Patria (1916) von Manuel Gamio vor, in der eine zukunftsweisende »Einschmelzung« der Kulturen und Eingliederung der pequeñas patrias und des isolierten indigenen Horizonts als Aufgabe der postrevolutionären Führungseliten beschworen wird (Gamio 1916, 6 und 17).

83

84

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Denkfigur des »reverse ventriloquism«10 bei der ein ausgehöhltes Gedächtnis nach gegenwartsbestimmten Überzeugungen rekonstruiert wird, findet in den Produktionen des Cine de Oro eine prägnante, wenn auch oftmals plumpe patriotische Exemplifizierung, wie vor allem an den Beispielen La noche de los mayas und Chilam Balam ersichtlich wird. Die auf die Vergangenheit gerichtete Bauchrednerei machte zwar die massenwirksamen Blaupausen der neuen Gesellschaft mit Hilfe mnemotopischer Umschreibungen möglich. Eine derart historisch durchsetzte Popularkultur legt dennoch das Problem von allzu volkstümelnden Auslegungen der lokalen Geschichte nahe, die »den Zuschauer mit schiefen Geschichtsbildern« versorgt.11 Ein sehr bezeichnendes Beispiel für die Instrumentalisierung der Ruine in Prozessen der nationalen Selbstverständigung stellt der Revuefilm Canto a mi Tierra (1938) von José Bohr dar, in dem gleich zwei prominente Ruinenkomplexe im Interesse der nationalen Selbstdarstellung demonstriert werden: Chichén Itzá und Teotihuacán. Als eine Art Backstage-Musical konzipiert, lässt der Film hinter die Kulissen einer Kulturproduktion blicken, die die Gunst der zahlenden Zuschauer durch ein Varietéprogramm mit Lokalkolorit gewinnen will. Die Drehorte, die neben dem lebenswirklichen auch einem fiktiven intradiegetischen Publikum präsentiert werden, bilden einen emblematischen Parcours, in dem das mexikanische Selbstverständnis des urbanen Publikums gespiegelt und territorial abgesteckt wird. Neben dem provinziellen Idyll eines Ranchos als Kontrastfolie zur mexikanischen Metropole, dem Monumento a la Revolución12 als Wahrzeichen eines nachrevolutionären, befriedeten Mexikos, der Atlantikküste von Veracruz, die seit der Conquista die transatlantische Interdependenz suggeriert und dem Pátzcuaro-See als haut lieu des mexikanischen Totengedenkens, sind es vor allem die Ruinen, die das nationale Gedächtnis Mexikos aus urbaner Perspektive rahmen. Wie 10

11 12

Die Praxis der Aneignung eines fremden, indigenen Kulturerbes, die zuvor mit Beat Wyss Vorstellung von einer Einverleibung der indigenen Antike diskutiert wurde, wird bei Anderson konkret auf das mexikanische Beispiel angewandt und als Kennzeichen des lateinamerikanischen Indigenismo offengelegt: »[…]the silence of the dead was no obstacle to the exhumation of their deepest desires. In this vein, more and more ›second-generation‹ nationalists, in the Americas and elsewhere, learned to speak ›for‹ dead people with whom it was impossible or undesirable to establish a linguistic connection. This reversed ventriloquism helped to open the way for a selfconscious indigenismo, especially in the southern Americas. At the edge: Mexicans speaking in Spanish ›for‹ pre-Columbian ›Indian‹ civilizations whose languages they do not understand.« (Anderson 1991, 199f) Vgl. Ferro/Rother 1991, 7. Obwohl kein Archäotop. war das Monumento a la Revolución einer ähnlichen Resakralisierung vormals entweihter Orte unterstellt wie die altamerikanischen Ruinen: Von Porfirio Díaz als monumentales neoklassizistisches Parlamentsgebäude konzipiert, kommen die Bauvorhaben 1911 mit dem Beginn des Bürgerkriegs zum Erliegen. Eine Aufwertung erfährt die imposante Kuppelhalle in der Konsolidierungsphase nach der Revolution. Bei den Umbaumaßnahmen wird die Reminiszenz an das Porfiriat überschrieben und die Bauruine umgeweiht zu einem Mausoleum der Revolutionsführer wie Francisco I. Madero, Venustiano Carranza, Lázaro Cárdenas und schließlich auch Francisco Villa, dessen mutmaßliche Gebeine 1976 in die Säulen des Monuments eingelassen werden. Die moderne Ruine des Porfirismo als Staatskult wird auf diese Weise zu einer nationalhistorischen Krypta umgeweiht. Als Emblem der mexikanischen mémoire-nation wird dem Monumento eine bemerkenswerte patriotische Hommage in der Exposition des Revolutionsmelodrams Vino el remolino y nos alevantó (1950) von Juán Bustillo Oro zuteil.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

kein anderer Ort beschwören sie eine morbide Stimmung der uneinholbaren Zeit herauf und stimulieren als Mahnmale der Vergänglichkeit ein historisches Bewusstsein, das die Vorvergangenheit präsent hält.

Abb. 4: Mit der nationalbewussten Instrumentalisierung der Pyramide von Kukulkan wird in ›Canto a mi Tierra‹ der Ursprung der modernen mexikanischen Nation in die archäologisch instandgesetzten Bauformen der untergegangenen Hochkultur eingeschrieben. Abb. 5: Die Säulen, die einst ein Tempeldach stemmten, werden zu symbolischen Grundpfeilern im nationalen Selbstentwurf. Mit der Ruine als indigenem Identitätsanker wird die Transition vom kreolischen in ein mestizisches Selbstverständnis vollzogen

Die Ouvertüre des Sing-und Tanzspektakels, das als Spiel im Spiel konzipiert ist, verortet die Entstehung Mexikos in chronologischer Folgerichtigkeit im Ruinenkomplex Chichén Itzá und knüpft implizit an den Prolog in Eisensteins Que viva México! an, das im nächsten Kapitel ausführlich untersucht wird. »Cantan a través de los siglos las ruinas su canción« (58:33), heißt es im Leporello einer anonymen Zuschauerfigur, auf das der Filmbetrachter in Over-the-Shoulder-Shots zwischen den Stücken blicken darf. Hier erfährt man auch, dass es sich um eine symphonische »Fantasía Mexicana« handelt, womit natürlich in Anlehnung an das musikalische Kompositionsprinzips der Fantasie der expressiven Dimension des historisch Imaginären die Lizenz erteilt wird. In kinematographischer Illusionsstiftung öffnet sich daraufhin der Vorhang der nationalen Varieté-Bühne, um den Blick auf die Dreharbeiten in situ freizulegen, in welchen die Pyramide von Kukulkan für ein mexikanisches Ursprungspektakel aufbereitet wird (Abb. 4). In patrimonialer Ortslektüre wird hierbei ein gegenwartsbestimmendes Funktionsgedächtnis manifest, das die untergegangene Kosmologie der Maya-Stadt nicht zu explizieren braucht und die Ruine zum idealen Schauplatz der modernen Selbstinszenierung werden lässt. Wie Ana López in ihrer Untersuchung zur Rolle von José Bohr und anderen Pionieren der Época de Oro schreibt, steht der Betrachter hier vor einer frühen Form der Latsploitation, eines filmästhetischen Kalküls, das bereits in der frühen Phase des boomenden Nationalkinos nach »›magic‹ formulas for box-office success« sucht, um eine »autochthonous mass audience«13 mit Hilfe von wiedererkennbaren nationalen Mo13

López 2009, 13.

85

86

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

tiven ins Kino zu locken. In der kommerziellen Ausrichtung des Unterhaltungskinos werden in die monumentale Kulisse Tanzeinlagen des Ballet Folklórico de México eingebettet, und die Ruine auf eine spektakuläre aber letztlich epiphänomenale Art inszeniert, bei dem der ästhetische Reiz einer Sehenswürdigkeit der Tourismusindustrie unterstrichen wird und störende Durchdringungsversuche außen vor bleiben.14 In Entsprechung zur vorgefassten Idee, dass die nationalen Wurzeln im indigenen mexikanischen Substrat enthalten sind, kommen die Tänzer der »Fantasía Mexicana« hinter der Gruppe der Tausend Säulen vor dem Templo de los Guerreros hervor. Die nationale Ursprungsfolklore wird mit einer Tanzchoreographie veranschaulicht, bei der in traditionelle Gewänder gehüllte Tanzpaare sich zu einem »Ornament der Masse«15 fügen, womit eine mexicanidad der stereotypen Wiedererkennbarkeit von einer industriellen Vermarktungslogik aufgefangen wird (Abb. 5). Mehr als ein kollektiver Ort, der mit einer konkreten historischen Semantik aufgeladen ist, wird der jüngst sanierte Ruinenkomplex von Chichén Itzá zu einer mexikanischen chôra, einer formativen Räumlichkeit, in der diverse Schöpfungsmythen inszeniert werden und die moderne mexikanische Nation ein ums andere Mal aus der Taufe gehoben werden kann.16 In ihrer Funktion einer semantischen chôra wird die Ruine »à la fois matrice et empreinte de la genesis«17 , ein Speichermedium der mexikanischen Ursprünglichkeit, das gleichzeitig als sinngebende Matrix unterschiedliche Zugriffe zulässt. Die nationale Rahmung und kosmopolitische Selbstmodellierung des Films sorgen jedoch dafür, dass die Ruine gerade nicht mehr das Lied einer tatsächlich vorhandenen kulturellen Diversität singt. Die kreative Verwertung der Ruinen-Mnemotopie bleibt ähnlich oberflächlich wie die Rückführung eines indigenen Bewusstseins auf den Phänotyp des neuen Mexikaners. In der Gedächtnisarbeit von Canto a mi tierra wird auf diese Weise die Kontinuität indigener Gemeinschaften und Vernakularsprachen des Vielvölkerstaats von der Conquista als monumentaler Erfahrungsschwelle abgeschirmt und bleibt ein blinder Fleck im Alltagsverstand der urbanen Gesellschaft.18 Die Glorifizierung indigener Ursprünge gipfelt im finalen Lied, das ein zufällig entdecktes Gesangstalent aus der Provinz auf einem weiteren haut lieu der präkolumbinischen Zivilisation stehend singen darf, nämlich der Sonnenpyramide von Teotihuacán, die sich in unmittelbarer Nähe zu Mexiko-Stadt befindet. Bei der »canción cumbre«, die der Protagonist Pedro (Pedro Vargas) in unverkennbarer Belcanto-Tradition intoniert,

14 15

16

17 18

Zum Ballet Folklórico und anderen Institutionalisierungsformen der mexicanidad im Diskursuniversum einer »centrally regulated infrastructure« schreibt A. Schmidt 2001, 41. In den symmetrischen Choreographien, die Siegfried Kracauer noch während der Stummfilmära beobachtet, liege das Symptom einer kapitalistischen Zerstreuungsindustrie, die aus einer Volksgemeinschaft der Individuen eine anonyme Volksmasse entstehen lasse (vgl. Kracauer 1977, 53). Zur topologisch relevanten Unterscheidung zwischen topos als Ort mit konkreter Identität und chôra als einer generativen Matrix mit instabiler Ortslogik, schreibt Berque (2003) in Anlehnung und Weiterführung des platonischen Chôra-Begriffs. Die Wechselbeziehungen zwischen den Konzepten der Mnemotopie und der chôra werden in Eisensteins Prolog von Que viva México! näher untersucht. Berque (2003) Vgl. A. Assmann 1999, 134f.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

handelt es sich um eine recht typische elegische Rückbesinnung auf die traumatische Vergangenheit aus kreolischer Perspektive: Raza que siente y que canta,/pueblo que vive y que sueña,/de su sonora garganta/brota una pena trigueña/[…] alma de bronce y de seda/bajo el azul de tu cielo/en tus cantares enredas/lagrimas risas y besos. Die »pena trigueña« als Metapher für die unüberwindbare traumatische Spur der Conquista wird auf dem Gipfel der Pyramide einer Raza eingeschrieben, in welcher die indigene Perspektive als Dominante einer randständigen mexikanischen Identität suggeriert wird. Die tragikomische Kondition des Provinzmexikaners, im nationalen Rampenlicht wird zu einem bitteren, schicksalsergebenen Bekenntnis zum gespaltenen Bewusstsein der mexikanischen Raza. José Vasconcelos programmatischer Aufwertung der Mestizen und Idealisierung der kulturhistorischen Synthese folgend, wird die mexicanidad in Anbetracht der Pyramide zwar unweigerlich auf ihre indigenen Ursprünge zurückgeschleudert, die jedoch ein ausgehöhltes Epiphänomen des modernen mexikanischen Selbstbewusstseins bleiben (Abb. 6).

Abb. 6: Mit Hilfe der kinematographischen Doppelbelichtung wird auf dem Gipfel der Sonnenpyramide von Teotihuacán eine folkloristisch inszenierte ›télé-histoire‹ Mexikos mit der Gegenwart überblendet. Pedro wird ein ›penacho‹ (Federkrone) aufgesetzt, der im tragischen Identitätskarneval eher die Symbolik einer Dornenkrone des mexikanischen Vergangenheitsbewusstseins besitzt. Das tragische Fatum des modernen Mexikos bleibt unumkehrbar und lediglich abrufbar als Erinnerungsspur, die in den Ruinen eine zentrale Projektionsfläche besitzt.

Die Sonnenpyramide wird in der mestizischen Ursprungssetzung zu einem modernen point de capiton, in welcher die »unión de todos los hombres en una quinta raza universal« in der formativen Ideologie von Vasconcelos nur durch eine »superación de todo lo pasado«19 zu bewerkstelligen sei. An der Ruine als Gedächtnisträger der téléhistoire wird im Versuch einer Überwindung historischer Schatten der Conquista eine kognitive Ausblendung der kulturellen Vielfalt vollzogen. Die Suche nach einer postrevolutionären gesellschaftlichen Eintracht ist auf diese Weise einer imperativ gesetzten Fusion und eben nicht einer schwierigen Kopräsenz unterstellt. In der mémoire patrimoine die mit Hilfe der Ruinen gestiftet wird, sind die gegensätzlichen Rückholungen der

19

Vasconcelos 1966, 21.

87

88

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Vergangenheit als internalisierte Spannungen zu verstehen: als ein latentes Schuldbewusstsein, das jeder Mexikaner im Sinne einer Begleiterscheinung der nationalen Horizontbildung mitzuführen hat, auch wenn eine kollektive »Identitätskonkretheit«20 gerade an der Auseinandersetzung mit der spannungsreichen Vergangenheit zu zerschellen droht. Pedros Lamento in Canto a mi Tierra kann daher auch nur einer performativ reaktualisierten Stilllegung der Vergangenheit entsprechen, die Vasconcelos mit unnachgiebigem Sendungsbewusstsein des modernen Fortschrittsglaubens beschworen hatte: Los mismos indios puros están españolizados, están latinizados, como está latinizado el ambiente. Dígase lo que se quiera, los rojos, los ilustres atlantes de quienes viene el indio, se durmieron hace millares de años para no despertar. En la Historia no hay retornos, porque toda ella es transformación y novedad.21 Dass die Ruine ein undechiffrierbares Arkanum der mexicanidad darstellte, liegt just in den Folgen einer »pulverización de la memoria étnica«22 , eines systematischen »Mnemozids«23 , den Enrique Florescano bis in die kolonialen Anfänge des modernen Mexikos zurückverfolgt, der jedoch auch in zentralistischen Identitätsdiskursen der Época de Oro zu finden ist. Jenseits einer fundierenden Mythomotorik, die mit Hilfe des reverse ventriloquism der Archäologen und anderer »cultural brokers«24 mit gegenwartsbestimmender Übersetzungsfunktion beschworen wurde, war die Ruine nicht selten auch ein Menetekel, das eine indigene »eschatologische Erinnerung«25 präsent hielt und eine Vergeltungslogik für die während der Conquista begangenen Gräuel auf die Zukunft projizierte. Aus zentralistischer Perspektive der mexikanischen Filmindustrie waren die Bedrohungen einer blutrünstigen Vergangenheit immer auch die Rückprojektion auf kolonisierte Randzonen des modernen Mexikos. Vor allem in folkloristischen Zugriffen war die Aura der Ruine von einer mythologischen Denkkategorie besetzt, die Michail Bachtin für die sogenannte historische Inversion verantwortlich machte, einer herkömmlichen Anomalie der Zeitwahrnehmung, die ein Goldenes Zeitalter der Vergangenheit als gesellschaftliches Zukunftsideal vor sich ausbreitet26 . Ein komisch zugespitztes Beispiel für Bachtins Verständnis von einer rückwärtsgewandten Zukunftsbewältigung sowie für Andersons retroaktive Bauchrednerei findet sich in der Anfangsphase des Cine de Oro in El signo de la muerte (1939), Chano Uruetas nach dem Drehbuch von Salvador Novo groß angelegter Horrorkomödie, in der ein kreolisch grundiertes Selbstbewusstsein von einem lokalen horror antiquus in Aufruhr versetzt wird. Die Rückholung historisch abgeschlossener

20 21 22 23 24 25 26

J. Assmann 1988, 13. Vasconcelos 1966, 30. Florescano 1987, 155-166. A. Assmann 2015. Knight 1990, 231. A. Assmann 1991, 22. Vgl. Bachtin 2008, 74-79.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Substrate erfolgt im Schlüssel einer Besorgnis erregenden »imaginación mítica«27 , die das moderne Mexiko zu zerstören droht. Anhand einer apokryphen archäologischen Schriftquelle (»Código Xilitla«) wird dem Ruinenkomplex von Teotihuacán die Prophezeiung der Conquista eingeschrieben und die Ruine zum Speicherort historischer Flüche umfunktioniert (Abb. 7): Vendrán del mar hombres blancos y barbados a asolar estos reinos y se derrumbarán los templos y dormirán los Dioses inmortales hasta el día en que el último descendiente de Quetzalcoatl logre ofrendar a los Dioses el corazón de cuatro doncellas predestinadas. – Ese día de gloria, los corazones de los hombres blancos se secarán y el hijo de Quetzalcoatl reinará sobre todos sus súbditos. (Herv. im Original) (1:42) Die verheerende Zukunftsvision wird zunächst in einer raschen, didaktischen Bilderfolge bestätigt, in welcher die Conquista als kontinentaler Bildersturm und Apokalypse präkolumbinischer Kosmologie erklärt wird. In einer Überblendung galoppierender Hufen und stürzender Götzen werden klassische historische Kausalitäten der Conquista filmisch zusammengeführt.

Abb. 7: Im Prolog von ›El signo de la muerte‹ wird in freier Auslegung prähispanischer Ideographie ein Fluch auf ein menschenleeres Ruinenfeld projiziert. Abb. 8: Der brabbelnde Starkomiker Cantinflas als Museumsführer bei dem Versuch, das präkolumbinische Erbe einer Touristenschar begreiflich zu machen.

Die zweite Hälfte der Prophezeiung folgt dem kreolischen Phantasma seiner Deplatziertheit als »hombre blanco« die von einem eschatologischen Vektor mesoamerikanischer Gedächtnisströmungen aufgefangen wird. Das Ende eines dunklen Zeitalters aus der Opferperspektive unterjochter präkolumbinischer Kulturen, das auch als titelgebende Vorstellung im ebenfalls 1939 von Chano Urueta gedrehten Film La noche de los mayas enthalten ist, ist in El signo de la muerte hierbei das stumme Vermächtnis, ja die Warnung eines toten und todbringenden indigenen Gedächtnisses, die die Ruinen der

27

Florescano 1987, 280-300. Unter dem Schlagwort der »Insurgencia« in der Spielart mythischer Diskurse untersucht der Historiker alternative mexikanische Strömungen des Messianismus, in welchen eine eschatologische Gedächtnisstiftung sich gegen die nationale Einheit richtete.

89

90

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

mestizischen Nachwelt zu kommunizieren scheinen. Die Idee einer messianisch überformten Wiederkehr ist dabei angereichert mit dem Brauch des Menschenopfers, einem unheimlichen kulturarchäologischen Spektakel, das eine Rückkehr zum Urzustand nur durch die Wiederanknüpfung an die Kardinalsünde der Opferrituale suggeriert. Mehr als eine Einverleibung der restituierten Vergangenheit wird das RuinenMnemotop in Uruetas Film zum Stellvertreter einer latenten memoria indígena (Enrique Florescano) und damit zu einem historischen Ort, an dem sich die Unvereinbarkeit der Zivilisationen und ein konsekutiver »divorcio de la memoria«28 exemplifizieren lässt. Eine ominöse Präsenz von Endzeitvorstellungen alternativer überhistorischer Zeitregime wird auf diese Weise im kollektiven Bewusstsein der mexikanischen Gesellschaft verankert – eine Geste, die einen imperialen Standpunkt auf die mexikanische Filmproduktion überträgt: […] el cine mexicano no ponía sobre el pasado precortesiano de su propio país una mirada distinta de la del hombre »blanco«, »occidental« y colonialista al mundo hollywoodense o europeo. Ese modo a la vez identificaba lo »primitivo« con la ignorancia de los pudores »civilizados« […].29 Nach dem Sprung in die Gegenwart, findet sich das mnemische Potenzial der Ruinen ausgelagert im archäologischen Museum, in welcher das furchteinflößende Legat der mexikanischen télé-histoire domestiziert und befriedet wird. Die Vergangenheitsdeutung des Films wird Cantinflas anvertraut, der im Begriff war zum mit Abstand bekanntesten Vertreter der mexikanischen Filmkomödie zu werden. In Uruetas Film erklärt er einer russischen Touristenschar die in den Tempelanlagen geborgenen Reliquien – den Stein der Sonne, die Statue der Coatlicue und einen vermeintlichen aztekischen Opferaltar – mit einer ins Groteske verkehrten semantischen Unschärfe, die ohnehin das rhetorische Alleinstellungsmerkmal des Schauspielers Mario Moreno darstellte (Abb. 8). In einer karikaturesken Sequenz des reverse ventriloquism wird den Touristen ein Sammelsurium von Anekdoten und pseudowissenschaftlichen Ondits serviert, die das Mysterium der ontologischen Unschärfe komisch entheben. Wenn Cantinflas als institutionelle Deutungshoheit die Etymologien von »ídolo« und »ideología« in seiner charakteristischen Vorliebe für die ludische Dimension der Sprache auf den Malapropismus »indolatrar« bezieht (4:03), wird dem obskurantistischen Horrorszenario des Films eine vollkommen unbedarfte Kommentierung der télé-histoire zur Seite gestellt, die das Schicksal der memoria indígena als kollektive Lakune im modernen, mestizischen Gedächtnishorizont wiederspiegelt. In El signo de la muerte fungiert die präkolumbinische Antike, die in den Ruinen und den daraus stammenden Artefakten kommemoriert wird, als eine Quelle des Unheimlichen und fügt sich in das retrospektive Bewusstsein, dass José Rabasa bereits im 16. Jhd. als koloniales Verständnis von einem mortifizierten »Ancient Mexico« diskutiert, das sich lediglich in einer bedrohlichen Latenzphase befände, »a ghostlike continuity that forevermore threatens the social order or progress«30 . Der Blick auf die mexikani28 29 30

Florescano 1999, 269. García Riera 1992, 96. Rabasa 2010, 18.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

sche »pré-héritage«31 wird hier von einem eurozentrischen Standpunkt geworfen, mit dem das Nationalkino sich dem exotischen und ewig anderen Kultursubstrat näherte.32 Es ist dabei bezeichnend, dass die »resurrección de la raza subyugada por los hombres blancos« (6:16) von dem Altertumsforscher Dr. Gallardo (Carlos Orellana) vorangetrieben wird und die grotesken Jungfrauenopfer letztlich den Hirngespinsten eines manischen Kreolen entstammen, dessen Wahn in einer indigenistischen Überidentifikation mit dem Anderen begründet zu liegen scheint. Obwohl er behauptet den makabren Schlüssel zur Wiederbelebung des Aztekenreiches gefunden zu haben, bleibt die Suche nach einer mesoamerikanischen pierre de Rosette ein unerfüllbares epistemologisches Desiderat. Charakteristisch für das Medium des Unterhaltungsfilms, das Marc Ferro ironisch als »spectacle d’ilotes«33 bezeichnet, wird in El signo de la muerte das an Relikte der Zeit geknüpfte Geschichtsbewusstsein eingetauscht gegen ein Spektakel überhistorischer Mystik, mit der die unheimliche Vision eines Vergeltungsschlags aufbereitet wird. Hierbei wird eine Dimension postkolonialer Phantastik erkennbar, die ein kollektives Schuldbewusstsein freizulegen versucht und die Ruine mit einer permanenten Drohung verknüpft, die wie ein Fluch auf den Spätgeborenen lastet.34 Dennoch erschöpfte sich nicht die gesamte Instrumentalisierung der Mnemotopie von Ruinen in der nationalen Romantik von Kostüm- und Horrorfilmen, die in populärkulturellen Übersetzungen der leyenda negra die Wiederkehr untergegangener Zivilisationen Amerikas als kreolisches Phantasma aufrecht hielten. Ein unvollendetes Werk an der Schwelle zum Tonfilm hat einen Sonderstatus unter den Ruineninszenierungen. Der fremde Blick auf die mexikanische Ruine als Resonanzraum eines unverfügbaren Gedächtnisses, den Eisenstein in Que viva México! vornimmt, ermöglicht Lesarten, die den prekären Harmonisierungszwang im Dienste der Nation relativieren. Mehr als ein historisches Spektakel, das einen Nationalepos maskiert, ist die frühe Dokumentation der Ruine, die der Filmpionier 1931 vornimmt, ein alternativer Umgang mit der mexikanischen Ruinen-Mnemotopie. In La noche de los mayas (1939) und Chilam Balam (1955), Historienfilmen, die eine nationale Vergangenheit zu rekonstruieren versuchen, lassen sich sodann die schwierigen kinematographischen Herausbildungen eines mexikanischen Kollektivsingulars nachvollziehen, in welchen die indigene Gegenwart im Schirmbegriff der mexicanidad untergebracht wird. In Raíces (1953) hingegen, einem Film

31 32

33 34

Derrida 1993, 181. Zum orientalisierenden oder auch tropikalisierenden Blickwinkel einer modernistischen Ästhetik, die die kulturelle Differenzierung als Oszillation zwischen der hierarchischen Geringschätzung und einer Luststeigerung begreift, schreibt Nagy-Zekmi 2008, 15ff. Ferro 1977, 84. Ein ähnliches indigenes Tremendum im kreolischen Bewusstsein findet sich sehr plastisch funktionalisiert in der phantastischen Erzählung Chac Mool von Carlos Fuentes, in welcher eine Inversion der gesellschaftlichen Hierarchien zwar im phantastischen Schwebezustand belassen wird, den kreolischen Protagonisten jedoch in den Wahn treibt. Auch hier ist es eine zu Götzen petrifizierte Vergangenheitsschicht, die unter mysteriösen Bedingungen zum Leben erweckt wird und die bestehende Ordnung in Gefahr bringt (Fuentes 1954, 19-30). Zur Projektion postkolonialer Ängste als möglicher Deutungsschlüssel phantastischer und schauerromantischer Ästhetik siehe Roland Spiller in Brittnacher/May 2013, 193.

91

92

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

der offenkundig in der Gegenwart situiert ist, wird anhand der Ruinen-Mnemotopie eine xenophobe Abwehrhaltung heraufbeschworen, die dem affektiven Inventar des mexikanischen Nationalfilms zu Grunde lag und den Jorge Ayala Blanco als »nacionalismo repelente«35 fasst. Nach der Época de Oro und einer neuen Diskontinuitätserfahrung, die in der Matanza de Tlatelolco (1968) ein symbolisches chronologisches Zentrum besitzt, werden in Filmen wie Cascabel (1977) oder Rojo amanecer (1989), Werken die ein kritisches Geschichtsbewusstsein an den Tag legen, nationale Vereinnahmungen der Mnemotope hinterfragt und die Ruine als Ort der Kommerzialisierung pittoresker oder ideologisch verzerrter Vergangenheitsbilder entlarvt.

3.1.

Que viva México! (1931/1979)

3.1.1.

Die Ruine als »chôra« der Mexikanität

Wie aus den Passagen zur Rolle des Kulturbetriebs im nachrevolutionären NationBuilding hervorging, war die Rückbesinnung auf Ursprungsmythen in Mexiko mehr einem vom Krisenbewusstsein neu entfachten »Identifikationsfetisch«36 geschuldet als dem gesellschaftlichen Interesse an einer Umschreibung des kulturellen Fundaments, zumal die hochgradig spekulativen Rekonstruktionen unvordenklicher Zeitschichten epistemologisch gesehen auf tönernen Füßen standen. Sergei Eisenstein trägt dem schwierigen Unterfangen der authentischen Ruineninszenierung in dem Prolog zu seiner mexikanischen Filmsymphonie Que viva México! Rechnung. Die Rekonstruktion einer verlorenen Kontinuität »out of an immemorial past into limitless future«37 scheint im Falle des sowjetischen Filmpioniers einer exotisierenden Wahrnehmung von außen gleichzukommen, wie es sich jedenfalls am Drehbuchs belegen lässt sowie am Bildmaterial selbst, das bekanntlich nicht mehr von Eisenstein selbst montiert werden konnte.38 Obwohl sich im Prolog des Films auch Konvergenzen mit konventionellen mexikanischen Inszenierungen der télé-histoire abzeichnen, wird das Ruinen-Mnemotop bei Eisenstein wie bei keinem anderen der hier behandelten Beispiele, in ein überhistorisches und überregionales Licht gerückt. An Eisensteins Beispiel wird nachfolgend gezeigt, wie die Ruine als ein Ort historischer Archetypen und ritueller Wiederholungen funktionalisiert werden kann und welche Implikationen seine Ruinenlektüre für das filmisch modellierte kollektive Unbewusste bis heute bereithält. Bereits bei seiner Ankunft signalisierte Eisenstein der Presse, sein Vorhaben sei es einen Film zu drehen, der auf der »living history« Mexikos basieren würde.39 Dass er für

35 36 37 38

39

Ayala Blanco 1968, 76. Wyss 2012, 110. Anderson 1991, 12. Zur außergewöhnlichen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Que viva México! eignen sich grundlegend Geduld/Gottesman (1970) und de los Reyes (2005), in knapper Ausführung auch Gordon (2016). Vgl. Seton 1978, 194 und de la Vega Alfaro 1997, 18.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

die ›Ouvertüre‹ seiner mexikanischen Filmsymphonie die ältesten und gleichzeitig imposantesten Zivilisationsspuren Mesoamerikas wählte, ist daher wenig verwunderlich. Wie sein Entwurf zum Prolog ankündigt, sollte der Film mit einer markanten Zeitsynthese beginnen – der Gegenüberstellung von Monumenten, Gottheiten und Menschen: Time in the prologue is eternity. It might be today. It might as well be twenty years ago. It might be a thousand. For the dwellers of Yucatan, land of ruins and huge pyramids, have still conserved, in feature and forms, the character of their ancestors, the great race of the ancient Mayas. Stone – Gods – Men – Act in the prologue. In time remote... In the land of Yucatan, among heathen temples, holy cities and majestic pyramids. In the realms of death, where the past still prevails over the present, there the starting-point of our film is laid. As symbols of recalling the past, as a farewell rite to the ancient Maya civilization, a weird funeral ceremony is held.40 Die im Szenario festgehaltene Atmosphäre des Prologs ermöglicht viele Analogien zum nachfolgend in der mexikanischen Filmindustrie vorherrschenden Vektor der nationalen Spurensuche einer verschollenen mexikanischen Identität und einer dominanten Wirkung der formal erhaltenen télé-histoire auf Prozesse der kollektiven Selbstverständigung und Gedächtnisstiftung. Was hier bereits aufscheint ist Eisensteins Erkenntnis der besonderen Qualität der Ruine als eines heiligen, mythologischen, ja überhistorischen Ortes, an dem die Gegenwart sich einem dominanten Orientierungspunkt aus der Vergangenheit unterordnet. Wie Eisenstein in einem Brief an seinen Mäzen Upton Sinclair offenlegt, ließ sich eine historische Kontinuität zum Unvordenklichen idealtypisch anhand der Ruine konstruieren: Death. Skulls of people. And skulls of stone. The horrible Aztec gods and the terrifying Yucatan deities. Huge ruins. Pyramids. A world that was and is no more. Endless rows of stones and columns. And faces. Faces of stone. And faces and flesh. The man of Yucatan today. The same man who lived thousands of years ago. Unmovable. Unchanging. Eternal. And the great wisdom of Mexico about death. The unity of death and life. The passing of one and the birth of the next one. The eternal circle. And the still greater wisdom of Mexico: the enjoying of this eternal circle.41 Auf implizite Weise legt Eisenstein hier die Ortsemantik offen, die seiner Auffassung von der antiken Ruine zu Grunde liegt. Zum einen ist es ein Ort des Todes und der Stilllegung, topologischen Qualitäten, die mit Böhmes Vorstellung von Ruinen als »Signaturen der Vergängnis«42 korrespondieren und das Gedächtnis der Besiegten stützen. Mit dieser Lesart der historischen Nekropole steht auch die Funktion eines mythischen Schwellenortes im Bunde, der für Begräbnisriten aufgesucht wird, eine Verknüpfung,

40

41 42

Eisensteins Entwurf zum Prolog wird zitiert bei Lindgren 1952, 27; Karetnikova/Steinmetz 1991, 39 und in der viel rezipierten Biographie von Marie Seton 1978, 198, dort im Kapitel »Eternal Circle«, das Eisensteins Mexikophase gewidmet ist. Zit. in Seton 1978, 197 und Eisenstein 2016, 78. Böhme 1989, 290.

93

94

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

die am Ende des Prologs von Que viva México! eingelöst wird. Zum anderen ist die Ruine als hieros topos ein Schauplatz der ewigen Wiederkehr, ein Hort des Werdens und Vergehens, wodurch die Ortssemantik mit einer überhistorischen, achronologischen Bewandtnis aufgeladen wird. In der Wiederkehr totgesagter Kulturbestände entfaltet sich die Dynamik einer topologischen chôra, eines formativen Mediums zwischen sinnleerem Raum und mit Sinn besetztem Ort, das in einen je anderen kollektiven Rahmen oder zeitgeschichtlichen Kontext gerückt werden kann.43 Das Leitmotiv der ewigen Wiederkehr lag sicherlich in Eisensteins Interesse an der paradoxen Synthese aus Pro- und Regress begründet, das von der Nachhaltigkeit altamerikanischer Spuren in Mexiko angeregt wurde.44 Seine eigene Vorliebe für zirkuläre Zeitstrukturen mündete in die empathische Formel der mexikanischen Freude am »eternal circle«. Die Formel erinnert an die Ideen zum zirkulären Zeitregime, die Mircea Eliade in der bereits erwähnten religionsphilosophischen Studie Cosmos and History (1954) entwickelt. Eliade erkennt einen Kulturmechanismus, der eine hohe Relevanz für die Untersuchung des ortsbasierten Memory-Building birgt: Er beobachtet, dass die Revolte gegen ein lineares Geschichtsverständnis sowie die Nostalgie nach der periodischen Rückkehr in eine mythologisch-ursprüngliche Zeit Kennzeichen traditioneller Gesellschaftsformen darstellen.45 In der Kosmologie der »archaic conception«46 sei das Geschichtsbild reguliert durch Repetitionen und Archetypen, die einer konkreten Zeitlichkeit trotzen und dem Whiggismus als einer historischen Kontinuitätsorthodoxie mit der Gegenwart als Fixpunkt diametral entgegengesetzt sind. Das auf eine fixe Vergangenheit ausgerichtetes Erinnerungsvermögen korrespondiert hierbei häufig mit einem eschatologisch modellierten Zukunftsideal. Diese Logik des »eschatologischen Zeitverständnisses«, das eine Rückkehr zu den Zuständen in illo tempore herbeisehnt, stellt, wie Aleida Assmann feststellt, »jenes Prinzip dar, das den Kampf gegen die Zeit im Namen der Ewigkeit führt«47 .

43

44

45 46 47

Wie bereits bei der Analyse von Canto a mi tierra eingeführt, wird der Begriff chôra in dieser Arbeit in Anlehnung an Platons Vorstellung einer »Amme des Werdens« als formativer Raum verstanden. Der platonische Vermittlungscharakter zwischen der Ideen- und der Sinneswelt wird von Julia Kristeva und Jacques Derrida nach eigenen psychoanalytischen und philosophischen Zuspitzungen weitergeführt. Trotz unterschiedlicher Begriffsverwendungen, liegt ein gemeinsamer Nenner im Schwebezustand eines undifferenzierten, aufnehmenden Zwischens, in dem spezifische sprachliche oder räumliche Setzungen stattfinden (vgl. Günzel 2010, 13 und 167-171 sowie Günzel 2014, 16 und 22). Im Hinblick auf die lange und gegensätzlich weitergeführte Geschichte des Begriffs soll hier der Schwebezustand im ortsphilosophischen Sinn leitend sein und Mnemotope in der Spielart der chôra für prinzipiell offene Orte der Ermöglichung semiotischer Prozesse stehen, darunter vordergründig die Verarbeitungsprozesse des kulturellen Gedächtnisses. Naum Kleiman, herausragender Exeget und Nachlassverwalter des Filmpioniers, tangiert dessen Vorliebe für das Aufdecken archaischer Sinnstrukturen in der Gegenwart im Vorwort zu Eisensteins Aufsatzsammlung Nonindifferent Nature (Neravnodushnaja Priroda). Kleimans Ideen knüpfen an die Ausführungen zur Überhistorizität bei Eisenstein an, die er zum Beispiel im Aufsatz »On the questions of suprahistory«, in ähnlicher Weise wie Friedrich Nietzsche, in religiösen Kulten und einer transhistorischen Trauerarbeit erkennt (vgl. Eisenstein 1987, 179f). Eliade 1959, xi. Ebd., 141. A. Assmann 1991, 23.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

In Eisensteins Verständnis der Ruinen als Kristallisationsorte eines archaischen, zirkulär strukturierten Geschichtsbewusstseins wird die Prädestination für fundierende gleichsam wie für kontrapräsentische Erinnerungsarbeit greifbar. Diese von der Koexistenz widerstreitender Vergangenheitsbezüge entstehende Spannung ist eine Folge der Gleichörtlichkeit unterschiedlicher Zeiterfahrungen, die an der Ruine als offene Gedächtnismatrix zusammenkommen. Im Falle der kontrapräsentischen Ruinenlektüre, die Eisensteins Geschichtsverständnis und Bildungshorizont näher stand, gewinnt die »revolutionäre Kraft der Erinnerung […] ihr eigentliches Potential in der historischen Situation der Niederlage und der drückenden Erfahrung der Ohnmacht«48 , was spätestens in der Solidarisierung des Regisseurs mit den mexikanischen Bauern evident wird, wie im Kapitel zur Mnemotopie der Haciendas untersucht wird. Eisensteins Vorliebe für den Kulturmechanismus der ewigen Wiederkehr, seine Vorliebe für das Ewige und Überhistorische, waren dabei kaum zufälliger Natur, sondern seinem großen Interesse an rezenten anthropologischen Diskursen geschuldet.49 Die 1979 von Grigori Aleksandrow, dem Koregisseur und Begleiter Eisensteins vorgenommene Fertigstellung des Films, versucht die mnemotopischen Eigenschaften der mexikanischen Ruine gemäß der Einschätzungen Eisensteins zu inszenieren und beginnt, wie im Drehbuch angedeutet, mit einer Juxtaposition präkolumbinischer Architektur und Plastik der Ruinenstätten Chichén Itzá und Teotihuacán auf der einen, und der Physiologie der zeitgenössischen indigenen Bevölkerung auf der anderen Seite (Abb. 9). Was dabei ins Auge fällt, ist die Statik des Ortes, die Eisenstein bei seiner Betrachtung der Ruine aufgreift, einer Statik des bereits erwähnten »accident ralenti« (Jean Cocteau), der für das bloße Auge unsichtbaren Verwitterungsdynamik einstmals glorreicher Monumente. Unterstichen wird die Monumentalität der Ruinen formal durch eine statische Kamera, die wie zu Statuen erstarrte Laienschauspieler nebst antiken Maya-Götzen einfängt (Abb. 10). Wenn nun eine lectio facilior im Prolog die Kontrastierung von Mensch und Stein allegorisch als Gegenüberstellung von Leben und Tod aufschließt, ist das Leitmotiv der ewigen Wiederkehr rasch erkannt. Doch im Hinblick auf das mnemotopische Potenzial der Ruine ist es lohnender, die anthropologischen Implikationen offenzulegen, die Eisensteins filmische Lektüre der Archäotopie für ein kollektives Bewusstsein mit sich führt. Die Ruine in Que viva México! fungiert nämlich als jene bereits mit Marc Augé eingeführte Metapher eines anthropologischen Steinbruchs, von dem aus die in

48 49

Ebd. Wie Anna Bohn in ihrer aufschlussreichen Monographie zu Eisensteins Kunsttheorie aufzeigt, bediente sich der Regisseur bei dem »synkretistischen Datamining« während der Konzeption von Que viva México! vieler wissenschaftlicher Quellen. Bei seinen Studien zur »Prälogik« der Naturvölker, deren Existenz er vor allem auch im Schoß moderner Gesellschaften wähnte, wurde er bei dem Anthropologen Lucien Lévy-Bruhl fündig. Darüber hinaus ließ sich Eisenstein bei der Erforschung anthropologischer Urbilder und Archetypen von James George Frazer inspirieren (vgl. Bohn 2003, 74ff). Weitere Hinweise zur archaischen Ontologie finden sich auch in Anne Nesbets Engführung von Eisensteins Kunsttheorie mit anthropologischen Diskursen der Zeit (Nesbet 2003, Kap.5: »Savage Thinking: The Sublime Surfaces of Eisenstein’s Mexico«, 117-156), sowie in Somainis kenntnisreichem Vorwort zu Eisensteins Notes for a general history of cinema (vgl. Eisenstein 2016, 87 et passim).

95

96

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Abb. 9: Das hieratische indigene Antlitz in diagonaler Juxtaposition mit der Pyramide von Kukulkan als Träger unvordenklicher Erinnerungsspuren. Abb. 10: Imitatio der Archetypen: Der kauernde Maya neben einem Maya-Götzen, den der französische Archäologe Augustus Le Plongeon im 19. Jhd. als Chac Mool dechiffriert und einer modernen Lesbarkeit überführt hatte.

Stein gemeißelte Geometrie und Physiologie der télé-histoire in die Gegenwart der breiten Massen transportiert wird. Die Mnemotopie der Ruine wird dabei in die Nähe von anthropologischen Fragestellungen gebracht, die sich mit dem menschlichen Streben nach Unsterblichkeit auseinandersetzen. Relevant waren diese Fragen dabei auch im filmtheoretischen Hinblick und lassen sich bereits in den frühesten medienspezifischen Reflexionen zum Film auffinden, etwa bei Jean Epstein (»embaument mobile«), im Warburgschen Topos des Nachlebens, oder eben auch in der späteren, bereits erwähnten Behandlung der filmischen Zeitresistenz bei André Bazin.50 Der Prolog von Que viva México! spürt jenem anthropologischen Bedürfnis nach, das Bazin später im Hinblick auf die ägyptische télé-histoire als »un besoin fondamental de la psychologie humaine: la défense contre le temps«51 bezeichnen sollte. Eisenstein selbst hat als Filmpionier und Verfasser zahlreicher medienwissenschaftlicher Reflexionen diese Fragen ebenfalls immer wieder theoretisch und praktisch zu beantworten versucht und gerade die Konzeption von Que viva México! hat den Regisseur motiviert sich der Wechselwirkung von Historizität und Konservation des Weltwissens zuzuwenden.52 Bevor Eisenstein in den nachfolgenden Kapiteln zu einer Kommentierung der mexikanischen Geschichte übergeht, bleibt die Ruine aber eher ein ambivalentes, allenfalls universal gerahmtes Mnemotop, das sich eine Offenheit vorbehält und, jenseits eines Bewusstseins für die Kontinuität archaischer Formen, von konkreten Narrativen der historischen Wiederhervorbringung unbesetzt bleibt. 50 51 52

Eine genealogische Reflexion zu Eisensteins Begriff der »dynamischen Mumifizierung« findet sich im Vorwort von Antonio Somaini in Eisenstein 2016, 81. Bazin 1994, 10. Bordwell (1974) spricht in diesem Zusammenhang von »Eisenstein’s epistemological shift«. Auch Bohn sieht Eisensteins Mexikophase als Umbruchmoment im Vorfeld zu seinen filmtheoretischen Auseinandersetzungen, die in der Publikation des umfangreichen Kompendiums Metod gipfelten (vgl. Bohn 2003, 53 et passim).

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

3.1.2.

Exhumation ewiger Formen

Wenn Eisenstein in seinem 1947/48 angefangenen (und ebenfalls unvollendeten) literarischen Projekt zur universalen Geschichte des Weltkinos das Filmmedium als Phänomen einer »dynamic mummification«53 begreift, so handelt es sich bei dem Prolog zu seiner mexikanischen Filmsymphonie zunächst eher um eine Art photographische Einbalsamierung der Vergangenheit, um eine geradezu statische Studie zum Formenhaushalt der mexikanischen Antike, die Aleksandrow in der Einführung zur 1979 vollendeten Version in der Ästhetik einer Slideshow aufarbeitet. Es sind Menschen der mexikanischen Gegenwart, die im ›Gravitationsfeld‹ mexikanischer Ruinenfelder in ein Korrespondenzverhältnis mit der Vergangenheit treten, die durch die Statuen von Chac Mool, Xochipilli, Coatlicue und anderen Ikonen des mesoamerikanischen Polytheismus symbolisch aufgeladen wird. Bei all der formalen und narrativen Statik des Prologs, lässt sich jedoch gerade im Hervorholen und Aufbereiten des archaischen Formenhaushalts, Eisensteins Interesse an der Dynamik von Zeitsytnthesen erkennen, die Vergangenheitsrelikte entfalten können: Was Eisenstein in dieser Studie nämlich andeutet, ist eine optische Kontinuität zwischen Statue und Mensch, die das Gefühl für Zeitlichkeit und Teleologie aufzuheben scheint und zwar ganz im Sinne der absolut gesetzten Ewigkeit, die im Drehbuch fixiert ist. Eisensteins Inszenierungsversuch einer anthropologischen Ewigkeit, die sich in der Ruine eingebettet findet, markiert so auf abstrakte Weise die Besonderheit der Ursprungs-Mnemotopie, bei der eine historische Linearität von einem zyklischen Zeitregime überblendet wird und die Ruine zu einem Dispositiv permanenter Wiederhervorbringungen der Vergangenheit wird. Was dem Zuschauer vorenthalten bleibt ist die Tatsache, dass die Ruinenstätte von Chichén Itzá nebst anderen Monumenten der lokalen Antike nur wenige Jahre zuvor freigelegt und einer Revision im Zeichen der monumentalen Geschichtsdeutung unterzogen wurde. Eisensteins Aktualisierung des mexikanischen Funktionsgedächtnisses nimmt also die Einladung an, eine Kontinuität zwischen den Spuren mesoamerikanischer Hochkulturen und dem zeitgenössischen Mexiko zu bewahren. Wenn nun die optischen Konvergenzen ihre Suggestionskraft entfalten und eine formale Brücke zur télé-histoire schlagen lassen, scheint der Prolog zunächst frei von einem kritischen historischen Bewusstsein zu sein und verharrt, im Gegensatz zu den folgenden Episoden, in einer Verklärung des Archetypischen. Doch jenseits der statischen Ruinendarstellung, die in der Folgezeit zu einem konventionellen Zitat Eisensteinscher Ästhetik wurde, lässt sich seine Rückholung der télé-histoire nicht ohne weiteres einem zentralisierten Memory-Building zuführen: Eisensteins Behandlung der präkolumbinischen Überreste besetzt die Ruine mit einem ambigen Gedächtnis, das in gleichem Maße einer fundierenden wie einer kontrapräsentischen Erinnerungsmotorik überführt werden kann. Die indigene Gegenwart Mexikos bleibt in seiner abstrakt gehaltenen ethnografischen Zeitsynthese offen und ist nicht vereinnahmt von einer nationalistischen Sinnpflege zeitgenössischer Kostümfilme, die mit performativen Conquista-Reinszenierungen die Subalternität des indigenen Bewusstseins ein ums andere Mal an der Mnemotopie der Ruine veranschaulichen, wie in La noche de los mayas (1939) und Chilam Balam 53

Eisenstein 2016, 119.

97

98

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

(1955) zu sehen sein wird. Da Eisenstein auf eine Einverleibung der indigenen Antike für konkrete Aussageabsichten verzichtet, sich als Außenstehender davor verwahrt, das Schweigen der Toten nach Art eines der Vergangenheit zugewandten Bauchredners zu deuten, bleibt die Exhumation der mexikanischen Vergangenheit eine universal gültige Meditation zur Zeitresistenz von Zivilisationsspuren. Die Verwendungsmöglichkeiten der Ruinen-Mnemotopie wird in Eisensteins Filmsymphonie aus der externen Perspektive eines Mexikoreisenden inszeniert, allerdings hat seine Ortsbegehung eher wenig mit der Praxis der Entdeckungsreise durch unbekannte und epistemologisch schwach erschlossene nationalen Territorien gemein, die zum performativen Inventar kreolischer Pioniere gehörte.54 Diese Praxis der anthropologisch eher unbedarften Einverleibung büßt auch im 20. Jhd. kaum ihre Gültigkeit ein. Sie verlagert sich zwar auf medial gestreute Vereinnahmungsprozesse der nationalen Kulturindustrie, bleibt jedoch kurzsichtig wenn man sich die filmischen Narrativisierungen der mexikanischen Ruine vor Augen hält„ die im klaren Widerspruch zur archäologischen Episteme der Zeit standen und sich in der Regel in »reconstrucciones románticamente antihistóricas«55 erschöpften. Die herkömmliche Kluft zwischen den Ruinen in der Populärkultur und der wissenschaftlichen Expertise bleibt sogar bis ins 21. Jahrhundert erhalten, so jedenfalls das medienkritische Zeugnis der Zeitschrift Arqueología Mexicana in der 2013 erschienenen Sonderausgabe zum Stellenwert der Archäologie im nationalen Filmspektrum: Ante la pregunta de si existe una cinta de ficción que aborde de modo serio y bien informado la historia de las grandes culturas del México antiguo, como la teotihuacana o la olmeca, la respuesta es no. Y lo mismo habría de contestarse si la pregunta se refiriera a la existencia de una película que trate sobre un descubrimiento arqueológico sin gazapos, no hay tal. Qué curioso, si consideramos el importante papel que tiene la arqueología en el imaginario colectivo, que no se hayan dado aún a luz títulos importantes […].56 Der Prolog von Qué viva México! scheint hiervon ausgenommen zu sein. Auch wenn Eisensteins Wirken noch in eine Zeit vor der konventionellen Unterscheidung in Dokumentar- und Spielfilm fällt, lassen sich fiktionale Elemente am Anfang der Filmsymphonie kaum finden. Auf der Hut vor archäologischen gazapos, Inkonsistenzen, die die Glaubwürdigkeit des Films aufs Spiel setzen könnten, setzt Eisenstein auf die Ruinen als prinzipiell offene, allenfalls auf ein kollektives Latenzgedächtnis hinweisende Mnemotope, die in den Epopöen der späteren mexikanischen Kostümfilme mit zahlreichen Verzerrungen aufbereitet werden. Bei dem Versuch die im »eternal circle« aufgefangene mexikanische Ewigkeit filmisch zu inszenieren, verzichtet Eisenstein

54

55 56

Unter dem Topos der Erkundungsreise verbirgt sich im Lichte des Nation-Building die Notwendigkeit der kartographischen Erfassung und inneren Kolonisierung des eigenen Herrschaftsgebiets und wird im 10. Kapitel »Census, Map, Museum« neben anderen Praktiken der nationalen Machtkonsolidierung beschrieben (Anderson 1991, 163-186). Ayala Blanco 1968, 169. Arqueología Mexicana 2013, 9.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

bezeichnenderweise auf konkrete Gegenwartsbezüge jenseits der optischen Gegenüberstellung urtümlicher Idole und der indigenen mexikanischen Bevölkerung. Damit hüllt er Chichén Itzá und Teotihuacán in ein gänzlich zeitloses Licht und verlegt die mexikanischen Ursprünge in die absolute Vergangenheit einer »mythischen Zeit«57 , die im Kontrast zur historischen Dynamik der weiteren Filmepisoden steht. Im Gegensatz zum Filmkapitel »Maguey«, das die jüngste historische Erschütterung der Revolution kommentiert und im Kapitel zur Mnemotopie der Haciendas untersucht wird, kann die einbalsamierte Urzeit nicht mit narrativen Spektakeln und anderen Formen des historical reenactment veranschaulicht werden. Das gegenwartsbestimmende Potenzial der Ruinen liegt bei Eisenstein in ihrem Speichervermögen optischer Präfigurationen, in ihrer Qualität das »Inventar der antiken oder antikisierenden Vorprägung«58 zu bewahren, das der Regisseur bei der Exploration einer fremden und doch allzu vertrauten Kultur freilegt. Das Bewusstsein um die Langzeitwirkung archaischer Relikte und das unentwegte Entgleiten des »historischen Tiefenblick[s]«59 in mythische Verstehensebenen, die Kurt Hahn bei der Betrachtung der mexikanischen Antike in Octavio Paz’ lyrischem Zugriff Himno entre ruinas analysiert, kann man auch in Eisensteins Ruinenkontemplation erkennen. Und gerade in Eisensteins Vorbehalten gegenüber einer widerspruchslosen Ausdeutung vergangener historischer Substrate wird die Überzeugung deutlich, dass der unverfügbaren »historia subterránea o invisible«60 nicht mit einer herkömmlichen historischen Hermeneutik beizukommen ist.

3.1.3.

Polyphonie der Vergangenheitsbezüge

Die Zeitlosigkeit des Prologs von Que viva México lebt von einer einschneidenden historischen Ellipse, nämlich der Ausblendung der Conquista, die sich üblicherweise als traumatisches Narrativ in der Ruine eingebettet ist. Innerhalb der nationalen Kulturgrammatik der Zeit war die Ruine sowohl ein Drehort zur Veranschaulichung der Conquista als auch eine symbolische Wiege des Mestizentums. In Eisensteins Darstellung von Chichén Itzá, einem Ort den die Spanier bereits verlassen vorgefunden hatten, sind die Spuren fataler Kulturkontakte lediglich angedeutet und die klassische historische Polarisierung zwischen Europa und Amerika abwesend. Die Gründe für den Untergang der Maya, eine große Streitfrage innerhalb der Mayologie, bleiben unbeantwortet und der Fokus liegt auf der mesoamerikanischen Formenkonstanz, die aus dem antiken mexikanischen Formenhaushalt herausgelöst und in der Gegenwart wiederverortet wird. Im Rückgriff auf die Archäotopie legt Eisenstein eine Reihe visueller Archetype frei, die sich im weiteren Verlauf in seine mexikanische Symphonie fügen. Angesichts der »Gleichörtlichkeit«61 unterschiedlicher Gedächtnishorizonte, die in der mexikanischen 57

58 59 60 61

Die mythische Zeit als »Motor der Entwicklung« oder auch »Fundament der Kontinuität« findet sich erklärt bei Jan Assmanns Gegenüberstellung einer absoluten und einer relativen Vergangenheit (J. Assmann 2013, 75-78). Warburg 2012, 3f. Vgl. Hahn 2008, 120. Vgl. ebd. Zum Begriff der Gleichörtlichkeit als dem Primat der Zeitlichkeit zuwiderlaufende Erkenntnismethode in der Geschichte, schreibt Karl Schlögel in interdisziplinärem Rückgriff auf die Montage-

99

100

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Ruine aufeinander treffen, konnte er bereits im Prolog seinen berühmter Vergleich der mexikanischen Realität mit einem Sarape umsetzen. Seine Idee von der Koexistenz unterschiedlicher Epochen, die eben nicht im vertikalen Sinne der konsekutiven Diachronie, sondern im synchronen Sinne einer räumlichen Kopräsenz erfahrbar ist, wurde in Mexiko zu einem persönlichen Credo: Do you know what a ›Serape‹ (sic!) is? A Serape is the striped blanket that the Mexican indio, the Mexican charro – every Mexican wears. And the Serape could be the symbol of Mexico. So striped and violently contrasting are the cultures in Mexico running next to each other and at the same time being centuries away. No plot, no whole story, could run through this Serape without being false or artificial. And we took the contrasting independence of its violent colors as the motif for construction of our film; six episodes following each other – different in character, different in people, different in animals, trees and flowers. And still held together by the unity of the weave – a rhythmic and musical construction and an unrolling of the Mexican spirit and character.62 Wenn nun der unabgeschlossene Charakter des Werks lediglich Spekulationen zur sequenziellen Montage von Que viva México! ermöglicht, die in der zerklüfteten PostProduction des Films von anderen vorgenommen wurde, legt Eisenstein mit der Sarape-Metapher der Nachwelt einen anderen Interpretationsschlüssel für die Berücksichtigung der Montage als »comparative activity«63 in die Hand, und zwar die Montage in der synchronen Spielart der Bildkomposition. So betrachtet steht jede Einstellung der intellektuellen Montage offen und bietet Platz für jene unerwarteten Synthesen, die Eisensteins Vorliebe für die »unexpected junctures« (nezhdannyj styk)64 und der »jumping chronology«65 sonst am Schneidetisch zu Tage förderte. Die symbolische Dichte der einzelnen Einstellungen im Prolog lässt sich so aufschlüsseln als die zeitliche Synthese weit auseinanderklaffender historischer Schichten. Neben dem horizontalen Nebeneinander von Zeitschichten und den mit ihnen korrespondierenden cadres sociaux der vielfältigen mexikanischen Nation, steht der Sarape auch für einen Montagebegriff, der nicht im herkömmlichen Sinne einer syntagmatischen Aneinanderreihung von disjunkten Bildfolgen zu verstehen ist, sondern bereits in jeder Einstellung als Gegenüberstellung nicht isolierbarer Sinneinheiten gegeben ist (Abb. 11). Medientheoretische Überlegungen zur Kopräsenz der Zeiten, die für die filmische Inszenierung der Mnemotopie geeignet sind, finden sich aber bereits im Aufsatz Die

62 63 64 65

technik bei Eisenstein oder dem Chronotopie-Begriff Bachtins (vgl. Schlögel 2011, 585-589). Weiterführende Überlegungen zur Rolle der topologischen Synchronie in Prozessen der historischen Periodisierung finden sich bei Koselleck 1987, 273. Zit. in Nesbet 2003, 123. Somaini in Eisenstein 2016, 87. A. a. O., 23. A. a. O., 28. Im Vorwort wird Eisensteins Kompositionsprinzip der »jumping chronology« definiert als »a way of organizing the sequences of the film according to thematic recurrences rather than linear chronologies. In Mexiko als einem Land in dem laut Eisenstein »history had been replaced by […] geography« (ebd.), kommt die Montage der Zeiten in einem gleichörtlichen Verstehenshorizont in besonderem Maße zum Tragen.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Abb. 11: Im Sarape sah Eisenstein ein Symbol für die synchrone Verschränkung der Zeiten, hier angedeutet in der Gegenüberstellung einer lebendigen mexikanischen Gegenwart und einem Idol der lokalen Antike (Tlaloc) in der Ruinenstätte von Teotihuacán.

vierte Dimension im Film (1929), die Eisenstein im Anschluss an die Produktion von Generallinie (alternativer Titel: Das Alte und das Neue) verfasst hatte, einem Film, in dem sein Bewusstsein für die mnogoukladnost‹, dem Nebeneinander mehrerer Wirtschaftssysteme und Bewusstseinsprägungen zur Sprache kam.66 Bereits vor seiner amerikanischen Odyssee waren Eisenstein die »Myriaden an Sekundärschwingungen«67 bewusst gewesen, die schon auf der kleinsten Sinnebene der Einstellung rezipiert werden könnten. In Anlehnung an die Besonderheiten der Sinnstiftung im traditionellen KabukiTheaters und die komplexen Wechselwirkungen der Elemente theatralischer Mise-enScène, stellt er fest, dass eine Einstellung »niemals zum Buchstaben« wird, sondern »stets eine vieldeutige Hieroglyphe« bleibt.68 Dieses Bewusstsein für die Polyvalenz des Zeichens und, weiter gefasst, für die Gleichörtlichkeit von gegenwartsbestimmenden Zeitschichten, trug während der Dreharbeiten in Mexiko entscheidend zum Kompositionsprinzip der Symphonie als einer historischen Collage bei: In his work on the script of Que viva Mexico! he was inspired, as he used to say, by the »montage« of the country itself, where movement through space, from one province to another, is also a voyage through centuries of time. Eisenstein was amazed that in Mexico the sequence of epochs was presented not »vertically (in years and centuries), but horizontally, as the geographic coexistence of the most diverse stages of culture«.69 66 67 68 69

Eisenstein (1984), vgl. auch Somaini in Eisenstein 2016, 29. Eisenstein 2006, 114. Ebd., 113. Karetnikova 1991, 19.

101

102

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Parallel zum Prinzip des Ungleichzeitigen, mit dem Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit (1935) auf die Anwesenheit des Abwesenden aufmerksam gemacht hat70 und bevor Michel Foucault 1967 in seinem Vortrag »Des espaces autres« die »époque de l’éspace, […] du simultané, […] de la juxtaposition«71 ausrufen sollte, kann man in Eisensteins Prinzip der Vertikalmontage ein Bewusstsein für die Vielschichtigkeit jedes einzelnen Filmbildes erkennen, die auch dem Prinzip der Mnemotopie als räumliche Überlagerung von Zeitschichten zu Grunde liegt.72 In der Hinwendung zur Hieroglyphe als einem komplexen, deutungsbedürftigen Zeichen lässt sich die Bevorzugung einer ontologischen Vielfalt erkennen, die sich implizit gegen monolithische Vergangenheitsdeutungen stellt Die Skepsis im Hinblick auf Prozesse der retroaktiven Sinnstiftung ist daher auch bei der Annäherung an die hermetische Topologie der Ruinen leitend gewesen. Im Prolog bleibt der Ortssinn ungedeutet, die historische Bürde der Ruine lediglich angedeutet, wie sonst kaum bei Ruineninszenierungen der Folgezeit, die großenteils der narrativen Veranschaulichung der Conquista oder der nationalen Rückversicherung dienten. Wie Enrique Florescano im Hinblick auf das Nachleben der Conquista in Mexiko anführt, sei der folgenschwere Kulturkontakt im Sinne einer »fisura irreparable entre el pasado pagano y el presente colonial«73 auch in der Monologisierung des Geschichtsbewusstseins zu sehen: Desde el momento en que las antiguas tradiciones indígenas fueron vertidas al náhuatl o al español, perdieron su significado múltiple, la riqueza interpretativa y el colorido que las iluminaba cuando eran declamadas y explicadas por los especialistas de la lectura pictográfica indígena. […] La introducción del alfabeto europeo convirtió así al antiguo texto indígena polivalente en un texto de sentido único […]. A partir de esta ruptura fundamental el indígena ya no pudo leer, recordar o explicar sus textos según sus propias categorías escriturales y mentales, sino que su propia tradición histórica comenzó a ser explicada en un lenguaje extraño, regido por otras categorías mentales.74 Die Ruinen im Prolog von Que viva México! bieten hingegen kaum Angriffsfläche für explizite Gedächtnisnarrative, die in Mexiko seit den historischen Aufbereitungen im 17. Jhd. unternommen wurden – sie bleiben Vorlagen dialogischer Vergangenheitsdeutungen die nur mittels grober didaktischer Simplifizierungen zu Gedächtnisstützen der gesamten mexikanischen Nation werden konnten.Eisensteins Betrachtung der mexikanischen Realität durch das Prisma der Gleichörtlichkeit lässt eine Vielfalt der Ver70 71 72

73 74

Vgl. Bloch 1981, 69. Foucault 1994, 752. Die Begriffsprägung der vertikalen Montage, die Eisenstein als Filmtheoretiker 1940-1941 einführt, zollt der Simultaneität in der syntagmatisch strukturierten Kunstform des Films Tribut und verweist neben der Überblendung von Bild und Ton auch auf die Dynamik einer Filmeinstellung so wie sie in den Bildkompositionen und Bewegungslinien der Malerei als kinestatisch darstellender Kunst enthalten ist (vgl. Eisenstein 2006, 260f). In der Darstellung der Mnemotopie wäre das Prinzip der vertikalen Montage als unmittelbare Assoziation des Gezeigten mit einem abwesenden historischen Kontext zu verstehen. Florescano 1987, 161. Florescano 1987, 170f.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

gangenheitsdeutungen zu. Auf diese Weise wird das indigene Mexiko, das dem zeitgenössischen Fusionspathos zum Trotz ein fundamentaler gesellschaftlicher Bestandteil bleiben sollte, aus den Zwängen einer imperativ gesetzten Rassenmischung gelöst. An den vergangenheits- und zukunftsoffenen Ruinen von Que viva México! wird eine mexikanische Nation im Sinne eines pluralistischen Verbunds der Many Mexicos imaginiert in dem ein Nebeneinander von heterogenen cadres sociaux und eine entsprechende Polyphonie der Vergangenheitsrekurse konstitutiv bleiben.75 Möglicherweise war es auch die konsequentere Lektüre der restaurierten Ruinenfelder, denn im Gegensatz zum Templo Mayor oder der Pyramide von Cholula, architektonischen Veranschaulichungen von »historical superimpositions«76 , waren Chichén Itzá und Teotihuacán neuere Instandsetzungen, deren Unberührtheit von christlicher Symbolik mitunter auch die Sehnsucht nach einem präkolumbinischen Purismus weckte. Die einzige kulturelle Praxis, die im Prolog als ein »farewell rite to the ancient Maya civilization«77 inszeniert wird, ist bezeichnenderweise ein Begräbnisritual, eine symbolische Zäsur, die die fortwährende Reaktualisierungsdynamik des Mnemotops erst in Gang setzt. Eisenstein verzichtet darauf, den Untergang der Maya in einem offen ausgetragenen Kampf mit den spanischen Invasoren zu versinnbildlichen und verweist mit dem allegorischen Trauerzug, seinem Leitmotiv des ewigen mexikanischen Kreislaufs treu bleibend, auf eine nicht näher bestimmte télé-histoire, die die Machtwechsel und Kolonisierungsprozesse vor der Ankunft der Spanier mit einschließt. Die Ruinen werden so zum Träger einer diffusen Trauer und eines historischen Bewusstseins, das sich mit einem überhistorischen Totengedenken als ursprünglichste Form der Erinnerungskultur überschneidet, in welchem sich ein achronologisches Nebeneinander von Diskontinuitätserfahrungen verorten lässt. Angesichts dieser mnemischen Gleichörtlichkeit weicht die konventionelle Vorstellung von einer linear und konsekutiv strukturierten Geschichte Aby Warburgs Intuition der Geschichte als einer »achronologisch geschichteten Materie«78 , eines »Phantommodells«, wie Georges Didi-Huberman im Dialog mit Warburgs Kulturmodellen schreibt, »in dem die Zeit nicht auf die akademische Weitergabe des Wissens projiziert wird, sondern ihren Ausdruck in einer zwanghaften Wiederkehr und einem geisterhaften »Nachleben« der Formen findet«79 . Die »kosmische Außerzeitlichkeit der aztekischen Pyramiden«80 , die Eisenstein in autobiographischer Retrospektion anführt, deutet auf genau dieses Modell des anachronistischen Nachlebens hin.

75

76 77 78 79 80

Bachtins den Musikwissenschaften entlehnter Begriff der Polyphonie im Sinne einer Kopräsenz heterogener Stimmen in den Romanwelten Dostojewskis sei im Kontext der mnemotopischen Beiträge zum kulturellen Gedächtnis als Vielfalt von Vergangenheitsbezügen und -deutungen verstanden. Der Herausbildung eines national gültigen Sinnkanons im postrevolutionären Mexiko entgegenlaufend, liegt Eisensteins Werk eine dialogische Offenheit im Sinne einer Ambiguität möglicher Rückbezüge zu Grunde, die nach der Aufkündigung der Verbindlichkeit nationalistischer Diskurse nach der Época de Oro wieder stärker zum Tragen kommt. Somaini in Eisenstein 2016, 33. Eisenstein zit. in Lindgren 1952, 27 Warburg 2010, 633. Didi-Huberman 2010, 30f. Eisenstein 1998, 487.

103

104

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Die Betrachtung der mexikanischen Gegenwart als einer Vielfalt der Zeitregime, die medientheoretisch als Gegenüberstellung auf Einstellungsebene analysiert werden kann lässt sich konsequent weiterführen. Eine vertikale Montage von Zeiten kann man mit Eisenstein letztlich auch in jedem Element der Einstellung sehen, das, gegenständlich oder beseelt, als Resultat einer Überblendung von Zeiten dechiffrierbar ist. Diese kultursemiotische Vorstellung von einer prinzipiellen Kontamination war eine Erkenntnisformel, die Eisensteins Mexikoerfahrung prägte. Eine bedeutende Übersetzung seiner Ideen zu historischen Überblendungen fand er im Werk Idols behind altars auf den mexikanischen Kontext übersetzt„ einer Studie der Anthropologin Anita Brenner zum mexikanischen Synkretismus, die er im Vorfeld zu den Dreharbeiten einer intensiven Lektüre unterzogen hatte. Brenners filigrane Analyse latenter und archetypischer Bedeutungszusammenhänge der mexikanischen Kultur wurde zu Eisensteins »spiritual scenario«81 bei der Entstehung des Films: Without the need for translation or a story sequence, Mexico resolves itself harmoniously and powerfully as a great symphony or a great mural painting, consistent with itself, not as a nation in progress, but as a picture, with certain dominant themes, certain endlessly repeated forms and values in constantly different relationships and always in the present, like the Aztec history-scrolls that were also calendars and books of creed.82 Wie dieser repräsentativen Passage zur kulturarchäologischen Methode von Annita Brenner zu entnehmen ist, übernahm Eisenstein dem Kompositionsprinzip einer filmischen Symphonie auch die synkretistische Erkenntnisformel der lokalen Antike im christlichen Gewand. Sein Interesse an der latenten Gegenwart scheinbar abgelöster Traditionen und an einer »disimulación idolátrica«83 konnte er während der Dreharbeiten im Austausch mit zahlreichen mexikanischen Eingeweihten ausbauen.84 Als konkrete Verweisorte auf die zahlreichen latent vorhandenen Spuren der mesoamerikanischen Vorgeschichte rückten daher die Ruinen als Objekte einer »resistance against transience«85 in Eisnesteins Blickfeld und wurden zur idealen Projektionsfläche seiner

81 82 83

84

85

Geduld/Gottesman 1970, 5. Brenner 1967, 15. Florescano 1987, 185. Unter dieser begrifflichen Prägung fasst der Autor jene kulturelle Praxis zusammen, die dem Phänomen des bautismo retrospectivo diametral entgegengesetzt ist weitestgehend Anita Brenners tiefenstruktureller Formel von Idols behind altars entspricht. Während in Prozessen des bautismo retrospectivo eine neue Hausmacht sich der bestehenden Symbole durch kulturelle Einverleibung bemächtigt, bezeichnet die disimulación idolátrica gerade das latente Fortbestehen eines indigenen Substrats, eines tabuisierten Kultes oder einer scheinbar ausgelöschten topologischen Ordnung. Florescano veranschaulicht das Phänomen ausführlich am emblematischen Beispiel des Kultes um die Jungfrau von Guadalupe, deren Popularität sicherlich auch der camouflierten Anbetung der aztekischen Göttermutter Tonantzin geschuldet ist. Zu den zahlreichen mexikanischen Dialogpartnern während der Dreharbeiten, die entscheidenden Einfluss auf das Projekt genommen hatten, hat Eduardo de la Vega Alfaro (1997) eine Monographie veröffentlicht, in welcher die Übertragung des mexikanisches Muralismus auf das Filmprojekt als ästhetisches Leitprinzip detailreich diskutiert wird. Somaini in Eisenstein 2016, 61.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

»nostalgia for the imperishable«86 – jenes »ce qui ne passe pas dans ce qui passe«87 , wie der Regisseur es selbst in einem verwandten Kontext bezeichnet hatte. Mit Hilfe der Ruinen konnte Eisenstein eine hypoleptische Anknüpfung an eine absolute und damit zeitlose Vergangenheit vornehmen, und ein Mexikobild entwerfen, dessen vielfältige Ursprünge einem einheitlichen Gedächtnis trotzen und eine nationale Identitätskonkretheit problematisieren. Sein Bewusstsein für eine universalhistorische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen macht die Ruinen-Mnemotopie von Que viva México! daher zu einer Erinnerungsvorlage für kritische Betrachtungen gemeinschaftsstiftender Prozesse allgemein: Die télé-histoire behält in der Ruine zwar eine materielle Präsenz in der Gegenwart, bleibt jedoch nicht domestizierbar und lässt sich einer nationalen Gedächtnisklammer nicht unterordnen. Wie Antonin Artaud es nach seinem einschneidenden Aufenthalt bei den Tarahumara 1936 treffend fasste, kreierten die Architekten und Bildhauer der mexikanischen Antike mit den Monumenten und Götzenbildern auch chronologische Schatten, die sich als Duplikate des Ursprünglichen in die Zukunft erstrecken.88 In Eisensteins Prolog entziehen sich diese als Schatten der Zeit verstandenen ontologischen Unschärfen der Ausdeutung des historical man (Mircea Eliade) und bewahren eine vorbegriffliche Indeterminiertheit. Die offene Mnemotopie der Ruine behält sich somit die Funktion vor, auf Lakunen des kulturellen Gedächtnisses hinzuweisen ohne sie auszufüllen. Jenseits der formalen Kontinuitätsstiftung bleibt Eisensteins Ruine in ihrer Funktion der chôra ein mnemisches signifiant vide, ein leeres Projektionsfeld für historische Narrative, so dass er als Außenstehender anderen Regisseuren die Befüllung der Leerstellen überlässt. Während Eisenstein die spanische Invasion außen vor lässt, wird die Archäotopie während der Época de Oro zum wichtigsten Verweisort der Conquista, worin man die Ironie einer Kolonisierung der Vergangenheit sehen kann, die sich ausgerechnet in der Veranschaulichung der kolonialen Vergangenheit etabliert. Die filmisch reproduzierte Conquista fixiert eine zentrale lateinamerikanische Erfahrungsschwelle, einen historischen Umbruch, der das mestizische Selbstbewusstsein in der postrevolutionären Neuausrichtung in besonderem Maße prägt und spaltet. Doch in der Conquista als Beginn eines kontinentalen Mnemizids liegt gerade eine bedeutende gesellschaftliche Prädisposition für die Entstehung von Mnemotopen als Kompensationsformen von Gedächtniskrisen, die mit dem Gedenken an einen radikalen Wissensverlusts aufgefangen werden.89 Die mit der Conquista begründete Unverfügbarkeit der Vorvergangenheit scheint, wie mit Wolfgang Iser diskutiert, die Faszination der modernen mexikanischen Gesellschaft für jene unfaßbaren Gewißheiten angespornt zu haben, die sich in der Ruine als kulturelle Krypta begraben finden. Eisensteins Einfühlung in die mexicanidad und seiner Geschichte beginnt folgerichtig mit der Kontemplation der Ruine und greift nebenbei auf jene kreolische hantise des origines zurück, die in vielen nationalen Betrachtungen der Ruine zum Ausdruck kommt, wie anhand der nachfolgenden Filmbeispiele gezeigt wird.

86 87 88 89

Ebd. Ebd. Vgl. Artaud 1979, 14. Im Original : »Toute vraie effigie a son ombre qui la double« (Artaud 1964, 17). Vgl. Pethes 2013, 18.

105

106

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

3.2.

La noche de los mayas (1939)

3.2.1.

Terror der ewigen Wiederkehr

Während bei Eisenstein das ortsbasierte Gedächtnis noch als eine »facultad preintelectual«90 aufscheint, die Joan Ramon Resina im Rückgriff auf Pierre Nora in modernen Gedächtnisorten aufspürt, lässt sich in Chano Uruetas 1939 veröffentlichtem Film La noche de los mayas beobachten, wie die Ruine in einer kinematographischen Epopöe im Dienste einer didaktischen Vergangenheitsrekonstruktion inszeniert wird. Im Bedürfnis der unverfügbaren Ursprünge der mexikanischen Nation habhaft zu werden wurde die Ruine mit historischen Narrativen angereichert, in welchen die Ortslogik einer kollektiven Lesbarkeit überführt und zum Referenzort des traumatischen Kulturkontakts zwischen einem präkortesianischen Mexiko und den spanischen colonos erklärt wurde. Für das Memory-Building spielte die Ruine als kollektiver Stepppunkt jedoch auch eine weitere Funktion aus, die das Trauma der Conquista als Sinnfolie für moderne Diskontinuitäten rezent hielt: In der Gegenüberstellung eines als ursprünglich-unverfälscht inszenierten Weltbildes der Maya, die in unmittelbarer Nähe zu ihren entweihten und ruinierten Tempelanlagen leben, und eines durch hombres blancos repräsentierten modernen Mexikos, die zu einer anhaltenden Profanation des Urtümlichen beitragen, wurde die Ruine zu einem geläufigen Symbol für die Koexistenz und Unvereinbarkeit heterogener Zeitregime. Emilio García Riera belegt bei seiner Betrachtung von La noche de los mayas die Akzentverschiebung in der mexikanischen Dichotomie der civilización y barbarie als historische Modeerscheinung in der kreolischen Konstruktion der mexicanidad mit folgendem Kommentar: La historia del film abunda en el tópico prestigioso de la noble comunidad primitiva perturbada por la llegada del hombre blanco con salacot, pues se trata de ilustrar de nuevo el contraste entre la bondad de lo »natural« y la maldad de lo »artificial«. El racismo al revés en que el indigenismo suele convertirse, y que preside la conducta de los dioses, hace que éstos suspendan las lluvias cuando ese hombre blanco sospechoso sólo por serlo de las peores maldades, seduce a la pobre indígena enamorada. […] Sólo el sacrificio de los amantes contenta a los dioses, que prodigan al fin la benéfica lluvia. Una leyenda, sí, pero una leyenda vista en algún momento como ejemplo de la reivindicación del alma indígena y muy de acuerdo con los gustos de la intelligentsia mexicana de entonces.91 Obwohl die Handlung im 19. Jhd. und damit lange nach der Conquista situiert ist, optiert Chano Urueta in seinem Film für eine Verquickung der Maya als »noble comunidad primitiva« mit einer präkortesianischen Szenerie, die mit den Ruinenlandschaften von Chichén Itzá und Uxmal topologische Referenzpunkte zugewiesen bekommt. Wie bereits in El signo de la muerte bietet Urueta dem Zuschauer in der Exposition des Films eine mnemotopische Synthese der Zeiten an, in welcher die Pyramide von Kukulkan

90 91

Resina 2005, 81. García Riera 1992, 103.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

nach der großen caesura historica zum Gewährsträger einer unvordenklichen mexikanischen Ära wird, die das historische Substrat des Sujets bildet: Hace más de dos mil años, »en el tiempo de que no se lleva cuenta«, los Mayas habían fundado un poderoso imperio que se extendía desde Centro América hasta la península de Yucatán. En el siglo XIX huyendo del dominio de los blancos muchos grupos de ellos fueron a refugiarse en los bosques. Aislados de la civilización y conservando los restos de las costumbres y la religión de sus antepasados, ya mezclada con vagas ideas cristianas, viven »el tiempo de su noche«. En uno de estos pueblos escondidos en la selva, se desarrolla la acción de esta obra, que no pretende ser un documento científico. Es una historia humana y viva de amor y de dolor. (2:09-2:54) (Abb. 12) Mit der ausdrücklichen Absage an eine historische Belastbarkeit nimmt sich das Drehbuch von Antonio Mediz Bolio die Objektivierung eines kollektiven Gedächtnisbildes vor und bestätigt die Gegenüberstellung der mexikanischen Urbevölkerung und der okzidentalen Eindringlinge als persistentes Oppositionsparadigma der Nachwelt. Dass Chichén Itzá bei der Ankunft der Spanier sich bereits im Zustand der natürlichen Verwahrlosung befand, fällt hierbei didaktischen Verzerrungen92 zum Opfer, die eine Diskrepanz zwischen kollektiven Gedächtnisfiktionen und der historischen Überlieferung bei der Konstruktion der Mnemotope unterstreichen. In der kinematographischen Imagination wird der Kulturkontakt als eine formative Folgelast historischer Diskontinuitäten93 in Chichén Itzá eingebettet und erhebt die Ruine zu einer sinnstiftenden mnemischen Folie für Phänomene der »interkulturellen Brechung«94 in der posttraumatischen Zeit. Die mnemotopische Funktion der Ruine als eine Art ortsbasierte Ereignismatrix mit dauerhafter Anwendungsmöglichkeit, wird in La noche de los mayas mit alternativen historischen Dokumenten, nämlich den Maya-Chroniken unterlegt, die der Autor des Drehbuchs Mediz Bolio, der sich als Brücke zu den »últimos vástagos« der »antiquísima raza«95 verstand, persönlich in die spanische Sprache übertragen hatte. Die Textsammlungen, die auf den apokryphen Maya-Propheten Chilam Balam zurückgehen und allesamt nach der Conquista und der weitläufigen Evangelisierung Amerikas verfasst worden sind, gehören zu den wenigen zugänglichen Quellen einer verschollenen memoria indígena und stellen Verschriftlichungen der oral tradierten indigenen Kosmogonie aus dem 18. Jhd. dar. Der Titel des Films, der eine zyklische Zeitvorstellung der Maya andeutet, wird komplementiert durch ein eschatologisches Geschichtsverständnis, das in Chilam Balam de Chumayel, einem dieser kompilatorischen Werke, enthalten ist: Während die Kamera in der Exposition des Films durch die menschenleere Tempelanlage von Chichén Itzá schwenkt, wird mit »¡Ay! Será el anochecer para nosotros cuando vengan … los blancos« (3:28) die Melancholie des Ortes anhand einer erfüllten Prophezeiung expliziert und den Ruinen eine zeitliche Tiefendimension verliehen, die

92 93 94 95

Zu den »creative distortions« und der »speculative imagination« in der historischen Sinnstiftung schreibt White 1966, 131f. Vgl. Wehr 2003, 383. Wehr 2003, 399. Mediz Bolio, xiii.

107

108

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

an die kosmische Tragik der amerikanischen Weltwende gemahnt. Mit »Esta tierra de los Mayas – volverá a nacer« (3:35) wird Chichén Itzá als ein Ort etabliert, in welchem die Utopie einer indigenen Renaissance rezent gehalten wird. Die Repetition historischer Begebenheiten wird im Film etwa drei Jahrhunderte nach dem ersten interkulturellen Kontakt nachvollzogen und das traumatische Vordringen der »extranjeros de barbas rubias, los hijos del sol, los hombres del color claro«96 in die indigene Kultursphäre in einem historical reenactment reproduziert (Abb. 13). In der Prophezeiung wird auch das titelgebende indigene Selbstverständnis fundiert, eine dunkle Zeit zu durchlaufen, sowie ein chiliastisches Telos der kollektiven indigenen Erlösung gesetzt, in dem sich unterschwellig auch christologische Transzendierungsvorstellungen eines unvorteilhaften irdischen Daseins amalgamiert finden.

Abb. 12: Topologische Gedächtnisstiftung als Verbalisierung der Raumlogik. Die Gegenwartsbestimmung der Ruinen-Mnemotopie im Hintergrund wird mit der Textüberblendung aktualisiert. Abb. 13: In einer nachzeitigen Figuration der ›Conquista‹ dringt ein berittener und bewaffneter Fremder in die Tempelanlage ein.

In der zyklisch konzipierten Zeitenfolge wird ein als indigen markiertes Geschichtsverständnis, das in der Ruine eingelassen ist, durch Repetitionen und Archetypen reguliert, so wie es Mircea Eliade im Hinblick auf die traditionellen Gesellschaften und eine »archaic ontology« untersucht.97 Der Mythos der ewigen Wiederkehr, der eine Resistenz gegen die konkrete Verzeitlichung des Ortes ausspielt, lässt die Ruine zu einem Mnemotop des Überhistorischen werden, in welchem die Zeitlichkeit suspendiert ist und eine Wiederanknüpfung an die Ursprünge favorisiert wird: For traditional man, the imitation of an archetypal model is a reactualization of the mythical moment when the archetype was revealed for the first time. Consequently, these ceremonies too, which are neither periodic nor collective, suspend the flow of profane time, of duration, and project the celebrant into a mythical time, in illo tempore.98

96 97 98

Zit. aus Chilam Balam de Chumayel in Paz 2016a, 244. Eliade 1959, xii. A. a. O., 76.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Bedeutsam ist allemal, dass in der Gegenüberstellung der Kosmovisionen, die sich in La noche de los mayas als prinzipielle mexikanische Dichotomie aktualisiert findet, die Kopräsenz unvereinbarer Zeitregime bestehen bleibt und die Ruine als Erfahrungsraum sich überschneidender Zukunftsperspektiven und sich überlappender Paradigmen des Geschichtsbewusstseins99 zurückgeführt wird auf eine zum überhistorischen Mythos geronnene Conquista. Der vage Vergangenheitsbezug »in illo tempore«, der bereits im Prolog des Films als »en el tiempo de que no se lleva cuenta« aufscheint, ist damit nicht nur das Temporaldeiktikum des Unvordenklichen par excellence, sondern auch die imperative Formel gegenwartsbestimmender Vergangenheitsrekurse, mit der ein latentes Kulturerbe in die mexikanische Selbstverständigung eingespeist wird. Hält man sich jedoch die kollektive Aufbereitung der Ruinen als ortsbasierte Vergangenheitspflege vor Augen, liegt es nahe, in der nationalbewussten RuinenMnemotopie auch das unüberwindbare Moment einer Regression zur Katastrophe als Ursprung der mexikanischen Nation zu erkennen. Hierauf deutet auch die kulturelle Fixierung auf die Conquista als Wunde der mexikanischen Biographie, denn in der Prominenz der Ruine als Ort einer mythisch überdeterminierten Vergangenheit ist stets auch eine zyklische Repetition einer traumatischen Erfahrungsschwelle enthalten. Indem eine folgenschwere Epochenwende durch eine explizite Auseinandersetzung der Zivilisationen an einer Ruinenstätte imaginiert wird, scheint mit der Conquista auch der allgemeingültige Beginn einer historischen Stilllegung eingeläutet zu werden. Uruetas Arbeit an der Ruinen-Mnemotopie lädt den Zuschauer ein, den Kostümfilm nicht nur als Rückholung der Vergangenheit, sondern auch als Präfiguration der nationalen Zukunft zu begreifen. Auf diese Weise mach sich der Film eine formative Eigenschaft des kulturellen Gedächtnisses zu Nutze, die Carlos Fuentes paradoxe Inversion »[i]maginar el pasado, recordar el futuro«100 sehr treffend beschreibt. La noche de los Mayas bedient die Logik einer besorgniserregenden Wiederkehr aus indigenistischer Perspektive und projiziert die monumentale Brucherfahrung der Conquista in das 19. Jhd. Hierbei wird eine Fixierung auf ein kollektives historisches Trauma potenziert von einem zyklischen Zeitverständnis. In der reinszenierten Unterlegenheit der Naturreligionen lässt sich mit Mircea Eliade von einem »Terror of history«101 oder der zwanghaften Wiederkehr historischer Ereignismuster sprechen, die Chano Urueta mit Hilfe der Ruinen ausformuliert. Bereits in der Exposition des Films fusioniert die Alltagszeit in Yukatan mit einer mythisch überformten Geschichtskultur, die über Jahrhunderte hinweg die Gegenwart mit historischen Archetypen aus einer absolut gesetzten Vergangenheit konditioniert. Die Vergangenheit, die im Film mit Hilfe der Ruinen als fixierte Schauplätze fataler Ereignisse heraufbeschworen wird, legt ein Nachleben der großen mexikanischen Erfahrungsschwelle offen, das sich in der Simulation ehemaliger Ereignisse Bahn bricht. Freilich wird der topologische Archetyp um zeitgemäße Transformationen angepasst, denn es handelt sich nun um einen jungen Chicle-Baron, der die spanische Rüstung gegen den Tropenhelm eingetauscht hat und mit seinem Gefolge lokaler chicleros (Gummizapfer) in das fiktive Maya-Dorf Yuyumil in der Nähe der 99 Vgl. Koselleck 1995, 10. 100 Fuentes 1994, 55 und wieder aufgegriffen in Fuentes 2011, 56. 101 Vgl. das abschließende Kapitel IV in Eliade 1959, 139-162.

109

110

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Tempelanlagen vordringt. Doch die strukturelle Analogie zur Conquista als historisches Masternarrativ ist unverkennbar und wird in der Reiteration des Deflorationsmotivs manifest, bei dem der Okzident immer wieder in eine urtümliche mexikanische Statik vordringt. So wie die archaische Kosmologie durch den Einfall des hombre blanco in der Ruine profaniert wird, wird auch die indigene Jungfrau Lol von Miguel, dem »joven señor extranjero« (23:15), im Schutz der Nacht entehrt (43:53-45:20) (Abb. 14). Der Einzug der berittenen chicleros in die Tempelanlage ist hierbei eine Sequenz, mit der die historischen Distanzen zum ursprünglichen Ereignis auf besonders eindrückliche Weise überbrückt werden. »Mire jefe«, behauptet der Übersetzer Apolonio, während die Expedition am Templo de los Guerreros rastet, »aquí se acaban los blancos. Allá en el monte los indios que nunca quisieron servirlos« (4:07). Hier kann man aufgrund der Polysemie von ›acabar‹ bereits den Tod des weißen Eindringlings als fatalen proleptischen Wink erkennen. In erster Linie offenbart sich aber in der Raumaufteilung des Films, der zufolge ein nicht indigener hombre blanco – Mestize, Kreole oder Tourist – in einer Tempelruine stets fremd bleiben muss, auch eine Disjunktion mexikanischer Identitätsstränge sowie eine Trennung der Gedächtniskollektive in Sieger und Besiegte (Abb. 15).

Abb. 14: Das missachtete Tabu der Rassenmischung, das in ›La noche de los mayas‹ angedeutet wird, korrespondiert mit dem nachhallenden Ideologem einer Schändung der mexikanischen Antike. Manuel als Widergänger der Konquistadoren verkörpert das konstitutive mexikanische Phantasma der spanischen Invasion. Abb. 15: Noch im ruinierten Zustand spiegelt die Pyramide die rassen- und geschlechtstypische Rangordnung im Mexiko nach der ›Conquista‹ wieder, in welcher der jagende weiße Mann auf ein »timid little Indian girl« (Mraz 2009, 138) als exotisches Lustobjekt herabblickt.

In der Empathie für die Besiegten scheint La noche de los mayas Reinhart Kosellecks gedächtnistheoretisches Axiom zu bestätigen, das auch dem mexikanischen Indigenismus zu Grunde liegt: »Mag die Geschichte – kurzfristig – von Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten.«102 102 Koselleck 2013, 68. Der ideologische Stempel des Indigenismus aus Eisensteins Filmsymphonie findet sich tendenziell insofern auch in der Sympathielenkung von La noche de los mayas wieder, als das Opferbewusstsein eines indigenen, in seinen Traditionen verhafteten Mexikos trotz mate-

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Die in der Ruine eingelassene télé-histoire, die nurmehr in unscharfen Gedächtnisbildern zirkuliert, erhält vor diesem Hintergrund die Autorität einer nicht assimilierbaren altamerikanischen Eigengesetzlichkeit und die indigene Eigenzeit wird als prämodernes Enigma zum nationalen Patrimonium erhoben. Ein einheimischer Fremdenführer und Übersetzer ergänzt die Einschätzung der isolierten, jedoch unbezähmbaren indigenen Schwundbestände: »Dicen que hace un siglo hicieron una gran guerra. Como perdieron, se fueron pa’lla y levantaron sus pueblos. Todo eso dizque para ser libres« (4:15). Entgegen der Erwartung einer historischen Betroffenheit und einer Selbstinklusion in den Rahmen einer memoria indígena, verrät die historische Perspektivierung des Fremdenführers eher die Bewusstseinsprägung eines Außenstehenden, der nur über ein vages historisches Hintergrundwissen verfügt und die indigene Resistenz – möglicherweise die gescheiterte Rebellion unter Jacinto Canek im 18. Jhd. – als undifferenziertes Echo der Vergangenheit transportiert. Obwohl von den kulturellen Masternarrativen der Zeit diskreditiert, wird in La noche de los mayas eine Unvereinbarkeit gesellschaftlicher Kollektive innerhalb der mexikanischen Gesellschaft präsent gehalten und eine problematische Fusion der Kulturen im 19. Jhd. dargestellt, als wäre sie im 20. Jhd., zum Zeitpunkt der Uraufführung, bereits einer landläufigen Mestizisierung Mexikos gewichen. Chano Uruetas Mexikobild der antithetisch zueinander stehenden Bevölkerungsteile, die Eisensteins Sarape-Metapher als konfliktreiche Koexistenz auszuspielen scheint103 , wird also in eine Vergangenheit transponiert, in welcher die idealtypische Gegenüberstellung eines indigenen und eines kreolischen Mexikos noch keinen Konfrontationskurs zu den zentralisierten Diskursen der Rassenmischung eingeschlagen hatte und die Ausbeutung des naiven mexikanischen Wilden die Schutzfunktion einer überwundenen Zeit für sich beanspruchen konnte.104 Von dieser zeitlichen Verlagerung geschützt, kann die Unvereinbarkeit der Zeitregime, die der Anthropologe Johannes Fabian in Time and the Other (1983) unter den Schlagworten denial of coevalness und allochronism prominent gemacht hat, voll zur Geltung kommen.105 Gleichwohl wird die Conquista als eine der bedeutendsten »Errieller Unterlegenheit und düsterer Zukunftsperspektiven im modernen Mexiko eine moralische Überlegenheit ausspielen kann. Hierin liegt auch ein rekurrentes Leitmotiv der mexikanischen Filmkultur seit dem verschollenen Pionierwerk El suplicio de Cuauhtémoc (1910), das zum Beispiel in Janitzio (1935), Rosa de Xochimilco (1939) nachverfolgt werden kann und später auch in Maria Candelaria (1943), La perla (1947), Tizoc (1957), oder Macario (1960), sowie als Kernthese des Kompilationswerks Raíces (1953) das noch zu behandeln sein wird. Ein bedeutendes Unterscheidungskriterium zu Eisenstein wäre natürlich in der dezidiert transnationalen Instrumentalisierung der RuinenMnemotopie zu sehen, die in der mexikanischen Filmproduktion in der Regel zu Zwecken einer nationalen Konsolidierung und Einheitsstiftung bemüht wurde. 103 Wie viele andere Regisseure der Época de Oro zollte Chano Urueta dem sowjetischen Regisseur Anerkennung und bot sich sogar für die Fertigstellung von Que viva México! an (vgl. de los Reyes 1987, 93). 104 Vgl. de los Reyes 1987, 189-194. 105 Vgl. Fabian 2014, 25-35. Die Verweigerung einer Gleichzeitigkeit bildet auch eine Kernthese in Walter Mignolos seminaler Studie The Darker Side of Renaissance, wo die Verlagerung der kulturellen Alteritätsempfindung aus der räumlichen in die zeitliche Dimension als Begleiterscheinung der europäischen Kolonialzeit nachvollzogen wird. Eine Gleichörtlichkeit mag in der globalen Welt seit der Conquista vorliegen, doch die unüberwindbare Grenze des Kulturkontakts besteht fortan

111

112

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

fahrungsschwellen, die einmal institutionalisiert oder überschritten, gemeinsame Geschichte stiften«106 , einmal mehr als historischer Meilenstein bestätigt, von dem aus ein »divorcio de la memoria« (Florescano) ad libitum in die Nachzeitigkeit projiziert werden kann. Die ewige Wiederkehr der Vergangenheit, die sich in La noche de los mayas als aktualisierte Wiederholung der Geschichte vollzieht, markiert die Koexistenz diametral entgegengesetzter Gedächtniskollektive die statisch bleiben müssen, da eine gegenseitige Durchdringung im kulturellen wie im biologischen Sinne im Konzept einer mexikanischen Prämoderne im 19. Jhd. noch ein Tabu dargestellt hatte: […] el director Chano Urueta y su guionista, el poeta yucateco Antonio Mediz Bolio, ven a los indígenas como hombres superiores, especie de seres sagrados que se oponen acertadamente a la mezcla de razas. Los indios sólo esperan el dictado de los dioses para sacudir la inercia, rebelarse y efectuar el desquite contra los blancos que los han sojuzgado.107 Das Fortschreiben der mexikanischen Geschichte im Rückgriff auf bewährte Erkenntnismuster und die imperativ gesetzte Rückführung auf die Conquista als historische »Urerfahrung«108 trägt zu einer Verengung historischer Wahrnehmungsmöglichkeiten und einer Überraschungsresistenz bei, die eine mnemische stabilitas loci der Ruinen in die Nachzeitigkeit projiziert, darin eingeschlossen eine fixe Sieger-Opfer-Dichotomie. Die Unüberwindbarkeit divergenter mexikanischer Gedächtnisstränge, die sich in La noche de los mayas in der Tabuisierung der interkulturellen Approximation und einer tödlich sanktionierten Lust an der Exotik widerspiegelt, markiert auch die Unüberbrückbarkeit kultureller Differenzen, die eine Polarisierung der mexikanischen Bewusstseinsprägungen vorantreiben. Als monumentales Aide-Mémoire einer traumatischen Zeitenwende, verharrt die Ruine so in ihrer Funktion als ein »Winkel der Erde«, der paradigmatisch für einen »Culturkampf« der Weltanschauungen steht, den Aby Warburg an heiligen Orten der Pueblo-Indianer in New Mexico untersucht hatte.109 In der filmischen Übersetzung wird dieser »Culturkampf« in Mexiko jedoch von den epistemologischen Bedenken des reverse ventriloquism überschattet, wenn man sich vor Augen führt, dass die Repräsentation der indigenen Protagonisten auf nationale Filmstars (Estela Inda/Arturo de Córdova) entfiel und die Vernakularsprache der Maya durch ein gestelztes Spanisch nachempfunden wurde, mit dem eine kulturelle Heterogenität suggeriert werden sollte. Im publikumsnahen Übersetzungsprozess weit zurückliegender Zeitschichten lässt sich das Ausleuchten telehistorischer Schatten als eine Sinnfixierung fassen, die sich gegenüber einer eher vorbegrifflichen und polyvalenten mexikanischen Kontinuitätsanalyse bei Eisenstein einer »dictature exclusive de la parole«110 weicht, die Antonin Artaud nach seiner Mexiko-Erfahrung in der monologischen

106 107 108 109 110

im Zeitempfinden voneinander geschiedener Gedächtniskollektive (vgl. Mignolo 1998, 104 und 125-160.) Koselleck 2013, 36. Ayala Blanco 1968, 195. Koselleck 2013, 34. Vgl. Warburg 2010, 521. Artaud 1964, 48.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Sinnstiftung konventioneller Theaterformen angeprangert hatte. In der Ruine als topologisch fixierte Zivilisationsscheide kann man in La noche de los mayas somit eine gebrochene Mnemotopie erkennen, in welcher sich die Gedächtnisbilder verzweigen und die »eingeborene Antike« (Beat Wyss) als ein prinzipiell anderer, mit der mexikanischen Moderne in Konflikt stehender Identitätspfad inszeniert wird. Die Qualität der RuinenMnemotopie als Agentur der Vergegenwärtigung vergangener Zeiten hält so eine Konfliktfront divergenter Welt- und Zukunftsbilder aufrecht, die man mit Jan Assmann als Polarisierung des historischen Kanons begreifen kann, in welchem die Unterscheidung zwischen einem antiken und modernen Mexiko in der Ruine als identitätsstiftender Kristallisationspunkt zugespitzt wird.111 Zweifellos stellte die Ruine als Mnemotop ein notwendiges topologisches Projektionsfeld für die neu entflammte hantise des origines im postrevolutionären Mexiko dar. Für den Zeitgeist einer mestizischen Gemeinschaftsbildung war es hierbei typisch, dass die Kategorien des Endo- und Exogenen in Filmen wie La noche de los mayas oder Deseada einer Überidentifikation mit dem indigenen Anderen entspringen. Die postrevolutionäre »recuperación del indio«, schreibt der Historiker Luis Villoro 1950 in seiner Studie zum mexikanischen Indigenismus, sei im Grunde eine »recuperación del propio Yo« gewesen, mit der ein mestizisches Bewusstsein sich gegen die Vereinnahmung des kollektiven Gedächtnisses von außen abzuschotten versuchte, wie anhand der nationalistischen Obertöne in Raíces ausführlicher untersucht wird.112 In Folge dieser schwierigen kollektiven Formationsvorlage wird die Eigengesetzlichkeit der Ruine mit übernatürlichen Qualitäten eines hieros topos versehen in dem sich ein eschatologisches Geschichtsverständnis des indigenen Mexikos gegen die Kontingenzen moderner Geschichte festsetzt. Der Terror der ewigen Wiederkehr, der eine kollektive Fixierung auf ein unbewältigtes historisches Trauma befördert und als ein rituell über die indigene Welt hereinbrechender Terror imaginiert wird, wird in so gearteten Ruinenlektüren von der mexikanischen Filmindustrie als Schmiede des kulturellen Gedächtnisses institutionalisiert und perpetuiert.

3.2.2.

Die Ruine als Mystery Theatre

Obwohl der Ruinen-Mnemotopie von La noche de los mayas eine nachhaltige Brechung des kollektiven mexikanischen Gedächtnisses innezuwohnen scheint, wird das Archäotop als architektonische Spur einer Vorvergangenheit zu einem genuinen Erkennungszeichen der mexikanischen Semiosphäre und bildet einen Gedächtnisanker des mestizischen Selbstverständnisses. Ein topologischer Authentifizierungsversuch des Vergangenheitsnarrativs war sicherlich, wie im Vorspann signalisiert wird, in der Wahl der Originalschauplätze gegeben, implizit also im Verzicht auf artifizielle Kulissen und Studioaufnahmen. Wie der Schriftsteller Xavier Villaurrutia 1939 gleich nach der Premiere behauptet: »La acción de la obra tiene el vasto, magnífico escenario en que las ruinas mayas son una realidad, pero también un símbolo«113 . Die Symbolik war dabei 111 112 113

Vgl. J. Assmann 2013, 124. Vgl. Villoro 1998, 272. Zit. in García Riera 1992, 103.

113

114

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

sicherlich in der Aura der Vergänglichkeit gegeben, mit der das Nachleben eines indigenen »Gegenkanons«114 im mexikanischen Nationalbewusstsein verankert und partiell für Prozesse der kollektiven Selbstmodellierung einverleibt wurde. In zahlreichen Annäherungsversuchen, wie etwa dem nicht mehr erhaltenen El suplicio de Cuauhtémoc (1910), hatte sich die mexikanische Kinematographie von der ersten Stunde an befleißigt, das indigene Substrat der Nation einzufangen und von einer anthropologischen Warte aus zu durchdringen. Eisensteins Interesse an der mexikanischen Kulturgeschichte, die Bevorzugung von Laienschauspielern, aber auch sein Interesse an der mystischen Partizipation des modernen Menschen an einer universal gültigen Vorvergangenheit markierten dabei einen bedeutenden Einschnitt, wenngleich viele seiner Nachfolger, darunter auch Chano Urueta, die ontologischen Unschärfen der téléhistoire nach eigenem Gutdünken auflösten. Die unverfügbare memoria indígena blieb eine ambivalente Identifikationsvorlage, die für eigene didaktische Zwecke vereinnahmt wurde. Als besonders verzerrend kann bei der kinematographischen Praxis des reverse ventriloquism der Rückgriff auf das probate Prinzip des star system gesehen werden, das die filmischen Narrative der ästhetischen Plausibilisierung und der Aura des Dokumentarischen beraubten. Die Going-Native-Attitüde des kinematographischen Indigenismus, die Dolores del Rio in Ihrer Rolle als María Candelaria 1943 zum Emblem eines rechtschaffenen, jedoch vom Schicksal gebeutelten indigenen Mädchens werden ließ, räumte der in Hollywood gescheiterten Schauspielerin in Deseada (1951) eine Deutungshoheit bei der Auslegung indigener Überzeugungen und materieller Relikte ein, darin freilich inbegriffen die instandgesetzten Kultstätten der mexikanischen Antike.115 Die Repräsentation der memoria indígena glich dabei nicht selten einer forschen Befüllung kultureller Leerstellen durch außenstehende Enthusiasten einer Writing Culture, die im audiovisuellen Medium des Films dem historischen Imaginären freien Lauf lässt, um einer indigenen Mystik Tribut zu zollen. Aus gewohnt kritischer Distanz betrachtet Jorge Ayala Blanco daher das Gros der mexikanischen Filme mit indigener Thematik recht schonungslos als kurzsichtige und die Realität stark verzerrende Repräsentationen des Anderen: Las cintas indigenistas, o que incluyan en su argumento personajes indígenas, aparte de las deficiencias extrictamente artísticas, incurren globalmente en los errores más comunes de la ideología de la clase media y de la retórica oficial en turno. Fomentan una idea del indio como ser sui generis, sin analizar verdaderamente las causas de su marginalismo social, de su atraso, de su incultura, de su arraigo a tradiciones atávicas y de la explotación que habitualmente sufre.116 Man kann in der Diatribe des Filmkritikers genauso sehr wie im Film selbst eine klare Tendenz zum kulturellen othering erkennen, mit dem ein letztlich unergründliches Mexiko aus okzidentaler Perspektive konsolidiert wird. Für die Untersuchung des Memory-Building im Film ist es hier aber ausreichend, auf die kinematographische

114 115 116

Vgl. J. Assmann 2013, 128f. Deseada wird im abschließenden Kapitel zu späteren Verarbeitungsformen der RuinenMnemotopie eingehender untersucht. Ayala Blanco 1968, 193.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Vereinnahmung der indigenen Semiosphäre hinzuweisen, mit der die krisenhafte Unverfügbarkeit der lokalen télé-histoire kompensiert wurde. War bei Eisenstein Chichén Itzá noch im Sinne einer markierten epistemologischen Leerstelle zu verstehen, mit der auf ein latentes mexikanisches Kontinuum hingewiesen wurde, wird diese bei Chano Urueta mit Narrativen ausgefüllt, die einer archaischen Ontologie als Kontrastfolie zur mexikanischen Moderne habhaft zu werden versuchen. Der Ruinenkomplex wird in dieser Form der national orchestrierten Vergangenheitsbemächtigung zu einem »Mystery Theatre«117 , in welchem der Zuschauer in ein sagenumwobenes raumzeitliches Kontinuum naturreligiöser Welterfahrung befördert wird. Mit Aby Warburg kann man hier auch von einer wörtlich genommenen »Gespenstergeschichte f[ür] ganz Erwachsene«118 sprechen bei der das Nachleben der unverfügbaren altamerikanischen Antike in Form einer ornamentalen, durch magische Sinnstiftung gezeichneten Gegenwelt suggeriert wird. Dem als göttlichen Fluch empfundenen Problem einer anhaltenden Dürre in Yuyumil wird in La noche de los mayas aus einer emischen Perspektive mit providenziellen Lösungsansätzen begegnet, bei der die indigene Gemeinschaft die Ruine als heiligen Ort zur rituellen Anbetung göttlicher Instanzen aufsucht (Abb. 16). Die Instrumentalisierung der Feste und Riten des mexikanischen Indigenen im Sinne einer »mescolanza de elementos tomados de diferentes períodos históricos«119 , verdichtet sich in der Kontinuierung eines alternativen Gedächtniskollektivs zu einer rituellen Kohärenz, mit der der zeitliche Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart gegen einen »ontischen Abstand«120 eingetauscht wird, der die fortschreitende Gegenwart in einer gleich bleibenden zeitlichen Entfernung zur Conquista als indigene Götterdämmerung und Auflösung einer absolut gesetzten Urzeit behält (Abb. 17). In der Ruine als hieratischer Ort, in dem ein Gedächtnis an alternative Weltdeutungen abgerufen wird, findet sich der Indigene auf eine entsprechend pittoreske Pose degradiert, in welcher häufig eine ästhetische imitatio von Que viva México! festgemacht wurde und die Emilio García Riera kritisch zusammenfasst als una retórica visual exaltadora de lo estático y meramente fotogénico [la que] engendró muchas veces rostros indígenas impasibles, poses graves y supuestamente significativas en elaborados juegos de composición con nopales, magueyes y bellas nubes del cielo mexicano captadas gracias a filtros poderosos. Se querría sugerir con esas imágenes, con el culto al hieratismo, el imperio de lo inmemorial: lo eterno es lo que no se mueve.121 Eine formale Anlehnung an Eisensteins Hieratismus war bei Urueta sicherlich gegeben. Die Rolle der Ruine als hieros topos, als metaphysisch überformter Dialograum der Menschen mit ihren Göttern, wird in der filmischen Rekonstruktion eines statischen

117 118 119 120 121

Quetzil E. Castañeda zit. in: Joseph/Rosenstein/Zolov 2001, 21. Zit. in Didi-Huberman 2010, 7. Florescano 1999, 260. J. Assmann 2013, 93. García Riera 1987b, 195.

115

116

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Abb. 16: In der Ruine als Zielpunkt religiöser Wallfahrten wird eine Brücke zur Urzeit geschlagen, in welchen die Tempelanlagen Machtzentren und Institutionen eines formativen altamerikanischen Traditionskanons darstellten. Abb. 17: Die Maya als Komparsen in einem Film, der die Naturreligion aus dem Blickwinkel eines kreolischen Indigenismus für ein folkloristisches Spektakel mit Federschmuck verwertet.

indigenen Gedächtnisses nicht nur zur Linderung der existenziellen Not bemüht, sondern auch für Alltagsentscheidungen und Segnungen bevorstehender Eheschließungen herangezogen. Es ist dabei bezeichnend, dass die vermeintlich naive Unterlegenheit der Naturreligion auch in der Logik eines kontingenten Zeitregimes gültig bleibt: Das Gnadengesuch der Verlobten repräsentiert durch eine Urne, die Uz und Lol auf einer »piedra santa« (10:12) in der Ruinenlandschaft positionieren, wird durch eine zufällige Schicksalsfügung von dem spanischen Eindringling Miguel zerstört, der letztlich auch einen Keil zwischen die beiden treibt, da seine Sehnsucht nach exotischer Liebe von Lol erwidert wird (Abb. 18).

Abb. 18: Der fremde Unruhestifter, dessen »okzidentale Ignoranz« (Wehr 2003, 383) zur ungewollten Zerstörung lokaler Devotionalien führt. Als Figuration des spanischen Ikonoklasmus wird der zerbrochene Krug sowohl von kontingenten als auch providenzielle Zeitbegriffen beansprucht. Der tollpatschige Zufall, bei dem Miguel die Urne zerstört, wird aus einer indigenen Perspektive gelesen als schlechtes Omen.

Die metahistorische Gedächtnisstiftung der Ruinen, die dem gebeutelten indigenen Kollektiv Halt gibt und Trost spendet wird in La noche de los mayas durch eine Plausibilisierung der mystischen Sinnstiftung in der mexikanischen Moderne sichergestellt.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Die indigene Eigengesetzlichkeit wird als konträre Weltaneignung angedeutet, etwa durch eine alternative Zeiterfassung durch Knoten (1:30:54), einen Vertragsschluss, der in die Rinde eines heiligen Baums als archaische Form der schriftlichen Urkunde geritzt wird (15:47), vor allem aber durch den als Aberglauben inszenierten astrologischen Fatalismus122 , die der ehrfürchtige Übersetzer dem neugierigen Fremden im Ruinenfeld stellvertretend für alle unerklärlichen Bräuche als »brujería« (11:32) entschlüsselt. Nun scheint es möglicherweise abwegig, im exklusiven, ja esoterischen Traditionskanon der von Urueta inszenierten Stammesgesellschaft ein Identifikationsmuster für die postrevolutionäre mexikanische Nation zu suchen. Und doch markiert das fiktive Yuyumil als Insel der mexikanischen Exotik eine exotische Identifikationsvorlage, die auch im 20. Jhd. neben den Narrativen der kulturellen Synthetisierung fortbestand und ein eigenwilliges Nachleben der als Protochristentum gelesenen indigenen Antike darstellte. Die von einer mythischen Aura umgebene »nobleza indígena«123 , die nach der systematischen Zerstörung eines urtümlichen lokalen Gedächtnisses beschworen wurde, bildete bereits seit dem 17. Jhd. das wackelige Fundament auf dem der kreolische Patriotismus sich von der spanischen Herrschaft zu lösen versuchte.124 Die Unvereinbarkeit der Kosmovisionen blieb als kulturelles Erbe der Unabhängigkeit im mexikanischen Nationalbewusstsein bestehen und formierte auch zu Zeiten der Época de Oro ein hartnäckiges Kontinuum, von dem die Verlagerung des Sujets in das 19. Jhd. kaum ablenken konnte und letztlich, wie es Aurelio de los Reyes formuliert, ein schwach reflektiertes mexikanisches Selbstverständnis offenlegt: Es manifiesto el deseo de aproximación y comprensión de los indios y de su cultura; sobre todo en La noche de los mayas encontramos una inquietud antropológica, frustrada por la no superada posición de clase de sus realizadores, expuesta con claridad en la incomprensión del significado de la brujería en la cultura indígena, pues la presentan como un cúmulo de supersticiones sobre la naturaleza; quizá en este ángulo es donde más claramente se manifiesta la limitación de sus realizadores para una aproximación antropológica.125 Jenseits der epiphänomenalen Aufbereitung des autochthonen Kultursubstrats, wirft der Film einen sentimental-paternalistischen Blick auf die indigene Welt und verrät die unverkennbaren Züge einer kinematographischen Musealisierung, mit der ein vom astrologischen Determinismus markiertes Zeitverständnis einem breiten Publikum vermittelt wird, wobei die scharfen Kontraste innerhalb des mestizischen Selbstbewusstseins durch eine Verortung der »aboriginal memories«126 in den Ruinen und in einer unmittelbaren Vergangenheit unterstrichen werden. Den epistemologischen Restriktionen des reverse ventriloquism und einer problematischen Repräsentation des indige-

122 Vgl. Eliade 1959, 132. 123 Florescano 1987, 167. 124 Zum patriotismo criollo als Fundament der nationalen mexikanischen Selbstverständigung vgl. Florescano 1987, 256-280. An Edmundo O’Gorman und Enrique Florescano anknüpfende Thesen finden sich auch im Essay »La invención de México« von Aguilar Camín 1993, 19-54. 125 de los Reyes 1987, 194. 126 Said 2000, 178.

117

118

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

nen Paralleluniversums zum Trotz, vollzieht sich in der Ruinenlektüre des Films eine bedeutende mnemotopische Überlagerung der Zeiten, in welchem die Archäotopie nicht nur ein monumentales Signum der Vergangenheit in der kollektiven historischen Erinnerung darstellt, sondern auch einen religionsbildenden Ortscharakter wachhält, der in der mexikanischen Gegenwart die Nachfrage nach einer lokalen Antike und insbesondere nach einem als Okkultismus missverstandenen Weltbezug aufzufangen versucht. In der fiktiven Fortschreibung der nationalen Geschichte wird aus der Perspektive einer mestizischen Subjektivität, die von einer modernen Sehnsucht nach einem mystisch verbrämten Anfänglichen konstituiert wird, eine Identifikationsbrücke zu einer stammesgesellschaftlich isolierten indigenen Welt geschlagen. Im Hinblick auf die Elaboration der Ruine als eine Mnemotopie der zunächst diametral entgegengesetzten und der sich in der mestizischen Retrospektive überlagernden Gedächtniskollektive, ist es hierbei bezeichnend, dass die Einverleibung der »estigmas de la derrota«127 ausgerechnet in Yukatan vorgenommen wird, wo eine vereinnahmende kulturelle Synthese von der autochthonen Bevölkerung besonders scharf zurückgewiesen wurde und die mestizische Formel einer mexicanidad »[c]astellana y morisca, rayada de azteca«128 wohl am wenigsten zutraf. Der yukatequische Kastenkrieg (1847-1901), eine opferreiche Konfrontation zwischen der Mayabevölkerung und der als fremd empfundenen Hausmacht der kreolischen Hacienda-Besitzer, bezeugt den historisch gereiften Separationswunsch der Maya, der auf der Annahme einer prinzipiellen kulturellen Unvereinbarkeit basierte und eine zivilisationsgeschichtliche Trennlinie seit der Conquista aufrecht hielt. Als historische Sinnfolie muss das Gebot der Unvereinbarkeit die Produzenten von La noche de los mayas auch zu einer tragischen Auflösung der interkulturellen Liaison zwischen Lol und Miguel bewogen haben, die in den Ruinen ihren Anfang und auch ihr Ende nimmt: Zur Besänftigung der Götter, die das Leid der Maya durch eine akute Wassernot zuspitzen, soll die abtrünnige Lol, Tochter des Häuptlings Yum Balam, geopfert werden, womit Chano Urueta an den Mythos des Menschenopfers anknüpft, der ein besonders pikantes Individuationsprinzip des indigenen Traditionskanons markiert und an die zentrale Zivilisationsscheide seit den Legitimationsdiskursen der Conquista gemahnt. Bei der Wallfahrt Yum Balams zu den heiligen Stätten des indigenen Horizonts wird mit Aufnahmen von geographisch weit auseinanderliegenden Stätten von Uxmal und Chichén Itzá zunächst eine generische Ruine konstruiert (Abb. 19). Ähnlich generisch ist auch die Vergegenwärtigung eines mythischen Weltbegriffs, dem zufolge das Wohl und Wehe des indigenen Kollektivs nur durch Menschenopfer reguliert werden kann. Dass es sich um einen Extrempunkt der präkolumbinischen Identität handelt, wird schließlich in der rituellen Ansprache deutlich, die Yum Balam an seine ahnungslose Tochter Lol und indirekt auch an das unbedarfte Filmpublikum richtet: Vamos a rogar a los Dioses de nuestros antepasados en estos antiguos templos, para que nos den su misericordia … si es preciso, iremos hasta el Santo Cenote, que es la casa del Señor de la lluvia. En el tiempo de que no se lleva cuenta, allí ofrecían su vida por el

127 128

Augé 2003, 27. Ramón López Velarde zit. in Pérez Montfort 2008, 130.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

pueblo las doncellas que eran puras, y allí las que habían pecado eran castigadas, para que merecieran ir por el agua a ver la cara del sol. (1:32:00) In der verzweifelten Anknüpfung an die Bräuche der Urahnen greift der zum Christentum konvertierte Mayahäuptling auf das »magische Prestige der Ursprünge«129 als Ultima Ratio zurück, um einen tabuisierten archaischen Mythos wiederzubeleben, der jedoch unzweideutig von christlicher Rhetorik, der Sünde und Barmherzigkeit, eingenommen ist.130 Nebenbei wird mit der Darstellung Lols als einer unbefleckten Jungfrau auch die angedeutete Deflorationsschande kaschiert, die sich in der wörtlich genommenen Maya-Nacht ereignet haben soll. In einer finalen Überlagerung tragischer Koinzidenzen wird der in Chichén Itzá umherirrende Miguel von dem mutmaßlich gehörnten Uz mit der Flinte erschossen, die ihm der fremde Nebenbuhler zuvor persönlich geschenkt hatte. Lol, die bereit ist den tödlichen Hieb von ihrem zögernden Vater zu erhalten, stürzt schließlich freiwillig in den Cenote Sagrado, nachdem sie den bereits leblosen Körper Miguels zum letzten Mal umarmt hat. Die Opferstätte von Chichén Itzá wird als Bestandteil eines unbewohnten Mnemotops auch im übertragenen Sinne zu einer kulturellen Krypta, die im Film als ein Symbol für das unzugängliche Speichergedächtnis der lokalen Antike angedeutet wird. Gleich nach ihrem tödlichen Sprung in die heiligen Wasser des Cenote, aus dem Archäologen im 20. Jhd. zahlreiche Opfergegenstände und Gebeine von Menschen und Tieren geborgen haben131 , wird mit Hilfe der Montage ein kinematographischer Deus ex Machina Moment inszeniert und ein plötzlicher Wolkenbruch kann sich endlich über der Tempelstätte entladen, womit sich die Kausalitäten eines rituell beeinflussbaren astrologischen Fatalismus bewahrheiten, die in einer indigenen »memoria mítica« fortbestehen.132 Ähnlich wie im Falle der nachgespielten Variation des Conquista-Motivs, wird im repetitiven Zugriff auf zu Mythen erstarrte Erklärungsmuster der mexikanischen Geschichte auch ein Bild des übernatürlichen indigenen Kosmos nachempfunden, das von einer »ikonischen Konstanz« gezeichnet ist, die Hans Blumenberg für die »Haltbarkeit« der Mythen unabhängig von lokalen oder epochalen Bedingungen verantwortlich macht.133 Die unnachgiebigen Götter scheinen durch das Opfer besänftigt zu sein und in einer topologischen Letztbegründung werden die Ruinen von La noche de los mayas schließlich zur Bühne eines Mysterienspiels, in dem altamerikanische Überlieferungen in moderner Übersetzung ihre ungebrochene Gültigkeit für sich einfordern. Als eine Art mnemonischer Wunderblock, den Quetzil Castañeda in den kreativen aber hochgradig spekulativen Lesarten erkennt, mit denen die klassische Archäologie sich den antiken Ge-

129 Eliade 1988, 30. 130 Zur Funktion lebendiger Mythen als »Einbrüche des Heiligen (oder »Übernatürlichen) in die Welt«, so etwa auch in der Vorstellung von Cargo Kulten nach Konfrontationen archaischer Ontologien mit der Moderne, schreibt Eliade in seiner Studie Mythos und Wirklichkeit (Eliade 1988, 11-29, hier 16). 131 Hinweise darauf sind in dem drei Jahrzehnte später entstandenen Dokumentarfilm Centinelas del silencio (1971) enthalten. 132 Zum »resurgimiento de la memoria mítica« in Mexiko als Gegenpol zum »pensamiento occidental« schreibt Florescano 1991b, 237-246. 133 Vgl. Blumenberg 2006, 165.

119

120

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Abb. 19: Der Glaube an einen unbarmherzigen »Señor de la lluvia« löst eine zeitresistente altertümliche Opferdynamik aus. Chac Mool, ein gemeinhin als Opferaltar interpretiertes Relikt, wird im Film symbolisch zwischen Yum Balam und seiner Tochter Lol positioniert.

dächtnisspuren in der mexikanischen Archäotopie anzunähern versuchte134 , wird das Ruinen-Mnemotop zu einer Gedächtnislandschaft stilisiert, in welcher untergegangene Mythen wieder lebendig werden und die Kosmologie der letzten »hombres rojos« eine zweifelhafte, ja tragische kinematographische Beglaubigung erhält. Die Tragik wird umso einleuchtender, wenn man sich an José Vasconcelos metaphorisches Verständnis des Cenote als eines Gedächtnisspeichers erinnert, der eine fortschrittsresistente und damit dem Untergang geweihte indigene Verfassung symbolisiert: ¡Cuán distintos son los sones de la formación iberoamericana! Semejan el profundo scherzo de una sinfonía infinita y honda; voces que traen acentos de Atlántida, abismos contenidos en la pupila del hombre rojo, que supo tanto, hace tantos miles de años, y ahora parece que se ha olvidado de todo. Se parece su alma al viejo cenote maya, de aguas verdes, profundas, inmóviles, en el centro del bosque, desde hace tantos siglos que ya ni su leyenda perdura.135 Im Medium des Films sieht man jedoch, dass diese totgesagten Legenden nach wie vor ihre Geltung haben und sich gegen das Sendungsbewusstseins des ästhetischen Monismus stellen, den Vasconcelos als einer der bedeutendsten Visionäre des mexikanischen Nation-Building im 20. Jhd. propagiert hatte. Mag der Film aus heutiger Sicht auch als »kitschig-dramatische[s] Liebesdrama mit folkloristischen Wurzeln«136

134 135 136

Castañeda 1995, 186f. Vasconcelos 1966, 37. Teibler-Vondrak 2011, 151.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

erscheinen, mag er von der Nachwelt auch als »ambicioso monumento a la cámara petrificada«137 verunglimpft worden sein, so handelt es sich dennoch um das Dokument einer nachhaltigen »reivindicación del alma indígena«138 , in dem sich selbst in Zeiten der postrevolutionären Homogenisierungsbestrebungen und Fusionszwänge eine mexikanische Disparität der historischen Horizonte und Traditionsströme139 herauskristallisieren konnte. Indem Chano Urueta die mythischen Überlieferungsbestände reaktiviert, belebt er auch die Ruinen als kulturelle Krypten wieder und deutet die Bewohnbarkeit eines alternativen Gedächtnisses an, die Aleida Assmann bei der Herauslösung eines Funktionsgedächtnisses aus dem Totalhorizont der Gedächtnisarchive untersucht.140 Zweifelsohne ist ein Maya-Märchen eine fragwürdige Identitätsvorlage für ein Nationalkollektiv, das 1940 bereits mehr als 22 Millionen Mexikaner unterschiedlichster Herkunft und Bewusstseinsprägung umfasste. Und dennoch präsentiert der vielfach preisgekrönte Film gerade den urbanen Zentren der mexikanischen Gesellschaft die Lesbarkeit einer indigenen Subjektivität im Dialog mit ihrer Eigenzeit und bietet damit eine Identifikationsschablone, die sich aus einer Wiederverwertung historischer Gemeinplätze speist. Dass die historische, und in diesem Fall sicherlich auch geographische Distanz mit Hilfe eines Films überbrückt werden kann, bezeugt jedenfalls das anhaltende Interesse am Indigenismus als Reservoir einer kulturellen »Gegenkanonisierung«141 , das im abschließenden Kapitel zur Mnemotopie der Ruine bekräftigt werden soll, in dem ein Ausblick auf die Ruine im mexikanischen Kino nach der Blütezeit angeboten wird. Wenn Jan Assmann die »Kontinuität der Kultur […] in einer progressiven Variation«142 erkennt, muss man auch die kinematographische Aufbereitung der Ruinen-Mnemotopie in La noche de los mayas als eine der zahlreichen Kontinuierungen einer »magische[n] Kultur, die von angemessenen Hieroglyphen gestiftet wird«143 anerkennen, die Artaud ausgehend vom mexikanischen Beispiel gegen eine Kultur ohne Schatten ins Feld geführt hatte. Dass Chano Urueta dabei nur einer von vielen Filmregisseuren war, die ein mexikanisches Selbstverständnis anhand von Ruinenfeldern als Mnemotopen von nationaler Relevanz konstituierte, sieht man noch 14 Jahre später in Raíces von Benito Alazraki. Auch in der Spätphase der Época de Oro boten Ruinen Projektionsflächen für eine staatstragende mémoire patrimoine. Auch wenn die Ruine immer die Einladung bereithalten mag, einen Blick in den tiefen Brunnen der Vergangenheit zu werfen, entpuppte sich ihre filmische Verwertung im Cine de oro häufig als Arbeit am zeitgenössischen Nationalbewusstsein.

137 138 139 140

Ayala Blanco 1968, 381. García Riera 1992, 103. Vgl. J. Assmann 2013, 92. Zum kulturellen Funktionsgedächtnis und den Prozessen der Legitimation, Delegitimation und Distinktion schreibt A. Assmann 1999, 138f. 141 J. Assmann 2013, 129. 142 J. Assmann 2013, 281. 143 Artaud 1979, 14.

121

122

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

3.3. 3.3.1.

Raíces (1953) Mnemotope hinter der cortina de nopal

Die nationale Selbstvergewisserung Mexikos der 1940er Jahre, die auf eine Homogenisierung des nationalen Geistes mit Hilfe einer zentralisierten Kulturproduktion setzte, hatte in der Folgedekade bereits ihren Zenit überschritten und bestand in einer Nachahmung kommerzieller Erfolgsmodelle und der Kultivierung bewährter (Selbst-)Darstellungskonventionen. Die »natural ties« und die »beauty of Gemeinschaft«144 , die Anderson in der Herausbildung des modernen Nationalbewusstseins untersucht, hatten nach der anfänglichen Blütezeit der postrevolutionären Einheitsstiftung ihre ersten Risse bekommen, doch die kreolische Sehnsucht nach einer Selbstverortung in der präkolumbinischen Vergangenheit blieb in den populärkulturellen »fictions dominantes«145 bestehen. In den Gedächtnisvektoren des konservativen mexikanischen Nationalismus der Zeit lässt sich jedenfalls beobachten, wie die Exaltation des indigenen Substrats auch in den 50er Jahren zur Herausbildung der mexikanischen Identität bemüht wurde. Im Zuge der zunehmenden historischen Entwurzelung, die nach Émile Durkheim auch José Ortega y Gasset in seiner kulturpessimistischen Studie La rebelión de las masas (1929) untersucht hatte, waren die mexikanischen Ruinen wichtige Identitätsanker in den rapide wachsenden urbanen Massenkulturen – sowohl im internationalen Dialog, als auch in Prozessen der nationalen Identitätspflege. Die Bedeutung der Ruinen als Gedächtnisträger und kulturhistorische Fossilien ist auch in Raíces als einer der ersten unabhängigen Filmproduktionen sichtbar, die der Regisseur Benito Alazraki 1953 der Weltöffentlichkeit präsentierte. Im Einklang mit offiziellen, staatstragenden Diskursen, stützt sich der Film dabei in ideologischer Hinsicht auf das Legat von José Vasconcelos und in ästhetischer auf die Darstellung des mexikanischen Unvordenklichen in Eisensteins Que viva México!. Während das indigene Andere in der homogenen Kategorie der raza cósmica vereinnahmt wird, erkennt man in der Solidarisierung mit einem marginalen Mexiko jenen »culto al hieratismo«146 auf den sich viele mexikanische Nachahmer Eisensteins laut Emilio García Riera kapriziert hatten. Eine weitere formale Kontinuitätslinie zur unvollendeten Filmsymphonie Eisensteins bestand im Kompositionsprinzip eines Episodenfilms mit durchgehendem Leitmotiv: War es bei Eisenstein noch die Dialektik von Tod und Wiedergeburt, die einem ewigen mexikanischen Kreislauf zugeführt wurde, ist es bei Alazraki die Rückbesinnung auf das indigene Mexiko in dem die moderne mexikanische Nation die titelgebenden Wurzeln verortet. Die Verweisfunktion der Ruine auf ein unverfügbares indigenes Gedächtnis findet sich wiederum bereits im Prolog und wird in der letzten Episode La potranca um die nationalistische Vorstellung einer Unverfügbarkeit des Indigenen für

144 Anderson 1991, 143. 145 Rancière 2008, 84. Jacques Rancières Vorstellung von fiktiven aber massenmedial beglaubigten Gemeinplätzen, mit welchen historische Lakunen befüllt werden, wird bei de Orellana 1983, 12 im mexikanischen Kontext erörtert. 146 García Riera 1987, 195.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

ausländische Eindringlinge komplementiert. War bei Eisenstein die Ruine noch das Signum einer diffusen mexikanischen télé-histoire, wird im heroischen Prolog von Raíces die Ruine als Symbol einer fortbestehenden indigenen Archaik ausbuchstabiert: En nuestro México, bajo la misma luz, sobre la misma tierra, coexisten tradiciones y formas arcaicas con los elementos más avanzados de la vida moderna que hoy se mezclan sin cesar, formando el rostro vigoroso del pueblo. Parte vital de esta mezcla son los indios mexicanos que hace muchos siglos levantaron este paisaje de piedra. Los indios son verdaderamente las raíces del México que germina. Veremos ahora sobre rostros vivos semejantes a estos, expresadas las virtudes intrínsecas de la raza: La abnegación, el sentido de la belleza, el estoicismo y la dignidad. (2:22-3:24) Die Verklärung der mexikanischen »superposición histórica«147 wird aber schon bald von einem nationalistischen Kalkül einkassiert, das die mexicanidad einmal mehr hinter einen stolz zur Schau getragenen Indigenismus rückt. Sowie die verborgenen Zeitschichten Mexikos sich in der Ruine zu erkennen geben, wird auch eine intrinsische mexikanische Essenz mit Hilfe der Rekurse auf eine glorreiche Vergangenheit konstruiert und dem historischen Bewusstsein des modernen Mexikaners eingeimpft. Dem Interesse an den Ursprüngen ist bei Alazraki dabei vordergründig die Lust an einer monumentalen Vergangenheit eingeschrieben, die mit den architektonischen Wahrzeichen der mexikanischen Moderne in ein korrespondierendes Verhältnis gerückt wird. Bei der Verschränkung der Ruinen von Teotihuacán und Tula mit modernen Emblemen der Hauptstadt, werden der Palacio de Bellas Artes oder die Torre Latinoamericana in den Rang von Tempelanlagen eines modernen Staatskultes gehoben (Abb. 20/21).

Abb. 20: Symbole urbanen Fortschritts. Die modernen Tempelanlagen der Hauptstadt, darunter der monumentale Palast der Schönen Künste und die noch unvollendete Torre Latinoamericana. Abb. 21: Patriotisch eingehegte Prämoderne. Die Sonnenpyramide von Teotihuacán wird gerahmt vom Nationalsymbol des Nopal-Kaktus.

Was in der heroischen Selbstinszenierung mit unverkennbaren Zügen der nationalistischen Filmhymnen Leni Riefenstahls jedoch erkenntlich wird, ist das diffuse historische Bewusstsein, das den Ruinen entlockt wird: Bereits im Prolog von Raíces wird 147

Paz 2016a, 240.

123

124

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

die Ruinen-Mnemotopie für ein nationales Funktionsgedächtnis instrumentalisiert, in welchem eine Linie zwischen dem monumentalen historischen Erbe und der gegenwärtigen Größe Mexikos gezogen wird. Der Kamerablick auf die Pirámide del Sol, die in ehrerbietiger Untersicht hinter einer Kaktushecke in den mexikanischen Himmel emporragt, erinnert im Zusammenhang mit einem dominant nationalistischen Memory-Building an José Luis Cuevas Kritik an der staatlichen Regulierung der Kunst. die der mexikanische Maler wenige Jahre nach Erscheinung des Films vorgebracht hatte. Mit der später viel zitierten Strategie der »cortina de nopal« greift Cuevas auf das bedeutende Nationalsymbol zurück, das bis heute auf der mexikanischen Fahne zu sehen ist, und beschreibt eine Art ›nationalistische Sichtschutzhecke‹, die den Dialog mit fremden oder unpatriotischen Kunstströmungen ausblendet. Als Vertreter der Generación de la Ruptura gehörte Cuevas einer Speerspitze der mexikanischen Künstler der 50er Jahre an, die ihren Verdruss an der ideologischen Enge der mexikanischen Kulturpolitik äußerten und den zwanghaften Optimismus im nachrevolutionären Mexiko in Frage stellten. Eine Schlüsselrolle kam in dieser Revision dem Umgang mit dem indigenen Mexiko als nationalem Anderen zu, das eine Art sakrale Tiefenstruktur der mexikanischen Gesellschaft bildet. Cuevas ideologisches Fadenkreuz richtete sich auch auf die patriotische Selbstvergewisserung in Filmen wie Raíces, die die indigene pré-héritage als Fundament einer überhöhten »grandeza y […] pureza de la raza mexicana« vorausgesetzt hatten, »que es la única que tiene el predominio de la verdad en el mundo«148 . In der Kritik an der mexikanischen Kulturindustrie wird die Época de Oro als ein kulturelles Mausoleum verstanden und der Hang zur folkloristischen Selbstdarstellung der »Escuela Mexicana«149 als chauvinistische Nebelkerze entlarvt. Die Auseinandersetzung mit Ruinenfeldern als Trägern einer memoria indígena wird, so besehen, nur im Rahmen eines Falso Indigenismo vorgenommen und, wie es Stephan Scheuzger in seiner Kontextualisierung von Raíces anführt, einer »verzerrenden Folklorisierung durch den mexikanischen Film« ausgesetzt. Im »snobistischen Indigenismus von Kaffeehausliteraten und Touristen aus dem Norden«150 , den der Gewerkschaftsführer Vicente Lombardo Toledano in dem Episodenfilm erkennt, vollziehe sich eine Isolation der indigenen Vergangenheit, die zu schützen sich Alazraki mit seinem populistischen Film zur Aufgabe macht. Raíces, schlussfolgert Scheuzger war der misslungene Versuch einer unabhängigen Produktion, einen anderen Weg in der filmischen Darstellung des Indigenen zu gehen, nachdem sich in den vierziger Jahren in den Werken von Emilio Fernández das cineastische Bild des Indigenen stereotypisch in der zurückgebliebenen Einfachheit eines pittoresken Landlebens verfestigt hatte. Der Höhepunkt dieser Tendenz war mit María Candelaria (1943) erreicht worden.151

148 149 150 151

Cuevas 1988, 86. Cuevas 1988, 87. Vgl. Scheuzger 2009, 496. Ebd.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Scheuzgers Einschätzung, der zufolge das indigene Substrat im Selbstverständnis des defensiven Nationalismus für eine Musealisierung der Erinnerungsvorlagen bürgt, weist auf das doppelte Antlitz der Ruinen-Mnemotopie in Raíces hin: Die Ruinen sind einerseits gepflegte Relikte der Vergangenheit und bedienen die Logik einer kalten, vom Staat protegierten Mnemotopie. Im internationalen Vergleich spielt die Ruine in Raíces jedoch auch die Funktionslogik einer heißen Mnemotopie aus bei der der fremde Zugriff auf das sakrale indigene Substrat einen defensiven Nationalismus auf den Plan ruft. Die an der Ruine erlebbare mexikanische Defizienzerfahrung wird so zu einem affektiven Schutzmechanismus gegen politische und wirtschaftliche Übergriffe von außen.

3.3.2.

Verteidigung eines Identitätsbollwerks

Blickt man auf den Kulturbetrieb, der von der cortina de nopal geschützt wurde, erkennt man im Falle von Raíces, dass die mnemische Energie nationaler Wahrzeichen gerade nicht für erläuternde Vergangenheitsrekurse benutzt wurde, sondern zur Erzeugung historischer Emotionen, die weitestgehend den Wunschbildern der gegenwärtigen Kulturpolitik unterstellt waren. An der nationalistischen Selbstbehauptung, die in Raíces propagiert wird, lässt sich nachvollziehen, wie die nationalen Friktionen durch eine schärfere Kontrastierung mit prinzipiell fremden Nicht-Mexikanern geebnet werden: Eine blonde amerikanische Anthropologin, die die Ignoranz der Tzotziles um San Juan Chamula in Chiapas in der Episode Nuestra Señora mit primitiven Thesen und angestaubten Methoden wie der Schädelvermessung unter Beweis stellen möchte, ist dabei in gleichem Maße eine Maßnahme zur Homogenisierung und Domestikation der nationalen Vielfalt gewesen wie die thesenhafte Gegenüberstellung der indigenen Welt am Existenzminimum und einer reichen, amerikanisierten Moderne in der Episode Las vacas. Besonders eloquent für die protektionistische Haltung des Nationalfilms im Hinblick auf die indigene Eigenart ist jedoch La potranca, die vierte und letzte Episode des Films, in welcher Alazraki ein indigenes mexikanisches Selbstbewusstsein an die totonakische Ruinenstätte El Tajín in Veracruz bindet (Abb. 22). Die Ruine als Mnemotop wird hier zwar ebenfalls als kontinuitätsstiftender Ort aus einer als absolut empfundenen Vergangenheit präsentiert, jedoch wird der Gegenwartsbezug in stärkerem Maße als bei Eisenstein narrativ expliziert. Die Episode wird protagonisiert von einem nicht näher spezifizierten europäischen Archäologen Eric, der das Ruinenfeld erkunden will (Abb. 23). Die unterkomplexe Typisierung eines Fremden mündet nahezu unweigerlich in eine Sujetfügung, die von den Ruinen als einem Reservoir archetypischer historischer Narrative Gebrauch macht und das gängige Motiv einer fremdländischen männlichen Lüsternheit ins Zentrum rückt. Während der schweißtreibenden Forschungsarbeit, die der Archäologe einsam im Ruinenfeld verrichtet, hört man folgenden inneren Monolog: Claro que mi profesión todavía me interesa. Un europeo como yo, ¿cómo no va a maravillarse ante estas viejas piedras del Tajín, hervidas en el trópico desde hace siete siglos? Pero antes seguramente me hubieran interesado más, sí, antes de conocer a Xanath. (1:09:08-1:09:34)

125

126

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Abb. 22: Die Pyramide als Mahnmal der unbezähmbaren mexikanischen Antike wird gegenwartsbestimmend expliziert als Rückzugsort der indigenen Jungfrau, die sich, dem titelgebenden Fohlen gleich, gegen die Domestikation als gewaltsame Vereinnahmung sträubt. Abb. 23: Das sinnstiftende Potenzial des europäischen Archäologen bei der Interpretation vergangener Zeitschichten ist in ›Raíces‹ eine Fremdbestimmung, die eine Bedrohung für das Volkswohl darstellt.

Die schwülen Tropen, die an der zivilisierten Firnis des Forschers nagen, sind dabei ein locus classicus des Urwaldromans, der in Mexiko auch kinematographisch aufgegriffen wurde, wenn man zum Beispiel an Canaima (1945, Juan Bustillo Oro) denkt, einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Rómulo Gallegos, in dem das gierige Vordingen der Goldgräber in den Dschungel als Schändung eines irdischen Paradieses sanktioniert wird. Auch in Raíces wird die alttestamentarische Sinnfolie des Sündenfalls reproduziert, wenngleich thesenhaft: Als die barfüßige und leicht bekleidete indigene Gehilfin Xanath dem Wissenschaftler einen Sapote pflückt, zieht sie die Begierde des deutlich älteren Europäers auf sich und wird gleichermaßen selbst zu einer verbotenen tropischen Frucht. Im Gegensatz zu La noche de los mayas, Deseada oder Chilam Balam wird das Tabu der Exogamie bei Alazraki zugespitzt durch eine biologische, die Altersunterschiede der unmöglichen Liaison betreffende Asymmetrie. Der betagte Fremde im exotischen Erfahrungsraum, der die redlich an seiner Seite arbeitende Ehefrau Vivian betrügt als er ein Dorfbordell aufsucht, um seine Lust an den Tropen zu stillen, ist hierbei ein unmissverständlich konturierter Problemfall des besitzergreifenden Ausländers, der sich des mexikanischen Hinterlandes bemächtigen will wie seinerzeit die Konquistadoren. In gegenwartsbezogener Übertragung des Films wird die historische Folklore zur Conquista durch ein modernes, wissenschaftliches Sendungsbewusstsein aus Europa abgelöst.152 In einem nationalistischen Setting, das die Ruinenfelder als

152

Zum symbolischen Feldzug des defensiven mexikanischen Nationalismus gegen kulturelle Alterität wird im Kapitel zur Grenz-Mnemotopie noch ausführlich zu sprechen sein. Handelt es sich bei La potranca um europäische Vorstöße in die mexikanische Vergangenheitsmodellierung, so werden im Fall der Nordgrenze die kinematographischen Abwehrtendenzen gegen eine USamerikanische Interventionslust mobilisiert.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

hauts lieux der Mexikanität verklärt, wird auf diese Weise eine kulturelle Demarkationslinie gezogen, die als Schutzvorkehrung gegen die Einflussnahme von außen ins Feld geführt wird. Mit Hilfe einer »extrovertierte[n] Ästhetisierung des Exotischen« sowie der »anthropologischen Simplifikationen«153 des Films, die gegen die historische Bürde der indigenen Unterlegenheit in Stellung gebracht werden, wird die Kontinuität einer fremden mission civilisatrice154 in Mexiko in Misskredit gebracht. Bezeichnenderweise bleibt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse von Eric unterbelichtet so dass die in den Ruinen schlummernde télé-histoire erneut als diffuse Chiffre der nationalen Urzeit dargestellt und als Projektionsfläche gegenwärtiger kulturpolitischer Vorgaben verwertet wird. Die indigene Vergangenheit bleibt eine inkommensurable Kategorie, zumal die wissenschaftlichen Durchdringungsversuche überschattet werden von einer schwerwiegenden moralischen Transgression, bei der ein fremder Archäologe als Triebtäter inszeniert wird. Die Ruine im Funktionsgedächtnis des Films wird, mangels einer konkreten historischen Kontinuitätsstiftung, in ihrer Bedeutung als mexikanisches Identitätsbollwerk hervorgehoben, in dem eine als indigen imaginierte mexicanidad, repräsentiert durch die unschuldige Xanath, bei Übergriffen von außen Schutz findet. Bei der Verfolgungssequenz, in der ein liebestoller Eric dem indigenen Mädchen in der Tempelanlage von El Tajín nachstellt, wird auf symbolischer Verstehensebene ein prekäres indigenes Selbstbild der Gefahr einer Schändung von außen ausgesetzt und das mexikanische Nationalbewusstsein in Alarmbereitschaft versetzt (Abb. 24/25).

Abb. 24: Die Ruine als Metonymie der mexikanischen Nation und der endemische Blick auf den männlichen Eindringling im Tropenhelm. Abb. 25: Die interkulturelle Verfolgungsjagd und das Archäotop als durchlässiger Rückzugsort einer gefährdeten indigenen Reinheit.

Eine lectio dificilior gibt dabei auch die Gefahren preis, die eine archäologische Deutung von außen für die labile Kontinuierung der nationalen Geschichte aus dem Scheiterhaufen der untergegangenen mesoamerikanischen Kulturen darstellt. Die Konstruktion eines indigenen Anderen im Sinne einer sakralen Gegengesellschaft wird so auf153 154

Scheuzger 2009, 496. Vgl. Nagy-Zekmi 2008, 12f.

127

128

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

gefangen in einem protektionistischen Sujet, das die Affekte des Indigenismus auf die Kinematographie übersetzt. Jene historische Stilllegung, die bereits in La noche de los mayas die Ruine zu einem fixierten Baukasten der mexikanischen Identität werden ließ, dient auch in Raíces einer Relativierung des nationalen Sinnpluralismus. Einer internationalen Bedrohung ausgesetzt, wird dabei ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl beschworen, das eine Homogenisierung des im Mnemotop der Ruine ruhenden nationalen Vermächtnisses begünstigt. Im Kampf um die nationale Selbstbestimmung, den Benito Alazraki symbolisch in der Ruine verortet, wird die klassische Archäologie als importierter Forschungseifer in die Schranken gewiesen, wobei sich bereits andeutet, wie sich der 1939 gegründete INAH (Instituto Nacional de Antropología e Historia) gegen eine exogene Vergangenheitsdeutung zur Wehr setzt, die seit den Anfängen der Archäologie in Mexiko maßgeblich von Kreolen wie José Antonio Alzate, Europäern wie Frederick Catherwood und Augustus Le Plongeon oder Amerikanern wie John Lloyd Stephens vorangetrieben wurde. Die nationale Filmproduktion fungiert hierbei auch am Ende der Época de Oro als guter Hirte der Nationalkultur, der die indigene Jugend als spes patriae gegen die Gefahr einer Verfremdung verteidigt und das indigene Mexiko gegen eine kulturelle und ökonomischen Fremdbestimmung in Stellung bringt. Für die Analyse einer nationalistischen Aushöhlung von Mnemotopen ist es hierbei bedeutsam, dass die Verfolgungsjagd in der Ruine zwischen Eric und Xanath an der Atlantikküste endet, der nationalen Außengrenze, an welcher sich auch der folgenschwere Einfall der Spanier mehr als 400 Jahre zuvor ereignet hatte. Obwohl El Tajín fast 50 Kilometer von der Küste entfernt liegt, wird die Distanz zwischen den Drehorten durch ein suggestives Continuity Editing überbrückt und die Ruine in ihrer symbolischen Funktion eines Außenpostens der mexikanischen Identität auch in territorialer Hinsicht bestätigt. Mit Hilfe dieser geographischen Ellipse wird auf der cognitive map (Fredric Jameson) des mexikanischen Selbstverständnisses die Bedeutung der Ruine als einer wehrhaften und zugleich fragilen Allegorie der mexikanischen Nation unmissverständlich aufgelöst und der asymmetrische Kampf gegen den Eindringling an die nationale Außengrenze verlagert (Abb. 26). Der Übergriff kann jedoch in letzter Sekunde verhindert werden als Xanath den europäischen Satyr mit einem Schlag auf den Kopf unschädlich machen kann und bewusstlos in der interkulturellen Schwellenzone der Atlantikküste liegen lässt.155 Die Subversion des als Garten Eden imaginierten Mexikos wird in einem finalen Face-Off zwischen Eric und Xanaths Vater Teódulo nachhaltig abgewendet (Abb. 27). Bei einem Volksfest in Papantla, einem anliegenden Dorf, von dem aus das kulturelle Erbe der Ruinenfelder verwaltet und vermarktet wird, schlägt der ungestraft davongekommene Archäologe dem Kokosverkäufer das infame Geschäft vor, die renitente Xanath als »animalito […] de dos patas« (1:33:21) zu kaufen und bedient sich dabei einer Überzeugungsstrategie, die ein koloniales Gedächtnis auf den Plan ruft und den kulturellen Manichäismus zuspitzt:

155

Zur mexikanischen Küste im Sinne einer transnationalen Gedächtnislandschaft vgl. Gordon (2018).

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Abb. 26: Der misslungene Versuch der Vergewaltigung vollzieht sich an der Küste, einem weiteren nationalen Mnemotop der fremdländischen Intervention, die in der ›Conquista‹ das folgenschwerste Gedächtnisnarrativ für die Nachwelt bereithält. Abb. 27: Im Face-Off mit einem hochmütig-niederträchtigen Europäer konstituiert sich ein stolzes mexikanisches Nationalbewusstsein, das sich hinter einer indigenen Parallelwelt verschanzt

En las costas algunos indios regalan sus hijas a los hombres blancos como yo, para mejorar su raza. Pero tú no necesitas regalármela. […] Solamente le dices que no sea mala conmigo, que no me arañe ni me patee. Ganará su nieto mestizo que valdrá mucho más que este dinero; Nieto, hijo de blanco, que será mucho más inteligente que tú. (1:33:26-1:34:13) Der Vater, ein stolzer Vertreter der mexikanischen Subalternität, schlägt das dubiose Geschäft mit einer Replik aus, die das filmische Wachrütteln des indigenen mexikanischen Selbstbewusstseins ein letztes Mal demonstriert: Tienes razón: Las cruzas son buenas y me conviene mejorar mi raza. Te doy el doble por tu mujer. ¡Tráemela! No me importa que me muerda, me arañe o me patee. Son buenas las cruzas. Pero lo mejor que tienen es que se puede hacer lo mismo de hembra a macho como de macho a hembra, ¿o qué opina tu merced? (1:34:26-1:35:16) Die männlich gegenderte Perspektive, die die Ruinen in gleichem Maße wie Xanath als Beute einer fremden Eroberungslust kodiert, wird gespiegelt durch einen nationalen, ebenfalls männlich konnotierten Blick, der die Lust am exotisch Anderen invertiert. Mit Hilfe der didaktisch aufgefächerten Hybridisierung als programmatisches Erbe der Selbstaufwertungsdiskurse von Gamio und Vasconcelos, wird in Raíces eine simple Gleichung aufgestellt, die das indigene Mexiko in metonymischer Entsprechung zu der in den Ruinen eingelagerten mexikanischen Vergangenheit einer Vereinnahmung von außen verweigert. Um Xanath wird bei dieser didaktisch-manichäischen Analogiebildung in gleichem Maße wie um die Ruine als Objekt der europäischen Aneignungs- und Deutungslust jener nationalistische Schutzwall errichtet, den José Cuevas als »cortina de nopal« bezeichnet hatte. Das identitätsstiftende Potenzial des Ruinen-Mnemotops, das zunächst noch prinzipiell durchlässig ist für gegensätzliche Gedächtnishorizonte, wird mit Hilfe der staat-

129

130

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

lich gelenkten Kontrollmechanismen zu einem »fuerte inexpugnable«156 , einem Bollwerk der mexikanischen Identität stilisiert. Kurios ist dabei, dass die Verwertung der antiken Hinterlassenschaften von der kinematographischen Kulturproduktion vorgenommen wird, die mit Ortega y Gasset als meinungsbildendes Organ der »minorías selectas«157 bezeichnet werden kann, wobei das »memorial capital«158 der Ruine nurmehr für Eingriffe in die Vergangenheit eingesetzt wird, mit welchen ein aktuelles ideologisches Interesse, nämlich die nationale Abschottung gegen eine wirtschaftlich und ideologisch vereinnahmende Außenwelt, verfolgt wird. Auch wenn Raíces als unabhängige Produktion gefeiert wurde, sticht der Film ideologisch kaum aus der Masse hervor. Vom postrevolutionären Zeitgeist durchzogen, enthält Alazrakis Episodenfilm ein klares Bekenntnis zur nationalistischen Poetik, in der ein mestizisches Bewusstsein sich hinter einem indigenen Standpunkt tarnt. Es handelt sich dabei um eine Tendenz, die Luis Villoro als grundlegende, wenngleich paradoxe mestizische Befindlichkeit diskutiert, nämlich dann, als er die Einverleibung der mexikanischen Antike mit Hilfe einer »occidentalización del indio«159 wenige Jahre vor der Veröffentlichung des Films bespricht: En intento por encontrar su propio ser, el movimiento reflexivo es patentemente de raigambre occidental. Occidental en su lenguaje, su educación y sus ideas, occidentales incluso sus métodos de estudio e investigación. Lo indígena, en cambio, no aparece reflexiva- y nítidamente a la conciencia. Permanece oscuro y recóndito en el fondo del Yo mestizo. Lo indígena es profundo y arcano, no se hace nunca plenamente presente, permanece cual »misteriosa fuerza« (Pérez Martínez) en el espíritu, esperando su despertar.160 Im Tauziehen um die Selbstbestimmung spielt die Ruine das »magische Prestige der Ursprünge«161 gegen die objektivierende Altertumsforschung aus, die natürlich auch das einseitige und durchaus irrationale Selbstbild des mestizischen Mexikos auszuhöhlen droht. Im Gegensatz zu La noche de los mayas, wo die »memoria mítica« (Enrique Florescano) einen historischen Wiederholungszwang diktiert, wird die Diskontinuität des indigenen Erbes in Raíces kaschiert und die Erfahrungsschwelle der Conquista als historisches Lehrstück auf die Gegenwart projiziert. Dieser Identitätspolitik der Selbstbehauptung entsprechend wird das verschollene Kulturerbe gegen eine selbstbewusste indigene mexicanidad eingetauscht, deren Nachleben lediglich in einer rituellen, um konkrete Überlieferungen bereinigten Form vergegenwärtigt werden kann: dem optisch wiedererkennbaren Habitus des Indigenen und der zelebrierten Folklore, die in Raíces vor allem im Ritual der Voladores de Papantla einen publikumswirksamen Exponenten 156 157

Cuevas 1988, 90. Ortega y Gasset 2008, 17. Im mexikanischen Kontext hat Luis González ein verwandtes Konzept unter dem Begriff der »minoría rectora« oder »elites rectoras« in Umlauf gebracht, die seit den nationalen Reformen unter Benito Juárez das mexikanische Bewusstsein prägten (González (1986) und Krauze 2010, 23). 158 Wood 1999, 23. 159 Vgl. Villoro 1998, 219-227. 160 A. a. O., 273. 161 Eliade 1988, 30.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

finden. Analog zu der Vermarktung der indigenen Folklore wird auch die nationale Gemeinschaftsbildung am Ruinen-Mnemotop im Sinne einer Einverleibung der indigenen Antike vorgenommen. Auch in der Spätphase der Época de Oro, in die Raíces fällt, gliedert sich die Kinematographie damit als populärkultureller Diskursstrang nahtlos in die nachrevolutionäre Identitätspolitik ein, die der Anthropologe Guillermo Bonfil Batalla 1987 in der kritischen Retrospektive México Profundo als nationalistische Verordnung beschreibt: En síntesis, el proyecto nacional en que desembocó la Revolución Mexicana niega también la civilización mesoamericana. Es un proyecto sustitutivo que no se propone el desarrollo de la cultura real de las mayorías, sino su desaparición, como único camino para que se generalice la cultura del México imaginario. Es un proyecto en el que se afirma ideológicamente el mestizaje, pero que en la realidad se afilia totalmente a una sola de las vertientes de civilización: la occidental. Lo indio queda como un pasado expropiado a los indios, que se asume como patrimonio común de todos los mexicanos, aunque esa adopción no tenga ningún contenido profundo y se convierta sólo en un vago orgullo ideológico por lo que hicieron »nuestros« antepasados.162 So besehen ist die Bedeutung, die der Ruine in Raíces eingeräumt wird, einer nationalkulturellen »Patrimonialisierung der Vergangenheit« unterstellt, die Nancy Wood in der filmischen Nachlassverwaltung des historischen Erbes untersucht.163 Da die Ruine bei Alazraki eher als antiquarisches Kultobjekt inszeniert wird, ist die mnemotopische Sinnstiftung auch in diesem Fall weniger von historischer als von populärkultureller Qualität. Wie bereits in Canto a mi tierra untersucht, werden die präkolumbinischen Relikte zum Stepppunkt eines divergenten kollektiven Selbstverständnisses des »Mexico imaginario« unter dem Bonfil Batalla die historische Folklore zum Ursprung des Mexikanertums fasst. In beiden Filmen wird der Mestize im Einflussgebiet der Ruinen zum Träger verborgener indigener Gedächtnisstränge (Abb. 28). Qua Einverleibung der »eingeborenen Antike« (Wyss) wird hierbei ein invertierter lateinamerikanischer Orientalismus in seiner endemischen Spielart des tropicalismo greifbar und eine filmische Identitätsmaschinerie164 in Gang gesetzt, die den Stolz auf das indigene Patrimonium als dominante Identifikationsvorlage ausbreitet. Wie am Beispiel der Hacienda-Mnemotopie noch zu sehen sein wird, wird auch in den Ruinen von Raíces eine nationale Polarisierung der Gedächtnisvektoren gegen das Ausland vorgenommen und die kulturellen Differenzen sowie Klassenunterschiede innerhalb der mexicanidad tendenziell ausgeblendet, womit der Film an die postrevolutionäre Einheitsbeschwörung seit Lázaro Cárdenas anknüpft (Abb. 29). Dass die nationalistische Aufbereitung der Ruinen-Mnemotopie 1955 in Cannes prämiert werden sollte, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Koexistenz unvereinbarer Identitätsstränge, die sich nicht selten entlang sozioökonomischer Disparitäten konstituierten, auch weiterhin bestand und die Vorstellung von einem homogenen Mexiko nach der Ära des mexikanischen Nationalfilms in den Bereich kurzsich162 Bonfil Batalla 1990, 186. 163 Wood 1999, 31ff. 164 Vgl. Nagy-Zekmi 2008, 13.

131

132

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Abb. 28: Im Verfahren des weichen Schnitts verschmilzt Teódulo mit der Pyramide von El Tajín, womit das diffuse Nachleben der lokalen Antike als »Einverseelung«( Warburg 2010, 634) von Gedächtnisspuren nahegelegt wird. Abb. 29: Kulturelle Polarisierung im Mnemotop der Ruine: Während das europäische Archäologenpaar in der Bildtiefe die uneinnehmbare Ruinenstätte verlässt, orientiert sich Xanath in einer gegenläufigen Bewegung zur Ruine hin.

tiger Sozialutopien und unhaltbarer Identitätsfiktionen rückte. Daran konnte letztlich auch die Plausibilisierungsstrategie einer Arbeit mit Laienschauspielern an Originalschauplätzen nicht viel ändern, die wiederum an Eisensteins Methoden anknüpft und in den 50er Jahren gemeinhin einer neorealistischen Filmästhetik zugeschrieben wurde: Al cabo de diez años, Raíces ha perdido todo su impacto emocional. Ya no se comprende el entusiasmo de los críticos europeos »siempre ávidos de redescubrir América« que invocaron el neorrealismo italiano por razones muy superficiales: rodaje en escenarios naturales y rechazo del star-system. […] Sólo esporádicamente alguna verdad socioantropológica, en general simplista, se sugiere entre el cúmulo de choques de montaje »estético«, errores sintácticos y exotismo propio para turistas intelectuales.165 Die anthropologische Anfälligkeit, die Ayala Blanco dem Werk attestiert, ist sicherlich auch in der oberflächlichen Behandlung der indigenen Vergangenheit zu sehen, die letztlich nur als eine Maske der schwierigen mestizischen Identitätskonstruktion instrumentalisiert wird. Um Gedächtnisnarrative eines anderen, indigenen Mexikos bereinigt, wird die Mnemotopie der Ruine im Sinne des diffusen titelgebenden Wurzelwerks der mexicanidad inszeniert und verkommt dabei zu einem unhinterfragten historischen Fetischobjekt der Gegenwart, das man mit David Lowenthals treffendem Begriff eines »talisman[…] of continuity«166 umschreiben kann. »Memory and history«, schreibt Lowenthal im Hinblick auf die Rolle physischer Objekte bei der Vergegenwärtigung der Vergangenheit

165 Ayala Blanco 1968, 197. 166 Lowenthal 1985, xxiii.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

both derive and gain emphasis from physical remains. Tangible survivals provide a vivid immediacy that helps to assure us there really was a past. Physical remains have their limitations as informants, to be sure: they are themselves mute, requiring interpretation.167 In Raíces bleibt die Ruine jedoch ein stummer Zeuge der Vergangenheit, dessen Ausdeutung im Zuge der Dämonisierung des fremden Archäologen in den Rang eines kulturellen Tabus befördert wird. In der filmischen Sinnstiftung nationaler Wahrzeichen wird die Ruine mitsamt der ihr eingeschriebenen Vergangenheit zu einem telehistorischen Erbstück, das erst im Zuge der semantischen Aushöhlung zum Emblem des nationalen Gemeinschaftssinns werden kann. Erst das »Bleichen des Gedächtnisses«168 , das im engeren Sinne eine Banalisierung des mnemotopischen Potenzials darstellt, konnte den partikulären historischen Geltungsradius der Ruine auf das gesamte mexikanische Territorium ausweiten. Dass Alazraki in einem Filmdiskurs des indigenen Empowerments die kosmische Tragik bewusst vernachlässigte und ein historisches Unterlegenheitsbewusstsein mit Hilfe eines degenerierten Europäers zu überwinden versuchte, kann man dabei durchaus als den Versuch einer »superación de todo lo pasado«169 deuten, die Vasconcelos für das neue mexikanische Selbstbild eingefordert hatte. Abgesehen von der alttestamentarischen Sinnfolie der Genesis verzichtet der Film daher auch auf lokale foundational fictions. Die fundierenden Qualitäten der Ruinen-Mnemotopie bleiben implizit. Dass aber die Ruine durchaus auch als publikumswirksamer Resonanzkörper der Conquista herangezogen wurde als die kritischen Stimmen der Generación de la Ruptura lauter wurden, wird im letzten eingehender behandelten Beispiel untersucht. In Chilam Balam (1955) wird die Mnemotopie mexikanischer Ruinen in der krisenanfälligen Schlussperiode der Época de Oro ein letztes Mal als monumentales Projektionsfeld der historischen Imagination herangezogen, um das kollektive Trauma der Conquista mit historisch fragwürdigen Reinszenierungen zu reproduzieren – eine monumentalische Lesart der Geschichte, die grandios scheitern sollte.

3.4. 3.4.1.

Chilam Balam (1955) Verortung der Conquista

War in La noche de los mayas die Conquista als ein wiederkehrendes historisches Trauma in die Ruinen eingebettet worden, so wird in Chilam Balam die Vorlage der MayaProphezeiungen verarbeitet, um die Conquista, den Ursprung des Traumas selbst, in einer ambitionierten Relektüre nachzustellen. Auch wenn der Kostümfilm von Iñigo de Martino zeitlich 300 Jahre früher ansetzt, sind viele thematischen Gemeinsamkeiten zu Uruetas filmischer Maya-Epopöe erkennbar. Über die klare Polarisierungstendenz bei der Darstellung des interkontinentalen Kulturkampfes, liegt in der Zeitsynthese der 167 Ebd. 168 Lachmann 1991, 116. 169 Vasconcelos 1966, 21,

133

134

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

gegenwartsbestimmenden Vergangenheitsdeutung, die in beiden Werken anhand des Ruinenkomplexes Chichén Itzá vorgenommen wird, eine große mnemotopische Verwandtschaft. Dank des suggestiv auf die Gegenwart ausgerichteten Charakters der filmischen Vergangenheitsdeutung eignet sich Chilam Balam allerdings in höherem Maße für die Analyse der Kinematographie in ihrer Funktion der didaktischen Aufbereitung von Mnemotopen und zeigt auf sehr anschauliche Weise, wie konventionelle historische Überzeugungen in narrativen Nachempfindungen vergegenwärtigt werden können. In der kinematographischen Wiederverwertung des historischen Alltagsverstands lässt sich beobachten, wie sich eine Verfestigung der Vergangenheitsrekurse in der Ruine vollzog, die man mit Jan Assmann als kanonische Schließung der historischen Sinngebung eines Kollektivs verstehen kann, das durch Gedächtnisbilder, die in Filmtexten zirkulieren, seine Kohärenz erhält.170 Gleichzeitig sieht man in der Serialisierung filmischer Ruinenzugriffe aber auch, dass die mnemotopische Bedeutsamkeit für das gesellschaftliche Selbstverständnis erst mit Hilfe von Einschreibungen plausibler historischer Zusammenhänge erschlossen wurde, die historische Aufklärungsarbeit der Inszenierung des Nationalkollektivs unterordnet. Das Phänomen der Wiederverwertung nationalhistorischer Gemeinplätze – einer institutionell verankerten historia de bronce171 – eignet sich dabei für die Untersuchung einer kollektiven Vergangenheitsdeutung, die man im Sinne einer inneren Kolonisation der Geschichte eines Nationalkollektivs begreifen kann, mit der das Kino der Época de Oro die cardenistische Losung des »desarrollo hacia adentro«172 bis in die späten 50er Jahre umzusetzen versuchte. Insbesondere die retrospektive Kausalitätsstiftung und die nahtlose Aneinanderreihung logisch verknüpfter Ereignisse werden in der Ruine als Mahnmal der Conquista mit didaktischen Simplifizierungen vorgenommen, die eine Tendenz zum Whiggismus, der problematischen historischen Teleologie a posteriori, nahelegen. Besonders konkret wird die Ordnung der Vergangenheit im Interesse der Gegenwart in der Sinnpflege der Ruine als Wiege des Mestizentums, wie im zweiten Analyseschritt an Chilam Balam untersucht wird. In der Einverleibung der lokalen Geschichte, der »occidentalización del indio«173 , die bereits in Raíces als homogenisierende Tendenz des Nationalfilms betrachtet wurde, ist eine strukturelle Analogie zur weiter oben eingeführten Denkfigur des bautismo retrospectivo enthalten, die ebenfalls dem Modus einer kolonialen écriture de l’histoire (Michel de Certeau) zugesprochen werden kann, da auch hier »der Raum des Anderen zur Ausdehnung des eigenen semiotischen Produktionssystems«174 genutzt wird. So gesehen lässt sich Chilam Balam als ein spätes Echo der kolonialen Durchdringung historischer 170 Zur textuellen Kohärenz und dem Prinzip der Variation in Prozessen modernen Kanonbildung vgl. J. Assmann 2013, 93-103. 171 González 2005, 64. 172 Aguilar Camín 1993, 45. 173 Villoro 1998, 219. 174 Vgl. Stephan Leopolds Untersuchung der historischen Einschreibungen in der Neuen Welt im Rückgriff auf O’Gormans These von Amerika als eines aus Übersee imaginierten Kontinents, sowie Michel de Certeaus Ideen zur historischen Aneignung des Fremden (Leopold 2007, 80f et passim). Emblematisch steht dafür das Toponym ›Yukatan‹ selbst, das die Spanier zu Beginn des 16. Jhd. zur Bezeichnung der Halbinsel eingeführt haben und dessen ungeklärte Etymologie vermutlich

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Unwägbarkeiten begreifen, in welcher das die Mnemotopie der Ruine mit »›proyecciones‹ de viejas ideas«175 einkassiert wird, wie seinerzeit während der territorialen Durchdringung der spanischen colonos. Dass jedoch Ruinenstädte wie Chichén Itzá oder Monte Albán auch vor der Ankunft der Spanier Relikte stillgelegter Machtzentren darstellten, wird gerade im Beispiel der Maya-Zivilisation zu einem blinden Fleck kinematographischer Retrospektionen, da ihr Untergang und die Ankunft der Spanier als unmittelbarer Bedingungszusammenhang imaginiert wird.176 Im Chilam Balam wird die Mnemotopie der Ruine genau für diese Form der ortsgebundenen Geschichtsklitterung instrumentalisiert und Chichén Itzá zum Träger einer spekulativen Gedächtniskonstruktion, mit der ein zum Mythos geronnenes Geschichtsverständnis Eingang in die gesellschaftliche Geschichtskultur findet. Die eingangs mit Ernest Renan eingeführte These, der zufolge ein staatstragendes kulturelles Gedächtnis nicht nur eine Selektion relevanter Überlieferungen darstellt, sondern auch mit einer Reihe von faux souvenirs operiert, lässt sich am Film des Regisseurs Iñigo de Martino daher sehr gut nachvollziehen. Bei Chilam Balam handelt es sich nämlich um ein historisches Melodram mit Zügen eines Monumentalfilms, in dem das historische Masternarrativ der Conquista den Untergang sämtlicher regionaler Kosmologien motiviert, darunter auch der bereits untergegangenen oder in Dekadenz befindlichen Episteme der Maya. Als absolut gesetzte Epochenschwelle wird die Conquista somit in ihrer Qualität der historischen Gründungsakte des modernen Mexikos konsolidiert. Das Pathos der nationalhistorischen Rückversicherung wird bereits in der Exposition ausgerollt: Der Zuschauer wird zu einer Zeitreise nach Yukatan im Jahr 1508 eingeladen, »donde por más de doce siglos floreció la más brillante civilización del Nuevo Mundo – la de los pueblos mayas« (1:59-2:06), wie die allwissend dokumentierende Voice of God177 behauptet. Die Einladung sich in die Vergangenheit zu »projizieren« (1:55) wird mit der Einblendung der Karten von Mexiko und Yukatan bekräftigt, die an die Praxis der topographische Erfassung der Neuen Welt erinnern, in der Benedict Anderson ein koloniales Instrument der territorialen Bemächtigung und Kontrolle ausmacht (Abb. 30).178 Mehr als eine Epochenwende, wird die Conquista damit für eine neue, koloniale Ursprungssetzung instrumentalisiert, die vorhergehende Zivilisationsformen verklärt, indem sie diese symbolisch finalisiert. Was von ihnen bleibt, ist die Ruine als »tangible past«179 . Und das ist auch der Grund, weshalb in der historische Rahmensetzung ausgerechnet die architektonischen und bildhauerischen Qualitäten der Maya-Zivilisation hervorgehoben werden, womit in erster Linie den materiellen

175 176 177

178 179

einem sprachlichen Missverständnis zwischen den Spaniern und der autochthonen Bevölkerung entsprungen ist. León-Portilla 2011, IX. Vgl. García Riera 1992, 124. Zur Bedeutung des Voice Overs bei der historischen Plausibilisierung in der Kinematographie, darunter zum traditionellen Verfahren einer autoritären, männlichen Voice of God, schreibt Greiner (2015). Anderson 1991, 172-176. Vgl. hierzu die Diskussion der Vergangenheitsrelikte als Artefakte abgeschlossener Epochen bei Lowenthal 1985, 238-249.

135

136

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Relikten der untergegangenen Kultur gehuldigt wird, die eine vage Erinnerung an eine verlorene Welt hochhalten: Sus conocimientos matemáticos y astronómicos fueron extraordinarios. Pero en lo que mayormente destacaron fue como escultores y arquitectos. Como todos los grandes pueblos, un día perdieron su unidad y el imperio se derrumbó y en los albores del siglo XVI, poco antes de la llegada de los españoles, del antiguo esplendor y poderío de los mayas sólo quedaba el recuerdo. Los habitantes de Chichen Itzá una entre las tantas tribus de los mayas sólo conservaban de sus antepasados las costumbres y los ritos. Su limpio cielo azul les inspiró el color sagrado de los sacrificios en que como en todas las civilizaciones primitivas ofrendaban a la divinidad sus propias vidas. Y así, en 1508, clamaban a sus dioses para que cesaran las calamidades que asolaban a su pueblo. (2:07-3:09) Aus diesem Nekrolog resultiert, dass das Nachleben der »primitiven Zivilisation«, wie bereits in der Zeitlosigkeit des Eisensteinschen Prologs untersucht, nur in einer rituellen Form nachvollzogen werden kann, für die Jan Assmann die Bezeichnung der »rituellen Kohärenz«180 eines Kollektivs anbietet. Im Prolog des Films wird mit dieser glorificatio post mortem jedoch nicht die Präsenz einer mexikanischen Parallelgesellschaft betont, sondern gerade die uneinholbare, in den Ruinen nachhaltig kodierte Vergängnis und historische Diskontinuität. Die epochale Wende, der die Zuschauer aus der Perspektive der Maya beiwohnen können, wird bereits vor der ersten Ankunft der Spanier auf dem späteren mexikanischen Staatsterritorium in Cozumel (1518) in einer Zeit der kulturellen Dekadenz situiert, in welcher eine letzte Generation vor dem großen historischen Kollaps ihre Götter Hunab Ku, Kukulkán und Itzamná vergeblich mit nachempfundenen Riten der lokalen Vorvergangenheit gütig zu stimmen versucht, darunter auch Menschenopfern (Abb. 31). Der Titelheld Chilam Balam (mayathan für »Jaguar-Priester«) ist eine legendäre Figur der mexikanischen Geschichte und geht, wie bereits in La noche de los mayas, zurück auf eine Reihe von gleichnamigen Maya-Überlieferungen, in welchen unter anderem eine bis heute kontrovers debattierte Prophezeiung der Ankunft der Spanier enthalten sein soll. In der als Caracol bezeichneten Ruine, deren Bauform häufig der Beobachtung der Himmelskörper zugeschrieben wird, hört man Chilam Balam die Apokalypse als Ende einer langen Periode (Baktun) in der Langen Zählung des Maya-Kalenders weissagen: He visto en las estrellas que vendrán hombres blancos y barbados por el mar de oriente. Y su sangre se mezclará con la nuestra: Primero en el suelo por el odio, y luego en los cuerpos por el amor. Y nacerá otro pueblo que ni será el de ellos, ni será el de nosotros. Y traerán un madero enhiesto cruzado con otro, de gran virtud contra los demonios, que arrojará de los templos a todos nuestros dioses […] Lo he visto. Todo se acabará para que todo empiece. (24:42-25:18) Die bevorstehende Zeitenwende, die Chilam Balam der Maya-Zivilisation prophezeit, wird im Film mit zahlreichen Menetekeln antizipiert – verheerende Epidemien und 180 J. Assmann 2013, 18.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Abb. 30: Die koloniale Karte als geistige Erschließung unbekannter Territorien und frühe ›Imaginationsmatrix‹ (vgl. Dünne 2011, 66-71) einer nationalen Gemeinschaft. Die Ortsmarkierungen stehen allesamt für die Ruinenstätten als nachhaltige topographische Kerbungen des ursprünglichen Mexikos Abb. 31: Die Pyramide von Kukulkan stellt im Film die Bühne für das Menschenopfer als ›mysterium tremendum‹. Der Point-of-View-Shot des Geopferten bildet das affektive Beglaubigungsverfahren einer klassischen Legitimationsgrundlage der ›Conquista‹.

Wirbelstürme, Dürre und Hungersnot – bevor sich die Auslöschung der Maya durch die Konquistadoren in einer finalen Schlachtsequenz in der Ruinenstadt vollzieht, mit der ein Kampf der Kulturen in den Ruinenfeldern verortet wird. Die historische Fiktion macht zwar keinen Hehl daraus, dass die Spanier Chichén Itzá bereits verlassen vorgefunden und keinen unmittelbaren Einfluss auf die Verwahrlosung der alten Maya-Stadt ausgeübt hatten, allerdings wird die Qualität der Ruine als einer verlassenen Tempelstadt zu einer Kriegsstrategie der Maya stilisiert, die den Spaniern unter der Führung des historisch verbrieften Francisco de Montejo el Adelantado einen Hinterhalt im zuvor geräumten Chichén Itzá bereiten wollen (58:30). »Te llevaré a donde encuentras las más ricas vetas, cerca de Chichén Itzá que a mucho está abandonada«, schlägt Chilam Balam den Konquistadoren im Tausch gegen seine gefangengenommene Tochter Naya vor. »Oro tendrás, lo tendrán todos, a manos llenas para sus hijos y los hijos de sus hijos. Mucho más que todo el oro que ha adornado por siglos nuestros templos« (1:02:56). Die Strategie, die Spanier mit der Aussicht auf Gold in eine Falle zu locken, die sich an der Überlieferung zur Belagerung von Tabasco während der Eroberung Yukatans orientiert181 , wird vom Regisseur Iñigo de Martino auf Chichén Itzá projiziert und das Interesse der Spanier thesenartig reduziert auf die zwei zentralen Triebfedern der Conquista – die Gier nach Gold und die Konversion der Heiden.182

181 182

Vgl. Prescott 1979, 154f. Die Verdichtung historischer Stoffe zum Mythos birgt neben der Analogie zu Mircea Eliades Mythos-Begriff der archetypischen und prinzipiell ahistorischen Modellvorlage eines Gedächtniskollektivs (Eliade 1959, 42) auch eine Affinität zu Blumenbergs Verständnis eines politischen Mythos als präfigurierte Handlungsmotivation in der Nachwelt und Vorlage einer aktualisierenden »Nachbildbarkeit« (Blumenberg 2014, 12).

137

138

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Die Eroberung eines ursprünglichen Mexikos wird schließlich mit einem fiktiven historischen Ereignis in der Ruinenstätte versinnbildlicht. Die Anfangserzählung des modernen Mexikos, die man im Hinblick auf die Ortsgeschichte von Chichén Itzá als Befüllung einer historischen Leerstelle verstehen kann, trägt so zur performativen Umschreibung der Ruinen zu Mnemotopen der Conquista bei, womit die unfassbaren Ursprünge der mexicanidad ihren Geltungsanspruch aus der narrativen Verarbeitung des konventionellen Geschichtsbewusstseins beziehen. Mit Albrecht Koschorke kann man diese Praxis der Gedächtnisarbeit angesichts »kulturelle[r] Imponderabilien« als eine Vorgehensweise beschreiben, die das Mnemotop der Ruine zu einer Arena der »kulturellen Improvisation«183 werden lässt. Mehr noch als die Vorstellung von Ruinen als Schauplätzen signifikatorischer Renovation, wie eingangs mit Hartmut Böhme diskutiert wurde, markiert das Archäotop in dieser Spielart eine Erinnerungslandschaft, deren Signifikation gänzlich der »especulación imaginaria«184 überantwortet wird. Aus der Opferperspektive erzählt, wird in Chilam Balam die kosmische Tragik des mexikanischen Archäotops mit kontrafaktischen Ereignisfolgen aufgeladen und eine serielle Geschichtsversion postuliert, die präkolumbinische Zeitschichten jäh mit der Ankunft der Spanier enden lässt. Das historische Rätsel um den Untergang der MayaZivilisation wird mit einer prekären Geschichtsklitterung gelöst – der Aufgabe der Tempel im Kampf gegen die Invasoren aus Übersee. Um der Knechtschaft zu entrinnen, bläst der tragische Held Chilam Balam zum letzten Kampf gegen die Spanier und stirbt, einem letzten Mohikaner gleich, im Pfeilhagel mitten in Chichén Itzá. Mit der finalen Schlacht wird die Conquista in Chilam Balam damit an einem konkreten Schauplatz verortet. Im Bedürfnis nach einer Harmonisierung der lokalen Geschichte offenbart sich das mythopoetische Naturell der Kinematographie, das die Grenze zwischen Geschichte und Mythos mangels Nachweisbarkeit verwischt. In der Ruinenlandschaft von Chilam Balam wird damit einerseits eine kontinentale Wende nachvollzogen, andererseits der Zugang zu einer überwundenen präkortesianischen Kosmologie hergestellt, mit dem ein in Vergessenheit geratenes Erbe rekonstruiert wird.185 Was natürlich in dieser Form der mnemotopischen Horizontbildung fallen gelassen wird, ist die historische Dynamik der für absolut erklärten indigenen Vergangenheit, darunter die Tatsache, dass es sich nur um eine weitere Conquista aus der Sicht der Maya handelt und die Maya-Kultur bereits während der toltekischen Expansion kolonisiert und einverleibt wurde. Mehr als ein narrativer Kunstgriff ohne den ein Gründungsnarrativ laut Koschorke nicht auskommt186 , ist die Abwesenheit der Maya in Chichén Itzá daher ein ungewollter Hinweis auf die Erfindung der Maya, die einer kinematographischen Musealisierung eines abwesenden Anderen gleichkommt.: »En la ausencia de lo maya«, schreibt Castañeda stellvertretend für die Einverleibung der memoria indígena in das mexikanische Nationalbewusstsein, »se superpone lo

183 Koschorke 2011, 553. 184 de Orellana 1983, 6. 185 Zu den didaktischen und harmonisierenden Tendenzen bei der Narrativisierung nationaler Genealogien vgl. auch Anderson 1991, 200-203. 186 Vgl. Koschorke 2011, 554.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

maya inventado por el occidental«187 , womit die Thesen zum unheilbar westlichen Indigenismus von Luis Villoro und dem reverse ventriloquism von Benedict Anderson sehr eindrücklich in Bezug auf die Sonderrolle von Yukatan aktualisiert werden. Die filmisch imaginierten Maya, deren unbequeme Kostümerie und mit zeremonieller Rhetorik aufgeladene Sprechweise nur den Eindruck der rückwärts gewandten Bauchrednerei verstärken, versuchen die Vorstellung von der Conquista als dem historischen Endpunkt der Maya-Zivilisation zu etablieren. Wenn Chilam Balam die Inszenierung einer möglichen Vergangenheit darstellt, die das Filmmedium als freie Komposition von kulturellen Vorgegebenheiten produziert188 , sind die groben Verzerrungen im Zuge der didaktischen Lizenz letztlich dafür verantwortlich, dass der Kostümfilm am ehesten als kostümierte Gegenwart denn als Reise in die Vergangenheit zu sehen ist. Die kinematographische Verwertung der Mnemotopie erinnert damit eher an eine touristische Begehung der Ruinen als Museen, in welchen ein fixiertes kulturelles Erbe ausgestellt wird. Wie Castañeda im Hinblick auf die touristische Vergangenheitsfaszination behauptet, el turista, generalmente, cree que todos los mayas desaparecieron durante el gran »colapso« y le sorprende saber que hoy en día todavía existen los mayas. […] La »conquista« de los »toltecas« se repite en forma lingüística. Es ésta violencia simbólica (de conquista y de mestizaje) la que culmina y establece la estructura cosmológica del »museo«.189 Im Bedürfnis nach einer eindeutigen Epochensukzession wird das historische Vergessen, das Prozesse der kollektiven Horizontbildung notwendig begleitet, in Chilam Balam in ähnlicher Weise aktiv wie im didaktisch aufbereiteten Gelände von Chichén Itzá, in welchem sich die mexikanische Vergangenheit musealisiert und narrativ erschlossen findet. Das Gedächtnis an die Maya im Film wird gleichermaßen wie im Museum als Medium didaktisch aufbereiteter Vergangenheitsrekurse an eine abgeschlossene Vergangenheit gebunden, die mit der Ruine als monumentales Relikt ihr topologisches Pendant erhält. Bei der Betrachtung der Mnemotope als Netzwerk kollektiver Kristallisationsorte gegenwartsbestimmender Vergangenheitsrekurse kann aber die Kritik an der verzerrten Geschichtsdarstellung im Unterhaltungsfilm nicht die Bedeutung der nationalen Filmkultur bei der Pflege eines identitätsstabilisierenden Kulturerbes verdecken.190 Die dominante Gegenwartsbezogenheit der Mnemotopie in populärkulturellen Medien erfordert eher ein Zugeständnis an einen Präsentismus, dem zufolge die historischen Stoffe nach kommerziellen, in der Gegenwart verankerten Gesichtspunkten ausgewählt und interpretiert werden. Die Verwertung der Conquista für kontrafaktische Narrative,

187 188 189 190

Castañeda 1995, 94. Vgl. Lotman 1994, 142-144. Castañeda 1995, 198f. Gegen die zahlreichen Diskreditierungen des Spielfilms als historische Quelle diskutiert Ferro (1991) die Vorzüge der Fiktion bei der Herausbildung eines historischen Bewusstseins. Zur Entwicklung der Debatte legt Riederer (2006) einen gelungenen Aufsatz im Kontext der Visual History als eigenes Forschungsfeld vor.

139

140

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

in welchen zum Beispiel Chilam Balams Tochter Naya und der sie umwerbende spanische Soldat Montejo von der ersten Begegnung an problemlos in Spanisch kommunizieren können oder sich mit einem Händedruck verabschieden (1:07:37), sind natürlich Verzerrungen im Sinne einer publikumswirksamen Lesbarkeit der Vergangenheit. Das Verweisen der Ruinen an die Ursprünge der Nation entfällt dabei auf den Bereich eines »usable past«, die Jeffrey Olick im Hinblick auf eine formative und von Gegenwartsinteressen geleitete Gedächtnispolitik diskutiert.191 Wenn mit Instandsetzung von Chichén Itzá am Anfang des 20. Jhd. die Erfahrungsschwelle verdeutlicht und die lokale Antike zeitlich eingegrenzt wurde, wird die Monumentalisierung der mexikanischen Geschichte noch 1955 in Chilam Balam als Vehikel staatstragender fictions dominantes vorangetrieben. In der narrativen Aufarbeitung des mestizischen Selbstverständnisses wird die Ruine damit als tragischer Ort der Maya-Apokalypse lesbar gemacht. Dass der Titelheld als letzter eingeborener Rebell seinen Tod dabei ausgerechnet in den Ruinen findet, besiegelt die mythopoetische Verarbeitung der kosmischen Tragik der Maya-Ruinen, denn sein Tod personifiziert die Auslöschung einer gesamten Zivilisation. Tödlich verwundet äußert er seine letzten, mit zivilisationsgeschichtlichem Pathos aufgeladenen Worte, die eine Kurzform seiner zuvor im Castillo geäußerten Weissagung darstellen: Todo toca a su fin. Su sangre se mezclará con la nuestra: En el suelo por el odio, en los cuerpos por el amor. Y nacerá otro pueblo. (1:31:10) (Abb. 32) Wie in La noche de los mayas endet damit eine zyklische Epoche mit einer Tragödie, die eine neue Ära einläutet. Doch im Gegensatz zur Abwehrhaltung des Indigenismus, mit der in La noche de los mayas oder auch Deseada (1951) ein kultureller und biologischer Purismus in Ruinennähe stets verteidigt werden muss, wird hier die Rassenmischung als irreversibles Erbe der Conquista zelebriert. Für die mnemotopische Sinnstiftung ist es dabei besonders bezeichnend, dass die Ruine ex post nicht nur als historischer Tatort des fatalen Kulturkontakts semantisiert wird, sondern auch als ein Gedächtnisspeicher, der die Gedächtnisspuren einer verschollenen Zivilisation an das Funktionsgedächtnis der Nachwelt tradiert. In seiner Agonie hat Chilam Balam noch die Kraft, seinen Kopf aufzurichten und seine letzten prophetischen Worte auf die Pyramide von Kukulkan zu übertragen. Der symbolträchtige letzte Blick des Maya-Priesters gilt damit der Ruine, die gewissermaßen zum Kronzeugen der Conquista wird. In dieser performativen Sinnaufladung der Ruine am Ende des Films wird schließlich nicht nur ein historisches Mahnmal konstruiert, das der Nachwelt ein Gedächtnis an die Opfer der Conquista tradiert; die Ruine wird auch, wie im nächsten Schritt untersucht werden soll, mit einer topologischen Symbolkraft des Ursprungsortes aller Mestizen aufgeladen und die biologischen Verschmelzungsideale von Vasconcelos retroaktiv in der Ruine verortet.

3.4.2.

Die Ruine als Wiege des Mestizentums

Der Zuschauer von Chilam Balam kann dem historischen Moment beiwohnen, in dem Chichén Itzá zu einer Ruinenstätte in statu nascendi wird. In der filmischen 191

Vgl. Olick 2007, 19f.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Abb. 32: Mit der Zukunftsvision des Chilam Balam wird der letzte Wille des letzten Vertreters einer mexikanischen ›Prähistorie‹ inszeniert. Sein letzter Blick ist dem Tempel von Kukulkan vorbehalten, so dass in der Mnemotopie der Ruine die Tragik der Vergängnis gegen die Aussicht auf einen monumentalen Neubeginn eingetauscht wird.

Geschichtsinterpretation wird verlassene Maya-Stadt mit einem traumatischen Narrativ angereichert, das den symbolischen Epochenwandel in Mexiko mit einer fiktiven historischen Ereignisfolge vergegenwärtigt. Nichts desto weniger hat das historische Trauerspiel seinen ungleich bedeutsameren Gegenwartsbezug in der programmatischen Hybridisierung der Kulturen. Wie auch in dem Episodenfilm Raíces, der zeitlich durchweg in der mexikanischen Gegenwart situiert war, bleibt der Ruine auch im Historienfilm Chilam Balam die Funktion eines Identitätsbollwerks vorbehalten, in dem das labile mestizische Selbstbewusstsein einen Ursprung verankern kann. Chilam Balams Vorahnung des kulturellen Synkretismus appelliert hierbei unverkennbar an ein mestizisches Selbstverständnis der mexikanischen Gesellschaft im 20. Jhd. Die Koda, in der eine markante allegorische Fusion altamerikanischer und europäischer Kulturen inszeniert wird, lässt sich dabei als Quintessenz der im Film enthaltenen Gedächtnisstiftung verstehen: ein Eheschluss zwischen Naya, Chilam Balams Tochter, und Francisco de Montejo »el Mozo«, dem Begründer von Mérida und Sohn des gleichnamigen Eroberers der Halbinsel. Es handelt sich freilich um das Derivat der prototypischen Doublette Hernán Cortez und Malintzin, die in der Natiogenese des mestizischen Mexikos eine enorme formative Bedeutung haben. Nach einem dramatischen Sonnenuntergang hinter der stufenförmigen Silhouette des Kukulkan-Tempels (Abb. 33), blickt die Kamera auf das junge Paar, das Hand in Hand vor einem hybriden Altar steht – einem Kreuz, das sich auf dem Jaguar-Thron aufgepfroft findet – während der allwissende Erzähler mit der Beschwörung einer monumentalen Epochenschwelle die didaktische Rahmung des Spielfilms abrundet:

141

142

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

La profecía de Chilam Balam se cumplió y su pueblo cayó en pleno ocaso. Y de la sangre de esas dos razas nació una nueva: joven y vigorosa. (1:31:36) (Abb. 34)

Abb. 33: Die Dekadenz der eingeborenen Antike, hier repräsentiert durch eine Ruine bei Sonnenuntergang, geht im Film nahtlos über in den Aufstieg einer neuen, aus Übersee stammenden Kolonialordnung. Abb. 34: Ein hybrider Eheschluss vor einem hybriden Altar. Naya und Francisco symbolisieren eine unmittelbar aus der ›Conquista‹ resultierende Fusion der Sieger und Besiegten.

Indem die Prophezeiung aus dem Blickwinkel der Nachgeborenen als erfüllt erklärt wird, vollzieht sich in der Ruine eine Verflechtung überhistorischer Einordnungen der Conquista, denn während die zyklische Apokalyptik der Maya mit der Ankunft der »dioses blancos« und »descendientes de Kukulkan« (52:26) eine neue Stufe nimmt, wird aus spanischer Perspektive die kollektive Taufe der Neuen Welt eingeläutet.192 Chilam Balam reiht sich damit in eine Tradition filmischer Gründungsfiktionen, die sich mit den Biographien der Nation auseinandersetzen, allen voran The Birth of a Nation (1915, D. W. Griffith), kinematographischer Urtext zum US-amerikanischen Nation-Building. Im mexikanischen Pendant basiert die Geburt des modernen Staates jedoch nicht auf dem weißen Suprematismus, dem Zurückdrängen der First Nations und der Verfolgung der Afroamerikaner, sondern auf dem Fundament einer landläufigen historischen Verflechtung – einem ähnlich verhängnisvollen Kulturkontakt, der aber im Zeichen der Fusion denn einer trennscharfen Koexistenz steht.193 Die Verherrlichung der Misch192

193

Vgl. Eliade 1959, 11: »It was in the name of Jesus Christ that the Spanish and Portuguese conquistadores took possession of the islands and continents that they had discovered and conquered. The setting up of the Cross was equivalent to a justification and to the consecration of the new country, to a »new birth«, thus repeating baptism (act of Creation).« Diese und andere Unterscheidungskriterien bemüht Octavio Paz im Essay México y Estados Unidos, um eine zivilisationsgeschichtliche Kontrastierung der Gesellschaftsmodelle dies- und jenseits der Nordgrenze vorzunehmen. Ungeachtet der mitunter essentialisierenden mentalitätsgeschichtlichen Schlüsse, spiegelt der Aufsatz die Idealtypen der mexicanidad in strikter Abgrenzung zu den USA wider, die beharrlich auf makrostrukturellen Diskursebenen zirkulieren (vgl. Paz (2016b)). Paz’ Ideen zur Rolle der Nordgrenze als zivilisatorische Trennlinie werden in Kapitel D. wieder aufgegriffen und der Betrachtung von kulturellen Abgrenzungsprozessen der mnemotopischen Identitätsstiftung zugeführt.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

ehe aus sakralem Grund der umgeweihten Ruine geht selbstredend Hand in Hand mit den eugenischen Diskursen von José Vasconcelos, der als Apostel des neuen, postrevolutionären Mexikos eine raza cósmica ausgerufen und die Überlegenheit kultureller und genetischer Hybride propagiert hatte. In einer retrospektiven Kontinuitätsstiftung offizieller Selbstbilder wird hierbei die Vorstellung eines prototypischen Mestizentums tradiert – zunächst in einer Replik, die Francisco de Montejo »el Mozo« an Naya richtet: Verás Naya: en mi tierra vivieron muchas razas de distinto color que hablaban lenguas diferentes y adoraban a distintos Dioses. Pero las guerras y el amor las unieron para formar la mía. Y es que los hombres sólo son diferentes cuando no se conocen. (1:06:121:06:27) Ein zweites Mal wird das Mythologem der letztlich überwundenen babylonischen Verwirrung von Spanien auf Mexiko übersetzt, nämlich als Chilam Balam die lokale Geschichte resümiert, während er die Spanier in die verlassene Stadt führt: Cuando se unieron los pueblos de Mayapán, Uxmal, y Chichén Itzá, ha florecido mi raza, próspera y poderosa. Pero como siempre acontece entre los hombres uno fue más fuerte y vinieron las guerras. Las ciudades fueron abandonadas, la unidad se derrumbó, y esto es lo que queda de aquella grandeza. (1:18:25-1:18:46) Wenn also die Verlassenheit der Tempelstadt zunächst noch als Kriegslist der MayaRebellen aufgedeckt wurde, wird die Entstehung der Ruine schließlich mit dem universalhistorischen Hinweis auf die konfliktreiche Entwicklung auf dem Weg zu einer erfolgreichen convivencia konstruiert. Das Bewusstsein um eine opferreiche Vergangenheit wird dabei teleologisch auf den kulturellen Synkretismus gefluchtet. Die Auslöschung der Maya-Zivilisation steht also im Dienste des Gleichheitsideals, das einem zentralen ideologischen Vektor im nachrevolutionären Mexiko entsprach und den Ort der Ruine, wie bereits in Volneys Ruinenbetrachtung nach der französischen Revolution, zum symbolischen Schmelztiegel der Klassen und Rassen werden ließ.194 Während die Geschichte Chichén Itzás letztlich ungeklärt bleibt, wird die Mnemotopie der Ruine in Chilam Balam zu einem Sammelort, an welchem ein einheitsstiftender historischer Alltagsverstand auf die Vergangenheit projiziert wird und an dem sich die »forces for cohesion and consensus in the interests of national solidarity«195 konzentrieren können, wie es Marcia Landy bei ihrer Untersuchung der filmischen Konstruktion des gesellschaftlichen senso comune beschreibt. Reinhart Kosellecks Axiom, dem zufolge die historischen Erkenntnisgewinne langfristig von den Besiegten stammen196 , muss, der didaktischen Reduktion des Films entsprechend, auch nicht lange auf eine Bestätigung 194 Einmal mehr bietet sich zum Verständnis der Ruinensemantik aus postrevolutionärer Perspektive der Vergleich zu Constantin François Volney an, der in seinen Meditationen die Ruinen als Symbole der Gleichheit imaginiert und adressiert hatte: »Je vous salue, ruines solitaires, tombeaux saints, murs silencieux! c’est vous que j’invoque; […] C’est vous qui, lorsque la terre entière asservie se taisoit devant les tyrans, proclamiez déjà les vérités qu’ils détestent, et qui, confondant la dépouille des rois à celle du dernier esclave, attestiez le saint dogme de l’ÉGALITÉ (Hervorh. im Original)« (Volney 1791, xj-xij). 195 Landy 1996, 4. 196 Koselleck 2013, 68.

143

144

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

warten, denn Chilam Balams Orakel wird bereits in der nächsten und abschließenden Szene erfüllt, in der seine Tochter Naya und Francisco de Montejo »el Mozo« vor einem improvisierten synkretistischen Altar stehen. Die kulturelle Fusion als dominantes Narrativ im mexikanischen Nation-Building wird dabei durch das Verfahren einer allegorischen Familiengründung veranschaulicht, in der Doris Sommer bereits eine zentrale Tendenz der gemeinschaftsstiftenden lateinamerikanischen Literatur des 19. Jhd. erkennt197 und die Carlos Monsiváis am mexikanische Kino beobachtet: The foundation of Mexican cinema is an implicit and explicit idea: the nation is an extension of the family; the family is the truest representation of the nation. Such nationalism is simultaneously useful and deplorable, real and calumnious, false and true. It is the expression of an autocratic State, a result of the political and social weakness of a majority who accept whatever might bring them together.198 In der dominanten Vorstellung der mexikanischen Nation als Großfamilie werden die Prophezeiungen der indigenen Urahnen an die Ruinen als Echoräume der Historie gebunden. Während Chilam Balam seine moralische Überlegenheit nur durch den Heldentod bewahren kann (1:17:20), wird die posthume Überlegenheit seiner Zukunftsvision auf seine Tochter übertragen. Stellvertretend für die gesamte indigene Restbevölkerung, ist es also an ihr, den zweiten Teil des Testaments zu erfüllen, dem zufolge das Blut sich in den Adern künftiger Generationen in Liebe vermischen soll. Vor diesem Hintergrund einer mestizischen Schöpfungsgeschichte muss der letzte Wille des Maya-Propheten natürlich als mexikanische Paraphrase der biblischen Aufforderung »Seid fruchtbar und mehret euch« (Genesis 1:28) verstanden werden.199 Man muss sich dabei in Erinnerung rufen, dass ausgerechnet die Halbinsel Yukatan in Manuel Gamios Forjando Patria (1916), dem Urtext des modernen mexikanischen Nation-Building, als Erfolgsbeispiel für den mestizaje auf regionaler Ebene besungen wurde. »[E]sta homogeneidad racial«, schreibt Gamio der Erinnerung an die Kastenkriege zum Trotz, »esta unificación del tipo físico, esta avanzada y feliz fusión de las razas, constituye la primera y más sólida base del nacionalismo«200 . Dass die Verherrlichung der Rassenmischung in Chilam Balam knapp 40 Jahre später in die selbe ideologische Kerbe schlagen sollte, legt einerseits eine zeitresistente ideologische Ausrichtung des Films offen, erklärt aber auch auf das kommerzielle Scheitern des Films, dessen Erinnerungsarbeit nicht mehr den Geboten der Zeit entsprach. Wie bereits in der historischen Spekulation um die ortsgebundene Conquista im vorhergehenden Schritt diskutiert, hatte die kinematographisch imaginierte Geburt

197

Bei ihrer Betrachtung der literarischen Herausbildung des lateinamerikanischen Nationalbewusstseins im 19. Jhd. stellt Doris Sommer fest, dass das nationale Erwachen in der Regel mit Hilfe einer melodramatischen Ästhetik vermittelt wurde, wenn Sie etwa schreibt, dass die von ihr untersuchten »national« or »historical« novels all turn out to be love stories, romances, in the domestic or bourgeois sense, replete with stock characters and predictable relationships« (vgl. Sommer 1989, 138-141: »A Family Affair«, hier 140). 198 Monsiváis 1985, 239. 199 Vgl. Sommer 1989, 112. 200 Gamio 1916, 18f.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

der modernen mexikanischen Nation in Chilam Balam auch die historischen Verzerrungen in Kauf nehmen müssen, die eine notwendige Begleiterscheinung der filmischen Rückholung der Vergangenheit darstellt.201 Ähnlich wie die monumentalen Historienfilme aus Hollywood war die mexikanische Kinematographie auf den kommerziellen Erfolg ausgerichtet und erteilte romantischen Vergangenheitslektüren im Dienste gültiger Moralvorstellungen jegliche Lizenz. Innerhalb der vom Ökonomieprinzip geregelten Unterhaltungsindustrie fällt die historische Alphabetisierung der Zuschauer in den Bereich sekundärer Ziele zurück. Zur Untersuchung einer kalten Mnemotopie der Ruine, auf die sich eine urbane mémoire-citoyen202 stützen konnte, sind gerade diese »schiefen Geschichtsbilder«203 sehr dienlich. Die Rekonstruktion der mexikanischen Ursprünge in Chilam Balam mag also markante historische Inkonsistenzen aufweisen, doch sind sie symptomatisch für die Herausbildung einer Identitätskonkretheit in der nationalbewussten Filmindustrie der mexikanischen Época de Oro. Als Antwort auf den beschleunigten Wandel der Gesellschaft und die Erosion des Traditionskanons im Zuge der Modernisierung wird die Ruine in der kinematographischen Sinnpflege daher auch mit historischen Narrativen ausstaffiert, die ideologischen Schablonen folgen, Die mexikanische Traumfabrik hat in ihrer industriellen Phase ein Faible für monumentale Kulissen, vor deren Hintergrund sich fadenscheinige Ursprungsfiktionen vollziehen.   Bei all der Kritik an den Geschichtsklitterungen des Nationalkinos darf man jedoch nicht die Wirkungsgeschichte von Chilam Balam selbst vernachlässigen, da sie gerade auf die Grenzen des filmischen Memory-Building hinweist. Der aufwendige Film erwies sich nämlich als ein Flop, was darauf zurückzuführen ist, dass die Zuschauer sich in der Spätphase der Época de Oro zunehmend von den monumentalen Identitätsvorlagen emanzipiert hatten und auch den dominanten Ursprungsfiktionen die das Fundament der mexikanischen mémoire-nation bildeten, mit wachsender Skepsis begegneten. Symptomatisch für die einsetzende Krise der mexikanischen Filmindustrie in den 50er Jahren wollten die Zuschauer nicht mehr von ätiologischen Spektakeln hinter einer kostumbristischen Fassade an der Nase herumgeführt werden, so dass das ambitionierte Filmprojekt bereits nach zwei Wochen aus den Kinoprogrammen verschwunden war. Ignacio López Tarso, der im Film den Maya-Fürsten Ah K’in Chel verkörpert, erinnert sich mit folgenden Worten an die Entstehung des Films: El director [Iñigo de Martino] era un hombre muy culto, que sabía mucho de historia, de arqueología, pero la producción se le fue de las manos, todos acabamos actuando de una manera muy rígida por lo ceremonioso del asunto. La película quedó muy lenta y aburrida y la verdad, no le gustó a nadie.204

201 Der Präsentismus, den Jurij Lotman im Filmmedium als eine »ums Vielfache multiplizierte Gegenwart« diskutiert, sei im Kontext der Populärkultur, rezeptionsästhetischen Bedenken zum Trotz, dominant gesetzt. Mehr als die Vergangenheit repräsentiert der Historienfilm daher eine mögliche Welt, die von Überzeugungen der Gegenwart durchzogen ist. (Lotman 1994, 143). 202 Nora 1986, 649. 203 Ferro 1991, 7. 204 Zit. in www.nativeamericanfilms.org/mexico1.html (zuletzt aufgerufen am 10.10.2017)

145

146

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Zu der unfreiwillig retardierenden Ästhetik und dem steifen Schauspiel des Kostümfilms, das wohl einer Detailversessenheit des Regisseurs geschuldet war, kam sicherlich erschwerend hinzu, dass de Martino seinen Film zu einer Zeit lancierte, als das Modell der kinematographischen Volkserziehung in Mexiko immer stärker ins Abseits geriet und monumentale Nationalfilme sich keiner großen Nachfrage mehr erfreuten. Am Beispiel von Chilam Balam lässt sich sehen, dass simplifizierte Geschichtsversionen zum Ende der Época de Oro kritisch geworden waren und immer öfter für Unmut und Langeweile bei den Zuschauern gesorgt hatten. Zeitgleich zu den epigonalen Anschlussversuchen an die Blütezeit der mexikanischen Filmindustrie setzten die Regisseure des Nuevo Cine Mexicano ab den späten 50er Jahren bereits zu einer schonungslosen Abrechnung mit der Época de Oro an und gingen dazu über, diese als einen kommerziell durchaus erfolgreichen, aber allzu illusorischen Filmbetrieb zu archivieren, der von selbstgerechten didaktischen Impulsen und einem problematischen Manichäismus durchzogen war. Selbstredend wurde dabei auch die einseitige Verwertung der Ruine sowie die problematischen Interpretationen der in ihr ruhenden »mnemische[n] Energie«205 einer scharfen Revision unterstellt. De Martinos Versuch, die monumentale mémoire-nation fortzuschreiben, erwies sich in diesem Kontext als Ausdruck einer mexikanischen Arrière-garde, die mit einem aus der Mode kommenden Paradigma des Nationalkinos nicht mehr die Massen erreichen konnte. Der sich abzeichnende Generationenwandel, den José Cuevas repräsentativ für die Generación de la Ruptura in der Streitschrift La cortina del nopal eingefordert hatte, sorgte dafür, dass die Mnemotopie der Ruinen nicht mehr vorbehaltslos für einheitsstiftende Lektüren der Vergangenheit herangezogen werden konnte. Das postrevolutionäre Kulturprojekt eines Nationalregimes, das, wie es Alan Knight festhält, eine Generation lang in der Zivilgesellschaft implementiert wurde206 und in der nationalen Filmindustrie einen bedeutenden Multiplikator besaß, basierte auf einer Harmonisierung der Vergangenheitsrekurse, die von einem Innovationsdrang späterer Generation destabilisiert werden sollte. Die im Film inszenierten Ruinen als Ursprungsorte einer heterogenen mexicanidad boten keine gesellschaftsfähigen Identitätsvorlagen und das alte Paradigma des Kinos als nationaler Gedächtnisfabrik wurde zum Angriffspunkt, zum »clichéd straw man«207 einer schleichenden kollektiven Selbstüberholung. Wie im abschließenden Kapitel zur filmischen Ruinenreproduktion in der zweiten Hälfte des 20. Jhd. gezeigt werden soll, war der politische Konsens, der in einer Gran Familia Revolucionaria als Nationalallegorie im Sinne des klassischen, intergenerationellen Familiengedächtnisses beschworen wurde, problematisch geworden. Vorab sei erwähnt, dass die krisenhaft gewordene Tradierung kultureller Überzeugungen zu Ruine, eine diachrone Auffächerung der kollektiven Gedächtnisbildung erforderlich macht. Die Absage, die der konventionell konstruierten Ruinen-Mnemotopie erteilt wurde, hängt dabei, so die These, die bei der Behandlung der Hacienda-Mnemotopie zu vertiefen sein wird, mit einem beschleunigten Generationenwandel zusammen, der durch massenmedial zirkulierende Identifikationsvorlagen bedingt ist. Im großen mexikanischen 205 Aby Warburg, zit. in J. Assmann 1988, 12. 206 Vgl. Knight 1994, 394. 207 López 2009, 148.

3. Die Ruine im Film – Einverleibung der pré-héritage

Strukturwandel, der sich nicht im Anschluss an die Revolution, sondern erst ab der Mitte des 20. Jhd. zu vollziehen beginnt208 , gerät die filmisch konstruierte Analogiebildung zwischen naheliegenden Milieus und einem weitgefassten nationalen Rahmen, den Maurice Halbwachs als Voraussetzung zur Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses209 betrachtet hatte, in einen produktiven Krisenzustand. Ein homogenes mestizisches Bewusstsein als nationales Bindemittel ließ sich nicht dauerhaft mit Hilfe kinematographischer Vergangenheitsrekurse sicherstellen, die mexikanische hantise des origines nicht dauerhaft mit Hilfe von didaktisch aufbereiteten Ruinen-Mnemotopen kompensieren. Retrospektiv betrachtet grenzt es an einer ungewollten Ironie, dass der Regisseur Iñigo de Martino bei seiner Parabel auf zivilisationsgeschichtliche Zyklik den ideologischen Umbruch verkennen sollte, der sich in der mexikanischen Gesellschaft anbahnte. Im Wissen um die durchwachsene Wirkungsgeschichte von Chilam Balam lässt sich die feierliche Binsenweisheit, die der fiktive Francisco de Montejo (el Adelantado) beim Anblick der Tempel von Chichén Itzá formuliert, auch als fatale Prophezeiung für das kommerzielle Abschneiden des Films begreifen: Los pueblos como los hombres nacen, florecen y mueren, y sólo queda lo que aquí ha quedado y una vaga memoria de sus hechos. (1:18:50-1:18:58) De Martino ahnte dabei nicht, dass sein Regiedebüt einem raschen Untergang geweiht war und dass die Rekonstruktion der kosmischen Tragik der Ruinen seine Karriere als Regisseur in eine Sackgasse führen würde. Der epigonalen Gedächtnisstiftung von Chilam Balam sollte im Zeitgeist einer scheidenden nationalistischen Diskurstradition nur wenig Resonanz und in der Nachwelt lediglich eine »vaga memoria« vorbehalten bleiben.

208 Vgl. Aguilar Camín 1993, 195ff. 209 Zur Aggregation eines individuellen Gedächtnisse in die makrostrukturelle Kategorie des sozialen Gedächtnisses vgl. Halbwachs 1991, 64-71.

147

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

Bei der national orchestrierten Vergangenheitsdeutung im Einklang mit Manuel Gamios Programmschrift Forjando Patria (1916) war das Kino der Época de Oro eine bedeutende Schmiede des patriotischen Nationalbewusstseins. Neben anderen Kristallisationspunkten der kollektiven Identität wurde die Ruine besonders häufig für Überschreibungsprozesse der mexikanischen Vergangenheit herangezogen. Die historische Indeterminiertheit der Ruinenorte bot die nötigen Spielräume für eine nationalistische écriture de l’histoire, die mit Rekursen auf eine mythisch überformte télé-histoire einherging. Die kollektive Fabel der mexikanischen Antike als einer verlorenen Welt fand bereits im 19. Jhd. ein ideales Auffangbecken in den Ruinen. Das Bedürfnis nach historischer Befüllung stimulierend, waren die Ruinen als verlassene Orte prädestiniert, mit zeitgemäßen Ursprungsnarrativen der mexikanischen Gesellschaft angereichert zu werden.1 Die lokale Antike wurde hierbei topographisch fixiert und trug als kollektiver Stepppunkt, in welchem stillgelegte Zukunftsutopien in gebündelter Form konserviert waren, zur historischen Dynamisierung der mexikanischen Gesellschaft bei. Folgt man Maurice Halbwachs’ Idee, der zufolge starke gesellschaftliche Transformationen zu einer Multiplikation von Gedächtnisrahmungen beitragen, markieren Ruinen als materialisierte Erinnerungsspuren jene »anachrone[n] Strukturen«2 , an welchen sich die Gedächtnisgabelungen einer Gesellschaft konzentrieren: Es gibt kaum eine Gesellschaft, in der wir einige Zeit gelebt haben, die nicht fortbesteht, die nicht zumindest irgendeine Spur ihrer selbst in den neueren Gruppen hinterlassen hat, in die wir einbezogen sind: das Fortbestehen dieser Spuren genügt, um die Permanenz und die Kontinuität der dieser früheren Gesellschaft eigenen Zeit zu erklären und es uns möglich zu machen, jederzeit in Gedanken in sie einzudringen.3 Hierbei muss man mögliche Einwände im Hinblick auf eine von den Zeitzeugen entkoppelte télé-histoire mit dem Hinweis auf die großen zeitlichen Klammern in Mecha-

1 2 3

Vgl. Castañeda 2001, 462. J. Assmann 1991, 349. Das Phänomen der »anachronen Strukturen«, in welchen sich eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herauskristallisiere, wird in C.3.3. näher untersucht. Halbwachs 1991, 122.

150

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

nismen des Nation-Building entkräften. Die ursprüngliche Bewohnbarkeit der Tempelstädte ist nämlich trotz der großen historischen Distanz in ähnlicher Weise konstitutiv für die Orientierung in der mexikanischen Moderne gewesen, wie das kommunikative Gedächtnis einer Zeugengeneration, die den gesellschaftlichen Wandel zum biographischen Erfahrungsschatz hinzuzählen kann. Im Hinblick auf die kinematographische Reproduktion gesellschaftlich relevanter Mnemotope war das Moment des gedanklichen Eindringens oder Einfühlens in frühere Gesellschaftsformen auch im Sinne einer Anknüpfung an kanonische Ursprünge greifbar. Hierzu war die situative Emergenz indigener Identitätsstränge in der hybriden mestizischen Bewusstseinsprägung, die in Canto a mi tierra (1938) oder Raíces (1953) untersucht wurde, besonders aussagekräftig. Aus der Perspektive eines mestizischen Selbstverständnisses, in welchem eine traumatische indigene Vergangenheit, so wie es Vasconcelos gefordert hatte, überwunden zu sein schien, beschränkte sich die Präsenz der lokalen Antike häufig auf materielle Erinnerungsspuren, die in präkolumbinischen Monumenten fortbestanden. Obwohl die präkolumbinischen Imperien in Filmen wie La noche de los mayas (1939) oder Chilam Balam (1955) ein ums andere Mal symbolisch begraben wurden, blieb eine memoria indígena im eschatologischen Glauben an eine historische Wiedergutmachung der Conquista in der Aura der Ruine erhalten. Die große mexikanische Erfahrungsschwelle wird in der mexikanischen Filmkultur mit Hilfe der Ruinen-Mnemotopie immer wieder als »Wunde der Eroberung«4 inszeniert, die schon Isaiah Berlin als Kennzeichen einer nationalistischen Vergangenheitspflege erkannt hatte. Abschließend soll anhand einer Selektion der filmischen Ruinenthematisierungen der Übergang in die postnationale Ära nachvollzogen werden. Trotz neuer Funktionalisierungstendenzen nach der industriellen Blütezeit, behält sich das Mnemotop der Ruine die Qualität einer kulturellen Phantomhaftigkeit vor, die mit Jacques Derridas Begriff der hantologie aufgeschlossen wird. Blicken wir zunächst auf Deseada (1951) von Roberto Gavaldón, einem Vertreter der klassischen Ausgestaltung der Ruinen-Mnemotopie, in dem die Denkfigur der zirkulären indigenen Renaissance in besonders beispielhafter Prägnanz reproduziert wird. Im Zentrum des nahezu komplett an der Ruinenstätte Chichén Itzá gedrehten Melodrams steht eine titelgebend begehrte indigene Frau als Metonym für die Unverfügbarkeit der amerikanischen Antike. Für die nationalistische Mythomotorik ist diese Gegenüberstellung von geradezu zentraler Bedeutung, denn Deseada schützt ihre Integrität bis hin zum freiwilligen Opfertod. Wenn sie sich der Begierde des von außen kommenden Spaniers Manuel verweigert, entzieht sich das suggestiv weiblich konnotierte und damit der Eroberung ausgestellte präkolumbinische Weltbild auch sämtlichen Durchdringungsversuche der exogenen Vergangenheitsdeutung. Während dem Zuschauer in der Exposition das emblematische Ruinenfeld von Chichén Itzá als Geisterstadt präsentiert wird, werden im Lied des Maya-Tenors Nicolas Urcelay eine Reihe von ursprünglichen Zentren der Maya-Zivilisation einer unwiederbringlichen Vergangenheit überlassen, ja performativ begraben:

4

Berlin 1990, 59.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

Yukalpetén, Yukalpetén,/todo se fue, todo pasó./Ya se fue Chichén, ya se fue Zací,/y se fue también Ichcanzihó […] (2:05-2:45) Der Abgesang symbolisiert jedoch nur eine scheinbare historische Schließung, denn bereits in der nächsten Sequenz wird angedeutet, dass die verlassenen Ruinen nach wie vor ein »bewohntes Gedächtnis«5 für das mexikanische Nationalkollektiv darstellen und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Die Protagonistin mit dem sprechenden Namen Deseada (Dolores del Rio), eine Hüterin des indigenen Gedächtnisses, kommt mit einer Mädchenschar aus einem der Tempel hervor und richtet ihr eschatologisches Zukunftsmodell an ihre Schülerinnen wie auch an die Zuschauer: »Hay profecía de que la grandeza pasada habrá de renacer. Y ese día no está muy lejos« (5:16). Wie bereits in Maria Candelaria (1943) verkörpert Dolores del Rio, allen phänotypischen Inkongruenzen zum Trotz, die Rolle einer indigenen Mexikanerin, die zum tragischen Opfer melodramatischer Fügungen wird. Sich der Begierde des weißen Mannes entziehend, stürzt sie am Ende des Films in den Cenote Sagrado. Im Gegensatz zu Lol in La noche de los mayas, die durch Ihre Liaison mit einem Spanier den Zorn der Götter auf Yuyumil gezogen hatte und als Sündenbock der tabuisierten kulturellen Kontamination geopfert wird, wählt Deseada den Freitod just, um die von einem fremden Buhler gefährdete kulturelle Reinheit zu bewahren. Die fatale Prophezeiung, mit der bereits zu Beginn von Deseada die Mnemotopie der Ruine als Ort eines kollektiven Latenzgedächtnisses semantisiert wird, bildet einen narrativen Rahmen. und wird nach dem Heldentod als eine Art Epitaph wiederholt: »La marca de tu pie se borra en el polvo del camino. Pero el paso que diste queda impreso en la memoria del tiempo« (4:58-5:06/1:32:32-1:32:40). Deseadas Freitod wird damit zum Symbol für ein kollektives Opfergedächtnis des indigenen Mexikos im Dienste einer nationalistischen Einschmelzung. Der fatale letzte Schritt, der die tragische Heldin in den tödlichen Abgrund befördert, besiegelt zum einen die Unverfügbarkeit der memoria indígena, die metonymisch in der Unverfügbarkeit von Deseada codiert ist. Auf der Metaebene national orchestrierter Erinnerungsarbeit ist hier aber auch eine symbolische Repetition der Conquista enthalten, die, einer mythischen Präfiguration gleich, jenen Wiederholungszwang bedingt, der mit Mircea Eliade als Sinnstiftungsmechanismus einer archaischen Ontologie eingeführt wurde. »Me sucede algo extraño«, meint der spanische Neuankömmling an Bord des Zuges, der ihn durch die Henequén-Plantagen in das Landesinnere von Yukatan befördert. Wie Walter Benjamins Angelus Novus, blickt Manuel dabei auf die zurückgelegte Strecke als wäre er der Vergangenheit zugewandt: »El paisaje, el ambiente, la atmósfera, es como si ya los hubiera visto antes, en otro tiempo, en algún sueño con otros ojos o con quién sabe que memoria misteriosa« (25:35-25:46). Bei dieser fatalistischen Rückwärtsgewandtheit bleibt es natürlich eine Frage der Zeit, bis die Ruinenstätte als historisches Trümmerfeld um eine weitere Katastrophe erweitert wird – den Freitod einer Unbezähmbaren. Für die Rolle des Mnemotops als einer Identitätsvorlage, die kollektive Verlusterfahrungen kompensiert, wird die mexikanische Ruine als Gewährsträger kulturgeschichtli-

5

Vgl. A. Assmann 1999, 134f.

151

152

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

cher Asymmetrien und Unvereinbarkeiten einmal mehr zum Projektionsfeld einer moralischen Überlegenheit, mit der historische Opfer, langfristig betrachtet, in der Gesellschaft prämiert werden. Auch die bereits mehrfach thematisierte Präsenz eines zyklischen Zeitregimes kommt in Deseada in der Eigengesetzlichkeit der Ruinen zur Geltung und unterstreicht ein dominant gesetztes mestizisches Selbstbewusstsein als zentrale Identifikationsaufforderung der Época de Oro. Das kulturelle Erbe auf dem das mestizische Selbstverständnis letztlich ruht, so die Präsupposition in Deseada, werde nicht schriftlich, noch nicht einmal oral, sondern rein biologisch tradiert.6 Gegen den Strich gelesen wird Deseadas Verweigerung sich der kulturellen Fusion hinzugeben auch zum Symbol einer anhaltenden indigenen Resistenz gegen eine nationalistische Kolonisierung der Vergangenheit, die eine wirtschaftliche Vereinnahmung des indigenen Mexikos in einem vermeintlich egalitären mestizischen Nationalkollektiv bin in die Gegenwart verdeckt. Im Kontext einer nationalen Einschmelzung sämtlicher Identitätsstränge im Totalhorizont der mestizischen raza cósmica bleibt die Ruine im mexikanischen Film ein Mahnmal, das für das Weiterleben ausgelöschter Zivilisationen in der Populärkultur sorgt. Die immer wieder tragisch scheiternde Zusammenführung des nationalen Erinnerungskollektivs, die in Deseada aber auch in La noche de los mayas im scheiternden Liebessujets aufgefangen wird, belässt der Ruine die prinzipielle Verweismöglichkeit auf die Gleichzeitigkeit von identitätsbildenden und widerstreitenden Vergangenheitsbezügen. Der Freitod der indigenen Heldin in der Ruinenlandschaft ihrer eigenen Vergangenheit, mit dem beide Filme enden, bleibt in der linearen Logik des Cine de oro der einzige Ausweg für einen indigenen Purismus, dessen Resistenz als hartnäckige Fortschrittsverweigerung fehlinterpretiert wird. Jenseits dieser symbolischen Opferungen alternativer Bewusstseinsstränge im Nationalfilm bleiben indigene Gemeinschaften und eine memoria indígena in Mexiko bestehen und damit auch die Koexistenz von Vergangenheitsbezügen. Auf die Vielfalt der rahmenden Rückbezüge, die in einer Gesellschaft koexistieren können, deutete bereits Maurice Halbwachs hin und soll hier zu Wort kommen, da sein Verständnis der gesellschaftlichen Retrospektion einer einheitlichen nationalen Horizontbildung entschieden zuwiderläuft: Alle diese noch fortbestehenden Zeiten können selbst dann, wenn sie den Stadien und gleichsam aufeinanderfolgenden Formen einer Gesellschaft entsprechen, die sich tiefgreifend gewandelt hat, einander durchdringen. Sie bestehen im übrigen nebenein6

Auf die Frage nach der Quelle ihrer indigenen Gelehrsamkeit, die sich bei genauerem Hinsehen weitestgehend in einer Projektion des Penelope-Mythos auf die Maya-Mythologie erschöpft, antwortet Deseada mit der Pyramide von Kukulkan im Rücken: »Libros viejos de mis padres y mis abuelos, donde se dice todo lo que nosotros fuimos antes, antes de que llegara el tiempo malo, que todo lo destruyó. Pero estas cosas no se aprenden en los libros. Se llevan por dentro, en la sangre, en forma natural, sin que nadie nos las explique. […] es como si lo hubieras aprendido antes de nacer« (7:15-7:46). Die platonische Vorstellung einer präexistenten Erinnerung, die es von Geburt an wiederzuerlangen gilt, erscheint hier im Gewand eines genetisch transportierten indigenen Bewusstseins. Die aktualisierte Vorstellung der Anamnese bringt sich jedoch in akute Legitimationsnot, da die fragwürdige Reproduktion der einheimischen Kosmologie im Gestus eines kinematographischen reverse ventriloquism erfolgt.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

ander fort. Tatsächlich dehnen sich die Gruppen, deren Denkweisen verschieden sind, materiell im Raum aus, und die Mitglieder, aus denen sie sich zusammensetzen, treten gleichzeitig oder nacheinander in mehrere von ihnen ein. Es gibt keine universale und einheitliche Zeit, sondern die Gesellschaft zerfällt in eine Vielheit von Gruppen, von denen jede ihre eigene Zeitdauer hat. Was diese Arten der kollektiven Zeitdauer unterscheidet, ist nicht die Tatsache, daß die einen schneller dahinfließen als die anderen. […] Die Ereignisse folgen zeitlich aufeinander, aber die Zeit selbst ist ein unbeweglicher Rahmen. Nur sind die Zeiten mehr oder minder ausgedehnt, sie erlauben dem Gedächtnis, mehr oder weniger weit in das zurückzugehen, was man die Vergangenheit zu nennen übereingekommen ist.7 Die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander-Fortbestehen unterschiedlicher Gedächtnisrahmen, die Halbwachs hier beobachtet, lässt sich auch als Gleichörtlichkeit verschiedenartiger Erinnerungssubstrate eines heterogenen Nationalkollektivs verstehen, die in der Ruine ein besonders markantes Beispiel besitzt. Halbwachs Gedächtnissoziologie nimmt daher auch die mexikanische Entwicklung im 20. Jhd. vorweg, denn im Nachgang an einheitsbeschwörende Ruineninszenierungen kollidiert die spannungsreiche Mnemotopie der Ruine in ihrer filmischen Mediation immer offener mit den Vorstellungen einer Integration aller mexikanischen Gedächtnisstränge. Auch wenn die Ruine sich in Raíces noch trefflich als nationales Identitätsbollwerk instrumentalisieren ließ, bleibt die unfassbare und spekulationsbedürftige memoria indígena ein unbeständiger Stepppunkt des Nationalkollektivs, der immer wieder auch als Gegenpol mestizischer Ursprünge werden kann und damit auch zu einer Orientierungshilfe für alternative Identitätsmodellierungen. Die Erfahrbarkeit der Zeit in den Ruinen als »Signifikanten einer Abwesenheit, eines Mangels an Idealität«8 , die einleitend mit Hartmut Böhme eingeführt wurde, hat vor dem Hintergrund einer mexikanischen »Erlösungsbedürftigkeit«9 und einer eschatologischen Ausrichtung auf einen verlorenen Urzustand eine große gesellschaftliche Bedeutung. Die Rekonstruktion phantomhafter Erinnerungsspuren und einer zur kulturellen Hieroglyphe gewordenen Vergangenheit bleibt in Böhmes oxymoralem Ruinenverständnis einer Präsenz des nicht mehr Gegenwärtigen auch bedeutend im Sinne einer gesellschaftlichen hantologie, einem Portmanteau-Begriff aus ›hanter‹ und ›ontologie‹, den Jacques Derrida im Sinne der epistemologischen Hinwendung zum gespenstisch unverfügbaren und dennoch handlungsleitenden Kulturerbe bildet.10 Auch wenn

7 8 9 10

Halbwachs 1991, 122. Böhme 1989, 287. Butzer/Jacob 2012, 356. Derrida 1993, 31f. Obwohl Derrida das Moment des Gespenstischen vordergründig als ein Fortbestehen der marxistischen Theorie nach dem in den 1990er Jahren weithin proklamierten Ende der Geschichte untersucht, ist seine Hervorhebung eines »présent non présent« oder eines »être-là d’un absent« sehr aussagekräftig für die mestizische Identitätsstabilisierung im repetitiven Rückgriff auf das phantomhafte Nachleben aufgekündigter Zukunftsideale präkolumbischer Prägung: »Après la fin de l’histoire, l’esprit vient en revenant, il figure à la fois un mort qui revient et un fantôme dont le retour attendu se répète, encore et encore.« (Derrida 1993, 26 und 32).

153

154

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Derrida in Spectres de Marx (1993) die latente Wirkmacht vergangener Utopien am Beispiel des Marxismus diskutiert und die Kategorie des Spektralen unmissverständlich auf das Incipit des Kommunistischen Manifests zurückgeht11 , lässt sich das Aufspüren eines für ungültig erklärten Legats unter Vorbehalt auch auf die präkolumbinische Ruine anwenden, da die darin eingelagerten Erinnerungsspuren ebenfalls ein spektrales und verunsicherndes Nachwirken im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft entfalten können,12 Gerade im Hinblick auf eine kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich stabilen Grundannahmen und Überzeugungen einer Gesellschaftsordnung, spielt die Ruine ihre Funktion der Sichtbarmachung disqualifizierter oder aus dem Alltagsverstand verdrängter Bewusstseinsprägungen aus.13 Auf den mexikanischen Kontext angewandt bildet das Archäotop einen wie prädestinierten Ort für die hantologische Aufschlüsselung einer unvollendeten indigenen Vergangenheit, die immer wieder ihren kulturellen Erbanspruch einfordert. Bedenkt man die heilsgeschichtliche Teleologie des Indigenismus, der in Deseada oder auch La noche de los mayas seine utopischen Gedächtnisvektoren auf eine Zukunft im Einklang mit dem deklassierten lokalen Polytheismus ausgerichtet hat, wird die mnemische Energie mexikanischer Archäotope in all ihrem destabilisierenden Potenzial nicht realisierter Gesellschaftsideale greifbar. Dass der lokale Chiliasmus hierbei eine phantomhaft schillernde, untilgbare Wirkung entfaltet, wird indes nicht nur in Form positiv gewandter indigenistischer Utopien deutlich, sondern auch in den dystopischen Kontrastfolien der Populärkultur, die sich treffsicher an den Kollektivdispositionen und Phobien der Gesellschaft abarbeitet: Die mit El signo de la muerte vorweggenommene Imagination einer unheilvollen Restitutionsorgie, die mit den postkolonialen Ängsten der Mehrheitsgesellschaft spielt, findet einen Nachhall in Filmen wie La momia azteca (1957), La maldición de la momia azteca (1957) oder Las momias de Guanajuato (1972), die die mexikanischen Gedächtnislücken mit trashiger Horrorästhetik des cine de luchadores befüllen. Der historische Spuk, der revenant, den Derrida als unheimliches Menetekel eines nicht verwirklichten Kulturerbes begreift14 , findet seinen Verwahrungsort in den verfluchten Krypten der mexikanischen télé-histoire, die permanent eine gesellschaftszersetzende Macht der unterdrückten Episteme auszuspielen droht. Die Ruine bleibt das sichtbarste Mahnmal der lokalen Antike und markiert, um Jorge Rabasas treffendes

11 12

13

14

Vgl. Derrida 1993, 22. Auf die Ruine als einem besonderen Typus unter den »ghostly places and sites of memory« wird Derridas Konzept des Spektralen angewandt bei Sterling (2014) und die Ruine im Sinne eines Mediums für ein kritisches Kulturerbe diskutiert (Sterling 2014, 3f). Einen Versuch, das gespenstische Fortwirken einer aufgekündigten Vergangenheit mit der modernen Ortserfahrung zu verknüpfen, unternimmt auch Bell (1997). Vgl. hierzu Fredric Jamesons Besprechung des Spektralen bei Derrida als Auslöser einer zersetzenden Ahnung, dass eine gegenwartsbestimmende Episteme ungesichert und unvollkomen sei: »Spectrality does not involve the conviction that ghosts exist or that the past (and maybe even the future they offer to prophesy) is still very much alive and at work, within the living present: all it says, if it can be thought to speak, is that that living present is scarcely as self-sufficient as it claims to be; that we would do well not to count on its density and solidity, which might under exceptional circumstances betray us.« (Jameson 1995, 86.) Vgl. Derrida 1993, 233f u. 276.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

Zitat ein weiteres Mal heranzuziehen, »a ghostlike continuity that forevermore threatens the social order or progress«15 . So besehen bleibt der Ruine als Triebfeder einer prospektiven eschatologischen Selbstsuche immer auch das Potenzial einer Loslösung vom Kontinuum der nationalen Vergangenheit vorbehalten. Ihre Engfassung als Schauplatz für kinematographische Mysterienspiele, mit welchen während der postrevolutionären Neuordnung ein mestizisches Selbstverständnis der Gesellschaft legitimiert werden sollte, ist daher umkehrbar zu einem Verständnis der Ruine als Ort der historischen Diskontinuität, die auch in der Gegenwart eine große Symbolkraft für kollektive Protestbewegungen gegen ideologische und wirtschaftliche Vereinnahmungen des indigenen Mexikos besitzt. Gleichwohl bleibt die Ruine der Verweisort einer nicht objektivierbaren Vergangenheit und markiert die Anwesenheit einer unfassbaren, peinigenden Unabschließbarkeit, die wie geschaffen ist für Entladungsprozesse der mexikanischen Melancholie. Das spannungsreiche mnemische Potenzial der Ruinen bleibt somit sehr gegensätzlichen Zugriffen auf die Vergangenheit und unterschiedlichen Zukunftsentwürfen vorbehalten. Trotz einer langen Tradition der patriotischen Sinnfixierung und der tourismusindustriellen Kommodifizierung, bietet die Ruine nach wie vor eine Vorlage für einen fluiden Interpretationshorizont.16 Parallel zur Koexistenz unterschiedlicher Gedächtnisrahmungen kann man auch ein Nebeneinander von ästhetischen Zugriffen auf die Ruine beobachten, die die monumentalen Darstellungskonventionen und die daran geknüpften Überzeugungen aus der Época de Oro bin in das späte 20. Jhd. zu tragen scheinen. Eine ungebrochene Gemeinsamkeit liegt insbesondere im ätiologischen Interesse, das viele Filme auf die Ruinen richten. Die Auseinandersetzung mit den mexikanischen Ursprüngen entspringt dabei nicht selten einer exogenen anthropologischen Forschungslust, gegen die sich Alazraki in Raíces noch zur Wehr gesetzt hatte. Centinelas del Silencio (1971, Robert Amram), eine mexikanisch-US-amerikanische Koproduktion, die mit zwei Oskars ausgezeichnet wurde, ist dabei das vielleicht bekannteste Beispiel für eine neuere Inszenierung mexikanischer Ruinen, die einen verklärenden fremden Blick auf die geheimnisvollen Restbestände der mesoamerikanischen Vergangenheit wirft. Im dokumentarischen Kurzfilm wird der Zuschauer in gleichermaßen überlegenen wie distanzierten Helikopteraufnahmen in die Nähe unterschiedlicher Ruinenstätten gebracht, während eine allwissende Stimme Mutmaßungen über die Lost Civilizations in Mexiko anstellt: Las ruinas del México antiguo, monumentos hechos por la mano del hombre, representan un misterio casi tan profundo como la creación misma. Esparcidos por todo México, estos restos son testigos de los logros humanos en un pasado lejano y distante. Un pasado del cual aún sabemos muy poco. Viajando entre algunas de los cientos de zonas arqueológicas tan sólo podemos hacer conjeturas en cuanto a su origen, la relación de una con otra y lo que estas representan. (2:36-3:10) Die unsichtbare Voice of God, die in Chilam Balam an die Größe des Maya-Imperiums erinnert hatte, perpetuiert die Ruine in ihrer Funktion als Wächterin (›centinela‹) einer

15 16

Rabasa 2010, 18. Vgl. Sterling 2014, 4.

155

156

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

unbekannten, verstummten Tradition. Mit triumphaler Musik unterlegt, die in der Tradition von US-amerikanischen Filmepen steht, wird im Dokumentarfilm jedoch auch eine außenstehende Perspektive kontinuiert, aus der die romantisch verklärten Überbleibsel der mexikanischen Antike als populärkulturelles Faszinosum aufbereitet werden.17 Bezeichnenderweise bleiben Robert Amrams Archäotope entvölkert: Weder die Erben des präkolumbinischen Mexikos, noch die Archäologen, noch die Touristen, die in die mystischen Bannkreise der Ruinen vordringen, stören die Illusion eines spätestens seit der Conquista begrabenen Erbes. Mehr als 400 Jahre später steht die körperlose, extradiegetische Stimme des Dokumentarfilms den Ruinen ähnlich ratlos gegenüber wie der anonyme Konquistador, den sie zitiert: »Hay mucho de ponderar en ello, que no sé cómo lo cuente. Ver cosas nunca oídas, ni aún soñadas como veíamos«. Estas palabras fueron escritas por un español en 1550. Hoy en día nuestros sentimientos siguen inmutables, pues a través de los siglos transcurridos, apenas hemos empezado a arañar la superficie del pasado oculto de México. (16:17-16:43) Vorenthalten wird dem Zuschauer damit auch, dass die Sichtbarkeit der Vergangenheit, die an der Ruine exemplarisch vorgeführt wird, in den meisten Fällen nur mit Hilfe einer aufwendigen Freilegung und einer neuschöpfenden Anastylose möglich wurde, die ein hohes Maß an archäologischer Spekulation voraussetzt. Das Entbergen der lokalen Vergangenheit war dabei stark gekoppelt an die Interessen einer nationalen Konsolidierungsphase als Antwort auf Tendenzen der kollektiven Desintegration während der mexikanischen Revolution. Mit den Möglichkeiten der modernen Archäologie ausgestattet ließ sich eine glorreiche Vergangenheit, auf die der Kurzfilm seinen neugierigen regard éloigné wirft, auch für touristische Begehungen aufarbeiten. In der kommemorativen Verwertung der Ruinen als kalte Mnemotope einer untergegangenen Zivilisation wiederholt sich aber auch ein dominantes Paradigma der mexikanischen Selbstmodellierung, die in der Verklärung des indigenen Legats wurzelt: »La civilización mesoamericana murió de muerte violenta pero México es México gracias a la presencia india«18 , schreibt Octavio Paz in seinem Definitionsversuch einer mexicanidad, die nur in der paradoxen Identifikation mit einer untergegangenen indigenen Gesellschaftsordnung konstitutiv wird. Mit anderen Worten ist eine moderne, mestizische Subjektivität nur durch die präsent gehaltene Erinnerung an die Auslöschung indigener Zivilisationen möglich:

17

18

In dieser Logik einer Aufbereitung der Ruinen als mystische Zielorte der Tourismusindustrie steht auch das Motto des Films (»Look on my works, ye Mighty, and despair!«) aus dem Sonett Ozymandias (1817) des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley, in welchem die Errungenschaften altägyptischer Imperien zu einem Trümmerhaufen in der Wüste verkommen sind, so dass auch in diesem Fall die Simmelsche Rückführung von Kultur zu Natur auch eine Abwanderung der Geschichte in eine mythische Dimension in Gang setzt. Die im Kurzfilm bediente, überästhetisierte Schaulust an zivilisationsgeschichtlicher Tragik, bildet eine optimale Vorlage für das, was ab dem späten 20. Jahrhundert als »ruin porn« bezeichnet wird und eine banale oder exotisierende Sensationslust an den monumentalen Spuren der Vergängnis meint (vgl. Sterling 2014, 4f). Paz 2016b, 482.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

Los indios son el hueso de México, su realidad primera y última. […] Aunque la lengua y la religión, las instituciones políticas y la cultura del país son occidentales, hay una vertiente de México que mira hacia otro lado: el lado indio.19 Folgt man dieser Selbstmodellierung, besteht die tragische Funktion der Ruinen vordergründig darin, eine indigene Bewusstseinsprägung mit Hilfe einer kalten Mnemotopie der verlassenen Orte und aufgegebenen Weltbilder zu stützen. Die Ruine bleibt jedoch – den außenwirksamen Aufbereitungsversuchen oder den Überbetonungen zivilisatorischer Dichotomien zum Trotz – ein kultureller Steinbruch, den Marc Augé im eigentlichen, aber auch übertragenen Sinne als einen dynamischen Ort begreift, an dem neben der Vergangenheit auch die Zukunft der Gesellschaften verhandelt wird.20 Eine Reihe von Filmen, die im Nachgang zur Época de Oro Revisionen der monumentalen Geschichtsschreibung anbieten, demonstrieren, dass die kalte Mnemotopie der Ruine und die kollektive Trauerarbeit angesichts einer als abgeschlossen geltenden Epoche jederzeit auch zu einer kontrapräsentischen, heißen Mnemotopie umgewidmet werden kann, in der eine Diskrepanz zwischen der kinematographisch imaginierten mexicanidad und der realen Situation aufgedeckt wird.21 Cascabel (1977) von Raul Araiza ist ein eloquentes Beispiel für den Übergang zu einem postnationalen Zeitgeist in Mexiko und macht deutlich, dass die kulturelle Automodellierung sich nach der Época de Oro nicht mehr entlang konventionalisierter Ruinen-Mnemotope ausrichten ließ. Die Entstehung des Films fällt auf eine Zeit der Desillusion im Hinblick auf die grands récits der mexikanischen Revolution. Das Unbehagen an der Alleinherrschaft des PRI, der bis in eine unabsehbare Zukunft institutionalisierten Revolutionspartei, wurde in zahlreichen Filmen manifest, die mit dem ästhetischen Paradigma der nationalen Filmindustrie brachen und Kritik an der kinematographischen Repräsentation Mexikos übten; so auch in Cascabel, einem autoreferenziellen Werk, das sich die Strategien des reflexiven Kinos zu eigen machte, um sich von den vorausgehenden Generationen der nationalen Filmgeschichte abzugrenzen. Vor allem in der filmischen Arbeit an der Mnemotopie der Ruinen wird dieser Bruch herausfordernd zur Schau gestellt: 19 20 21

Ebd. Vgl. Augé 2003, 17. Jan Assmanns Vorstellung vom kontrapräsentischen Gedächtnis als einer peinigenden Defizienzerfahrung, die eine heiße Mythomotorik bedingt, findet sich implizit auch in Roger Bartras Akzentuierung eines »desajuste« bestätigt, der in Mexiko ab den 60er Jahren in der kinematographischen Selbstrepräsentation greifbar wurde. Darunter fallen die Arbeiten des Regisseurs Alejandro Galindo, den Bartra als unmittelbar vom Paradigmenwechsel betroffenen Zeitzeugen erkennt (vgl. Bartra 2015, 256) und dessen kontrapräsentischer Geist in dieser Arbeit eingehend im Kapitel zur Grenze untersucht wird. In Una radiografía histórica del cine mexicano (1968) findet man eine eloquente Diagnose Galindos zum neuen gesellschaftlichen Umbruch, der von einer immer stärker empfundenen Deckungsungleichheit eines kinematographisch imaginierten und eines realen Mexikos markiert sei, die nationale Filmkultur vergangener Tage also zunehmend zum Synonym für Realitätsverzerrung wurde: »[…]las películas con asuntos mexicanos realizadas por mexicanos de alguna significación, revelan, sí, las ambiciones, los intereses y las pasiones, los niveles sociales y económicos, las torturas sicológicas de sus realizadores, pero también revelan un total desajuste o falta de concordancia entre lo que presenta como realidad mexicana y lo que es en verdad la realidad mexicana, así como de la que el propio realizador tiene conciencia.« (Zit. in: de los Reyes 1996, 193.)

157

158

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Der Ruinenkomplex von Palenque im Staat Chiapas wird als Film im Film vorgeführt und ist dabei das Fragment eines scharf zensierten Staatsauftrags, den der beauftragte Alfredo, die prometheische Figur eines Theaterregisseurs auf Abwegen, zur folkloristischen Lobhudelei reduziert findet. Bereits während der Filmarbeiten wird eine durch die Tourismusindustrie geprägte Inszenierung der mexikanischen Archäotope sarkastisch angeprangert. Im Dialog des fiktiven Regisseurs mit seinem Kameramann, der die Ruine gerade ad usum Delphini einzufangen versucht, wird die Ruinenstätte zu einem Ort des kritischen Geschichtsbewusstseins; einem Ort, an dem außenwirksame Schablonen der mexicanidad dekonstruiert werden: »Don Miguel, a esta toma le ponemos música de mariachis y se gana usted su Ariel [bedeutendste mexikanische Auszeichnung für Filmschaffende (Anm. d. Vf.)]«. (1:05:54) (Abb. 35)

Abb. 35: Während der Entstehung der Auftragsarbeit wird der ›Official Nationalism‹ (B. Anderson) mit Hilfe autoreferenzieller Verfahren als moderner Patrimonialismus angeprangert. Abb. 36: In autoreferenzieller Metalepse werden die Ruinen als Symbole der kolonisierten Vergangenheit auch in der Höhle staatlicher Zensoren aufbereitet, hier jedoch im Zeichen einer entpolitisierten ›heritage industry‹.

Nach dem Schnitt zeigt Araiza dem Zuschauer, wie regierungsnahe Bürokraten die Ruinendarstellungen goutieren (Abb. 36): »Esto sí, esto sí es cine«, hört man sie Zunge schnalzend sagen, »mira no más, ¡qué belleza!, ¡qué composición!, ¿eh?, ¡qué ruinas!, ¡qué paisajes!« (1:06:12). Was Araiza dabei in Frage stellt, ja nahezu ridikülisiert, ist die unhinterfragte filmische Darstellungskonvention der mexikanischen Archäotope, die die Ruine und die dazugehörenden Eingeborenen lediglich als photogene Epiphänomene behandelt. Unschwer zu erkennen ist dabei, dass Araiza sein Fadenkreuz auch auf die einseitigen, formalen Nachahmungen der Eisensteinschen Ruinen richtet, die die mexikanischen Leinwände kolonisiert und einen »culto al hieratismo«22 mitsamt der exaltiert-pittoresken Filmrhetorik befördert hatten. Während der Vorführung der editio castrata kündigt der Projektleiter in seiner Rolle eines Agenten der patrimonialen Gedächtnisarbeit an, neben den Ruinen auch die Staudämme, das Erdöl, die Küste – kurzum, nur das Schöne an Chiapas hervorzuheben und die galligen Interviews nach und nach zu eliminieren (1:06:26). Die traditionelle Inszenierung der Ruine wird damit 22

García Riera 1987b, 196.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

unverblümt als staatliche Ausschlachtung des nationalen Kulturguts offengelegt und Cascabel entpuppt sich als moralisches Lehrstück gegen die hegemoniale Vereinnahmung der Geschichte. Infolge einer kulturkritischen Betrachtung der Ruine als einem beliebig serialisierbaren Ortstyp, der in der mexikanischen Nationalökonomie eine generische Ortssemantik des überholten, dem Fortschrittsglauben geopferten Status quo ante zugewiesen bekommt23 , wird ihre Aura der kalten, einheitsstiftenden Mnemotopie destabilisiert. Araizas kritische Ruinenlektüre entstand an der Schwelle zur postnationalen Ära. Seine autoreferenzielle Hauptfigur ist bereits der Vertreter eines reflexiven Kinos, mit dem nicht nur in Mexiko obsolet gewordene Paradigmen der Filmästhetik torpediert wurden. Als kritischer Regisseur, der die tiefe Diskrepanz zwischen der mexikanischen Realität und ihrer Repräsentation im mexikanischen cinéma du papa erkennt, sträubt er sich, ein klischeehaftes Mexiko zu porträtieren, das für gewöhnlich Reisekataloge schmückt. Es erscheint nur zu konsequent, dass er dabei ausgerechnet die Ruine als haut lieu des mexikanischen Nationalbewusstseins zum Epizentrum einer künstlichen mexicanidad erklärt, der die homogenisierte Bilderflut der Época de Oro ihren mächtigen ikonographischen und ideologischen Stempel aufgedrückt hatte. Mehr als der nostalgische Nachruf auf eine Blütezeit, ist Cascabel die bissige Abrechnung mit einer Epoche, die großenteils naiv-optimistische Heimatfilme hervorgebracht hat; einer Epoche, in der sich der Kulturbetrieb bemühte, eine Nation aus einem Guss zu schmieden und die Schatten einer beschönigten Vergangenheit auf eine frohe Zukunft zu projizieren. Doch entgegen der Revisionswelle, die die Época de Oro zeitlich umso schärfer konturiert, bleibt die Ruine im mexikanischen Film ein persistenter Referenzort. Trotz der Akzentverschiebungen im Zuge des Generationenwandels bildet die Ruine im kulturellen mexikanischen Gedächtnis ein durchgängiges Element, an dem ein Nationalbewusstsein greifbar wird und sei es auch nur in retrospektiven Überwindungsversuchen, die Vasconcelos Utopie der »superación de todo lo pasado«24 ein ums andere Mal als utopische Forderung ausweisen. Was in den Zugriffen auf die Ruinen-Mnemotopie im mexikanischen Film ab den 1990er Jahren erkennbar wird, ist die ungebrochene Fixierung der mexikanischen Gesellschaft auf die Conquista als monumentale Erfahrungsschwelle, die nach wie vor die traumatische Geburt der mexikanischen Nation markiert. »En suma«, schreibt Octavio Paz in Laberinto de la soledad, seiner kanonischen Studie zur historischen Konfiguration Mexikos, »la cuestión del origen es el centro secreto de nuestra ansiedad y angustia.«25 1992, dem Jahr der kollektiven Rückbesinnung auf 500 Jahre hispanidad in Lateinamerika, legt Paz den Essay »El tres y el cuatro« nach, in dem er über die vielen möglichen Ursprungsetzungen spekuliert und anerkennt, dass Mexiko nicht nur mit der Ankunft der Spanier entsteht, sondern mit jedem neuen Zukunftsprojekt und jeder Rückkehr zu den vermeintlichen Wurzeln wiedergeboren wurde.26 Dennoch kann als unbestritten gelten, dass die Conquista bis heute ein zentrales Ursprungsnar-

23 24 25 26

Vgl. Castañeda 2001, 452. Vasconcelos 1966, 21. Paz 2016a, 225. Paz 2016d, 581f.

159

160

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

rativ in der kulturellen Matrix 27 Mexikos bildet und für die kollektive Selbstsuche in den Ruinen verantwortlich ist. In zahlreichen Variationen des historischen Themas werden Ruinen auch in neueren Filmen zur Veranschaulichung des fatalen Kulturkontakts herangezogen, wie zum Beispiel in Salvador Carrascos La otra conquista (1998) oder in den beiden Conquista-Verarbeitungen von Juan Mora Cattlet Retorno a Aztlán (1991) und Eréndira, Ikikunari (Purépecha für ›Eréndira die Unbezähmbare‹) (2006). Alle drei Filme lassen die kosmische Tragik der Ruinen mit der Ankunft der Spanier konvergieren und arbeiten mit Perspektiven und Sympathielenkungen, die das Gedächtnis der Verlierer präferieren und die Erinnerung an die ikonoklastische Ereignisfolge an der Schwelle zur Neuzeit präsent halten. Im Gegensatz zu den Historienfilmen der Época de Oro sind an der Schwelle zum 21. Jhd. Elaborationsformen einer neuen filmischen Gedächtnisarbeit erkennbar, die eine gesteigerte Authentizität mit Hilfe von Laienschauspiel und Vernakularsprachen erzielen wollen und die Folgelasten der Kolonisierung stärker zu adressieren suchen (Abb. 37).28 Weder triumphale Rückholungen der Weltenfusion (Chilam Balam), noch eine Trauerarbeit angesichts der entweihten indigenen Reinheit (La noche de los mayas), zielen die neuesten Conquista-Narrative auf eine Vergegenwärtigung der Rebellion gegen die kulturelle Kolonisierung. Somit werden die Ruinen der Gegenwart mit der Poetik eines Widerstands markiert, der nicht mehr gegen eine exogene Vereinnahmung gerichtet ist wie in Raíces, sondern gegen eine nationale Patrimonialisierung der mexikanischen Kulturvielfalt. Aus postkolonialer Perspektive wird es zum Problem, dass die kulturelle Heterogenität Mexikos institutionell einverleibt und in Museen als Kuriositätenkabinetten überholter Utopien fixiert wird.29 In den neuesten audiovisuellen Ursprungsfiktionen weisen die Ruinen als Mnemotope auf eine Unabgeschlossenheit, wenn nicht gar auf eine Unabschließbarkeit der Vergangenheit hin und erteilen dem linearen Geschichtsverständnis eine Absage zu Gunsten einer Multiplikation des ortsbasierten Geschichtsbewusstseins. Seit der Krise des mexikanischen Nationalstaats ab den 60er Jahren sind die der Ruine inhärenten »stigmates de la défaite«30 daher stets auch als Hinweise auf

27

28

29

30

Das Konzept der »matrices culturales« in Prozessen der lateinamerikanischen Nation-Building geht zurück auf Jesús Martín-Barberos Ideen zur Bedeutung audiovisueller Medien in den Kulturindustrien Lateinamerikas. Mexikos Sonderrolle bei der Herausbildung einer mächtigen mémoirenation sei in der mexikanischen Revolution begründet, die eine zentralisierte Repräsentation des mexikanischen Nationalkollektivs wie nirgendwo anders auf dem Subkontinent begünstigt habe (vgl. Martín-Barbero 1991, 170). Eine umfangreiche, gegen den Eurozentrismus argumentierende Behandlung der Conquista-und Kolumbus-Darstellungen im lateinamerikanischen Film, darunter auch der Welle revisionistischer Filme um 1992, liegt vor in Shohat/Stam 2014, 58-81. Vgl. das Problem des »containment of cultural difference« bei Homi K. Bhabha in Rutherford 1990, 208. Das Museum als Archiv der lokalen Antike und materialisiertes Speichergedächtnis hat also, so lässt sich mit Bhabha folgern, die gesellschaftliche Funktion eines institutionalisierten Zugangs zum kulturimmanenten Anderen, einer Domestikation der Unvereinbarkeit von nationalen Kulturdifferenzen, sowie eines Sammelortes der nationalen hantologie an dem destabilisierende Abweichungen der Gegenwartsdeutung verwahrt werden. Augé 2003, 24.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

Abb. 37: Die Ruinen von Xochicalco werden in ›La otra conquista‹ als Schauplatz eines unversöhnlichen Kulturkampfes rekonstruiert (7:11). Die Perspektive des indigenen Zeugen – des überlebenden aztekischen Chronisten Topiltzin/Tomás – suggeriert eine nachzeitige mexikanische Sympathie mit dem kolonisierten Subjekt und bekräftigt die kosmische Tragik der Ruine als Andachtsraum für Verlusterfahrungen postkolonialer Gedächtniskollektive.

die gescheiterte Homogenisierungswelle zu verstehen, die Manuel Gamio als die »gran forja de América«31 inmitten der Revolution programmatisch ins Feld geführt hatte. Die Gedächtniskollektive Mexikos driften in Zeiten des postnational fragmentierten Kinos wieder auseinander und die Vergegenwärtigung der Vergangenheit folgt heute immer mehr der Frage, wer die kinematographischen Diskurse zur nationalen Identität kontrolliert und welche kollektive Rahmensetzung konstruiert oder stillschweigend übernommen wird. Im Gegensatz zu José Bohrs romantischer Ruinen-Personifikation aus Canto a mi tierra (1938) »Cantan a través de los siglos las ruinas su canción«, rückt die Frage in den Vordergrund, wer die Ruinen letztlich zum Singen bringt oder wer der Bauchredner ist, der den Ruinen eine Stimme gibt. Im transnationalen Filmparadigma, das am Ende des 20. Jhd. vom Genre des sogenannten Accented Cinema geprägt ist, einem Kino, das laut Hamid Naficy symptomatisch für weltweite Migrationsbewegungen ist32 , markiert die Ruinen-Mnemotopie im mexikanischen Film einen Sonderfall: die Filme setzen ihren Akzent zwar auf die Perspektive der historischen Opfer, doch das »magische Prestige der Ursprünge« (Mircea Eliade) kommt aus der mehrheitlich mestizischen Perspektive den indigenen Gedächtniskollektiven zuteil. Wenn hierbei ein Bewusstsein für anhaltende kulturelle Entfremdung innerhalb der eigenen Gesellschaft geprägt wird, wird in der »mnemonischen Pluralisierung«33 der Gegenwart auch ein 31 32 33

Gamio 1916, 1. Naficy 2001, 34. Lachmann 2012, 109.

161

162

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

Bogen zu peripheren Selbstmodellierungen geschlagen, die den Zentren hegemonialer Hochsemantik gegenüberstehen.34 Ausgehend vom mnemischen Kapital der Ruinen im zeitgenössischen Funktionsgedächtnis Mexikos, werden in den historischen Relektüren der Conquista Kontrastfolien zu einer gescheiterten Identitätspolitik der zwanghaften Fusion entworfen. Unterdessen bleibt der genius loci, der den Ruinen im mexikanischen Kino innewohnt, wie auch das Phantom das in den Ruinenfeldern zu Volney gesprochen hatte, ein klagendes Echo der Vergangenheit.35 Wenn in der Época de Oro die Vergangenheit hauptsächlich mit Hilfe von »reconstrucciones románticamente antihistóricas«36 vergegenwärtigt wurde, ließen sich Ruinen ab den späten 1970er Jahren nicht mehr so einfach für große Spektakel der téléhistoire instrumentalisieren, in welchen zumeist eine normative Geschichte der Nation didaktisch aufbereitet wurde. Spätestens seit dem Massaker von Tlatelolco (1968) wird die Ruine als locus melancholicus mit einer neuen traumatischen Epochenschwelle in Verbindung gebracht, die sie als Kulisse für Unterhaltungsfilme und kulturarchäologischen Schabernack ungeeignet macht. Die gewaltsam und opferreich aufgelösten Versammlungen protestierender Studentenmassen fanden am Platz der drei Kulturen statt, einem emblematischen Repräsentationsort der mexicanidad. Die historische Vielschichtigkeit Mexikos und die drei dominanten Bewusstseinsprägungen finden sich darin übersetzt in einer architektonischen Assemblage, in der eine von urbaner Architektur umgebene Kirche einen präkolumbinischen Tempelkomplex unter sich trägt, wie etwa auch die Kathedrale von Mexiko-Stadt.37 Tlatelolco als haut lieu eines diffusen mexikanischen Selbstgefühls, das neben der altamerikanischen Archäotopie und des katholischen Überbaus, mit den Hochhäusern die den Platz rahmen auch die dritte, mestizische Kultur des modernen Mexikos in sich führt, ist seit dem 2. Oktober 1968 auch eine kulturelle Krypta, an der nun auch modernistische Gesellschaftsutopien begraben liegen und an der sich das soziale Gedächtnis einer »dehierarchisierenden Gegenkultur«38 in Prozessen historischer Retrospektion herausbildet und orientiert. Wie Christian Wehr in seinem Aufsatz »La matanza de Tlatelolco en la memoria pública« zeigt, ist die an einem Ort konzentrierte Überblendung der Zeiten für unterschiedliche Formen der Aufarbeitung genutzt worden, die Tlatelolco zum Schandmal des modernen mexikanischen étatisme befördern.39 In der Erinnerung an das Massaker von Tlatelolco, das Carlos Fuentes neben der Conquista und dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg als »[l]a más reciente herida mexicana«40 bewertet, wird an der Plaza de las Tres Culturas auch eine Erinnerung an die Gewalt hochgehalten, die dem mexikanischen NationBuilding immanent ist. Neben zahlreichen literarischen oder dramatischen Verarbei34 35 36 37

38 39 40

Vgl. Koschorke 2012, 32. Vgl. der Monolog des Fântome in Volney 1791, 14-22. Ayala Blanco 1968, 169. Zur Entstehungsgeschichte der Plaza de las Tres Culturas und der Unmöglichkeit einer architektonischen Tabula-Rasa-Politik als kollektiver Lobotomie schreibt Rubén Gallo (2009) und verweist auf die bittere Ironie, dass es sich bei dem Massaker von Tlatelolco um ein krudes und unfreiwilliges reenactment aztekischer Menschenopfer gehandelt hat (vgl. Gallo 2009, 111ff). Lachmann 2012, 114. Vgl. Wehr 2014, 230. Fuentes (1991).

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

tungen wird die Erinnerung an das tragische Ereignis auch kinematographisch wach gehalten, wie zum Beispiel in El grito (1968) (Abb. 38), einem Testimonialfilm, der mit Tonaufnahmen interviewter Augenzeugen, Photographien und bewegten Bildern die Ausschreitungen aus unmittelbarer historischer und filmästhetischer Nähe dokumentiert. Doch auch in weniger faktographischen Zugriffen wie dem Spielfilm Rojo amanecer (1989, Jorge Fons) oder der Serie Verano del 68 (2014, Carlos Bolado) wird an die Ereignisse von 1968 erinnert. In der Erinnerungsleistung all dieser Produktionen wird die jüngste Geschichte Mexikos mit einem symbolträchtigen Ortsbewusstsein nachvollzogen indem einer konkreten mexikanischen Ruinenstätte ein neuer, konfliktgeladener Gegenwartsbezug eingeräumt wird.41

Abb. 38: Bei den Ausschreitungen von Tlatelolco, das Leobardo López Arteche in ›El grito‹ (1968) dokumentiert, wird das präkolumbinische Ruinenfeld zum Schauplatz einer neuen politischen Tragödie. In einer bitteren historischen Ironie wird die Ruine um ein modernes Menschenopfer-Narrativ erweitert und als Andachtsort der kollektiven mexikanischen Trauerarbeit aktualisiert.

Stellvertretend für eine Generation der Überdrüssigen fängt Roger Bartra 1987 die Stimmung der jüngsten mexikanischen Geschichte mit einer Diatribe auf, die auf die Ruinen der nationalen Ära eingeht: Hemos soñado en mil héroes míticos, pero de la nación sólo quedan sus ruinas. El nacionalismo mexicano ha llegado a un punto crítico: […] resulta una odiosa fuente de 41

Rojo amanecer und weitere Beispiele der kinematographischen und literarischen Aufarbeitung des Massakers von Tlatelolco bespricht Christian Wehr (2014). 2018 sind zum 50-jährigen Gedenktag des Massakers zahlreiche filmische Verarbeitungen und Gedenkvorlagen lanciert worden, darunter die Serie Un extraño enemigo von Gabriel Ripstein oder der Spiel- und Animationsfilm Olimpia von José Manuel Cravioto.

163

164

B. Die Ruine – Mahnmal und Zerrspiegel der télé-histoire

legitimación del sistema de explotación dominante, que busca justificar las profundas desigualdades e injusticias por medio de la uniformización de la cultura política.42

Abb. 39: Kartographiertes ›Reliktmengenwachstum‹ (Lübbe 2003, 427): Die schwarz markierten Ruinenstätten stehen gleichermaßen für Mnemotope als Orte der mexikanischen Selbstvergewisserung, wie für Archäotope als touristische Zielpunkte. Die Ruine bleibt damit eine prominente Orientierungsstütze bei Selbst- aber auch Fremdwahrnehmungen der ›mexicanidad‹. (Bildquelle: INAH)

Ausgehend von den in diesem Kapitel analysierten filmischen Inszenierungen der Ruinen lässt sich Bartras vordergründig metaphorisches Verständnis von Ruinen auch renaturalisieren. Was von den Ruinenlektüren des Nationalfilms übrigbleibt, sind die Erinnerungen an eine Illusion der nationalen Einheit. Doch auch im nichtmetaphorischen Sinn bleiben Ruinen bestehen und damit auch die Einladung, sie als historische Meilensteine und Interpretationsvorlagen zu betrachten. Nach den patriotischen Simplifizierungen in der ersten Hälfte des 20. Jhd. verzweigen sich in der breiten, postmodernen Gegenwart die Deutungsversuche zur Ruinen-Mnemotopie und verweigern sich einer einseitigen vergangenheitsverklärenden Durchdringung. Im heutigen Mexiko befinden sich mehr als 2000 offiziell angemeldete archäologische Stätten unter dem Protektorat der INAH, dem Dachverband für Anthropo- und Archäologie in Mexiko (Abb. 39). Die Zahl steigt exponentiell, denn in Zeiten einer »Hypertrophy of Memory«43 , in der »ère de la commémoration«44 die das Gedächtnis als kulturelles Vermächtnis wieder42 43 44

Bartra 2015, 232. Huyssen 2003, 3. Nora 1993, 977.

4. Ruinen-Mnemotopie – Hotspots der hantologie

entdeckt hat, ist die Vermarktung archäologischer Stätten zweifelsohne ein lukratives Geschäft. Jenseits ihrer touristischen Verwertung als historische Kuriosität ist die Ruine im heutigen Mexiko eine ideologische Arena, in welcher die Selbstbestimmung innerhalb einer dynamischen und stark fragmentierten Nation ausgefochten wird. Die Ruine wird auch in Zukunft ein Kronzeuge der mexikanischen Ursprünge bleiben, ein Dialogort der mexikanischen Gegenwart mit ihrer télé-histoire, ein Ort, an dem kollektiven Selbstbilder modelliert und gespalten werden, ein Ort, der wie berufen dafür scheint, ein ums andere Mal die unverfügbare Herkunft Mexikos zu imaginieren. Der Blick auf die mexikanische Filmgeschichte legt nahe, dass die Ruine ihre Prädestination für Relektüren der Vergangenheit nicht einbüßen wird – der komplexen, pluralen, lokalen und transkulturellen Vergangenheit, die in der Ruine einen besonderen medialen Echoraum besitzt.

165

  Il y a, si l’on veut, plus lente encore que l’histoire des civilisations presque immobiles, une histoire des hommes dans leurs rapports serrés avec la terre qui les porte et les nourrit. (Fernand Braudel, Les Responsabilités de l’Histoire)   Yo les dije que era la Patria. Ellos movieron la cabeza diciendo que no. Fue la única vez que he visto reír a la gente de Luvina. Pelaron sus dientes molenques y me dijeron que no, que el gobierno no tenía madre. (Juan Rulfo, Luvina)   Quand on se promène dans l’Histoire, on s’arrête à la Révolution. (Raymond Lefevre, Cinéma et Révolution)

1. Mexikanische Invarianten an der Epochenschwelle

Während die Ruine ein Gelenk zur prähispanischen Epoche in den staatsbildenden mexikanischen Retrospektiven darstellte, richtete die Kinematographie der Época de Oro ihren Blick ungleich häufiger auf einen Ortstyp, der die Neuzeit der mexikanischen Geschichte prägte und das nationale Territorium mit einer straffen Ortslogik organisierte. Unter den verschiedenen Ausformungen des mexikanischen Landguts, den freien Ländern der Dorfgemeinden, dem Kleingrund oder dem Rancho als kleinen Bauernhof, war es insbesondere die Spielart der Hacienda, die einen dominanten Kristallisationspunkt des kolonialen mexikanischen Landlebens markierte und als serielle landwirtschaftliche Einheit bis ins frühe 20. Jhd. Bestand hatte. Gerade für das Verständnis der mexikanischen Revolution als der letzten großen caesura historica im mexikanischen NationBuilding ist die Einschätzung der Dynamik ruraler Orte mitsamt dem über Jahrhunderte gereiften Brauchtum besonders aussagekräftig. Dass ausgerechnet der mexikanischen Peripherie auch in postrevolutionären Zeiten der sukzessiven Urbanisierung und Industrialisierung der Gesellschaft ein besonders prominenter Platz im Film eingeräumt wurde, stellt uns vor Dokumente der ortsbasierten Gedächtniskonstruktion, die einerseits helfen, die großen Linien der mexikanischen Geschichte nachzuvollziehen, andererseits auch tiefe Einblicke in das retrospektive, mnemotopische Selbstverständnis in Mexiko gewähren. Anhand der nachfolgend untersuchten Filmbeispiele lässt sich sehen, dass die filmisch aktualisierte Symbolik der Ranchos die idealtypischen historischen Narrative nicht nur ergänzt, sondern häufig auch in Abrede stellt, indem sie das vermeintlich überwundene Porfiriat (1876-1911), das lange autokratische Regime unter dem General Porfirio Díaz, in ein vergangenheitsverklärendes, nostalgisches Licht der Sehnsucht nach obsolet gewordenen Gesellschaftsformationen rückt. Wie bei der Ruinen-Mnemotopie scheint sich auch im Falle der Haciendas eine Kluft zwischen der Historiographie und dem kulturellen Gedächtnis Mexikos aufzutun. Die Untersuchung der »histoire au second degré« (Pierre Nora) in der mexikanischen Populärkultur, der Blick auf die Gegenwart der Vergangenheit in ihrer kinematographischen Medialisierung, zeigt, dass das kulturelle Gedächtnis sich stark von historiographischer Sorgfalt

172

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

distanzieren kann, mitunter auch eine populärkulturelle Immunität gegen das »Vetorecht der Quellen«1 auszuspielen vermag. Wenn nun die Inszenierung der Ruine einen schwierigen Spagat zur schwach erschlossenen télé-histoire darstellt, die im Jenseits einer zivilisatorischen Zäsur liegt und vielerorts mutwillig getilgt wurde, ist die Unmittelbarkeit des kolonialen Stempels, der vielen ruralen Orten in Mexiko aufgedrückt wurde, breit erschlossen und prägt bis weit in das 20. Jhd., teilweise auch darüber hinaus, die mexikanische Raum- und Gesellschaftsordnung. Ausschlaggebend für die überdurchschnittliche Bedeutung der mexikanischen Provinz bei der Formation eines kollektiven postrevolutionären Selbstbildes ist allein schon die Tatsache, dass die mexikanische Gesellschaft, wie Hans Werner Tobler in seiner breit angelegten historischen Studie zur mexikanischen Revolution feststellt, am Vorabend der Revolution noch weitgehend agrarisch geprägt war.2 Ein Blick auf die Demographie Mexikos gibt Aufschluss darüber, dass um die Jahrhundertwende 90 % der mexikanischen Bevölkerung an Orten beheimatet war, die weniger als 15.000 Einwohner zählten.3 Rund 70 % der Gesamtbevölkerung waren noch im schicksalhaften Jahr 1910 in der Landwirtschaft und der Viehzucht tätig. Knapp die Hälfte aller Bauern war dabei auf Haciendas ansässig, unterstand also aus diversen Gründen, die noch näher zu untersuchen sein werden, einer seigneurialen Vormundschaft, die während der spanischen Kolonialisierung des mexikanischen Territoriums geprägt wurde. Um begrifflichen Verwirrungen vorzubeugen, sei hier angeführt, dass die neuere Kategorie der Ranchos in dieser demoskopischen Schätzung großenteils mit inbegriffen ist. Wie Herbert J. Nickel, ein Experte für koloniale Spuren der Zeit im ruralen Mexiko, anführt, war eine Hacienda nicht selten der Zusammenschluss verschiedener Ranchos, also angegliederter landwirtschaftlicher Pachtbetriebe: Im späten 19. Jahrhundert und bis zur Agrarreform der 30-er Jahre galt der Name Rancho entweder einer kleineren, selbständigen landwirtschaftlichen Betriebseinheit eines Eigentümers oder Pächters oder einer durch die Hacienda mitbewirtschafteten Subeinheit an der Peripherie des Gutes, die über einige Wirtschaftsgebäude oder auch nur ein einziges Gebäude und evtl. eine Viehtränke verfügte und der ein Verwalter oder Mayordomo mit einigen Arbeitern ständig zugeordnet sein konnten.4 Im Zuge der nachrevolutionären Neuausrichtung wurde die Hacienda aber zunehmend zum Inbegriff des historischen »Schattenortes«5 oder eines schlichtweg überholten

1 2 3

4

5

Vgl, Koselleck 1995, 206. Tobler 1984, 61. Zur demographischen Entwicklung Mexikos und dem Strukturwandel im Zuge der zunehmenden Verstädterung im 19. Und 20. Jhd. vgl. Kapitel »Sociedades Rurales y Urbanas« in Torres Rodríguez 2008, 372-384. Nickel 1978, 13. In Nickels umfangreicher Studie Soziale Morphologie der mexikanischen Hacienda (1978) finden sich viele Hinweise, die sich dem Wesen und Aufbau der mexikanischen Haciendas erhellend und terminologisch präzise nähern und mit einer sozialmorphologischen Linie korrespondieren, die ihre Anleihen bei Durkheim, Halbwachs und Mauss nimmt. Vgl. Sabrow 2017, 13. Historische Schattenorte, die Sabrow in einem früheren Aufsatz als »identitätsstörende[…] Stiefgeschwister der Erinnerungsorte« (Sabrow 2015, 84) begreift, lassen sich im vorliegenden Sinnzusammenhang als negativ konnotierte Mnemotope betrachten, die ein trau-

1. Mexikanische Invarianten an der Epochenschwelle

Wirtschaftsmodells. Wie Nickel jedoch in seiner sozialgeographischen Analyse weiter ausführt, war die Tilgung der Hacienda häufig nur nomineller und nicht struktureller Natur, da die gesellschaftliche Morphologie der Hacienda in den Rancho-Betrieben fortbestand.6 Auch Hans Werner Tobler räumt dem typologischen Paar Rancho und Hacienda eine gewisse Unschärfe ein was die Ausdehnung des Landguts betrifft. So sei es unklar, »ob die Kategorie »Rancho« einen selbstständigen größeren Landwirtschaftsbetrieb oder lediglich die Untereinheit einer Hacienda« bezeichne.7 Als topologisches Strukturmerkmal sei aber vor allem die Polarisierung der Hacienda-Gesellschaft als dominant angenommen: Der kleinen Gruppe der Gutsbesitzer einschließlich ihrer Familien (hacendados/patrones/amos) stand eine große Gruppe von in der Hacienda ansässigen Arbeitern (peones/gleba) gegenüber, die die weiträumigen Nutzflächen um das Landhaus (finca oder eben hacienda als Metonym für das gesamte Territorium) des Gutsherren bestellten. Bei all den regionalen und zeitlichen Variationen belegt Nickel die Hacienda mit einer Ortssemantik der dreifachen Beherrschung (natürliche Ressourcen, Arbeitskräfte, regionale Märkte), die mit einem kolonialistischen Nutzungsanspruch legitimiert waren.8 Und auch wenn der Differenzierung des Rancho in neuerer Historiographie mehr Beachtung zukommt, bot das stark akzentuierte und landläufig propagierte Machtgefälle seinerzeit eine zwar unterkomplexe aber doch eindeutige gesellschaftliche Orientierungshilfe. Will man das prärevolutionäre Stimmungsbild einfangen, ist es notwendig sich in Erinnerung zu rufen, dass der Großgrundbesitz während der 36 Jahre des Porfiriats die dominante Wirtschaftsform darstellte und etwa 68 % des gesamten mexikanischen Nutzlandes für sich beanspruchte. Die Landfrage war dabei, so jedenfalls der klassische historiographische Tenor, eine der wichtigsten Ursachen für die soziale Unrast vor der Revolution.9 Die Forderung nach einer Landreform und die Verurteilung der Willkürherrschaft der Latifundisten sowie die Anklage feudaler Praktiken waren ausschlaggebend dafür, dass die Erhebung von Francisco I. Madero gegen das porfiristische Regime von einer breiten Masse der Landbevölkerung begrüßt wurde. Die notorische Ungleichheit zwischen der weitgehend indigenen Landbevölkerung und ihren kreolischen Feudalherren, die auch während des schleichenden Übergangs zum Staatskapitalismus unter Porfirio Díaz bestehen bleibt, bewahrheitet sich ab dem annus mirabilis von 1910 als eine folgenschwere Asymmetrie und bricht sich Bahn in einer turbulenten Neuausrichtung Mexikos, die gemeinhin als Mexikanische Revolution in die Geschichtsschreibung Eingang fand.10 Auch in der Literatur und im Film wurde die Hacienda häufig als prärevolutionäre Bühne zitiert – typischerweise als Schauplatz kolonialer Herrschaft

6 7 8 9 10

matisches kollektives Gedächtnis in die Zukunft transportieren. Zu den Phänomenen des dissonanten Kulturerbes und des dark tourism wurde von Lennon und Foley ein eigenes Forschungsparadigma ausgerufen (vgl. Lennon/Foley (2000) sowie Du/Littlejohn/Lennon (2013)). Vgl. Nickel 1978, 14. Vgl. Tobler 1984, 68ff. Vgl. Nickel 1978, 9. Vgl. Brading 2004, 9f. oder auch Joseph et al. 2001, 11. Vgl. Knight 1986, Bd.1, 3.

173

174

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

dämonisiert, mit zunehmender historischer Distanz allerdings unter dem Deckbegriff des Rancho als Rückzugsort eines zeitresistenten Traditionskanons verklärt.11 Die Repräsentation der bäuerlichen Gesellschaft Mexikos im postrevolutionären mexikanischen Kino stützt sich, wie nachfolgend untersucht, auf eine monolithische Raumordnung, die das landwirtschaftlich geprägte Mexiko bis ins 20. Jhd. im Lichte einer ehernen histoire quasi immobile (Fernand Braudel) betrachtet und das dominante Nachleben einer präindustriell-feudalen Epoche bis zum großen historischen Kollaps am Anfang des 20. Jhd. imaginiert. Wenngleich kein sakraler Ursprungsort wie die Ruine, ist es dennoch wenig überraschend, dass der mexikanischen patria chica allgemein, der Heimatregion oder dem Heimatort als der kleinsten topologischen Einheit im nationalen Raumgefüge, in der filmischen Steuerung patriotischer Affekte eine große didaktische und identitätsstabilisierende Bedeutung zukam. Nicht selten mythisch überhöht, war ausgerechnet die imaginäre Flucht in eine »Ruritania de cactus y adobe«12 ein Kennzeichen für die nachrevolutionäre Kinematographie. Die Filmindustrie schien hierbei ab Allá en el Rancho Grande (1936), dem Gründungsdokument der Época de Oro, die traumatischen Spuren des Bürgerkriegs immer stärker aus dem kollektiven Imaginären zur Hacienda zu verdrängen und einer heiteren, prärevolutionären Stasis ihre Gunst zu erweisen. Das hierbei entstehende Auseinanderklaffen von Geschichte und Gedächtnis ist symptomatisch für das historische Krisenbewusstsein, das Nicolas Pethes im Rückgriff auf die Thesen von Maurice Halbwachs entwirft: Als Kompensationsmechanismus von Bruch- und Krisenerfahrungen, sei der Vergangenheitsbezug einer Gesellschaft im Wandel eine häufig auftretende Antwort auf historische Zäsuren und einem daraus resultierenden Diskontinuitätsbewusstsein.13 Angesichts einer ungewissen Zukunft sei die Stabilisierung nationaler Überlieferungszusammenhänge ein Bedürfnis, das auf die Vergangenheit als krisenresistentes Archiv der Selbstbilder zurückgreift.14 Im mexikanischen Fall war die Krise zu Beginn des 20. Jhd. besonders markant: Nationale Transformationsprozesse entlang der Revolution fanden sich potenziert durch weltweit gültige Brucherfahrungen der Moderne. In dieser doppelten Umbruchserfahrung liegt der wesentliche Grund für die nachfolgend untersuchte Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Wandel einerseits und einem Kulturbetrieb andererseits, der sich der historischen Dynamik zu verweigern scheint und den rasanten Wandel mit traditionsbewussten Beschwörungen der Vergangenheit komplementiert.15

11

12 13 14 15

Während Los de abajo (1915) von Mariano Azuela den Urtext mexikanischer Revolutionsnarrative bildet, beschließt Al filo del agua (1947) von Agustín Yáñez in der einschlägigen Kategorisierung von Adalbert Dessau das literarische Genre des Revolutionsromans. Da beide Romane in der mexikanischen Peripherie angesiedelt sind, spannt Dessau einen Bogen, der rurale Orte als emblematische Schauplätze der literarischen Revolutionsverarbeitungen herausstellt (vgl. Dessau 1967, 247f). García Riera 1987, 111. Vgl. Pethes 2013, 18. Vgl. a.a.O., 25f. Eine sehr anschauliche Plausibilisierung der historischen Trägheit und der damit verbundenen kulturellen Hartnäckigkeit nimmt Alan Knight im Aufsatz »Revolutionary Project, Recalcitrant People: Mexico 1910-1940« vor (Knight (1990)).

1. Mexikanische Invarianten an der Epochenschwelle

Bevor eine Analyse der Ranchos und Haciendas im Film vorgenommen werden kann, wird ein Abriss zur historischen Topogenese der Hacienda vorausgeschickt. Der historische Exkurs zur topologischen Trägheit des Hacienda-Systems über viele Jahrhunderte hinweg ist mitunter notwendig, um die schwierigen Überwindungsversuche im 19. und 20. Jhd. nachvollziehen zu können. Nur so lässt sich nebenbei auch der Erklärungsnot begegnen, dass ausgerechnet das mexikanische Hinterland16 , ein haut lieu des mexikanischen Nationalbewusstseins und Wiege der mexikanischen Revolution, zum kinematographischen Sammelort für vergangenheitsverklärende Narrative wurde. Dass der gesellschaftliche Strukturwandel in Mexiko sowohl unter dem Masternarrativ der Revolution als auch unter dem Aspekt einer evolutionären Modernisierung vordergründig anhand kleiner provinzieller Orte durchdrungen und exemplifiziert wurde, wird im Anschluss mit Hilfe einer Selektion von Filmen untersucht, die auf Haciendas und Ranchos als kollektive Orte zurückgreifen und das Bewusstsein für den Beitrag der Kinematographie zum kulturellen Gedächtnis Mexikos schärfen sollen.

16

Es sei hier erwähnt, dass die räumliche Kategorie des Hinterlandes im geographischen Sinne als Antipode zu den Stadtzentren gesehen wird und auf die traditionelle Opposition zwischen polis und chora verweist, wobei Chora seit Platos Timaios als urbar gemachtes Umland verstanden wird, auf das sich der Wohlstand der Polis stützt. Die im Ruinenkapitel eher abstrakte Verwendung des Chora-Begriffs im Sinne einer formgebenden Matrix aus kultureller Vorvergangenheit erscheint hier im Kontext des klassischen Widerspiels urbaner und ruraler Lebensorte. Wie im weiteren Verlauf jedoch diskutiert wird, besteht eine signifikante Überschneidung der gegensätzlichen Begriffsverwendung gerade darin, dass sowohl die Ruine als auch die Hacienda als Orte bedeutender Erfahrungsschwellen betrachtet werden können und die Polysemie des Chora-Begriffs in dieser Arbeit auf Aspekte der retrospektiv erfahrbaren historischen Dynamik ausgerichtet ist.

175

2. Topogenese der Hacienda

2.1.

Von der época gachupina bis zur pax porfiriana

Wie Enrique Florescano in seiner Genealogie zum mexikanischen Hacienda-System festhält1 , waren in der frühen territorialen Erschließung Mesoamerikas zwei kulturgeschichtliche ›Revolutionen‹ maßgeblich: Die prähistorische Erfindung des Ackerbaus auf der einen, und die rasche Kolonisierung und Urbarmachung unerschlossener Territorien im Zuge der Conquista auf der anderen Seite. Gerade die zweite Transformationswelle seit der Ankunft der gachupines2 stellte die Weichen für die Herausbildung der Hacienda als ein »permanent economic and social unit engaged in the production of foodstuffs for the nearest urban and mining markets«3 . Als ein der spanischen Agrarwirtschaft entlehntes Modell waren die Haciendas in Mexiko landwirtschaftliche Einheiten, die nicht nur einen hohen Elaborationsgrad, sondern auch eine Zeitresistenz bis zur mexikanischen Revolution ausspielen, ja sogar weit darüber hinaus, wie im Anschluss mit Hilfe jüngerer Revisionen der Revolutionsforschung auszuführen sein wird. Die Entstehung der ländlichen Oligarchie in Mexiko, die bis zur prärevolutionären Vormachtstellung der Großgrundbesitzer unter Porfirio Díaz weitgehend ungebrochen das ländliche Mexiko dominierte, nimmt dabei bereits wenige Jahre nach der Eroberung Mexikos ihren Lauf. Eine Keimzelle der Haciendas stellten die Zuckerrohrplantagen dar, die einer Produktion für das spanische Mutterland vorbehalten waren: 1

2

3

Florescano 2008, 153. Der grundlegende Beitrag zur Entstehung des Hacienda-Systems in Lateinamerika bezieht sich vielfach auf die kanonische Studie zur Entstehung der mexikanischen Latifundien im 16. und 17. Jhd. von François Chevalier (1956). Als gachupines, einem Begriff mit ungeklärter Etymologie, wurden die spanischen Ankömmlinge während der Kolonialzeit bezeichnet. Heute zirkuliert der Ausdruck in Mexiko kontextabhängig als Ethnophaulismus oder als neutrales Demonym für Spanier, wenngleich die historische Dimension im Sinne eines Bewusstseins für die Kolonialzeit häufig mitschwingt. Wie es bereits Lesley Byrd Simpson verallgemeinernd fasst, waren Positionierungen gegen die gachupines und gegen das hereditäre Monopol der Spanier auf Landbesitz (gachupinato), bedeutende Kristallisationspunkte des mexikanischen Nationalbewusstseins von der kreolischen Unabhängigkeitsbewegung ab 1810 bis zum agrarischen Reformwillen um Emiliano Zapata im Zuge der Mexikanischen Revolution (vgl. Byrd Simpson 1963, 227f). Florescano 2008, 168.

178

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

La demanda de una creciente población española y la apertura de nuevos circuitos comerciales alentaron el surgimiento de un tipo especial de empresas agropecuarias dotadas de sólida infraestructura, mano de obra residente, rigurosa organización y un claro propósito de lucro. Los ingenios de azúcar de los alrededores de Cuernavaca, cuya fuerza de trabajo original estuvo construida en gran parte por esclavos de origen africano, fueron el primer ejemplo de ello. En estas empresas puede verse una forma embrionaria de las haciendas que tanta significancia habrían de tener en el medio rural novohispano.4 Zunächst entfällt die territoriale Verfügungsgewalt also auf colonos, spanische Siedler, die aus Europa importiertes Vieh und Nutzpflanzen auf mexikanischem Boden züchten und zwar nach landwirtschaftlichen Modellen, die vor allem in Südspanien erfolgreich implementiert worden waren: The first Spaniards to accumulate land and cultivate it were the sixteenth-century conquistadores—encomenderos typified by Hernan Cortes; they were men who enjoyed a high annual income from public offices given to them as rewards for their exploits, who held hundreds of encomienda Indians yielding them free labour and tribute, and who, in addition to all this, had monetary incomes derived from commerce and mining. The founders of the enormous latifundia of the north were men of the same calibre: captains and governors of vast provinces which they had originally conquered and pacified, who became prosperous miners and finally owners of veritable territorial states where thousands of head of cattle grazed and where crops were grown to feed their mining and refining establishments.5 Parallel zur Urbarmachung von Neuland war auch die Zurückdrängung indigener Zivilisation ein Bestandteil des expansiven kolonialen Großprojektes, worauf im Hinblick auf die Mnemotopie der mexikanischen Nordgrenze näher einzugehen sein wird. Anfangs noch in starker Dependenz von der spanischen Krone repräsentiert durch virreyes und cabildos, die ihr Monopol in der Verteilung (encomienda/repartimiento) neu erschlossener Territorien mitsamt den dort ansässigen Indigenen ausspielten, formierte sich die Hacienda schon bald zu einer weitgehend autonomen und autarken Landeinheit. Das Machtvakuum wurde im kolonisierten geographischen Raum sukzessive mit der Souveränität feudaler Herrschaft ausgefüllt: Under the new system, the crown not only lost the power by which it had hitherto been able to have its own official allocate and distribute the workforce, but it also, in effect, handed the workers over to the hacendados without any protection. From then on, the owners progressively became masters, legislators, judges, and magistrates over the hacienda residents. The hacienda ceased to be a simple ›arable farm‹ or ›stockraising estate‹, as sixteenth- and early seventeenth-century documents term it, and became a self-contained unit of production. It was henceforth a permanently inhabited territorial area, with both fallow and cultivated lands, granaries in which the products 4 5

Torres Rodríguez 2008, 136. Florescano 2008, 182f. Die Kaste der Landbesitz akkumulierenden colonos bezeichnet Chevalier als »los huesos y nervios de la república« (Chevalier 1956, 109).

2. Topogenese der Hacienda

of the harvest were kept, houses for the owners and their managers, shacks for the workers, small craft workshops, and toolsheds.6 Im Zuge der kolonialen Expansion wurde das mexikanische Hinterland mit einer straff organisierten agrarischen Ortslogik überzogen, und die geographische Diversität entsprechend polykulturell genutzt. Als sukzessiv aggregierte Territorien erreichten die Haciendas mitunter enorme Ausmaße und übernahmen die Schirmherrschaft über anliegende Dörfer mitsamt den Zünften, worin eine starke strukturelle Analogie zur europäischen Kleinstaatlichkeit oder gar zum feudalen Fürstentum bestand (Abb. 40).7 Ein Kennzeichen der »época gachupina«8 war auch die von den Haciendas ausgehende infrastrukturelle Raumerschließung. Die Kommunikationsimpulse, die von den agrarischen Kleinstaaten ausging, insbesondere die Verkehrsanbindungen für Exporthandel und Binnenkonsum, waren nicht nur »elementos básicos de la colonización«9 , sondern bildeten auch das Fundament der territorialen Integration auf dem die mexikanische Nation errichtet werden sollte. Gleichzeitig markiert die Hacienda den Geburtsort eines Berufsstandes, der bis heute einen Eckpfeiler in der mexikanischen Folklore bildet: der Charro, der berittene, einer Hacienda unterstellte Rinderhirte, der vor allem in kinematographischer Mediation zu einem »master symbol of lo mexicano«10 avancieren sollte. Neben der Viehzucht und der Kunst der Tierbändigung (rodeo), die ein zentrales Spektakel vieler Feste und Messen bildete, war die Markierung der Landgüter durch Zäune (cercas) und Ecksteine (mojones) eine gängige Kulturpraxis der charrería, die auf diese Weise zu einer scharfen innermexikanischen Landschaftsteilung beitrug. Neben den Viehhütern (charros) und den Gutsherren (patrones) nebst Familienclan und Geschworenen, bevölkerten großenteils einfache Landarbeiter (peones) die ruralen Enklaven. Bereits seit dem 17. Jhd. war das Zusammenleben zwischen Landbesitzern und Landarbeitern gezeichnet von einem Verhältnis der asymmetrischen Symbiose einer Herr-Knecht-Beziehung. Anfangs noch als entwurzelte Landlose, die in der sogenannten kolonialen Praxis der naboría in die Dienste der Grundbesitzer (hacendados) überführt wurden, fanden sich viele Bauern schon bald in Großgründen konzentriert und

6 7

8 9 10

Florescano 2008, 168. Auch wenn eine Hacienda im Durchschnitt zwischen 1000 und 3000 ha einschloss, waren Latifundien in der Größenordnung europäischer Kleinstaaten keine Ausnahme, allem voran der 5 Mio. ha große Hacienda-Verbund im Besitz des Terraza-Clans in Chihuahua (vgl. Tobler 1984, 75 und 105ff.). Ein weiteres Superlativ bilden die 50.000 ha der Hacienda Cojumatlán in Michoacán, die in einer herausragenden Milieustudie von Luis González y González, dem Vorreiter der mexikanischen Mikrogeschichte, beschrieben wird. Pueblo en vilo ist in vielerlei Hinsicht eine paradigmatische Darstellung der Ranchos und Haciendas im 19. und 20. Jhd. (vgl. González 1995, 59-78 et passim). González 1995, 20. Torres Rodríguez 2008, 141. Najéra-Ramírez (1994). Zu den historischen Wurzeln der Charro-Symbolik schreibt Cristina Palomar Verea: »Desde una perspectiva histórica, la charrería está asociada al desarrollo de la ganadería ocurrido a partir de la llegada de los españoles en el siglo XVI; una abundante narrativa ubica su origen en la época de la Conquista y muestra su evolución a través de las diversas etapas de la formación de la nación mexicana (Palomar 2000, 10).

179

180

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 40: Die Karte der Hacienda San Luis de Sesma im Staat Puebla aus dem Jahr 1865, als Beispiel für eine administrative landwirtschaftliche Enklave, die sich in rigoroser Demarkation neben andere Haciendas und Dorfgemeinden fügt. Die Bewohner umliegender Dörfer waren zumeist als Pächter oder Landarbeiter an die Ländereien der Hacienda gebunden (Quelle: Nickel 2000, 139).

         

2. Topogenese der Hacienda

zwar als an die Hacienda gebundene peones acasillados11 , die fortwährend rekrutiert werden mussten und durch diverse Strategien der Tributpflicht in eine Schuldknechtschaft getrieben und zu Frondiensten (faenas) verpflichtet waren. In den Haciendas wurde somit das archaische Prinzip der Subsistenzwirtschaft von den Prinzipien des auf Mehrwert und Export ausgelegten frühkapitalistischen Wirtschaftens abgelöst.12 Das Abhängigkeitsverhältnis war aber symbiotisch, insofern die Bauern einer Hacienda auch einen gewissen Schutz vor Missernten oder Übergriffen des Bandenwesens (bandidaje) genossen, das zu Zeiten sozialer Tumulte im 19. Jhd. und später während der mexikanischen Revolution in besonderem Maße ausgeprägt war. Wenn das 18. Jhd. in Mexiko noch das goldene Zeitalter der Haciendas war, wie Chevalier schreibt13 , bekam die Stabilität der Haciendas im 19. Jhd. die ersten Risse: die starre koloniale Ortslogik der Hacienda im Zentrum einer agrarwirtschaftlich geprägten »histoire quasi immobile«14 , konnte teilweise nur mit großer Anstrengung aufrechterhalten werden. Das Wohl und Wehe der Haciendas war seit der Unabhängigkeit immer stärker dem Gebot der Wirtschaftlichkeit ausgesetzt. Nur durch geschickte Heiratspolitik und in strenger Allianz mit der Kirche ließ sich die Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen landwirtschaftlichen Betrieben wahren und die interne Stabilität der steilen, paternalistischen Machtpyramiden sichern. Bereits im 18. Jhd. lassen sich erste Tendenzen einer Desintegration ruraler Herrschaftszentren beobachten, da die Monopolstellung der hacendados bei der Vermarktung landwirtschaftlicher Güter immer stärker an die Preisvorstellungen der Zwischenhändler und Spekulanten gebunden war.15 Ungeachtet der neuen ökonomischen Konfliktlinien, blieb die Hacienda aber auch im Verlauf des konfliktreichen 19. Jhd., den Octavio Paz als »siglo de la ruptura«16 bezeichnet, ein Ort rigider Machtstrukturen. Nach der Abspaltung des Vizekönigreichs von Spanien (1810-1824) und der erfolgreichen Selbstbehauptung der Liberalen unter Benito Juárez gegen den Restaurationsversuch während der zweiten französischen Intervention (1862-1867), schien die Zeit reif für eine Neuordnung Mexikos. Mit der Begründung des modernen mexikanischen Staates waren die kreolischen Eliten jedoch auf die strukturellen Hinterlassenschaften der spanischen Krone angewiesen. Die Wirren um 11

12 13 14

15

16

Der historische Typus des peón acasillado spielt, wie Tobler es in seiner herausragenden Studie akzentuiert, im strukturellen Wandel Mexikos immer wieder eine besondere, vorwiegend reaktionäre Rolle – mal als Streikbrecher, mal als Schutzschild der hacendados. Dass die an Haciendas gebundenen Bauern nicht zu schutz- und ortlosen Rudimenten der mexikanischen Geschichte verkommen wollten, erklärt ihre häufige Gegenwehr gegen Landreformen (vgl. Tobler 1984, 76f et 533f). Vgl. Florescano 2008, 164ff. Die Schuldknechtschaft war darüber hinaus eine Strategie, mit der dem Machtmonopol der kolonialen encomienda Kontinuität verliehen wurde (vgl. Tobler 1984, 80). Chevalier 1956, 264. Vgl. Piltz 2009, 89. In einem geschichtstheoretischen, der longue durée gewidmetem Aufsatz bezeichnet Braudel besonders zähe historische Konjunkturen auch als »histoire de souffle […] soutenu« (Braudel 1958, 727). Vgl. Florescano 2008, 181. Die Dependenz vomagiotista stellt ein Leitmotiv der jüngeren mexikanischen Geschichte dar, wobei die Zersetzung der regionalen Autorität im 19. und 20. Jhd. zunehmend internationale Ausmaße annimmt und sowohl die zentralstaatliche Selbstverwaltung, als auch paternalistische Herrschaftsprinzipien aushöhlt (vgl. Tobler 1984, 37 et 49ff). Paz 2016a, 266.

181

182

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

die Machtsukzession, die Säkularisierung kirchlicher Besitztümer mit Hilfe der Ley de desamortización (1856) und die neuen Kapitalströme aus anderen europäischen Imperien und der USA führten aber kaum zu einer substanziellen Umstrukturierung des mexikanischen Hinterlandes, sondern zu einer Verschärfung hegemonialer Expansionsbewegungen und der Ausdehnung der Latifundienwirtschaft.17 Vor allem entlang territorialer Besitzansprüche entzündeten sich Konflikte, die das erste Jahrhundert des unabhängigen Mexikos massiv prägen sollten und die Hacienda zum Schauplatz blutiger Machtkämpfe werden ließen.18 Justo Sierra, Schlüsselfigur der historischen Didaktik in Mexiko und bedeutender Vorreiter des postrevolutionären Nationalismus, erinnert sich in seiner kanonischen Historia Patria mit folgenden Worten an die anarchischen Zustände im 19. Jhd.: Mientras Juárez sostenía la bandera de la ley en Veracruz, en el país ardía la guerra. Las haciendas eran asaltadas o saqueadas por las partidas de bandoleros que se levantaban con pretexto de la guerra civil, las poblaciones exprimidas por los tributos que ambos partidos imponían, en las ciudades había frecuentemente sublevaciones de la tropa o sitios y los edificios quedaban destruidos, las iglesias en ruinas, los conventos derrumbados por la piqueta vengadora de la Reforma; la leva arrancaba al trabajador del campo, el robo despojaba al comerciante y frecuentemente el dinero de los particulares reunido en fuertes conductas caía en poder de un jefe, cuando no era arrancado a viva fuerza de algún consulado. Aquella espantosa conmoción, idéntica a las que todos los pueblos civilizados han sufrido, no podía durar.19 Während die Kriegswirren ihre Opfer forderten und die Felder zunehmend brach lagen, wurden nationalisierte Ländereien, begünstigt durch eine politische Zentralisierung der liberalen Integrationsbewegung, in großem Stil an eine neue Landesherrschaft verteilt und verkauft. Trotz des makrostrukturellen Vorzeichenwechsels blieben die Bauern von den Veränderungen weitestgehend ausgenommen und gingen als Attribute des Hausstands in den Privatbesitz neuer Gutsherren über. An der Situation indigener Bauern änderten die Revirements bei der Transformation des Vizekönigreichs Neu Spanien zu Mexiko relativ wenig: The condition of Indian peasants in Mexico remained the same in 1847. The rural areas consisted of haciendas, which may be described as large farming enterprises, settlements or estates, and Indian villages with communal lands. On the hacienda labourers were often bound to the estate by peonage or debt-servitude – a legacy of the colonial period. The peon in debt was not permitted to leave until he had paid it, or unless another hacendado paid it for him. In other words, rural labourers were bought and sold for the price of their debt. If a peon in debt fled, he could be hunted down, brought

17

18 19

Werner Tobler sieht bereits die mexikanische Unabhängigkeit »ganz im Zeichen der ausdrücklichen Konsolidierung der kolonial geprägten Gesellschaftsordnung gegen die liberalen Reformversuche« (Tobler 1984, 34 und 71f). Zur den Konflikten um Landbesitz im 19. Und 20. Jhd. und zur Rolle der Agrarfrage als Auslöser der mexikanischen Revolution vgl. Jean Meyer 1973. Sierra 1922, 123.

2. Topogenese der Hacienda

back and punished. This de facto peonage was typical of central Mexico. In the isolated Yucatán peninsula and in the thinly populated north legalized servitude still existed.20 Die Expansion der Haciendas im 19. Jhd. erscheint fragwürdig, wenn man bedenkt, dass das Schuldverhältnis der Landarbeiter gegenüber der Hacienda de iure aufgelöst wurde. De facto blieb das Machtmonopol aber, trotz der Verwüstung oder Parzellierung vieler Haciendas, in der Hand neuer Großgrundbesitzer, die ihre Souveränitätsansprüche gegen den Widerstand annektierter Dörfer und Kleingründe (parvifundios oder minifundios) behaupten konnten: The hacendado was obviously a lord on his territory. The social and ethnic inequalities were accepted by all and peons, peasants and tenants do not seem to have resented their inferior status. Their protests were restricted to the abuses of the powerful against which it was difficult, if not impossible, to find redress through normal channels.21 Die Aufteilungen (fraccionamientos) der Haciendas im Zuge der Unabhängigkeit und republikanischen Konsolidierung kann man daher als ereignisgeschichtliche Kontingenz sehen, die verhältnismäßig kleine Auswirkungen auf die topologische Grundstimmung in der mexikanischen Peripherie hatte. Zweifelsohne sorgten die Kampfhandlungen für eine gewisse soziale Mobilität, doch das Gleichheitsideal blieb im Paradigma der »konservativen Modernisierung«22 ein hehrer Wunschtraum und hierarchische Ordnungen blieben in den unzähligen mexikanischen matrias23 hartnäckig bestehen. Dass die in den urbanen Zentren der jungen Nation artikulierten Reformen selten die Volksmasse sesshafter Landbewohner erreichte, weiß Luis González zu berichten, der das zähe Brauchtum in der Peripherie von Michoacán – emblematisch für das zentralmexikanische Hochland und darüber hinaus – detailreich überliefert: En la zona alta de Cojumatlán, el sexenio de 1861-1866 fue memorable por media docena de acontecimientos de escasa o ninguna significación nacional. Dejaron recuerdos la aurora boreal, la desaparición de la Hacienda, el paso de los franceses […]. Otros sucesos, como la llegada y el fusilamiento de Maximiliano […] la vida y las hazañas de Juárez […] y en general todo lo acontecido más allá de cien kilómetros a la redonda, se ignoró aquí. La prensa periódica nunca llegaba a manos de los rancheros; las partidas de beligerantes que visitaban la zona jamás se ocuparon en comunicar sus andanzas

20 21 22 23

Bethell 1998, 23. Ebd., 24. Tobler 1984, 24. Es ist wiederum der bekannteste Vertreter der mexikanischen microhistoria Luis González y González, der im Rückgriff auf Miguel de Unamuno das bedeutende mexikanische Widerspiel patria vs. matria entwickelt, die bei der filmisch kompensierten Sehnsucht nach einer mexikanischen Heimat stets mitgedacht werden muss: »Como la palabra madre y sus derivados se usan frecuentemente en nuestro país en expresiones injuriosas, han caído en desuso en expresiones llanas. Sin embargo, como en la busca de un término evocador de lo opuesto a patria no di con ninguno decente, me incliné por el uso de matria para referirme al pequeño mundo que nos nutre, nos envuelve y nos cuida de los exabruptos patrióticos, al orbe minúsculo que en alguna forma recuerda el seno de la madre cuyo amparo, como es bien sabido, se prolonga después del nacimiento.« (González y González (1986)).

183

184

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

a los campesinos; éstos iban lo menos posible a los pueblos y ciudades cercanas, por temor a la leva y a los ladrones, y los pocos que fueron »enlevados« y salieron con vida de la trifulca, no se enteraron de la causa que los llevó al teatro de la guerra. Mientras los franceses desembarcaban en Veracruz, los rancheros de la hacienda sólo hablaban de fraccionamiento y de la aurora boreal.24 Diese mitunter freiwillige Isolation und der Rückzug aus nationalen Diskurssphären verleiht dem ruralen Mexiko, die González mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt, eine Aura des Geodeterminismus, die den Appellen an das überregionale Nationalbewusstsein entgegensteht und den Blick auf die Welt jenseits des kleinen Einflussbereichs trübt. Dass im administrativen Schatten der restaurierten Republik (1867-1876) die Kondition der gleba trotz neuer Gesetzesvorlagen kaum optimiert wurde, mag wie eine historische Gesetzmäßigkeit nationaler Peripherien anmuten, zeigt aber im Umkehrschluss, dass die historische Stasis mit einer schwach ausgebauten Medienlandschaft korrespondiert. Mit dem Siegeszug der Audiovision ab dem 20. Jhd. wurden auch der mexikanischen Landbevölkerung Kommunikationskanäle eröffnet, über welche sich ein zentralisiertes Nationalbewusstsein weiträumig streuen ließ.25 Die historischen Wirren des mexikanischen Bürgerkriegs, die durch das postkoloniale Ringen um Selbstlegitimation motiviert waren, mündeten zum Ende des 19. Jhd. in eine autokratische Konsolidierungsphase. In der Revolución de Tuxtepec (1876) konnte der General Porfirio Díaz sich gegen die einstigen Helden der republikanischen Kampagnen Benito Juárez und Sebastián Lerdo de Tejada durchsetzen, womit eine historische Periode der politischen Stabilität eingeläutet wurde. Die gesellschaftliche Pazifizierung gelang Porfirio Díaz vor allem dank seiner »intimen Kenntnis der mexikanischen Provinz«26 . Sein Schlüssel zur Macht war eine autoritär betriebene Appeasement-Politik, bei welcher unter der Hand auch die Verlierer der mexikanischen Liberalisierung, die Kirche, der Landadel und das Militär, ihre eingebüßte Souveränität wiedergewinnen konnten. Die pax porfiriana, die 36 Jahre lang bis zum Ausbruch der Revolution (1910) dauern sollte, war darüber hinaus mit einer staatlichen Zentralisierung verbunden und der damit einhergehenden administrativen Durchdringung des nationalen Territoriums. Den lokalen Kaziken, die eine uneingeschränkte Verantwortung über die Dorfgemeinschaften hatten, wurden nun lokale Aufseher (jefes políticos) vorangestellt, die die Loyalität zur neuen Regierung sicherstellen und das pan y palo Prinzip umsetzen konnten, einer effektiven Spielart der inneren Kolonisierung bei der Folgsamkeit prämiert und Resistenz mit harter Hand bestraft wurde. Für die Durchführung der Sanktionen zentralisierter Rechtsprechung sorgten häufig die Rurales, die mexikanische Landgendarmerie, die für Ordnung in der Peripherie sorgte, eine effektive Waffe gegen das Bandenwesen war, aber auch gegen Bauernaufstände vorging, die vielerorts ausbrachen.27 Porfirio Díaz avancierte so zu einer nationalen Führerfigur, zum »Strong Man«28 , dem es seit der Kolonialzeit als erstem gelungen war, das gesamte nationale Territorium 24 25 26 27 28

González 1995, 60f. Vgl. González 1956, 24ff. Tobler 1984, 42. Vgl. Tobler 1984, 86. Brenner 1971, 7.

2. Topogenese der Hacienda

einer zentralen Verwaltung zu unterstellen, auch wenn er dabei mit eiserner Hand einen »progreso sin libertad«29 verfolgte, wie Carlos Fuentes den porfirischen Zeitgeist fasst. Dass der Frieden im ruralen mexikanischen Milieu prekär blieb und nur durch die Repressionen der Staatsgewalt bewahrt werden konnte, hat vor allem auch mit dem Fortbestehen des Hacienda-Systems zu tun. »Die kapitalistische Organisation der Hacienda«, schreibt Nickel, »ihr wirtschaftlicher und politischer Stellenwert, konnten schließlich während der Diktatur von Porfirio Díaz soweit perfektioniert werden, daß die Wirtschafts- und Sozialstruktur des ländlichen Raumes zwischen 1880 und 1914 nahezu völlig durch die Institution Hacienda bestimmt wurde«30 . Während des Porfiriats erlebte der Agrarsektor einen Aufschwung., da neben dem rasanten demographischen Wachstum auch ein Exportboom für eine wachsende Nachfrage nach agrarischen Produkten verantwortlich war. Der wirtschaftliche Aufschwung führte dennoch eher selten zu einer Modernisierung der Landwirtschaft, so dass die steigende Nachfrage hauptsächlich durch die territoriale Ausdehnung der Haciendas aufgefangen wurde. Im Zuge der verabschiedeten Kolonisationsgesetze wurden neue Staatsgebiete (terrenos baldíos) an Großgrundbesitzer verschleudert und viele Ländereien der Dorfgemeinden und Kleinbesitzer der ruralen Oligarchie überlassen. Neben 40 Mio. Hektar neuen Staatslandes (ein Fünftel der gesamten Staatsfläche) gingen damit graduell auch bereits bestellte Ländereien in privaten Großgrundbesitz über, so dass im Zenit des Porfiriats zwei Drittel aller Nutzflächen zu Latifundien aggregiert waren. Den Haciendas und den darauf residierenden Bauern standen nun 82 % landloser Bauern gegenüber, darunter auch die neu hinzugekommenen Landarbeiter, deren Existenzgrundlage per Dekret konfisziert wurde.31 Die territoriale Ausdehnung der Haciendas beförderte somit eine zunehmende Proletarisierung der Landbevölkerung und verschärfte die gesellschaftlichen Gärungsprozesse. Es besteht Konsens darüber, dass in den konfliktträchtigen Landfragen auch die zentrale Ursache für den Ausbruch der Revolution begründet liegt.32 Die wenigen Modernisierungsimpulse unter Porfirio Díaz erfolgten ausschließlich im konservativen Schlüssel, wodurch oligarchische Herrschaftsverhältnisse favorisiert wurden.33 Eine problematische Kontinuität zur Kolonialzeit lag vor allem im Hinblick auf die Landverteilung vor, so dass eine Transformation des Hacienda-Systems bereits vor der Revolution in schleichenden gesellschaftlichen Reifeprozessen vorbereitet wurde, die Hector Aguilar Camín unter dem

29 30 31

32

33

Vgl. Fuentes (1991). Nickel 1978, 2. Einer dieser Verlierer war auch Emiliano Zapata, der am Vorabend der Revolution dem Latifundismus den Kampf erklärte; zunächst in seinem Heimatstaat Morelos und später auch auf nationaler Ebene. Es ist ein historischer Gemeinplatz, dass Agrarkrisen das Leitmotiv der drei großen Revolutionen des 20. Jhd. darstellen, wie es auch Anderson (1991) im Kapitel »The Angel of History« (155-162) bespricht, das sich mit den Wesenszügen des nachrevolutionären Nation-Building auseinandersetzt. Am Beispiel von Que viva México! von Eisenstein wird weiter unten die Rolle der Bauernschaft am revolutionären Vorabend der russischen und der mexikanischen Revolution untersucht. Neben Konvergenzlinien stößt man auch auf bezeichnende Kontraste, die weitreichende Folgen für die divergente Memorialkultur beider postrevolutionärer Gesellschaften bereithalten. Tobler 1984, 24.

185

186

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Oberbegriff der »subversiones silenciosas«34 diskutiert. Mit den gehäuft auftretenden Missernten und Hungersnöten ab 1907, die das rückständige Wirtschaftssystem der im Porfiriat florierenden Machtcliquen offenlegten, ließ sich der »espíritu levantisco«35 , die Aufsässigkeit der Landbevölkerung nicht mehr zurückdrängen. Unabhängig davon, wie man nun die mexikanische Revolution interpretiert – als großbürgerliche Machtrochaden oder flächendeckenden Strukturwandel – waren die Veränderungen der mexikanischen Provinz tiefgreifend. Alan Knight, der seine Expertise zur mexikanischen Revolution in einem Aufsatz explizit der Zerstörung der Haciendas widmet, drückt es mit folgenden Worten aus: the Revolution brought about a severe weakening in some cases the outright destruction – of the old agrarian order, within which the hacienda and the village formed antagonistic counterpoints; […] this transformation was central to the broader process of change which radically affected Mexico in the years after 1910.36 Mehr als einen radikalen Kahlschlag, muss man sich die Beseitigung de HaciendaSystems als langwierigen Strukturwandel vorstellen. In der nachrevolutionären Auseinandersetzung mit den Ursachen der Revolution befand sich die Hacienda lange Zeit in einer manichäische Ungnade und wurde in der Geschichtsschreibung häufig als ein koloniales Bollwerk verteufelt.37 Was hierbei aus dem Blick geriet, waren die vielen Kontinuitätslinien, die auch nach den bewaffneten Konflikten, die die mexikanische Nation zwischen 1910 und 1917 bis in die entlegensten Winkel durchdrungen hatten, erhalten blieben oder bald wieder etabliert wurden. Nickel hebt hervor, dass die Bekämpfung der Haciendas oftmals »der Legitimierung von Partikularinteressen neuer Führungseliten« diente und »keineswegs stets dem Ziel, den bäuerlichen Gemeinden die Freiheiten und Chancen zurückzugeben, die ihnen von der Hacienda solange vorenthalten wurden«38 . Die soziökonomische Struktur Mexikos behielt auch nach der Revolution die Charakterzüge der alten Ordnung, denn die Institution der Hacienda blieb vielerorts intakt.39 Die ersehnte Neustrukturierung des Agrarsektors, auf deren Dringlichkeit Emiliano Zapata 1911 im Plan de Ayala unnachgiebig hingewiesen hatte, sollten nur mit starker Verzögerung unter dem Präsidentschaftsmandat von Lázaro Cárdenas (1934-1940) und seiner dekretierten Bodenreform Früchte tragen. Die Landverteilung blieb bis dahin eine heikle, durch die Wirren der Revolution durchkreuzte und aufgeschobene Angelegenheit, die 1917 zwar formal Einzug in die neue Verfassung gehalten hatte, jedoch erst mit der Überwindung des hartnäckig fortbestehenden Hacienda-Systems und der Transformation der Latifundien zu Gemeindeland (ejidos) allmählich Gestalt annahm. Darüber hinaus erlebten die restlichen landwirtschaftlichen Großbetriebe auch ein terminologisches rebranding. Die historisch vergällte Hacienda wurde im Zuge der Agrarre-

34 35 36 37 38 39

Vgl. Aguilar Camín 1993, 212. A. a. O., 40. Knight 1991, 73. Vgl. »Myths and Manichean Historiography in Modern Mexico«, die Einführung zur revisionistisch ausgerichteten Studie bei Miller 1995, 1-10. Nickel 1978, 1. Vgl. Knight 1994, 394.

2. Topogenese der Hacienda

form aus politischer Rücksichtnahme durch den Begriff des Rancho abgelöst – teilweise in Anlehnung an die großen amerikanischen Viehzuchtbetriebe (ranches), teilweise auch aus sprachpolitischem Kalkül, das im Ausweichen auf einen mit kleineren landwirtschaftlichen Pachtgebieten assoziierten Begriff bestand.40 Über viele Jahrhunderte gereift ließ sich die kulturelle Institution der Hacienda nicht spurlos aus den Köpfen, geschweige denn aus der Landschaft entfernen (Abb. 41). Der geschichtliche Exkurs zum Aufstieg und Fall der mexikanischen Haciendas mag hier enden und die Diskussion um den Beitrag der Haciendas zum kulturellen mexikanischen Erbe eröffnet werden. Für die kollektive Erinnerung markierten die gesellschaftlichen Umbrüche im frühen 20. Jhd. mit der Revolution als große Erfahrungsschwelle eine einschneidende Diskontinuität. Ein daraus resultierendes Krisenbewusstsein, das von einem gefährdeten Traditionskanon kompensiert wird, fand in den Haciendas Orientierungspunkte in der mexikanischen Landschaft, die den Wandel eindrücklich bezeugen. Wie lässt sich auch sonst eine Phase historischer Umschwünge, einmal abgeschlossen, topologisch nachvollziehen? Wenn man mit Schlögel anführt, dass die Revolution eine Bündelung schicksalhafter Ereignisse darstellt, die sich an dynamischen heißen Orten zutragen, sind konkrete topographische Spuren schwer zu fassen. Die Schauplätze und Schlachtfelder, die zu Inkubationsräumen wurden »in denen sich anbahnt und vorentschieden wird, was an anderer Stelle sanktioniert und beglaubigt wird«41 , waren nur ephemere historische Orte, die wieder zu Transiträumen mutierten oder ihre bisherige »kalte« Form annahmen. Einst heiße Zonen der Geschichte erstarren die Transformationen im Raum und hinterlassen höchstens Ruinen, Denkmäler oder bloße Markierungen in Reiseführern42 . Indes war die Hacienda als Relikt der Vergangenheit und »foyer des traditions«43 in besonderem Maße prädestiniert, den Wandel der Zeit zu vergegenwärtigen. An ihr ließen sich Transformationen der mexikanischen Gesellschaft sehr gut exemplifizieren, was auch teilweise erklärt, weshalb die zu Symbolorten des Porfiriats gewordenen Haciendas im Nachgang als mythische Orte der Nationalgeschichte rehabilitiert wurden. Bedeutend für das Wiederanknüpfen an kulturelle Vertrautheiten und die symbolische Restauration alter Ordnung war natürlich auch die schwierige Suche nach einem plausiblen kollektiven Heimatbegriff und nach stabilen Orten, die das während der Revolution ins Wanken geratene mexikanischen Selbstverständnis räumlich aufzufangen vermochten.44 So besehen war die Época de Oro das Symptom einer posttraumatischen

40

41 42 43 44

Vgl Nickel 1978, 14. Filmisch aufgefangen wird die sprachpolitische Euphemisierung der Hacienda in der modellbildenden comedia ranchera mit dem sprechenden Titel Allá en el Rancho Grande. Die formale Entsprechung der Hacienda als groß dimensioniertem Rancho spiegelt sich auch in einer klassischen, hierarchisch strukturierten Ortslogik wieder, wie im Teilkapitel zum betreffenden Film genauer untersucht wird. Schlögel 2003, 295. Vgl. Schlögel 2003, 300. Halbwachs 1968, 74. Der unübersetzbare Begriff ›Heimat‹ umfasst, wie Eric Santner schreibt, ein recht komplexes und widersprüchliches semantisches Feld, das allein im englischen mit den Approximationen »home«, »homeland«, »native soil«, »motherland«, »place of origin and belonging« korrespondiert (Santner 1990, 57). Im mexikanischen Kontext lässt sich die Bedeutung nicht ohne die signifikante Kippbe-

187

188

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 41: Ein Bauer überblickt die Hacienda La Fortaleza de San Miguel Regla in Hidalgo, eine monumentale Einschreibung kolonialer Spuren im Raum. (Photographie von Hugo Brehme, aufgenommen ca. 1930. Bildquelle: Mediateca de la INAH)

Epoche. Die Flut mexikanischer Heimatfilme im Gefolge der gesellschaftlichen Umstrukturierung war ein nachgefragtes Auffangbecken für nostalgische Affekte, bei der die Haciendas zum mnemotopischen Ersatz für die zeitlich entrückte Heimat wurden. Immer seltener wurde in der nationalen Filmkultur ab Allá en el Rancho Grande die Legitimität eines Neubeginns mit der Stagnation unter Porfirio Diaz begründet. Immer häufiger wurden während der postrevolutionären Konsolidierung die alten Tage unter Don Porfirio zum verklärten Gegenstand des Filmbetriebs. Schon bald nach der unzensierten präindustriellen Phase wurden die Ranchos und Haciendas im Film zu wegung zwischen Patria und Matria nachvollziehen, wie im nächsten Kapitel besprochen und bei der Betrachtung der comedia ranchera vertieft wird.

2. Topogenese der Hacienda

Rückzugsorten eines ewigen Mexikos, das unwiederbringlich verloren schien und aus urbaner Distanz verehrt und betrauert werden konnte. Wie an den Filmbeispielen gezeigt wird, war die Erinnerung an das HaciendaSystem eng verknüpft mit einer Bewertung des darin eingebetteten patriarchalen Herrschaftsparadigmas. Die in der mexikanischen Época de Oro produzierten Filme stellen den Betrachter daher vor die Frage, ab wann und warum eine ehrerbietige Haltung gegenüber dem porfiristischen Zeitgeist in der Populärkultur greifbar war. Wie tiefgreifend, fragt man sich, war der Wertewandel gemessen an den gesellschaftlichen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jhd.? Inwiefern verhält sich die Populärkultur als eine Kontrastfolie zur historischen Entwicklung, die historische Konflikte tendenziell in den Hintergrund stellt, oder ist gerade die weitgehende Ausblendung historischer Traumata im Genre der comedia ranchera ein Indiz, dass die Erfahrungsschwelle besonders tiefschürfend war? War tatsächlich eine dauerhafte Veränderung des Machtschlüssels in Mexiko der Fall gewesen, oder waren die Revolutionsfürsten dazu berufen, alten Wein aus neuen Schläuchen auszuschenken und die Sitten und Unsitten der Bezwungenen nachzuahmen, wie Alexis de Tocqueville es am Beispiel der französischen Revolution gezeigt hatte? Was waren schließlich, und für die Diskussion der Haciendas als Orte der nationalen Gedächtnisstiftung besonders relevant, die Formen der Erinnerung, mit der man im neuen Mexiko die opferreich überwundene Revolution belegte?

2.2.

Postrevolutionäre Sehnsucht nach der Prämoderne

Die Suche nach dem Schlussakkord einer revolutionären Phase ist bekanntlich ein schwieriges Unterfangen, das einen besonderen Platz in der Geschichtsschreibung einnimmt. Ob nun die Mexikanische Revolution mit der Unterzeichnung der Verfassung von Querétaro (1917) als abgeschlossen betrachtet werden kann, oder ob die Restaurationsversuche der Cristiada (1926-1929) mit einzuschließen wären, ist eine anhaltende Diskussion.45 Dass es sich bei der Revolution um den größten historischen Meilenstein im retrospektiven mexikanischen Selbstverständnis handelt, steht jedoch außer Frage. Als »conjunto de proyectos, símbolos, evocaciones, imágenes y mitos«46 ist der lange Schatten der Revolution prägend im Hinblick auf Prozesse der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung sowie auf das historische Imaginäre der mexikanischen Gesellschaft allgemein. Wie Enrique Florescano in seiner groß angelegten historischen Revision El nuevo pasado mexicano (1991) kann man im Nachleben revolutionärer Selbstmodellierungen ein anhaltendes Interesse an den Ursprüngen der modernen mexikanischen Gesellschaft ablesen. Wenn die Ruinen eine kollektive hantise des origines in großer zeitlichen Rahmung an sich zu binden vermögen, so lässt sich an der Hacienda eine neuere ätiologische Deutungslust erkennen, die das Gedächtnis an die schwierigen Überwindungsversuche der spanischen Hegemonie wachhält. Während die Haciendas, die fast 400 Jahre das dominante Landwirtschaftsmodell in Mexiko dargestellt hatten allmählich auf den Kehrichthaufen der Geschichte beför45 46

Vgl. Knight 1990, 229f. Florescano 1991b, 71.

189

190

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

dert wurden, wanderte die Institution der Hacienda umso stärker in den Bereich des Symbolischen und erlebte eine denkwürdige kulturelle Wiederverwertung, die auf ein vermehrtes Aufkommen einer kollektiven Nostalgie in der nachrevolutionären Gesellschaft hinweist. Selbst in der revisionistischen Literatur besteht kaum ein Zweifel darüber, dass in den 1930er Jahren eine Konsolidierungsphase beginnt, die einer ideologischen Vektorverschiebung von der Revolution zur Evolution entspricht.47 Die Blütezeit der mexikanischen Filmproduktion koinzidiert also, wie am Beispiel der Ruine bereits diskutiert wurde, mit einer nationalen Integrationswelle. Dass es kein einfaches Unterfangen war, ein Nationalbewusstsein in einer zerrütteten Gesellschaft zu verankern, bezeugen Echos, die die Sehnsucht nach einer nationalen Generalüberholung als Schwärmerei junger Enthusiasten bagatellisieren, so etwa die Erinnerungen von Manuel Gómez Morín an das Jahr 1915, der Geburtsstunde einer vermeintlich neuen Generation: Con optimista estupor nos dimos cuenta de insospechadas verdades. ¡Existía México! México como país con capacidades, con aspiración, con vida, con problemas propios. No sólo era esto una fortuita acumulación humana venida de fuera a explorar ciertas riquezas o a mirar ciertas curiosidades para volverse luego. No era más una transitoria o permanente radicación geográfica del cuerpo, estando el espíritu domiciliado en el exterior. ¡Existían México y los mexicanos! La política colonial del porfirismo nos había hecho olvidar esta verdad fundamental.48 Dem rhetorischen Eifer des Neubeginns stand in der postrevolutionären Kulturindustrie eine visuelle und ikonographische Überholung zur Seite, die der sich neu konstituierenden Nation ein entsprechend neues Gesicht verleihen und einen international wiedererkennbaren Identitätsstempel aufdrücken wollte, so etwa im Zuge der Campaña Nacionalista ab 1931.49 Noch während der Revolution begannen die Bilder der berittenen Revolutionäre oder der mit Patronengurten behängten Soldaderas dank zahlreicher US-amerikanischer Produktionen auf den Kinoleinwänden außerhalb Mexikos zu zirkulieren.50 In Mexiko selbst war der Revolutionsstoff nach den faktographischen Zugriffen von Tatsachen- und Propagandafilmen ab der Verfassung von Querétaro (1917) bis 1929 allenfalls in Form von »tímidas alusiones« vorhanden und im Anschluss immer stärker in das Medium des Spielfilms abgewandert.51 Die Darstellung der Revolution erfolgte aber auch während der industriellen Glanzphase, mit wenigen Ausnahmen, in

47 48 49

50

51

Vgl. Joseph/Rosenstein/Zolov 2001, 3f. Zit. in Aguilar Camín 1993, 38. De los Reyes beschreibt in Medio Siglo de Cine Mexicano (1896-1947) mit großem filmhistorischen Sachverstand die neuen ideologischen und ästhetischen Richtlinien. Erst unter Lázaro Cárdenas (1934-1940) wird der Filmproduktion eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Doch bereits 1931, just nachdem die Ära des Tonfilms eingeläutet wurde, wurden in Mexiko normative Richtlinien im Dienste des Nationalismus lanciert (de los Reyes 1987, 111). Die Entstehung des photo- und kinematographischen Inventars zum neuen, von der Revolution geprägten Mexiko beschreibt Zuzana M. Pick in ihrer Monographie Constructing the Image of the Mexican Revolution – Cinema and the Archive (2010). Eine luzide Studie zum photographischen Nachlass der Revolution legt in jüngster Zeit John Mraz (2012) vor Miquel 2005, 55. Vgl. auch Leal 2012, 173f.

2. Topogenese der Hacienda

volksnahen Aufbereitungen, die frei von Klassenbewusstsein oder subversiven Kommentare waren. Die Tradition der Anbetung des Porfiriats fortführend, setzte das Cine de Oro auf Vergangenheitsrepräsentationen, die sich dem traumatischen Geschichtskapitel großenteils mit anekdotischen Narrativen zu nähern versuchten oder in einer linear erzählten »exaltación de un caudillo«52 bestanden.53 Darüber hinaus reiften im postrevolutionären Kulturbetrieb auch retrospektive Mexikobilder heran, die die historische Phase unter Porfirio Díaz gerade nicht in ein negatives Licht rückten, sondern positive und nicht selten auch salbungsvolle Vergangenheitsbilder heraufbeschworen. Gerade die Abbildung des ruralen Mexikos in den Diskurssphären der literarischen und filmischen Fiktion, in welchen eine erstaunlich ehrerbietige Haltung gegenüber dem Porfiriat vorherrschte, stellt ein Oxymoron dar, das zu lösen keine einfache Herausforderung darstellt und eine Betrachtung der widersprüchlichen postrevolutionären Gedächtnisvektoren in der mexikanischen Populärkultur erfordert. Einmal mehr scheint die These einer konservierenden Gedächtnisarbeit als Strategie der Zeitbewältigung zu greifen, wenn man bedenkt, dass die kollektive Selbstsuche im Unwiederbringlichen, wie bereits am Beispiel der Ruine untersucht, auch in der Hinwendung zum Hacienda-System konstitutiv war. Die problematische Epoche der pax porfiriana, deren Segen auf einer semifeudalen Herrschaft der ruralen Oligarchie basierte, wurde häufig, der posttraumatischen »Angewiesenheit auf residuale Vertrautheiten«54 folgend, zu einer abgeschlossenen mexikanischen Belle Époque stilisiert und als modellbildende Gedächtnisvorlage betrachtet. Für die glorifizierenden Darstellung des Porfiriats in populären Diskursen scheint ein gleich dreifaches Kompensationsbedürfnis verantwortlich gewesen zu sein: zum einen galt es eine ideologische Wende zu verarbeiten, die sich nach wie vor an der Landverteilung zu entzünden schien und in Emiliano Zapatas Plan de Ayala (1911) eine radikale Programmschrift besaß. Der gesellschaftliche Wandel war, zweitens, geografischer Natur, wenn man die massiven Verstädterungstendenzen berücksichtigt und den Heimatverlust breiter Bevölkerungsschichten im Zuge der Urbanisierung als Triebfeder der kollektiven Gedächtnisleistung begreift.55 Die Nostalgie nach dem México de mis recuerdos (1943), wie einer der vergangenheitsverklärenden Filme von Juan Bustillo Oro (1904-1989) hieß, ging vor 52 53

54 55

Leal 2012, 164. Ausgerechnet diese Paradoxie diente dem mexikanischen Filmhistoriker Aurelio de los Reyes als Initialzündung für eine monumentale Gesellschaftsstudie von Mexiko in der Ära des Stummfilms, deren abschließender vierter Band sich zu gegebenem Zeitpunkt noch in Arbeit befindet. Auch in der Tonfilmära findet sich zunächst nur eine Handvoll früher Ausnahmen, etwa die RevolutionsTrilogie von Fernando de Fuentes: El Prisionero 13 (1933), El compadre Mendoza (1934) und Vámonos con Pancho Villa (1935) (vgl. de los Reyes 1996, 1 et 202). A. Assmann 2013, 228. Der gesellschaftlichen Strukturwandel im Zuge der Urbanisierung lässt sich zweifelsohne auch als eine Folge von wirtschaftlichen Modernisierungsimpulsen verstehen, die durch die revolutionäre Umbruchserfahrung intensiviert wurden. Als ein Beschleuniger der Landflucht ist mit Carlos Bonfil sicherlich auch die Kinematographie selbst zu sehen, die eine Diffusion der urbanen Kultur und ihrer Verlockungen in ruralen Sphären ermöglichte: »Al llegar a la provincia, el cine despierta o exacerba el apetito migratorio. La ciudad de México es, según prometen las vistas, el territorio mágico donde las estrellas eligen residencia: el lugar donde la libertad y la fortuna son, si no del todo probables, al menos sí concebibles.« (Monsiváis/Bonfil 1994, 14.)

191

192

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

allem auch mit einem dritten, generationellen Wandel einher: Eine herangereifte Alterskohorte, die den Transformationsprozessen in Mexiko des frühen 20. Jhd. als Zeuge beigewohnt hatte, sehnte sich mitunter auch deshalb nach dem porfiristischen Status quo ante, weil es mit ihren ersten erinnerungsvollen Lebensphasen koinzidiert hatte. Etwa 20 Jahre nach den bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen 1911 und 1917 stützte das »Generationengedächtnis«56 der Revolutionskinder eine Nachfrage nach harmonisierten Vergangenheitsbildern, die das Trauma der historischen Erfahrungsschwelle im Tausch gegen eine Erinnerung an die sorglose Jugend auszublenden vermochten. Versteht man die Hacienda als einen »Generationenort«57 , lässt sich vorausgreifend das Beharrungsvermögen der positiven Hacienda-Darstellungen erklären, die sich ab den 1930er Jahren vor allem in den comedias rancheras eingebettet finden, dem zentralen Filmgenre der Época de Oro, das mit Narrativen eines intakten ländlichen Zusammenlebens operiert. Die Präsenz des porfiristischen Geistes, der in den ersten kinematographischen Inszenierungen des angebrochenen 20. Jhd. zelebriert wurde, war daher überaus nachhaltig und auch lange nachdem der déspota ilustrado das unregierbar gewordene Mexiko an Bord der Ypiranga gen Europa verlassen hatte spürbar. Man muss sich dabei fragen, ob jene Faszination für ein brüchig gewordenes Kulturerbe, die in der kinematographischen Darstellung der Haciendas besonders virulent war, tatsächlich als ein Novum zu sehen ist, oder ob hier nicht eher von einer ungebrochenen Verklärung des Porfiriats die Rede sein muss, mit der die urbane Kinematographie dem geschassten caudillo nachtrauerte. Die Entstehung des Kinos an der Schwelle zum 20. Jhd. fällt dabei in eine Zeit, in der viele soziale Tumulte das Aufkeimen eines Klassenbewusstseins in Mexiko offenlegten und mit rigoroser staatlicher Repression bekämpft wurden. Einst von ausländischen Investoren nach Mexiko gebracht, war die Institution des Kinos ab der ersten Stunde im städtischen Bürgertum verankert, das den prekären Frieden des Porfiriats, den sueño porfiriano, mit eskapistischen Spektakeln aufrecht zu erhalten suchte: El cine se integró al sueño porfiriano de un México próspero y rico, ocupando un lugar en el olimpo de las naciones »cultas, civilizadas y progresistas« que por aquellos años flotaba en el ambiente. Se creía que el país había superado para siempre levantamientos, asonadas y cuartelazos […] El cinematógrafo, sin duda, resultó un espectáculo que por poco precio hacía olvidar las penas. Era una invitación a soñar con un mundo de fantasmas, de inalcanzables quimeras, tan fantásticas e inalcanzables como la quimera porfirista de un país donde reinara »la paz, el orden y el progreso« por los siglos, de los siglos.58 Auch nach der Destitution von Don Porfirio und seiner Gattin Doña Carmen, die in Mexiko wie absolutistische Könige hofiert wurden, blieb ihr symbolischer Einfluss erhalten. Den versöhnlichen mitunter auch hagiographischen Darstellungen von Porfirio Díaz arbeiteten auch neue kulturelle Kontrollmechanismen in die Hände, die kritische Einschätzungen des historischen Wandels delegitimierten. Bereits unter dem neuen 56 57 58

J. Assmann 1991, 342. Vgl. A. Assmann 2006, 301ff. de los Reyes 1996, 89.

2. Topogenese der Hacienda

Präsidenten Francisco I. Madero, der als nationaler Erlöser von den misslichen Zuständen im Porfiriat gefeiert wurde, wurden Agitationsfilme, die zur Rebellion aufriefen, schon bald unter strenge Zensurmaßnahmen gestellt. Nach seiner Ermordung während der Decena Trágica (1913), mit der die jakobinische Phase der mexikanischen Revolution begann, finden sich unter dem auf Restauration bedachten Putschisten Victoriano Huerta ungleich deutlichere Hinweise auf einen rollback in den mexikanischen Traditionalismus. So jedenfalls schildert Aurelio de los Reyes die Befindlichkeit des hauptstädtischen Bürgertums, des wichtigsten Konsumenten kinematographischer Produktion: La decena trágica sacudió hondamente a los capitalinos que aprovecharon la Semana Santa de 1913 para implorar con vehemencia el retorno a la paz. Se sentía que flotaba en el ambiente un espíritu de religiosidad y fanatismo. En casi todos los cines se cantó el Stabat Mater, de tradición porfiriana. […] En el huertismo había una infinita nostalgia por don Porfirio. Se añoraba una época dorada, una »dichosa edad, tiempos dichosos«, el México de los recuerdos. […] Pero la nostalgia no traía consigo la paz porfírica. El sistema continuaba en su descomposición. La situación se deterioraba gradualmente y la revolución cundía en el país.59 Vor allem aber in der postrevolutionären Konsolidierungsphase finden sich zahlreiche Produktionen, die von einer nostalgischen Sehnsucht nach der mexikanischen Belle Époque durchzogen sind und eine scheinbar integre Epoche vor der historischen Zäsur heraufzubeschwören versuchten. Carlos Monsiváis erkennt die Gunst der Stunde, in der die Filmindustrie ein gesellschaftliches Vakuum zu füllen begann, mit folgender Beobachtung: Plus sociologique qu’artistique, l’industrie du cinéma jouit au départ d’un avantage : le trouble causé par le pouvoir de la technologie (la capitulation devant la magie du nouveau moyen d’expression), d’où, pour se rassurer, l’idéalisation de la province et du milieu rural, la condamnation admirative de la ville, l’exaltation du régime patriarcal, la transformation en vertu des faiblesses de la société et la défense à outrance des valeurs du conservatisme.60 Ein Beispiel für die »reminiscencia granburguesa«61 in den Filmnarrativen der Época de Oro ist die aufwendig inszenierte Komödie En tiempos de don Porfirio (1939) von Juan Bustillo Oro, in welchen die »melodías de antaño«, wie der Untertitel lautet, in einem Dorf an der Jahrhundertschwelle erklingen. Das Melodram um eine Mesalliance im Milieu adelsstolzer Landbewohner spielt in Mexiko, steht aber in enger Verwandtschaft zur Wiener Operette oder dem Habsburgerfilm. Vom selben Regisseur, den Emilio García Riera nicht ohne Grund als »artista anacronizante«62 bezeichnet, stammt auch das bereits erwähnte México de mis recuerdos (1943), Wie die retrograde Stimmung des Titels es bereits ankündigt, stehen die Figur des Don Porfirio und der porfiristische Zeitgeist im Zentrum der Handlung, die sich im Übrigen in ruralen Palastintrigen erschöpft, die

59 60 61 62

A. a. O., 132f. Monsiváis 1992, 143. García Riera 1969, 37. Ebd., 38.

193

194

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

schon zur Uraufführung angestaubt gewirkt haben mussten. Die Restrukturierung der mexikanischen Provinz und die Nationalisierung der Haciendas waren unterdessen in vollem Gange, der gesellschaftliche Nährboden für nostalgische Revuefilme war also gegeben. In der vergangenheitsverklärenden Verarbeitung gesellschaftlicher Umbruchserfahrungen liegt auch eine wesentliche Ursache für den vernichtenden Befund mit dem García Riera das Cine de Oro belegt: »Ninguna época cinematográfica ha sido en su conjunto tan desesperada y deleitosamente evasiva como la que precedió a la segunda guerra mundial.«63 Die »nostalgie du porfirisme«64 ist aber auch während und nach dem zweiten Weltkrieg zu Melodramen der guten alten Zeit. Noch 1950 wird die Allmacht und Güte des ehemaligen Präsidenten in der Liebeskomödie El rancho de la discordia alias Si me viera don Porfirio kinematographisch nachempfunden. Bei der entscheidenden Gegenüberstellung der loyalen, europäisch anmutenden Dorfgemeinschaft und des sehnsüchtig erwarteten, verehrten und gefürchteten Präsidenten, verwendet der Regisseur Fernando Cortés einen besonderen Kunstgriff zur Plausibilisierung fiktiver Erinnerungsgesten: er montiert stock footage, dokumentarische Archivbilder, in welchen Porfirio Díaz eine landwirtschaftliche Messe besucht, mit Reaction-Shots der fiktiven Landaristokratie. In diesem mit Hilfe der Königin Montage ermöglichten Cameo-Auftritt wird die Zeitsynthese in besonderem Maße spürbar und das Nachleben des vorrevolutionären Zeitgeistes darunter auch eine positive Einstellung zum mexikanischen Absolutismus auf die Gegenwart projiziert. Wenn die üppig gepuderten Damen den herannahenden Präsidenten mit den Worten »¡Qué bien se conserva el señor presidente, cada día más simpático!« (1:20:00) begrüßen, hat der Zuschauer es mit einem Befund zu tun, den man durchaus auch symptomatisch für die nachzeitige Reputation des Porfiriats begreifen kann. Und selbst noch in Así amaron nuestros padres (1963), einem der letzten Filme von Juan Bustillo Oro, wird der Zuschauer in der Exposition mit einer Zeitangabe konfrontiert, die emblematisch für die Riege reaktionärer kinematographischer Zeitbilder ist: »Nuestra historia«, etabliert der Erzähler zu Beginn des Films, »comienza en una ciudad mexicana de provincia, en la adormilada quietud de las postrimerías del siglo XIX.« (1:50). Für den Quietismus eines idealisierten México decimonónico waren in den wachsenden urbanen Gesellschaften all die »orphans of the hacienda«65 empfänglich, die vom Land in die Städte gezogen waren, auch wenn die versöhnliche Bewertung des Hacienda-System am ehesten der Perspektive der entmachteten Hacendados entspricht, deren Landgüter während der Revolution zerstört oder im Zuge des anschließenden agrarianismo konfisziert, parzelliert oder in Ranchos umgetauft wurden: During the revolution, many landlords quit the big house for the town and some never returned; some went bust and sold up, some chose to diversify into urban businesses, some divided up their lands among family members. In general, rural real estate represented a less secure investment than it had during the belle époque of the Porfiriato.

63 64 65

García Riera 1969, 38. de los Reyes 1993, 83. Knight 1991, 87.

2. Topogenese der Hacienda

Consequently, some landlords faced the emergent challenge of agrarianism with an air of resignation. The hacienda, they complained, no longer guaranteed income as it had in the past. Lamentations came thick and fast, well before the agrarian reform reached its 1930s crescendo: landlords felt desilusionados y decepcionados (the worthlessness of the government’s agrarian bonds compounded their feeling), »the hacienda was in decadence,« one observed, »the agrarian movement was on top of us; the hacienda wasn’t functioning as in the old days.«66 Eine auf die Stimmungslage der Desillusionierten und Enteigneten gemünzte Kinematographie bot Regungen einer reaktionären Gegenwehr das Ventil, die Maurice Halbwachs bei der räumlichen Dependenz von Gedächtniskollektiven untersucht. »Eine Gruppe«, schreibt er im Hinblick auf räumliche Veränderungen, »leistet mit der ganzen Kraft ihrer Traditionen Widerstand, und dieser Widerstand bleibt nicht wirkungslos. Die Gruppe sucht – und teilweise gelingt es ihr – in den neuen Verhältnissen ihr früheres Gleichgewicht zu finden«67 . Im mexikanischen Kontext war die filmisch reinszenierte Mnemotopie der Ranchos und Haciendas ein wirksames Auffangbecken für die vom Lauf der Zeit aufgekündigten Gewohnheiten des ländlichen Lebens. Von einem Geist der »fantasiosa, decidida, intensa, envidiable, enternecidamente reaccionaria, lánguida y porfiriana añoranza«68 waren vor allem comedias rancheras und Melodramen der Zeit erfüllt, wie im weiteren Verlauf an den prominenten Beispielen Allá en el Rancho Grande (1936) oder Flor silvestre (1943) untersucht wird. Das Erinnerungsvermögen, das die als Großranch getarnte Hacienda an sich bindet, richtet sich dabei weniger auf eine historische Aufarbeitung des Hacienda-Systems als auf die Sehnsucht nach dem ländlichen locus amoenus in dem das problematische Kastensystem verschleiert wird.69 Im neu entfachten Traditionsbewusstsein während der Konsolidierungsphase ab 1930 lässt sich somit eine latente Rückbesinnung auf nationale Symbole und Bräuche beobachten, die nicht ungewöhnlich ist, wenn man sich die kollektive Gedächtnisarbeit vergegenwärtigt, die das Nation-Building im Nachgang an Revolutionen kennzeichnen. Wenn man Benedict Andersons Gedankengängen folgt, die implizit Tocquevilles Befund des konservativen postrevolutionären Wertekanons aufgreift, grenze es nahezu an einer historischen Gesetzmäßigkeit, dass in nachrevolutionären Regimes das Machtvakuum mit Symbolen der aufgekündigten Hegemonie gefüllt wird.70 Ähnlich wie im Falle der kreolischen Pioniere im Jahrhundert zuvor, kann man auch im 20. Jhd. beobachten, dass eine minoría rectora die politische Bürde der Selbstlegitimation mit einer Anknüpfung an die Vorvergangenheit zu stemmen versuchte wobei eben auch abgesetzte Ikonographien und Gesellschaftsmodelle rehabilitiert wurden. Dass ein paternalistisches Geschichtsbild und ein positiver Umgang mit den Haciendas toleriert wurde, bezeugt, dass das Porfiriat in der Populärkultur zum politischen Mythos einer landesweiten Stabilität befördert wurde und mit voranschreitender Institutionalisierung der Revolution zum Modell für die paternalistischen Grundsätze der sich formierenden Einheitspartei 66 67 68 69 70

A. a. O., 101. Halbwachs 1991, 135. García Riera 1969, 37. Vgl. Hershfield 2006, 261. Vgl. Anderson 1991, 160f.

195

196

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

(PRI) wurde. Zwar wurden bei der zentralistischen Nationalisierungswelle auch neue Traditionen konstruiert, doch man kann häufiger beobachten, dass althergebrachte Überzeugungen und Bräuche eine im Gewand der »folklore rouge« (Maurice Agulhon) fortbestanden: [T]raditional cultural baggage was often the last item to be discarded along the path of »modernization.« Often, it was never discarded at all: for example, in Mexico as in France, it seems, urbanization and industrialization did not neatly result in secularization. Such an argument suggests why old ideas survived lustily through – and despite – periods of rapid social change, such as 1910-40. It also suggests that the motor of social change was to be found in the material rather than the ideological realm. The motor’s machinery was replaced, overhauled, redesigned; but the ghost in the machine lingered. Much of Mexico changed during, after, and often because of the Revolution, and this change was sometimes brusque and far-reaching (that is, revolutionary). But ideas and customs changed (if they changed at all) at a more glacial pace.71 Die regressiven Tendenzen erklären dabei nicht nur die Schwierigkeiten bei der Umstrukturierung der nationalen Landwirtschaft, sondern auch den Umstand, dass auch in der neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung, darunter auch in der sich formierenden Filmindustrie, der traditionell-patriarchale Führungsstil bestehen blieb. Es ist darüber hinaus evident, dass die Institutionalisierungsphase, analog zum porfiristischen Pan y palo-Prinzip, auf eine autoritäre Erziehung des zivilen Gehorsams setzen musste. So besehen waren die zentralisierten Identitätsdiskurse vor allen Dingen auch aufoktroyierte Normierungen der mémoire-nation, die sich gegen neue Herde der insurgencia, der Dissidenz und Auflehnung in der weitläufigen Autoritätskrise richteten.72 Das Zusammenspiel von Nostalgie und kollektivem Gedächtnis in der mexikanischen Filmproduktion erfordert eine abschließende Reflexion, die die kulturgeschichtliche Bedeutung der postrevolutionären Mnemotopie der Haciendas und Ranchos begreiflich macht als die markante Präsenz einer schmerzhaft empfundenen Absenz, eines unerfüllbaren kollektives Verlangens nach einer Heimkehr, das vom Genre des Heimatfilms aufgefangen wird.73 In der jüngsten Nostalgieforschung lassen sich hierfür bei Swetlana Boym Befunde aufspüren, die die auffällige kollektive Nostalgie in der mexikanischen Filmkultur zu erklären helfen. Nostalgie als ein im 17. Jhd. medizinisch erfasster und pathologisierter Zustand des Heimwehs, sei dabei eine Sehnsucht nach einem nicht mehr vorhandenen Heimatort, wenn nicht gar nach einem Ort, der nie existiert habe. »Nostalgia«, schreibt Boym, »is a sentiment of loss and displacement, but 71 72 73

Knight 1994, 399. Vgl. Knight 1994, 399. Einen Rückblick zu den nicht selten religiös motivierten Strömungen der insurgencia in Mexiko bietet Florescano1987, 280-300. Trotz der Vorbehalte, die der in Mexiko weitgehend unbekannte Begriff des »Heimatfilms« auszulösen vermag, lassen sich viele comedias rancheras und rurale Melodramen aufgrund ihrer nostalgischen Vergangenheitsbeschwörung just dieser Kategorie zuordnen, die, wohlgemerkt, erst in der Nachkriegszeit zu einem feststehenden Begriff im deutschsprachigen Kulturraum wurde. Ein begriffliches Supplement könnte im mexikanischen Kontext cine costumbrista lauten, das seine Anleihen bei der literarischen Strömung des Kostumbrismus nimmt, die sich im frühen 19. Jhd. in Spanien und später in Lateinamerika herausbildet.

2. Topogenese der Hacienda

it is also a romance with one’s own fantasy«.74 Das Heimweh sei ferner eine kollektive Befindlichkeit, die vor allem nach dem Scheitern allzu optimistischer Zukunftsvisionen ausbreche und häufige Folgeerscheinung von Revolutionen75 , behauptet Boym und beschreibt damit implizit auch die symptomatische Selbstsuche nach der mexicanidad im nachrevolutionären mexikanischen Kino. Ursprünglich ein Beweis für Heimatliebe schlechthin, kann man kollektive Nostalgiewellen als einen Kompensationsmechanismus unerfüllter sozialer Utopien verstehen. Wenn die Nostalgie zunächst eine räumliche Sehnsucht nach einem zurückgelassenen Ort zu bezeichnen scheint, erlangt sie in Form des unwiederbringlichen Heimatverlusts eine zunehmend zeitliche, vergangenheitsfixierte Dominanz: At first glance, nostalgia is a longing for a place, but actually it is a yearning for a different time – the time of our childhood, the slower rhythms of our dreams. In a broader sense, nostalgia is rebellion against the modern idea of time, the time of history and progress. The nostalgic desires to obliterate history and turn it into private or collective mythology, to revisit time like space, refusing to surrender to the irreversibility of time that plagues the human condition.76 Als innovationskritischer Impuls bietet die Nostalgie damit Erklärungsansätze für die ortsgestützte mythische Verklärung einer vergangenen Epoche. Wenn Nicolas Pethes die Fixierung von Exilierten an Mnemotope diskutiert, die einer tatsächlichen Wiederbegehung aufgrund historischer Verwerfungen entzogen sind77 , kann im Hinblick auf die nostalgischen Evokationen der Haciendas infolge der massiven Binnenwanderungen jedoch kaum die Rede von einer negativen Mnemotopie die Rede sein, als vielmehr von einer positiv gewandten Spielart der Mnemotope als kompensatorische Rückzugsorte einer verlorenen Zeit – einer Spielart, der Vergangenheitsbeschwörung, die unweigerlich an das Moment der Abwesenheit geknüpft ist.78 Bemerkenswert ist dabei, dass ein nostalgisches Gedächtnis nicht unbedingt auf eine konkrete, historisch verbürgte Vergangenheit ausgerichtet zu sein scheint, sondern auf ortsgestützte Idealbilder der Vergangenheit, die von einem ausscherenden kollektiven Gedächtnis in einer als unzureichend empfundenen Gegenwart entworfen werden. Da die nostalgische Sehnsucht damit eine Kontinuitätslinie von einer mythisch überformten Vergangenheit in die ungewisse Zukunft projiziere, sei die nostalgische Rückbesinnung also, ganz im Sinne von Jörn Rüsens in der Gegenwart vollzogenen Zeitsynthese, retro- und zugleich prospektiv. Genau dieses Verständnis von Nostalgie als einer »historischen Emotion«79 ist entscheidend, um die Hochkonjunktur der Heimatfilme im postrevolutionären Mexiko zu verstehen als Vehikel eines romantischen Nationalismus, die den Zuschauer auf eine entpolitisierte »imaginative journey«80 in eine glorreiche Vergangenheit mitneh-

74 75 76 77 78 79 80

Boym 2001, Introduction. Ebd., Kap. I.I. Ebd. Vgl. Pethes (2015). Zur Bedeutung von Absenz für die Opposition von Historie und Gedächtnis vgl. Ernst 2010, 6f. Boym 2001, 6. Vgl. Lowenthal 1985, xvii.

197

198

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

men. Ausschlaggebend für die nostalgische Zeitreise ist hierbei in stärkerem Maße die Überwindung zeitlicher als räumlicher Distanzen, die nach der Erfahrungsschwelle der Revolution entstanden sind. Und bezeichnenderweise lebt die Hacienda-Mnemotopie nicht selten gerade von einer Vernachlässigung, wenn nicht gar Tilgung des historischen Bewusstseins. In der nostalgischen Retrospektion des Heimatfilms wird während der Época de Oro die Matria homogenisiert, serialisiert und zu einem imaginären Ersatzsymbol der sich wandelnden patria erhoben. Diese eskapistische Bewandtnis filmischer Nostalgie bei der Suche nach symbolischen Heimatorten diskutiert auch Johannes von Moltke in No place like home, seiner Studie zur Popularität des Heimatfilms im Nachkriegsdeutschland: Heimat in the Heimatfilm functions in two ways simultaneously: on the one hand, it affords a colorful flight from a reality deemed lacking into an apparently unrelated fantasy world; on the other hand, it serves as a metaphoric displacement of that reality, whose lack remains legible at different levels of the film text. […] Heimat is constituted by its absence. Homelessness provides a superior epistemological vantage point from which to gauge the meaning of home […] the value of Heimat can only be known by those who have left it.81 Die kollektive Stimmung der homelessness, die im Kontext dieser Arbeit in der mexikanischen Entwurzelung durch Strukturwandel und Binnenmigration zu sehen ist, war in der Periode langwieriger politischer Instabilität besonders akut. Da die mexikanische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jhd. noch weitgehend landwirtschaftlich geprägt war, wurde Heimat üblicherweise an die Vorstellung ruraler Orte geknüpft. Neben Dorfgemeinschaften waren es vor allem die Gesellschaften der Ranchos und Haciendas, in welche sich das verlorene Heimatgefühl gut einbetten ließ. Die nostalgisch überformte Topologie der Heimat bleibt aber auch in Mexiko sehr ambivalent: Je nach Blickwinkel ist der rurale Ort ein Schauplatz des natürlichen, unschuldig-tugendhaften Lebens, oder aber ein Hort der Rückständigkeit und der Selbstbegrenzung.82 Als wichtigste Zielscheibe der revolutionären Vergeltungsmaßnahmen war der Ortstypus der Hacienda zu Beginn des 20. Jhd. stark gefährdet und hinterließ nach den tiefgreifenden Auseinandersetzungen nicht selten verlassene und zerstörte Landhäuser, wie in der Hacienda-Mnemotopie in den Filmen El compadre Mendoza und Flor Silvestre eingehender untersucht wird. Doch wenn die Rückkehr in die Haciendas der Suave patria der Rückkehr in einen »edén subvertido« glich, wie es in El retorno maléfico (1919), einem anderen lyrischen Kommentar von Ramón López Velarde zur Verwüstung der mexikanischen Provinz heißt, bot die mexikanische Kinematographie, wie vor allem im Kapitel zu Allá en el Rancho Grande zu zeigen sein wird, eine mnemische Reparationsleistung. In der nachfolgend untersuchten Filmselektion wird ein vermehrtes Aufkommen restaurativer Gedächtnisvektoren als typisches Indiz für ein gesellschaftliches Krisenbewusstsein untersucht, eine These die von der dominanten Zuwendung der nationalen Filmkultur zur Hacienda-Mnemotopie gestützt wird. Die meisten der analysierten Filme weisen darauf hin, dass in der Überbetonung des 81 82

v. Moltke 2005, 5. Vgl. v. Moltke 2005, 229.

2. Topogenese der Hacienda

»benign hacienda paternalism«83 auf den Kinoleinwänden die realhistorische Einordnung der Hacienda als gesellschaftliches Auslaufmodell ausgeblendet wurde. Wie die treffende Gesellschaftsdiagnose von Carlos Monsiváis im Hinblick auf die markante Popularität der Haciendas in kinematographischen Gedächtnisvorlagen der Época de Oro nämlich lautet: »[D]ans le mésure où le pays cesse d’être rural, l’idéalisation du monde des haciendas, des ranchos, des petits villages s’intensifie«84 .

83 84

Knight 1991, 87. Monsiváis 1992, 143.

199

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Will man nun einen genaueren Blick auf die Rolle der Haciendas innerhalb der filmbasierten Memorialkultur im Mexiko der Época de Oro werfen, hat man es mit einer großen Anzahl von Werken zu tun, die dem Genre des Heimatfilms avant la lettre hinzugerechnet werden können. Standen die filmischen Rückgriffe auf die Ruinen während der Época de Oro noch im Zeichen einer schwierigen Setzung nationaler Ursprünge und einer Selbstverortung aus großer historischer Distanz, so waren die zahlreichen Filme, die im ruralen Milieu angesiedelt waren, eher einer kollektiven Heimatsuche geschuldet, die auf dem Fundament der friedlichen vorrevolutionären Jahre unter Porfirio Díaz rekonstruierbar schien. In der rapide wachsenden mexikanischen Filmindustrie der 30er Jahre lässt sich hierbei eine ästhetische Strömung herausstellen, die einerseits innerhalb der postrevolutionären mexikanischen Gesellschaft stark rezipiert wurde, andererseits aber auch einen reißenden Absatz im Ausland fand, allem voran in Lateinamerika, den Vereinigten Staaten und Spanien. Die Rede ist hier von Filmen mit einer ländlichen, der Folklore nahen Bewandtnis, die sich nach dem Kassenschlager Allá en el Rancho Grande von Fernando de Fuentes aus dem Jahr 1936 zu dem Genre der comedia ranchera verdichteten. Wie in keinem anderen Genre wurde hier eine kanonische mexicanidad nach Maßgabe einer kolonialen tradición eterna inszeniert, sowohl als Blaupause für nationale Selbstbilder, wie auch für die internationale mexikanische Wiedererkennbarkeit: Los habitantes, los ambientes, las costumbres, los decorados, los valores y los prejuicios de la provincia dominan, sin oposición ninguna, la historia del cine mexicano. Poco importan los fines que persiga una película nacional: la provincia terminará por aparecer, física o espiritualmente, absoluta o relativamente, al final del camino. La moral provinciana es la única que obedece, porque el cine mexicano es un cine hecho por tránsfugas de la provincia y destinado principalmente a consumidores de provincia.1 Die unlängst überwundene aber noch lange nicht verwundene revolutionäre Epoche resultiert in einer gesellschaftlichen Grundstimmung der restaurativen Nostalgie und einer Heimatsehnsucht, die mit imaginären Orten des Altvertrauten aufgefangen wur-

1

Ayala Blanco 1968, 84.

202

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

de.2 Im Zentrum der comedia ranchera steht ein ruraler Schauplatz, in welchen melodramatische Narrative, Liebesintrigen und Ehrenhändel eingebettet sind. Charakteristisch für das Genre ist die stets mitschwingende nationale Verstehensebene, die in der Provinz immer auch einen potenziellen synekdochischen Kern der mexicanidad verorten lässt. Die nationalistische Welle schien, wie Ayala Blanco es ironisch überspitzt formuliert, von dem Leitsatz dominiert zu sein: »›La provincia es la Patria‹, ya que en todo mexicano debe mantenerse la llama ardiente del ›amor a la Patria Chica‹«.3 Die Mnemotopie der Ranchos und Haciendas stützte daher nicht selten ein nationales Funktionsgedächtnis, das die kollektive Verunsicherung angesichts der gesellschaftlichen Transformationsprozesse mit filmischer Rückbesinnung mildern wollte. Während das politische Masternarrativ einer institutionalisierten Revolution sukzessive Form annahm, wurde die herbeigesehnte Pazifizierung der Nation begleitet von einer seriellen Filmproduktion in welcher ein Mexiko propagiert wurde, das sich eines befriedeten Hinterlandes gewiss sein konnte. Die Revolutionsphase ausblendend knüpften die Darstellungen der Haciendas und Ranchos an kostumbristische Inszenierungen des 19. Jhd. an, die eine prämoderne Ganzheitlichkeit des ruralen Kosmos betonten. Der ins kinematographische Medium übersetzte Kostumbrismus führte auch konsequent eine Relativierung jeglicher historischen Dynamik mit und basierte auf der Imagination traditionsbewusster kleiner Welten, die vom ritualisierten Lauf der intra-historia gezeichnet sind.4 Wenngleich die meisten kinematographischen Werke aus der mexikanischen Stummfilmära zerstört sind oder als verloren gelten, sind ländliche Themen in der mexikanischen Filmgeschichte von Beginn an sehr präsent gewesen, wie es der Filmhistoriker Aurelio de los Reyes anhand von Photographien, Filmplakaten, sowie Drehbüchern und filmkritischen Stellungnahmen der Zeit feststellt. »Varias películas trataron el tema campirano«, schreibt er stellvertretend für die Produktionen der Stummfilmära, »pero no sabemos cómo lo abordaron. Por las imágenes que conocemos parecen asuntos costumbristas.«5 Die Vermutung, dass die Interessenkonflikte um Landverteilung und territoriale Verfügungsgewalt sich kaum auf den Kinoleinwänden 2 3 4

5

Die begriffliche Differenzierung der Nostalgie in eine restaurative und eine reflektierte wird eingeführt und besprochen in Boym 2001, 41-57. Ayala Blanco 1968, 67. Die nachfolgend verwendeten Schlagworte der tradición eterna und der intra-historia, die Miguel de Unamuno in dem Aufsatz La tradición eterna (1895) geprägt hat, eignen sich in besonderer Weise, um die filmisch imaginierte Innovationsresistenz des ruralen Mexikos zu beschreiben. Unamunos Bewusstsein für eine unsichtbare historische Dimension greift auch Luis González bei seiner Diskussion der mexikanischen Matrias auf, deren mikrohistorische Geltung in der monumentalen Ereignisgeschichte der mexikanischen historia patria außen vor bleibt (vgl. González (1986)). Unamuno zufolge richte sich der intrahistorische Blickwinkel auf »la vida silenciosa de los millones de hombres sin historia que a todas horas del día y en todos los países del globo se levantan a una orden del sol y van a sus campos a proseguir la oscura y silenciosa labor cotidiana y eterna, esa labor que como la de las madréporas suboceánicas echa las bases sobre que se alzan los islotes de la historia. […] Esa vida intra–histórica, silenciosa y continua como el fondo mismo del mar, es la sustancia del progreso, la verdadera tradición, la tradición eterna, no la tradición mentira que se suele ir a buscar al pasado enterrado en libros y papeles y monumentos y piedras.« (Unamuno 2007, 80). de los Reyes 1996, 208.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

abgebildet fanden, wird sogleich triftig erhärtet: »Nuestra duda de que abordaran el problema del campo se deriva de la sospecha de que al hacerlo se hubiera atentado contra el sueño plácido al que se entregaba la sociedad mexicana.«6 Einen bedeutenden Vorläufer des mexikanischen Booms der Heimatfilme macht Joanne Hershfield im Rückgriff auf die filmhistorische Restaurationsarbeit von Aurelio de los Reyes aus: El Caporal (The Boss, 1921, Juan Canals de Homs and Rafael Bermúdez Zataraín) anticipated the emergence of what was to become Mexican cinema’s most popular genre in the golden age, the comedia ranchera. […] [L]ike the subsequent comedia ranchera, [El Caporal] was not a historical narrative of the hacienda system but one that constructed it in an idyllic imaginary that ignored the brutal system of peasant exploitation.7 Wenn man also die plausible Genealogie der kinematographischen Abbildung der mexikanischen Provinz ernst nimmt, kommt man kaum um die Schlussfolgerung herum, dass die konventionelle, friedliche Kodifizierung des Hinterlandes auch nach der Revolution fortbestand. Die kollektive Erfahrungsschwelle im Medium der Kinematographie war hierbei gerade in der auffälligen Abwesenheit historischer Reflexion zu erkennen. Jenseits weniger Ausnahmen Anfang der 30er Jahre, die in den weiter unten analysierten Beispielen von Que viva México! (1931) und El compadre Mendoza (1934) gegeben sind, blickte das mexikanische Kino nicht auf die rurale Realität des Landes, sondern auf ein arkadisches México Profundo, in welchem der Wandel der mexikanischen Agrarwirtschaft im politisch Unbewussten der urbanen Konsumgesellschaft belassen wurde. Während die Märtyrer der Revolution – Francisco I. Madero, Pancho Villa und Emiliano Zapata – zu Nationalhelden gesalbt und in den historischen Pantheon befördert wurden, war die Bodenreform in den wachsenden urbanen Milieus einer kollektiven Amnesie anheimgefallen, zu der die Filmindustrie unverkennbar ihren Beitrag leistete.8 Dass die kollektive Agonie bereits sehr früh durch Gegenmaßnahmen der Regierung in ruhigere Gewässer gelenkt wurde, kann man auch in den gedächtnispolitischen Eingriffen in die Kinematographie erkennen, da zum Beispiel dokumentarische Zugriffe auf das Zeitgeschehen noch während des Bürgerkriegs problematisch geworden waren: El documental de la Revolución se dejó de exhibir paulatinamente y para 1916 desapareció casi por completo de la cartelera. Por excepción, aparecerá convertido en antología para rememorar, con nostalgia, la epopeya revolucionaria.9 Es bleibt jedoch fraglich, ob das Desinteresse an revolutionären Narrativen tatsächlich gedächtnispolitischen Eingriffen geschuldet war. Nicht minder plausibel ist die Annahme einer Selbstregulierung, die der Kinematographie in einer der bewaffneten Kon6 7

8 9

Ebd., 208. Hershfield 2006, 261. Zu den nicht mehr oder nur fragmentarisch erhaltenen Filmen wie El caporal (1921, Miguel Contreras Torres), En la hacienda (1921, Ernesto Vollrath), La parcela (1923, Ernesto Vollrath) und anderen frühen Manifestationen eines »paraíso rural« sowie der kinematographischen Charro-Verehrung schreiben auch Carreño King (2000) und Miquel 2005, 55. Vgl. Tuñón 2010, 209f. de los Reyes 1991, 202. Zur filmästhetischen Zäsur nach der Konstitution von 1917 und der Verlagerung der Vergangenheitsaufarbeitung in das Medium des Spielfilms siehe auch Miquel 2005, 38-42.

203

204

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

flikte überdrüssigen Gesellschaft vordergründig kompensatorische oder eskapistische Funktionen einräumte. Die Verarbeitung der Revolution schien eine historische Distanz und eine Schließung der Epoche erforderlich zu machen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die meisten Darstellungen des ruralen Mexikos eher im Dienste einer fundierenden Mythomotorik standen, die die viele Jahrhunderte alte Tradition des Hacienda-Systems fortsetzte. Zunächst noch Inkubationsraum schwelender Konflikte, wurde das mexikanische Landgut immer häufiger als eine befriedeter, in der Terminologie Schlögels »kalter Ort« der erstarrten historischen Dynamik imaginiert, in den sich allenfalls das melodramatische Lamento angesichts des starren Wertekanons und der unverbrüchlichen Ortsgesetze einer ehernen Hacienda-Gesellschaft fügen ließ. Die bereits formulierte These, die sich an dieses markante Auseinanderklaffen von Geschichte und Gedächtnis im Film knüpfen lässt, ist das Verständnis des Booms idyllischer Heimatfilme als kollektive Sehnsucht nach Identitätsankern. Zur Veranschaulichung der filmischen Heimatsuche im Gewand des romantischen Nationalismus eignet sich das Werk ¡Así es mi tierra! (1937), eine frühe comedia ranchera von Arcady Boytler. Stellvertretend für die kollektive Nostalgie im nachrevolutionären Mexiko hebt die namenlose Hauptfigur des Generals zu einer längeren Trinkrede auf die Heimat an, die eine für die kollektive Stimmung symptomatische Erinnerungsleistung enthält. Es handelt sich um einen generischen Revolutionshelden, der 1916, zum Ende der bewaffneten Revolutionsphase, wie die zeitliche Situierung am Anfang festlegt, in seine Heimat zurückkehrt und vier Jahre des Umherwanderns in der bola, einer der vielen buntgescheckten Revolutionstruppen, hinter sich lässt: […] estoy muy recontento de estar entre Ustedes y de haber vuelto a mi tierra, donde mi madrecita me crió de chamaco y donde mi padre sufrió harto cuando era peón de la hacienda. Yo me fui a la bola recordando su miseria. Si mis viejitos hubieran podido verme … pero ya se murieron … bueno, no hay que ponerse asina, yo soy como la tuna y creo que hartos mexicanos semos como esa fruta: por la buena les doy el jugo dulce. Pero por las malas se pueden espinar, sí señor, he dicho. (30:43-31:16) In paradigmatischer Formelhaftigkeit hört man den General bei seiner feierlichen Rede vor versammelter Dorfgemeinschaft eine Kausalität zwischen der Revolution und der Ausbeutung der peones nachvollziehen. Die traurige, in ein biografisches Narrativ eingebettete Erinnerung an das tyrannische Hacienda-System wird aber sogleich von einer ruralen Binsenweisheit abgelöst, die der General zum Credo des mexikanischen Selbstverständnisses erhebt. Den radikalen Kontrasten innerhalb Mexikos entsprechend, die der General mit der Ambivalenz der tuna10 andeutet, arbeitet der Film mit einer ebenso ambivalenten Einschätzung der Provinz, die als Einzugsgebiet der Haciendas verteufelt und als Herkunftsort glorifiziert wird.

10

La tuna ist die Frucht des Feigenkaktus (nopal), eines Nationalsymbols, das die mexikanische Flagge schmückt und auf eine präkolumbinische Legende der Gründung von Tenochtitlan zurückgeht auf deren Fundament Mexiko-Stadt errichtet wurde. In kritischer Verwendung wurde die Nationalpflanze bereits als protektionistisch-bevormundende cortina de nopal im Kapitel zur Ruinenbehandlung in Raíces eingeführt

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Die Heimatverbundenheit des Generals scheint bereits zu Beginn in dem Begriff »querencia« (3:07) auf, das gleichermaßen die kleine Heimat selbst als auch die liebevolle Einstellung ihr gegenüber meint, und auch die Sehnsucht markiert, die der General von sich auf seinen Gaul projiziert. Die pastorale Szenerie, die dem Zuschauer durch den nostalgischen Blick der Heimkehrer eröffnet wird, ist für die Verklärung des Landlebens ohnehin sehr aussagekräftig. Zunächst wird die bukolische Ortsstimmung mit einem Blick auf einen topischen Hirtenjungen neben einem Schaf vorweggenommen (Abb. 42). Am Horizont erscheint daraufhin das in eine pittoreske Landschaft eingebettete Dorf, dessen Aura akustisch durch das Geläut der Kirchenglocken abgesteckt wird, die umso lauter werden, je weiter sich die Kamera im Rücken der bola dem Ort nähert (Abb. 43). »Oiga no más los repiques«, hört man den heimkehrenden General seinem gelehrten Mitstreiter sagen, »se le encoge a uno algo por dentro, ¿verdad? Por ver a su pueblo, donde lo chiqueó a uno la viejita.« (3:24). Die Verwöhnungen der verstorbenen Mutter, an die sich der gerührte General erinnert, rufen die Zärtlichkeit hervor, die er seiner Matria, seiner kleinen Heimat, aus zeitlicher und räumlicher Distanz entgegenbringt.

Abb. 42: Der Hirte als ›cue‹ der bukolischen Heimatverbundenheit erscheint hier als statisches Symbol einer prototypischen mexicanidad, das dem photogenen mexikanischen Himmel wie ein Heilsversprechen eingeschrieben ist. Zu ›cues‹ als Hinweisreizen bei der filmischen Interpretationsarbeit schreibt Bordwell 1991, 1-18. Abb. 43: Die ersehnte Heimkehr der ›bola‹ als Allegorie auf den schwierigen Schlussakkord der mexikanischen Revolution erweist sich für die rastlosen Berufsrevolutionäre als ein kurzes historisches Intermezzo.

Wie es der hinweisend-vereinnahmende Titel ¡Así es mi tierra! ankündigt, richtet Boytler im weiteren Verlauf des Films seine Kamera immer wieder auf die mexikanische Landschaft sowie die Landarbeiter, die sie in stummer Versenkung bestellen. Die Perspektive bleibt hierbei die eines Stadtbewohners, der seinen nostalgischen Blick auf ein ewiges Mexiko wirft: »Qué triste es la canción del ranchero, licenciado«, sagt der junge Cantinflas beim Anblick der beschwerlichen Pflugarbeiten. »Siempre triste«, sekundiert der Licenciado, »aunque pretende cantar alegrías« (58:11). Im Konsens des Dorfnarren und des Weisen scheint jene Empfindsamkeit auf, mit der die mexikanische Provinz aus urbaner Ferne belegt wurde, womit Boytler auf eine Darstellungstradition

205

206

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

der mexikanischen Pittoreske zurückgreift, die in der Landschaftsmalerei von Dr. Atl oder der Photographie von Hugo Brehme (México Pintoresco (1923)) bedeutende Vorlagen im frühen 20. Jhd. hatte11 . Aber auch in der zeitgenössischen Poesie lassen sich zahlreiche Vertreter finden, die sich an ein archetypisches und ewig fernes Mexiko richten. So ließe sich die Stellungnahme des Licenciado durchaus in die geistige Nachbarschaft von La Suave Patria (1921) rücken, einer Elegie, in der Ramón López Velarde seine Verse an eine tadellose und beständige Patria ruraler Prägung richtet.12 Die melancholische Stimmung des urbanen Gelehrten aufgreifend, resümiert Cantinflas die qualvolle Landarbeit mit einem historischen Gemeinplatz: »Y es que han sufrido mucho, no se crea usted.« (58:12). Die Erinnerung an das Leid der Bauern wird hier aber in stärkerem Maße als Kontinuität der kolonialen tradición eterna denn als Ursache der Revolution aufgerufen. Währenddessen setzt der A-capella-Chor im Off zur letzten elegischen Strophe an die »tierra« an, einem in Mexiko bis heute geläufigen Synonym für den provinziellen Herkunftsort: Así es mi tierra,/flor de la melancolía,/ay, tierra mía,/cómo es grato tu color (58:31) In dem musikalischen Kommentar zur Landarbeit als Essenz der patria chica wird erkennbar, dass Boytler sich hütet, eine alternative Bewertung des mexikanischen Hinterlandes vorzunehmen. Stellvertretend für eine symbolische Verklärung der Provinz in der postrevolutionären Ordnung betont sein Film die Persistenz der suave patria als Synonym für einen aus dem Blickwinkel der kolonialen ciudades letradas evozierten ruralen Quietismus.13 Die verherrlichende Darstellung der Landarbeit in ¡Así es mi tierra! ist in ihrer prämodernen Zeitlosigkeit damit eher ein Verweis auf die gute alte Zeit denn eine Inszenierung des revolutionären Fortschrittsglaubens. Die Landarbeiter, die der Film in geradezu dokumentarischer Ästhetik abbildet, bleiben im Film Repräsentanten einer mexikanischen histoire quasi immobile (Abb. 44/45) und die Suche nach einer historischen Kontinuität kann folglich nur aufgefangen werden in der Hinwendung zu einem überhistorischen Mexiko, das der tradición eterna verhaftet bleibt. So umjubelt die Heimkehr zunächst aber sein mochte, können der General und seine Gefolgsmänner die Entfremdung, die sie in der wiedererlangten Heimat einholt, nicht überwinden und bringen eher eine Unwucht in die Stabilität des ruralen Ortes hinein nach der sich der General anfangs gesehnt hatte. Die nostalgische Heimatverbundenheit ist schon bald aufgebraucht, die erinnerungsstiftende Abwesenheit verliert ihren Zauber und das Gefühl der Deplatziertheit treibt die Rückkehrer zum Ende des Films wieder aus dem Dorfidyll in die nomadische Ortlosigkeit der Revolution. »Vámonos mejor a la bola«, sagt schließlich der resolute General dem betagten Licenciado, 11 12

13

Zur Tradition der pittoresken Darstellung Mexikos und der antipittoresken Gegentendenz in der Photographie siehe Mraz 2014, 383. »Diré con una épica sordina:/la Patria es impecable y diamantina./[…] Patria: tu mutilado territorio/se viste de percal y de abalorio.« Die Gedächtnisstiftung im Zuge der territorialen Reduktion im 19. Jhd. und die von der Grenzverschiebung ausgehenden Impulse für die nationale Integration wird weiter unten, im Kapitel zur mexikanischen Nordgrenze ausführlich besprochen. Swetlana Boym verweist im Rückgriff auf Jean-Jacques Rousseau auf die Rolle der Musik als »memorative sign« und Auslöser nostalgischer Heimatbeschwörungen, bei welchen das kritische Bewusstsein vernebelt wird (Boym 2001, 4).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 44: Die Feldarbeit im Wolkenmeer bildet das Rückgrat der Filmhymne auf die präindustrielle Landwirtschaft. Abb. 45: Die melancholisch-kontemplative Totale auf die Landarbeiter aus der urbanen Distanz des romantischen Nationalismus.

»allí estaremos más tranquilos« (1:17:02). Dem General wird, so scheint es, bewusst, dass er hier nicht nach einem verlorenen Ort sucht, sondern nach der verlorenen Zeit, und dass die Heimat seiner Erinnerungen genauso das Zeitliche gesegnet hat wie seine Eltern. Im Laufe des Films schlägt die restaurative Nostalgie des verlorenen revolutionären Sohns um in eine reflektierte Nostalgie, die sich der Uneinholbarkeit der jungen Jahre bewusst wird. Das historische Zeitverständnis gewinnt wieder die Oberhand über das biographische. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Heimatort wird in ¡Así es mi tierra! als Symptom einer letztlich unstillbaren restaurativen Nostalgie entlarvt. Boytlers Beitrag zur mexikanischen Rückbesinnung auf die uneinholbare Heimat demonstriert, wie der mexikanische Heimatfilm seinen Blick auf ein intaktes, zeitloses, arkadisches Mexiko richtet. Doch mit der Wiederbegegnung wird die Sehnsucht nach dem Heimatort dekonstruiert als problematisches Begehren. Boytlers Heimatfilm offenbart sich dabei als Vehikel der nostalgischen Retrospektion, die eine gesellschaftliche Restauration in den Bereich des Imaginären verbannt. Dem Beispiel von ¡Así es mi tierra! folgend kann man die Mnemotopie ruraler Orte im Cine de Oro als symbolischen Heimatersatz begreifen. Die Inszenierungen einer fiktiven Heimat erfüllen eine Funktion, die man mit Wolfgang Iser als »imaginäre Bewältigung defizitärer Realitäten«14 interpretieren kann, die das nachrevolutionäre Kino gesellschaftlichen Transformationsprozessen entgegenstellt. Wie eingangs angeführt, lassen sich aus der filmischen Inszenierung der Matrias immer auch Rückschlüsse auf die Bewertung der patria ziehen. Hinter der mikrohistorischen Perspektive verbarg sich auch stets ein impliziter oder expliziter Kommentar zur jüngsten Geschichte. Die kinematographischen Vergangenheitsrekurse waren selbstredend auch Momentaufnahmen des Gegenwartshorizonts und ein Mosaik potenzieller Zukunftsentwürfe. 2010 wurde zum hundertjährigen Jahrestag der Revolution die umfangreiche Anthologie La luz y la guerra herausgegeben, die sich dem Cine de Revolución 14

Iser 1994, 143.

207

208

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

widmet – ein Schirmbegriff der von filmischen Oden an die Revolution bis zu galligen Gegendarstellungen reicht und auch eskapistischen Hacienda-Darstellungen einen Platz bietet: el cine de la Revolución […] no siempre estuvo alineado con la propuesta simbólica del Estado y el grupo de intelectuales orgánicos. Aunque las convenciones que determinaban la producción cinematográfica fueran manipuladas por los caudillos – como lo fueron antes, durante el régimen de Díaz – y empezaron a ser explotadas comercialmente por los creadores del cine de ficción a partir de los años treinta, haciendo eco de la narrativa auspiciada por el gobierno posrevolucionario, el cine no siempre fue un panegírico de hombres fuertes, celebración de la violencia originaria del México moderno y exaltación de héroes nacionales.15 Das Memory-Building der mexikanischen Filmindustrie verzweigt sich in seinen Stellungnahmen zur Revolution und ist damit repräsentativ für die Deutungskrisen und epistemologischen Divergenzen in der postrevolutionären mexikanischen Geschichte.16 Und selbst in filmischen Werken wie ¡Así es mi tierra!, in welchen eine nostalgische Grundhaltung dominiert, wird die Deutungsvielfalt gespiegelt in einer gebrochenen Heimatsuche, die einen differenzierten Nostalgie-Begriff erforderlich macht. Als bedeutende mexikanische Mnemotope stehen die Haciendas in den 30ern am Scheideweg, da sie zunächst recht heterogene Gedächtnisvorlagen stützen. Bevor die kinematographische Kanonbildung die Hacienda im Sinne einer »Bändigung der Varianz«17 zu einem relativ monodimensionalen Ortstypus werden ließ, waren die filmischen Kommentierungen zum historischen Ort der Haciendas alles andere als stabil oder einseitig. Vor den Lobgesängen auf das Porfiriat oder die suave matria stößt man auch auf Darstellungen des ruralen Mexikos, die nicht unbedingt ein nostalgisch-restauratives Gedächtnis bedienen. Neben Sergei Eisensteins Hacienda-Zugriff in Que viva México! finden sich auch vereinzelte nationale Produktionen, die das Machtgefälle im mexikanischen Hinterland kritisch betrachten und das kulturelle Erbe als Rudiment der Kolonialzeit verurteilen. Wenn wir als nächstes einen Blick auf die Episode Maguey aus Eisensteins Que viva México! werfen, haben wir es mit einem gesellschaftskritischen Kommentar zu tun, der das Hacienda-System und die Willkür der Hacendados ins Zentrum rückt und an ein gegenhegemoniales Gedächtnis appelliert. Die Hacienda in Que viva México! – und in etwas abgeschwächter Form auch in El Compadre Mendoza – ist ein locus terribilis, ein zeitresistenter Kristallisationsort ruraler Asymmetrien, der es verdient, zerschlagen zu werden. Mit seinem unvollendeten Stummfilm nahm Eisenstein eine tiefenhistorische Hacienda-Lektüre vor, der an die bäuerlichen Wurzeln der mexikanischen Revolution

15 16

17

Fabio Sánchez 2010, 18. In der jüngeren Revolutionsforschung stellt das Verständnis der mexikanischen Revolution eher ein Mosaik denn einen Monolith dar. Es sei, wie Paul J. Vanderwood schreibt, immer schwieriger geworden, der Revolution mit hieb- und stichfesten historiographischen Darstellungen gerecht zu werden, womit man heute vor dem Scherbenhaufen eines weiteren dekonstruierten ›grand récit‹ zu stehen scheint (vgl. Vanderwood 1989, 311f). Zur mexikanischen Revolution als einem modernen Mythos schreiben auch O’Malley 1986, 3ff sowie Knight 2010, 224. Vgl. J. Assmann 2013, 123.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

erinnern will, an jene »explosiva mayoría rural, que trajo al mundo la Revolución Mexicana«18 .

3.1.

Que viva México! (1931/1979)

3.1.1.

Das Martyrium als Mythologem

Auch wenn Que viva México! unvollendet bleiben sollte, ist Eisensteins HaciendaVerarbeitung in der Folgezeit zu einer der bekanntesten kinematographischen Illustrationen der mexikanischen Geschichte geworden. Die Episode Maguey, dessen Rohschnitt vielfach wiederverwertet wurde, stellt dabei einen elaborierten narrativen Kern der Filmsymphonie dar, der die prärevolutionäre Stimmung in der Hacienda verortet. Einer klassischen Bewertung der Revolutionsursachen folgend, bedient sich Eisenstein eines Sujets, das die scharfen Grenzen innerhalb der Hacienda-Gesellschaft narrativ nachempfindet. Wie Hans Werner Tobler festhält, stand in der klassischen Historiographie zur Revolution die Hacienda als Hort sozialer Missverhältnisse im Zentrum der Kausalitätsforschung: Darin wurden vor allem die repressiven Sozialverhältnisse innerhalb der Hacienda und ihre wirtschaftliche Rückständigkeit u.a. aufgrund eines seigneurialen, vorkapitalistischen Lebensstils und fehlenden Unternehmergeistes der Hacendados angeprangert. Die Hacienda erschien dabei nicht nur als aggressive Institution gegen außen, d.h. gegen die noch freien, landbesitzenden Dörfer, sondern auch als hochgradig repressiv gegen innen, vor allem gegen die durch Schuldknechtschaft an die Güter gebundenen peones acasillados. Durch die bloße Existenz der Hacienda schien somit vielen älteren Historikern auch die Revolution, die ja primär als Bauernaufstand und Agrarbewegung interpretiert wurde, hinreichend motiviert zu sein.19 Eine Zuspitzung der sozialen Kontraste ist auch der filmischen Geschichtsdeutung der Hacienda bei Eisenstein eingeschrieben. Wie man dem Drehbuch entnehmen kann, sollte die Stimmung der Episode von »aggressiveness« gezeichnet sein sowie von »virility, arrogance and austerity«20 , ein Stimmungsbild, das sich mit der von Tobler beschriebenen Vorstellung der Hacienda als einem Inkubationsraum revolutionärer Impulse deckt. Im Œuvre des Filmpioniers war die Idealisierung des Bauern bereits in Oktober (1927) und Generallinie (1929) zu einem Leitmotiv geworden und wurde nun in Maguey auf den mexikanischen Kontext projiziert. Der Aufstand subalterner Bauern als wesentlicher Auslöser der Revolution sollte überleiten auf die nicht mehr gedrehte Episode Soldadera, in welcher der von John Reeds Revolutionschroniken Insurgent Mexico (1914) inspirierte Eisenstein die Phase des Bürgerkriegs veranschaulichen wollte.21 Die Haci-

18 19 20 21

Aguilar Camín 1993, 212. Tobler 1984, 76. Zit. in Lindgren 1952, 47. Vgl. de los Reyes 2006, 134-136.

209

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

erinnern will, an jene »explosiva mayoría rural, que trajo al mundo la Revolución Mexicana«18 .

3.1.

Que viva México! (1931/1979)

3.1.1.

Das Martyrium als Mythologem

Auch wenn Que viva México! unvollendet bleiben sollte, ist Eisensteins HaciendaVerarbeitung in der Folgezeit zu einer der bekanntesten kinematographischen Illustrationen der mexikanischen Geschichte geworden. Die Episode Maguey, dessen Rohschnitt vielfach wiederverwertet wurde, stellt dabei einen elaborierten narrativen Kern der Filmsymphonie dar, der die prärevolutionäre Stimmung in der Hacienda verortet. Einer klassischen Bewertung der Revolutionsursachen folgend, bedient sich Eisenstein eines Sujets, das die scharfen Grenzen innerhalb der Hacienda-Gesellschaft narrativ nachempfindet. Wie Hans Werner Tobler festhält, stand in der klassischen Historiographie zur Revolution die Hacienda als Hort sozialer Missverhältnisse im Zentrum der Kausalitätsforschung: Darin wurden vor allem die repressiven Sozialverhältnisse innerhalb der Hacienda und ihre wirtschaftliche Rückständigkeit u.a. aufgrund eines seigneurialen, vorkapitalistischen Lebensstils und fehlenden Unternehmergeistes der Hacendados angeprangert. Die Hacienda erschien dabei nicht nur als aggressive Institution gegen außen, d.h. gegen die noch freien, landbesitzenden Dörfer, sondern auch als hochgradig repressiv gegen innen, vor allem gegen die durch Schuldknechtschaft an die Güter gebundenen peones acasillados. Durch die bloße Existenz der Hacienda schien somit vielen älteren Historikern auch die Revolution, die ja primär als Bauernaufstand und Agrarbewegung interpretiert wurde, hinreichend motiviert zu sein.19 Eine Zuspitzung der sozialen Kontraste ist auch der filmischen Geschichtsdeutung der Hacienda bei Eisenstein eingeschrieben. Wie man dem Drehbuch entnehmen kann, sollte die Stimmung der Episode von »aggressiveness« gezeichnet sein sowie von »virility, arrogance and austerity«20 , ein Stimmungsbild, das sich mit der von Tobler beschriebenen Vorstellung der Hacienda als einem Inkubationsraum revolutionärer Impulse deckt. Im Œuvre des Filmpioniers war die Idealisierung des Bauern bereits in Oktober (1927) und Generallinie (1929) zu einem Leitmotiv geworden und wurde nun in Maguey auf den mexikanischen Kontext projiziert. Der Aufstand subalterner Bauern als wesentlicher Auslöser der Revolution sollte überleiten auf die nicht mehr gedrehte Episode Soldadera, in welcher der von John Reeds Revolutionschroniken Insurgent Mexico (1914) inspirierte Eisenstein die Phase des Bürgerkriegs veranschaulichen wollte.21 Die Haci-

18 19 20 21

Aguilar Camín 1993, 212. Tobler 1984, 76. Zit. in Lindgren 1952, 47. Vgl. de los Reyes 2006, 134-136.

209

210

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

enda Santiago Tetlapáyac, auf die er sich mit Co-Regisseur Grigori Aleksandrow und Kameramann Eduard Tisse zum Ende seiner Odyssee für mehrere Monate zurückgezogen hatte, war ein ehemaliges Kloster im zentralmexikanischen Staat Hidalgo und stellte als architektonisches Bollwerk einen sehr geeigneten Drehort dar, um die besagte Asymmetrie in all ihrer tiefenhistorischen Dimension zu illustrieren (Abb. 46/47).

Abb. 46: Der geometrisch vollkommene Kosmos der Hacienda Tetlapáyac im Establishing-Shot von ›Maguey‹. Abb. 47: Linienförmig auf die Hacienda hin ausgerichtete Agavenplantagen – kolonisierte Natur als Sinnbild zur kolonisierten Gesellschaft.

Bei seiner Reise durch Mexiko, 20 Jahre nach Ausbruch der Revolution, fand Eisenstein unter den vielen historischen Entwicklungsstufen des Landes auch jene feudalen Strukturen wieder, die entscheidend zu den nationalen Unruhen beigetragen hatten. Kurios scheint allemal, dass ausgerechnet die realen Verhältnisse, die Eisenstein in der maroden Hacienda vorgefunden hatte, den Regisseur bei der Ursachenbestimmung der Revolution bestärkt haben mussten. Noch 17 Jahre nach seiner Mexikozeit und ein Jahr vor seinem Tod erinnert sich Eisenstein mit folgenden Worten an den gleichsam der lebendigen Geschichte des Landes entnommenen Drehort: Auf der Hacienda herrschen feudalistische Bräuche. Die Hacienda ist ein ehemaliges Kloster. Am Abend werden die hohen Tore geschlossen. Und keiner von der Verwaltung wird es wagen, nachts aufs Feld hinauszureiten. Die kleinen Kreuze sind Spuren der strengen Disziplin bei Señor Nicolas (Verwalter aus Santander).22 Gerade die zahlreichen Kreuze, die als Abschreckung gegen bäuerlichen Ungehorsam installiert waren, las Eisenstein als Mahnmale der repressiven Ordnung, die aufsässige Untertanen mit harter Hand bestrafte. Wenngleich Eisensteins kinematographische Absichten sicherlich überdimensioniert waren, nämlich »transportar con fidelidad todo lo que a México se refiere«23 , wie

22 23

Eisenstein 1998, 449. Zit. in de la Vega 1997, 18.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

er der mexikanischen Presse anfangs noch vollmundig erklärt hatte, sollte die Begegnung mit der konservierten Hacienda-Gesellschaft gerade sein Interesse an der historischen Dynamik in Mexiko befeuern. Der Fokus des Episodenfilms lag, so behauptete er in autobiographischer Retrospektive, auf einem Mexiko, »das im »Werden« begriffen sei. In diesem besonderen dynamischen Zustand, den wir dem statischen Begriff des »Seins« gegenüberstellen.«24 Das Hacienda-System, mit dem er 1931 in den Llanos de Apan in Berührung kam, musste bei der Suche nach einer dynamischen Gesellschaft als anachronistischer Ort schlechthin erscheinen. Obwohl Maguey also durchaus in der mexikanischen Gegenwart situiert hätte werden können, entschied sich Eisenstein dafür, die Episode zeitlich im Porfiriat zu verorten, unmittelbar vor dem Umbruchmoment, der das retrospektive mexikanische Selbstbewusstsein prägte und der unter den vielen anderen fiktiven Nachbereitungen vor allem Agustín Yáñez 1947 mit dem Roman Al filo del agua ein literarisches Monument errichten sollte (Abb. 48/49).

Abb. 48: Der mexikanische Potentat als Wandbild und Signatur des Zeitgeistes. Sowohl die Peonen in schlichten Strohsombreros … Abb. 49: … als auch die Charros als Hüter des Regimes schauen zum ›déspota ilustrado‹ auf – hier in seliger Ehrbekundung, dort in angespannter Ehrfurcht.

Gründe für diese Entscheidung liegen eher nicht in der historischen Kurzsichtigkeit des Regisseurs, auch nicht unbedingt in der geschichtsdidaktischen Simplifikation, wohl aber in den mehrfach verordneten Korrektiven, mit denen die nationalen Zensoren das Werk bereits während seiner Entstehung belegt hatten. Die normativ gesetzte Erfahrungsschwelle der Revolution machte eine klare Schließung des Porfiriats erforderlich, räumte ihm aber im Gegenzug die Lizenz ein, die scharfen Gegensätze des Hacienda-Systems anzugehen. Trotz der Verlagerung der Ortslogik an die Schwelle zu den landesweiten Erhebungen ab 1910, war Eisensteins Wahrnehmung der Hacienda auch 1931 noch immer aktuell, denn das filmisch aufbereitete Porfiriat war, wie er es mit eigenen Augen sehen konnte, noch durchaus präsent und zwar nicht nur im Sinne von Erinnerungen, die ein kollektives mexikanisches Bewusstsein mit sich trug, sondern als konkretes gesellschaftliches Kontinuum.25 Auf die Episode Maguey trifft die 24 25

Eisenstein 1998, 486 Vgl. de los Reyes 1987, 152.

211

212

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Beschreibung einer filmisch erfassten »living history«, wie Eisenstein sein Vorhaben anfangs beschrieben hatte, daher am Ehesten zu.26 Einem klassischen historischen Bewusstsein für die mexikanische Revolution folgend, erzählt Maguey daher ein rurales mexikanisches Drama, das sich entlang alteingesessener sozialer Verwerfungen und Oppositionen konstituiert.27 Auf der einen Seite richtet die zuletzt gedrehte Episode ihren Blick auf die tlachiqueros, Peonen der PulqueProduktion, die ihrer täglichen Arbeit in den Maguey-Plantagen nachgehen (Abb. 50/51).

Abb. 50: »With their mouths they suck the juice of this cactus plant to make the Indian drink known as ›Pulque‹ … Abb. 51: … White, like milk – a gift of the gods, according to legend and belief, this strongest intoxicant drowns sorrows, inflames passions and makes pistols fly out of the holsters.« (Auszug aus Eisensteins Skizzen zum Drehbuch zit. in Lindgren 1952, 48)

Auf der anderen Seite stehen die lokalen Souveräne, die hinter den hohen Mauern der Hacienda über die Plantagen regieren. Die Darstellung des Machtzirkels steht in scharfem optischen Gegensatz zu den Landarbeitern, womit auch eine trennscharfe soziale Ordnung der Hacienda markiert wird (Abb.  52). Auch wenn Eisenstein seine Montagekünste bei Qué viva México! nicht ausspielen konnte, kommen die Gegensätze bereits in den kontrastreichen Einstellungen selbst zum Tragen. Wie auch bei der vorhergehenden Analyse des Prologs, lässt sich der Montagebegriff also auch erweitern auf eine vertikale, synchrone Sinndimension. Neben der steilen kolonialen Hierarchie, die sich an der entsprechenden Kostümerie ablesen lässt, wird der rurale Antagonismus in Maguey auch anhand der Hautfarbe festgemacht. Dabei entsteht eine Kluft zwischen dem weitgehend indigenen Bauernstand und einer kreolischen Herrscherkaste, deren Hegemonie sich auf die spanische Abkunft stützt (Abb. 53). Zunächst sollte es sich um eine dokumentarische Darstellung der Hacienda und des darin verankerten Brauchtums handeln. »On the screen«, schreibt Eisenstein vor26 27

Vgl. Goodwin 1993, 129ff. Das Kompositionsprinzip der living history lässt sich dabei als Überschneidung einer Alltagszeit und einer historischen Zeit verstehen (vgl. Koselleck 1995, 10). Zur Analyse wurde, wie im Kapitel zur Ruine, die heute am meisten verbreitete Version von Grigori Aleksandrow aus dem Jahr 1979 herangezogen.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 52: Der mondäne Habitus als elitäres Distinktionsmerkmal in der ruralen Ständegesellschaft Abb. 53: Das spanische und das indigene Mexiko in unversöhnlicher Gegenüberstellung.

wegnehmend, »you shall see the astonishingly original process of pulque production – which originated hundreds of years ago and has not changed up to the epoch of this story.«28 Eisenstein wählte die Nahaufnahme, um die zeitlos anmutende Feldarbeit als schweißtreibende Fron zu inszenieren, die im Gegensatz zur distanten, nostalgisch umwölkten Darstellung der Landarbeit in ¡Así es mi tierra! steht. Eisensteins dokumentarische Aufladung des ruralen Ortes war sicherlich kein Hinweis auf den ländlichen Quietismus, sondern die Vorausdeutung des tragischen Sujets. Der Konflikt reift schon bald heran, als der Tlachiquero Sebastián den Hacendado um eine Heiratserlaubnis seiner Verlobten Maria bitten will. Auf ihrem Weg wird die Exklusivität der ländlichen Ständegesellschaft deutlich, als der Einlasshüter in CharroMontur das zusammengerollte Lasso wie eine Schranke vor Sebastians Brust hält. Im Gegensatz zu Maria bleibt ihm der Zutritt zum inneren Kreis der Hacienda-Gesellschaft verwehrt (Abb. 54). Das Bittgesuch der Untertanen fällt mit dem Besuch der Tochter des Hacendado zusammen, der zum Anlass von einer großen Feier wird. Die Tochter Sara, die in einer eleganten Kutsche anreist, ist in ein Kostüm gehüllt, das der Belle Époque entnommen zu sein scheint und im ruralen mexikanischen Milieu deplatziert wirkt (Abb. 52). Während der Pulque in Strömen fließt, wird die Entscheidung über das Schicksal des bäuerlichen Paars aufgeschoben. Maria, die sich noch immer im Innenbereich der Hacienda befindet, wird in der kollektiven Selbstvergessenheit sich selbst überlassen und fällt einer angedeuteten Schändung zum Opfer, die einer der Freunde des Gutsherrn verübt. »Bad luck«, lautet es im Drehbuch, »appears in the shape of a coarse, drunken guest with a big moustache«. Der Pulque-Rausch, der für den enthaltsamen Eisenstein ohnehin als potenzieller Katalysator von Konfliktentladungen aller Art gegolten haben dürfte, entlädt sich in einer folgenschweren Transgression und die Gärungsprozesse, die mit einem prallen, von

28

Zit. in Lindgren 1952, 47.

213

214

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 54: Die topologische Stabilität der Hacienda geht bei Eisenstein einher mit einer fixen soziologischen Landschaft, einer steilen Machtpyramide und unüberwindbaren sozialen Barrieren. Abb. 55: In den messianischen Obertönen von ›Maguey‹ wird die Revolution als Sehnsucht nach einer umfassenden Weltwende gedeutet. Das gärende Pulque-Fass ist das entsprechende Symbol für die bevorstehende soziale Explosion.

Fliegen umschwirrten Pulque-Fass in der Sonne symbolisiert werden, haben ihre kritische Masse erreicht (Abb. 55). Als der Übergriff ruchbar wird, stürmt der gedemütigte Bräutigam zornerfüllt die Finca: He rushes up the veranda knocking the guards off their feet, he breaks in like a storm among the merry guests … He demands Maria, his bride. A fight starts at once, but is brought just as quickly to an end, for slim are the chances of Sebastian alone against the assemblage.29 Seine Ohnmacht gegenüber der hierarchisch organisierten Hacienda, in welcher sich soeben ein Akt herrschaftlicher Willkür zugespielt hat, treibt den auf Vergeltung drängenden Sebastián zu einer verzweifelten Tat: Stellvertretend für die empfundene Ungerechtigkeit setzt er die Hacienda in Brand und fordert zusammen mit drei weiteren verbündeten Tlachiqueros die geschlossene Gesellschaft zu einem offenen Schlagabtausch heraus. Das Kräftemessen zwischen den Bauern und den hauseigenen Truppen des Gutsherrn ist jedoch, auch nachdem die Rebellen sich mit geraubten Gewehren der Hacienda bewaffnen, ein unverhältnismäßiges, so dass der Rachefeldzug, der die Ausmaße eines Umsturzes angenommen hat, schließlich von der Überlegenheit der berittenen Inspektoren vereitelt wird. Auch hier setzte Eisenstein sein mit starken Kontrasten arbeitendes Drehbuch mit einer formalen Gegenüberstellung um. Die rebellischen Bauern werden im Schießduell am Fuße der Hacienda positioniert, während die Leibwache des Hacendados das Feuer von den hohen Zinnen des ehemaligen Klosters erwidern. Als Repräsentanten einer Revolution von unten, die sich mit Mariano Azuelas Perspektive

29

Zit. in Lindgren 1952, 54.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

im wegbereitenden Revolutionsroman Los de abajo (1915)30 deckt, bleiben die aufständischen Bauern also im wahrsten Sinne des Wortes der Erde verhaftet (Abb. 56/57).

Abb. 56: Waffenstarrende Froschperspektive aus der eine rebellische ›gleba‹ die Hüter der Hacienda aufs Korn nimmt. Abb. 57: Auf der anderen Seite die Vogelperspektive der Inspektoren und ein Panoramablick über das Herrschaftsgebiet des Hacendado.

Die Unruhestifter ergreifen die Flucht in die Maguey-Felder, können jedoch ihren Verfolgern nicht entkommen. Es kommt zu einem entscheidenden Shootout in der Plantage bei dem die schießwütige Tochter des Hacendado tödlich verwundet wird und die Rebellen schließlich gefasst werden können. In der anschließenden Abrechnung mit den Aufsässigen kommt es zu einer symbolträchtigen Hinrichtung auf der Maguey-Plantage vor der Hacienda, bei der die drei verurteilten Bauern in die Erde gegraben und zu Tode getrampelt werden: »Eye for an eye …«, resümiert Eisenstein, »they pay with their lives for their daring. Among the magueys, where Sebastian had worked and loved, he finds his tragic end«.31 Versucht man nun nach der Zusammenfassung von Maguey die mnemotopische Qualität der Hacienda bei Eisenstein offenzulegen, muss man seine strategische Adressierung eines Trauergedächtnisses zur Veranschaulichung einer übergeordneten historischen Ungerechtigkeit näher betrachten. Zur Aufschlüsselung der mexikanischen Revolution griff Eisenstein zum universalen Erklärungsmuster des Martyriums, das man mit Hans Blumenberg als ein welthistorisches Mythologem32 begreifen kann. Ein entscheidender Stichwortgeber für das Szenario der Episode könnte der deutsche Aus30

31 32

Wie Aurelio de los Reyes in seiner detailreichen Studie zu Eisensteins Inspirationsquellen feststellt, hatte Eisenstein Azuelas literarischen Meilenstein während seines Mexiko-Aufenthalts in englischer Übersetzung lesen können. (vgl. de los Reyes 2006, 276f). Zit. in Lindgren 1952, 62. Blumenberg spricht in Arbeit am Mythos vom Mythologem als einem »ritualisierten Textbestand«, der in Prozessen der »periphere[n] Variation und Modifikation« zur ikonischen Konstanz eines Mythos beiträgt. Zweifelsohne trägt die mythologisch suggerierte Isochronie bei Eisenstein zur »Verzerrung der Zeitperspektive« bei, die Blumenberg als Ergebnis der durch Mythen vermittelten Zeitsynthese bespricht. Gleichwohl ist Eisensteins Rückgriff auf eindringliche Opfernarrative bei der Befüllung der Hacienda-Mnemotopie natürlich auch als pragmatische Antwort auf eine »Be-

215

216

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

landsjournalist Alfons Goldschmidt gewesen sein, dessen periegetisches Werk Auf den Spuren der Azteken (1927) mit dem Kapitel »Das Martyrium des Indio« schließt.33 Die eloquente Abrechnung mit der spanischen Kolonialherrschaft geht einher mit einer Apologie der mexikanischen Indigenen und prangert vor allem den »Ackerraub« als schwerwiegenden kulturhistorischen Eingriff an sowie »die Ausblutung des braunen Ackermenschen ohne gleichen, eine Pressung so entsetzlich, so knebelnd und tötend, daß die Revolution kommen mußte«.34 Goldschmidts auf den sozialistischen Neubeginn gefluchtetes Geschichtsbewusstsein und die Solidarität mit den Marginalisierten musste bei Eisenstein auf offene Ohren stoßen. Die tödliche Sanktionierung der Bauern in Maguey ist mit eindeutigen christologischen Parallelen aufgeladen, in welchen Eisenstein seiner Vorliebe für große kulturhistorische Synthesen und unexpected junctures35 freien Lauf lassen konnte. Darüber hinaus war seine Vorliebe für den Märtyrer-Topos als Instrument der historischen Bewusstseinsbildung war schon in seinem ersten Langfilm Streik/Statschka (1925) bedeutender Katalysator des inszenierten Arbeiteraufstands. Notorisch wurde der Rückgriff auf ein politisches Opferbewusstsein natürlich in seinem zweiten und prominentesten Werk Panzerkreuzer Potemkin (1925), wo erst das Martyrium eines Matrosen im dritten Filmkapitel »Мертвый взывает« (»A Dead Man Calls for Justice«/»Trauer«) das Volk zur Rebellion gegen das zaristische Russland zusammenschweißt. Der Tod des Matrosen motiviert auch das nachfolgende Massenopfer im berühmten vierten Kapitel an der Hafentreppe von Odessa. Von Goldschmidts Rhetorik inspiriert, nimmt Eisenstein in Maguey eine konsequente Übersetzung von Gedächtnismechanismen der politischen Mythenbildung aus dem sowjetischen Kontext auf Mexiko vor. Der Sprung war nicht besonders groß, zumal der moderne mexikanische Staat seinen Pantheon nationaler Märtyrer stolz zur Schau trug und das kulturelle mexikanische Gedächtnis gestützt wurde von historischen Kultfiguren wie Miguel Hidalgo, Ignacio Allende, Aquiles Serdán, Francisco I. Madero oder Pancho Villa, die gleichsam als Säulenheilige der Nationalgeschichte gehandelt wurden. Den meisten nationalen Märtyrern ist gerade die Auseinandersetzung mit einer ungerechten Landverteilung zum Verhängnis geworden; Allen voran der messianisch verehrte Bauernführer Emiliano Zapata, aber auch Yukatans reformwilliger Gouverneur Felipe Carrillo Puerto, die in den 1920er Jahren zu Opfern von Vergeltungsmaß-

33 34 35

gründungsbedürftigkeit« erfolgt, mit der eine mythische und gleichzeitig kritische Behandlung der mexikanischen Geschichte ermöglicht wurde (vgl. Blumenberg 2006, 165f und 176f). Vgl. de los Reyes 2006, 153f. Goldschmidt 1927, 181-195. Zu Eisensteins Vorliebe für historische Anachronismen aus welchen sich auch das Kompositionsprinzip der intellektuellen Montage speist, schreibt Somaini in Eisenstein 2016, 23ff. Die mexikanische Hacienda wird in Eisensteins Memoiren mehrfach historisch transponiert und als Ort scharfer feudaler Kontraste bestätigt, etwa in seiner Engführung des Hacienda-Systems mit dem Kulakentum, seiner Übersetzung der charros in Opritschniki, oder seinem generellen Verständnis für die Konflikte innerhalb des Hacienda-Systems als »Kontrast von Schwarz und Weiß, so wie er in einem anderen Land, einer anderen Nation, in anderen Breiten, anderen Spielarten von Brutalität die Bruegelschen Kontraste der »Dicken« und »Dünnen« hervorgebracht hat« (Eisenstein 1998, 488).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

nahmen der casta divina wurden, der entmachteten Hacienda-Oligarchie, die den Kern der Gegenrevolution bildete.36 Was in Que viva México! jedoch stärker als in den Werken zuvor zur Geltung kam und in Goldschmidts Verweis auf das indigene Martyrium als einem unvergänglichen »Golgathagang«37 vorweggenommen zu sein scheint, ist Eisensteins Bewusstsein für die christlichen Tiefenstrukturen des Märtyrermotivs. Die Volksreligiosität, die in Sowjetrussland während der Repressionskampagne gegen das Kulakentum ab 1927 in viel stärkerem Maße unterdrückt wurde, wirkte sich noch sehr prägend auf das rurale mexikanische Alltagsleben aus, das Eisenstein auf seiner Reise vorfand. Sein Rückgriff auf biblisch-christliche Erzählsymbolik, die in der Heimat wohl kaum zugelassen worden wäre, war in Mexiko naheliegend. War mit der Schändung der Jungfrau Maria bereits der erste unzweideutige Hinweis auf eine paramythologische Sinnstiftung der bäuerlichen Tragödie gegeben, so lässt die Hinrichtungssequenz kaum Zweifel an der Parallelität zum Evangelium: Die Praxis des acaballamiento, der Hinrichtung durch trampelnde Pferde, die Eisenstein als düsteres Kuriosum der Charro-Romantik aufgreift, erscheint als eine Postfiguration der Passionsgeschichte und die Anhöhe in den Llanos de Apan wird in dieser Lesart zu einem nach Mexiko versetzten Golgatha.38 Die biblische Sinnfolienschichtung ist aber auch mit der imitatio Christi nicht ausgeschöpft. Der Name des Protagonisten bietet eine Parallele zu einem weiteren Märtyrer, dem heiligen Sebastian, an dessen abendländische Darstellungstradition eines entblößten, dem Tode geweihten jungen Mannes mit hinter dem Rücken verbundenen Händen Que viva México! eindeutig anzuknüpfen scheint (Abb. 58/59). Indem Eisenstein das Bauernopfer mit Martyrien der christlichen Überlieferung korrelieren lässt, erweist er dem mexikanischen Revolutionskult eine Ehre. Dennoch geht seine Übersetzung des Märtyrergedenkens auf eine mikrohistorische Ebene gepaart mit einer überhistorischen christlichen Logik über diesen von der Zensur vorgeschriebenen Kniefall vor den modernen Heiligen der Revolution hinaus: Eisenstein errichtet auch den realen Opfern der lokalen Standjustiz ein filmisches 36

37 38

Das Martyrium als historisches Mastersymbol der historia patria lässt sich auch in der mexikanischen Filmkultur nachweisen. Für das turbulente 19. Jhd., das einen zeitlichen Sockel der mexikanischen Revolution darstellt, werden diverse Heldenopfer in den Aufsätzen bei Miquel (2010) untersucht. Implizit wird dort auch die Antwort gegeben, warum das Nachleben historischer Märtyrer nur im Gedächtnis der Opferkollektive gesichert wird, wie es etwa an der US-amerikanischen Mythisierung der Schlacht von Álamo (1836) auffällig wird, die im mexikanischen Geschichtsbewusstsein eine Leerstelle bildet. Im Gegenzug wird die kriegerische Auseinandersetzung mit den USA im mexikanischen Gedächtnis an das Martyrium der Niños Héroes (1847) gehütet, filmisch umgesetzt in El cementerio de las águilas (1939, Luis Lezama). Eine Spaltung der mexikanischen mémoire-nation in eine interne Dialektik von Tätern und Opfern wurde im Ruinen-Kapitel bereits in den Märtyrern des Massakers von Tlatelolco (1968) sichtbar. Goldschmidt 1927, 181. Im Medium des Films schreibt Eisenstein mit dieser Form der symbolischen Aufladung eine lateinamerikanische Erzähltradition fort, der Wolf Lustig im 20. Jhd. nachgeht. Zu den zentralen paramythologischen Elementen der christlichen Erzählsymbolik, die ab dem Aufkommen der Nueva Novela um 1930 in verstärktem Maße zu zirkulieren beginnt, vgl. Lustig 1989, 114-138. Zur Praxis der Rehistorisierung, sprich der narrativen Veranschaulichung lateinamerikanischer Geschichte mit Hilfe von Mythen der Alten Welt vgl. Wehr (2004).

217

218

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 58: Mit der heroisierenden Aufsicht auf das dreifache Martyrium unter mexikanischem Himmel betont Eisenstein den erlösenden Charakter der Revolution. Abb. 59: Im Schatten des Maguey wird Sebastiáns Bruder zum Zeugen der mexikanischen Passion und zum Träger des traumatischen Gedächtnisses

Monument, und hält die Warnung an autoritäre Willkür auch in postrevolutionären Gesellschaftsverhältnissen präsent. In dieser überhistorischen Synthese wird die Hacienda-Mnemotopie in ihrer Aufforderung zum Gedenken an die randständigen Opfer bestätigt. Die mexikanische Hacienda wird zum ewigen Schafott des Bauernstandes und damit einem topologischen Memento, das die soziale Defizienzerfahrung mit heißer, revolutionärer Mythomotorik aufrechterhält. Die Abschaffung des Hacienda-Systems und all seiner historischen Derivate wird im Sinne eines revolutionären Telos auf eine prinzipiell offene Zukunft projiziert. In dieser Hinsicht ist auch die rituelle Rahmung der sich an einem Tag ereignenden Tragödie signifikant: Nachdem die Peonen bereits in der Morgendämmerung ihren Tag mit dem rituellen Alabado an die Jungfrau von Guadalupe begonnen hatten, können die tragischen Ereignisse kaum noch von einer kostumbristisch-überhistorischen Ordnung absorbiert werden, die in Form einer traurigen Vesper den Tag beschließt. Das rituelle Gedächtnis der Peonen stellt für Eisenstein eher das Ferment dar, das devote Subalterne letztlich doch zu revolutionären enragés werden lässt, die die Bürde der Conquista und der in ihrem historischen Schatten etablierten Quasisklaverei mit einem kollektiven Gegenschlag überwinden müssten. Die Hinrichtung der drei Rebellen von Tetlapáyac wird daher auch keineswegs im Sinne eines erlösenden Sühnopfers herangezogen, sondern einer transzendenzlos-diesseitigen gesellschaftlichen Schieflage gewidmet. Que viva México! arbeitet mit einer Opferlogik, die vor allem in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie des 20. Jhd. eine wichtige Rolle spielen sollte und mit einer entmythologisierenden Reinterpretation der Auferstehung im Sinne einer sozialen Auflehnung der Hinterbliebenen operierte.39 Das Bauernopfer auf Ebene der mexikanischen intra historia wird daher zur mnemonischen Grundlage der mexikanischen Revolution.

39

Zur didaktischen Dimension der Befreiungstheologie und Reaktualisierungen des Evangeliums vgl. Lustig 513-525.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

»Sie sind noch nicht stark genug, um das Joch des Besitzers abzuschütteln«, rundet Eisenstein die Episode im Drehbuch ab, »[a]ber ihre Blicke verraten ihren Haß und ihre Kampfbereitschaft, die später wie ein schrecklicher Sturm losbrechen wird …«40 . Wie bereits im Ruinen-Prolog kam in Maguey Eisensteins Sinn für große kulturhistorische Synthesen und unexpected junctures41 zum Tragen. Ein endemisches Narrativ des mexikanischen Märtyrertums, nämlich die Folterung und Hinrichtung von Cuauhtémoc durch die Spanier, spielte Eisenstein allerdings nicht aus, auch wenn in seiner Autobiographie dem letzten aztekischen Tlatoani sehr wohl eine gedächtnisstützende Funktion für das auf Gleichheit pochende historische Bewusstsein zukommt. In Mexiko, erinnert er sich im Gedenken an Cuauhtémoc, habe er die »Geschichte beispielloser Grausamkeit bei der Niederschlagung unzähliger Aufstände der von den Fronherren zur Raserei gebrachten Peonen« erkennen können und somit die »Vergeltungsgrausamkeit der Rebellenführer« in der Bürgerkriegsphase der mexikanischen Revolution nachzuvollziehen versucht.42 Als geschickter Schachzug bei der Sympathielenkung erwies sich natürlich auch das Motiv der Jungfrauenschändung, mit dem Eisenstein den Zorn der Bauern nobilitiert. Hierin liegt sicherlich auch ein suggestiver Fingerzeig auf die feudale Praxis des derecho de pernada, eine mexikanische Analogie zur ius primae noctis, die dem Lehnsherr die unumschränkte Macht einräumte, seine libido dominandi auf besonders perfide Art auszuspielen.43 Indem Eisenstein in Maguey besonders konfliktreiche Gemeinplätze des HaciendaSystems aufgreift, wird die mexikanische Hacienda zum topologischen Träger eines Ungerechtigkeitsempfindens, das den klassenbewussten Sprengsatz am Vorabend der mexikanischen Revolution darstellen sollte. Hierin liegt sicherlich auch ein filmdidaktisches Kalkül, das Eisenstein als Pionier des Revolutionsfilms mit narrativer und formaler Meisterschaft auszuspielen wusste. Im Versuch die Radikalisierung des Widerstands gegen die präindustriellen Verhältnisse und Asymmetrien im ruralen Mexiko zu

40

41

42

43

Diese Phrasierung entstammt der Drehbuchversion, die Eisenstein nach den Dreharbeiten überarbeitet hatte, in der vergeblichen Hoffnung, die Footage des Films, die dem Regisseur zu Lebzeiten vorenthalten bleiben sollte, doch noch bearbeiten zu können (Eisenstein et al. 1957, 1099). Zu Eisensteins Vorliebe für historische Anachronismen aus welchen sich auch das Kompositionsprinzip der intellektuellen Montage speist, schreibt Somaini in Eisenstein 2016, 23ff. Die mexikanische Hacienda wird in Eisensteins Memoiren mehrfach historisch transponiert und als Ort scharfer feudaler Kontraste bestätigt, etwa in seiner Engführung des Hacienda-Systems mit dem Kulakentum, seiner Übersetzung der Charros in Opritschniki, oder seinem generellen Verständnis für die Konflikte innerhalb des Hacienda-Systems als »Kontrast von Schwarz und Weiß, so wie er in einem anderen Land, einer anderen Nation, in anderen Breiten, anderen Spielarten von Brutalität die Bruegelschen Kontraste der »Dicken« und »Dünnen« hervorgebracht hat« (Eisenstein 1998, 488). Eisenstein 1998, 495. Möglicherweise verzichtet er auf diese martyrologische Sinnfolie aus der besonnenen Überlegung heraus, die ethnischen Verwerfungslinien der mexikanischen Revolution nicht zu überhöhen und damit auch die deterministische Identitätsgleichung des »Indio« als »Hinterland« des Mexikaners nicht aufzubieten, die der mexikanische Philosoph Samuel Ramos 1934 aufstellen sollte (vgl. Ramos 2001, 58). Auch hierbei könnte Alfons Goldschmidt Eisenstein einen entscheidenden Denkanstoß gegeben haben, da er Spuren dieser feudalen Kulturpraxis in Mexiko noch im 20. Jhd. zu erkennen glaubt (vgl. Goldschmidt 1927, 186).

219

220

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

legitimieren, projizierte der Regisseur seinen geschichtskritischen Aufklärungspathos auf ein Mexikobild, das von scharfen Gegensätzen gezeichnet war und das es ihm ermöglichte, die zum Mythos verfestigte Formel der Revolution als »war of sandal against shoe«44 in seine Filmsymphonie einzubetten (Abb. 60/61).

Abb. 60: »Mehrere Tage hindurch drehen wir in den Kaktusdickichten oder zwischen den spärlichen Blättern der Agavensträucher verschiedene Episoden von Geplänkeln zwischen den aufständischen Peonen … Abb. 61: … und Gutspolizisten – den Charros – in ihren engen gestreiften Hosen, mit monumentalen Sporen und goldbetreßten Filzhüten.« (Eisenstein 1998, 488).

In einer Hacienda, die als Speicher eines kontrapräsentischen Gedächtnisses figuriert, war die narrative Verarbeitung der Sandalen und Stiefel als Synekdochen der verfeindeten Lager eine Umsetzung der konventionellen Formel, mit der das Joch der casta divina besonders suggestiv dargestellt werden konnte: Die Stiefel der Gutsherren, die die Tlachiqueros zuvor pflegen und mit Anschnallsporen versehen müssen, werden ihnen schließlich zum Verhängnis und zwar als der Korporal bei der Vorbereitung der Hinrichtung die Erde, in die das rebellische Trio bis zur Brust eingegraben ist, plattdrückt und damit ihr Schicksal besiegelt (Abb. 62/63). Für die Diskussion der Hacienda-Mnemotopie ist es dabei bedeutsam sich zu vergegenwärtigen, dass hier einmal mehr die historische Entwicklung keiner chronologischen Gesetzmäßigkeit unterstellt ist und die Hacienda als Institution aus verschiedenen Gründen auch nach den revolutionären Kollisionen fortbestand – als Gedächtnisort des überwundenen Porfiriats für die einen, als anhaltende, nicht überwundene historische Struktur für die anderen. Mehr als einen Versuch die lokale Geschichte zu dokumentieren, enthält Que viva México! einen nationalen Appell an »das ganze geknechtete Mexiko«, das »äußerlich ruhig und beherrscht, doch innerlich von heiligem Zorn erfüllt«45 sei. Eisensteins Verarbeitung der mexikanischen Geschichte enthält aber auch transhistorische Denkanstöße, die der mexikanischen Hacienda zu einer internationa-

44 45

Knight 1990, 229. Ebd.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 62: Die Interdependenz von Herr und Knecht … Abb. 63: … stabilisiert durch das Rebellenopfer.

len Modellhaftigkeit verhelfen.46 Sicherlich war dabei auch das Fehlen einer Tonspur, gegen die sich Eisenstein als Verfechter des Stummfilms entschieden hatte, einer internationalen Rezeption zuträglich gewesen. An der Schwelle zum Tonfilm war der Verzicht auf Dialoge von Vorteil für universalhistorische Synthesen ohne Sprachbarrieren, von Vorteil für ein »visual esperanto«47 , das Robert Stam für den transnationalen Wirkungsgrad eines Films verantwortlich macht. Ob Eisensteins Hacienda nun als ein transnationales Mnemotop gesehen werden kann, ist dennoch eine kontroverse Frage, die letztlich von der jeweiligen Rahmung eines Gedächtniskollektivs abhängt. Es wäre fraglos widersinnig Interpretationen von Maguey vorzunehmen, die Eisenstein als Wegbereiter des cinéma engagé von agitatorischen Intentionen freisprechen würden. Für die Betrachtung gedächtnisstiftender Orte ist es lohnender, sich einmal mehr die Mehrfachcodierung der Mnemotope zu vergegenwärtigen und in diesem Fall gegen den Gemeinschaftssinn zu positionieren, der in späteren Darstellungen der Hacienda heraufbeschworen wurde. Dass Eisensteins martyrologisch aufgeladene Hacienda einseitig besetzt war, hatte ihm nicht selten den Vor46

47

Ein kurioses Beispiel für die transatlantische Dissemination historischer Ideale im Hinblick auf eine transhistorische Rahmung sowie eine universale filmgestützte Memorialkultur findet sich in der abschließenden Passage der umfangreichen Biographie zu Pancho Villa von Friedrich Katz. Der dort aufgegriffene Film Viva Villa! (1934, Jack Conway) enthält Fragmente aus Maguey, die in sekundären Verwertungskreisläufen der US-amerikanischen Filmproduktion zu zirkulieren begannen: »The Austrian authorities had not realized the potential of the film, treating it like any other American western. […] Hundreds of Young Socialists filed into the Kreuzkino, in the center of Vienna, where Viva Villa! was playing. When Villa appeared on the screen calling on Mexico’s peons to rise against their oppressors and shouting »Long live the revolution!« the Austrian audience rose from their seats too, shouting »Down with the dictatorship of Schuschnigg! Long live democracy! Long live the Socialist party!« Thanks to this film, Villa became a major hero to Austria’s dissidents. Some 80 years earlier, an Austrian, Maximilian of Habsburg, had gone to Mexico to set up an authoritarian empire. Now, in one of history’s ironies, the image of a Mexican revolutionary, in the shape of Pancho Villa, had come to Austria and became an instrument of democratic struggle in that country.« (Katz 1998, 818.) Vgl. Stam 1989, 26ff.

221

222

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

wurf der Historiker eingebracht, Maguey als thesenhaftes Propagandainstrument konzipiert zu haben. So sieht Alan Knight in seiner historischen Revision zur Zerstörung der Haciendas die Episode als überspitzte Darstellung revolutionärer Ursachen mit einer entsprechend monolithischen Hacienda und einem entsprechend starren Hegemoniebegriff.48 Die Bauernrevolte, die Eisenstein mit seinem Film motivieren wollte, sei darüber hinaus in tendenziöser Analogie zur russischen Revolution konzipiert worden. Indem Knight Eisensteins Bewusstsein für die mexikanische Geschichte lediglich als voreingenommene Projektion von außen bewertet, weist er implizit die Vorliebe des Regisseurs für transnationale Gedächtnisstiftung in die Schranken. Ein bedeutsames Indiz für die Inkompatibilität des mexikanischen und des russischen Revolutionsparadigmas bestehe nicht zuletzt darin, dass in Mexiko vorrevolutionäre landwirtschaftliche Bedingungen oft auch nach der Revolution Bestand hatten. In einem weiteren Aufsatz nimmt Knight zur Einschätzung der mexikanischen Revolution folgende Differenzierung vor: During the phase of armed revolution, in Mexico and in Russia, the peasant and proletarian revolutions diverged (arguably, there was no proletarian revolution in Mexico at all, but rather a limited proletarian involvement in a »peasant war«) and the two, peasant and proletarian, were only subsequently reunited – to a degree – in the postrevolutionary era. What, in the Soviet Union, was achieved via draconian collectivization was, in Mexico, undertaken by the more gradual, but probably no less effective, incorporative efforts of caudillo, party, and ejidal bureaucracy.49 Eisensteins Präsupposition eines landesweiten Klassenkampfes nach sowjetischem Vorbild ging also aus einem unvollkommenen Verständnis der mexikanischen Geschichte hervor. Bei der Konzeption der Episode war eher seine Solidarität mit einem idealisierten proletarischen Mexiko leitend gewesen. Seine Einsicht in die »Zickzackwege im Schicksal der Freiheitsbewegung Mexikos«50 und die historische Unvereinbarkeit der Revolutionsfürsten Francisco Villa und Emiliano Zapata war erst zu einem späteren Zeitpunkt gereift. Die nicht hinreichend differenzierte Retrospektive in Kombination mit biblischen Parallelisierungen hatte allerdings ein dynamisches, im Werden begriffenes Mexikos im Blick. Hierbei war das progressive Potenzial der Mnemotopie besonders ausschlaggebend, weist es doch auf die Hacienda als ein nicht überwundenes – wenn nicht unüberwindbares – historisches Rudiment hin, das in Mexiko als »tierra de pasados superpuestos«51 rezent bleibt.

48 49

50 51

Vgl. Knight 1991, 78. Knight 1990, 232. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Octavio Paz, der die kulturelle Leerstelle des proletarischen Helden im mexikanischen Revolutionsroman als Beleg für eine gescheiterte Utopie der klassenlosen Gesellschaft in Mexiko und als Rudiment des romantischen Staatsgedankens begreift (vgl. Paz 2016a, 212f). Eisenstein 1998, 442. Paz 2016b, 483.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

3.1.2.

Die heiße Mnemotopie des Revolutionsfilms

Autobiographische Hinweise lassen darauf schließen, dass Eisenstein die Hacienda Tetlapáyac 1931 im Zustand der Dekadenz vorgefunden hatte. Noch war ein seniler Hacendado an der Macht, der die Verwaltung an den Enkel, dem Sohn seiner Tochter und eines »Pferdeknechts«52 übertragen hatte. Das koloniale Mayorazgo-Prinzip wurde damit, jedenfalls graduell, auf die Diener übertragen. Dass das Hacienda-System aber noch lange nicht den tempi passati überlassen werden konnte, kann man den Spannungen entnehmen, die in Tetlapáyac nach wie vor Bestand hatten. Eisensteins Rückgriff auf Laienschauspieler, die ihre Rollen in typologischer Entsprechung verkörperten, markierte eine besondere Form des historical reenactment 53 , bei dem eine Vergangenheit von Zeitzeugen reinszeniert werden sollte, die in milder Form noch in der Gegenwart vorhanden war. Trotz der Auslagerung des Hacienda-Systems in ein für abgeschlossen erklärtes Porfiriat, die die mexikanische Zensur eingefordert hatte, knüpfte Maguey an eine teilweise noch gelebte, nicht abgeschlossene Geschichte an. Die mnemotopische Gleichörtlichkeit der noch immer funktionierenden Institution der Hacienda war aus subalterner Perspektive betrachtet keine retrospektive Identitätsversicherung, sondern der unangenehme Hinweis auf koloniale Kontinuitäten. Mit seiner narrativen Aufbereitung der Hacienda leistete Eisenstein damit eine topologische Rekonstruktion, bei der vergangene Zeitschichten nicht nur in situ sondern auch in actu nachvollzogen wurden, und zwar mit einem selbst für kinematographische Nachstellungen ungewöhnlich hohen effet de réel. Obwohl an die Vergangenheit gekoppelt, widerspricht Maguey damit dem geschichtswissenschaftlichen Grundsatz, dass »die wirkliche Geschichte […] sich in ihrer Wahrheit erst [zeigt], wenn sie vorbei ist«54 . Mit der Vergegenwärtigung historischer Kausalitäten, die zur revolutionären Epochenwende geführt haben, suggeriert Eisenstein unterschwellig, dass die markanten Machtasymmetrien im ruralen Mexiko ein nachhaltiges Kontinuum darstellten. So besehen ist Eisensteins Arbeit mit dem Ortssinn der Hacienda nicht als Kompensation einer verlorenen Epoche zu sehen, sondern als versteckter Hinweis auf die Verwerfungen zwischen den Idealen der Revolution und der realhistorischen Situation in der mexikanischen Provinz. Die kalte Mnemotopie eines positiv gewandten ruralen Traditionsbewusstseins wird in der Ästhetik des Revolutionsfilms zu einer heißen Mnemotopie eines anhaltenden Ungerechtigkeitsempfindens. Dass die Hacienda als ein historischer Ort wahrgenommen werden konnte, dessen Machtasymmetrien ein nachhaltiges mexikanisches Kontinuum darstellten, kann man Eisensteins Erinnerungen an die Dreharbeiten entnehmen:

52 53

54

Eisenstein 1998, 448. Zum Phänomen des historical reenactment als einer »chronographischen Suture« – einer der Mnemotopie stets inhärenten Montage von Vergangenheit und Gegenwart – und der Funktion der historischen Reinszenierung hat in jüngster Zeit Serguei Oushakine (2013) eine Studie vorgelegt, die Eisensteins Pathosbegriff auf Lunatscharskis Kulturtheorien zur Affektsteuerung der Massen zurückführt. Koselleck 2014, 19.

223

224

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Das Spiel ist außerordentlich realistisch. Denn die Teilnehmer sind echte Peonen und wirkliche Charros aus der »Opritschnina« des jungen Señors Julio. Ließe man den einen wie den anderen ihren Willen, ersetzte man die Platzpatronen durch scharfe Munition … 55 Auch wenn Eisensteins Wahrnehmung Mexikos sicherlich vom sowjetischen Kontext beeinflusst war, waren die sozialen Disparitäten in Mexiko nicht zu leugnen. Bemerkenswert ist auch, dass Eisenstein bei seiner autobiographischen Retrospektive das historische Präsens wählt, um seinem Gedächtnis Aktualität zu verleihen, in gleichem Maße wie auch Maguey an eine gegenwärtige Vergangenheit erinnern möchte. Bei all den Vorbehalten, die dem Filmprojekt von historischer Warte aus entgegenzubringen wären, ist es im Kontext dieser Arbeit lohnend, Eisensteins mythopoetische Vergangenheitsrekurse in der Hacienda als eine Begleiterscheinung mnemotopischer Gedächtnisstiftung zu untersuchen. Margarita de Orellana sieht in Eisenstein nicht ohne Grund einen »mitólogo por excelencia«56 , in dessen Filmen Geschichte in monumentale Mythen übersetzt wird. Gleichzeitig räumt sie in ihrer Studie zur Geschichte im Film der kinematographischen Bewusstseinsbildung die Lizenz zur spekulativen »creatividad poética«57 ein, von der Eisenstein in seinen filmischen Geschichtsinterpretationen bekanntlich reichlich Gebrauch machte. Entscheidend war für ihn das immersive Moment der Nachstellungen, das den Zuschauer an das Geschehen bindet. Wie der Autor selbst in Das Organische und das Pathos (1939) behauptet, knüpfe sich die intellektuelle Durchdringung der Vergangenheit an die Vorstellung einer filmischen Ekstase im Sinne einer affektiven Partizipation an historischen Ereignisfolgen: Bedeutend höhere Formen im Erleben des Pathos, bedeutend höhere Formen der Ekstase sind uns gegeben. Uns, und nur uns allein von allen Bewohnern des Erdballs ist das große Glück zuteil geworden, Schritt für Schritt jeden Moment bei der Entstehung der größten Errungenschaften in der gesellschaftlichen Entwicklung der Welt real zu erleben. Mehr noch: Wir dürfen kollektiv als aktive Zeugen die Augenblicke der gewaltigsten Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte miterleben. Dieses bewußte Erleben eines historischen Moments ist das größte Pathos; es erzeugt das Gefühl, verschmolzen zu sein mit diesem Prozeß, eins zu sein mit seiner Entwicklung und kollektiv an ihr teilzunehmen. So ist das Pathos im Leben.58 Eisensteins paradoxes Pathosverständnis als einer reflektierten Ekstase, die das Miterleben des historischen Wandels ermöglicht, scheint Blumenbergs Postulat der Über-

55

56 57 58

Eisenstein 1998, 488. Kurios ist dabei auch die tragische Begebenheit, die sich am Rande der Dreharbeiten zugetragen hatte: Nachdem einer der bäuerlichen Laienschauspieler seine Schwester durch einen Zufallsschuss tödlich verwundet hatte, wurde der Fliehende in frappanter Ähnlichkeit zum Filmsujet von berittenen Charros der Hacienda in den Maguey-Feldern gestellt und der lokalen Gerichtsbarkeit überführt. Die Bestrafung des Landarbeiters bildete eine bittere, lebensweltliche Parallele zur filmischen Nachstellung der gelebten mexikanischen Geschichte und stürzte den Regisseur in eine tiefe Depression. de Orellana 1983, 6. Ebd. Eisenstein 2006, 236.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

schreitung eines »unmerkliche[n] Limes«59 zu widerlegen, der Erfahrungsschwellen stets vorausgehe. Man könnte dabei einwenden, dass Spielfilme immer nur Kommentierungen zum Lauf der Geschichte darstellen, die Erfahrungsschwellen zuspitzen und damit erst der kollektiven Wahrnehmung zuführen. Gleichwohl scheint Eisenstein mit Hilfe der kinematographischen Kanalisierung historischer Affekte seine Filme mehr als performative Akte einer gelebten Geschichte denn einer nachbereitenden Geschichtsdeutung zu behandeln. Auch das Nachleben der Geschichte, so könnte man jedenfalls behaupten, manifestiert sich für Eisenstein zunächst im Nach-Erleben historischer Momente – eine Gleichung, die die in der Pionierzeit als »une nouvelle source de l’histoire«60 zelebrierte Kinematographie in einen besonderen Rang erhebt. In Maguey findet sich diese Verschränkung von historischer Überlieferung und affektiver Partizipation auf sehr eindrückliche Weise in der realistischen Inszenierung des acaballamiento wieder. Genauso wie Eisenstein auf professionelle Schauspieler verzichtet, sieht er in der Hinrichtungssequenz auch von Doubles ab. Der Laiendarsteller von Sebastián ist sein eigener Stuntman, so dass die Mimik und sein Zusammenzucken unter dem sich bedrohlich auftürmenden Pferd zu einer verblüffend authentisch wirkenden Nachstellung beitragen. Die mit dokumentarischen Mitteln potenzierte Identifikation der Zuschauer mit dem Subalternen unter den trampelnden Hufen hebt das Bauernopfer als Odium der Hacienda-Gesellschaft hervor (Abb. 64).

Abb. 64: Die Inszenierung der Hacienda als historisches Schandmal gipfelt in der Nachstellung der kruden Hinrichtungsform des ›acaballamiento‹.

Mit einer täuschend echte Inszenierung der damnatio ad bestias suggeriert Eisenstein eine topologische Vorbestimmtheit der Hacienda für Martyrien als überhistorische rites de passage61 , die sich gegen ein statisches Traditionsbewusstsein richten, ganz ähnlich 59 60 61

Blumenberg 1976, 20. Matuszewski (1898). Victor Turners einschlägige Studie zu gesellschaftlichen Übergangsriten umfasst auch die Schwelle zum Tod, der die Phase der Wiederangliederung einerseits ins Jenseits verlegt, und andererseits an das Totengedenken der Überlebenden delegiert. Bei Eisenstein wird der Hinweis auf das koloniale Opfer vom repetitiven Charakter eines unfreiwilligen Opferrituals gelöst und auf einen Übergang im Sinne einer gesellschaftlichen Transformation ausgerichtet. Der wiederkehrende Zustand revolutionären Zuschnitts ist daher eine tödliche »Loslösung eines Einzelnen oder einer Gruppe von einem früheren fixierten Punkt der Sozialstruktur, von einer Reihe kultureller Bedingungen« und eine symbolische Umwertung des Ritus als eines die Ordnung destabilisierenden. Die martyrologische Mythomotorik der Revolution arbeitet daher mit der schmerzlich empfundenen Randständigkeit die das Selbstgefühl millenarischer Bewegungen prägen (vgl. Victor Turner 2000, 95127).

225

226

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

wie es bereits bei dem Begräbnisritual der Fall war, mit dem die Mnemotopie der Ruine in den Rang mythischer Schwellenorte erhoben und die mexikanische Vorvergangenheit für Hypolepsen der kollektiven Andacht aufbereitet wurde. Im reenactment der opferreichen Alltagsgeschichte der mexikanischen Haciendas offenbart sich eine für die Mnemotopie typische Vielfalt der Zeithorizonte, die Eisenstein für das Filmmedium in vielfacher Hinsicht zu operationalisieren und, vor allem nach seiner mexikanischen Phase, theoretisch zu durchdringen wusste. Genau in dieser Überblendung, die Octavio Paz als »superposición histórica«62 bezeichnet, liegt die Besonderheit in Eisensteins Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Seine Affinität für latente historische Kontinuitätslinien und der Arbeit am Geschichtsbewusstsein der Zuschauer verfolgt Antonio Somaini in Eisensteins Werk, aber auch in seinem theoretischen Nachlass: What impact did all these historical films and film projects have on Eisenstein’s idea of history? […] On the one hand, working on films such as Battleship Potemkin and October had led Eisenstein to understand how cinema could contribute to the production of a powerful, epic vision of history and to the construction of a widely shared collective memory. […] On the other hand, films and film projects such as Que Viva Mexico!, Moscow in Time, The Great Fergana Canal, and Moscow 800 showed Eisenstein how montage in all its forms (visual, audiovisual, chromatic) could be considered as a powerful tool for portraying the different »shifts« that characterized historical processes unfolding through long spans of time: the history of Mexican culture from the pre-Columbian civilizations to the new, postrevolutionary Mexico of the 1920s, the centuries-long struggle of the Uzbeks with the problem of the supply of water, and the 800 years of the glorious capital of the Soviet Union. In a chapter of Metod entitled »Diffused Perception,« Eisenstein states that what renders a work of art emotionally powerful is the capacity to host within itself a number of »shifts« (sdvig) between different historical layers.63 Die in diesem Absatz erwähnten »shifts« in Eisensteins Ideeninventar fächert Somaini zurecht auf in eine diachrone Bedeutungsebene konsekutiv gereihter Epochen und der dazwischenliegenden Umbruchserfahrungen, sowie in ein synchrones Alternieren zwischen historischen Sinnfolien. Die zweite Variante erinnert natürlich an die zeitlichen Überblendungen der Mnemotope, die bereits bei seiner offenen Ruinenlektüre untersucht wurden. Die synchrone Vielschichtigkeit, die in seiner Vorliebe für die vertikale Montage gegensätzlicher Bildelemente aufscheint, legt aber auch Eisensteins Denken in überhistorischen Kategorien offen, das mit Bachtins Vorstellung von einer Reflexionsebene der »großen Zeit«64 , der prinzipiellen Unabgeschlossenheit der Vergangenheit korrespondiert. Als Schauplatz einer traumatischen, unabgeschlossenen Vergangenheit, trägt die heiße Mnemotopie der Hacienda bei Eisenstein nicht zur Stabilisierung der Tradition bei, so sehr es auch der ritualisierte Vergangenheitsbezug und die anfängliche Inszenierung einer zyklisch wiederkehrenden tradición eterna nahelegen. In Tetlapáyac vollzieht sich vielmehr eine Abkehr von der suave patria und eine Absage an die urbane 62 63 64

Paz 2016a, 240. Somaini in Eisenstein 2016, 27f. Bachtin 1978, 357.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Verklärung der Provinz. Wenn bei Ramón López Velarde mit den Zeilen »Patria, te doy de tu dicha la clave:/sé siempre igual, fiel a tu espejo diario« der Segen der Peripherie in ihrer topologischen Konstanz vermutet wird, so dient die Vergegenwärtigung historischer Rudimente in Que viva México! gerade nicht der Konsolidierung, sondern der Destabilisierung der mexikanischen Landidylle. Einen ähnlichen Sturm auf überkommene Romantisierungen des Landlebens hatte Eisenstein kurz zuvor im heimischen Kontext in Generallinie (1929) unternommen, wo die Verflechtung historischer Epochen aufgelöst wird zu Gunsten einer industrialisierten, kollektivistischen Landwirtschaft. Bereits dort hatte Eisenstein den Bauernhof zum Schauplatz richtungsweisender ideologischer Auseinandersetzungen werden lassen. Aus dem ruralen locus amoenus, der in jahrhundertelanger Stasis verharrte, ließ Eisenstein Orte des Rückstands und des Elends werden und transformierte sie zu heißen Orten65 gesellschaftlicher Umbrüche. Sein mexikanisches Projekt lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Ausweitung seiner filmdidaktischen Devise begreifen, den »verdutzten Zuschauer am Schopfe zu packen und ihn gebieterisch mit einem aktuellen Problem zu konfrontieren. Seine Anteilnahme daran zu initiieren.«66 Die Hungersnöte zum Ende des Porfiriats, die vor allem der US-amerikanische Journalist und sozialistische Muckracker John Kenneth Turner in Barbarous Mexico (1910), einer Sammlung von Artikeln, der Weltöffentlichkeit zugeführt hatte, bildeten die realhistorische Vorlage für die traditionskritische HaciendaLektüre.67 Seine Arbeit an der mexikanischen Mnemotopie war in starkem Maße durch die »spatial vision of history and memory«68 geprägt und behandelte das Filmmedium dezidiert als bewusstseinsbildendes Medium, als »powerful epistemic tool for the construction of history«69 . Die Sympathielenkung in seiner Montage aus Geschichte und Mythos öffnet das in der Hacienda eingelagerte mexikanische Gedächtnis einer Neuverhandlung der Zukunftsbilder. Fernab offizieller nationalistischer Diskurse schlägt Eisensteins Blickwinkel eines außenstehenden Betrachters auch einen Keil zwischen die überregionale mexikanische patria und die vielen ruralen Heimatorte. Die Matria, jener »pequeño mundo que nos nutre, nos envuelve y nos cuida de los exabruptos patrióticos«70 , erscheint als eine von den Funktionären der patria geschundene. Bevor im mexikanischen Kino eine konservative emotividad matriótica71 gegen die landesweiten Bodenreformen mobilisiert wurde, verläuft die klare Verwerfungslinie in Maguey zwischen den Hacienda-Besitzern und den Peonen auch in formaler Hinsicht. Bei dem Schusswechsel in der Plantage verstecken sich die Ordnungshüter konsequenterweise hinter Nopal-Kakteen, dem patriotischen Symbol schlechthin das im aztekischen Mythos zur Gründung von Tenochtitlan enthalten ist, und den Grundsatz des Zentralismus 65 66 67

68 69 70 71

Zum Phänomen der heißen Orte der historischen Dynamik vgl. Schlögel 2003, 294-303. Eisenstein 1984, 114f. Der Zustand der Quasisklaverei in den Haciendas wird vor allem in dem Kapitel »The Country Peons and the City Poor« angeprangert, das auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Porfiriat und seines Repressionsapparats überleitet (John Kenneth Turner 1914, 109-119). Somaini in Eisenstein 2016, 35. Ebd., 36. González (1986). Ebd.

227

228

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

auch im Wappen der modernen mexikanischen Nation führt. Die Peonen werden hingegen mit der Matria identifiziert, da Eisenstein sie hinter den Magueyes in Deckung gehen lässt, den titelgebenden Agaven, in welchen dem indigenen Bauern Juan Diego Cuauhtlatoatzin im Jahr 1531 in Tepeyac die Jungfrau von Guadalupe erschienen ist (Abb. 65).72

Abb. 65: Rechts die Ordnungshüter des Hacienda-Systems hinter dem patriotischen NopalKaktus und links der mexikanische Spartakusaufstand im Schutze der Agaven als Symbole der Matria.

Eisensteins filmische Erinnerung an die Opfer des Hacienda-Systems und seine Rekonstruktion eines traumatischen Gedächtnisses mögen zwar das nationale Stimmungsbild am Vorabend der Mexikanischen Revolution überzeugend eingefangen haben, sein Drängen auf historische Dynamik sollte jedoch vom zähen Lauf der Geschichte 72

Es mag dabei als Ironie des Schicksals erscheinen, dass der 2002 heiliggesprochene Chichimeke aus Cuautitlán war, einem Ort im Bundesstaat Mexiko, der zum Eponym für die Matrias wurde, etwa in dem Ausspruch »fuera de México todo es Cuautitlán« (vgl. Knight 1986, 1.Bd., 2). Dass es sich bei der Marienerscheinung natürlich um eine wirkmächtige aber historiographisch sehr umstrittene Gedächtnisvorlage handelt, kann man bei Hector Aguilar Camín nachlesen, der den »panteón de las mentiras piadosas que guía los reflejos de nuestra memoria histórica« bloßzulegen versucht (vgl. Aguilar Camín 1993, Kap.3 (»Por una historia patria para adultos«), 83-105, hier: 92). Unumstritten bleibt indes die Bedeutung der Marienerscheinung für die mexikanische Filmgeschichte, da sie in Tepeyac (1917) nachgestellt wurde, dem ersten narrativen Langfilm Mexikos, der seit 2016 in einer grandios restaurierten Version vorliegt.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

gedämpft werden. Seine Apelle an ein krisenbewusstes Gedächtnis und an die Emanzipation von der Willkürherrschaft mexikanischer Landbesitzer sollten, wie der Blick auf massenmediale Imaginationsvorlagen zeigt, an der symbolischen Fortführung einer histoire quasi immobile zerschellen. Die positive filmische Erinnerung an das Porfiriat hatte, wie in Allá en el Rancho Grande exemplarisch untersucht wird, deutet darauf hin, dass das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Neuordnung weitestgehend aus der Populärkultur verbannt war. Doch auch vor Eisenstein war kritisches Geschichtsbewusstsein im Medium des mexikanischen Films eher selten. Bereits in den 20er Jahren, unmittelbar nach der bewaffneten Phase der Revolution, waren reflektierte Zeitkommentare unter den »folkloric and sanitized representations«73 Mexikos kaum vorhanden, wie Zuzana M. Pick in Ihrer Studie zur filmischen Verarbeitung der mexikanischen Revolution beobachtet. Wenn Eisensteins Filmsymphonie bis heute als stilbildender Urtext in der mexikanischen Filmgeschichte gehandelt wird, so ist es eher nicht seiner Behandlung der mexikanischen Geschichte geschuldet. Wie Fernando Fabio Sánchez es mit gewissem Pathos ästhetischer Periodisierungen behauptet, sei Que viva México! »la primera obra cinematográfica que formula una interpretación de México y la Revolución, ubicándose ya en los motivos de la etapa posrevolucionaria.«74 Die Behauptung erfordert zwei wesentliche Objektionen, die eine nahtlose Einreihung des Werks in die mexikanische Filmgeschichte problematisieren. Zum einen blieb das Werk bekanntlich unvollendet und konnte keine unmittelbare Wirkung auf nationale Gedächtniskollektive entfalten. Man kann lediglich behaupten, dass die rushes, vor allem die zur hier besprochenen Episode, in eingeweihten Kreisen rezipiert wurden. Unbestritten ist auch die Verwendung des Rohschnitts in sekundären Verwertungskreisläufen, die Aurelio de los Reyes in seiner Monographie El nacimiento de Que viva México! (2006) detailreich herausarbeitet. Sowohl ganzheitliche Montageversuche im Auftrag der Financiers75 , als auch Übernahmen loser Fragmente76 oder auch plagiatorische Aneignungen77 , weisen auf eine wirkmächtige Dissemination des Filmmaterials hin. Auch die Verwendung der Agave als Chiffre der Matria hat im mexikanischen Filmgedächtnis ein Nachleben entfaltet: Der tote Rebell in der Maguey-Pflanze wird wieder aufgegriffen in Vámonos con Pancho Villa (1935) von Fernando de Fuentes, bevor Rubén Gámez in Magueyes (1962), in einem 73 74 75

76

77

Pick 2010, 3. Fabio Sánchez 2010, 26. Zu den bekanntesten gehören Thunder Over Mexico (1933) von Sol Lesser, der die undankbare Aufgabe hatte, das investierte Kapital mit einer »fraudulent version« wieder einzuspielen, und Time in The Sun (1939) von Marie Seton, die Ihre Version aus dem Gedächtnis an Eisensteins Ideen zum Projekt zu rekonstruieren versuchte: »I took the memory of what he had told me and attempted to reconstruct his dream in order that it might not be entirely lost« (Seton 1978, 300; vgl. de los Reyes 2006, 288ff). In jüngster Zeit hat Oleg Kovalov eine Relektüre der Footage in dem Dokumentarfilm Sergei Eisenstein. Mexican Fantasy (1998) vorgelegt. Plausibilisierende, on site gedrehte Fragmente von Que viva México! sind zum Beispiel in Viva Villa! (1934) (dt.: Schrei der Gehetzten), einer amerikanischen Lesart der mexikanischen Revolution enthalten. Das simultan zur unvollendeten Filmsymphonie entstandene WerkThe Flame of Mexico (1932) von Juliet Barrett Rublee stelle, so Aurelio de los Reyes 2006, 206 et 373, eine kuriose Reproduktion des Rohmaterials zur Episode Maguey dar.

229

230

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

virtuosen Versuch die Zensur zu umgehen, die Pflanze zur Allegorisierung der mexikanischen Geschichte im Sinne einer Kolonisierung und militärischen Vereinnahmung der Provinz wiederverwendet. Dass Que viva México! als kinematographischer Scherbenhaufen vor allem für das nationale Kino ein ästhetisches Paradigma darstellte, wurde, zumindest in formaler Hinsicht, vielfach postuliert.78 Die radikalen Obertöne der historischen und überhistorischen Synthesen des Films sollten hingegen kaum Nachahmer in der nationalen Konsolidierungsphase finden. Am Paradigma von Flor Silvestre soll weiter unten die Bedeutung einer kalten Hacienda-Mnemotopie bei der postrevolutionären Fixierung des kollektiven Gedächtnishorizontes untersucht werden, die eine Antipode zu Eisensteins Hacienda-Darstellung im Zeichen der heißen, traditionskritischen Mythomotorik bildet. Zum anderen darf man nicht außer Acht lassen, zumal vor dem Hintergrund einer nationalen Memorialkultur, dass Eisensteins Verständnis der mexikanischen Geschichte mit einer zentralisierten Sinnpflege nationaler ›Scharfrichter‹ kollidierte und zensierenden Eingriffen unterstellt war, die die mexikanische Gegenwart unbedingt in ein positives Licht rücken wollten. An der turbulenten Entstehungsgeschichte des Werks kann man beobachten, dass die Campaña Nacionalista in der nachrevolutionären Institutionalisierung ab 1931 die Darstellung der mexikanischen Landbevölkerung im gesellschaftskritischen Licht der scharfen Überwachung durch Zensur sowie einer öffentlichen Diskreditierung aussetzte.79 Es überrascht auch nicht, dass die Thematisierung sozialer Umwälzungen in Eisensteins Filmprojekt mitunter zum Anlass einer kurzzeitigen Inhaftierung wurde, einer Maßnahme, mit der man versuchte, der Gefahr einer destabilisierenden kommunistischen Propaganda Herr zu werden. In der restriktiven Imagepflege der zeitgenössischen mexikanischen Kulturindustrie lässt sich, neben den Uneinigkeiten zwischen Eisenstein und seinen US-amerikanischen Mäzenen, eine weitere wichtige Ursache ausmachen, weshalb der Film nicht vollendet werden konnte. Wenn man nun das mnemotopische Erbe untersuchen will, das Eisenstein mit seiner Hacienda-Lektüre auslöst, muss man neben einer prekären Auswertung des unvollendeten Drehmaterials und dem vielfach überarbeiteten Drehbuch zum Filmprojekt, vor allem auch die Reaktionen auf Que viva México! in die Bewertung einfließen lassen. Zunächst griff Eisenstein bei seinem Mexikobegriff auf ein überbordendes livreskes Palimpsest zu Mexiko zurück. Vor Ort musste Eisenstein die Präfigurationen vielfach relativieren und erweitern. Jener »proceso de resignificación de sus conocimientos pre-

78

79

Zu Eisensteins Erbe, vor allem dem formalen Nachlass in der mexikanischen Filmgeschichte, vergleiche man García Riera (1987b), de los Reyes (1987), Ramírez Berg (1992), Noble (2010) und Tuñón (2016). Obwohl Eisensteins filmische Symphonie unvollendet blieb, weisen viele Klassiker der Folgezeit unverkennbare formale Ähnlichkeiten zur Mise-en-Scène von Que viva Mexico! auf. So schreibt etwa Hermann Doetsch, dass Emilio Fernández die rushes des Films kannte und die auffällige ästhetische Verwandtschaft zwischen Que viva Mexico! und Rio Escondido (1948) nicht von ungefähr kommt (vgl. Doetsch 2016, 215). Sehr anschaulich sind hierfür die Briefwechsel zwischen Eisenstein und den vielen am Projekt beteiligten Parteien, die bei Geduld/Gottesmann (1970) den brisanten Nexus zwischen kinematographischen Großprojekten und den gegensätzlichen kulturpolitischen Vorgaben exemplarisch nachzeichnen.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

vios sobre México«80 reifte trotz aller Beeinträchtigungen des Produktionsvorhabens in der Spätphase seines 14 Monate währenden Mexikoaufenthaltes zu einem Geschichtsbild heran, das mit Eisensteins früheren historische Motiven zur russischen Revolution korrespondierte. Wenn man also Eisensteins Beitrag in den Rang eines modellbildenden Urtextes erhebt, darf man die gedächtnispolitischen Normen nicht vergessen, in welcher er seinen gegenwartskritischen Vergangenheitsrekurs entfalten wollte: Su relación con la Revolución se complicará a medida que transcurran sus días mexicanos y sus lecturas. En Tetlapayac percibió que la situación del peón nada había cambiado después de la Revolución; conmovido profundamente, no pudo expresar su crítica, amordazado igualmente por el gobierno. Debía tener mucha cautela. Llegó a México en un momento sumamente difícil para los radiales mexicanos: en febrero de ese año (1930), México rompió relaciones diplomáticas con Moscú, pues de acuerdo con la decisión de la última reunión del Comité del Partido Comunista Soviético de difundir el radicalismo en América Latina, México debía ser el puente apropiado; de ahí que el cineasta, desde el momento en que presentara su proyecto a Charles Chaplin y Upton Sinclair, precisó que su película sería fundamentalmente artística, sin intención de hacer »propaganda comunista«.81 Allen Warnschüssen zum Trotz berief sich Eisenstein in der Spätphase der Dreharbeiten dennoch darauf, worin er sich einen Namen gemacht hatte: auf ein universales Revolutionskino, das seine historischen Relektüren gegen ein reaktionäres Geschichtsbild auszuspielen versucht. Dass Upton Sinclair, sozialkritischer Schriftsteller und Mäzen Eisensteins, dem mexikanischen Konsul in Los Angeles beteuern musste, Eisensteins Vorhaben sei es, einen Film über »primitive native people« zu drehen »who have not been touched by modern civilization«82 , muss daher als Beschwichtigungsversuch aufgefasst werden. Der ambitionierte Regisseur war dazu nicht in der Lage und wäre für ein »rubber-stamp drama of sharks and bathing belles«83 , die in den ethnographischen Südsee-Spektakeln von Flaherty oder Murnau zelebriert wurden, in der Sowjetunion definitiv zur Rechenschaft gezogen worden. Als notorischer Mythoklast, der entpolitisierte Geschichtsbilder84 freilegt und der Neuverhandlung aussetzt, beraubt Eisenstein die Hacienda ihrer Aura der Natürlichkeit, um ein traumatisches Gedächtnis an die Haciendas als Schattenorte der intra-historia offenzulegen. Damit folgt Eisenstein den Konventionen eines sozialistischen Memory-Building und betont das Widerstandpotential der kleinen Leute gegenüber dem alltagsgeschichtlichen Fatalismus. Hierfür war der Rückgriff auf den Topos des Martyriums natürlich entscheidend, denn als »Weckruf aus dem Jenseits«85 setzt das mexikanische Bauernopfer jene um historische Diskontinuitäten bemühte, »revolutionäre Kraft der Erinnerung« frei, die ihr »Potential in der

80 81 82 83 84 85

de los Reyes 2006, 268. de los Reyes 2010, 179. Zit. in de los Reyes 2006, 199. Grierson 1976, 22. Zum Verständnis des Mythos als »parole dépolitisée« vgl. Barthes 1970, 216-219. Vgl. A. Assmann 1991, 24.

231

232

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

historischen Situation der Niederlage und der drückenden Erfahrung der Ohnmacht«86 birgt (Abb. 66). In Grigori Aleksandrows Fertigstellung ist es bezeichnenderweise das Fragment, in dem die Hacienda-Gesellschaft aus der brennenden Finca flüchtet, mit der Maguey endet und die große Leerstelle von Soldadera markiert, in der Eisenstein sich mit der Revolution als Folge der exemplarisch skizzierten Bauernrevolte auseinandersetzen wollte (Abb. 67).

Abb. 66: Der zur Hinrichtung in die Erde eingegrabene Sebastian als Metapher für die fatale Erdverbundenheit. Abb. 67: Die Flucht aus der brennenden Hacienda, ein Sinnbild der revolutionären Topoklastik, das ein Ende der kolonialen Wirtschaftsordnung und einen Bruch mit dem Porfiriat untermauern will.

Wie er das sozialistische Pathos einer »weltgeschichtlichen Totenbeschwörung«87 nun mit der Enttäuschung einer frustrierten mexikanischen Revolution in Einklang bringen wollte, bleibt jedoch ein Rätsel. Wenn die aus dem ruralen Mexiko stammende Soldadera – die mythisch verklärte Soldatenfrau im Gefolge der umherziehenden Revolutionstruppen – zum Ende der Episode die Hauptstadt just am 4. Dezember 1914 betreten sollte, dem Tag, an dem Emiliano Zapata und Pancho Villa sich im Nationalpalast von Mexiko-Stadt trafen, war die Bürgerkriegsphase der mexikanischen Revolution noch in vollem Gange. Analog zu Trotzki, der vier Jahre nach Eisensteins Abreise die Verratene Revolution (1936) im mexikanischen Exil verfassen sollte, seine bittere Abrechnung mit der russischen Revolution, bewertete Eisenstein die mexikanische Revolution später aus einer ähnlich kritischen Distanz. Ausgerechnet die legendäre Zusammenkunft von Villa und Zapata markiert in seiner Retrospektive den Beginn einer schwierigen Restaurationsphase: En él pudo empezar la transformación de la guerra civil en revolución socialista. Pero aquella unión se deshizo fulminantemente para, tras una cadena de traiciones, en-

86 87

Ebd., 23. Marx zit. in Derrida 1993, 181.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

gaños, nuevas y duras pruebas, hundirse en la ciénaga del nacionalismo estrecho y chauvinismo reaccionario que la sustituyó.88 Bevor das traumatische Gedächtnis an eine verratene Revolution sogleich am Beispiel von El compadre Mendoza untersucht wird, das wenige Jahre nach den Dreharbeiten zu Que viva México! entstand, bleibt festzuhalten, dass Eisensteins Erbe selten über eine kritiklose Idealisierung der Revolutionsmythen hinausreichen sollte. Im Zuge der Herausbildung einer »revolutionären Bourgeoisie«89 wurden Geißelungen des HaciendaSystems nach und nach aus dem kollektiven Imaginären ausgelagert. Eisensteins Eifern gegen die rurale mexikanische Oligarchie kann man daher als einen gescheiterten Hieb gegen die Elitenkontinuität und als ergebnisloses Rütteln am Fundament mexikanischer Herrschaftspyramiden begreifen. Doch Maguey bildet bis heute eine kontroverse Erinnerungsvorlage. Eisensteins messianische Erinnerung an die Peonen, so wie er sie während der Dreharbeiten vorfand, behält nämlich auch über sein Leben und Wirken hinaus eine zeitlose hegemoniekritische Gültigkeit: Die langen schwarzen Schatten der Tlachiceros, die bei Sonnenuntergang mit ihren Eselchen nach Hause trotten und die wissen, wer auch immer die Hacienda ihres Herrn übernehmen wird – ihr Schicksal bleibt immer das gleiche: mit gierigen Lippen den öligen Saft aus dem Inneren eines harten Kaktus zu saugen. […] Und der runzlige spitzzackige Stern der Agave, die ihre Säfte hergegeben hat, wird auf dem Feld unter den erbarmungslosen Strahlen der Sonne verglühen. So wird auch der zum Verglühen verurteilt sein, dem Blut und Säfte von dem nicht abgeschaffenen Feudalsystem der Beziehungen zwischen Landarbeiter und Grundbesitzer ausgesogen wurden.90

3.2.

El compadre Mendoza (1934)

3.2.1.

Der Hacendado im ideologischen Kreuzfeuer

Es wäre sicherlich zu kurzsichtig, die Verarbeitung der Revolution im mexikanischen Film gänzlich im Zeichen der kanonisierten folk show91 zu betrachten. Vor allem in den frühen Filmen von Fernando de Fuentes, die in die kurze Zeitspanne des präindustriellen mexikanischen Tonfilms von 1931 bis 1935 fallen, lässt sich beobachten, dass die jüngste Geschichte Mexikos sehr wohl auch Einzug in fiktionale Filmsujets gehalten hatte und insbesondere auf mikrostruktureller Geschichtsebene nachgespürt wurde. So auch in El compadre Mendoza, einem Hacienda-Drama, in dem ein Hacendado seine Existenz gegen die drohende Chaotisierung der mexikanischen Gesellschaft verteidigen muss. Für den Filmhistoriker Eduardo de la Vega Alfaro ist der Film »sin duda la

88 89 90 91

Eisenstein zit. in de los Reyes 1987, 148. Tobler 1984, 495ff. Am Beispiel von Álvaro Obregón veranschaulicht der Autor den paradigmatischen Werdegang des Revolutionsführers vom Rebellen zum Neo-Hacendado. Eisenstein 1998, 489. Vgl. Monsiváis 1992, 145.

233

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

gaños, nuevas y duras pruebas, hundirse en la ciénaga del nacionalismo estrecho y chauvinismo reaccionario que la sustituyó.88 Bevor das traumatische Gedächtnis an eine verratene Revolution sogleich am Beispiel von El compadre Mendoza untersucht wird, das wenige Jahre nach den Dreharbeiten zu Que viva México! entstand, bleibt festzuhalten, dass Eisensteins Erbe selten über eine kritiklose Idealisierung der Revolutionsmythen hinausreichen sollte. Im Zuge der Herausbildung einer »revolutionären Bourgeoisie«89 wurden Geißelungen des HaciendaSystems nach und nach aus dem kollektiven Imaginären ausgelagert. Eisensteins Eifern gegen die rurale mexikanische Oligarchie kann man daher als einen gescheiterten Hieb gegen die Elitenkontinuität und als ergebnisloses Rütteln am Fundament mexikanischer Herrschaftspyramiden begreifen. Doch Maguey bildet bis heute eine kontroverse Erinnerungsvorlage. Eisensteins messianische Erinnerung an die Peonen, so wie er sie während der Dreharbeiten vorfand, behält nämlich auch über sein Leben und Wirken hinaus eine zeitlose hegemoniekritische Gültigkeit: Die langen schwarzen Schatten der Tlachiceros, die bei Sonnenuntergang mit ihren Eselchen nach Hause trotten und die wissen, wer auch immer die Hacienda ihres Herrn übernehmen wird – ihr Schicksal bleibt immer das gleiche: mit gierigen Lippen den öligen Saft aus dem Inneren eines harten Kaktus zu saugen. […] Und der runzlige spitzzackige Stern der Agave, die ihre Säfte hergegeben hat, wird auf dem Feld unter den erbarmungslosen Strahlen der Sonne verglühen. So wird auch der zum Verglühen verurteilt sein, dem Blut und Säfte von dem nicht abgeschaffenen Feudalsystem der Beziehungen zwischen Landarbeiter und Grundbesitzer ausgesogen wurden.90

3.2.

El compadre Mendoza (1934)

3.2.1.

Der Hacendado im ideologischen Kreuzfeuer

Es wäre sicherlich zu kurzsichtig, die Verarbeitung der Revolution im mexikanischen Film gänzlich im Zeichen der kanonisierten folk show91 zu betrachten. Vor allem in den frühen Filmen von Fernando de Fuentes, die in die kurze Zeitspanne des präindustriellen mexikanischen Tonfilms von 1931 bis 1935 fallen, lässt sich beobachten, dass die jüngste Geschichte Mexikos sehr wohl auch Einzug in fiktionale Filmsujets gehalten hatte und insbesondere auf mikrostruktureller Geschichtsebene nachgespürt wurde. So auch in El compadre Mendoza, einem Hacienda-Drama, in dem ein Hacendado seine Existenz gegen die drohende Chaotisierung der mexikanischen Gesellschaft verteidigen muss. Für den Filmhistoriker Eduardo de la Vega Alfaro ist der Film »sin duda la

88 89 90 91

Eisenstein zit. in de los Reyes 1987, 148. Tobler 1984, 495ff. Am Beispiel von Álvaro Obregón veranschaulicht der Autor den paradigmatischen Werdegang des Revolutionsführers vom Rebellen zum Neo-Hacendado. Eisenstein 1998, 489. Vgl. Monsiváis 1992, 145.

233

234

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

primera obra maestra del cine nacional referida a la Revolución Mexicana«92 . Basierend auf der gleichnamigen Erzählung von Mauricio Magdaleno, lässt sich El compadre Mendoza als eine Wiederanknüpfung an die alltagsgeschichtlichen Hintergründe der mexikanischen Revolution verstehen, die nicht als abgeschlossene, sondern als gegenwartsbestimmende Vergangenheit imaginiert wird. Das Geschichtsbild, schreibt Julia Tuñón im Hinblick auf de Fuentes’ Revolution-Trilogie, »expresa más el tiempo en que se realiza el filme que el visto en la imagen.«93 Noch bevor die staatliche Zensur eine kollektive Verdrängung von Prozessen historischer Bewusstseinsbildung in den Schatten stellte, bot der Film eine Rekonstruktion des »conflicto bélico cuando todavía es pasado reciente, cuando todavía los dolores a los que alude están vivos«94 . Fernando de Fuentes situiert seine revolutionäre Tragödie in der Hacienda Santa Rosa in der Nähe von Huitchila (Morelos). Der agrarwirtschaftlich geprägte Bundesstaat im Süden der Hauptstadt war zentrales Einflussgebiet der Zapatisten und damit eine Region, in welcher besonders viele territoriale Spannungen zwischen den Haciendas und den anliegenden Dorfgemeinschaften bestanden und in welchem die casta divina der Hacendados in besonderem Maße als fremde Besatzungsmacht empfunden wurde.95 Es ist dabei sicherlich kein Zufall, dass de Fuentes einen Schauplatz wählt, der nur wenige Kilometer von der Hacienda Chinameca entfernt ist, die seit dem 10. April 1919 zum tragischen Erinnerungsort wurde, als Emiliano Zapata in einen Hinterhalt gelockt wurde und den Tod in einer Institution fand, die er zeitlebens bekämpft hatte. Auch die Zeitspanne der Tragödie steht im Einklang zum Aufstieg und Fall von Emiliano Zapata und reicht, wie man den temporaldeiktischen cues entlang der revolutionären Revirements entnehmen kann, in etwa von 1913-1918, also der Zeitspanne, in der die Fronten noch verhältnismäßig klar waren und bevor Grauzonen des nationalen Konflikts ideologische Grenzziehungen sukzessive erschwerten. De Fuentes’ Zugriff auf die revolutionäre intra-historia erfolgt jedoch aus dem Blickwinkel eines Hacendados der sich in prekäre Doppelbindungen verstrickt. Die Empathie mit dem allzu menschlichen Hacendado ermöglicht eine subtilere Einschätzung des historischen Wandels, worin ein bedeutender Unterschied zu Eisensteins topoklastischem Impetus zu sehen ist. Der mexikanische Regisseur trägt den Entscheidungsnöten der turbulenten Zeit Rechnung, die in Maguey noch hinter einer Idealisierung der Bauern und einem historischen Manichäismus verbannt schien. Die alltagsgeschichtlichen Nebeneffekte der Revolution, etwa das florierende Bandenwesen, die Hungersnöte, der Alkoholismus oder die Vergeltungsschläge einer anarchischen gleba gegen die Landbesitzer, sind die mnemonischen Eckpfeiler, die bei de Fuentes die reale Drohkulisse darstellen, der die Haciendas ausgesetzt waren. Gerade die Haciendas als Bollwerke der alten Ordnung waren die häufigsten Zielobjekte der

92

93 94 95

de la Vega Alfaro 2012b, 14. Der Aufsatz bietet eine kenntnisreiche Entstehungsgeschichte, an der neben Mauricio Magdaleno auch Juan Bustillo Oro als Koregisseur beteiligt war und der Film denkbar knapp der Staatszensur entging, die über allen Filmen mit einem kritischen mexikanischen Selbstbild wie ein Damoklesschwert hing (ebd., 78). Vgl. Tuñón 2010, 209. A. a. O., 215. Vgl. Ávila Espinosa 2006, 53.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

mexikanischen Fronde. Die Gewalteskalation in den Haciendas wird eindrücklich von dem Historiker Felipe Ávila Espinosa eingefangen: Algunas haciendas fueron atacadas y sufrieron saqueos, destrucción de sus instalaciones, quema de cañaverales y pastos e incluso el asesinato de sus dueños o administradores; esto ocurrió cuando hubo una reacción defensiva por parte de sus propietarios en contra de las partidas de revolucionarios. Hubo destrucción de haciendas en los casos en los que había agravios fuertes cometidos por dueños y capataces contra peones y residentes que se incorporaron a la Revolución y que se valieron de ésta para vengarse, o cuando había conflictos agrarios por expropiaciones de las haciendas en contra de pueblos y rancherías. En la medida en que la escasez de alimentos y víveres fue aumentando, los ataques, robos y abusos en contra de ellas arreciaron.96 Doch im offenen Schlagabtausch der revolutionärer Wirren gingen die Hacendados, vor allem in der von Zapatisten in Schach gehaltenen Region, nicht selten alianzas tansitorias mit den opponierenden Lagern ein, um Ihre Existenz zu sichern, ganz ähnlich wie es bereits zu Zeiten der Unabhängigkeitskriege geschehen war.97 Während der Siegeszug der Zapatisten den Kleinbauern, zumindest vorübergehend, das Privileg einräumte, Protagonisten ihrer eigenen Geschichte zu werden, wurde das Los der Haciendas als Symbolorten und Gedächtnisspeichern des Porfiriats neu ausgehandelt. Das Schicksal jeder Hacienda hing dabei nicht selten von dem Verhandlungsgeschick und der Konzessionsbereitschaft der Hacendados ab: Varias haciendas fueron respetadas y se estableció un compromiso de no atacarlas a cambio de una contribución forzosa. Los guerrilleros surianos las utilizaron para abastecer a su ejército y financiar la guerra hasta la derrota del régimen de Huerta.98 Genau diese ungewöhnliche Allianz bildet Fernando de Fuentes in El compadre Mendoza ab und stellt den gewieften Don Rosalío Mendoza ins Zentrum seiner filmischen Revolutionsverarbeitung, einen Hacendado, der es versteht mit den widerstreitenden Lagern zu paktieren, um seine Hacienda Santa Rosa vor dem Groll der revolutionären bola zu schützen. Bezeichnenderweise wird die Hacienda selbst als ein hortus conclusus dargestellt, der Zapatisten wie Federales wechselweise offensteht und das Blutvergießen dank des schwierigen Balanceakts seines Patrons nach außen verbannt. Zunächst kommen die Zapatisten, die als mexikanische Spielart der soldats laboureurs ihre Flinten in einem sprechenden Bild wie Pflugscharen hinter sich herziehen, in den Genuss der kalkulierten Gastfreundschaft des eigentlichen Klassenfeindes. Sie werden angeführt von zwei Revolutionsgenerälen – dem fiktiven Felipe Nieto sowie der historischen Figur von Eufemio Zapata, dem älteren Bruder von Emiliano Zapata. Die Aussicht des kriegsmüden Regiments auf eine Rast bei Don Rosalío beflügelt, wird mit

96 97

98

Ávila Espinosa 2006, 53. Zu der prekären Neutralität der Landbesitzer und der paradoxen Allianzbildung liefert die Anthologie von Buve (1984), darunter vor allem der Aufsatz von Rendón Garcini, eine instruktive Untersuchung diverser Überlebensstrategien der Hacendados in Krisenzeiten. Ávila Espinosa 2006, 53.

235

236

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

einer Begehung der Innenräume des Landguts symbolisiert, bei der der Zuschauer eingeladen wird dem pflichtbewussten Diener Gerónimo in den patio zu folgen. Bei der Kamerafahrt werden auch mehrere Pforten passiert, die die Finca von der Außenwelt abschotten und jenen »sabor monástico«99 unterstreichen, der den kolonialen Landhäusern häufig innewohnte (Abb.  68/69).

Abb. 68: Während die Kinder die Ankömmlinge mit »¡Viva Zapata!« begrüßen, führt eine Kamerafahrt als stumme, für sich stehende Sequenz in die Innenwelt der Finca als Epizentrum des Hacienda-Systems. Abb. 69: Hinter dem zweiten Tor verbirgt sich der ›hortus conclusus‹, dessen arkadische Pracht von einem den Garten pflegenden ›peón acasillado‹ stabil gehalten wird

Zielpunkt der Kamerafahrt ist der Protagonist Rosalío Mendoza in Erwartungshaltung, der seinem mayordomo Atenógenes seine aufgesetzte Unbekümmertheit angesichts der undefinierbaren Visite signalisiert. Bereits der Name des Verwalters weist auf dessen urbane Kultivierung hin, in welchem die von José Vasconcelos ausgerufenen Ateneos zur postrevolutionären Kaderschmiede erhoben wurden und den Geist einer konservativen Reformwelle am Ende des Porfiriats konnotieren. Gleichwohl vermag Atenógenes der Hacienda nicht die Ortslogik eines loyalen Satelliten der Zentralgewalt zu verleihen. Der gealterte catrín und Wendehals wird immer wieder als gelehrter Narr ridikülisiert. Die Hauptstadt bleibt in der Perspektive des Compadre Mendoza lediglich eine Vergnügungsmeile und Partnerbörse. »Para los negocios«, hört man ihn sinnieren, »el campo y la revolución.«(15:00), womit er die ländliche Peripherie zum haut lieu der Revolution erhebt, im selben Atemzug aber auch als Gelegenheit für Menschen mit Geschäftssinn entlarvt. Im Kontrast zum bewaffneten Compadre Mendoza, der sich selbst als »enemigo de romanticismos y suspiritos« (11:06) bezeichnet, wird Atenógenes dem Verlachen eines Hacendados preisgegeben, der sich als viriler, Mezcal-trinkender Volksfreund inszeniert, die Autonomie der Hacienda mit diplomatischen Beschwichtigungsversuchen zu

99

»Con todo, es frecuente que las casas grandes tengan un sabor monástico, que se asemejen a los conventos, que sean sombrías, pese a los amplios patios interiores , que ostenten paredes hendidas y descascaradas y que en los menores detalles revelen el sello colonial. Tienen a la vez un sabor militar, colonial y monástico.« (González y González 1956, 24.)

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

erhalten versucht und daher einen Empfang der Zapatisten mit viel Essen »y su pulquito para alegrarlos« (4:20) anberaumt. Als Vertreter der urbanen Gesellschaft konnotiert der Verwalter auch die makrostrukturelle Unbeständigkeit im Zusammenhang mit den revolutionären Turbulenzen. Die changierende Bündnistreue der Hacienda wird angedeutet durch die Portraits von Victoriano Huerta, Emiliano Zapata und später Venustiano Carranza, die, den Launen der Revolution folgend, wechselweise den Ehrenplatz an der Wand schmücken dürfen (Abb. 70). Wie es Atenógenes auf der Hochzeitsfeier des Patrons im Alkoholrausch formuliert: »Viva Zapata y viva el Supremo Gobierno, pa‹ los dos tengo« (24:45), womit er die Appeasement-Politik der Hacienda zwischen den ideologischen Fronten auf den Punkt bringt.

Abb. 70: Die revolutionären Revirements werden aufgefangen im kinematographischen Verfahren der Überblendung, die das Beharrungsvermögen der Hacienda symbolisiert. Die Doppelbelichtung lässt sich dabei auch dechiffrieren als eine formale Metapher für die Doppelmoral des Compadre Mendoza.

War bei Eisenstein das Portrait von Porfirio Díaz noch als monumentales Menetekel zu verstehen, das die Hacienda zum Inkubationsraum der bevorstehenden Revolution stilisierte, so wird der uneinheitliche revolutionäre Zeitgeist in Santa Rosa im opportunistischen Anpassungswillen der Hacienda-Verwaltung aufgefangen. Wenn der Hacendado von dem zapatistischen General Felipe Nieto als »mejor amigo de la revolución« (6:02) gefeiert wird, so ist es sicherlich dem Umstand zu verdanken, dass er die bewaffneten Bauern an dem Wohlstand seiner Hacienda teilhaben lässt.100 Der Schulterschluss zwischen Hacendado und den bewaffneten Peonen ist jedoch trügerisch und vorübergehend, denn das Hofieren der bewaffneten Peonen erweist sich als Überlebensstrategie eines Gutsherren in Not. Wenn de Fuentes die Hacienda in Zeiten der Revolution zunächst als einen Ort darstellt, in welchem die harten ideologischen Fronten verwischt werden, so wird schon bald die Geschäftstüchtigkeit des modernen 100 Eine bedeutsame, wohl der Ökonomie des Filmmediums geschuldete Unterschlagung bei der filmischen Adaptation der Erzählung von Mauricio Magdaleno, die de Fuentes mit Juan Bustillo Oros entscheidender Mitwirkung vorgenommen hatte, ist die Tatsache, dass es sich bei Rosalío Mendoza in der literarischen Vorlage um den verwaisten Sohn eines medieros (Pächters) handelt, der die Ländereien eines regierungsnahen científico bestellt hatte und während der ersten zapatistischen Revolten starb (vgl. Magdaleno 2003, 109). Als científicos wurde der Machtzirkel um Porfirio Díaz bezeichnet, der das zentralistische Monopol für eigene Zwecke zu nutzen wusste. In der Wahrnehmung der Zapatisten waren die científicos als Befürworter der Kapitalisierung des mexikanischen Grundes (agiotaje) die größten ideologischen Feinde der Landreform.

237

238

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Hacendados offengelegt, der aus dem Kräftemessen der politischen Antagonisten Profit zu schlagen weiß. Mit den Zapatisten stößt Rosalío Mendoza mit Mezcal »Por el triunfo de la revolución« (10:12) an. »La verdad es que he consagrado mi vida y mi dinero a la causa de la revolución, más que me fusilen« (11:10) bekennt sich der Gastgeber, nur um im nächsten Zug ausrangierte Waffen der reaktionären Landgendarmerie der Rurales an den gutgläubigen zapatistischen General zu verhökern. In der darauf folgenden Sequenz sitzt er bereits mit dem Coronel der Landpolizei bei einem Cognac am selben Tisch und kanzelt die Zapatisten als »bandidos« (13:22) ab, deren Untergang er herbeisehnt und als listiger Doppelagent auch aktiv befördert. Das große Thema des Verrats, mit dem Fernando de Fuentes sich an die korrumpierte mexikanische Revolution erinnert, wird anhand der »improbable amistad«101 konstruiert, die Don Rosalío Mendoza mit dem zapatistischen General Felipe Nieto knüpft. Ihre Ideale sind zwar diametral entgegengesetzt, jedoch werden die Gegensätze in einer als locus amoenus stilisierten Hacienda aufgehoben. Die Doppelmoral von Mendoza gipfelt im Verrat am Zapatisten, der ihn zuvor vor dem ›flammenden Schwert‹ der revolutionären Standjustiz gerettet hatte. Felipe Nieto war es nämlich, der Rosalío Mendoza vor seinen zapatistischen Waffenbrüdern in Schutz nimmt, als diese den Hacendado während seiner Hochzeit überfallen und als »científico y reaccionario« (30:01) vor Ort hinrichten wollen (Abb. 71). Eine wichtige Rolle spielt für die Vertrauensbildung auch das Kind des Compadre Mendoza, zu dessen Taufpaten er just den General Felipe Nieto wählt. Der kleine Felipito ist nicht nur das Bindeglied, das den compadrazgo zwischen einem modernen Lehnsherren und einem freien Bauern bedingt, sondern auch das Symbol für die ungewisse Zukunft des Landes zwischen der Charro-Tradition und dem verehrten zapatistischen Taufpaten. Bei den Treffen des Patenonkels mit seinem Patenkind wird Rosalío Mendozas Hacienda als ein mexikanisches Arkadien dargestellt, in welchem sich ideologische Gegensätze in der utopischen Verbrüderung einer pastoralen Gesellschaft auflösen. »Como que jugando con él«, wendet sich der Namenspatron an die stolzen Eltern, »me olvido de federales, de carrancistas, de revolución y de todo« (40:00) (Abb. 72). Es ist auch der Ort an welchem die Visionen des Zapatisten als revolutionäre Sozialromantik ausgestellt werden, die freilich vom Machiavellismus der mexikanischen Geschichte zermalmt werden sollte: »Algún día que triunfe el Plan de Ayala y todo esté en paz, y los campesinos seamos dueños de nuestras tierras, puede que hasta nos dé gusto acordarnos de todo esto« (34:34). In diesem Geständnis wird die Hacienda-Ordnung, an die sich Felipe Nieto in Zukunft wehmütig erinnern möchte, begraben und damit auch der Wohlstand von Rosalío Mendoza, der im Reaction-Shot das Zukunftsbild des Zapatisten mit einem angestrengten Seufzer kommentiert. In familiärer Atmosphäre offenbart der Revolutionsgeneral die politischen Ideale des Zapatismus, die Rückkehr zu den Wurzeln und einer ursprünglichen Klassenlosigkeit – Idealisierungen de Vergangenheit, die Octavio Paz ganz allgemein in der revolutionären Mythomotorik aufdeckt:

101

Tuñón 2010, 227.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 71: »Con el dueño de la hacienda no te metas« (30:30), befiehlt Felipe Nieto seinem Waffenbruder. Der zapatistische Compadre wird so zum Schutzschild des Hacendados gegen die ›bola‹, die in den Haciendas Zielscheiben der revolutionären Vendetta ausmacht. Abb. 72: In der arkadischen Zeitlosigkeit der Hacienda Santa Rosa nimmt General Felipe Nieto das Patenkind auf den Rücken, implizit aber auch eine historische Bürde, die er außerhalb der Hacienda Santa Rosa bitter bekämpft.

En todas las revoluciones hay ese impulso de regreso a un pasado que se confunde con los orígenes de la sociedad. Un pasado en el que reinaban la justicia y la armonía, violado por los poderosos y los violentos. Las revoluciones son las encarnaciones modernas del mito de regreso a la edad de oro.102 Im überhistorischen Erinnerungshorizont von Nieto als Sprachrohr des Zapatismus wird die Rebellion gegen die ungerechte mexikanische Wirtschaftsordnung eingereiht in eine Teleologie des utopischen Kommunitarismus103 , dessen Goldenes Zeitalter gerade nicht in präkolumbinischen Pyramiden eingebettet ist, wie es das postrevolutionäre nationale Erwachen nahelegte, sondern in einer territorialen Loslösung von jeglicher imperialen Dependenz, sei sie nun spanischer, französischer oder US-amerikanischer Herkunft. Es mutet daher nahezu grotesk an, dass Felipe Nieto seine egalitären Visionen an einem Ort eröffnet, an dem viele Jahrhunderte lang eine statische Ständegesellschaft vorherrschte. Wie im Film letztlich suggeriert wird, muss die Hacienda dem Zapatisten als Zukunftsmodell und Heimatbegriff verwehrt bleiben. Seine riskante Aufrichtigkeit in der Hacienda resultiert aus Don Rosalíos volksnahem Charisma, dem don de gente, der Felipe Nieto vom gesellschaftlichen Stigma der »viciosos, degenerados, criminales e imbéciles«104 freispricht, wie die nach Freiheit strebenden Bauern im Porfiriat bisweilen bezeichnet wurden. Mit Hilfe des scheinbar aufgelösten ideologischen Antagonismus in der Hacienda lässt der Regisseur den Zapatismus über seine eigenen Defizite berichten, denn der geständige Bauerngeneral deutet an, dass die Ideale des Bauernaufstandes an der Kontingenz der Revolution zerschellen und dem familiären Idyll innerhalb der Hacienda 102 Paz 2016a, 457f. 103 Vgl. Ebd., 460. 104 Zit. in Pérez Montfort 2005, 61.

239

240

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

zuwiderlaufen. Wenn er nämlich die bola als ein uneinheitliches Kollektiv bezeichnet, das von einem schwach differenzierten Willen motiviert sei und sich folglich einem größeren historischen Wandel versperre (34:05), wird die Revolution als eine kollektive Aufsässigkeit delegitimiert, die die zivilisatorischen Errungenschaften Mexikos gefährdet.105 Gleichzeitig wird die Hacienda zum Ort, an welchem der bewaffnete Barbar, der »Hombre Prehistórico con Cananas«106 domestiziert werden kann. Der Quietismus den der General in der Hacienda Santa Rosa vermutet – »Entre ustedes, palabra que me olvido de todo. Me parece que estamos en paz y me entran unas ganas de descansar« (34:20) – erweist sich als verhängnisvoller Irrglaube. denn er wird vom Hacendado, nachdem das zum Verkauf bestimmte Getreide bei einem Sabotageakt der Zapatisten vernichtet wird, an einen Coronel der Carrancistas ausgeliefert und damit an die konstitutionalistische Soldateska, die Emiliano Zapata in seinem offenen Brief an Venustiano Carranza kurz vor seinem tragischen Tod noch als »Geißel der Dörfer«107 bezeichnet hatte. Die Hacienda Santa Rosa wird damit in die Nähe einer eindeutigen historischen Sinnfolie gerückt. Der Tod des Protagonisten ist die Figuration der tragischen Biographie von Emiliano Zapata selbst, denn ähnlich wie der Caudillo del Sur in der Hacienda de Chinameca einem perfiden Hinterhalt zum Opfer fiel, wird auch der General Felipe Nieto von einem vermeintlichen Überläufer der Regierung in einer Hacienda gestellt und heimtückisch von einer Gewehrsalve hingerichtet. De Fuentes scheint indirekt auch eine Erklärung für die überraschende Leichtsinnigkeit Zapatas zu liefern. Mehr als die Suche nach starken Verbündeten ist es die Sehnsucht nach einer organischen Ursprungsgesellschaft die den Zapatisten in die tödliche Falle der zeitlos-arkadisch anmutenden Hacienda lockt. Wenn der Compadre Mendoza in der tragischen Nacht, in der die Hacienda als unheilvoller Ort der mexikanischen Geschichte bestätigt wird, sein Glas auf die Zukunft und den Triumph des Plan de Ayala erhebt (1:07:37), ist es lediglich der zynische Judaskuss, der die Auslieferung seines Gasts zementiert. In de Fuentes Aufarbeitung der mexikanischen Revolution spielt der Hacendado die Rolle eines Opportunisten. Dabei wird die Hacienda nicht wie bei Eisenstein als ein Monolith des feudalen spanischen Erbes bewertet, sondern als ein florierendes kapitalistisches Unternehmen hinter einer traditionsbewussten Fassade. El compadre Mendoza betont in diesem Zusammenhang, dass die neue rurale Oligarchie sich in einer ideologischen Bredouille befand und zum Paktieren mit den unterschiedlichsten Lagern verdammt war. Dass die doppelten Standards des Compadre Mendoza in einer Tragödie enden, unterstreicht die Dekadenz des Hacienda-Systems während der Revolution. De Fuentes nimmt auch eine nüchterne Bewertung der angestrebten Landreform als prima causa der Revolution vorweg, die Alan Knight in seiner späteren Revision der gänzlich in den Bereich der politischen Rhetorik verbannen sollte: The smarter landlords, in particular, realized that their best defense against peasant agrarianism was to colonize the revolution itself, that is, to ally with opportunist revo-

105 Vgl. Tuñón 2010, 227. 106 Monsiváis 1988, 1510. 107 Vgl. Tobler 1984, 349.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

lutionary leaders – who abounded – and/or to make a display of spurious revolutionary commitment.108 So wie die spanischen Kolonisten die »huesos y nervios«109 der Republik gebildet haben, gehen die Großgrundbesitzer mit der Zeit und dominieren auch im 20. Jhd. die mexikanische Gesellschaft. Gerade die Assimilationsfähigkeit des Compadre Mendoza an die gegensätzlichen Gebote der Zeit scheint der polemischen Einschätzung von Carlos Monsiváis zu entsprechen, der den sozialen Typus des Opportunisten als »seul vrai vainqueur de la Révolution«110 herausstellt. Mehr denn ein stolzer Hegemon, den die getäuschten Zapatisten anfangs als »muy macho« (11:22) bezeichnet hatten, wird der Compadre Mendoza zum Überlebenskünstler der mexikanischen Revolution, der mit jovialer Zungenfertigkeit abwenden kann, von den mexikanischen Jakobinern an einem Baum aufgehängt zu werden, wie etwa der Huertista Coronel Martínez, der zu Beginn des Films noch eine Vertrauensperson der Hintertür-Diplomatie in der Hacienda gewesen war (Abb.  73). Der Hacendado überlebt im ideologischen Kreuzfeuer, der Preis für den Verrat ist jedoch die Hacienda selbst, die Rosalío Mendoza ihrem eigenen Schicksal überlassen muss. Während die carrancistas den ermordeten General an der großen Eingangspforte der Hacienda aufhängen.

Abb. 73: Rosalío Mendoza – der zerknirschte Hacendado nach dem Verrat an seinem ›compadre‹ und vor der Flucht in die Anonymität der Stadt. Abb. 74: Zunächst noch ein Sehnsuchtsort, wird die Hacienda Santa Rosa zum Schafott für den zapatistischen General Felipe Nieto und seine egalitären Ideale.

3.2.2.

Mnemotopie der mauvaise conscience

Das Scheitern der Zapatisten wird in El compadre Mendoza unzweideutig mit dem in der Hacienda gehängten Felipe Nieto in der Koda des Films versinnbildlicht (Abb. 74). Dafür wird bei de Fuentes nicht die Übermacht der Landoligarchie verantwortlich gemacht, sondern die Anpassungsfähigkeit des kapitalistisch orientierten Hacendados, 108 Knight 1990, 228. 109 Chevalier 1956, 109. 110 Monsiváis 1992, 145.

241

242

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

der die Gunst der Stunde in Mexiko zu nutzen wusste. Der Film ist auch bei dieser intuitiven Diagnose der Zeit sehr nah an der einschlägigen Einschätzung der Historiographie. Stellvertretend hierfür sieht der Historiker Alan Knight im rhetorisch maskierten Fortbestehen porfiristischer Grundsätze einen bedeutenden Hinderungsgrund für Veränderungen der Landbesitzverhältnisse in Mexiko: Even incumbent local elites, Porfirian leftover or revolutionary parvenus began to speak in tongues, flaunting a rustic populism which contrasted with the xenophile elitism of the old Porfiriato.111 Der ländliche Populismus, der im urbanen catrín Atenógenes einen Prügelknaben ausgemacht hatte, ist letztlich auch die Ursache für die korrumpierte mexikanische Revolution in der die Ideale entwertet sind und der Pragmatiker über den nostalgischen Idealisten triumphiert.112 Wenn also Felipe Nieto den carranzistischen Coronel als Heuchler bezeichnet, ahnt er nicht, dass der eigentliche »jijo de viejo marrullero« (1:09:30) sein Intimus und Gönner Rosalío Mendoza ist, der ihn mit rhetorischer Raffinesse in die Falle lockt. Im Hinblick auf das mnemotopische Potenzial des Films muss man hierbei die Direktadressierung als Stilmittel hervorheben, mit dem der Regisseur seinem Film eine überzeitliche Geltung verleihen konnte. Nachdem der Hacendado sich nach einer schlaflosen Nacht dazu durchringt, seinen Compadre auszuliefern, die Hacienda zu verlassen und in die Stadt zu fliehen, löst er den Hausstand auf und bringt seine Familie in Sicherheit. Von der Hacienda-Gesellschaft bleibt nur noch die gehörlose Hausdienerin übrig, die den perfiden Plan von den Lippen des carrancista abliest, mit dem Mendoza letztlich die verräterische Allianz bildet. Wie es Román Domínguez Jiménez 70 Jahre nach der Premiere des Films hervorhebt, habe die Hacienda-Tragödie ihren Schlüsselmoment im Blick der stummen Zofe, der Kronzeugin des Verrats: Si no fuera por este breve momento en que la criada abruma al patrón con su vista, El compadre Mendoza seguiría siendo, desde muchos puntos de vista, una película memorable, pero no tendría la fuerza para convocarnos a una cita con nuestro pasado.113 Mehr als die Einstellung in der das Schuldbewusstsein des Hacendado mit einem langen Blick in die Kamera auf den Zuschauer übertragen wird (Abb.  75), ist es der anklagende Blick einer Subalternen in Detailaufnahme, der das historische Gedächtnis nachhaltig einzufordern vermag (Abb. 76). Genau hier entfaltet sich der Gegenwartsbezug der Mnemotopie am stärksten. Der mahnende Blick einer stummen Zeugin symbolisiert die zeitresistente Anklage gegen das mexikanischen Hacienda-System aus einer beobachtenden, gleichsam ohnmächtigen Perspektive des historischen Rückblicks.

111 112

113

Knight 1990, 240. In ähnlicher Weise lässt bereits Mariano Azuela in seinem stilbildenden Revolutionsroman Los de Abajo den curro Luis Cervantes, einen dandyhaften revolutionären Idealisten, überleben, während der rebellische Bauernführer Demetrio Macías sterben muss. In der Filmadaptation von Chano Urueta (1939), die in eine Zeit des historischen Schließungsbedürfnis fällt, wird Cervantes hingegen wie auch all die anderen Aufständischen der Revolution geopfert (vgl. de los Reyes 2016, 144). Domínguez 2015, 72.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 75: Der qualvolle Blick in die Kamera ist eine Direktadressierung des Zuschauers, die um Empathie mit dem Hacendados in Handlungsnot buhlt. In der folgenden Parallelmontage wird Rosalío Mendoza die Hände schuldbewusst vor sein Gesicht schlagen, während sein Compadre im Off erschossen wird. Abb. 76: Im Close-Up des Zeugenblicks offenbart sich eine Anklage, die den Zuschauer adressiert und sich auf einen maximalen ›hors-champ‹ erstreckt – jenseits der Hacienda im räumlichen, jenseits der Revolution im zeitlichen Sinne (vgl. Domínguez 2015, 73).

Der anonyme, subalterne Blick auf die mexikanische Hacienda fusioniert mit der Perspektive Zapatas als Sprachrohr der Namenlosen, der noch kurz vor seiner Ermordung an seinem Kampf gegen die rurale Asymmetrie festhielt und im März 1919 folgende Diatribe an den neuen Revolutionsprimus Venustiano Carranza richtete: Niemals haben Sie auch nur den Gedanken gehabt, daß die Revolution für die breiten Massen Verbesserungen bringen solle, für jene gewaltige Legion der Unterdrückten, die Sie und die Ihren mit Ihren Predigten aufwiegelten. […] Im Agrarbereich sind die Haciendas an Generäle oder Günstlinge abgetreten oder verpachtet, die alten Latifundisten der Großbourgeoisie in nicht wenigen Fällen durch moderne Grundbesitzer ersetzt, welche Epauletten Képi und eine Pistole am Gürtel tragen; die Dörfer sind in ihren Hoffnungen betrogen. Weder werden die Ejidos den Dörfern zurückgegeben, welche in ihrer überwiegenden Mehrheit enteignet bleiben, noch wird Land an die Werktätigen, die armen und wirklich bedürftigen Campesinos, verteilt.114 Genau diese historischen Kontinuitäten, die Zapata im Hinblick auf die Landverteilung anprangert, werden im Film, der etwa 14 Jahre später entstand, verwertet. De Fuentes lässt zwar im polyphonen Geschichtsbild von El compadre Mendoza die Letztbegründungen der Revolution in der Schwebe und den Zapatismus zwischen einer causa justa und einem rebellischen bandolersimo oszillieren. Seine Sympathie gilt dennoch dem tragischen Helden Felipe Nieto, einer historischen Postfiguration, mit der er einen impliziten Nachruf auf Emiliano Zapata vorlegt. Ein weiteres Mal diskreditiert als Schattenort des politischen Verrats wird die Hacienda in El compadre Mendoza zu einem

114

Zit. in Tobler 1984, 348.

243

244

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

gesellschaftsübergreifenden Mahnmal, das auch eine retrospektive mauvaise conscience der postrevolutionären Hegemonie in Mexiko präsent zu halten vermag. Im Hinblick auf das Überlieferungspotenzial von El compadre Mendoza ist es hierbei notwendig darauf hinzuweisen, dass das Thema des Verrats, das sich in der Hacienda Santa Rosa vollzieht, mit einem historischen Erklärungsmuster arbeitet, das in der Desencanto-Literatur zur Revolution bereits in ihrem Urtext Los de abajo Verwendung fand.115 Wenn nun eine nüchterne Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit für das Schriftmedium stilbildend gewesen sein mag, so erwies sich die kritische Reflexion im Filmmedium, das unter ungleich größerem Erfolgsdruck stand, als großes finanzielles Wagnis. In den kritischen Rückholungen, die de Fuentes in der Revolutions-Trilogie anbietet, werden unangenehme Erinnerungen abgerufen und Erkenntnisse angeboten, die kaum mit dem Zeitgeist der gesellschaftlichen Homöostase im nachrevolutionären Mexiko kompatibel waren.116 Es ist bezeichnend, dass die Blütezeit des mexikanischen Kinos erst mit Allá en el Rancho Grande (1936) beginnt, in welchem Fernando de Fuentes das nationale Geschichtsbild von ideologischer Brisanz freispricht. 1933 befindet sich die mexikanische Filmproduktion aber erst an der Schwelle zur industriellen Hochkonjunktur und den Kanonisierungsprozessen eines massenwirksamen mexikanischen Kinos. Die präindustrielle Filmproduktion in Mexiko fällt auf eine Zeit, in welcher die traumatischen Erinnerungen an die Revolution noch frisch waren und die Vergangenheitsbewältigung erst im Zuge des Generationswandels zu einem kollektiven Bedürfnis wurde. Die Revolutionsdarstellung von El compadre Mendoza entfällt damit auf eine Übergangsphase, die Jan Assmann in seiner Studie zum kulturellen Gedächtnis als »floating gap«117 bezeichnet, einer Periode, in welcher das kommunikative Gedächtnis der Zeugengeneration sukzessive von einem kollektiven Gedächtnis der Spätgeborenen abgelöst wird. Im postrevolutionären Mexiko lässt sich anhand der filmischen Erinnerungsarbeit beobachten, dass eine vom Bürgerkrieg und umfassenden Modernisierungsprozessen betroffene Generation erst im Dialog mit den nachfolgenden Generationen die Revolution als historischen Umschlag interpretierte, der das ganze Land zur Neubesinnung aufforderte. Und doch ist es auffällig, dass die klassische Fixierung, die bei Jan Assmann ein saeculum oder drei bis vier Generationen in Anspruch nimmt, sich im nachrevolutionären Mexiko bereits nach einer Dekade zu vollziehen scheint, was zum einen auf die Beschleunigung historischer Periodisierungen in der Moderne hinweist und in stärkerem Maße auf die gedächtnispolitischen Interventionen in gesellschaftliche Überlieferungsprozesse in der Ära massenwirksamer Audiovision. El compadre Mendoza entsteht in einer Zeit, in der eine ortssemantische Polyglossie des Kulturbetriebs118 noch greifbar war und bevor eine Kanonisierung des historischen Sinns zum Zwecke der Revolutionsbewältigung auch das Intonationsinventar der Hacienda-Darstellungen eingeschränkt hatte. An der Revolutions-Trilogie von de Fuentes wird evident, dass die erste postrevolutionäre Generation bei ihrem Umgang

115 116 117 118

Vgl. Dessau 1967, 142. Vgl. Mecke 2016, 100f. Vgl. J. Assmann 2013, 48f. Vgl. Lotman 2004, 92-96.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

mit den Schatten der Vergangenheit noch keinen habitualisierten Geschichtsbildern folgen konnte und sich mit schonungsloser Epik an die Revolution erinnerte, die dem Bürgertum wie eine tobende Naturgewalt gegenüberstand. Wie Julia Tuñón in ihrer Analyse des Standpunkts von de Fuentes schreibt, ist der Blickwinkel seiner Trilogie zur Revolution entsprechend desde la familia, como seguramente la vivió la clase media y la pequeña burguesía a la que pertenecía el director: con impotencia, marginada de las decisiones, tratando de salvar las vidas personales y las posesiones. La versión De Fuentes hace énfasis en las continuidades, la corrupción, la traición, la falta de ideales, el poder excesivo y la desinformación. No vemos en estas cintas la exaltación del triunfo sino la desilusión y el desgarramiento. En ellas, De Fuentes parece estarle preguntando a su público espectador: ¿y a usted, cómo le fue?119 In der bürgerlichen Rahmung des kollektiven Gedächtnisses zur Revolution bieten die filmischen Gedächtnisnarrative des Regisseurs damit eine alltagsgeschichtliche Approximation an die revolutionäre Ereignisgeschichte, in der die ganze Gesellschaft zum Opfer anarchischer Zustände erklärt wird. Das Gefühl kollektiver Ohnmacht, das eine Sehnsucht nach politischer Klarheit und Stilllegung einer retroaktiven historischen Semiose auslöst, lässt sich in der Revolutionsdarstellung im mexikanischen Film der Folgezeit häufig auffinden. Ein Beispiel dieser defensiven Reflexe im kollektiven Bewusstsein ist Juan Bustillo Oros Film mit dem sprechenden Titel Vino el remolino y nos alevantó (1950), der eindrücklich symbolisiert, wie die Kontingenzen der mexikanischen Geschichte in alltagsgeschichtlicher Übersetzung zu nationalen Mythen werden. In diesem Zusammenhang wird weiter unten am Beispiel von Flor silvestre (1943) gezeigt, wie die Filmindustrie zu einem habitualisierten Geschichtsbewusstsein beitrug und damit einer konziliatorischen Gedächtnisstiftung in der Populärkultur Vorschub leistete. Im Falle von El Compadre Mendoza wird der Katastrophenbericht jedoch mit einer realhistorischen Sinnfolie, der tragischen Geschichte von Emiliano Zapata, unterlegt und löst mit diesem historischen Exempel das politische Unbewusste aus seinem impliziten, reizarmen Gedächtnis. In der Darstellung der Hacienda als bedrohte und ersehnte Heimat, steht die tragische Sehnsucht des Bauerngenerals nach einer organischen Heimat als eine Erinnerung von unten120 hervor und verleiht dem Film eine tendenziell subversive Stimmung. Im Sinne eines kollektiven Memento sind auch die Worte, die der General Felipe Nieto bei seinem letzten Besuch in der Hacienda Santa Rosa an Dolores Mendoza richtet, der Gattin des Hacendado, zu der er eine heimliche Liebe hegt, nebenbei natürlich auch an den Zuschauer, der aus der Perspektive der criada die Hacienda als Falle dechiffriert: »Cuando sepa que me acabé por allí, cuando me hayan matado y colgado mi cuerpo, no me olvide« (1:07:00). Wenn Eisenstein nun in Maguey die Revolution in der Hacienda mit der Sakralisierung der Bauernopfer beginnen lässt, vollzieht sich bei Mendoza just ihr Scheitern am selben Ortstypus und weist auf die Inkonsistenzen der nationalen Bürokratisierung der Revolution hin, die das politische Alltagsgeschehen im 119 Tuñón 2010, 233. 120 Vgl. Santner 1990, 90.

245

246

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

postrevolutionären Mexiko charakterisieren sollten.121 Das filmisch verfertigte Narrativ des historischen Verrats korrespondiert dabei nicht nur mit einem makrostrukturellen Gedächtnis einer verratenen Revolution im Gegensatz zum zentralstaatlich propagierten Selbstverständnis der institutionalisierten Revolution ab den 1930er Jahren, sondern trägt auch zu einem Memory-Building bei, das zu einem frühen Zeitpunkt eine »Wiederkehr des Verdrängten«122 katalysiert. Damit verweist de Fuentes noch einmal auf ein historisches Kapitel, das als ein kollektives Trauma ausgelegt werden muss und zu verstehen hilft, warum die Auseinandersetzung mit den Ursachen der Revolution während der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940) aus den Filmen verbannt und die Hacienda um die traumatischen Narrative der revolutionären Topoklastik zu Gunsten eines romantischen Nationalismus bereinigt wurde. Zweifelsohne muss man mit Carlos Monsiváis die topologische Resistenz der Hacienda als Überlieferungsvorlage der kolonialen Vergangenheit auch in den Geboten des kinematographischen Ökonomieprinzips suchen, namentlich im gesellschaftlichen Desinteresse an kulturpessimistischen Rekursen auf die Revolution, die in El compadre Mendoza noch deutlich vorhanden waren: Los hombres rectos y nobles han sido liquidados por caudillos y logreros. En cine la obsesión no reditúa: no son muy taquilleros el desencanto y el escepticismo, la amargura y las dudas sobre la utilidad de la acción […] Esas implacables morosas discusiones sobre el derecho laboral o la tenencia de la tierra destruirán cualquier clientela, de adentro o de afuera y es preferible resolver (condensar y diseminar) la Revolución en unas cuantas imágenes-shock. Esto es válido incluso para el nacionalismo cultural de la década siguiente, que verá en la Revolución fundamentalmente un ámbito dramático y un tema estético.123 Doch bei all der Plausibilität der marktwirtschaftlichen Korrektive in Prozessen des kollektiven Memory-Building, muss man in der fehlenden Nachfrage nach kontrapräsentischen Gedächtnisnarrativen auch eine bewusste Vernachlässigung erkennen mit der die Varianz der Geschichtsbilder gebändigt wird.124 Mit wachsender Distanzierung und Erkaltung der filmischen Gedächtnisarbeit wandern die kollektiven Traumata, die sich in der Mnemotopie der Haciendas eingelagert finden, in ein »verdrängtes

121

Hierzu eignet sich der zeithistorische Essay »Remache: burocracia y democracia en México« in dem Octavio Paz die schleichende Bürokratisierung der Revolutionsideale aufs Korn nimmt: »Cada nueva nacionalización«, schreibt er im Hinblick auf die postrevolutionäre Inflation des Staatsapparates, »ha fortificado no a los obreros ni a la nación sino a la burocracia.« (Vgl. Octavio Paz 2016c, hier: 500.) Gleichwohl weist Paz auch die unbedingte Fortführung revolutionärer Expansionsbestrebungen von Trotzki zurück, der just im mexikanischen Exil seine Studie Die verratene Revolution (1936) verfasst hatte, in der er mit dem »Sowjetthermidor« abrechnet. 122 Sigmund Freuds prominente, individualpsychologisch grundierte Vorstellung von affektökonomischen Verlagerungen wird in kollektiver Rahmensetzung wieder aufgegriffen bei J. Assmann 2005, 371. 123 Monsiváis 1988, 1511f. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Scheitern der Revolutionstrilogie in kommerzieller Hinsicht liegen vor in Pick (2010) und Mecke (2016). 124 Vgl. J. Assmann 2013, 123.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Gedächtnis«125 ab. So erklärt sich, dass die negativ besetzten Haciendas in der nationalen Filmkultur sukzessive in ein kulturelles Speichergedächtnis ausgelagert werden und einer »kognitiven Ausblendung«126 anheimfallen. Diese Umwertung der filmischen Hacienda-Semantik wird vorangetrieben, während den gefallenen Revolutionsfürsten Monumente errichtet werden, die ein diffuses Gedächtnis in einer desambiguierten historia de bronce (Luis González) auffangen und damit eine erneute kollektive Identitätskrise beizulegen versuchen, die im Zuge der schleichenden Entwertung überkommener ruraler Traditionen immer größer wurde. Die Offenheit von El compadre Mendoza im Sinne einer Multidirektionalität der ortsgestützten Gedächtnisnarrative sollte auch die Ausnahme aus einer Schwellenzeit darstellen, in welcher eine mémoire-patrimoine (Nora) die Hypertrophie revolutionärer Ereignisse noch nicht domestiziert hatte. Doch gerade die thematisierte Vielschichtigkeit der Mnemotope macht die Pionierwerke vor dem Hintergrund der späteren Patrimonialisierung der mexikanischen Filmkultur zu »pilares absolutos de la historia del cine mexicano«127 . Es mussten allerdings noch zwei Jahre verstreichen ehe de Fuentes eine filmische Hacienda-Darstellung vornahm, die kompatibler mit dem postrevolutionären Zeitgeist gewesen zu sein schien und eher die Kompensation der erlebten Verlusterfahrungen verfolgte. Im Gegensatz zu kulturellen Texten des kollektiven desencanto erfreuten sich Narrative, in welchen die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der Revolution verdrängt waren, einer ungleich größeren Popularität. Wenn wir im nächsten Schritt einen Blick auf Allá en el Rancho Grande (1936) werfen, ein Film der modellbildend für zahlreiche in der Folgezeit produzierte comedias rancheras war, erscheint die Hacienda bereits im euphemistischen Gewand des Rancho und folglich in einem ganz und gar nicht polemischen Licht, sondern eher im Schlüssel nostalgischer Epik, die den Geist des Porfiriats retrospektiv wiederaufwertet. Jene »wohltuende Langsamkeit der longue durée«128 sorgte in Mexiko für die kuriose Antizyklik gesellschaftlicher Kompensationsmechanismen – eines filmisch popularisierten kulturellen Gedächtnisses, bei dem die Verdrängung oder Habitualisierung der historischen Brucherfahrung restaurative Impulse der Gesellschaft spiegelt und die Hacienda wieder zum Hort der »arcadia bucólica«129 werden lässt, die in El compadre Mendoza noch aus dem politisch Unbewussten gehoben und in Frage gestellt wurde.

125 126 127 128 129

Zum kulturellen Gedächtnis im Zusammenspiel mit einem kollektiv tradierten Unbewussten vgl. J. Assmann 2005, 368-392. J. Assmann 2005, 370. Vgl. Mecke 2016, 92. Boucheron 2016, 5. García Riera 1969, 131.

247

248

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

3.3.

Allá en el Rancho Grande (1936)

3.3.1.

Die kalte Mnemotopie des Heimatfilms

Es ist allemal denkwürdig, dass ausgerechnet Fernando de Fuentes, der zunächst noch bedeutendster Vertreter des mexikanischen Revolutionskinos war, zum Pionier »de esa gran falsificación histórica« wurde »que es el drama musical ranchero mexicano«.130 Und dennoch markiert ausgerechnet Allá en el Rancho Grande einen Umschlag im nationalen mexikanischen Kino, wenn man sich das modellbildende Nachleben und die selbstbildformende Bedeutung des Films vor Augen führt.131 Als eine »eulogy to rural submissiveness«132 , wie Carlos Monsiváis den Film beurteilt, markiert der Prototyp der comedias rancheras auch eine Speerspitze vieler kultureller Texte, die eine Umstiftung des kollektiven mexikanischen Gedächtnisses zur Hacienda in die Wege leiten und eine Versöhnung mit dem Wertekanon der vorrevolutionären Zeit anstreben. Mit der Hacienda »el Rosario« in Azcapotzalco wählte der Regisseur für den späteren Inbegriff der comedia ranchera denselben Drehort wie bereits bei El compadre Mendoza und dennoch hätte die Gedächtnisstiftung der Hacienda-Mnemotopie kaum konträrer zu den vorhergehenden Einschätzungen des Regisseurs ausfallen können, die noch frische, kontroverse Erinnerungen an eine zunehmend verdrängte, »beschwiegene«133 Vergangenheit abzurufen versuchten. Nach dem mäßigen kommerziellen Erfolg der Revolutionstrilogie, die symptomatisch für eine euphorische Anfangsphase des mexikanischen Tonfilms gesehen werden kann, landete der Regisseur mit einer kostumbristischen Darstellung der Hacienda-Gesellschaft einen unvorhergesehenen Erfolg in der mexikanischen Filmgeschichte und löste einen Boom von Filmen aus, die das Erfolgsmodell nachzuahmen versuchten. Infolge von Allá en el Rancho Grande (1936) wurden auch in vielen anderen Filmen Sujets, die in der Tradition der Sainetes, Zarzuelas und des Varieté-Theaters standen, in die mexikanische Hacienda eingebettet. Graduell wurde so ein ländlicher Kostumbrismus kanonisiert, der auch einen nachhaltigen Niederschlag im kollektiven Gedächtnis Mexikos sowie Iberoamerikas fand.134 Die Nähe zum spanischen Unterhaltungstheater offenbart sich dabei in einer Formel für die bäuerliche Komödie, die Aurelio de los Reyes in einer poetologischen Linie mit Lope de Rueda (1505-1565) sieht, dessen volksnahen Komödien auch im 20. Jhd. ihre Gültigkeit Mexiko nicht einbüßen sollten: La comedia ranchera incorpora el gusto por el asunto jocoso, por la compilación fútil, por las temperaturas de superficie, por los enredos a base de malentendidos, por la resolución arbitraria de los conflictos sentimentales y cierta gracia verbal.135

130 131 132 133 134 135

Domínguez 2015, 72. Vgl. Díaz López 1996, 20-26. Monsiváis 1985, 238. J. Assmann 2005, 383. Vgl. Vidal Bonifaz 2011, 2. Zit. in: de los Reyes 1987, 144.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Die formalästhetische Nähe zu den spanischen Kulturimporten wurde auf mexikanischem Boden mit Elementen US-amerikanischer western musicals oder horse operas gekoppelt, die der sentimentalen Erdverbundenheit einen Unterhaltungswert beizumessen verstanden, der sich genauso in einen romantischen, folkloristisch verbrämten mexikanischen Nationalismus fügen ließ.136 Der blinde Passagier dieser formalen Anleihen war selbstredend auch die ideologische Sinnfolie eines stillschweigend affirmierten »régimen de castas«137 , der die Hacienda-Gesellschaft von jeher charakterisiert hatte, womit ein vermeintlicher Urzustand in den Provinzen in traditionsbewussten, wenn nicht gar vergangenheitsverklärenden Narrativen gespiegelt wurde: [La comedia ranchera es] un cine vuelto hacia el pasado. Incluso el presente es un tiempo perfectamente identificable con el pretérito. Una intemporalidad atrofiada predomina. Añora la belle époque del paternalismo porfiriano. Se arraiga en haciendas semifeudales donde la lucha de clases se resuelve en el agradecimiento y la generosidad. La mansedumbre del peón gracioso excita el arrepentimiento del patrón villano. Para que el espíritu del género se conserve alegre y dicharachero, el trabajo físico nunca resulta fatigoso; representa un entremés prometedor de renovados goces y domingos perpetuos. Es el paraíso recobrado.138 Der Landbetrieb als Dreh- und Angelpunkt dieser Komödien ist vor diesem Hintergrund sozialer Invarianz natürlich auch einer, der sich selbst mit aller Macht erhält, von steilen Machtpyramiden gekennzeichnet und einem ehernen Paternalismus unterstellt ist. Auch wenn es sich um Ranchos handelt, stehen die ruralen Gemeinschaften in einer eindeutigen topologischen Konkordanz zu den Haciendas, die als Begriff für revolutionäre Schattenorte aus dem Vokabular der volksnahen Heimatfilme verbannt wurden, wie bereits in der topogenetischen Heranführung erläutert wurde. Wenn nun in den serialisierten Miniaturformen der Haciendas die Gegenwart einer naturalisierten Zeitlosigkeit mit der Vergangenheit fusioniert und die Filmindustrie mit Hilfe einer massierten »imitación colonial«139 die Rückkehr in vorrevolutionäre Zeiten zu einer identitätsstabilisierenden Praxis erhebt, muss die drastische Abkehr der Populärkultur von der gesellschaftlichen Neuausrichtung des Cardenismo betrachtet werden als kompensatorische Gedächtnisfunktion, die die uneinholbare Vergangenheit zum Zukunftsideal werden lässt.140 Der Rückgriff auf »das Durchgängige«141 der mexikanischen Tradition bei den filmischen Fixierungen einer instabilen Identität, lässt sich daher eine bedeutungsvolle Verwerfung zu den Landreformen erkennen, die im Sexennium von Lázaro Cárdenas vorangetrieben wurden. Dass dieses Durchgängige, allem voran die Charro-Romantik des unbeschwerten Landlebens, hochgradig konstruiert war, wird in der Untersuchung der mexikanischen

Vgl. Schulze 2013, 225. Ausführlich zu den Anleihen und Charakteristika der comedia ranchera Ayala Blanco 1968, 64-70. 137 Ayala Blanco 1968, 68. 138 Ayala Blanco 1968, 67. 139 Monsiváis 1988, 1509. 140 Vgl. Rüsen 1994, 10f. 141 Rüsen 1994, 13. 136

249

250

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Folklorezeit nach Bachtin im folgenden Unterkapitel zu diskutieren sein. Zunächst soll jedoch die Hacienda-Darstellung des Films im Zeichen einer kalten Mnemotopie aufgeschlüsselt werden: Allá en el Rancho Grande lässt sich nämlich lesen – das sei vor der genauen Analyse vorweggeschickt – als ein Vehikel jener Widerspenstigkeit (recalcitrance) der Populärkultur gegen die sozialistischen Impulse unter Cárdenas, eine reaktionäre Grundstimmung, die Alan Knight in seiner Revision des nachrevolutionären Mexikos hervorhebt: Socialist realism was briefly essayed and rapidly discarded; during the 1930s, when socialist education and class conflict were the official watchwords, the Mexican film industry was churning out ranchero comedies and melodramas, celebrations of a rustic […] community which stood in sharp contrast to official ideology. The emergent mass culture stood in sharp contrast to the radical message of Cardenismo. And it was the emergent mass culture, rather than the radical message of Cardenismo, which pointed the way forward.142 Im Sinne einer frontalen Attacke auf die Agrarpolitik und die graduelle Verwandlung von Privat- in Gemeindeland (ejidos) versteht auch Aurelio de los Reyes die Emergenz von Allá en el Rancho Grande, wo die Hacienda als ein utopischer Mikrokosmos dargestellt wird und die Forderungen nach einer Landreform ihrer Dringlichkeit enthoben werden.143 Genau diese retrograde Ortslogik der kalten Hacienda-Mnemotopie wird bereits in der ersten Sequenz des Films etabliert, als die peones acasillados von ihren Hand- und Spanndiensten zurückkehren und am Hacendado vorbeiziehend in Routineformeln affirmativer Subalternität Rechenschaft über die Arbeit in den Feldern ablegen (»Con la venia patrón.«[…] »¿No manda nada su merced? […] »Con licencia Sr. amo.« (2:16-2:45)) (Abb. 77). Die Rolle des Gutsherrn als einer gutmütigen Vaterfigur für seine Untergebenen wird durch die Präsenz seines Sohnes unterstrichen, der früh in die Grammatik der Hacienda-Ordnung eingeführt wird (Abb. 78). »Estas buenas gentes nos quieren de veras, Felipe«, sagt der Vater seinem Erbfolgen nach dem Reverenz-Ritual der Bauer, »algún día cuando heredes esta hacienda como yo la heredé de mis mayores, sentirás la satisfacción que yo siento ahora, si sabes ser humano y compasivo con los que por nosotros dejan en el surco sudor, sangre y vida« (2:50). Mit seiner Replik macht der Hacendado kein Hehl aus dem Kastensystem auf dem die koloniale Ortslogik der Hacienda gründet. Im generationsübergreifenden Schulterschluss zwischen Vater und Sohn wird die Hierarchie des Ranchos als harmonischer Urzustand dargestellt. Der Vorteil, der den Hacendado alter Schule gegenüber den neuen Eliten Mexikos auszeichnet, ist dabei die als »benign hacienda paternalism«144 inszenierte Milde des Patrons, der sich seiner Verantwortung für die Bauernschaft unter seiner Ägide bewusst ist. »Pobres gentes«, sagt der mitfühlende Hacendado, nachdem er seinen Schuldknechten Almosen für eine Beerdigung überreicht

142 Knight 1990, 261. 143 Vgl. de los Reyes 1988, 145. Zur Bedeutung des Cardenismo bei der Formation der mexicanidad schreibt ausführlich Pérez Montfort (2008). 144 Knight 1991, 87.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 77: Die Heimkehr der Peonen eröffnet die eutopische Hacienda-Inszenierung, in der ein positiv konnotierter Paternalismus das mexikanische Hinterland prägt. Abb. 78: Der Ranchero und sein Erstgeborener. Das eherne Mayorazgo-Prinzip verdeckt im Rancho Grande die heftigen Sukzessionskonflikte während der Revolution.

hat. »Con esto va aprendiendo, hijo mío, como el dueño de un rancho tiene que ser para sus pobres peones padre, médico, juez … y a veces hasta enterrador« (6:16). War bei Eisenstein der Latifundist noch ein pater terribilis, der aufsässige Untergebene mit Hilfe seiner Leibgarde in den Tod befördert, so ist der Hacendado bei de Fuentes ein wohlwollender Hüter der Alltagsrituale innerhalb der Hacienda. In dieser Perspektive auf das mexikanische Selbstverständnis von oben wird die feudale Autonomie als große Bürde nachvollzogen und das Stigma der kolonialen Machtasymmetrie relativiert durch ein empathisches Gedächtnis an die harmonische Symbiose zwischen Herr und Knecht, die viele Jahrhunderte lang die mexikanische Gesellschaftsordnung dominiert hatte und die Octavio Paz als hartnäckige räumliche Trägheit auffasst, wenn er von einer »inercia indoespañola«145 spricht. Wenn nun die feudale Leibeigenschaft als »gran tradición mexicana«146 ab 1936 eine Renaissance feiert und der verfemte Hacienda-Topos eine Aufwertung erfährt, so in erster Linie deswegen, weil der Film mit der ruralen Typologie der loyalen peones acasillados sowie des »caporal ennoblecido por la obediencia«147 ein positives Gedächtnis an die Herrschaftspyramiden aufruft und an eine harmonische Subordination erinnert, die den Unterpfand für eine topologische Stabilität in Mexiko dargestellt hatte. An diese Interdependenz erinnert auch Alan Knight in seiner kritischen Auseinandersetzung mit einem notorisch überschätzten Klassenbewusstsein, das in vielen Erklärungsversuchen der mexikanischen Revolution dominiert. Auch hier ist die recalcitrance als Reaktion auf Innovationsimpulse zu verstehen, die gesellschaftliche Transformationen und Auflö-

145 Paz 2016a, 155. 146 Carreño King 2000, 50. 147 Monsiváis 1988, 1508. Der Autor weist ferner darauf hin, dass bereits der erste mexikanische Tonfilm Más fuerte que el deber (1931) das Leitmotiv des gehorsamen Untertans exemplarisch vorwegnimmt und das Domestikationspotenzial der comedia ranchera antizipiert, die den Zuschauer zu einem »respeto inalterable a la familia, la propiedad privada y el Estado« (ebd.) erziehen will.

251

252

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

sungserscheinungen der ruralen Ständegesellschaft in den Rang tiefgreifender Gesellschaftskrisen hebt: In the main, peones acasillados had good reason to stick with the hacienda. First, out of fear: the repressive capacity of the hacienda, now backed in some instances by »revolutionary« collaborators, was not entirely spent; the penalties of protest were often severe and, of course, hardly indicative of benign hacienda paternalism. But peon economic self-interest also counted. It is clear that some haciendas cultivated the support of their peons by offering perks and benefits, which might be particularly attractive in time of social and economic upheaval. Apart from overt paternalism – acts of charity, fiestas, relations of compadrazgo – the hacienda offered access to land, seed, animals, and credit. The secure dependence of the resident peon was often perceived as preferable to the precarious independence of the day laborer – the Yucatan »half-timer« or the migrant and temporary worker of central Mexico. If the resident peon was offered the choice, not between peonage and smallholding, but rather between peonage and day laboring, it is not surprising that many opted for peonage. Stripped of their secure but dependent status, as they were in Morelos, they became the »orphans of the hacienda«, cast adrift in a hostile universe.148 In dieser klassenübergreifenden Verschränkung, die in Maguey nachhaltig destabilisiert, und in El compadre Mendoza von einer »resistencia encarnizada«149 der freien Bauern aufgekündigt wurde, wird der domestizierte Knecht des Rancho Grande zum Garanten der kolonialen Gesellschaftsordnung. Wenngleich die Zerschlagung des Nepotismus und der Ständementalität innerhalb der Hacienda-Gesellschaft auf der politischen Agenda des Cardenismo stand, wurden die Schatten der Vergangenheit in ihrer filmischen Mediation immer stärker getilgt und gegen Vorlagen für empathisch geteilte Erinnerungen eingetauscht. Für die Diskussion der Innovationsresistenz der comedias rancheras ist es dabei bezeichnend, dass de Fuentes die eutopische Aufwertung der Hacienda zunächst in das Jahr 1922 legt, als die bürgerkriegsähnlichen Zustände vielerorts noch sehr frische Spuren im kommunikativen Gedächtnis getragen haben mussten. Emilio García Riera sieht in dieser Filmproduktion eine offenkundige Strategie der historischen Verschleierung, die gegen die reformatorischen Maximen der Zeit gerichtet war: Al situar su película en la actualidad (la acción comienza en 1922, cuando los personajes principales son aún niños), Fernando de Fuentes no deja lugar a dudas sobre el propósito implícito de la cinta. Se trata de huir de los Pancho Villa, de los compadres Mendoza, de la Revolución toda, y al mismo tiempo de un momento – el cardenismo – que da a la marcha del país una orientación inquietante. Esta huida significa el recobro de un universo feliz e idílico que la burguesía urbana gustaba de suponer existente: la arcadia bucólica cuyo mito la Revolución destruyó sin contemplaciones. Pero si ya se sabe que el campo mexicano no es eso, que en 1936 la Reforma Agraria es un hecho

148 Knight 1991, 87. 149 Meyer 1986, 481.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

real, el mito de la hacienda dichosa es mantenido celosamente por un cine al que el contenido de clase le aconseja el rechazo de la realidad.150 Mit der Inszenierung einer »hacienda dichosa« distanziert sich die filmische Gedächtnisstiftung von einer Auseinandersetzung mit der konfliktreichen Vergangenheit und optiert für eine eskapistische Rückbesinnung auf eine histoire quasi immobile, die zunächst noch in der Auseinandersetzung mit dem Porfiriat überwunden werden sollte. Einem Gedächtnisvektor folgend, der das unangenehme Revolutionskapitel verschleiern, ja aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängen soll, rückt die gedächtnispolitische Dimension des Films in den Vordergrund. In urbanen Milieus, wo comedias rancheras den größten Absatz fanden, waren die »provinziellen Erinnerungsräume«151 nicht nur sinnstiftend als Mnemotope einer verschollenen Heimat und biographische Orientierungshilfen, sie entfalteten auch ein volkspädagogisches Potenzial. Es ist hierbei bezeichnend, dass der Film keine konkreten lokaldeiktischen cues anbietet. Stattdessen wird die generische Ortsbezeichnung »Hacienda Rancho Grande« (39:12) als Eponym für all die mexikanischen Matrias eingeführt, die einer Idealisierung des in Mexiko abhanden gekommenen Heimatidylls in die Hände arbeitet. Ähnlich schwach markiert ist auch die Temporaldeixis, wenn man von den Jahresangaben 1922 und 1935 absieht, die eher die topologische Stasis des Hacienda-Systems bis in die Gegenwart unterstreichen. Die Verbannung des makrostrukturellen sozialen Kontextes aus dem Filmsujet leistet einer Mythisierung des Landlebens, darunter der Instrumentalisierung der Hacienda als Rückzugsort eines ewigen Mexikos Vorschub.152 In der Szene, die dem Sprung in die Gegenwart der Filmpremiere vorausgeht, sehen wir zunächst, wie der zukünftige Korporal auf ein Portrait emporblickt, das eben keinen nationalen Souverän oder Revolutionsführer wie in Maguey und El compadre Mendoza abbildet, sondern den Großvater des jungen Erbfolgers, der neben der »solidarité du lignage«153 , die Marc Bloch als Chiffre der feudalen Gesellschaft hervorhebt, auch den Patriotismus im Mikrokosmos konnotiert (Abb. 79). Mit der unhinterfragten Verbeugung des jungen Felipe vor der Tradition (»Yo no sé, así era costumbre aquí« (15:20)) wird auch der junge Untertan José Francisco in den Kodex der feudalen Ständegesellschaft eingewiesen (Abb. 80). Hiermit wird nicht nur die Autonomie des ländlichen Mikrokosmos unterstrichen, sondern auch die stabilitas loci, die sich in einem Ahnenkult repräsentiert findet, der unverbrüchlich im Schatten nationaler Ereignisse tradiert wird. Im Rückgriff auf die Ahnenreihe zur Stabilisierung des Hacienda-Regimes greift de Fuentes auf einen locus classicus der feudalen Ständegesellschaft zurück und auf die Genealogie als »ursprünglichste Form kultureller Mnemotechnik«154 schlechthin, mit der die turbulente Übergangszeit zwischen der Gegenwart und einer imaginierten Ursprungszeit überbrückt und die Krise des Hacienda-Systems ausgeblendet wird. Genau in diesem scheinbar nahtlosen Anschluss an das Ursprüngliche wird auch der Geltungsanspruch tradierter

150 151 152 153 154

García Riera 1969, 131. Vgl. Pethes (2015). Vgl. Ávila/de la Mora 2016, 125. Bloch 1982, 124. J. Assmann 2013, 50.

253

254

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 79: Der Caporal in spe blickt auf zum Portrait eines regionalen Ahnherrn und findet in der Hacienda Schutz vor historischen Transformationen. Abb. 80: Die Ahnentafel als Mnemotechnik der kalten Erinnerung: »¿Te acuerdas de los retratos de los abuelitos que te enseñé en la biblioteca? … Pues dice mi papá que todos han estado aquí.« (15:30).

Machtverhältnisse zementiert und die Gedächtnisstiftung einer kalten, die Veränderungen ausblendenden Gesellschaft emergent, die ihr Selbstverständnis in einer Besinnung auf die Vergangenheit konstituiert.155 Entsprechend wird auch die Mnemotopie der Hacienda im Film zum Träger einer »kalten Erinnerung«, die einem trägen, veränderungsresistenten Geschichtsbewusstsein zu Grunde liegt.156

Abb. 81: Das Früh-übt-sich-was-man-wird als Legitimation der ›tradición eterna‹: »Yo soy el patrón y tú eres el caporal«. Der Stempel in elliptischer Überblendung besiegelt die traditionelle Hackordnung des Hacienda-Systems, bagatellisiert die Revolution als leeres Zeitintervall und überlässt die Landreformen dem kollektiven Vergessen.

155

156

Luis González’ Beschreibung der patriarchalen Hacienda-Gesellschaft ist ein Modell, das sich in der comedia ranchera bestätigt findet, wenn man die Allmacht des Großvaters nach seinem Tod als normative Setzung der tradición eterna versteht: »Aquel ápice de personas formaba una pequeña sociedad de índole patriarcal. La célula social la constituía la familia chica, formada por el padre, la esposa, las hijas y los hijos solteros. Cuando estos se casaban, vivían en las inmediaciones del jacal paterno y seguían ayudando y obedeciendo al padre. Era pues una especie de gran familia regida por el abuelo de barba cerrada y blanca.« (González 1995, 51.) Vgl. J. Assmann 2013, 42 sowie 68ff.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Als besonders sinnfällig für das Erkalten des Hacienda-Mnemotops kann dabei die anschließende Szene gewertet werden, in welcher der kleine Patron und der kleine Korporal den Sozialisationshorizont im Hacienda-Universum durchspielen: »Vamos a jugar a la haciendita« (15:43), schlägt der junge Hegemon dem mexikanischen Bauernkind vor und besiegelt daraufhin mit seiner »real y complicada firma« die lista de raya, ein Dokument, das die Abgabepflichten der Untertanen, die Schuldknechtschaft als koloniales Vermächtnis der »momificada burocracia peninsular«157 perpetuiert (16:00). Es ist bezeichnend, dass de Fuentes genau hier seinen Zeitsprung von 13 Jahren situiert, um in der unmittelbaren Gegenwart der Uraufführung des Films anzukommen, denn mit dem Stempel wird auch eine Schicksalsergebenheit in eine frohe mexikanische Zukunft projiziert: »15 de diciembre de 1935. ¿Recuerdas que hace años jugábamos aquí en ese mismo lugar a la haciendita, a que yo era el patrón y tú el caporal?«, erinnert sich Felipe. »Pues ya no es juego, es realidad«. Der Señorito hat seinen verstorbenen Vater beerbt und sorgt sich nun selbst um das Wohl und Wehe der Hacienda. Er weist zwar den Titel Patron zurück, die klassische Hacienda-Hierarchie schimmert aber noch immer durch (Abb. 81). Doch die klassenübergreifende Solidarität zwischen José Francisco und Felipe lässt auch die Arbeit des Films an einer empathisch geteilten Erinnerung erkennen, die auch extremen Bewährungsproben gewachsen ist und das unliebsame historische Kapitel der Revolution verblassen lässt. Mit Hilfe einer filmisch inszenierten Rückholung unterstreicht Allá en el Rancho Grande seine Qualität der Identifikationsvorlage und befördert ein bewahrendes Gedenken aus dem gesellschaftlichen Gedächtnisspeicher in den Rang des gegenwartsbestimmenden, rekurrenten Funktionsgedächtnisses. Nicht minder bedeutsam für die Arbeit am Hacienda-Mnemotop ist schließlich das Aufrechterhalten jener räumlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die mit Jan Assmanns Vorstellung von anachronen Strukturen in einer Gesellschaft korrespondiert.158 : De Fuentes bahnbrechendes Werk kann als fundierender Text der mexikanischen Filmindustrie aufgefasst werden, die durch Vervielfältigung der Rancho-Komödien zu einer der kulturellen Institutionen wird, »die weniger dem Fortschritt als der Bewahrung verpflichtet sind«159 . Analog zu Jan Assmanns Funktionalisierung der Religion als Pflegeinstanz anachroner Strukturen lässt sich die soziologische Fixiertheit der kalten Hacienda-Mnemotopie im Film dabei begreifen als topologische Konstanz »innerhalb der Kultur, die das Heute gestaltet« indem sie »das Gestern gegenwärtig [hält], das nicht vergessen werden darf«160 . Für die Mnemotopie als Dispositiv anachroner Strukturen ist dabei die besondere Form der Zeitsynthese im Heimatfilm relevant, die ein um Krisen der Transformationsprozesse bereinigtes Gedächtnis in der Hacienda situiert. Der »historische Ort des Heimatfilmes« schlechthin, schreibt Georg Seeßlen in seiner Untersuchung des Genres, liege dabei just im »Ineinanderstürzen der Vorkriegszeit und der Nachkriegszeit«161 , das im Falle Mexikos die Zeitspanne des Bürgerkriegs nach dem

157 158 159 160 161

Paz 2016a, 271. Vgl. J. Assmann 1991, 349. Ebd. Ebd. Seeßlen 1990, 358.

255

256

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abdanken von Porfirio Diaz umspielt. Das Ergebnis einer geschichtslosen Rückbesinnung auf die mexikanische tradición eterna ist folglich eins, das die politischen Konflikte aus der Hacienda verbannt und die sozialen Friktionen, die in El compadre Mendoza zum tragischen Verrat an der Revolution führen, in einer kostumbristischen Komödie auflöst. Der politische Eskapismus im Hinblick auf das problematisch gewordene Wertesystem der Haciendas wird in Allá en el Rancho Grande komplementiert durch das Heilsversprechen, das in der Nostalgie nach vergangener Ordnung enthalten ist. Am Schauplatz des gallinero, der Hahnenkampfarena, die ebenfalls zum Horizont der HaciendaGesellschaft gehört, kommt es zu einer Anklage der Hacienda: der Kontrahent aus Rancho Chico wirft dem jungen Hacendado Felipe Schummelei beim Hahnenkampf vor und greift dabei auf die Rhetorik des Klassenkampfes zurück (»capitalista«, »explotador de los pobres« (48:30)). Die Rivalität, die sich hier analog zum agonalen Setting der Tierkampfarena einstellt, wird aber recht schnell zu Gunsten der edlen Männerfreundschaft des Rancho Grande entschieden: der Caporal José Francisco wirft sich bei einem Handgemenge vor seinen Patrón Don Felipe und fängt eine Kugel, die für diesen bestimmt war, mit seiner Brust ab (Abb. 82). De Fuentes lässt seinen Charro, der just ein Waisenkind des Rancho Chico war und nicht dem prekären Kollektiv der landund herrenlosen Bauern angehören wollte, damit buchstäblich zum »celoso guardián de la gran tradición mexicana«162 werden. Implizit wird der Caporal auch zu einem Gewährsmann einer unverbrüchlichen kalten Mnemotopie der Hacienda, mit der eine Konservation der Vergangenheit angestrebt wird. Der gesellschaftliche Wandel, der die klassische Hacienda-Ordnung sukzessive ins historische Abseits verbannte, wird in der kalten Spielart der Mnemotopie als kontrapräsentisch aufgefasst und die Integrität der traditionellen Hacienda zum Sehnsuchtsort des kinematographischen Imaginären aufgewertet. Wenn bei Eisenstein die Konfliktlinie vertikal verläuft und ein Klassenbewusstsein mit Hilfe der akzentuierten Asymmetrien der Hacienda-Gesellschaft gebildet wird, ist Allá en el Rancho Grande geprägt vor einer vertikalen Solidarisierung des Rancheros mit seinem Gutsherren. Die Konflikte verlaufen hier horizontal, zwischen wirtschaftlich konkurrierenden Ranchos, deren Wettstreit sich symbolisch im Hahnenkampf oder im Liedduell des »huapango con contestación«163 manifestiert. Der subalterne Held José Francisco kann überleben, wobei die Allianz von Herr und Knecht in ultimativer Reziprozität durchgespielt wird: die Blutspende des Patrons, die seinem Protegé zu Gute kommt, lässt die beiden zwar zu amis charnels (Marc Bloch) werden, doch die hierarchische Ordnung bleibt trotz der heroisch geknüpften Blutsbande erhalten, womit die Inszenierung der Hacienda als organischer Ort einer bedingungslosen Männerfreundschaft die klassische, feudale Ortslogik der patriarchalen Hacienda reaffirmiert164 . Der

162 Carreño King 2000, 50. 163 Vgl. de los Reyes 1987, 145. 164 Für die der Hacienda zu Grunde liegende feudale Struktur sind die Begriffe, die Marc Bloch in seiner klassischen Monographie La société féodale entwirft, durchaus illustrativ und erhärten die hier vertretene These der Hacienda als einer mexikanischen Zeitinsel der stabilen longue durée (Bloch 1982, 124-126).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

compadrazgo zwischen Felipe und José Francisco wird im Rancho Grande von feudalen und patrilinearen Idealen überformt, die ihren historischen Schatten weit in die Zukunft werfen (Abb. 83).

Abb. 82: Die Eskalation in der Hahnenkampfarena, in welcher die virilen Gemüter nicht mehr mit einem tierischen Stellvertreterkrieg kompensiert werden können, dient der kalten Gedächtnisstiftung als eine Verschiebung vertikaler Klassenkämpfe hin zu horizontalen Animositäten konkurrierender Ranchos. Abb. 83: Im Bluttransfer zwischen Herr und Knecht wird nicht nur eine klassenübergreifende Blutsbruderschaft inszeniert, sondern auch eine ›mexicanidad‹, die bei all den historisch gereiften Machtasymmetrien eine patriarchale Solidarität kontinuiert.

Dass die Hacienda in Allá en el Rancho Grande kein Hort sozialer Utopien und des frei zirkulierenden Begehrens ist, manifestiert sich daraufhin in der strikten Befolgung des feudalen Kastensystems im Hinblick auf die Eheschließung. Der Konflikt, der im Anschluss an den Akt ultimativer Loyalitätsbekundung ins Zentrum rückt, ist weniger ideologischer als amouröser Natur. Es ist, ganz in der Tradition kostumbristischer Sujetfügung – einer, wenn man so will, poetologischen tradición eterna – das Buhlen zweier ›brünftiger Señoritos‹ um eine Jungfrau, das die beiden Geschworenen zum Ehrenhandel im Freien und damit an den Rand des Bruderkriegs bringt. Doch die fatale Transgression, die bei Eisenstein im Martyrium der Bauern endete, wird bei de Fuentes nicht vollzogen. Die Sujetfügung grenzt sich auch von einer weiter möglichen Vorlage aus der Stummfilmära ab: Ernesto Vollraths En la hacienda (1921), wo das Liebesdreieck zwischen dem Patron, dem Caporal und seiner Verlobten zu einer wüsten Rauferei mit den Obertönen eines Klassenkampfes führt. In Allá en el Rancho Grande kann aber ein Duell letztlich verhindert werden, da José Francisco von der Unschuld seiner Verlobten Cruz überzeugt werden kann. In architextueller Konkordanz zur spanischen comedia de capa y espada kann der drohende Ordnungsbruch schließlich mit einer Massenhochzeit in rigoroser Beachtung der Ständeklausel sowie des Ehesakraments vermieden und das Wertesystem des Rancho perpetuiert werden. Darin inbegriffen ist auch der Paternalismus alter Schule, der unmittelbar vor dem genretypischen Dénouement mit grobem didaktischem Eifer in die Hacienda eingeschrieben wird: Doña Ángela, die ihren stiefmütterlichen Eigennutz ausspielt, um das Waisenmädchen Cruz aus Rancho Chico mit dem jungen, ledigen Hacendado Felipe zu verkuppeln, wird von Florentino, dem Dorf-

257

258

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

narren mit dem sie in wilder Ehe lebt, mit einer Ohrfeige zur Räson gebracht. Cruz verweigert sich dem verständnisvollen Hacendado und die Anstiftung zum feudalen derecho de la pernada, der die Tragödie in Eisensteins Hacienda katalysiert hatte, geht ins Leere.165 Von der Rancho-Gesellschaft als »vieja bruja« (1:34:38) stigmatisiert, wird schließlich Doña Ángela zum Sündenbock der ungebührlichen Liebesintrige und damit auch zum Blitzableiter eines patriarchalen Gerechtigkeitsempfindens, das im Urbild der Hacienda-Gesellschaft eingelassen ist (Abb. 84/85).

Abb. 84: »Un momento muchachos, eso déjenmelo a mí. Va a ser una gran satisfacción« (...) »Pégale duro, que al cabo no es tu mujer« (1:34:53). In der kollektiven Vorfreude auf das Sündenbockritual wird die männliche Autorität in der Rancho-Gesellschaft bekräftigt. Abb. 85: »A de aquello en adelante ya sabe quién lleva los pantalones en esta casa« (1:37:00). Die Frau als gewaltsam domestiziertes Subjekt verbürgt in ›Allá en el Rancho Grande‹ die Restitution der patriarchalen Hacienda-Ordnung.

In der Vergangenheitsbeschwörung eines Heimatfilms, der die Gegenwart zu kompensieren hilft, deutet de Fuentes bereits die Kippbewegung vom mexikanischen Nationalismus zum Chauvinismus an. Als Pionier der kommerziellen comedia ranchera führt er das Masternarrativ der Bezähmung der Natur gegen die Revolution als eine »historische Urkatastrohe des Zerfalls«166 stellvertretend durch die Bezähmung einer dogmatisch ausgebeuteten femininen Unzucht ins Feld. In der kalten Mnemotopie des Films wird die Subalternität des Bauernstandes damit metonymisch gespiegelt in der durchgängigen Unterordnung der Frauen in der Hacienda-Gesellschaft. Mit der despotischen Sanktion gegen Doña Ángela wird die zukunftsresistente »Einheit der Folklorezeit«167 wiederhergestellt und die gesamte Revolution stellvertretend als ehrloses Intrigengeflecht desavouiert.

165 Vgl. Ávila/de la Mora 2016, 129. 166 Vgl. Seeßlen 1990, 351. Die im kostumbristischen Kino gehäuft auftretende narrative Strategie der Diskreditierung revolutionärer wie reformistischer Ideale mit Hilfe eines chauvinistischen Restitutionssujets, wird in Susana – demonio y carne (1951) von Luis Buñuel für eine kritische Parodie verwendet, wie im abschließenden Kapitel zum filmischen Erbe der Hacienda besprochen wird. 167 Bachtin 2008, 160.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

3.3.2.

Der Charro als Referent der Folklorezeit

Hier endet der Prototyp der comedia ranchera und hier beginnt die Reflexion zur filmischen Gedächtniskonstruktion anhand der Hacienda als prominentem mexikanischem Mnemotop. Natürlich müsste man sich fragen, ob ein Unterhaltungsfilm aus dem Register seichter Zarzuelas einen historisch-didaktischen Anspruch erheben kann, und inwieweit historisch schwach reflektierte Spektakel einen Beitrag zur gesellschaftlichen Horizontbildung leisten, die Jörn Rüsen als Geschichtskultur bezeichnet und hierbei eine »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft«168 meint. Eine Reflexion zum mnemotopischen Memory-Building von Allá en el Rancho Grande kann jedoch nicht isoliert vorgenommen werden, wenn man sich vor Augen führt, dass der Film eine Schablone für zahlreiche Folgefilme dargestellt hatte, die allesamt mit bewährten oder bereinigten Vergangenheitsbezügen operierten. Eine kurze typologische Passage zu den hier relevanten Charakteristika des Genres comedia ranchera soll verdeutlichen, dass Allá en el Rancho Grande eine Art genrekonstitutiven Gedächtnisvektor einer seriellen Filmproduktion begründet, und das der »craze for comedias rancheras«169 einer kollektiven Prädisposition für Idealisierungen der Vergangenheit entsprach. Schon 1938 entstanden unter den etwa 40 in Mexiko produzierten Filmen allein neun die sich fast nahtlos an das probate Erfolgsmodell reihten.170 Dass das Werk auch 13 Jahre später seine Wirkmacht nicht eingebüßt hatte, lässt sich in der Neuauflage des Films erkennen, die Fernando de Fuentes persönlich unter Mitwirkung des glamourösen Charro Cantor 171 Jorge Negrete lancierte. Eine mögliche These ist dabei, dass der Aufschwung der mexikanischen Filmproduktion einherging mit einer Fixierung des Gedächtnishaushalts, einer entsprechend starren Topologie der filmischen Schauplätze sowie einem überschaubaren Sujetkatalog. Der Rancho als mexikanisches »foyer des traditions«172 beerbte dabei die topologisch verschwisterte aber als Schattenort diskreditierte Hacienda. In der überaus produktiven mexikanische Filmindustrie wurde der Rancho als Drehort und Schauplatz häufig als Euphemismus zur Hacienda bemüht, so etwa in Ora Ponciano (1936), Adiós Nicanor (1937), Las cuatro milpas (1937), La Valentina (1938) Rancho Alegre (1940), ¡Ay Jalisco, no te rajes! (1941), Juan Charrasqueado (1946) oder Dos tipos de cuidado (1952). Nicht selten entfalteten sich die Liebesintrigen der Charro-Gesellschaft auch im dörflichen Ambiente, etwa im bereits besprochenen ¡Así es mi tierra! (1937), La Zandunga (1937) oder Pueblerina (1948). Eine Gemeinsamkeit bestand aber zweifellos darin, dass die »innocence rurale«173 sich in Schauplätzen eingebettet fand, die weitestgehend um historische Schatten bereinigt waren. Die folkloristische Version der Haciendas, jene mit nostalgischen Serenaden angereicherte »Ruritania de cactus

168 Vgl. Rüsen 1994, 4-11. 169 Mraz 2009, 136. 170 de los Reyes 1987, 142-154. Eine kulturökonomische Studie zum mexikanischen Filmgenre par excellence legt Vidal Bonifaz (2011) vor. 171 Vgl. Schulze 2013, 228. 172 Halbwachs 1968, 74. 173 Monsiváis 1992, 143.

259

260

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

y adobe«174 , fand Anklang in der wachsenden Massenkultur Mexikos und anderer iberoamerikanischer Nationen mit vergleichbarer historischer Formation: Por principio de cuentas, las así llamadas »comedias rancheras« intentaban plasmar ambientes bucólicos que pese a sus mistificaciones, adulteraciones, moralismo, sexismo y clasismo implícitos (y no pocas veces explícitos), tuvo impacto y resonancia entre la mayoría de la población de los países del mundo de habla hispana, entonces todavía integrada por campesinos tradicionales o emigrados del campo a las urbes. A guisa de ejemplo, baste decir que según cuadros estadísticos oficiales de la época, durante la década de los treinta el promedio de la población rural mexicana era de un 65.23  %, y es muy posible que esos volúmenes fueran aún más altos en centroamérica y buena parte del bloque sudamericano.175 In der Kanonisierung der comedia ranchera erkennt man folglich die Herausbildung einer generischen Mnemotopie, die ein über die Grenzen hinaus gültiges Bild der mexicanidad formte und die ins Wanken geratenen Geschichtsbilder der postrevolutionären Phase mit einem kulturökonomisch regulierten Memory-Building zu glätten half. Hierfür eigneten sich die Theatralisierung eines mexikanischen locus classicus und der Rückgriff auf eine generische Morphologie der Hacienda auf hervorragende Weise. Besonders prominent war die zentralmexikanische Bajío-Region (Jalisco, Guanajuato, Aguascalientes, Querétaro), deren agrarwirtschaftlich geprägtes Lokalkolorit zur Identitätsschablone für ganz Mexiko wurde.176 Als generischer Ort der mexikanischen Filmgeschichte diktiert das klassische topologische Sinnuniversum der Hacienda eine Subdivision der Ranchos in Teilräume wie dem patio im Innenbereich der Landhäuser, der oficina del patrón, dem Gefängnis als Sanktionsbereich für Banditen und aufsässige Bauern, der cantina, in der sich die Konflikte und Verschwörungen unter Einwirkung des Alkohols zuspitzen, der Kirche, die entgegen des Säkularisierungsschubes und der Bezwingung konterrevolutionärer Cristiadas (1926-1929) eine feste Instanz in der comedia ranchera darstellte, des camposanto als Dialograum mit den Ahnen und der Tradition, der kargen Bauernhütte (jacal). Abgerundet wurde das Rancho-Universum schließlich durch das agrarisch genutzte Umland, das den Autoritätsbereich des Gutsherren bis zum Horizont absteckte und ein Einfallstor für die drohende Ungewissheit darstellte, die die Ordnung der Ständegesellschaft auszuhebeln drohte. Nicht minder wichtig für das Verständnis einer filmischen Identitätsarbeit ist neben dem Habitat der Rancheros auch ihr Habitus gewesen: Klassische Verhaltensweisen, die sich im Brauchtum der charrería widerspiegeln.177 Rekurrente Kulturbräuche die in den Rancho als Gedächtnisarchiv eingebettet wurden, waren vor allem das Pferderennen, der Stier- und Hahnenkampf, der Konsum regionaler Spirituosen (Pulque, Tequila, Mezcal, Charanda), Volksfeste, Hochzeiten, Trauerzüge sowie die

174 175 176 177

García Riera 1987, 111. Vidal Bonifaz 2011, 4. Vgl. Ávila/de la Mora 2016, 123. Zur Charro-Kultur im nationalen Imaginären Mexikos vgl. Carreño King (2000) sowie Palomar (2000) und (2004).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Austragung des Ehrenhandels im Freien. Eine besondere Bedeutung kam auch den kollektiven Aktivitäten innerhalb der »sociedad de vaqueros«178 zu, etwa dem Rodeo oder dem Herradero, einer als festliche Zusammenkunft inszenierten Brandmarkung junger Zuchttiere – ruralen Spektakeln bei welchen die Charros ihre Fertigkeiten als Viehtreiber unter Beweis zu stellen hatten. Das karge aber heitere Leben der Rancheros wurde von den Zyklen des agrikulturell bestimmten Kalenders geprägt und mit landwirtschaftlichen Instrumenten und folkloristischem Kunsthandwerk flankiert. Bei all der Suggestionskraft der comedia ranchera, die auf ihrer vermeintlichen Vergangenheitstreue beruht, läuft man allerdings Gefahr, die konstruktivistische Dimension der Filme zu vernachlässigen, die in der Bedeutung fiktiver Selbstentwürfe für Mexiko als imagined community zu sehen ist. Das die filmische Weltmodellierung und Gedächtniskonstruktion der Komödien viele Diskrepanzen zur historischen Entwicklung des Landes aufwies, liegt auf der Hand. In der filmischen Institutionalisierung des Charro-Kultes, der seine Anfänge in El caporal (1921) oder El águila y el nopal (1929) nimmt und mit Allá en el Rancho Grande eine regelrechte Imitationskaskade auslöst, muss man mit Ricardo Pérez Montfort darauf hinweisen, dass in der filmischen Hacienda ein artifizielles Gedächtnis verortet wurde, das zahlreiche historische Fragwürdigkeiten birgt und die Formation des kollektiven Gedächtnisses durch medial multiplizierte Selbstbilder stark beeinflusst wurde. Zweifellos kommt dem Typus des Charro eine wichtige Bedeutung zu, denn in ihm findet das Nachleben der kolonialen Hacienda-Wirtschaft eine plausible Personifizierung. Kurios ist dabei, dass die Charrería erst in den 1920Jahren dem Traditionskanon zugeschlagen wurde, als nämlich in die Städte abgewanderte Landbesitzer den ideellen Nachlass der Haciendas in heimatverbundenen Gesellschaften wie der Asociación Nacional de Charros zu verwalten begannen.179 Ausgerechnet in diesen urbanen Milieus entwurzelter Bauern, nostalgischer Latifundisten und demobilisierter Landgendarmen wurde die Hacienda zum schützenswerten Epizentrum der mexicanidad stilisiert: Ante una reforma agraria que actuaba muy eficientemente en terrenos de los opositores al régimen, el conservadurismo – enarbolado principalmente por quienes veían peligrar sus bienes – encontró en la tradición de los charros una justificación nacionalista. El charro, como símbolo de mexicanidad, pudo enarbolarse ante las acusaciones de extranjería y falta de patriotismo que los gobiernos posrevolucionarios achacaban a estos terratenientes conservadores. Para ellos, las haciendas con sus caballos, sus charros y chinas eran intrínsecamente mexicanos. Por eso afectarlas, era ir contra México. En otras palabras: distribuír (sic!) las haciendas era la negación misma de la mexicanidad.180 Mit dem Charro wurde folglich ein historisches Auslaufmodell honoriert, das während der Modernisierung und vor allem Urbanisierung der Nation sukzessive seiner Existenzgrundlage beraubt wurde, nämlich der klassischen Viehwirtschaft spanischer Prägung. Doch mehr als die gesellschaftliche Transformationsprozesse, oder die verspätete 178 González 1995, 48. 179 Vgl. Pérez Montfort 1994, 124f. 180 Pérez Montfort 1994, 124.

261

262

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

industrielle Revolution in Mexiko, war eine unmittelbare Kausalität für die Verdrängung der Charrería in den Bereich symbolischer Anachronismen am ehesten in der Landverteilung und Industrialisierung der Landwirtschaft gegeben. War der berittene Viehtreiber noch eine Stütze der agrarisch geprägten pax porfiriana, so wurden die Innovationsimpulse im 20. Jhd. zum wahrhaftigen Purgatorium181 für die klassische Viehzucht: Al final de la Revolución el sistema de la hacienda fue abolido y muchos charros comenzaron a trabajar en ranchos más pequeños e independientes de todo el país, demostrando sus habilidades en festivales locales y rodeos. Sin embargo, las haciendas que cerraron dejaron a muchos sin trabajo y, con la migración masiva de los trabajadores rurales a la metrópoli, muchos charros descubrieron que sus habilidades con el caballo no eran una necesidad para la vida en la ciudad. Por lo tanto, la charrería fue modificada con el fin de que encajara con su nueva situación y ubicación, »desprendida de las prácticas laborales y del campo«.182 Auf die Institutionalisierung der Charrería im Sinne eines schützenswerten Kulturerbes weist auch Cristina Palomar hin, die dem Charro und seiner Mythisierung einen zentralen Platz in den postrevolutionären Mechanismen der Identitätsstiftung einräumt. Auch hier fungiert der Charro als ein dekontextualisierter Hüter einer immer stärker von der Gegenwart abweichenden Vergangenheit, der einer Idealisierung von Anachronismen Vorschub leistet und eine »voluntad simbólica colectiva«183 bedient. Analog zur Logik der Hacienda als Ort strikter Sozialhierarchien sowie der Disziplin als fundamentaler Tugend der provinziellen mexikanischen Ritterlichkeit, lag ihre symbolische Funktion im espíritu reivindicativo de los charros y su deseo de proteger y conservar la tradición contra el paso del tiempo, los cambios de contexto y las modificaciones de su significado ante otros sectores de la población. Así pues, se puede decir que la institucionalización de la charrería también tiene que ver con la necesidad de un grupo socioeconómico específico por asegurar su sobrevivencia como tal.184 Es liegt dabei auf der Hand, dass der urbane Charro, der als kulturelles Rudiment um sein Daseinsrecht kämpft und in folkloristisch umhüllten Wettkämpfen sein Können in einem zweckentfremdeten oder anachronischen Kontext zum Besten gibt, zu einem Symbol der retrograden Identitätsstiftung für die neuen, um ihr rustikales Erbe gebrachten Massen werden musste – der urbanen desheredados im wirtschaftlichen wie

181 182 183 184

Vgl. Doñán 2000, 64. Ávila/de la Mora 2016, 127. Palomar 2000, 10. Palomar 2000, 11.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

soziohistorischen Sinne185 – und zu einem Gedächtnisanker einer idealisierten mexikanischen Vergangenheit. In der Rückholung der ruralen Idylle manifestiert sich in Allá en el Rancho Grande dabei ein raumzeitliches Amalgam, in welchem die Zeit stillgelegt zu sein scheint. Der Rancho als latentes Kontinuum des Hacienda-systems, einer Ortslogik die für obsolet erklärt wurde, wurde auf diese Weise zu einem neuen Träger dessen, was Mikhail Bachtin bei seiner Untersuchung der Chronotopie des Idylls als »Folklorezeit«186 bezeichnet und dabei auf eine intime Bindung einer dörflichen Gemeinschaft zu ihrem Standort hinweist. Die immanente Einheit der Folklorezeit entfalte sich vor allem in einem besonderen Verhältnis der Zeit zum Raum […]: Das Leben und seine Ereignisse sind organisch an einen Ort – das Heimatland mit all seinen Fleckchen und Winkeln, die vertrauten Berge, Täler und Felder, Flüsse und Wälder, das Vaterhaus – gebunden, mit ihm verwachsen. Das idyllische Leben mit seinen Ereignissen ist nicht zu trennen von diesem konkreten räumlichen Fleckchen, wo die Väter und Vorväter lebten, wo die Kinder und Enkel leben werden. Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst; sie ist mit anderen Orten, mit der übrigen Welt nicht auf wesentliche Weise verbunden. Doch die in dieser begrenzten räumlichen Mikrowelt lokalisierte Lebensreihe der Generationen kann unbegrenzt lang sein.187 In der nostalgischen Vergangenheitsbeschwörung fand sich das kollektive Gedächtnis auf eine schier unendliche Sequenz von Generationen projiziert, die in der Krisenzeit eines kollektiv empfundenen Heimatverlustes zu einem point de capiton eines zyklisch organisierten Mexikos wurden. Als kaltes Mnemotop appelliert die Hacienda hierbei an ein formatives Geschichtsbewusstsein, das aus einer histoire quasi immobile ihr formatives, identititätsstiftendes Potenzial schöpft und der ewigen Tradition eine Autorität einräumt, die in der Überhöhung der Ahnenfolge ihre Affinität zur société féodale (Marc Bloch) markiert. Die Qualität der kalten Mnemotopie als Reverenz an eine zum Urbild erstarrte Vergangenheit macht den Film letztlich zu einer »apología del sistema económico de la hacienda, con una jerarquía clara y una obediencia completa al patriarcado.«188

185

Vgl. Pérez Montfort 1994, 113f. In seiner Miliestudie zu den urbanen Eliten am Anfang des 20. Jhd. beschreibt der Autor die Verklärung des Charros im Zentrum der nationalen Ikonographie als unverkennbares Echo der porfirischen Aura: »Esta afirmación del México charro corrió a cargo de muchos miembros de la antigua aristocracia porfiriana y de algunos seguidores clasemedieros perfectamente arraigados en el ámbito urbano que cotidianamente se mostraban en el Paseo de la Reforma o en los distintos lienzos de la ciudad con sus trajes y sombreros galonados tal como si desfilaran rumbo a la representación de alguna opereta o teatro de la revista. La nostalgia del México campirano los hacía blasonar ante propios y extraños el orgullo de su hispanidad como caballeros poseedores de un supuesto abolengo venido a menos, que no era otra cosa para ellos que »el México verdadero« (Pérez Montfort 1994, 131f). 186 Vgl. Bachtin 2008, 160-179. Eine filmwissenschaftliche Anwendung findet das Konzept bei Eric Santner (1990) und Hamid Naficy (2001). 187 Bachtin 2008, 160. 188 Ávila/de la Mora 2016, 132.

263

264

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Im Zuge der Bändigung einer ikonischen Diversität, wurde die Hacienda als Ursprungsort der Charrería im Gewand des Ranchos zu einer »benign, legitimate, paternalist institution, a keystone of old »holistic« Mexico«189 rehabilitiert. Der filmische Rekurs auf diesen Gedächtnisvektor trug dabei wesentlich zur Proliferation des CharroKultes in der mexikanischen Populärkultur bei und mündete in eine »Jaliscomanía«190 , die in den räumlich distanten urbanen Zentren Mexikos, aber auch jenseits der mexikanischen Grenzen, reproduziert und rezipiert wurde und den charro jalisciense zum nationalen Stereotyp katapultierte: La consagración de la charrería como símbolo por antonomasia de lo mexicano habría de tardar algunos años aún, hasta el cine y la nueva canción ranchera acabaron de hacer la fundación mítica del país. Desde el momento en que la »revolufia« hizo posible que México se descubriera a sí mismo, la charrería apareció, ya en el medio urbano – es decir, fuera de su ámbito original – como una manifestación de lo propio, la cual además tenía cierto componente épico que parecía muy adecuado para representar si no lo que nuestro país era, sí lo que quería ser. La charrería se convirtió entonces en una realidad mítica, si por mito se entiende no una invención postiza, sino aquello que describe Denis de Rougemont: algo capaz de satisfacer los deseos profundos de una colectividad, algo »que viene a descubrir y encarnar simbólicamente una parte oculta de nuestro propio ser«.191 Wie in Allá en el Rancho Grande paradigmatisch vorgegeben (Abb. 86), wurde der Charro zu einem »recurso discursivo aglutinador«192 bei der Bestimmung von Zukunftsidealen. Seine Repräsentation in der kommerziell beglaubigten und durch Staatszensur regulierten Dutzendware der comedia ranchera ließ die Kinematographie im nachrevolutionären Mexiko nicht selten zu einem Hort reaktionärer Affekte werden. Für die Institutionalisierung eines Genre-Kinos als Kennziffer der Época de Oro, die der Schriftsteller Renato Leduc retrospektiv als »época de charritos«193 bezeichnet, war der singende Charro nicht nur ein geeignetes Projektionsfeld für eine kollektive Nostalgie nach dem Porfiriat, sondern auch eine bedeutende Gedächtnisprothese, mit der die Hacienda in die eutopische Dimension der »dulzura telúrica y la gracia ancestral«194 überführt werden konnte und den historischen und geographischen Gegenstrebigkeiten zum Trotz zur Wiege des Mexikanertums im nationalen, ja transnationalen Imaginären wurde(Abb. 87). Ein kulturelles Phänomen, das seinen Erfolg sicherlich dem Urtext von Fernando de Fuentes verdankt, ist in diesem Zusammenhang der Schauspieler Jorge Negrete (el Charro Cantor) gewesen, der den Charro als »símbolo por antonomasia de lo mexicano« besonders massenwirksam verkörperte und unterstrich, dass die Charrería eher eine 189 Knight 1991, 81. 190 Doñán 2000, 67. 191 Ebd., 65f. Der Titel des Essays »Por mi raza hablará Jorge Negrete« ist hierbei die sinnfällige Persiflage von José Vasconcelos fundamentaler Formel des mestizischen Mexikanertums »Por mi raza hablará el espíritu«. 192 Pérez Montfort 1994, 123. 193 Zit. in Sánchez 2002, 76. 194 Ayala Blanco 1968, 150.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 86: Als Tanzspektakel für die Massen und »síntesis de la ›mexicanidad‹« (Pérez Montfort 1994, 119) überlässt der ›Jarabe Tapatío‹ dem Bundesstaat Jalisco die Repräsentation für das gesamte Mexiko. Für die Rolle des tanzenden Charros wählte de Fuentes den jungen, noch unbekannten Emilio Fernández, der später mit über 100 Filmen zum bedeutendsten Regisseur der ›Época de Oro‹ werden sollte. Abb. 87: Mit dem Caporal José Francisco (Tito Guízar) wird in ›Allá el Rancho Grande‹ der Grundstein für die gesellschaftliche Verankerung des singenden Charros als nationale Identifikationsvorlage gelegt, die später in Jorge Negrete – ›El Charro Cantor‹ – ihren bekanntesten Exponenten fand und das Mexiko der Sarapes und Serenaden weltweit kanonisierte

»invención del cine y del cancionero popular que de la realidad histórica del país«195 darstellte. In ¡Ay Jalisco, no te rajes! (1941), einem Drama in dem Negrete einen früh verwaisten Sprössling der Junkerkaste verkörpert und die Mörder seiner Eltern, Figurationen revolutionärer Banditen, einen nach dem anderen ins Jenseits befördert, wird dem Zuschauer die Quintessenz der Charrería in einer Montage von Überblendungen dargeboten, die das Leben des Charros zwischen Kartenspiel, Viehwirtschaft, Alkoholkonsum, Hahnenkämpfen und Liebesintrigen absteckt (7:45/43:10). In diesen iterativen Sequenzen, die scheinbar beiläufig die Routineformeln der Charrería widerspiegeln, wird auf besonders eindrückliche Weise die Rekurrenz des Charro-Topos in der Época de Oro als Beitrag zu einem »cine hecho de rutinas«196 erkennbar. Im Retributionssujet des Films wird die Bedeutung der Hacienda als haut lieu des mexikanischen Selbstverständnisses im Sinne einer symbolischen Reparation der historischen Topoklastik wieder eingefordert, wobei Negrete als »adalid indiscutible del machismo«197 zur Gallionsfigur des filmisch vermittelten Patriotismus avancierte.   Wer hätte nun gedacht, fragt man sich mit Juan José Doñán, dass im Gefolge von Allá en el Rancho Grande ausgerechnet der Charro zum Nationalsymbol erklärt werden sollte?198

195 196 197 198

Doñán 2000, 64. Sánchez 2002, 74. Carreño King 2000, 52. Vgl. Doñán 2000, 63.

265

266

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Wer hätte gedacht, dass der Charro seine Solidarität mit dem Porfiriat im mexikanischen Film unbehelligt ausleben könnte und dem scheinbar überwundenen HaciendaSystem eine Existenzgrundlage im Nationalkino bewahren würde? Wie erklärt sich letztlich, dass die comedia ranchera nicht selten zum Vehikel eines ideologischen Revanchismus werden sollte? Zur Beantwortung dieser für die kinematographische Gedächtnisvermittlung zentralen Paradoxien sollen im Folgenden die Überlieferungsprozesse einer postrevolutionären Gesellschaft aufgeführt werden, die uns abschließend den »divorcio de la memoria«199 zu erklären helfen, die sich in der Umschreibung der Hacienda-Mnemotopie im Mexiko der 1930er Jahre abzeichnet. »Incurriría en una grosera simplificación quien afirmase que la cultura mexicana es un reflejo de los cambios históricos operados por el movimiento revolucionario,«200 schreibt Octavio Paz in El laberinto de la soledad bei seiner Behandlung des revolutionären Erbes in Mexiko. Der tocquevillesche Gemeinplatz, dass die Reaktion eine notwendige Begleiterscheinung des Fortschritts und in ungleich stärkerem Maße der Revolution darstellt wie bereits im Kapitel zur Ruine diskutiert, war auch leitend für Paz’ lapidare Diagnose der symbolischen Erfahrungsschwellen in Mexiko. Im Rückgriff auf Bachtin lassen sich die historischen Diskontinuitäten, die im filmischen Funktionsgedächtnis Mexikos relativiert werden, eben doch als Kontinuitäten dechiffrieren, wenn man sie in der entgrenzten Vorstellung von einer ›großen mexikanischen Zeit‹ betrachtet, in welcher jegliche préhéritage aus dem gesellschaftlichen Speichergedächtnis gelöst und wieder als gegenwartsbestimmende héritage funktionalisiert werden kann. Die comedia ranchera leistet für die mexikanische Gesellschaft dabei einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die »Geschichtskultur«201 , wie Jörn Rüsen das Nachleben oder die Präsenz der Vergangenheit in der Gesellschaft bezeichnet, wenngleich der populärkulturelle Rekurs auf die nationale Geschichte von einer expliziten Ursachenforschung historischer Ereignisse abrückt. Wie am Beispiel des Rancho Grande evident wird, wird das historische Kapital einer Gesellschaft dabei zu Gunsten eines Alltagsverstands entdifferenziert, wobei es sicherlich ein zu hehres Ziel wäre, in der Populärkultur nach der Bestätigung historischer Wahrheiten zu suchen.202 Die audiovisuelle Geschichtsrekonstruktion der comedia ranchera ist eher ein Paradebeispiel für ein Memory-Building, das sich von der historischen Überlieferung distanziert. Zwar ist sie ein Element der Geschichtskultur, das die Historiographie verzerrt und nicht selten banalisiert, doch bei all den konstruierten oder konventionalisierten Rekursen auf die Geschichte appelliert die comedia ranchera, in gleichem Maße wie die bei Eisenstein untersuchte »especulación imaginaria«203 , an die Selbstverständigung, Selbstbeobachtung aber auch Selbstverklärung des mexikanischen Nationalkollektivs. Auch wenn Allá en el Rancho Grande kein ausgesprochen nuanciertes Medium der Gedächtniskultur darstellt, ein mächtiges und stark

199 Florescano 1999, 269. 200 Paz 2016a, 303. 201 Rüsen definiert Geschichtskultur als »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft« (Rüsen 1994, 4). 202 Vgl. Landy 1996, 7. 203 de Orellana 1983, 6.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

rezipiertes Identifikationsmodell bot der Film allemal, denn er formierte und modifizierte das kollektive Gedächtnis der unmittelbaren Vergangenheit und entfaltete einen starken Gegenwartsbezug. Das was Rüsen als das »Gemeinsame und Übergreifende«204 eines Erinnerungskollektivs bezeichnet, gerinnt in einem derart filmisch repräsentierten Rancho zu einem kalten Mnemotop der zeitlosen historischen Sinnstiftung. Die Frage, die sich allerdings vielen Filmhistorikern gestellt hat, ist der frappante Gegensatz zwischen den Leitsätzen der neuen mexikanischen Nation, die sich bemüht, die Ideale der Revolution zu institutionalisieren, und der nostalgischen, retrograden Selbstreflektion, die das Kino als Massenmedium zeigen darf. Die historische Sinnaufladung ist daher sehr gegensätzlich und der historische Sinnpluralismus markiert eine medien- oder genrespezifische Kluft. Bei der Suche nach Lösungsansätzen zu dieser Paradoxie des postrevolutionären Memory-Building ist es notwendig, den Kulturbetrieb im Mexiko der 1930er Jahre im Kontext zu betrachten. Das Kino der »añoranza porfiriana«205 , eine Verbeugung vor dem unlängst dämonisierten Porfiriat, fällt in eine Zeit, in welcher mehrere Konstitutionalisierungsschübe das von den Wirren der Revolution gezeichnete Land in eine Episode der Konsolidierung des spätrevolutionären Systems führten. Unter dem Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-1940) avancierte der Film zur zweitwichtigsten Einnahmequelle (nach dem Rohöl) und bescherte der septième art eine beispiellose Blütezeit.206 Diese politischen Umstände fallen zusammen mit der Emergenz des Spielfilms und der Suche einer jungen Nation nach einer eigenen Filmästhetik und Filmsprache im internationalen Vergleich. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass die comedia ranchera mit ihrer plakativen Reproduktion mexikanischer Folklore zu einer Erfolgsformel werden konnte und die Hacienda in diesem Zusammenhang zu einem transnational rezipierten haut lieu der mexicanidad beförderte. Nicht unerheblich ist auch der Blick auf die Rezeption der Heimatfilme. Vidal Bonifaz hebt als zahlendes Publikum die Massen hervor, die in die Städte ziehen. Die comedia ranchera fungiert dabei als ein vergangenheitsverklärendes Korrektiv der Enttäuschungen, die die mexikanische Revolution nach sich zieht und eine imaginäre Regression in die rurale, landwirtschaftlich geprägte Ordnung begünstigt.207 Etwas radikaler ist die Einschätzung von Mike McKinley der die comedia ranchera dechiffriert als psychological tonic for the exhausted factory workers who had fled the dire poverty of sun-baked Mexican deserts, damp and cold highlands or the malarial coast to work in gritty, ugly and crime-ridden cities. It was the escape of choice for the millions displaced from the length and breadth of the country.208 Der Rancho sei aber, so schreibt er weiter, ein durchweg fiktionales Konstrukt und das Gedächtnis, das hier dem Zuschauer auferlegt wird, zielt auf einen Urzustand, den es nie gegeben hat. In nostalgischer Vergegenwärtigung mexikanischer Identitätsentwürfe, bot die kinematographische Gedächtnisprothese der Charrería eine Sehnsuchtsvor-

204 205 206 207 208

Rüsen 1994, 5. Ayala Blanco 1968, 40-48. de los Reyes1987, 154. Vidal Bonifaz 2011, 11. McKinley (2005).

267

268

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

lage für Mexikaner, die in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren: »The people, fleeing to cities or to work the fields in the southwestern United States, went to the movies to remember a Mexico that they had never known because it had never existed. That was the genius of the cinema for these people: to create a reassuring world of a generous and protective patrón who cares for a happy, well-fed peón«.209 Eine Art Erfolgskasuistik nimmt auch Aurelio de los Reyes vor und sieht die massive Nachfrage nach einer entpolitisierten Gedächtnisstiftung gerade in den Vorbehalten des mexikanischen Publikums gegenüber dem kommunistischen Jargon der neuen mexikanischen Führungsschichten begründet. Er kommt aber auch zu dem Schluss, dass die comedia ranchera tatsächlich das ländliche Kastensystem in Mexiko widerspiegelt, das, wie er feststellt, weit in die postrevolutionäre mexikanische Gesellschaft reicht: El público mexicano […] aceptó [la comedia ranchera] quizá porque estaba atemorizado de la jerga comunista manejada por los círculos gubernamentales y ante la inminente destrucción y desaparición de la hacienda, uno de los elementos tradicionales de la nacionalidad, y quizá porque reflejaban una realidad social, pues en el campo las castas sociales eran y aún son vigentes. Era una sociedad conservadora, »temerosa de Dios, respetuosa de las tradiciones, de la propiedad privada y amante de las buenas costumbres«. Quizá la identificación del público se acentuó por la idealización que se hacía de ellos (todos eran »buenos« y sabían vestir y llevar con dignidad los trajes nacionales)«.210 Diese Form der konservativen Zeitresistenz, die bereits hilfreich war, die Ruinen als Eckpfeiler der Zukunftsbewältigung aufzuschließen, korrespondiert ebenfalls mit Bachtins historischer Inversion211 , mit deren Hilfe eine schwierige Gegenwart überbrückt und ein Goldenes Zeitalter aus der Vergangenheit in die Zukunft projiziert werden konnte. Auch das Zeitverständnis der comedia ranchera besteht in einer euphorischen Überzeichnung der Vergangenheit, die gegen gesellschaftlichen Wandel in Stellung gebracht wird und eine konservative Eschatologie bedient, die einen »Kampf gegen die Zeit im Namen der Ewigkeit führt«.212 Im Ortsverständnis der kalten Mnemotopie sind Ruinen und Haciendas als Orte einer kollektiven Rückversicherung zu verstehen, die das lesen der Zeit im Raum zu dogmatisch gesetzten Zeitsynthesen werden lassen. Ein weiterer wichtiger Faktor für die eher eingleisige Geschichtsvermittlung in der comedia ranchera liegt natürlich auch in den medienspezifischen Restriktionen, die dem Film als teurem und arbeitsintensivem Speichermedium zu Grunde liegen. Der Film bietet dem urbanen Unternehmergeist eine Einnahmequelle, doch bleiben die Investoren risikoavers und bevorzugen eher probate Modelle und Muster. Diese Umstände führten zur Serialisierung eines unanstößigen Funktionsgedächtnisses in der mexikanischen Época de Oro und damit auch zur seriellen Vermittlung Verarbeitung der Mnemotope. Das filmspezifische Ökonomieprinzip unterwandert also im Genrekino der co-

209 Ebd. Die comedia ranchera war dabei ein mexikanisches Erfolgsmodell, das in Filmen wie The Gay Ranchero (1948) unter Mitwirkung von Tito Guízar, auch in den USA Anklang fand. 210 de los Reyes 1987, 152. 211 Vgl. Bachtin 2008, 74-79. 212 Vgl. A. Assmann 1991, 23.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

media ranchera nicht nur einen historischen Sinnpluralismus im heterogenen nationalen Gefüge, sondern verkehrt diesen stellenweise in eine Fiktionalisierung der kollektiven Ursprünge. Schließich war es auch der internationale Erfolg, der zu einer Fixierung der optischen, implizit auch ideologischen, Wiedererkennbarkeit der mexicanidad führte. Dass Allá en el Rancho Grande auf der Biennale von Venedig 1938 prämiert wurde, war zunächst einmal sicherlich das Verdienst des jungen Gabriel Figueroa, der dem Film eine tadellose formale Erscheinung zu geben vermochte. Doch wenn man Aurelio de los Reyes Synthese zwischen einer reaktionären Gedächtnisarbeit im mexikanischen Film und einer imperialistischen Rückbesinnung in Mussolinis Italien berücksichtigt, dient die Auszeichnung auch als eine denkwürdige Ausschlachtung einer ideologisch besetzten Mnemotopie des provinziellen Heimatortes: El festival veneciano se había plegado a la política fascista de Mussolini; 1936 fue el año del inicio de la invasión a Etiopía, y en materia cinematográfica se propuso el regreso a las tradiciones y a la historias nacionales, a la nostalgia de la época imperial, de la misma manera que Allá en el Rancho Grande se anclaba en el pasado y significaba la nostalgia de un pasado inmediato y proponía mantener vivas las tradiciones y costumbres en vías de extinción.213

3.3.3.

Kulturelles Vergessen als Deckerinnerung

In der nostalgischen Verklärung der Vergangenheit lässt sich in Allá en el Rancho Grande ein dominanter Gedächtnisvektor erkennen, der mit den bereits besprochenen Hacienda-Darstellungen von Maguey und El compadre Mendoza in Konkurrenz tritt. Auffällig sind dabei die notorischen Leerstellen, die nach Emilio García Riera auf eine »expurgación de la memoria«214 , eine zensierte Retrospektion hinweisen. Gerade die Auslassungen einer bereinigten »fractured history«215 gewährleisten auch die Umprägung der Hacienda zu einer positiven kulturellen Mnemotopie. Um die Lakunen in der Geschichtswahrnehmung zu begreifen, die im Gedächtnishorizont der comedia ranchera zahlreich vertreten sind, ist es notwendig sich zu vergegenwärtigen, dass affirmative Rückbesinnungen häufig als Folge von gesellschaftlichen Krisenerfahrungen auftreten, wie es Nicolas Pethes einleuchtend untersucht.216 Nicht minder hilfreich ist es, sich die Mechanismen des kulturellen Vergessens als wesentlichen Bestandteil des NationBuilding in Erinnerung zu rufen – ein Sachverhalt, auf den bereits Ernest Renan in seinem seminalen Vortrag Qu’est-ce qu’une nation? hingewiesen hatte: L’oubli, et je dirai même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la création d’une nation, et c’est ainsi que le progrès des études historiques est souvent pour la nationalité un danger. L’investigation historique, en effet, remet en lumière les faits de violence qui se sont passés à l’origine de toutes les formations politiques, même

213 214 215 216

De los Reyes 1987, 153. García Riera 1992, 39. Landy 1996, 8. Vgl. Pethes 2001, 12.

269

270

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

de celles dont les conséquences ont été le plus bienfaisantes. L’unité se fait toujours brutalement.217 Das Auseinanderklaffen von Geschichte und Gedächtnis in Allá en el Rancho Grande und seinen zahlreichen Nachfolgern bildet genau diese mnemonische Paradoxie der nationalen Einheitsstiftung ab, bei der der kollektive Gedächtnishaushalt massenmedial modelliert und, an historiographischer Expertise vorbei, an die Einheitsgebote der Gegenwart angepasst wird. Die Hacienda als einer der Ursprungsorte der mexicanidad wird in dieser gesellschaftlichen Koordinationslogik zu einem Ort des freiwilligen Vergessens und zur Projektionsfläche von sogenannten »Deckerinnerungen«, einem häufigen Phänomen der Gedächtnisverzerrung, mit dem Sigmund Freud die »tendenziöse Natur unseres Erinnerns« untersucht.218 Zwar in individualpsychologischer Perspektive behandelt, lassen sich Freuds Ideen zu den rückgreifenden Verschiebungsvorgängen durchaus auch in Bezug auf ein kollektiv aggregiertes Gedächtnis anwenden, und »wirklich bedeutsame Eindrücke […] deren direkte Reproduktion aber durch einen Widerstand gehindert ist«219 durch medialisierte Ersatzerinnerungen abgeschirmt werden. Wenn man den Bürgerkrieg und die Transformation der mexikanischen Gesellschaft als »[s]tarke Mächte aus der späteren Lebenszeit«220 begreift, wird eine intersubjektive Prädestination der comedia ranchera für Überschreibungsprozesse kollektiver Kindheitserinnerungen durchaus plausibel.221 Die Eignung des Konzepts der Deckerinnerungen im Kontext kinematographischer Manipulation von kollektiven Gedächtnishorizonten ist besonders naheliegend, wenn man die Bedeutung des visuellen Charakters von Erinnerungen bei Freud um neuere psychosoziale Zusammenhänge in den Filmwissenschaften ergänzt. Im Rückgriff auf die Arbeit zum massenkulturell transportierten Gedächtnis im Film, das Allison Landsberg unter dem Leitbegriff prosthetic memory diskutiert, lässt sich das Genre der comedia ranchera als eine werksübergreifende Gedächtnisfabrik verstehen, in welcher der selektive und zensierte Vergangenheitsbezug als eine Gedächtnisprothese im nachrevolutionären Mexiko wirkte.222 Über die mediale Bündelung des Erinnerungshaushalts hinaus, war die Überidentifikation mit den Helden der comedias rancheras rückführbar auf eine ego libido223 eine Identifikationslust mit der pastoralen Idylle, die eine heranreifende Generation in die Illusion der unbekümmerten Kindheit locken ließ. Die Generationszugehörigkeit war sicherlich auch der wesentliche Grund für die hohe Konjunktur des mexikanischen Nostalgiefilms224 20

217 218 219 220 221

Renan 1882, 7f. Freud 1917, 37. A. a. O., 39. A. a. O., 41. Eine Überführung der Deckerinnerungen auf kollektive Verstehensebenen findet sich bereits bei Freud selbst, der in den Verschiebungsprozessen im individuellen Gedächtnis »eine bemerkenswerte Analogie mit den in Sagen und Mythen niedergelegten Kindheitserinnerungen der Völker« erkennt (Freud 1917, 42). 222 Vgl. Landsberg 2004, 2f. 223 Zur ego libido und den Identifikationsmechanismen des narrativen Kinos hat Laura Mulvey ein mittlerweile klassisches psychoanalytisches Paradigma der Filmlektüre vorgelegt (Mulvey 1989, 14-26). 224 Jameson 1984, 66ff.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Jahre nach dem Bürgerkrieg, wobei der comedia ranchera die Funktion einer »befreiende[n] Überformung« oder gar einer »achtlose[n] Vergleichgültigung«225 historischer Transformationen zukam. Wie Jacques Derrida im Hinblick auf gesellschaftliche Periodisierungsriten postrevolutionärer Phasen schreibt, hüllt die bereitwillige Vernachlässigung des revolutionären Erbes das Leben in die Farben einer »platitude bourgeoise«, die auf einer Nachahmung der »pré-héritage« fußt: »Puis, une fois la tâche révolutionnaire accomplie, alors survient nécessairement l’amnésie«.226 Analog hierzu wurden in der Hacienda, die sich häufig hinter dem Deckbegriff oder »Ersatznamen«227 des Ranchos tarnte, jegliche Spuren des Bürgerkriegs verwischt oder in den Bereich eines habitualisierten Kollektivgedächtnisses überführt, wie in der anschließenden Filmanalyse zu Flor Silvestre (1943) zu zeigen sein wird. Aus der negativen wurde mit Hilfe der Gedächtnisprothesen des Heimatfilms eine positive Mnemotopie konstruiert, die eine Lesart der Hacienda als idealisierte suave patria nahelegt. Die Hacienda und der mit ihr zusammenhängende Vergangenheitsbezug durchlaufen einen medialen Parcours von der Faktographie des Dokumentarfilms, zum Tabuthema und schließlich zum zeitlosen, mythisch enthobenen ›Eutop‹. Die Einordnung der Hacienda verläuft dabei parallel zur Auslegung der Revolution und bildet einen Gradmesser für die Art, wie eine historische Sinnkrise in das kollektive Gedächtnis gefügt oder abgeschirmt wird. De Fuentes Hacienda-Eloge nimmt hierbei eine abschirmende Rolle ein und arbeitet mit einer Ersatznostalgie228 die eine fausse mémoire transportiert und ein gutes Beispiel für Realitätsleugnung in der Popularkultur bietet. Während in El compadre Mendoza die Wirren der jakobinischen Revolutionsphase über die Hacienda hereinbrechen, wandern in Allá en el Rancho Grande die bewaffneten Konflikte daher in den Bereich ab, den Jan Assmann als Latenzgedächtnis einer Gesellschaft bezeichnet, jene »verborgene Dimension, die sich der bewussten Wahrnehmung auf kollektiver Ebene entzieht«229 . Als folkloristische Kommentierung der mexikanischen Geschichte ist Allá en el Rancho Grande daher sehr geeignet, die Verarbeitung traumatischer Geschichtskapitel zu veranschaulichen. Die Verdrängung des Bürgerkrieges und Heimatverlustes stellte ein großes kollektives Bedürfnis dar, wenn man sich den kommerziellen Erfolg des Films vor Augen führt. Fernando de Fuentes Erfolgsfilm fällt auf eine Phase der Neuordnung, in welcher die Forderungen nach gesellschaftlicher Erneuerung sukzessive in das politisch Unbewusste verdrängt wurden und konfligierende Vergangenheitsbezüge im Schmelztiegel der historischen Folklore aufgelöst werden.230 Für eine kinematographisch medialisierte Folklore, bei der sich die kollektive Vereinheitlichung nach Marcia Landy just in affirmativer Auslegung der Vergangenheit vollzieht, waren comedias rancheras ohnehin sehr repräsentativ. »In the films«, schreibt sie mit Blick auf Historienfilme 225 226 227 228 229 230

Sabrow 2015, 79. Derrida 1993, 182. Freud 1917, 1. Vgl. Appadurai 2005, 78. J. Assmann 2005, 382. Hierzu eignen sich die Ausführungen zur kulturellen Folklore im Film, die Marcia Landy im Rückgriff auf Gramsci und seiner Ideen zum senso comune als der widersprüchlichen und unkritischen Meinungscollage kollektiv geteilter Geschichtsbilder diskutiert (Landy 1994, 29 und 73-98, sowie Landy 1996, 4-11).

271

272

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

und Heritage Movies, »the past is invoked through the portrait of charismatic authority figures and through highly choreographed scenes of national unity, through stirring battle scenes, and through high-sounding oratory«231 . Ein gütiger und charismatischer Patron ist in Felipe durchaus gegeben. Auffällig ist jedoch, dass Landy vordergründig Filme im Sinn hat, die in einer weit zurückliegenden Vergangenheit oder auch in einer absoluten Vergangenheit antiker Ereignisgeschichte liegen. In Allá en el Rancho Grande hingegen wird die unmittelbare Alltagsgeschichte der pax porfiriana auf eine traditionsbewusste Gegenwart übertragen und allegorisch auf die gesamte Nation projiziert: Rancho Grande plantea una continuidad de la hacienda hasta el presente de la narración. Es decir, la película es una defensa de la hacienda como institución y de las desiguales relaciones de poder en una sociedad de castas compuesta por el hacendado, los caporales y los peones. La película es una crítica a la reforma agraria cardenista que se repliega en el hacendado como »la máxima autoridad« y en la hacienda como una utopía.232 Die utopische Zeitsynthese, die in der »Hacienda Rancho Grande« (39:12) mitsamt der Asymmetrien des Hacienda-Systems konstruiert wird, ist alles andere als latent. Wie bereits in der Ellipse der »Haciendita«-spielenden Kinder angedeutet, wird die historische Modellhaftigkeit bis in die Gegenwart der Uraufführung durchgespielt. Was Domínguez Jiménez in der comedia ranchera als mutwillige Falsifizierung der Geschichte angeprangert hatte, liegt zum einen begründet in der Patrimonialisierung der Charro-Kultur, zum anderen in der Abwesenheit eines konfliktträchtigen Klassenbewusstseins, die in Renate Lachmanns Verständnis des kulturellen Vergessens als eine »Desemiotisierung«233 der Hacienda als revolutionäre Kampfzone gefasst werden kann. »En Allá en el Rancho Grande«, schreiben Jacqueline Ávila und Sergio de la Mora, »el espacio de la hacienda está curiosamente representado como un universo bucólico, un lugar donde nadie parece trabajar y donde las relaciones de poder entre terratenientes y trabajadores no son problemáticas.«234 Das Gedächtnis an die Hacienda als Ort gesellschaftlicher Konflikte bleibt damit ausgeklammert und wird durch positive Umschreibungen235 der Geschichte ersetzt. Kulturelles Vergessen kann, nach Lachmanns Verständnis, eben nicht durch mutwillige Vergangenheitsleugnung erreicht werden,

231 Landy 1996, 11. 232 Ávila/de la Mora 2016, 133. 233 Lachmann 1991, 112. Weitere Hinweise zu kultursemiotischen Implikationen der »temporären Desemiotisierung« als Ausgrenzung vergangener Selbstbeschreibungsentwürfe aus kulturellen Bedeutungssystemen bietet die Autorin in der Auseinandersetzung mit früheren Beiträgen von Juri Lotman in Lachmann 2012, 105 und 108-111. 234 Ávila/de la Mora 2016, 124. 235 Das Nachleben der Historie vollziehe sich laut Reinhart Koselleck im Dreischritt bestehend aus Prozessen des Auf-, Um- und Fortschreibens der Geschichte. Im Hinblick auf das Fortschreiben des kollektiven Gedächtnisses sind historische Glättungen als Prozesse des Umschreibens ausschlaggebend für Neukonstituierungen der Geschichte (Koselleck 2013, 53-67). Die Fragmentarität des historischen Alltagsverstands markiert letztlich auch die Differenz zwischen Gedächtnis und Geschichte, wie es Maurice Halbwachs und später Pierre Nora erläutern (vgl. Halbwachs 1968, 69-74 und Nora 1984, xxv-xxxiv).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

sondern nur im Zuge semiotischer Überblendungen durch sekundäre Repräsentationen der Geschichte, die das kollektive Gedächtnis umgestalten.236 Die nationale Filmindustrie des Cine de Oro, so lässt sich der Gedankenstrang weiterentwickeln, reguliert den gesellschaftlichen Zeichenhaushalt und dient mit Werken, die eine historische Umsemantisierung vornehmen, dem »Bleichen des Gedächtnisses«.237 In der Kanonisierung der comedia ranchera, die Jan Assmanns begriffliche Prägung einer »Bändigung der Varianz«238 treffend umschreibt, werden folglich die »semiotische[n] Zeichenschlachten«239 um die Mnemotopie der Hacienda gezügelt, die Vielfalt der Vergangenheitsbezüge in den Alltagsverstand einer historischen Folklore übertragen und divergente Erinnerungsspuren in ein kollektives Latenzgedächtnis befördert. Infolge der De- und Resemiotisierung der Hacienda im Film wird die Unmöglichkeit des intendierten Vergessens letztlich umgangen durch eine Verklärung der mexikanischen Matria. Ob nun Deckerinnerungen, historische Falsifizierungen, Umschreibungen, Überzeichnungen oder Gedächtnisprothesen die Hacienda-Mnemotopie prägten, war es letztlich immer die Arbeit am kollektiven Gedächtnis, die aus der comedia ranchera ein psychologisches Tonikum gegen die Industrialisierung Mexikos werden ließ, und jene bedrohliche Anomie zu bewältigen half, die Durkheim in Le Suicide (1897) als soziologische Krise früher Industrialisierungsstadien untersucht hatte. Den Ranchos kam in diesem Zusammenhang die topologische Funktion deindustrialisierter »Entschleunigungsinseln«240 zu, die sie angesichts der flüchtigen Moderne von den in ideologischen Misskredit gebrachten Haciendas übernehmen. Einem verlorenen Paradies gleich, werden in den idealisierten Matrias »la pureté des jeunes filles, le caractère paysan, la bonté du propriétaire d’hacienda, l’esprit de fête perpétuel« und vor allem »les avantages de vivre en marge de la modernité«241 zelebriert.   Bei genauem Hinsehen lassen sich bei de Fuentes jedoch auch kleine Ausnahmen finden, die den Rancho Grande aus der retrograden Starre der kalten Mnemotopie zu lösen scheinen: Unter den wenigen Momenten des Films, die die rezenten Kontroversen der mexikanischen Geschichte mit konkreten Kommentaren belegen, sticht die lallende Replik Florentinos hervor, eines typischerweise dauerhaft betrunkenen mexikanischen gracioso, der seinen Schlendrian mit einer spitzfindigen Auslegung der Revolutionsideale verteidigt: »Yo soy comunista. ¡Igualdad social! Los ricos no trabajan, ¿no? Pues yo tampoco. […] Si mi chiflada vieja me obliga a trabajar, pos yo declaro la huelga de hambre.« (14:28). Als Vehikel für politische Satire und alltagsgeschichtlich karikierte Ideologeme des mexikanischen Klassenkampfes, bietet der Narr ein comic relief für die Konflikte um die aufgeschobene Landfrage. In Fernando de Fuentes Film Vámonos con Pancho Villa (1935), das nur wenige Monate vor Allá en el Rancho Grande uraufgeführt wurde, hatte die soziale Utopie mit Pancho Villa als »verdadero redentor de los campe-

236 237 238 239 240 241

Vgl. Lachmann 1991, 115. Ebd. 116. J. Assmann 2013, 123 Lachmann 1991, 112. Rosa 2005, 143. Monsiváis 1992, 143.

273

274

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

sinos«242 noch eine bedeutende Identifikationsfigur vorzuweisen und das Versprechen »Ranchos para todos«243 ein Gedächtnis an unlängst artikulierte Zukunftsbilder aufgerufen. Doch die Frustration angesichts unhaltbarer revolutionärer Versprechen, die sich im kommerziellen Misserfolg der frühen Revolutionsfilme widergespiegelt hatte, ließ sich mit dem Folgefilm besser kanalisieren. In Allá en el Rancho Grande wird der Kampf um die hehren Ideale nämlich eingetauscht gegen eine konventionelle intrahistorische Perspektive, die die ideologischen Konflikte komisch enthebt und eine klassenübergreifend maskuline Klammer um die Hacienda als mexikanische Gesellschaft in Miniaturform legt (Abb. 88/89).

Abb. 88: Die maskuline Klammer: Das gutmütige Bauernmädchen Cruz wird in der Liebestriangulation der ›comedia‹ zum Zankapfel zwischen Herr und Knecht. Die Ständeklausel des Hacienda-Systems lässt nur die Liaison mit José Francisco zu, der genau wie sie ein mittelloses Waisenkind aus Rancho Chico ist. Abb. 89: Im Continuity-Editing, das den Patron und den Peon im Lachen vereint, kreiert de Fuentes eine klassenübergreifende Gedächtnisklammer, die die Hacienda-Gesellschaft als ein nationales Zukunftsmodell imaginiert.

Als der Patron seinem Caporal nach dessen selbstloser Rettungsaktion die Bruderschaft anbietet (»Quiero que sepas, que lo que hiciste ayer no lo olvidaré nunca. Desde hoy no sólo eres mi caporal, sino mi hermano.« (53:00)), flüchtet der demütige charro in seine gesellschaftliche Funktion des Leibwächters der Latifundisten-Kaste (»Pues si yo no más cumplí con mi obligación, don Felipe« (53:09)) – in nuce wird in diesem Dialog das Fundament des mexikanischen »capitalismo patriarcal«244 offengelegt. Dass die Aufwertung eines servilen Selbstbildes in der Hacienda als »microsociety«245 eine volkserzieherische Funktion im Gewand einer unterhaltsamen Komödie birgt, räumt der Hacienda als mexikanischem Gedächtnisspeicher eine besondere Funktion für Selbstbildformationen ein. Bezeichnenderweise trägt der Patron als Primus der Charro-Gesellschaft auch das mexikanische Wappen auf seinem Rücken 242 243 244 245

Zit. in Mecke 2016, 109. Mecke 2016, 109. Ávila/de la Mora 2016, 123. Buve 1984, 7.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

(1:10:08), eine Chiffre, die die patriotische Modellhaftigkeit des Rancho Grande unterstreicht. Der Charro als ritterlicher Untertan, so die Botschaft der eutopischen Hacienda, ist ein Ideal, das einer Stabilisierung der zerrütteten Gesellschaft den Weg ebnet.246   Indem nun Allá en el Rancho Grande die Matria in ihrer ruralen Unschuld zum Metonym für eine homogene, befriedete Patria transformiert, wird eine Heimatliebe bemüht, die die postrevolutionäre mexikanische Gesellschaft hin zu einem Traditionsbewusstsein eines kalten Gedächtnisses erzieht. In der Beteuerung einer als klassisch gesetzten ruralen Semiosphäre offenbart sich in der comedia ranchera das vergangenheitsverklärende Naturell des Heimatfilms. Dass der Regisseur dabei mit dem Deckbegriff des Rancho operiert, und damit ein mit Schatten behaftetes Mnemotop hinter einer kollektiven Deckerinnerung positioniert, kann nicht über jenen »well-known habit of using the past, the ›good old days,‹ as a stick to beat the present«247 hinwegtäuschen. In der positiven Erinnerung an die als Ranchos kaschierten Haciendas verdrängt der mexikanische Heimatfilm nebenbei auch den historischen »Leidschatz«248 und die kollektive Erinnerung an die rurale Armut und die Hungersnöte, die das Porfiriat im Vorfeld der Revolution ins Wanken gebracht hatten. Im Gegenteil hierzu manifestiert sich in der kalten Mnemotopie der filmischen Hacienda eine »expression of the nostalgia for the Porfiriato fomented by the mass media«249 . Entscheidend ist allemal, dass in der für den Heimatfilm aufbereiteten Hacienda ein unliebsamer Teil der eigenen Geschichte ausgeklammert wird und jegliche historische Schuld mit Hilfe von »ästhetischen Verdunkelungen«250 getilgt wird. Im Gegensatz zu den tragischen Narrativisierungen des Landlebens ließ sich in der Konstruktion einer positiven Hacienda-Mnemotopie hinter der vermeintlichen Geschichtslosigkeit des Heimatfilms ein entsprechend positives, nahezu panegyrisches Gedächtnis an das Porfiriat verorten, wobei die Affirmation der Hacienda ihre ursprüngliche Logik eines »satélite de España«251 in Abkehr zum angelsächsischen Paradigma der Natiogenese zu restituieren scheint. Der Heimatfilm mit seinem Gespür für die Brennpunkte des Nationalbewusstseins knüpft in Mexiko an eine urbane emotividad matriótica an, die sich in der zunehmenden Verstädterung der Gesellschaft ausbreitet und leistet einem kollektiven Gedächtnis Vorschub, das in einer filmisch konstruierten »Repristination von

246 Es ist dabei naheliegend, auf eine unwillkürlich Parallele zwischen der Submission im mexikanischen Kolonialstaat hinzuweisen und einem populärkulturellen Memory-Building, das sich in das kollektive Gedächtnis der Nation einschreibt. Als Vasco de Quiroga, einer der ersten Kolonialverwalter von Nueva España, die Seele der kolonisierten Indios als »cera blanda« beschrieb (zit. in Paz 2016d, 586), griff er implizit auch auf die klassische platonische Gedächtnismetapher der Wachstafel zurück, die auch im Sinne einer modernen, filmgestützten Gedächtnisarbeit ihre Geltung nicht einzubüßen scheint. Zur Wachstafel als eine der klassischen Gedächtnismetaphern vgl. A. Assmann 1991, 13. 247 Raymond Williams zit. in v. Moltke 2005, 229. 248 A. Assmann 2015. 249 Mraz 2009, 136. 250 Seeßlen 1990, 348. 251 Paz 2016a, 248.

275

276

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Tradition«252 begründet liegt und eine »Wiederanknüpfung an das Ursprüngliche«253 vorzunehmen scheint. Im Falle des postrevolutionären Mexikos ist das pristine Moment der Nation dabei sicherlich in der scheidenden ruralen Gesellschaft zu sehen. Die Besinnung auf die Hacienda als retrospektive Orientierungsgröße ging in der nachrevolutionären mexikanischen Gesellschaft einher mit jenem »Verlust des Erinnerungsraums ›Heimat‹«, den Nicolas Pethes als Bedingungszusammenhang für die Prominenz der Mnemotopie in der Exilliteratur, sowie nach Krisenerfahrungen allgemein hervorhebt.254 Stilbildend für die »melodramas de identidad, sentimiento nacional y subjetividad masculina y femenina«255 war dabei auch der Rekurs auf musikalische Einlagen, mit dem in Allá en el Rancho Grande die kollektive Nostalgie nach der verlorenen Heimat in die Kinosäle transportiert wurde. »The music of home«, schreibt Svetlana Boym in The Future of Nostalgia, »whether a rustic cantilena or a pop song, is the permanent accompaniment of nostalgia, its ineffable charm that makes the nostalgic teary-eyed and tongue-tied and often clouds critical reflection on the subject«256 . Wie einleitend an ¡Así es mi tierra! gezeigt, wurde der unlängst etablierte auditive Kommunikationskanal des Tonfilms im Falle der comedia ranchera instrumentalisiert für eine Emphase des ländlichen Mexikos als verschollene Heimat, wobei auch die Hacienda in einer zunehmend unscharfen urbanen Retrospektive in diese Ortskategorie aufgenommen wurde. Mehr als die Serenaden, die der Caporal nachts vor dem Fenster seiner angebeteten Cruz anstimmt, ist für den Heimatverlust eher die Canción Mixteca das musikalische Vehikel für die nostalgisch verbrämte Sehnsucht nach der Heimat.257 Cruz, die man mit Carlos Monsiváis Typisierung melodramatischer Heldinnen als eine »sufrida mujer mexicana«258 verstehen kann, ist ein Waisenmädchen, das im Rancho Grande in die stiefmütterlich-schroffe Obhut von Doña Ángela kommt. Beim Verrichten der auferlegten häuslichen Pflichten stimmt sie das Lied an, das einen distanten Blick auf ein urtümliches Mexiko offenbart und in La suave patria von Ramón López Velarde eine programmatische Sinnfolie besitzt: ¡Qué lejos estoy del suelo donde he nacido!/Inmensa nostalgia invade mi pensamiento;/Y al verme tan sólo y triste cual hoja al viento,/Quisiera llorar, quisiera morir de sentimiento.//¡Oh, Tierra del Sol! Suspiro por verte/Ahora que lejos yo vivo sin luz, sin

252 253 254 255

J. Assmann 1991, 348. Ebd. Vgl. Pethes (2015). Zit. in Ávila/de la Mora, 123. Im Aufsatz wird die Musik als ein bedeutendes Charakteristikum der comedia ranchera diskutiert, mit der eine nostalgische Stimmung heraufbeschworen werde. 256 Boym (2001). 257 Wie bei der Untersuchung der Filme zur Grenz-Mnemotopie bestätigt wird, handelt es sich bei diesem von José López Alavez 1915 komponierten Lied um die Hymne des mexikanischen déraciné schlechthin und wird auch in Pito Pérez se va de bracero(1948) und Espaldas mojadas (1955), den beiden weiter unten untersuchten Assimilationsdramen der Braceros im US-amerikanischen Jenseits, aufgegriffen, um das mexikanische Heimweh zu destillieren. 258 Monsiváis/Bonfil 1994, 120. Den Hinweis verdanke ich Kurt Hahn, der Santa als literarischen und filmischen Prototyp der melodramatischen Heldin diskutiert (vgl. Hahn 2016, 53).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

amor;/Y al verme tan sólo y triste cual hoja al viento,/Quisiera llorar, quisiera morir de sentimiento. (17:50) Im nostalgischen Lamento von Cruz findet die kollektive urbane Sehnsucht nach der pastoralen Gesellschaft der »Tierra del Sol« ihren musikalischen Ausdruck; Das ewige Mexiko wird aus einer vorbelasteten Vergangenheit herausgelöst und gegen die cardenistische Wende positioniert. Analog zu der Domestikation des Knechts und der Domestikation der Frau, wird in der Hacienda letztlich auch die Varianz von ortsgebundenen Gedächtnisnarrativen domestiziert. Die kalte Mnemotopie der Hacienda wird in der resignierten Glückseligkeit des Heimatfilms zu einem Gedächtnisträger einer »domesticated memory […] vacated of remembrance«259 . Und es ist gerade die Stimmung einer unproblematischen Nostalgie mit der Allá en el Rancho Grande eine »rebellion against the modern idea of time, the time of history and progress«260 geltend zu machen vermag und die Hacienda als ausgehöhltes Mnemotop zum haut lieu eines zeitresistenten, ewigen Mexikos stilisieren kann. Während die beeinträchtigte Landoligarchie sich in den neu entstehenden Milieus der urbanen »Revolutionselite«261 rekonfigurierte und die Haciendas vielerorts verlassen oder parzelliert wurden, wurde das mexikanische Kollektiv imaginär entschädigt durch eine Gedächtnisstiftung der restaurativen Nostalgie, die die mexikanischen Urbilder in die Prozesse der ins Stocken geratenen mexikanischen Natiogenese reintegriert. »Esta es tu casa, aquí tienes tu posición« (1:34:30), sagt der Patrón Felipe zum Waisen José Francisco nach Auflösung der Liebesintrige, und kompensiert damit symbolisch die historische Verwaisung einer alten, aus den Fugen geratenen Ordnung des mexikanischen Hinterlands (Abb. 90). Die Adoptionsgeste, mit der Allá en el Rancho Grande endet, bot großen Teilen der mexikanischen Gesellschaft, die ihre Heimatorte wie José Francisco verlassen mussten, eine solide Identifikationsvorlage. Die Hacienda der comedia ranchera wird so zu einem Ort symbolischer Restauration, mit der ein mexikanisches ›Nation-Rebuilding‹ in die Wege gebracht wird. Die mexikanische Revolution bleibt aber in der kalten Mnemotopie des Rancho Grande als kollektives Trauma und historischer Übergangsritus verbannt. Hinter dem Deckbegriff der Großranch, in welchem der Charro-Kult um seine historischen Stigmata bereinigt wurde, wurde der Schattenort der Hacienda zu einem uneinholbaren Ideal aufgewertet, um die fragile Gegenwart zu stützen, ein Kontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konstruieren und dem flüchtigen Kollektivsingular der mexicanidad ein wiedererkennbares Profil zu verleihen. In der affirmativen Intonation wurde die Hacienda zu einem kalten Mnemotop und folglich zu einem Speicher der Selbstbilder, mit welchen Vergangenes und Entschwundenes vergegenwärtigt werden konnte. Wie nun die Hacienda in den filmischen Rückholungen der Folgezeit zum Schauplatz abgeschlossener gesellschaftlicher Konflikte wurde, soll abschließend am Beispiel

259 Andermann 2015, 5. 260 Boym (2001). 261 Vgl. Tobler 1984, 449-453.

277

278

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 90: Das unbewohnbar gewordene Hinterland wird im kinematographischen Funktionsgedächtnis zur Hacienda mit einer imaginären Restitution der alten Ordnung kompensiert. Die Adoption der ›orphans of the hacienda‹ erscheint als symbolische Entschädigung eines historisch enterbten mexikanischen Nationalkollektivs: »No te vayas, José Francisco, (...), aquí todos te estiman, todos te queremos, ¿verdad, muchachos?« (1:34:16).

Flor Silvestre von Emilio Fernández erörtert werden, in welcher die Rückkehr zur suave patria weniger einer nostalgischen restauratio als vielmehr einer traumatischen commemoratio gleichkommt. In einer tragischen Retrospektive wird die Hacienda in Flor silvestre erneut zur Zielscheibe revolutionärer Umsturzversuche, allerdings nur als Erinnerung an eine definitiv überwundene historische Phase.

3.4. 3.4.1.

Flor silvestre (1943) Konziliatorische Gedächtnisstiftung des Melodrams

Im Anschluss an die kinematographischen Erinnerungsvorlagen der añoranza porfiriana, die der cardenistischen Wende mit topologischen Restaurationssujets zuwiderliefen, brach in Mexiko ab 1940 eine Epoche an, in welcher das Nationalkino sich zu einer staatlich geförderten Institution entwickelte und zum Sprachrohr der nationalistischen Rhetorik unter den Präsidenten Manuel Ávila Camacho (1940-1946) und Miguel Alemán (1946-1952) wurde. Ein bedeutender ideologischer Umschwung bestand hierbei in einer Bürokratisierung der Revolutionsideale und im Übergang von revolutionären zu evolutionären Entwicklungsparadigmen, mit welchen die politischen Metanarrative bis zum

278

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 90: Das unbewohnbar gewordene Hinterland wird im kinematographischen Funktionsgedächtnis zur Hacienda mit einer imaginären Restitution der alten Ordnung kompensiert. Die Adoption der ›orphans of the hacienda‹ erscheint als symbolische Entschädigung eines historisch enterbten mexikanischen Nationalkollektivs: »No te vayas, José Francisco, (...), aquí todos te estiman, todos te queremos, ¿verdad, muchachos?« (1:34:16).

Flor Silvestre von Emilio Fernández erörtert werden, in welcher die Rückkehr zur suave patria weniger einer nostalgischen restauratio als vielmehr einer traumatischen commemoratio gleichkommt. In einer tragischen Retrospektive wird die Hacienda in Flor silvestre erneut zur Zielscheibe revolutionärer Umsturzversuche, allerdings nur als Erinnerung an eine definitiv überwundene historische Phase.

3.4. 3.4.1.

Flor silvestre (1943) Konziliatorische Gedächtnisstiftung des Melodrams

Im Anschluss an die kinematographischen Erinnerungsvorlagen der añoranza porfiriana, die der cardenistischen Wende mit topologischen Restaurationssujets zuwiderliefen, brach in Mexiko ab 1940 eine Epoche an, in welcher das Nationalkino sich zu einer staatlich geförderten Institution entwickelte und zum Sprachrohr der nationalistischen Rhetorik unter den Präsidenten Manuel Ávila Camacho (1940-1946) und Miguel Alemán (1946-1952) wurde. Ein bedeutender ideologischer Umschwung bestand hierbei in einer Bürokratisierung der Revolutionsideale und im Übergang von revolutionären zu evolutionären Entwicklungsparadigmen, mit welchen die politischen Metanarrative bis zum

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Massaker von Tlatelolco 1968 gestützt wurden.262 In der Blütezeit der Filmindustrie lässt sich neben einer Positionierung im internationalen Vergleich und der Herausbildung einer nach Außen repräsentativen mexicanidad auch ein neues nationales Selbstbewusstsein erkennen, das von einem relativen ökonomischen Wohlstand in Zeiten des Zweiten Weltkriegs und einer »Golden Age of consumption«263 getragen war. Das gesteigerte Selbstwertgefühl im Zuge der Institutionalisierung der Revolution brach sich auch in einem »heightened sense of patriotism«264 Bahn, der mit einer Bündelung der Gedächtnisnarrative in einer als bürgerliche Bildungsinstitution verstandenen Kulturindustrie korrespondierte. Aus dem schwierigen Sammelbegriff der mexicanidad wurde in den 1940er Jahren zunehmend ein gesellschaftliches Organisationsprinzip und ein Einheitsmythos geschmiedet, der eine orts-, generations- und klassenübergreifende Zugehörigkeit der Mexikaner zur Gran Familia Revolucionaria beschwor: For the Ávila Camacho state, the Vasconcelista idea of building through culture presented itself a chance to construct a new and truly post-Revolutionary state, in which the fissures caused by the revolution could be mended and the country united. The administration of Ávila Camacho invested in the creation and promotion of a national culture more aggressively than any other state in the Western Hemisphere. From 1940 to 1946, the administration supports a national ballet, a national symphony orchestra, a national school system, and a continuing mural tradition.265 Entgegen der starken Diskrepanz zwischen Staatsprogramm und Populärkultur unter Lázaro Cárdenas, wurde die Ära Camacho als eine Zeit der Versöhnung und Einheitsbildung in der Filmindustrie von einer »explosión de mitos«266 begleitet, die das mexikanische Selbstverständnis im Einklang mit einer nationalistischen Mythologie gestalteten und der mexicanidad ein »nationalist ideological veneer in an era of transnationalization«267 zu geben verstanden. Als Repräsentationscodes die gleichermaßen das Selbstbild nivellierten und eine nach außen wirksame Identität propagierten, erlebten die filmischen Charro-Gesellschaften mitsamt den gay latin bandits268 einen neuen folkloristischen Boom – in Mexiko als Typus des noblen Banditen oder geläuterte Revolutionärs, in den USA als »macho with dangerous levels of testosterone […] feared for his potential violence«269 . Die Hacienda als klassisches Charro-Habitat war der Traditionsspeicher, an dem sich Miguel de Unamunos Sinnspruch »la tradición es la sustancia de la historia«270 massenwirksam veranschaulichen ließ.

262 263 264 265 266 267 268 269

Vgl. Joseph/Rosenstein/Zolov 2001, 4. Ebd., 10. Ebd., 9. Tierney 2007, 27. Roger Bartra zit. in Fein 2001, 184. Fein 2001, 163. García Riera 1987b, 151. Foster 2008, 41. David Foster Wallace beschreibt in seinem Beitrag die Einflüsse einer einseitig serialisierten Mexikanität auf das Genre des US-amerikanischen Western. Weitere Hinweise auf die kommerzielle Ausschlachtung der mexicanidad in Hollywood finden sich bei Schulze 2013, 218ff. 270 Unamuno 2007, 80.

279

280

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Einer der großen Profiteure innerhalb des neuen Zyklus der Renationalisierung und nationalistischen Rückbesinnung in Mexiko war der junge Schauspieler und Regisseur Emilio Fernández (1904-1986), der nach seiner Teilnahme an der Revolution in den Reihen von Pancho Villa und Venustiano Carranza und einer langen Odyssee im amerikanischen Exil schließlich in Hollywood landete, wo er als Komparse einen Einblick in die Mechanismen der nordamerikanischen Filmindustrie gewinnen konnte.271 Mit seinen 129 Filmen, in welchen er mitspielte und/oder Regie führte, war Fernández der schillerndste Exponent des Cine de Oro und gleichzeitig jemand, der für eine »paradoxically conservative vision of the post-revolutionary Mexican nation«272 stand und wie kein anderer die nationalen Embleme des mexikanischen Kinos zu kanonisieren wusste. Der bei den meisten Filmen von Fernández für Photographie und Kameraarbeit verantwortliche Gabriel Figueroa war für die Herausbildung einer markanten filmischen mexicanidad nicht minder bedeutsam. Einer der emblematischen Drehorte in der umfangreichen Filmographie des Indio, wie der Regisseur aufgrund seines Phänotyps genannt wurde, ist dabei die mexikanische Hacienda als umkämpftes Landgut und Hort melodramatischer Liebessujets. Lange bevor Fernández Flor Silvestre drehen konnte, war er bereits als tanzender Statist in Allá en el Rancho Grande zu sehen (Abb. 86) und hatte die Hauptrolle in Adiós Nicanor (1937) von Rafael E. Portas, wo er einen virilen Herzensbrecher mimte, der die Hacienda-Ordnung durcheinander bringt. In El Zorro de Jalisco (1941) von José Benavides jr. kämpfte er in der Rolle eines maskierten Schurken gegen einen um die Hacienda gebrachten Landbesitzer. Und als Regisseur verortete er bereits seinen zweiten Film in einer Hacienda: In Soy puro mexicano (1942), gedreht mit der Unterstützung amerikanischer Propagandafonds273 während des ideologischen Tauziehens im Zweiten Weltkrieg, wird eine mexikanische Hacienda von karikaturesken Vertretern der Achsenmächte eingenommen. Der entweihte haut lieu des Mexikanertums muss von dem schlitzohrigen Banditen Lupe Padilla (Pedro Armendáriz) wieder befreit werden. Auch wenn der Film nicht viel mehr als weltpolitischen Klamauk unter dem friedlichen mexikanischen Himmel bietet, ist Soy puro mexicano ein beispielhaftes kinematographisches Pamphlet, das vordergründig einen Triumphzug der mexicanidad gegen die Achsenmächte durchspielt und einen mestizischen Stolz anspornt, indirekt jedoch einen panamerikanischen Schulterschluss mit den USA für den Ernstfall einstudiert. Nebenbei wurde in der Bekämpfung gemeinsamer Feinde vorübergehend auch der mexikanische Bandit rehabilitiert, der seine Ehre dank der Rückeroberung eines nationalen Identitätsbollwerks wiederherstellen kann. Einer verklärenden Erinnerung an die Caudillos der Revolution, allen voran an den für seine Raubüberfälle berüchtigten Pancho Villa, waren in dieser staatlich orchestrierten Stimmung Tür und Tor geöffnet, zumal

271

Einen soliden Überblick zur einzigartigen, von der Mythomanie des Regisseurs überformten Biographie Emilio Fernández’ findet man bei García Riera 1987, 9ff. 272 Tierney 2007, ix. 273 Zu den patriotischen Exzessen und der mäßigen Akzeptanz des von USA mitfinanzierten Propagandafilms schreibt García Riera 1987, 33ff. Einen guten Einblick in die Einflussnahme der USA auf den mexikanischen Filmmarkt bietet Fein (2001).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

die Rekonziliation mit der nationalen Vergangenheit vom coloso del Norte jenseits der Grenze mitfinanziert wurde. Den identitätsstiftenden Charakter der Landfrage in Flor Silvestre antizipierend, die sich ein ums andere Mal in den Haciendas entzündet hatte, ist in Soy puro mexicano bereits die Vorliebe des Regisseurs für den Stoff territorialer Interessenskonflikte sentenzartig enthalten. Mit folgenden prophetischen Worten wendet sich der begnadigte Bandit und personifizierte Instanz des Nation-Building an ein Bauernkind: »Tu aprenderás a leer y a escribir. Y así puede ser que algún día seas dueño de un ranchito, un buen caballo y una bonita mujer. […] Si tú quieres ser feliz, debes trabajar, trabajar duro, ¿entiendes?, ser un buen mexicano« (58:25). Im formativen Charakter der nationalistischen Replik, die bei einem Lagerfeuer im Nopal-Feld erklingt, lässt sich bereits die patriotische Devotion erkennen, die Fernández in der frühen Schaffensphase besonders plakativ zur Schau stellte. Schon im zweiten Film finden sich damit zwei der wesentlichen Leitmotive in einer prägnanten Formel verdichtet, die Emilio García Riera im Gesamtwerk des Regisseurs ausmacht: »el beneficio de la instrucción pública y, sobre todo, la exigencia revolucionaria de dar la tierra a quien la trabaja«.274 . Doch bei all dem idealistischen Eifer der postrevolutionären Selbstvergewisserung kann man auch erkennen, wie widersprüchlich die Vergangenheitsbewältigung in den Filmen Fernández’ war. Seine Behandlung der Haciendas als schützenswerte Mnemotope des ewigen Mexikos kollidierte nicht selten mit den revolutionären Forderungen nach Landverteilung und legte eher seinen antimodernistischen Neigungen und den latenten Wunsch nach Kontinuität und Konservation offen – zentralen Bedürfnissen einer Gesellschaft nach krisenhaftem Strukturwandel. Die Ideologie des Regisseurs und enterbten Nostalgikers, sein als Trauma empfundener Heimatverlust und seine Sehnsucht nach einem instandgesetzten edén subvertido wird in einem Interview deutlich, das Julia Tuñón überliefert: Usted no puede detener el progreso, el desgraciado progreso nos ha arruinado, nos ha quitado toda la forma de ser, hasta nuestro espíritu nacional. […] Por eso yo sigo a la antigua. Digo, puedo porque yo me baso en el drama rural y la cosa rural siempre ha sido … igual, siempre, siempre.275 Die kinematographischen Appelle an eine robuste, international gewürdigte Nation, mit welchen Emilio Fernández die Einheitsbeschwörung als postrevolutionäres Masternarrativ legitimierte, mussten sich also an die Rekonstruktion eines ewigen Mexikos klammern, das im Zuge der agrarwirtschaftlichen Modernisierungsschübe immer stärker zum historischen Auslaufmodell verkam. Es ist hierbei signifikant, dass Fernández ausgerechnet die Revolution zum Ursprungsnarrativ der modernen mexikanischen Nation auserkoren hatte, obgleich die massiven Transformationsprozesse sicherlich

274 García Riera 1987, 9. Seine Feindseligkeit gegenüber der göttlichen Kaste der Landbesitzer manifestierte Emilio Fernández im frühen Alter, als er, wie es García Riera überliefert, einen terrateniente, den er mit seiner Mutter im Bett fand, erschoss, um sich postwendend der revolutionären bola anzuschließen (vgl. García Riera 1987, 12). 275 Zit. in Franco 2010, 369.

281

282

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

auch als Zeitenwende hin zu einer verspäteten mexikanischen Moderne betrachtet werden können. In Fernández Mexikobild entsteht damit ein eklatantes Spannungsverhältnis zwischen revolutionären Überwindungsversuchen problematischer Traditionen und Nietzsches bedrohlicher Umwertung aller Werte, die mit der Modernisierung als »rasend-unbedachte[s] Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente«276 einherschreitet. Da beide Erklärungsmodelle mit der klassischen Setzung einer erhöhten horizontalen und vertikalen Mobilität kompatibel sind, spielt das Melodram als ein Genre, das schicksalhafte Bewegungen im Raum und sozialem Gefüge dramatisiert, eine große Rolle im Werk von Emilio Fernández, ja im mexikanischen Nationalkino überhaupt.277 Wenn Marcia Landy also bei ihrer Untersuchung massenwirksamer Vergangenheitsbezüge im Film das Melodram als »lifeblood of commonsensical thinking«278 bezeichnet, wird die große gemeinschaftsbildende Relevanz von Filmen wie Flor Silvestre begreiflich als eine Abbildung vorpolitischer Befindlichkeiten, die in der historischen Folklore der mexikanischen Gesellschaft eingebettet waren. In der als Tragödie empfundenen Zerstörung des Mexiko a la antigua, wird in Flor Silvestre das Gedächtnis an die Revolution entsprechend kontrovers gepflegt als ein einerseits überfälliger Generationenkonflikt zwischen einem Hacienda-Patriarchen alter Schule und seinem abtrünnigen Sohn, andererseits als eine Neuordnung, die die fatale, mit einer stoischen Sesshaftigkeit korrespondierende Traditionsverbundenheit nur mit großen Opfern zu beseitigen vermochte. Im Zentrum des Geschehens steht eine generische Hacienda, irgendwo im Bajío, die in den Wirren der Revolution verwüstet wird und mit ihr auch das Urbild eines vorrevolutionären Mexikos. Die Destabilisierung der alten Ordnung wird eingeleitet durch einen Vater-Sohn Konflikt, denn José Luis Castro, der erste und einzige Sohn des Hacendados Francisco Castro, heiratet Esperanza, eine Waise aus dem Stand der medieros (Pächter) und bricht damit mit dem Willen der Eltern, die auf der Wahrung der Ständeklausel als Sukzessionsformel ihrer Vormachtstellung bestehen. Auf dem Roman Sucedió ayer (1940) von Fernando Robles basierend, den der vielbeschäftigte Drehbuchautor Mauricio Magdaleno für den Film angepasst hatte, veranschaulicht Flor silvestre die gewaltsame Transformation Mexikos aus der Perspektive eines Familienmelodrams. Anhand der Zerstörung einer Hacienda als Kristallisationspunkt eines klassischen mexikanischen Selbstverständnisses, wird im Film die Revolution als dramatische historische Zäsur expliziert, um welche ein Gedächtnis an die Opfer kultiviert wird, die das Fundament des mexikanischen Neubeginns bilden. Dass hierbei einmal mehr die Pflege des kollektiven Gedächtnisses relevanter war als eine 276 Nietzsche 1988, 313. 277 Zum Melodram als ästhetischem Komplement der Moderne und Kommentar auf die erhöhte gesellschaftliche Mobilität schreibt ausführlich Singer 2001, 25f., 42, et passim. Unter Berücksichtigung der modernity thesis von David Bordwell, liege der »primary catalyst of social discontinuity« für Singer im globalen Anstieg der Warenwirtschaft vor (vgl. 25f.). Damit bildet die modernity thesis einen Gegensatz zum offiziellen mexikanischen Geschichtsverständnis, das historische Brucherfahrungen als fundierende gesellschaftliche Metanarrative pflegt und die historischen Marksteine der Conquista oder der Independencia retroaktiv mit der Logik einer revolutionären Diskontinuität besetzt. 278 Landy 1996, 16.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

faktologische Belastbarkeit, verrät bereits der Prolog, der zusammen mit dem Epilog einen narrativen Rahmen bildet: In einem raumgreifenden horizontalen Kameraschwenk überblickt die Kamera von Gabriel Figueroa die ehemaligen Besitztümer des Castro-Clans (Abb. 91), während die gealterte Esperanza ihre Erinnerungen und damit die »mnemische[…] Energie«279 der Landschaft an ihren Sohn, den Abkömmling der fatalen Mésalliance, tradiert: Todas estas tierras pertenecieron a los Castro. En ellas vivieron miles y miles de familias de peones. El ganado que se criaba en los potreros de la hacienda era uno de los mejores y más numerosos del Bajío. Eran muchas tierras para una sola familia. Los amos podían recorrerla de día y de noche, sin llegar a sus límites. Eran muy pocos los que tenían tantas tierras. Otros, en cambio, no tenían nada. Sin embargo, nadie puede vivir sin un pedacito de tierra. El amor de la tierra es el más grande y el más terrible de todos los amores. Eso no lo sabía yo entonces. Fue preciso que vinieran los días dolorosos para que aprendiera, que todo por lo que luchan los hombres se reduce a la posesión de la tierra. Aquí nació y murió tu padre. Y aquí nos casamos. Todavía está allí la capillita en aquella loma. Todo eso sucedió hace muchos años. Pero lo llevo vivo en el corazón como si acabara de ocurrir. (2:12-3:43) Obwohl Fiktion, handelt es sich um die orale Überlieferung einer Zeitzeugin, die die »lingering presence«280 ihrer Vergangenheitsversion als gegenwartsbestimmende Rückholung inszeniert und narrativ plausibilisiert. Im aktualisierten Bewusstsein für die Brisanz der Landfrage, das Esperanzas Biografie mit vielen Entbehrungen und biographischen Wunden gekerbt hat, wird die enorme Landeinheit, deren Dimension sich im diesigen Horizont verliert, als ein tragisches Mnemotop etabliert, das eine überindividuelle Gültigkeit in Form einer exemplarischen, für das Nationalkollektiv relevanten Rekapitulation ausspielt (Abb. 92). Bereits hier wird auch ein Revolutionsbegriff geprägt, in welchem eine fatale Ortsgebundenheit nur durch Gewaltexzesse zu durchbrechen war.281 In Esperanzas »memoria melodramática«282 gerinnt der prärevolutionäre Status quo ante zu einer vollkommen statischen und ewigen Zeit, die auch Fernand Braudel in der ruralen Sesshaftigkeit als überhistorische Kontinuität der Zivilisationsgrammatik erkennt: Il y a, si l’on veut, plus lente encore que l’histoire des civilisations presque immobiles, une histoire des hommes dans leurs rapports serrés avec la terre qui les porte et les nourrit; c’est un dialogue qui ne cesse de se répéter, qui se répète pour durer, qui peut changer et change en surface, mais se poursuit, tenace, comme s’il était hors de l’atteinte et de la morsure du temps.283

279 Warburg zit. in J. Assmann 1988, 12. 280 Gómez-Barris zit. in Andermann 2015, 6. 281 Zur Ortsaffinität langfristiger Strukturen, in welcher die »Randschärfe chronologischer Bestimmungen« unerheblich wird, schreibt Koselleck 1998, 114f. 282 Fernández 2015, 149. 283 Braudel 1951, 11f.

283

284

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 91: Die schiere Grenzenlosigkeit des ehemaligen Latifundiums korrespondiert in ›Flor Silvestre‹ mit einer zeitlich entgrenzten Überlieferung der Hacienda-Mnemotopie. Abb. 92: In Esperanzas Beschwörung der individuellen Vergangenheit an der Seite ihres Sohnes werden die Pflege des Wissensvorrats und eine generationsübergreifende Horizontbildung in oraler Tradition vollzogen.

Esperanzas nostalgisches Gedächtnis orientiert sich dabei an der Kapelle als Referenzpunkt einer in die Landschaft eingeschrieben longue durée, in welcher sich, parallel zu den politischen Umwälzungen am Ende des Porfiriats, die schicksalhaften Übergangsriten von Esperanza und José Luis Castro ereignet hatten. In ähnlicher Weise wie in Flor Silvestre individuelle Erinnerungen paradigmatisch für ein kollektives mexikanisches Gedächtnis ins Feld geführt werden, ist die intra-historia verzahnt mit einer makrostrukturellen Ereignisgechichte. Flor Silvestre basiert damit auf einer narrativen »microstructure on which the superstructure of history unwinds«284 , womit ein signifikantes ästhetisches Prinzip des filmischen Melodrams aufgegriffen wird – eine Mehrfachkodierung, die später zum Beispiel auch im Genre des deutschen Heimatfilms gleichermaßen charakteristisch war. Im Anschluss an Esperanzas Retrospektive wird in einer genuin kinematographischen Rückholung, einem Flashback, der nahezu die gesamte Filmlänge ausmacht, die Tragödie der individuellen und kollektiven Übergangsriten erzählt, die allesamt der Tradition zuwiderlaufen und in der sich die Zeitresistenz der mexikanischen Ständegesellschaft widerspiegelt. Um die Invarianz der ruralen Welt zu unterstreichen, zitiert der Regisseur mehrere Gemeinplätze der ländlichen pré-héritage, darunter die lokale Bauernschaft, die den Großgrund bestellt, und die Charros, die ihre Meisterschaft in der Viehzucht vor der ruralen Gesellschaft zum Besten geben (Abb. 93/94). Das neue Leben von dem Esperanza geträumt hat (5:18) basiert jedoch auf einer unheilvollen Allianz, da der Erbfolger aus dem Schoß der Hacienda-Familie – »una familia decente y cristiana« –mit der ungebührlichen Ehe (»sin el consentimiento de los padres« (11:35)) den Zorn seines Vaters auf sich zieht. »Primero lo mato que permitir que un Castro sea un renegado de su tradición y de su familia«, lautet die apodiktische Drohung des Patriarchen Francisco Castro im Zwiegespräch mit einem General der Federales 284 Edgar Reitz zit. in Santner 1990, 58.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 93: Die Hacienda der Castros und die Pflüge, Felder und Tierherden als habitualisierte Elemente der Hacienda-Wirtschaft. Abb. 94: Das Volksfest des ›Herradero‹, bei dem das Brandmarken und Domestizieren der Tiere zelebriert wird, ist eine Vollversammlung der Hacienda-Gesellschaft und ein Kristallisationsort der Charro-Kultur.

und Intimus der Familie. Während für den Vater die Sicherung des Familienerbes und die Stabilität des Betriebs im Vordergrund steht, lässt sich der Sohn von den revolutionären Diskursen anstecken und wird als einziger legitimer Erbfolger zum schwarzen Schaf der Familie, das die Hacienda-Gesellschaft in eine Sackgasse zu führen droht. Fernández nimmt damit eine Reaktualisierung des feudalen Mayorazgo-Prinzips vor, und lässt die väterliche Autorität mit despotischer Unnachgiebigkeit auf seinen Erstgeborenen projizieren, um eine mögliche »deshonra« (9:30) des Hauses zu verhindern. Der Konflikt spitzt sich auf dem Herradero zu, als Don Francisco seine nicht anerkannte Schwiegertochter von der Ehrenloge verbannt, die der casta divina, den Grundbesitzern, dem katholischen Pater und anderen Honoratioren der hierarchisch organisierten Dorfgemeinschaft vorbehalten ist. José Luis, der sich auf die Seite seiner Auserwählten stellt, konfrontiert seinen Vater in aller Öffentlichkeit und wird, nachdem der gekränkte Hacendado handgreiflich wird, ebenfalls aus der pastoralen Gesellschaft verstoßen (Abb. 95). Der Bruch in der Mikrogesellschaft der Hacienda wird bestätigt, als der Sohn sich mit Esperanzas Großvater Mut antrinkt, um den Vater doch noch umzustimmen, jedoch mit einer wuchtigen Ohrfeige zurückgewiesen wird, da der Vater nun auch über seine subversiven Machenschaften in der Region informiert wurde (Abb. 96). Der Sohn, der die Revolution und Ehrlosigkeit ins Haus bringt, und damit eine unmittelbare Gefahr für die stabilitas loci verkörpert, wird als »miserable« und »mal hijo« (39:00) abgekanzelt und findet mit Esperanza Zuflucht in einem kleinen Landhaus, mit dem implizit die Parzellierung der Haciendas in Ranchos angedeutet wird – das Ende der ländlichen Erbfolge im Sinne eines feudalen Rudiments. Der Konflikt währt aber nur, bis Vater und Sohn von der Radikalität der Wende und dem revolutionären Terror eingeholt werden. Zunächst wandert José Luis noch mit Esperanza in die Bildtiefe mit einem bescheidenen Landhaus am Horizont ab, während der Vers des präkolumbinischen Dichterkönigs Nezahualcóyotl und Quintessenz des Plan de Ayala (»…porque la tierra es de quien la trabaja y sueña y sufre en ella« (11:10))

285

286

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 95: Im Face-Off zwischen Vater und Sohn wird die mexikanische Fronde auf einen familiären Generationenkonflikt übertragen. Abb. 96: Der geohrfeigte Sohn als multiple Metapher für die revolutionäre Polarisierung, die Wehrhaftigkeit des Hacienda-Systems und die Ächtung revolutionärer Emporkömmlinge.

in einem bedeutungsschwangeren Voice-Over zitiert wird. Doch die erbarmungslose Kontingenz der Zeitenwende zwingt ihn alsbald, sich wieder zur leichtfertig aufs Spiel gesetzten solidarité du lignage zu bekennen. Fernández markiert den schlagartigen Paradigmenwechsel mit einer Sequenz, in der alarmierende Titelseiten der nationalen Presse mit der stock footage revolutionärer Kämpfe unterlegt werden (Abb. 97/98).

Abb. 97: Die Revolution als schlagartige historische Zäsur wird hinter einer durch Schlagzeilen beglaubigten Ereignishaftigkeit mit klassischen Motiven berittener Revolutionäre … Abb. 98: … und Kampfhandlungen im mexikanischen Hinterland veranschaulicht.

»La Revolución viene como un huracán barriéndolo todo«, klärt der befreundete General den Hacendado in seiner Finca über die nationale Lage auf, Esos jijos brotan de la tierra de todas partes y a todas horas. Esto ya se lo llevó el demonio, Pancho. Nosotros vamos de huida y no quiero que te quedes aquí tu solo. No tardarán en llegar esos bandidos y te anticipo que vienen cometiendo las más espantosas tropelías. (44:16)

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Und hier offenbart sich auch die Tragik der Erdverbundenheit, die im Prolog als melodramatische Antinomie eines »amor […] más grande y más terrible de todos los amores« (2:53) etabliert wurde. »¡No seas cabezón, Pancho, hazme caso!«, versucht ihn der fliehende General umzustimmen, ¿Crees qué te van a respetar, o qué? Si tú eres su peor enemigo, porque representas todo lo que esa gente viene destruyendo: riqueza, tradición, haciendas. Si tratan de acabar hasta con la última gota de sangre del último hacendado que quede defendiendo su tierra. (44:36) Doch einem Kapitän gleich, der das sinkende Schiff nicht verlassen, die althergebrachten Traditionen nicht aufgeben will, beharrt Don Francisco auf seinem historisch gereiften Patrimonium mit folgender resignierter Replik: Aquí está mi vida y aquí están mis muertos. No en vano pertenecemos al campo. Somos como esos árboles, que nada ni nadie puede arrancar, porque tienen las raíces muy hondas. Se los acaba sólo a hachazos. (44:56) (Abb. 99) In kurioser Analogie bedient sich der Hacendado dabei eines Gleichnisses, das der peón acasillado und Nicanor in der vorhergehenden Sequenz gebraucht hatte, um seine Bindung an den abtrünnigen José Luis zu legitimieren: Las ráices que crecen juntos no se separan nunca … nunca … nunca. Y nosotros con el niño José Luis semos como ráices, de las cuales la más juerte jala a las otras. Por eso nos vamos, pa‹ servirlo como lo hemos servido toda la vida … contando siempre con la licencia de su buena merced. (41:50) (Abb. 100) Im Bekenntnis einer kompromittierten gleba, das mit sprachlichem Lokalkolorit aufgeladen ist, liegt ein paradoxes Kontinuum, das bezeichnend für die ideologischen Inkonsistenzen der Vergangenheitsdeutung bei Fernández ist: Als servile Revolutionäre drehen die »good peasant[s]«285 von Flor silvestre der Hacienda nicht als Rebellen, sondern als ewige Leibeigene den Rücken und retten ihre Schicksalsergebenheit auch in die Neuordnung hinüber, in der sie auch weiterhin Vasallen bleiben. Die resignierte Beharrlichkeit der Hacienda-Gesellschaft ist damit den metaphorischen Axthieben (»hachazos«) ausgesetzt, mit denen die alte mexikanische Welt in Fernández Vision unwiederbringlich zerstört wurde. In nahezu dogmatischer Konkordanz markiert die Revolution als unabwendbare force majeur nicht nur einen nationalen Paradigmenwechsel, sondern auch den tragischen Wendepunkt im Melodram, denn die Hacienda von Don Francisco wird schon bald zum Zielobjekt der fürchterlichen Gewalttaten (»espantosas tropelías«), die der General angekündigt hatte. Personifiziert durch die Gebrüder Úrsulo und Rogelio Torres, letzterer von Emilio Fernández selbst gespielt, wird die Subversion des mexikanischen Edens als eine Heimsuchung des ›Ewigen Mexikos‹ durch Banditen inszeniert, die sich unter dem Deckmantel der Revolution der Hacienda bemächtigen.286 Don Francisco wird als unnachgiebiger Repräsentant der 285 Brenner 1971, 69. 286 Zum Topos der revolutionären Hacienda-Besetzung im Film wäre auch Chano Uruetas Verfilmung von Los de abajo (1939) zu nennen, wo die barbarische Orgie in einer leer stehenden Hacienda dem

287

288

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Abb. 99: »Lo que Dios, Nuestro Señor, tenga dispuesto«. Der in der Hacienda gepflegte providenzielle Fatalismus überbrückt die Revolution als tragisches, klassenübergreifendes Kontinuum. Abb. 100: Der Aufstand der ›gleba‹ ist bei Fernández nicht mehr als eine bange Loyalitätsbekundung gegenüber einer widersprüchlichen revolutionären Elite, und damit der Hinweis auf eine perpetuierte Untertanmentalität.

alten Ordnung geopfert und seine Leiche auf einem der Bäume aufgehängt, die zuvor die lebenslangen Bindungen symbolisiert hatten (Abb. 101). Indes verkommt das Portrait des Potentaten, das, wie bereits in Allá en el Rancho Grande, die historisch bewährte Hausmacht in der mexikanischen Matria symbolisiert, zur Zielscheibe der wild um sich schießenden Banditen inmitten des kruden Karnevals (Abb. 102). Mit der symbolischen Erschießung des porträtierten Hacendados krönt Fernández die Eingliederung der Rebellen in den Bereich eines revolutionären Primitivismus und erinnert an eine historisch überlieferte Anekdote, bei der Pancho Villas Gefolgschaft während der Convención de Aguascalientes (1914) das Bild Venustiano Carranzas durchsiebte.287 In seiner Funktion als kinematographischer Geschichtsmaler (A.L. Schlözer) erklärt Fernández die Revolution folglich aus einer alltagsnahen Sicht, die sich für die Hacendados in einem wüsten Bildersturm und einem topoklastischen Vernichtungszug erschöpfte. Gleichwohl ist der Umschlag der Rebellion in eine verheerende Realpolitik in Flor silvestre natürlich nurmehr eine historische Parenthese, sprich, der vorübergehende Einbruch der Anarchie in die stabile Zeitinsel der Hacienda. Die Rebellen sind nicht Villa, Madero, Zapata, oder andere in offiziellen Diskursen sakralisierte Revolutionäre, sondern zwei vulgäre Repräsentanten des mexikanischen bandidaje alter Tage, deren Vergeltungszug eher einem modus vivendi denn einer ideellen Revolte entspricht. revolutionären Idealismus viel eindeutigere Züge des Bandenwesens verleiht als die literarische Vorlage von Mariano Azuela. Im US-amerikanischen Kontext ist die Besetzung einer mexikanischen Hacienda im Zentrum von Sam Peckinpahs Banditensaga The Wild Bunch (1969), in der der gealterte Emilio Fernández die Rolle des korrupten General Mapache verkörpert (vgl. Pick 2010, 160-175). Der Einzug der Revolution in der Hacienda ist vor allem bei Peckinpah imaginiert als eine karnevaleske Inthronisierung der Anarchie, die ein ähnlich tragisches Ende nimmt wie die Sehnsüchte des Revolutionsgenerals Tomás Arroyo nach einer eigenen Hacienda in Luis Puenzos Old Gringo (1989), einer Verfilmung von Carlos Fuentes’ Roman Gringo viejo (1985). 287 Vgl. Monsiváis 1985, 237.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 101: ›Danse macabre‹ in der Hacienda: Wie ein Sturm fegt die vorübergehende Karnevalisierung Mexikos in ›Flor silvestre‹ über die Hacienda-Ordnung und markiert die postrevolutionäre Phase als eine Zeit ideologisch inkonsistenter Reparationen. Abb. 102: Während in ›El compadre Mendoza‹ die Allianzen durch changierende Portraits der Caudillos simuliert wurden, wird der adelsstolze Hacendado Francisco posthum als ›Schießbudenfigur‹ verhöhnt. Wie bereits bei der Mnemotopie der Ruine untersucht, erfolgt die Topoklastik der Hacienda im Sturm auf lokale Ikonen.

Die durch die Revolution initiierte mexikanische Weltwende ist daher mit entsprechend apokalyptischen Obertönen aufgeladen; zunächst als Sturm, dann als Gewaltexzess und schließlich als Pandemie, die den Volkskörper befallen hat. Als Träger einer politischen und zugleich biologischen Infektion stirbt Úrsulo Torres an Typhus noch bevor der Sohn des Hacendado die archaische ius talionis am Mörder seines Vaters in die Tat umsetzen kann. Das Gedächtnis, das Flor silvestre im Hinblick auf die fundierende Ereigniskette der mexikanischen Revolution konstruiert, ist hochgradig ambivalent und nur mit Mühe von einem konziliatorischen Kitt des Avilacamachismo zusammengehalten. Die »Casa paterna profanada por la convulsión histórica«288 dient in der Abrechnungstendenz des Films, die durchaus mit der Staatsräson und den historischen Affekten der Gegenwart korrespondierte, als Mahnmal gegen die Willkür und Straffreiheit der bewaffneten Revolutionsphase. Ausgerechnet die junge Garde verkörpert die Tendenz zur historischen Schließung. Auf der Suche nach »correligionarios honrados« (48:00) bläst der verwaiste Sohn von Pánfilo, Esperanzas Vetter und Revolutionsgeneral, zum Kampf gegen unmoralische Trittbrettfahrer der Revolution: […] El señor Presidente Madero quiere que se reestablezca la paz en el país. Y como la revolución ya triunfó, ahora viene lo difícil: Hay que acabar con el bandidaje[…] para controlar todo esto que hemos desatado. En el Bajío, tú que eres hijo de ricos, nos has puesto la muestra a todos los que soñábamos en tiempos más justos […] Tú que sientes la revolución y conoces como nadie estas tierras del Bajío debes ayudarnos a

288 García Riera 1987, 44.

289

290

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

limpiarla de tantos bandidos como los hermanos Torres y muchos otros que a la sombra de nuestra causa roban y asesinan. Esos son los peores enemigos de la revolución. (47:45-48:39) Mit der Einladung zu postrevolutionären Aufräumarbeiten transportiert der Film eine bedeutende Ambiguität, die die Paradoxien des ortsbasierten Memory-Building im postrevolutionären Mexiko sehr anschaulich illustriert: José Luis’ Kummer angesichts des revolutionären Terrors, das als mikrohistorischer Feldzug gegen die casta divina inszeniert wird, geht nach einer entscheidenden Besinnungspause des Protagonisten in der verlassenen Hacienda, in der Kapelle und am Grab seines Vaters, in die Restitution der alten Ordnung über. Die Logik einer nachrevolutionären Befriedung geht Hand in Hand mit einer feudalen Vendetta geht und motiviert eine formvollendete mexikanische Rachetragödie. Bei seiner Rückkehr in die verwüstete Hacienda erkennt der reumütige Sohn die Ausmaße des Konflikts und erkennt sich gleichzeitig selbst als Verwalter einer verwaisten héritage (Abb. 103), während im Hintergrund das Lied »El hijo desobediente« bereits sein Schicksal als tragische Prolepse besiegelt. Im Moment der schmerzvollen Selbsterkenntnis lässt Emilio Fernández den Zuschauer die emotionalen Peripetien an der Epochenschwelle mit Hilfe von mikrohistorischen Narrativen nachvollziehen, die in das Familienmelodram eingeflochten sind: Descuidando la escueta prédica del prólogo y el epílogo, la película no trata todavía de la Revolución con mayúscula, la Revolución Mexicana ya hecha Estado y estatua, sino del amplio, ciego, disperso combate generador cuyo movimiento aún no adquiere un dibujo y desencadena todas las fuerzas de la brutalidad ciega y sangrienta. El José Luis revolucionario encontrará su propia casa, su vientre materno, su clase, todo lo que hasta hace poco había sido su lugar en el mundo, saqueados y ultrajados por la misma fuerza colectiva a la que él ha unido su fuerza individual.289 Allen Warnungen zum Trotz, entschließt sich der geläuterte Revolutionär, die Ordnung durch das Talionsprinzip wiederherzustellen und fällt dabei implizit in die Logik der Blutfehde zurück. Die liens du sang, die hier ihre feudale Allmacht entfalten, werden in dem postrevolutionären Ordnungssinn wieder aktuell.290 Hatte zunächst der Vater in der fatalen Bindung an die toten Vorfahren – ein mexikanisches Leitmotiv, das im Werk von Juan Rulfo den wohl bekanntesten Exponenten besitzt – seine Ausweglosigkeit gesehen, ist es nun der Sohn, der eine Bringschuld an den verstorbenen Vater als patriotische Pflicht empfindet. Er begleicht sie, indem er den toten Úrsulo Torres ans Grab des Vaters legt, und die solidarité du lignage in der Hacienda in einer reumütigen Ansprache an den Toten wiederherstellt: Perdóname Papá, perdóname por todo. Si he sido un hijo desobediente, no he sido un hijo malo. Aquí está él que te arrancó la vida. Viene a saldar su cuenta como es ley en nuestra tierra que se saldan las cuentas. (1:14:30) (Abb. 104)

289 de la Colina zit. in García Riera 1987, 44. 290 Zum Kontinuum der Blutfehde als Prinzip der feudalen Gerichtsbarkeit schreibt Marc Bloch : »Le moyen âge, presque d’un bout à l’autre, et particulièrement l’ère féodale ont vécu sous le signe de la vengeance privée« (Bloch 1982, 126).

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Abb. 103: Im Moment der Rückbesinnung auf seine Herkunft, reiht sich der Schatten des Sohnes unter den gelynchten Vater ein, dessen Opfer den Generationenkonflikt schließlich doch zu Gunsten der Hacienda-Ordnung auflöst. Abb. 104: Im transzendentalen Dialog eines geläuterten Frondeurs mit seinem toten Vater wird das Erbfolgeprinzip wieder zum normativen Fixpunkt und, über das melodramatische Gleichnis hinaus, konstitutiv für die postrevolutionäre Entwicklung Mexikos.

Im Revanchismus des Sohnes, dem fatalen »veneno de la venganza« (1:21:30), lässt sich ein Gedächtnisvektor erkennen, der im Zeichen einer heißen Mythomotorik steht, allerdings nicht im konventionellen Sinne, den wir bei Eisensteins Hacienda-Lektüre als heißes Mnemotop untersucht hatten, sondern als Vergeltungsmaßnahme einer enterbten und gewaltsam destituierten casta divina. Während in Allá en el Rancho Grande die Hacienda zur Vergangenheitsglättung herangezogen wird, wird sie in Flor Silvestre zu einem profanierten Ort, dessen Schändung von der enteigneten Landoligarchie gerächt werden muss – eine reaktionäre Genugtuung, die in El compadre Mendoza nicht eingelöst werden konnte. Ein bedeutendes Motiv für die melodramatische Modalität291 des Films ist zweifelsohne die verwitwete Mutter Doña Clara, deren katatonische Schockstarre recht unzweideutig die Ohnmacht der subvertierten Matria symbolisiert. Für die melodramatische Chiffre der unüberwindbaren sozialen Barrieren ist es hingegen sinnfällig, dass der jugendliche Egalitarismus des Sohnes ein Lippenbekenntnis bleibt. Obwohl er im Gespräch mit seinen treuen Dienern Nicanor und Reinaldo »el conejo« das Gleichheitsideal beschwört (»Dios nos hizo a todo iguales y precisamente por eso ha surgido la revolución. Porque queremos que en México pobres y ricos sean realmente hermanos« (14:30)), ist die Führungsposition zunächst nur dem Ranchero aus dem Schoße des Landadels vorbehalten (Abb. 105). Von der zapatistischen Epik unter dem Motto »Tierra y Libertad«292 bleibt in Fernández Revolutionsnarrativ daher wenig übrig, denn die Hegemonie im Hinterland, das rurale mexikanische Kastenwesen, bleibt unangetastet.

291

Um die Vertracktheiten der Genretypisierung zu umgehen, arbeiten Christine Gledhill und Linda Williams mit der Vorstellung vom Melodram als einem sich durch Raum und Zeit bewegenden »mode of aesthetic articulation.« (Gledhill/Williams 2018, xiv.) 292 Vgl. Torres San Martín 2010, 264f.

291

292

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Es ist, wenn man Seth Feins Vorschlag folgt, nationale Filmkulturen einem »counterhegemonic reading«293 zu unterziehen, eher die latente und zugleich ungewollt ehrliche Naturalisierung einer postrevolutionären Hierarchiebildung. Das historische Imaginäre des Regisseurs speiste sich, wie man seiner Selbstbeschreibung entnehmen kann, aus einem entsprechend schwach differenzierten Gefühl der nationalen Zugehörigkeit, in welcher die brisante Klassenfrage unterbelichtet bleibt: Mis propias películas se han basado en la experiencia de mi vida con mi propio pueblo. Pertenezco a una familia muy humilde. En un nivel social, todos formamos una sola clase en México, gracias a los beneficios de la Revolución. A todos nos unifica un solo pensamiento: México. Pienso que en unos cuantos años tendremos un país maravilloso y muy sólido.294 Genau dieser widersprüchliche revolutionäre Segen der Homogenität muss in dem Film jedoch erst mit dem Blut von José Luis und den melodramatischen Tränen der Nachwelt gedüngt werden. Der Racheakt, den der Sohn am Grab des toten Vaters besiegelt (Abb. 106), ruft wiederum den Zorn des Banditenbruders hervor, der José Luis zu fassen bekommt und, entgegen seines skrupellosen Primitivismus, in einer standrechtlichen Hinrichtung erschießen lässt.

Abb. 105: Als Paladin der Bauern eifert José Luis unbewusst den Idealen des Vaters und damit der unverbrüchlichen ›tradición eterna‹ nach. Abb. 106: Die Schockästhetik der symbolischen Abrechnung, vollzogen an einem bereits toten Widersacher der Tradition: »(...) te cuelgo, para que te contemple desde su tumba mi padre.« (1:14:50)

Der Flashback des Melodrams endet damit, dass der Sohn vor versammelter ruraler Gesellschaft füsiliert wird, wie einst Maximilian, der Kaiser von Mexiko. Er stirbt als Edelmann und tragischer Held und ebnet den Weg für eine Neuordnung des Landes, die auf einem Bewusstsein für die Opfer der Revolten fußt. Unterdessen wird Esperanza, eine »sufrida mujer mexicana«295 und Spielball der melodramatischen Sujetfü293 Fein 2001, 187. 294 Zit. In García Riera 1987, 41. 295 Monsiváis/Bonfil 1994, 120.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

gung, ebenfalls zu einer Witwe und Trägerin eines tragischen Gedächtnisses. Der Tod von José Luis ist, laut José de la Colina, ein »sacrificio sagrado«. Nach dem Martyrium seines Vaters wird auch er zu einem »padre necesariamente inmolado de la juventud futura«296 , einer Nachwelt, die durch den Sohn von José Luis und Esperanza repräsentiert wird, dem Ergebnis der folgenschweren morganatischen Ehe. Esperanza bleibt nur das bittere Schuldbewusstsein, denn sie ist und bleibt eine »flor silvestre«, keine Rose und schon gar nicht eine adelige Lilie wie es im Titellied heißt (36:05).297 In ihrer Ohnmacht angesichts der melodramatischen Schicksalhaftigkeit, bleibt Esperanza die schuldlos schuldige »Pandora que desata el torbellino«298 , denn bei all ihrer Unbescholtenheit muss sie von nun an die Verantwortung für die fatale Transgression der Ständeklausel alleine tragen. War Doña Ángela in Allá en el Rancho Grande bloß ein Sündenbock, der die Komödie auf den regressiven Fixpunkt der paternalistischen Gesellschaft zurückgeschleudert hatte, ist Esperanza die tragische Überlebende des unwiederbringlich zerstörten Urzustandes. Die ungewollte Verführung, die im Lied mit der Zeile »tu perfume es mi martirio« (36:27) umspielt wird, nimmt im melodramatischen Sinnhorizont das Verderben von José Luis vorweg – eines ruralen Dauphins, der zu höherem bestimmt war und ausgerechnet an seiner Bestimmung zu Grunde gehen sollte. In Emilio Fernández geschichtsdidaktischer Parabel markiert sein Martyrium, ähnlich wie der Tod der Hacendado-Tochter in Eisensteins Maguey, das symbolische Ende der alteingesessenen Hacienda-Dynastien und der damit verbundenen tradición eterna. Stand in Eisensteins heißer Hacienda-Mnemotopie die eigentliche Auseinandersetzung noch bevor, wird bei Fernández die Bewältigung der revolutionären Auseinandersetzungen an die Kinder weitergereicht, die durch Esperanzas namenlosen Sohn repräsentiert werden. Der Flashback von Flor Silvestre dient Fernández als melodramatisches Memory-Building, bei dem die Gewaltspirale mit Hilfe einer Internalisierung der Vergangenheit durchbrochen wird, da eine eindeutige Solidarisierung mit den Vorfahren nicht mehr möglich ist. Die Verwerfungen zwischen der Eltern- und Großelterngeneration mahnen zur Besonnenheit. Der von der Mutter eingeweihte Sohn erbt damit gleichzeitig ein historisches Opfer- und Täterbewusstsein, so dass die daraus resultierende Abfindung einem konziliatorischen Gedächtnis Vorschub leistet und zur Erkaltung der in der Hacienda abrufbaren historischen Erinnerung beiträgt.

3.4.2.

Habitualisierung der Hacienda-Mnemotopie

In der narrativen Rahmung von Flor silvestre wird der didaktische Impetus des Films evident, denn auch die Koda, in der die Heldin des Melodrams zum Sprachrohr der Überlebenden wird, lässt sich als recht eindeutiges Instrument des Memory-Building in Post-Konflikt-Gesellschaften begreifen. Esperanza rundet die Überlieferung der tragischen Geschichte, die sich in der Hacienda der Castros abgespielt hatte, mit einem

296 Zit. in García Riera 1987, 44. 297 Das Titellied stellt eine melodramatische Poetisierung der immanenten und unüberwindbaren Ständeklausel dar, mit der dem Zuschauer ein weiterer unmissverständlicher Interpretationsschlüssel an die Hand gegeben wird. 298 de la Colina zit. in García Riera 1987, 44.

293

294

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

formativen Diskurs ab, in dem Fernández seine »obsesión por la educación«299 ausspielt, um die gesamte Nation zu adressieren: Y ahora ya conoces la historia de esta tierra, que es la historia de toda la tierra de México. Como yo, muchas madres conocimos en ella la más grande felicidad, y el más intenso dolor. En ella duermen nuestros muertos. Mis muertos, que son también tus muertos, hijo mío. (1:28:50) Ihre Ansprache in Großaufnahme richtet sich auf filminterner Ebene an ihren Sohn, einen der vielen heimatlos gewordenen »orphans of the hacienda, cast adrift in the hostile universe«300 . Doch seine stumme Aufnahme des mütterlichen Zeugenberichts lässt das Schlusswort in stärkerem Maße zu einer Direktadressierung der Zuschauer werden. In der postulierten Allgemeingültigkeit von Esperanzas Rekapitulation wird dabei eine kinematographische Objektivierung der nationalen Geschichte vorgenommen, die in den 1940er Jahren in einer Reihe von »versiones de la Revolución francamente revisionistas«301 Niederschlag fand. Bezeichnenderweise wird die Hacienda in der Rückholung von Flor Silvestre zu einem Fixpunkt erklärt, an dem sich die gesellschaftliche Transformation am besten ablesen lässt. Für eine radikale symbolische Zäsursetzung muss mit der Hacienda-Gesellschaft auch die Institution der Hacienda selbst für überwunden erklärt werden, was mitnichten bedeutet, dass die Strukturmerkmale des HaciendaSystems nicht weiterhin existierten, wie in Maguey und Allá en el Rancho Grande untersucht wurde. Als Mnemotop einer für obsolet erklärten Ordnung kommt der Hacienda jedoch in besonderem Maße eine »agency in shaping the future«302 zu, denn nur an einem Ort, der in einer abgeschlossenen Vergangenheit ausgelagert ist, kann Esperanza ihre »emplacements of memory«303 aus unüberbrückbarer zeitlicher Distanz vornehmen. Die gesellschaftliche Entwicklung Mexikos wird in der Bemühung des Films, eine historische Erfahrungsschwelle zu konstruieren, als eine überindividuelle Vorher-NachherStruktur nachvollziehbar. Im postrevolutionären »Sog der Verzeitlichung«304 wird die Hacienda von Flor silvestre als ein Gedächtnisspeicher funktionalisiert und bildet eine exemplarische Ereignismatrix der Revolution, die sich auch in anderen zeitgenössischen Hacienda-Lektüren beobachten lässt. Analog zur Stereotypisierung der Charro-Kultur in der comedia ranchera, wird im nationalen Kino der 1940er Jahre eine Objektivierung und graduelle Habitualisierung des kollektiven Gedächtnisses in der Hacienda vorgenommen, in welcher die mexikanische Revolución con mayúscula immer stärker zu einem ›historischen Komma‹ stilisiert wird, das flankiert ist von Epochen eines robusten mexikanischen Nationalismus: der »Científico-« und der »Revolutionsbourgeoisie«305 . Zur Stabilisierung des kulturellen Gedächtnisses musste die Revolution in den Bereich des

299 300 301 302 303 304 305

Vgl. Tuñón 1998, 437-447. Knight 1991, 87. Franco 2010, 369. Andermann 2015, 5. Ebd. Koselleck 1998, 123. Vgl. Tobler 1984, 503f.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

deskriptiven Unbewussten verlegt werden, den Assmann im Rückgriff auf Freud als den Bereich des »bis zur Selbstverständlichkeit Vergessenen«306 beschreibt. Im impliziten oder habitualisierten Gedächtnis zur Revolution, das in Filmen wie Flor Silvestre narrativisiert wurde, ließen sich historische Traumata zwar nicht verdrängen oder auslagern, wie am Phänomen der kognitiven Ausblendung der comedias rancheras untersucht wurde. Die Revolution wird im »impliziten Gedächtnis«307 des Nationalkollektivs lediglich einem pragmatischen Funktionsgedächtnis zugeführt und durch ritualisierte Erklärungsmodelle in Zirkulation gebracht, die sich als »bewohnte« Überlieferungsbestände308 oder dominante Elemente des »Identitätsvergewisserungsreservoir[s]«309 verfestigen. Die damit einhergehende Bändigung einer für die nationale Einheit problematischen Hypertrophie inkonsistenter Vergangenheitsbezüge lässt sich in Flor Silvestre in einer aussagekräftigen Bildmetapher erkennen: Nachdem Esperanza von Don Francisco in aller Öffentlichkeit verstoßen wird, ergreift sie die Flucht in einem Pferdewagen. Sie stürzt tragisch und Gabriel Figueroa, der »nuevo genio del lente«310 , hält seine Kamera auf ein rotierendes Rad in Detailaufnahme, das sich in umgekehrter Richtung zu drehen beginnt, während die Hintergrundmusik von Dur nach Moll moduliert wird (23:04). Es ist natürlich das Rad der Fortuna, das mit dem Unfall den Einbruch des Konflikts im Leben der schwangeren Protagonistin markiert. Doch die mikrohistorische Peripetie steht in abermaliger Parallele zur nationalen Entwicklung und symbolisiert einen Umbruchmoment, der durch eine rasche Ereignisfolge Chaos in der alten Ordnung Einzug halten lässt. In der melodramatischen Gedächtniskonstruktion wird José Luis zu Esperanzas verlorenem Objekt der Begierde – ein Verlust, der zur permanenten Geißel ihrer Nostalgie wird. Doch genau in der Nostalgie als einer klassischen historischen Emotion nach Krisenzeiten findet sich auch eine paradoxe Überschneidung der melodramatischen Ästhetik mit Esperanzas Sehnsucht nach einem verlorenen Weltschema, in dem eine glückliche Ehe nur unter Voraussetzung der standesgemäßen Ebenbürtigkeit denkbar war. Die allumfassende Nostalgie ist in beiden Fällen »un fuerte motor emocional, un patrón que tiende a expresar la añoranza por una época pasada, por un objeto perdido o por un amor irrecuperable«311 . In Esperanzas nostalgischem Flashback manifestiert sich damit nicht nur ihre Sehnsucht nach ihrer Sorglosigkeit der jungen Jahre, sondern auch ein ortsbasiertes Andenken an die vorrevolutionäre Zeit. Ihre narrative Retrospektive ist hierbei der mnemotopische Sinnstiftungsprozess – eine »incisión en lo cotidiano«312 , die dem Landstrich ihren tragischen Sinn verleiht und einen objektivierten Gegenwartsbezug der Hacienda etabliert. 306 Vgl. Assmann 2005, 369. 307 Vgl. Erll 2017, 81. Hier wird auch mit der Opposition Henri Bergsons zwischen einer mémoire souvenir und einer mémoire habitude auf ein prozedurales oder automatisiertes Gedächtnis hingewiesen, das einem expliziten, semantischen Gedächtnis gegenübersteht. 308 Vgl. Assmann 2005, 369. 309 Koselleck 2013, 78. 310 Zit. in García Riera 1987, 39. 311 Eine erhellende Diskussion der Nostalgie und des Flashbacks als genre-immanente Verfahren des Melodrams findet man in Fernández 2012, hier 152. 312 Resina 2005, 85

295

296

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Bei all der »debilidad ideológica«313 und dem »nacionalismo cándido«314 , die dem Regisseur vorgehalten werden können, ist Flor Silvestre ein signifikantes Beispiel für eine Kinematographie, die ihre historische Imagination in die Dienste einer domestizierten Erinnerung stellt. In der Tendenz, das kulturelle Gedächtnis mit Hilfe periodisierender kultureller Objektivationen zu stabilisieren315 , wird die peinigende Geschichte in Narrative eingebettet, die allgemeingültige Resümees ziehen und die Hacienda als historisches Stadium in einen »staatstragenden Whiggismus«316 eingliedern, der die nationale Entwicklung um zersetzende alternative Lesarten bereinigt. Im Sinne einer identitätskonkreten Horizontbildung317 ist auch die Streuung historischer Opferleistungen zu sehen: »[E]l argumento«, wie Georges Sadoul es im Hinblick auf Flor silvestre treffend hervorhebt, »condena a la vez los excesos de los grandes propietarios y los de la revolución – o de ciertos revolucionarios«318 . In der Mnemotopie der Hacienda findet sich auf diese Weise ein kollektiver mexikanischer »Leidschatz der Erfahrung«319 eingepflegt, womit die Revolution als ein habitualisiertes Gedächtnisnarrativ graduell einer semiotischen Schließung überführt wird, denn ähnlich wie die Ohnmacht Esperanzas angesichts einer historischen Zwangsläufigkeit, wird auch die revolutionäre Erfahrungsschwelle als ein unabänderliches Apriori, ja als Nationalmythos suggeriert, aus dem sich die gesellschaftliche Doxa speist und an dem es nichts mehr zu deuteln gibt. Vor dem Hintergrund einer kulturimmanenten Dialektik von Erinnern und Vergessen kann man beobachten, wie der Hacienda-Mnemotopie in Flor silvestre damit neue Funktionen der Gedächtnispflege übertragen werden. Zu Gunsten einer intelligiblen mexikanischen Vergangenheit, die der neuen Phase des Nation-Building zu Grunde liegt, wird im melodramatischen Flashback ein Rekurs auf die Vergangenheit als Speicher topologischer Gemeinplätze konstruiert, bei der dissonante Überlieferungen in den Hintergrund treten. Im vulgären Revolutionsbegriff der konventionellen Kinematographie, in welchem das Bandenwesen vorübergehend über eine traditionsbewusste mexikanische Zivilisation obsiegt, reift ein Nexus zwischen dem kulturellen Gedächtnis und der kulturellen Formensprache320 heran, die schließlich in einer kanonischen und serialisierbaren historischen Imagination absorbiert wird. Die Mnemotopie in Flor silvestre erfüllt so die Funktion einer »Disziplinierung des Denkens«321 und richtet den Manichäismus des Sujets und die historische Imagination auf die Aufgabe, die man mit Hayden White als »faculty […] to clothe the chaos of the phenomenal world in stable images«322 bezeichnen kann. Dabei gerinnt das »Vermögen der Wiederhervorbrin-

313 314 315 316 317 318 319 320 321 322

Franco 2010, 386. Ayala Blanco 1968, 95. Vgl. J. Assmann 1988, 12. Osterhammel 2012, 145. Vgl. J. Assmann 1988, 13. Zit. in: García Riera 1987, 41. A. Assmann (2015). Vgl. J. Assmann 1988, 12. J. Assmann 2013, 259. White 1966, 132.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

gung«323 in der ruinierten Hacienda allmählich zu einem habitualisierten Gedächtnishorizont des medial, der die vorpolitische gesellschaftliche Erkenntnismöglichkeit mit »fictions dominantes«324 grundiert. Die melodramatische Lesart der Revolution als »desencuentro entre la felicidad y la tragedia«325 lässt sich im Zuge der Trauerarbeit326 , die das Genre mit selektiven Vergangenheitsrekursen bemüht, beliebig oft nachempfinden, so dass die eindeutige Sinnstiftung der Vergangenheit in dieser Spielart immer wieder als ein »fruto de la imaginación melodramática que llena los recovecos con ficciones«327 erhärtet wird. Wenn Emilio Fernández also seinen Flashback in der Hacienda situiert, speist er das darin eingelagerte Gedächtnis in eine schier unendliche Serie von Wiederverwertungskreisläufen. Im seriellen Rekurs auf die Vergangenheit bei gleichzeitiger Ausschöpfung künstlerischer Fiktionalität, stehen wir so vor der Mnemotopie in ihrer Funktion des Recyclings kanonisch fixierter Traditionen, wobei der populärkulturelle Modus der historischen Sinnbildung sich der Fiktion bedient, der Jörn Rüsen mit großem Optimismus eine Lizenz bei der Arbeit an der Geschichtskultur erteilt. Die Tücken einer »historischen Erinnerung« in ihrer »genuine[n] politischen Legitimationsfunktion«328 , die er hingegen der ästhetischen Dimension der gesellschaftlichen Geschichtskultur gegenüberstellt, erfordern im Falle eines staatlich regulierten Memory-Building, das sich in den fiktionalisierten Hacienda-Narrativen vollzieht, gewisse Vorbehalte. Der stets mythenkritische Carlos Monsiváis gibt den von jeher problematischen Zusammenhang der ästhetischen Freiheit mit den Geboten der Staatskunst zu bedenken: Las películas del Indio siempre fueron concebidas desde el punto de vista oficial y un México que ya nunca más debe rebelarse contra nada se retrata, con perfil antiguo, junto a un maguey en ruinas.329 Wenn Flor silvestre also das Gedächtnis an den abtrünnigen Sohn als Appell an die bürgerliche Loyalität bemüht, wird das Hacienda-System gerade nicht moralisch sanktioniert und der Vergangenheit überführt. Indes bildet die tradición eterna auch weiterhin das formative Instrument der Gesellschaft wobei das kritische Bewusstsein in der melodramatischen Erinnerungspflege getrübt wird. Das geflügelte Wort von Georges Santayana, »Those who cannot remember their past are condemned to relive it«330 , findet für habitualisierte Vergangenheitsversionen im staatstragenden Kino von Emilio

323 Leopold von Ranke zit. in. Rüsen 2011, 119. 324 Im Sinne einer Auslagerung des Geschichtsbewusstseins auf konventionelle Repräsentationsmuster, stehen Jacques Rancières »fictions dominantes« (Rancière 2008, 84) in einer Verwandtschaftsbeziehung zu Antonio Gramscis »historischer Folklore« (vgl. Landy 1994, 28f) oder auch Fredric Jamesons Dimension des »political unconscious« (vgl. Jameson 1983, 5f). 325 Monsiváis/Bonfil 1994, 42. 326 Zum Begriff der Trauerarbeit als eine filmästhetische Tendenz der Nachkriegszeiten, in welcher die kulturelle Identität einer Nation im Dialog mit den Schatten der Vergangenheit rekonstituiert, schreibt Eric Santner im Hinblick auf das deutsche Kino (Santner 1990, 103ff). 327 Fernández 2015, 157. 328 Vgl. Rüsen 1994, 12f. 329 Monsiváis zit. in García Riera 1987, 101. 330 Zit. in J. Assmann 1988, 16.

297

298

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Fernández in ähnlichem Maße Verwendung wie im Falle der unreflektierten HaciendaEutopien der comedias rancheras. Entsprechend scharf bewertet Monsiváis den Beitrag des Regisseurs zur nationalen Geschichtskultur: A Emilio Fernández, la Revolución Mexicana le ofrecía los temas y las situaciones ideales. ¿Qué otro momento histórico permitía tan generosamente la demagogia, el gesto fuerte, los discursos cívicos, la compasión por los desheredados, las escenas brutales, los ahorcados, las referencias amorosas a la tierra, el ademán heroico de Pedro Armendáriz ante la adversidad; las cejas perseguidas de Dolores del Río? Para un director del primitivismo y la improvisación fervorosa de Emilio Fernández, la Revolución Mexicana fue campo propicio y necesario y Flor silvestre … De movimiento nacional para transformar el orden social, económico y político del país, la Revolución Mexicana se transforma, merced al Indio Fernández, en una especie de complot rural para hacer llorar a Dolores del Río o exacerbar la ira de María Félix.331 Das Resultat dieser historischen Alphabetisierung im Gewand des Melodrams, die der Regisseur auch in den Filmen Bugambilia (1945) oder Enamorada (1946) massenwirksam propagieren konnte, war eine symbolisch domestizierte Vergangenheit, in welcher die Revolution immer wieder als historische Zäsur entlang fiktiver Schicksale konstruiert wurde. Zusammen mit Flor Silvestre kann man anhand der Trilogie der bekanntesten Filme Emilio Fernández’ beobachten, wie die Mnemotopie der Hacienda graduell im sogenannten Genre des Periodenfilms332 ausgelagert wurde, um eine Diskontinuitätslinie zwischen chaotischer Vergangenheit und fortschrittlicher Gegenwart zu ziehen, in welcher die anhaltenden Schwierigkeiten der Bodenfrage und die unbehagliche Vorstellung von einer révolution manquée, »a revolution lacking any real significance in terms of class hegemony«333 in den toten Winkel der massenkulturellen Aufmerksamkeit befördert wurden. Fernández’ ritueller Vergangenheitsbezug legt damit auch den Übergang von der Einmaligkeit des historischen Ereignisses zu einem mythischen Ereignis, in dem »die Zeit durch den unendlichen Rapport seiner Wiederkehr« in eine filmgestützte »Ornamentalisierung« der eigenen Vergangenheit mündet.334 Der »magische Zwang der Ornamente«, den Siegfried Kracauer in der Massenkultur untersucht, befördert die Brucherfahrung des Vorher-Nachher in ein abgeschlossenes kollektives Gedächtnis, in welchem die Positionen des Natürlichen von mythologisierenden Kinoproduktionen besetzt werden und die Hacienda nurmehr als ein ornamentaler, semiologisch erstarrter oder rhetorischer Ort reproduziert wird.335 331 Zit. in García Riera 1987, 41f. 332 In diese Kategorie fällt jeder Spielfilm, »der sich auf Vergangenes bezieht und uns die identifizierbaren Besonderheiten der jeweils erzählten Zeit möglichst vollständig oder auch nur aspekthaft vor Augen führen will. Dabei muss diese Zeit allerdings nicht wie beim Historienfilm so fern liegen, dass wir zu den dargestellten Sitten und Gebräuchen keine persönliche Bindung mehr hätten oder die Ausstattung uns als Kostümierung erschiene.« (Definition des Lexikons für Filmbegriffe, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2988 (zuletzt aufgerufen am 08.05.2021)). 333 Knight 1991, 73. 334 Vgl. J. Assmann 2013, 248f. 335 Vgl. Kracauer 1977, 53ff.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

Wenn man García Rieras Einschätzung von Flor silvestre als einem Umbruchswerk der mexikanischen Kinematographie, einem »punto de entronque entre un cine pionero del pasado y un cine rutinario del futuro«336 folgt, lohnt es sich abschließend die medienspezifische Funktionsverengung der Hacienda-Mnemotopie im Rückgriff auf die von Jan Assmann und Mircea Eliade beschriebenen Konventionen des kollektiven Memory-Building zu untersuchen. Es fällt dabei auf, dass die Kinematographie in ihrer Funktion der industriellen Sinnverstetigung Prozesse der kulturellen Mnemotechnik beschleunigt. Esperanzas Flashback markiert den Übergang eines oral tradierten, kommunikativen Gedächtnisses zu einen medial fixierten Sinnhorizont des kollektiven Gedächtnisses, wofür in Zeiten vor dem Aufkommen der Massenmedien das saeculum, »100 Jahre als maximale Lebenserwartung einer Generation«337 vorübergehen musste, wie Jan Assmann in seiner Betrachtung klassischer Gedächtnisdynamik beschreibt. In der kinematographischen Instrumentalisierung der Mnemotopie wird ein »Generationengedächtnis«338 der Zeugen bereits nach knapp 30 Jahren kanonisiert. Während ein historisches Ereignis sich laut Eliade bis zu drei Jahrhunderten in der popular memory halten kann, bevor es in die Sphären des Mythischen abdriftet, sorgen die ritualisierten Vergangenheitsbezüge von Emilio Fernández für eine beschleunigte Transformation des Geschichtsbewusstseins in mythisch überformte Narrative. Begreift man Mythen mit Hans Blumenberg als »Materialisierung[en] der unverfügbaren Faktizität der Welt in Geschichten«339 , bieten Periodenfilme in ihrer Qualität der gegenwartsbestimmenden und zukunftsweisenden Vergangenheitsdeutung die epischen Bausteine in Prozessen der kollektiven Weltaneignung, Für die konziliatorische Gedächtnisumstiftung als zentrales Ideologem der familia revolucionaria340 , wie die postrevolutionäre mexikanische Nation häufig bezeichnet wurde, war das Familienmelodram dabei nicht nur ein profitables Genre, sondern auch ein massenwirksames Vehikel für eine kollektive mexikanische Selbstthematisierung.341 Der vielfach figurierende Dialog mit den Toten, zunächst zwischen Don Francisco und der Tradition, dann zwischen José Luis und dem gelynchten Vater und schließlich zwischen Esperanza und der zerstörten Hacienda-Ordnung, deutet eine zwar eine Kontinuierung der »links between the dead and the yet unborn, the mystery of re-generation«342 . Doch die Möglichkeit einer hypoleptischen Wiederanknüpfung an die Vergangenheit, wie sie noch in Allá en el Rancho Grande suggeriert wurde, scheint durch die vielen Opfer irreversibel verbaut. Das Totengedenken in Flor Silvestre versucht eher eine historische Phase abzuschließen und einen historischen Meilenstein hinter sich zu lassen. Ähnlich wie in der Mnemotopie der Ruine wird anhand der Hacienda

336 337 338 339 340 341

García Riera 1987, 45. J. Assmann 1991, 343. Ebd., 342. Zit. in Münkler 1992, 41. Tobler 1984, 502. Zum Melodram als kulturelle Matrix, um die man keinen Bogen machen könne, wenn man das kulturelle Gedächtnis lateinamerikanischer Gesellschaften analysieren möchte, schreibt MartínBarbero 1983, 67. 342 Anderson 1991, 11.

299

300

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

eine Erfahrungsschwelle etabliert, nun jedoch nicht als Ursprungsmoment der kulturellen Fusion Mestizaje, wie etwa in Chilam Balam untersucht, sondern im Sinne einer Depotenzierung der Klassengesellschaft, wie sie Emilio Fernández bei seiner Beschwörung der nationalen Einheit angestrebt hatte. Die Habitualisierung der Nationalgeschichte von Flor Silvestre veranschaulicht sehr eindeutig den Staatsauftrag an die nationale Kinematographie als einer sozialen Fabrik von Zukunftsvisionen, die von überholten Vergangenheitsbildern emanzipieren und an ein Nationalbewusstsein appellieren musste, um eine ›babylonische Verwirrung‹ divergenter Gedächtnisnarrative mit schablonenhaften Narrativisierungen der Vergangenheit beizulegen. Einmal mehr wird die Época de Oro vor diesem Hintergrund in ihrer Funktion der institutionalisierten Gedächtnispflege bestätigt. In der Dramatisierung der intra-historia entfaltet sich in der Mnemotopie der Hacienda als überwundener historischer Ort eine andere Form der »kosmischen Tragik«, die Simmel in der Ruine untersucht. Im Gegensatz zur Conquista als großer ruptura der mexikanischen Zivilisationsgeschichte, wurde in der kinematographisch illustrierten Metamorphose der ruralen Gesellschaft das feudal geprägte mexikanische Hinterland zu Grabe getragen, in vielen Fällen jedoch auch lebendig begraben, wenn man die Persistenz feudaler Machtstrukturen nach der Erfahrungsschwelle der Revolution in Betracht zieht. Die Kontinuität der mexikanischen société féodale bleibt auch nach den performativen Schlussstrichziehungen als beschwiegenes zivilisatorisches Rudiment erhalten und prägt die anachronen Strukturen des mexikanischen ›Sarape‹ noch lange nach Eisensteins Diagnose der koexistierenden Ungleichzeitigkeiten. In Emilio Fernández Suche nach einer genuinen Mexikanität markierte die Revolution immer wieder den symbolischen Überwindungsversuch der Klassengesellschaft – eine logificatio post festum343 für die der narrative Rekurs auf die Hacienda sehr geeignet war Die Prominenz der Hacienda in seinen Werken korrespondierte vortrefflich mit seinem didaktischen Eifer und dem Bedürfnis nach einer retroaktiven Gegenwartsdeutung. Die retrospektive Distanznahme zur Revolution, die Fernández der mexikanischen Populärkultur einzuimpfen verstand, war gleichzeitig ein Überwindungsversuch der traumatischen Nationalgeschichte und ein bedeutender Beitrag zur Konsolidierung des mexikanischen Selbstbildes: »Ni los mexicanos sabían cómo era México hasta que yo se los enseñé«344 , behauptet der selbstbewusste Regisseur im Rückblick auf seinen Beitrag zur mexikanischen Neuordnung, und wird noch deutlicher in der Sentenz: »Sólo existe un México: El que yo inventé.«345 Hinter der Selbstherrlichkeit verbirgt sich natürlich sein monumentalisierender Geschichtsblick, der das mexikanische Selbstbild nachhaltig bestimmen sollte. Wie es John Mraz in seiner Untersuchung der nationalen Identitätskonstruktion im mexikanischen Film beschreibt: In the films of Fernández and Figueroa, the centrality of stars […] combines with the curvilinear form, the depth-of-field focus, and the low camera angles to monumentalize the revolution as history, an epic still life. All the extended scenes that show 343 Zur historischen Sinnstiftung ex post, die Theodor Lessing in Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919) bespricht, schreibt Koselleck 2014, 19. 344 Zit. in Taibo I 1991, 59. 345 Zit. in Taibo I 1991, 51.

3. Die Hacienda im Film – Nostalgie und Topoklastik

species of »landscapes« – be they of nature, colonial architecture, anonymous extras, or the faces of the stars – offer the same master narrative: the Mexican Revolution is a mythic form given once and for all – of volcanoes and clouds, of ancient structures, of picturesque clothing, of superficial beauty, of the party dictatorship that ruled the country for seventy years.346

Abb. 107: Das Schlussbild als allegorische Verschränkung der Zeiten: Mutter und Sohn, Vergangenheit und Zukunft, verlassen in retrospektiver Besonnenheit die Hacienda als stillgelegten Sinnhorizont der Revolution. Es ist darüber hinaus das Sinnbild ihres Exils aus der Hacienda-Ordnung, bei dem sie der Hacienda den Rücken kehren und den Zuschauer im finalen Reestablishing-Shot gleichsam zwingen im Latifundium zu verweilen und kommemorierend inne zu halten.

Fernández wirft deshalb einen langen Schatten in der mexikanischen Filmgeschichte, weil er seine monumentalen Werke im Zenit der großen nationalgeschichtlichen Synthesen lancieren konnte. Auch wenn Iñigo de Martinos Gründungsnarrativ der Conquista als Einschmelzung der Zivilisationen ein Komplement zu Fernández’ Revolutionsverständnis als Fusion der Klassen bildet, zeichnete sich bei Chilam Balam ab, dass der Monumentalfilm in den 1950er Jahren bereits starke Abnutzungserscheinungen aufwies. Beide Werke enden mit dem Pathos eines vergangenheitsfixierten Aufbruchs in eine neue Ära. Während in Chilam Balam die Silhouette von Kukulkan die kollektive »Sehnsucht nach dem Anfänglichen«347 monumentalisiert, wird in Flor Silvestre der jüngste mexikanische Epochenwandel retrospektiv in Esperanzas »perorata cívica«348

346 Mraz 2009, 118. 347 Jauß 1989, 22. 348 Ayala Blanco 1968, 90.

301

302

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

nachvollzogen und symbolisch finalisiert als sie an der Seite ihres Sohnes in die Bildtiefe des ehemaligen Castro-Latifundiums abwandert (Abb. 107). Während sich die beiden zu hymnischen Abschlussfanfaren am Horizont verlieren, hallen die letzten Worte Esperanzas nach: La sangre derramada en tantos años de lucha por miles de hombres que como tu padre creyeron en el bien y en la justicia, no fue estéril: sobre ella se levanta el México de hoy en el que palpita una vida nueva. (1:29:27) In verblüffender Ähnlichkeit zu Chilam Balams Prophetie birgt Esperanzas zukunftsweisende Nobilitierung des Blutvergießens ein ähnliches Gründungspathos, das eine Dekade früher, in Zeiten des globalen nationalistischen Flächenbrands, mehr Abnehmer fand. 1943 drückte Flor Silvestre dem historischen Bewusstsein des mexikanischen Kollektivs sehr zeitgemäß den Stempel des geteilten Leidschatzes von über drei Millionen Opfern auf, die im Zuge der revolutionären Ausschreitungen zwischen 1910 und 1920 ihr Leben ließen. Fernández Einladung, bei dem mnemotopischen Andachtsraum der Hacienda zu verweilen, ist daher ein Aufruf zu »retrospektiver Besonnenheit«349 , mit dem er den Bürgerkrieg im Gedenken an die Opfer überwinden und eine Sehnsucht nach einer geeinten Nation an den Zuschauer weitergeben will. Wie es José de la Colina andeutet, wird in Flor Silvestre das Nachleben einer finalisierten Revolution auf die kollektive Trauerarbeit übertragen: »El filme realmente inicial, el más vivo y palpitante de Emilio Fernández es ante todo un relato que concluye en herida abierta«350 .

349 Warburg zit. in J. Assmann 1988, 12. 350 de la Colina zit. in García Riera 1987, 44.

4. Hacienda-Mnemotopie – Gründungsmythen auf dem Prüfstand

Aus wachsender zeitlicher Distanz betrachtet, war die Popularität der Hacienda als Dreh- und Handlungsort im mexikanischen Film eine wichtige Erinnerungsstütze einer überwundenen raumzeitlichen Gesellschaftsordnung. Trotz der überwiegend eindimensionalen Auslegung, kann man die Hacienda im kinematographischen MemoryBuilding des Cine de Oro bestens mit einer Definition umschreiben, mit der Aleida Assmann Speichermedien belegt, nämlich der »identitätsstabilisierende[n] Langzeitkommunikation«1 . In der Hacienda als externem Erinnerungsspeicher des gleichsam verteufelten wie verklärten porfiristischen Geistes lässt sich anhand der behandelten Filme erkennen, wie sich eine filmbasierte Memorialkultur wenige Jahrzehnte nach einer gesellschaftlichen Umwälzung konstituiert und wie die Tradierung unkoordinierter Zeitschichten in der mexikanischen Populärkultur ihre Konkretisierung erfährt und durch Reiterationen dominanter Vorstellungen konsolidiert wird. In der Mnemotopie der Hacienda kristallisiert sich die kollektive Reverenz der Revolution als einem sich neu formierenden Gründungsmythos des modernen mexikanischen Staates heraus: Zunächst noch in der perspektivischen Brechung eines regard éloigné, ist die Hacienda Eisensteins ein historischer Schattenort und die feudale Ungleichheit ein Katalysator der Revolution. Mit seiner Darstellung der Hacienda als einer alltagsgeschichtlichen Bühne des Bürgerkriegs tangiert de Fuentes in El compadre Mendoza die Transformationszwänge und Dilemmata der Hacendados im Zuge der revolutionären Topoklastik. In Allá en el Rancho Grande erkennt man sodann die defensiven Reflexe eines tief verwurzelten »memorial capital«2 und den Versuch einer »conservative recuperation«3 des eingebüßten Heimatidylls, die schließlich in Flor silvestre von einer kollektiven Rekonziliation mit der konfliktreichen Geschichte abgelöst zu werden scheint. Nach dem Triumphzug der comedia ranchera, einem Vehikel der Gedächtnisbeschönigung und therapeutischen Reparation, entstehen aber auch Filme, die die Hacienda

1 2 3

A. Assmann zit. in Erll/Wodianka 2008, 4. Wood 1999, 23. A. a. O., 28.

304

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

erneut für kritische Bilanzierungen der Vergangenheit verwerten. Gerade im orthodoxen Melodram erhält die Hacienda als kaltes Mnemotop ihre Konkretheit im Formenhaushalt des überindividuellen mexikanischen Gedächtnisses. Wirft man einen Blick auf La Escondida (1956, Roberto Gavaldón), einem Revolutionsmelodram aus der Spätphase der Época de Oro, so steht man vor einem Werk der formvollendeten Produktionsbedingungen: mit Maria Félix und Pedro Armendáriz in den Hauptrollen, die der mexicanidad abermals ihr Gesicht verliehen, war die Erfolgsgarantie der ästhetischen Wiedererkennbarkeit immer wieder dem Modell des US-amerikanischen star system entlehnt. Gleich zu Beginn des Films wird aber auch eine ideologische Wiedererkennbarkeit deutlich, die mit Hilfe eines habitualisierten Erinnerungshorizonts sichergestellt wird. Die Gegenüberstellung der bäuerlichen Vasallen und Latifundisten im Prolog von La Escondida bildet daher eine historische Kontextualisierung, die 1956 längst zum habituellen Erzählmuster geronnen war: La opresión y la tiranía aguijoneaba al Pueblo Mexicano. El vasallaje se hacía más patente en los grandes latifundios y en aquellas haciendas y pequeños poblados que aún no figuraban en el mapa de la razón y el derecho de los hombres. La peonada estoica y sumisa mordía en silencio su ignominia, mientras acumulaba azotes y oprobios de la casta privilegiada. De pronto, el anhelo libertario atronó por todos los confines de la República. El clamor de justicia social se alzó en un solo grito, retumbó por montes y valles hasta perderse en las más lejanas serranías de donde brotaron legiones de valientes, ignorados hombres del campo, cuya sangre fertilizó las llanuras del Norte y regó las exuberantes tierras del Sur … De allí surgieron los Caudillos. Hombres rudos, obscuros y humildes, gigantes de libertad, en cuya sangre se fincó la estructura social de una Patria nueva, de un México fuerte y fecundo, vigoroso y progresista. Este es un dramático episodio de aquella época turbulenta y confusa. La historia de un amor que fue arrastrado por el torbellino de la revolución. (0:12-1:12) Bezeichnend für die rituelle und rhetorisch hochtrabende Rekonstruktion der nationalen Vergangenheit ist dabei einmal mehr die Prominenz der Hacienda und die melodramatische Verquickung amouröser Sujets mit makrostrukturellen Umbruchserfahrungen. In den Peripetien des Revolutionsmelodrams wird der Aufstieg eines Tlachiqueros aus Tlaxcala zum regionalen Caudillo nachvollzogen, so als würde Gavaldón das Bauernmartyrium in Eisensteins Maguey aufgreifen und mit der Biographie eines Bauern vervollständigen, der zum Revolutionsfürsten wird. Mit der Zerstörung der Hacienda wird in La Escondida die Ortsgebundenheit der peones acasillados gegen eine horizontale Mobilität eingetauscht, die schließlich auch zum sozialen Aufstieg führt. Der rasanten Entwicklung Felipes (Pedro Armendáriz) auf dem blutigen Pfad der Revolution stehen die sozialen Metamorphosen von Gabriela (Maria Félix) entgegen, die die melodramatische »expansion of female mobility and circulation in the heterosocial public arena of urban modernity«4 paradigmatisch verkörpert. Als Aguamiel-Verkäuferin aus dem Schoß des Hacienda-Kosmos wird sie zu einem Trophy-Girl inmitten der revolutionären Revirements und stirbt schließlich als geläuterte Soldadera im Kugelhagel. Auch

4

Singer 2001, 14.

4. Hacienda-Mnemotopie – Gründungsmythen auf dem Prüfstand

die Hacienda durchläuft im turbulenten Sujetverlauf die Stationen von einem Ort feudaler Willkür hin zu einer Sammelstätte für die bäuerliche bola in Aufruhr. Wie auch in vielen anderen Periodenfilmen reicht aber die in der Hacienda externalisierte Gedächtnisstiftung von La Escondida kaum über die Zeitspanne des revolutionären Ouvertürenpathos hinaus. Sie verdichtet sich vielmehr zu einem ornamentalisierten Vergangenheitsbegriff und fügt sich in einen Kanon, den man als revolutionären Kostumbrismus bezeichnen könnte. In den »Superproducciones«5 wird die Revolution in Form eines Spektakels vergegenwärtigt und der gesellschaftliche Wandel versinnbildlicht durch die Zerschlagung der Haciendas. Wie auch in den Filmen des Indio Fernández wird dabei vordergründig eine monumentale mémoire-nation gestützt und das kritische Geschichtsbewusstsein mit »imágenes lacrimógenas«6 konterkariert. Als ewiger Kontrastort zur dynamischen Stadt wird die Hacienda aber auch in Filmen zitiert, die den zeitresistenten Sinnhorizont der comedias rancheras aufbrechen. Dass die historischen Wunden noch frisch waren, wurde vor allem in den tragedias rancheras deutlich, die das Konfliktpotenzial der Landfrage im kollektiven Imaginären der nachrevolutionären Gesellschaft zu mobilisieren wussten. Ein gutes Beispiel ist der Film El rencor de la tierra (1949), bei dem der deutsche Émigré Alfredo B. Crevenna Regie führte. Sein Melodram, das das Grollen der Erde zur Metapher für das Nachbeben revolutionärer Konflikte werden lässt, wird die plakativ betitelte Hacienda del Refugio als ein fataler Rückzugsort der Tradition imaginiert, an dem landwirtschaftliche Ressourcenkonflikte die Verwerfungen der alten Ständegesellschaft wieder aufleben lassen. Der eher seltene Rückgriff auf historische Atavismen nach der Revolution wird bereits in dem narrativen Präludium des Films greifbar: En los años del 30 la ley agraria había repartido la casi totalidad de las haciendas mexicanas y la lucha de clases prácticamente había terminado. Sin embargo el orden de patrones y ejidatarios continuaba sordo, implacable en alguna región. Perdida en una árida meseta, la hacienda del Refugio se levantaba como un símbolo de ese antagonismo. Su misma tierra parecía haberse impregnado del rencor de sus habitantes y se negaba a dar fruto. [0:39-1:13] Aus gutem Grund situiert Crevenna die Handlung in den 30er Jahren und wählt, wie seinerzeit Eisenstein, den Schutz der historischen Abgeschlossenheit, um die Zensur zu beschwichtigen. Der Konflikt zwischen der alten Hacienda-Gesellschaft und den ejidatarios, die die Transformation der Haciendas in Gemeindeland vorantreiben, vollzieht sich also mit gewisser zeitlicher Distanz in einem der letzten Krähwinkel der Nation, die sich noch immer gegen den Wandel stellen. Der Film lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Hacienda um ein historisches Auslaufmodell handelt, dessen alternde Bewohner noch immer die gute alte Zeit der sozialen und ethnischen

5 6

Monsiváis 1988, 1514. Carlos Monsiváis zit. in García Riera 1987, 41. Wie Carlos Monsiváis an einer anderen Stelle im Hinblick auf La cucaracha (1959), einer weiteren Revolutions-Epopöe von Emilio Fernández schreibt, bleibt die historische Bewusstseinsbildung der melodramatischen Filmnarrative im Übrigen reduziert auf rein rhetorische Rückholungen: »A la Revolución sólo le quedan los sombrerotes, las cananas y los primeros créditos.« (Bonfil/Monsiváis 1994, 171).

305

306

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Barrieren hochhalten. Die verklärenden Flashbacks, die durch den symbolischen Blick in den Brunnen ausgelöst werden, können aber nichts daran ändern, dass eine Dürre biblischen Ausmaßes die Landbevölkerung zum Exodus aus der ariden Region zwingt – eine Bewegung im Raum, die natürlich auch die epochale Überwindung eines unfruchtbar gewordenen Gesellschaftsmodells versinnbildlicht. Eine etwas andere Wiederanknüpfung an Altbekanntes bietet Los hijos del Rancho Grande (1956), die Sequel zu Allá en el Rancho Grande in der Juan Bustillo Oro dem Urtext der comedias rancheras eine Hommage erweist. Wie auch Fernando de Fuentes machte Bustillo Oro eine Veränderung vom zensierten Drehbuchautor und Theaterregisseur der frühen, militanten Jahre, zum Meister eines retrograden Kinos, das breite Zustimmung bei Staat und Publikum fand.7 Bei der Fortsetzung der populären und 1948 von de Fuentes neu aufgelegten Charro-Komödie, bleibt Bustillo Oro dem lyrischen Kostumbrismus der Vorlage treu und hält sich an die Vorstellung von Rancho Grande als Epitom für alle patrias chicas in Mexiko. In der Exposition werden zunächst noch die gesellschaftlichen Veränderungen, die auch im Hinterland Einzug halten, mit Wehmut kommentiert: die ehemaligen »púdicas rancheritas« (4:05), die ihre neue Beinfreiheit genießen, der ChaCha-Cha aus der Juke-Box, der die Huapangos und Serenaden ersetzt hat und die Automobile, die Pferde und Charros ins historische Abseits stellen. Die Kamerafahrt durch die wohlvertraute aber menschenleere Szenerie aus Rancho Grande wirkt dabei wie eine Zeitreise in eine gespenstische Vergangenheit. »¡Qué cambio, amigos, qué cambio!«, lamentiert das retrophile Voice-Over während die Kamera auf das Landhaus der gealterten Cruz und José Francisco schwenkt, den begnadigten Hacienda-Weisen aus Rancho Chico. »Pero miren esto:«, fährt die Erzählerstimme fort, »olvidábamos que la tradición, el verdadero espíritu de México, aún vive en los humildes hogares del pueblo como este« (4:16). Die Welt des Rancho Grande inklusive der selben Schauspieler bietet damit den Tradtionsbunker des »old »holistic« Mexico«8 , mit dem sich 20 Jahre später noch immer die Verklärung der tierra chica einfädeln lässt. Die Aktualität des RanchoIdylls, die in der Vorlage noch völlig unbedenklich gegen die unliebsame Kontingenz der Gegenwart in Stellung gebracht wurde, kann aber im epigonalen Nachschlag, der eine Nostalgie nach der Nostalgie zu binden versucht, nicht mehr glaubhaft suggeriert werden, so dass die Zeitresistenz der »provincia monolítica«9 nur noch mit dysfunktionalem Erinnerungsvermögen legitimiert werden kann: Don Felipe, der ehemalige Hacendado, wird nämlich als starrsinniger Narr mit einer Gedächtnisstörung inszeniert, die den gesellschaftlichen Wandel gänzlich aus seinem Bewusstsein tilgt. Seine ungebrochene Bindung an die Bräuche und Sitten der Hacienda-Ordnung korrespondiert dabei mit einer Fixierung auf ein formatives Langzeitgedächtnis, so dass er sich auch weiterhin als stolzer Alleinherrscher über Rancho Grande wähnt. Die Landreform, die die Hacienda zu einem Ejido transformiert hat, fällt einem »Fehlgehen des Erinnerns«10 zum

7

8 9 10

Zu den Hintergründen des wegen harscher Regierungskritik zensierten Theaterstücks San Miguel de las Espinas, aber auch der schwierigen Co-Regie Juan Bustillo Oros von El compadre Mendoza an der Seite von de Fuentes, siehe Eduardo de la Vega Alfaro 2012, 13-80. Knight 1991, 81. Ayala Blanco 1968, 88. Freud 1917, 39.

4. Hacienda-Mnemotopie – Gründungsmythen auf dem Prüfstand

Opfer, bei dem der Verlust alter Privilegien ausgeblendet wird. Die Illusion der harmonischen Vergangenheit wird zu einer traurigen Farce, die vom ehemaligen Caporal José Francisco am Leben gehalten werden muss, obwohl er seinem ehemaligen Patron als »gerente de cooperativa« inzwischen finanziell überlegen ist. In der Fortschrittsresistenz Don Felipes werden die Deckerinnerungen, die in Allá en el Rancho Grande noch an den Zuschauer weitergereicht wurden, nun als haltloser Realitätsschwund einer künstlich perpetuierten casta divina ausgewiesen. Bustillo Oro stellt nochmals seine Meisterschaft in einem Genre unter Beweis, das Fredric Jameson später als Nostalgiefilm bezeichnen sollte, in dem die kulturelle Regression gegen die historische Indifferenz des Spätkapitalismus ins Feld geführt wird.11 Die Gedächtnisstiftung der Charro-Romantik bleibt also im Falle der Folgegeneration ambivalent. Die Hacienda-Ordnung wird zwar im Sinne einer revolutionären Prähistorie verklärt, als Ornament der Vergangenheit für Zitate geplündert und als »privileged lost object of desire«12 betrauert. Und doch kann Bustillo Oro sich in der Spätphase der Época de Oro eine ironische Kommentierung der konservativen Impulse der comedia ranchera nicht verkneifen: Als der Sohn des Ex-Caporals um die Hand der Ex-Hacendado-Tochter anhalten will und auf Don Felipes Widerwillen stößt, der noch immer auf das Prinzip der Standesgleichheit pocht, äußert der Sohn seine Enttäuschung mit den Worten »Por favor, don Felipe, esos son cuentos que ya no se usan ni en las películas de charros« (24:42). Im Wandel der Generationen wird damit nicht nur die formative Gegenwartsbestimmung der Hacienda-Mnemotopie in einer abgeschlossenen Vergangenheit ausgeklammert, sondern auch der kinematographisch kolportierte Charro-Kult, in dem die scheidende Hacienda-Gesellschaft ihren symbolischen Nachhall fand. Eine Sonderstellung bei der Neubewertung der mexikanischen HaciendaMnemotopie nimmt Luis Buñuel ein, der die retrograden Einheitsbeschwörungen der Época de Oro bereits 1951 mit einer »traviesa contralectura y sátira de Allá en el Rancho Grande«13 aufstört. In Susana – demonio y carne nimmt er mit Hilfe einer Femme fatale, die alle Männer einer straff organisierten Rancho-Gesellschaft um den Finger wickelt, eine Subversion der comedia ranchera und des darin seriell perpetuierten Machismo vor. Indem Buñuel die klassische Gender-Opposition des »brazen charro and the timid little Indian girl«14 demontiert, bringt er auch die kalte HaciendaMnemotopie und die konziliatorische Gedächtnisstiftung ländlicher Melodramen ins Wanken. Die unbezähmbare Susana, die schließlich wieder in die Besserungsanstalt gesteckt wird, ist dechiffrierbar als eine allegorische Verkörperung der Revolution als einer ereignisgeschichtlichen Naturgewalt, die man domestizieren, oder aber vom gesunden mexikanischen Volkskörper isolieren muss. Die finale Idylle, in welcher der Hacendado-Sohn seinem Vater reumütig die Hand küsst und die pastorale Gesellschaft sich geschlechts-, generations- und klassenübergreifend wieder um die patria potestas konfiguriert, wirkt wie eine karikatureske Übertreibung der »claustrophobic

11 12 13 14

Jameson 1984, 66ff. Ebd., 67. Sánchez 2002, 50. Mraz 2009, 138.

307

308

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

intensity«15 , die Laura Mulvey Familienmelodramen attestiert. Der unweigerliche Blick auf die gesellschaftliche Kommentarfunktion von Melodramen legt nebenbei Buñuels schonungslose Haltung gegenüber der mexikanische Innen- und Kulturpolitik nahe, so dass Susana als verkappte Satire auf das Harmoniebedürfnis nach großen gesellschaftlichen Umwälzungen dechiffrierbar wird. Wenn nach Renan der brutale Charakter der Einheitsstiftung beim Nation-Building immer mitzudenken ist, so wird in Buñuels Antimelodram16 die Brutalität relativ unmissverständlich mit der Einhegung der Randständigkeit symbolisiert, die seine libidinös-transgressive Heldin verkörpert. Allá en el Rancho Grande Vorlage parodierend, wird schließlich auch der in Ungnade gefallene Caporal wieder in die Gemeinschaft eingegliedert. In mehrdeutiger Anspielung auf die mexikanische Revolution wird das von Susana ausgelöste Chaos von der Hausdame als eine »pesadilla del demonio« (1:21:30) bilanziert. Während der rurale mexikanische Himmel wieder voller Geigen hängt, wird der unexorzierbare Dämon der Veränderung verdrängt in die Oublietten der Gesellschaft. Die bissige Lektüre der Hacienda-Gesellschaft, mit der Buñuel als berüchtigter Bürgerschreck die monolithischen Gesellschaftsideale herausforderte war jedoch eine Ausnahme. Jenseits epigonaler oder ironisch gebrochener Zitierungen wandert die Hacienda als Gemeinplatz ritualisierter Vergangenheitsrekurse immer mehr in die Geschichtsbücher oder wird in Periodenfilmen zur Revolution als rhetorischer Referenzort einer überwundenen Epoche verwertet. Nach dem der populärkulturellen Musealisierung der Nationalgeschichte im Cine de Oro büßt die Hacienda ihre mnemotopische Gegenwartsrelevanz allmählich ein. Im Zuge der Dekonstruktion von Revolutionsmythen und Einheitsgeboten werden die Haciendas und Ranchos höchstens noch zitiert als Orte einer unmöglichen Rückkehr, wie etwa in Tiempo de morir (1966, Arturo Ripstein), oder aber aufgelöst in neuen Darstellungen der mexikanischen Provinz, die die HaciendaMnemotopie als abgegriffenen Verweis auf die Tradition außen vor lassen, so etwa in Tlayucan (1962, Luis Alcoriza) oder in En este Pueblo no hay ladrones (1965, Alberto Isaac). Vor allem im letzteren Beispiel ist die Abkehr von der mexikanischen Folklore auffällig und spiegelt im Minus-Verfahren der notorischen Auslassung den Überdruss des Nuevo Cine Mexicano am Traditionskanon und der retrospektiven Aura des Nationalfilms. Bei der Abrechnung mit der »bourgeois morality«, den »melodramatic histrionics« und den »singing charros«17 wurde der über drei Jahrzehnte auf Kinoleinwänden gepflegte Sinnhorizont zunehmend problematisiert. Das kritische Geschichtsbewusstsein entzündete sich immer wieder an der brisanten Landfrage, die stets gekoppelt ist an eine soziale Ungleichheit, deren Überwindung in vielen Fällen bloße Verheißung der Revolution geblieben ist, so sehr Emilio Fernández die Zuschauer in seinen Filmen auch vom Gegenteil überzeugen wollte. Im Gedenken an Emiliano Zapata wird die Hacienda immer wieder mit der Ortssemantik eines Schafotts assoziiert und der ZapataMythos immer wieder als historisches Erklärungsmodell für rezente Machtasymmetri-

15 16 17

Mulvey 1989, 74. Eine Anwendung auf den mexikanischen Kontext erfährt Mulveys stichhaltige Genre-Diskussion in López 1993, 150-153. Zum Antimelodram als Instrument einer kritischen Historie und Arbeit an dem historical capital einer Gesellschaft schreibt sehr eindrücklich Landy 1996, 29f. Mora 1989, 216.

4. Hacienda-Mnemotopie – Gründungsmythen auf dem Prüfstand

en bemüht.18 Nach einer Legitimationskrise des PRI in den 1960er Jahren, die in der Niederschlagung studentischer Bewegungen 1968 gipfelte, erlebte die Hacienda ihre Renaissance als heiße Mnemotopie im Medium des mexikanischen Dokumentarfilms, dem allgemein ein »sabor a tierra«19 aufgrund der Tendenz zur sozialen Anklage attestiert wird. An die problematische Landverteilung erinnert aber zunächst der Argentinier Raymundo Gleyzer in México, la Revolución congelada (1971), einem Dokumentarfilm, der bis 2009 offiziell zensiert war. Bei seiner Schelte des mexikanischen Ein-ParteienSystems lässt der 1976 in Argentinien entführte Gleyzer Zeitzeugen zu Wort kommen, die für Emiliano Zapata gekämpft hatten. Auf die Frage, was nun die prima causa der Revolution gewesen sei, antwortet einer der gealterten Zapatisten noch 60 Jahre später mit »pos, desalojar al hacendado […] por las tierras que tenemos ahora en posición […] porque estábamos esclavos con el hacendado, y ahora somos libre, ¿o no estamos libres ahora?« (08:04). In seiner schonungslosen Fraktionierung nachrevolutionärer Gedächtniskollektive stellt Gleyzer den Veteran in Sandalen einer nostalgischen Landoligarchie in Yukatan entgegen und kommentiert die Restbestände eines »psychological latifundismo«20 mit den Worten »la casta divina llora por tiempos pasados« (32:00). La casta divina ist auch der Titel eines Spielfilms, in dem Julián Pastor den Zusammenbruch des Hacienda-Systems aus der Perspektive der yukatequischen Oligarchie nachstellt. Wenngleich sein Porträt der alten Hegemonialstrukturen in der Vergangenheit eines historischen Dramas verharrt, wird der Gegenwartsbezug zu den Machtpyramiden im Mexiko des späten 20. Jhd. greifbar. Das Bewusstsein für überkommene Machtverhältnisse wird vor allem präsent gehalten durch Passagen aus Mi actuación revolucionaria en Yucatán (1918), einem Feldtagebuch des Revolutionsgenerals Salvador Alvarado, in welchem die geistige Rückständigkeit der Herr-Knecht-Dichotomie angeprangert wird. La casta divina beschreibt zwar das Ende einer Epoche, erinnert aber auch, dass die nach Kuba geflohenen Familien der Hacendados bereits ab 1920 wieder in Mérida installieren – der kolonialen Hochburg alter Tage. Die Brücke zur Gegenwart, die Raymundo Gleyzer in schonungsloser Ästhetik des cine militante schlägt, bleibt bei Pastor allenfalls eine Andeutung hinter vorgehaltener Hand. Die Landreformen unter Lázaro Cárdenas und das Ende der soziökonomischen Hegemonie der terratenientes, in der Alan Knight21 und Hector Aguilar Camín22 den wesentlichen Beitrag der Revolution zum langwierigen nationalen Strukturwandel sehen, werden ein halbes Jahrhundert später relativiert durch eine schleichende Privatisierung des Gemeindelandes unter dem Präsidenten Carlos Salinas de Gortari (1988-1994). Im 18

19 20

21 22

Mit den Exportschlagern der Época de Oro, die wesentlich zur Dissemination eines agrarwirtschaftlichen, provinziellen Mexikobildes beigetragen hatten, wurde auch der Zapata-Mythos transnational rezipiert und fand vor allem dank Viva Zapata! (1952, Elia Kazan), mit dem jungen Marlon Brando in der Rolle des Caudillo del Sur, kinematographischen Niederschlag jenseits von Mexiko. Zavala 2012, 28. Der »psychologische Latifundismus« (Byrd Simpson 1963, 234), den Lesley Byrd Simpson in den gesellschaftlichen Tiefenstrukturen Mexikos erkennt, findet einen mentalitätsgeschichtlichen Nachhall in der »psychosozialen Deformierung« (Nickel 1978, 1), die Herbert Nickel im Hinblick auf die Autoritätsfixierung der Bauern nach der Zerschlagung der Haciendas beobachtet. Knight 1991, 103. Aguilar Camín 1993, 196.

309

310

C. Die Hacienda – Schattenort der Revolution

Dokumentarfilm Los últimos zapatistas, héroes olvidados (2002) spannt Francesco Taboada Tabone einen Bogen zwischen der semifeudalen Gesellschaftsordnung des Porfiriats und der Bündelung landwirtschaftlicher Parzellen zu industriellen Latifundien an der Schwelle zum 21 Jhd. In den Interviews mit den letzten Revolutionsveteranen greift Taboada, ähnlich wie Gleyzer, auf die Aura von Zeitzeugen zurück, um die geheiligte »violencia fundadora«23 zu diskreditieren, auf die sich die offizielle Geschichtskultur und die mémoire patrimoine in Mexiko stützen. Taboada geht dabei kompilatorisch vor und kombiniert dokumentarische Bilder aus unterschiedlichen Epochen, so dass eine alarmierende Zeitsynthese zwischen der Gegenwart und dem Vorabend der Revolution entsteht. Mit der in der Gegenwart diagnostizierten Abkehr von der »herencia que el general Zapata les dejó a costa de sangre y fuego« (53:10), will auch Taboada zeigen, dass das Hacienda-System in Mexiko beständiger ist als gemeinhin angenommen und setzt damit eine kontrapräsentische Gedächtnisstiftung gegen den Verrat an der mexikanischen Revolution in Gang.24 Wie in Maguey bedient sich der Regisseur der Suggestionskraft der Wiederhervorbringung, um auf die Präsenz der Interessenkonflikte hinzuweisen, und unterstreicht damit die Aktualität der verdrängten Forderungen nach tierra y libertad. In Taboadas Synthese zeitlos drängender Fragen offenbart sich der »skeptisch sondierende Rückblick«, den Jürgen Habermas in seinem Essay »Über den öffentlichen Gebrauch der Geschichte« fordert und mit dem der mexikanische Regisseur »den naiven Vertrauensvorschuß gegenüber eigenen Traditionen erschüttern«25 will. Die Stimmen der vergessenen Helden und Kronzeugen der Geschichte, die die Zerschlagung der Haciendas nur als vorübergehende Phase ausweisen, verdichten sich zu einem durchschlagenden Dokument des kritischen Geschichtsbewusstseins gegen die Rückfälle in nur scheinbar überwundene Zustände des Porfiriats: Rescatar la tradición oral y la memoria colectiva a través de un arma tan poderosa como es la cámara, y ponerla a disposición de los relatos y recuerdos de estos veteranos, significa trastocar los estándares del espacio y el tiempo fílmico, ya que estos trabajos son un importante acervo audiovisual para el futuro.26 In der postnational gebrochenen mexikanischen Gemeinschaft, einem »splintered system, composed of disparate commemorative languages«27 , kristallisiert sich erneut die Koexistenz gegensätzlicher Gedächtnisvektoren heraus. Während in den Diskurssphären der public memory die Musealisierung und Vermarktung der Hacienda vorangetrieben wird28 , bricht sich in den »institutionally disadvantaged memories«29 immer wie23 24 25 26 27 28

29

Bonfil Batalla 1990, 126. Vgl. Torres San Martín 2010, 264. Habermas 1998, 50. Torres San Martín 2010, 261f. Wood 1999, 28. Unter http://haciendasdemexico.org/findet sich ein sehr eloquentes Beispiel für die Verwertung der Mnemotope im Dienste einer modernen heritage industry, bei der institutionalisierte Führungen durch die Haciendas als aufbereitete Ruinen der Postrevolution angeboten werden. Unter http://haciendasmexicanas.com.mx werden restaurierte Landhäuser als bewohnbare historische Denkmäler zum Verkauf angeboten (beide Seiten zuletzt aufgerufen im Mai 2021). Resina 2000, 116f.

4. Hacienda-Mnemotopie – Gründungsmythen auf dem Prüfstand

der eine heiße Mythomotorik Bahn, die im Tauziehen um die historische Wahrheit die Legitimität alternativer Geschichtsdeutung für sich beansprucht. Diese fortwährende Verhandlung des mnemischen Potenzials der Haciendas bedingt letztlich auch die prinzipielle Unabschließbarkeit ihres Ortssinns. »Sólo la conmemoración da sentido a los lugares«30 .

30

Resina 2005, 84.

311

  Se sintió liberado al cruzar la frontera en Juárez, como si de verdad hubiera entrado a otro mundo. Ahora sí sabía que existía una frontera secreta dentro de cada uno y que ésta era la frontera más difícil de cruzar. (Carlos Fuentes, Gringo Viejo)   It’s not paranoia; it’s just kind of a way of life. (Luc Peters/Stéphanie Barbey, Broken Land)   La liberté n’est rien si elle n’est celle de vivre au bord de limites où toute compréhension se décompose. (George Bataille, L’impossible)   los otros todos que nosotros somos (Octavio Paz, Piedra de sol)

1. Das Gedächtnis der Grenze

Im Kontext der ortsbasierten Gedächtniskultur im mexikanischen Film gilt die Aufmerksamkeit im dritten und abschließenden Schritt einer räumlichen Konstante der jüngeren mexikanischen Geschichte. Im Gegensatz zur kollektiven Gedächtnisarbeit, die sich an Orten mit telehistorischer oder kolonialgeschichtlicher Affinität vollzieht, soll zuletzt ein Beispiel behandelt werden, bei dem eine zunächst schwach strukturierte geographische Region in den Rang einer identitätsvergewissernden Raumeinheit gehoben wurde. Bei der Betrachtung der Mnemotopie als Phänomen der Verräumlichung des kulturellen Gedächtnisses, ist der »Septentrión mexicano«1 , im Volksmund schlicht als El Norte bezeichnet, als eine Gedächtnislandschaft zu verstehen, die im Zuge der politischen Grenzziehung zeichenhaft wird und natürlichen Raum mit einem Ortscharakter versieht. Angesichts der Dimension der mexikanischen Nordgrenze kann man aber auch von einem Territorium sprechen, das in Folge einer makrohistorischen Festlegung der Außengrenze einen topographischen Text bildet, der eine hohe Relevanz für das kulturelle Gedächtnis Mexikos besitzt. Der kultursemiotische Prozess der räumlichen Sinnzuweisung, galt für die in den Ruinen und Haciendas untersuchten Prozesse der kulturellen Topogenese und gilt in gleichem Maße für die Entstehung von Grenzterritorien mit nationaler Relevanz, bei welchen »ganze Landschaften […] in den Rang eines Zeichens erhoben [werden]«2 . Eine für das Phänomen der Mnemotopie durchaus sinnfällige Minimaldefinition der Grenze bietet Michel Foucher in seiner umfangreichen Monographie Fronts et frontières: »Les frontières sont […] des temps inscrits dans des espaces«3 , womit implizit die Transformation von Raum zu einem kollektiv erschlossenen Semiophor genannt ist. Eine Initialzündung zur topologischen Semiose bildet zweifellos die kartographische Erfassung und anschließende découpage des Raums, die bereits in der Topogenese der Hacienda als territoriales Abstecken des Einflussbereichs untersucht wurde und die auf internationaler Ebene in der Dyade Mexiko-USA resultiert. Bei dem Phänomen der nationalen Außengrenze handelt es sich, wie Foucher in seiner Studie ausführt, um einen relativ neuen Mechanismus der topographischen Sinnstiftung,

1 2 3

Rajchenberg/Héau-Lambert 2007, 37. J. Assmann 2013, 60. Foucher 1988, 11.

318

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

denn abgesehen vom römischen Limes oder der Chinesischen Mauer bildet die lineare, »mathematische« Grenze ein neuzeitliches Phänomen der Raumaufteilung, worauf bereits 1928 der Historiker Lucien Febvre hinweist: Tel est le tableau qu’on trace généralement de l’évolution des frontières : de la zone de séparation large, stérile et vide, à la simple ligne de démarcation sans épaisseur; de l’indétermination d’un tracé souvent aberrant à la rigoureuse détermination d’un contour défini mathématiquement.4 Die horogenèse5 , wie Foucher das Phänomen der Grenzentstehung und der dazugehörigen Grenzterritorien bezeichnet, dient also nicht nur um den geopolitischen Horizont einer Nation abzustecken, sondern lässt auch eine Region mit unmittelbarer außenpolitischer Relevanz entstehen, die in der Folgezeit mit einem Bewusstsein um die binationalen Beziehungen zum Nachbarstaat einerseits und um das Verhältnis der Peripherie zum Zentrum andererseits überformt wird. Wie ein historischer Abriss im folgenden Kapitel zeigen wird, waren die nördlichen Territorien kein prominenter Bestandteil innerhalb der zentralstaatlich organisierten und imaginierten Gemeinschaft Mexikos. Da das räumliche Verständnis der mexikanischen patria häufig nicht über Monterrey als Pforte zum Norden, bisweilen nicht einmal über den Staat Zacatecas hinausging6 , war der breite mexikanische Grenzkorridor zu den USA eine negativ konnotierte Imaginationsfläche und bildet als gefährliche Transitzone vor einer als Gegenwelt empfundenen Kulturregion bis heute eine negative Mnemotopie innerhalb des Nationalterritoriums. Dass die Brandmarkung der nationalen Grenzgebiete als »landscapes of fear«7 mit überhistorischen, anthropologischen oder psychologischen Ansätzen zur kollektiven Topophobie erklärt werden könnte, liegt angesichts grenztypischer Konflikte nahe. Die affektive Bindung erklärt aber auch die Auffächerung der mathematischen Linie zu einem Grenzsaum. Im Hinblick auf die weitestgehend negativ besetzte Grenzfolklore lässt sich der Grenzkorridor auch als Chronotopos der Schwelle fassen, den Bachtin als raumzeitliches Gefüge beschreibt, das von hoher emotionaler Intensität durchdrungen ist und als wesentliches Komplement von Momenten der Krise und der biographischen Wendepunkte figuriert.8 Ein soziologischer Zugriff wäre darüber hinaus auch, die Grenze als Heterotopie im Sinne von marginalen »›Gegenplatzierungen‹ einer gegebenen gesellschaftlichen Formation«9 einzuführen. Schließlich ließe sich die verhältnismäßig junge und eher unscheinbare historische Markierung der mexikanischen Transitzone auch unter dem Aspekt der Nichtörtlichkeit diskutieren, die Marc Augé für anonyme, ereignislose Räumlichkeiten geprägt hat, die frei von Gedächtnis- und Identitätsmarkierungen sind. Im Hinblick auf den

4 5 6 7 8 9

Zit. in Foucher 1988, 32. Foucher 1988, 23. Vgl. Rajchenberg/Héau-Lambert 2007, 48-51. Vgl. die breit angelegte gleichnamige Studie von Tuan (1979), die eine affektive Bindung des Menschen an den Raum unter dem Aspekt der Aversion und Topophobie behandelt. Vgl. Bachtin 2008, 186. Warning (2015).

1. Das Gedächtnis der Grenze

in der Arbeit dominant gesetzten Erkenntnisschlüssel der Landschaften mit identitätsstiftenden Vergangenheitsbezug, wird hier aber postuliert, dass die Grenze eben doch ortshaft ist, weil sie in vielerlei Hinsicht eine Aufforderung zum Verweilen darstellt. Das Phänomen der Mnemotopie auch Orte eines ausgelagerten oder verdrängten kollektiven Gedächtnisses einschließt. Im Gegensatz zu den Haciendas und Ruinen als Orten eines offen ausgespielten kollektiven Funktionsgedächtnisses, entfaltet die Nordgrenze ihr formatives Potenzial vordergründig im Tradieren dessen, was Jan Assmann als das dynamische Unbewusste eines kulturellen Gedächtnisses bezeichnet10 . Entgegen der Annahme, bei der Nordgrenze handle es sich um kulturelles Brachland, soll hier eine Wahrnehmungstradition des mexikanischen Nordens aufgedeckt werden, die auf ein unbewohntes, vernachlässigtes, ja tabuisiertes Speichergedächtnis hinweist. Die Herausbildung der Grenz-Mnemotopie lässt sich am besten mit einem kulturgeographischen Rückblick erfassen, der die »Randschärfe chronologischer Bestimmungen«11 , die der Erfahrungsschwelle der Grenzziehung von 1848 innewohnt, verwischt und die Auseinandersetzung mit der spanischen Kolonisierung des Nordens als Anökumene und barbarische Außenwelt im Sinne einer schematischen Invariante des kulturellen mexikanischen Gedächtnisses freilegt. Dass die räumliche Verankerung des Speichergedächtnisses aus den Zentren der nationalen Semantik stammt, erklärt die eher stiefmütterliche Behandlung der Peripherie, die viel weiter reicht als in das 19. Jhd., in welchem die bis heute gültigen internationalen Demarkationslinien festgelegt wurden. Vieles weist darauf hin, dass der mexikanische Norden in einer langen Tradition des konfliktreichen Dialograums mit einer riskanten Außenwelt steht und das zentralistisch organisierte Gedächtniskollektiv sich auf das historische Erbe der spanischen Landnahme stützt.12 Bei der Betrachtung einer negativen Funktionalisierung der nationalen Peripherie drängt sich daher der Blick auf die kulturelle Gedächtnisdynamik auf, die im Widerspiel des Speicher- und des Funktionsgedächtnis begründet liegt. Es stellt sich die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Funktionsgedächtnis einen Echoraum der Regionalgeschichte darstellt, inwieweit man auf der »präformierten Bedeutungsstiftung«13 eines Ortes beharren muss und inwieweit die historische Ortsdetermination nicht immer auch im Interesse der Gegenwart ausgelegt oder manipuliert ist. Ein zweifacher Erklärungsansatz für die Vernachlässigung der Grenzregion, der in den Filmanalysen zum Tragen kommen wird, ist zum einen transhistorisch motiviert durch die Spannung zwischen zentralistischen Nationalstaaten und ihren Grenzzonen als Herkunftsräume der Widerstände, die die Einheit destabilisieren und »das staatliche 10

11 12

13

J. Assmann (2005). In ähnlicher Weise sieht Jörn Rüsen im »kollektiven historischen Unbewußten« einen nicht unerheblichen Bestandteil der Geschichtskultur und betrachtet »vorbewußte Dispositionen«, die mit Karl Bühlers sprachtheoretischer Vorstellung von einer »apperzeptiven Ergänzung« der Kognition verschwistert sind, als bedeutendes Komplement des Geschichtsbewusstseins (Rüsen 1994, 5). Koselleck 1998, 114f. Zwei bedeutende kulturelle Texte der spanischen Erstbegehung der Nordterritorien des Vizekönigreichs Neuspanien bilden die Expeditionen von Álvar Núñez Cabeza de Vaca (1528-1536) und Hernando de Soto (1538-1542). Sierek 2009, 128.

319

320

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Gewaltmonopol von unten oder von außen ins Wanken bringen«14 . Zum anderen liegt der kollektiven Verdrängung der Nordgrenze ein historischer Erklärungszusammenhang zu Grunde, nämlich die territorialen Einbußen gegenüber den USA, die in Folgeempfindungen einer mexikanischen Unterlegenheit gegenüber einer »superpotencia«15 resultieren. wie Octavio Paz die USA als permanente mexikanische Kontrastfolie beschwört. An der Grenze als Ort der unmittelbaren Begegnung mit einer absolut gesetzten angelsächsischen Alterität lässt sich die historische Unterlegenheit, die ab dem 19. Jhd. ein ums andere Mal unter Beweis gestellt wurde, aus einem blockierten Latenzgedächtnis freilegen.16 Das nach dem Mexikanisch-Amerikanischem Krieg (1846-1848) von den USA annektierte Grenzland wird in dieser mnemotopischen Herangehensweise lesbar als verbotenes, aberkanntes Territorium, als unheilvolles »Gebiet des ›Ausgeschlossenen‹«17 , das sich in der auffälligen Nichtthematisierung der USA im Cine de Oro widerspiegelt. Das Phänomen der Grenze kann damit zwar eine überhistorische Funktion der kultursemiotischen Scheide ausspielen, doch sind in der Biographie der mexikanischen Nation zahlreiche historische Markierungen eingebettet, die auf einen Bereich des »Ab- und Ausgeblendeten, Vergessenen oder gar Verdrängten, Marginalisierten, Dämonisierten und Perhorreszierten«18 im kulturellen Gedächtnis Mexikos hinweisen. Es wird in diesem Zusammenhang daher kaum verwundern, dass mit der Nordgrenze ein während der Época de Oro verhältnismäßig selten inszeniertes Mnemotop gewählt wurde, das weit hinter den synchronen Überhang der Ruinen und Haciendas zurückfällt. Die Verdrängungshypothese wird jedoch gestützt durch eine diachrone Asymmetrie des Grenzthemas: Das massierte Aufkommen des sogenannten cine fronterizo19 nach der Krise des Nationalfilms, einem neueren »key genre in Mexican film culture«20 , das der comedia ranchera den Rang abläuft, resultiert aus der postnationalen Hinwendung zu den Außengrenzen. Lag die Erklärung für die Popularität der Ruinen und Haciendas in der kompensierenden Erhaltung schwindender Epochenmarker, so soll im letzten Beispiel der Mnemotopie-Begriff auf die Elastizität seiner Verwendungsmöglichkeiten überprüft werden. In einem Dependenzverhältnis zur regionalen Geschichte stehend21 , bieten die zaghaften filmischen Zugriffe auf das Grenzthema ebenfalls viele 14 15 16

17 18 19

20 21

Vgl. Koselleck 2014b, 237f. Paz 2016b, 476. Mit den gebotenen Vorbehalten bei kollektiven Aggregationen individualpsychologischer Entwicklungsmodelle, lässt sich die Rolle der USA im mexikanischen Nation-Building mit Jacques Lacans Vorstellung des großen Anderen beschreiben, einer das nationale Territorium begrenzenden und das kollektive Selbstbild ex negativo ordnenden Instanz, wie in den Filmanalysen sichtbar wird. Lotman 2017, 295. J. Assmann 2005, 368. Der auf Norma Iglesias zurückgehende Begriff markiert ein eigenes Filmgenre, das seinen geographischen Ursprung an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze nimmt und den Maximiliano Maza in seiner raumwissenschaftlich konzipierten Monographie zum jüngsten cine fronterizo verwendet (zit. in Maza 2014, 13). Noble 2010, 149. Der mimetische Charakter möglicher Welten in Filmform wird hier im Sinne von Jurij Lotmans kultursemiotischem Verständnis der Kunstwerke als sekundäre modellbildende Systeme verstan-

1. Das Gedächtnis der Grenze

Hinweise auf den Charakter kollektiver Selbstmodellierungen. Indes steht die Bedeutung der Grenze für das mexikanische »Identitätsvergewisserungsreservoir«22 außer Frage. Wie der Historiker Manuel Ceballos Ramírez bei seiner Untersuchung der nördlichen Territorien und ihrer Rolle in der mexikanische Nationalkultur feststellt, haben Verhandlungen des Grenzsinns, darunter auch kinematographische Vorstellungsformen der Grenze, einen wichtigen Beitrag zum mexikanischen Selbstbild geleistet: La frontera se ha construido con tal complejidad, que en ella se entrecruzan tiempos y espacios, acontecimientos políticos y sociales, influencias locales, nacionales e internacionales, intereses creados y derechos históricos, policías y delincuentes, pasajeros y residentes, mitos y realidades; angloamericanos, indígenas y mexicanos. El cine de México y el de los Estados Unidos han inventado su frontera; los corridos y los héroes populares, con su pistola en la mano, han inventado la suya; los historiadores han explicado otra más, y hoy quienes destacan las creaciones culturales aprecian raíces que nadie había visto antes.23 Hier wird auch der Einfluss des US-amerikanischen Umgangs mit der Grenze als richtungsweisendes Komplement aufgeführt. Was in den Filmen also abgebildet und verhandelt wurde, ist zweifellos durch die besondere geographische Lage determiniert, die sich zwischen zwei sich überlappenden und gegenseitig bedingenden nationalen Sinnsystemen befindet. Die graduell wachsende politische, historische und soziokulturelle Relevanz der Grenzregion im 20. Jhd. ist natürlich gezeichnet von der mexikanischen Beziehung zum großen Nachbarn im Norden, die bereits früh die Prägung eines markanten Antagonismus erhält und eine Wechselwirkung der kulturellen Selbst- und Fremdwahrnehmung motiviert. Wie Ceballos Ramírez weiterhin festhält: no es concebible ni explicable ninguna de las dos historias nacionales sin la frontera norte mexicana o sin el sudoeste estadunidense. Es por ello que la frontera recíproca ha sido un lugar singular de la historia social, de la geografía humana y de la vida económica.24 Im Gegensatz zur Küste als natürliche Begrenzung des Staatsterritoriums, handelt es sich bei der Nordgrenze seit der Gründung des Vizekönigreichs Neuspanien um eine instabile territoriale Schwelle, die politisch umfochten war. Die anfängliche Instabilität des imperialen Randgebiets lag im Widerstreit mit nomadischen Indianervölkern begründet, bei dem ein defensiver Nationalismus kultiviert wurde, der auch für die Selbstbehauptung der jungen mexikanischen Nation gegen eine feindliche Außenwelt

22 23

24

den (vgl. Lotman 1989, 27-37, und mit besonderem Blick auf die Filmkunst in Lotman (1994) und (2004)). Koselleck 2013, 78. Ceballos Ramírez 2003, 72. Beispiele für die Konstruktion disjunkter Kulturparadigmen dies- und jenseits der Frontera sind zahllos. Erwähnung finden sollen hier nur drei prominente Werke: der kontroverse Essay México y Estados Unidos: Posiciones y Contraposiciones von Octavio Paz (2016b), die fiktive Biographie von Ambrose Bierce in Gringo Viejo (1985) von Carlos Fuentes sowie die ebenfalls von Fuentes stammende Reflektion zum zeitgenössischen Phänomen der amerikanisch-mexikanischen Grenze im Roman La Frontera de Cristal: una novela en nueve cuentos (1996). Ceballos Ramírez 2003, 83.

321

322

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

charakteristisch war. Mehr denn eine nationale Umrisslinie, hatte die Grenze das Ortsprofil einer geopolitischen Verwerfung und stützte die Logik einer kulturellen Front, um die zentrale Opposition in Michel Fouchers geopolitischer Studie Fronts et frontières aufzugreifen. Die markante Asymmetrie, die für die stets großgeschrieben Frontera zwischen Mexiko und USA kennzeichnend ist, hat im Tratado de Guadalupe Hidalgo (1848) ihren historischen Einschnitt, der sich in die methodische Isotopie der Erfahrungsschwellen fügt, die der kollektiven Gedächtnisarbeit diachrone Orientierungsstrukturen zur Seite stellen und der Entstehung der kulturellen Mnemotope Vorschub leisten. Die Verlagerung der mexikanischen Grenze in den Süden, die bis ins XXI. Jhd. als »una bofetada al orgullo patrio«25 empfunden wird, soll im Folgenden die kulturgeographische Besonderheit der Region und ihre kinematographische Inszenierung zu verstehen helfen. Gründe für die zunächst zaghafte Profilierung der Nordgrenze als eines kulturellen wie geographischen Umschlagsortes im mexikanischen Film sind sicherlich auch in der Tatsache zu sehen, dass die im Zuge des US-amerikanischen Expansionismus in den Süden verlagerte Demarkationslinie, im Gegensatz zu den verlorenen Territorien, mitnichten eine gefährdete Ortskategorie darstellt, sondern eine sich neu formierende Raumeinheit inmitten eines national eher schwach erschlossenen terrain vague. Es handelt sich in Schlögels bereits zitierter thermischer Ortsmetaphorik um eine »Heiße Zone«26 , in welcher ein Ort der semantischen Peripherie ins Zentrum der kollektiven Aufmerksamkeit vorstößt und mithin erst im Zuge der territorialen Neuausrichtung im 19.Jhd. zeichenhaft wird. Das karge Erinnerungssubstrat einer geographischen Linie, mit dem die Nationalterritorien Nordamerikas voneinander geschieden wurden, wird interessant, wenn man zur kollektiven Horizontbildung an der Grenze als Mnemotop die strukturelle Besonderheit nationaler Schwellenorte heranzieht und die »grenztypischen Verhaltensformen«27 als symbolisch fortgeführte Riten mit historischer Relevanz aufschlüsselt, die im kulturellen Gedächtnis eingebettet sind und zur Überlieferung latenter Sinnzusammenhänge beitragen.28 Als Gesamtheit der geographischen Extrempunkte einer nationalen Sphäre, bilden die Grenzorte, wie mit Lotman zu diskutieren sein wird, auch eine imaginäre Zivilisationsscheide, die sich zu einer kulturellen Peripherie auffächern lässt, einer »zona fluida«29 , in welcher interkulturelle Übersetzungsprozesse stattfinden, »diffuse Identitäten«30 hervortreten und selektive Assimilationsprozesse des Fremden stattfinden. In der postrevolutionären Einheitsstiftung waren bezeichnenderweise keine Manifestationen einer eigenständigen »identidad fronteriza«31 in der Filmproduktion erkennbar. Hingegen förderte die Befürchtung einer gegenseitigen Überformung Darstellungen der Grenzregionen zu Tage, in welchen sich die Nationalkollektive auf beiden Seiten

25 26 27 28 29 30 31

Ortega Tórres 2010, 86. Vgl. Schlögel 2003, 299-301. Burkard 1996, 337. Vgl. J. Assmann 2013, 21. Paz 2016b, 477. Koschorke 2012, 31. Salas-Porras Soule 1989, 10.

1. Das Gedächtnis der Grenze

ihrer ungetrübten Eigenständigkeit, ja ihres kulturellen Exzeptionalismus rückversichern konnten. In der Tendenz des Cine de Oro zur Scheidung der Nationalkollektive, bilden die historisch verbrieften Animositäten zwischen den Idealtypen von Anglo- und Hispanoamerika eine bedeutende Vorlage für Identitätskonkretisierungen ex negativo. Überschreitungen der Grenze werden in jedweder Form – als militärische Invasion oder als ideologische, kulturelle oder sprachliche Durchdringung – auf beiden Seiten zurückgewiesen und die Grenze zunächst als eine absolut gesetzte Linie denn als Grenzsaum imaginiert. Jegliches Assimilationsbestreben der Grenzgänger wird folglich mit einer doppelten kollektiven Ausgrenzung aus beiden unvereinbaren Nationalkollektiven sanktioniert, wie im Falle der heimatlos gewordenen Chicanos, deren gespaltenes Selbstgefühl in der Devise »We didn’t cross the border – the border crossed us« prägnant abgebildet wird. Während der Época de Oro wird das exaltierte mexikanische Selbstverständnis an seiner nördlichen Außengrenze damit gegen das US-amerikanische Andere positioniert und tendenziell an einem homogen gesetzten nationalen master space32 ausgerichtet, in dem fließende Übergänge als problematische Hybridformen gelten, die es zu überwinden gilt. Die Helden des prototypischen cine fronterizo in Mexiko sind daher fast ausschließlich Helden einer nationalen Rückbesinnung, für die die Übertretung der Nordgrenze immer zu einer Reise in eine Gegenwelt wird, ein Sujet, das mitunter archetypisch grundiert ist durch das Motiv eines descensus ad inferos in Kombination mit einer reuevollen Repatriierungslogik zum Schluss. Im politischen Paradigma nationaler Disjunktionen wird dabei in der Mnemotopie der Grenze eine unversöhnliche Erinnerung an binationale Konflikte präsent gehalten. Eingedenk der zentripetalen33 Ausrichtung des Nationalkinos ist das Grenzgebiet im Cine de Oro eine Transitzone der problematischen Alteritätserfahrung. Im Einklang mit der Logik einer abstrakten, topologischen Demarkationslinie, lässt sich die Entstehung einer eigenständigen räumlichen Prägung zurückverfolgen, die der Grenze als kulturelle »ligne de front«34 Dimensionen einer territorialen Mnemotopie mit entsprechendem Reifungsprozess verleihen. Versteht man die nationale Einheitsstiftung als impliziten Telos der Época de Oro, wird auch unmittelbar einleuchtend, weshalb die Grenzgebiete nahezu ausnahmslos als konfliktträchtige Kontaktzonen imaginiert worden, wie Mary Louise Pratt soziale Räume fasst, die vom Aufeinanderprallen markanter Asymmetrien gezeichnet sind.35 Vorrangig als konfliktträchtige Kontaktzonen imagi-

32 33

34 35

Zum topologischen Blick des Filmzuschauers und der sukzessiven Montage eines filmischen master space in der raumästhetischen Wahrnehmung reflektieren Jutz/Schlemmer 1990, 21. Hierbei wird auf die Opposition zentripetal/zentrifugal zurückgegriffen, mit der Michail Bachtin konträre Prinzipien der literarischen Kommunikation bezeichnet: der nach einer Begrenzung eines Systems strebenden Monologizität einerseits und der nach außen hin offenen, dialogischen Referenzrahmen andererseits. Die Opposition wird für das Medium des Films aufbereitet in Shochat/Stam (1989), sowie Stam 1989, 72ff. Foucher 1988, 452. Eine Definition der Kontaktzonen ist in besonderer Weise anwendbar auf die Nationalgrenze: »the space of imperial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict« (Pratt 2008, 8). In eine ähnliche epistemolo-

323

324

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

niert und inszeniert, werfen die nördlichen Grenzgebiete das nationale mexikanische Selbstverständnis dabei stets auf sich selbst zurück und bestätigen die unüberwindbare kulturelle Differenz im Jenseits des nationalen Territoriums.36 Nach der Krise des mexikanischen Nationalkinos wird das anhand der anglo-/hispanoamerikanischen Dyade konturierte nationale Selbstverständnis allerdings zunehmend destabilisiert, was auch an der Prominenz der Denkfiguren einer kulturellen Liminalität37 abzulesen ist, wie sie zum Beispiel das cine chicano ab den 1970er Jahren mit Vehemenz propagiert. Die Grenze wird im Zuge der postnationalen Destabilisierung der kulturellen Kodes, sowie im Zuge einer Revision der historischen Gegenüberstellung, von der Kategorie eines Transitraums in den Bereich eines eigenständigen Grenzsaums befördert, der mit Homi Bhabhas Vorstellung von einem Third Space38 korrespondiert. Mit der Aufgabe der »despot duality«39 , mit der eine exklusive Zugehörigkeit zu einem der Nationalkollektiv propagiert wurde, erhält auch die von Fuentes konzipierte »tercera hispanidad«40 ihre symbolische Heimat in den borderlands, in welchen trennscharfe kulturellen Oppositionen Prozessen der gegenseitig beeinflussenden Transkulturation ausgesetzt werden. »[L]o que se esperaba fuera una línea indubitable y geométrica de demarcación«, schreibt Manuel Ceballos Ramírez im Hinblick auf das späte 20. Jhd., »se ha convertido en un espacio complejo, asimétrico y, en ocasiones y tiempos intercambiables, no siempre claro y distinto«41 . Die Komplexität von der er spricht

36

37

38

39 40 41

gische Schneise schlägt auch Maximiliano Maza wenn er von der »zona fronteriza« als einer Region spricht, in der signifikante materielle, symbolische und imaginäre Austauschprozesse stattfinden, und den Grenzsaum mit dem Begriff des Ökotons umschreibt, wie klimatische Schwellenräume oder Saumbiotope in der Ökologie bezeichnet werden (vgl. Maza 2014, 9f). Ergänzen ließe sich die Hervorhebung der Differenz in Räumen der semiotischen Überblendung durch das Konzept der Schismogenese, die Gregory Bateson in den 1930er Jahren entwirft, um die Funktionsformen einer Gesellschaft zu beschreiben, deren kulturelles Bewußtsein erst im »cultural contact«, also im Aufeinandertreffen heterogener Verhaltensmuster entsteht. Batesons eher konservatives Selbstverständnis einer »Kultur, die sich als Grenze bestimmt und aus der Grenzziehung ihre Qualität gewinnt« (Baecker 2010, 534) ist zwar wesensverwandt mit Odo Marquards Maxime des räumlichen und zeitlichen »Zäsurbedarfs« (Marquard 1987, 343), wird aber notwendigerweise von Victor Turners soziologisch ambigen Figuren der Grenzgänger (»Schwellenpersonen« (Victor Turner 2000, 95)) auf die Probe gestellt und durch Prozesse der Transkulturation – der selektiven Einverleibung von Fremdelementen – destabilisiert, die laut Fernando Ortiz den kulturellen Wandel bedingen (vgl. Ortiz 1978, 92-97). Hierzu liegt in Homi Bhabha eine seminale Studie zur Destabilisierung nationaler Dichotomien im Zuge der Emergenz von »incommensurable cultural temporalities« vor. Die Bedeutung liminaler Räume besitzt im »in-between moment« einen eindeutigen Hinweis auf das postkolonial gebrochene Raumbewusstsein, das Bhabha für eine Neubewertung einschlägiger raumgestützter, i.e. territorialer Identitätskonstruktion operationalisiert (vgl. Bhabha 1994, 2ff und 216, hier 3). A. a. O., 36-39. Bhabhas abstrakte Vorstellung von Schauplätzen, in welchen interkulturellen Übersetzungsprozesse stattfinden, historische Identitäten destabilisiert werden und gesellschaftlicher Wandel im Prozess der »assimilation of contraries« (Bhabha 1994, 38) antizipiert wird, birgt eine konzeptionelle Ähnlichkeit mit Lotmans Besprechung der topologischen Affinitäten peripherer Sub-Semiosphären. Anzaldúa 1987, 19. Fuentes 1992, 374. Ceballos Ramírez 2003, 76.

1. Das Gedächtnis der Grenze

wird abschließend unter dem Rubrum einer ›liminalen Mnemotopie‹ zu untersuchen sein sowie der Entstehung einer postnationalen »Kulturgeographie neuen Typs«42 . In der Aufsprengung stabiler Gedächtniskollektive wird die Weiterführung des mestizaje cultural als Überschreitung und gleichzeitige Rekonsolidierung eines weiterhin sinnstiftenden geographischen wie symbolischen Limes nachgezeichnet. Das Grenzterritorium als Mnemotopie bleibt damit ein Ankerpunkt gegensätzlicher Gedächtnisdialekte und Brennpunkt internationaler Transkulturationsprozesse, wie sie etwa in den Grenzgängen der »border shifters«43 oder in den gespaltenen Identitätsmodellen der chicanos, pochos, pachucos, nepantleras oder texicans aufscheinen. Bevor jedoch ein kollektiver mexikanischer Dialog mit der Vergangenheit an der Grenze anhand einer Filmselektion untersucht wird, soll ein horogenetischer Exkurs die transgenerationale Tragweite historischer Befindlichkeiten zu erklären helfen. Im Sinne einer »hypoleptische[n] Diskursorganisation«44 , die Jan Assmann als Prinzip der Anschlussfähigkeit bei Untersuchungen des kulturellen Gedächtnisses prägt, ist auch im letzten Beispiel ein Mindestmaß an kulturhistorischem Vorwissen notwendig, um das Memory-Building im Film mit dem nötigen historischen Tiefenblick auszustatten. Nur gegen die Kontrastfolie ortseigener Diskurstraditionen gehalten, lassen sich habitualisierte Zugriffe auf eine Grenzfolklore scheiden von Elemente der kulturellen Variation. Für die weitere Thesenbildung soll schließlich ein Annäherungsversuch der GrenzMnemotopie an raumsemantische Überlegungen vorgenommen werden, wie sie vor allem in den kultursemiotischen Schriften von Jurij Lotman enthalten sind. Wie bereits bei der Betrachtung der Ruinen und Haciendas, liegt auch der Mnemotopie der Nordgrenze ein Kulturbegriff zu Grunde, den Juri Lotman als »Wechselbeziehung zwischen dem kulturellen Gedächtnis und seiner Selbstreflexion«45 begreift und die von einem fortwährenden Dialog der Zeiten gespeist wird. Im filmbasierten Raumbewusstsein Mexikos bietet el Norte ein weiteres Beispiel für die Verarbeitung eines durch kollektive Erfahrungsschwellen konstituierten kanonischen Ortssinns, aber auch für »creative distortions«46 der ortsgestützten Vergangenheitsrekonstruktion.

42 43

44 45 46

Koschorke 2012, 32. Hamid Naficy bezeichnet mit dem Typus des »shifters« kinematographische Figuren, die kulturelle Übersetzungsprozesse akzentuieren und die Selbstmodellierung der Nationalkollektive in den Hintergrund treten lassen. Als »transborder amphibolic characters« mit einer »fragmented or multiple subjectivity« bieten sie natürlich auch eine Vorlage für Reflexionen zu räumlichen Befähigungspotenzialen und Restriktionen, die der kollektiven Gedächtnisbildung nach Halbwachs zu Grunde liegen (vgl. Naficy 2001, 32). Vgl. J. Assmann 2013, 280-289. Lotman 2017, 375. White 1966, 131.

325

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

2.1.

Die offene Wunde und das Invasionsphantasma

Das ereignisreiche 19. Jhd. war in Mexiko nicht nur von einem Erwachen des Nationalbewusstseins und der Loslösung von Spanien gezeichnet, sondern auch von einer innenpolitischen Labilität, die eine »ausgeprägte außenpolitische Anfälligkeit gegenüber wirtschaftlichen und militärischen Interventionen fremder Mächte«1 bedingte. Das Grenzgebiet zu den USA, das nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit (1821) infolge der Loslösung von Texas (1836) und des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges (1846-1848) – auch als »Guerra de intervención«2 bezeichnet – massiv in den Süden verschoben wurde, stellte ein nationales Territorium dar, das zunächst dünn besiedelt und infrastrukturell schwach erschlossen war und an dem sich ein mexikanisches Nationalbewusstsein in Abgrenzung zum angloamerikanischen Einflussbereich konstituieren konnte (Abb. 108). Neben der binationalen Dyade lässt sich aber auch ein starkes innermexikanisches Bedeutungsgefälle beobachten, das seit der spanischen Kolonisierung zu einer markanten Opposition zwischen dem zentralmexikanischen Hochland und der territorialen Peripherie beigetragen hatte. Dass die nördlichen Gebiete im 19. Jhd., zur Hochphase der amerikanischen Expansion, nicht im Zentrum der mexikanischen Aufmerksamkeit standen, kann man in Anlehnung an Angel Ramas Conquista-Formel als imperiales spanisches Erbe verstehen, demgemäß die flächendeckende Kolonisierung des ariden Nordens eine eher unattraktive Mammutaufgabe darstellte: En las antípodas del criterio de una frontier progresiva, la cual regiría la colonización progresiva de los Estados Unidos […], la conquista española fue una frenética cabalgata por un continente inmenso, atravesando ríos, selvas, montañas, de un espacio cercano a los diez mil kilómetros, dejando a su paso una ringlera de ciudades, prácticamente

1 2

Tobler 1984, 36. Miranda López 2010, 74.

328

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

incomunicadas y aisladas en el inmenso vacío americano que sólo recorrían aterradas poblaciones indígenas.3

Abb. 108: Die sukzessive US-amerikanische Kolonisierung des ›Wilden Westens‹ im 19. Jhd., motiviert durch die expansionistische Teleologie des ›Manifest Destiny‹, entspricht aus mexikanischem Blickwinkel einer graduellen Beschneidung der nördlichen Territorien und der Verschiebung des hispanischen Limes in den Süden.

Die Festlegung der neuen nationalen Demarkationslinie 1848 war das Resultat einer effektiven angloamerikanischen Expansionslust und markierte eine territoriale Abgrenzung von über 3000 Kilometern, die sich bis in die Gegenwart vom Atlantik bis zum Pazifik erstreckt, wobei ein großer Teil der Grenze (ca. 1930 km, 63 %) durch den Verlauf des Río Bravo – beziehungsweise seines US-amerikanischen Allonyms Rio Grande – naturgeographisch determiniert ist. Mit dem traumatischen Verlust der Hälf-

3

Rama 1998, 25. Eine detaillierte mikro- wie makrohistorische Behandlung der mexikanischen Kolonisierung des Nordens von der mexikanischen Unabhängigkeit 1821 bis zur epochalen Auseinandersetzung 1846, die zur Abtretung des Territoriums an die USA führen sollte, bietet Weber (1997).

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

te des nationalen Territoriums an den »coloso del Norte«4 , gipfeln die »interminables fricciones con Estados Unidos«5 , ex post betrachtet, in einer epochalen Grenzverschiebung.6 Der Tratado de Guadalupe Hidalgo (1848), mit dem die territorialen Konflikte finalisiert wurden, markiert aus mexikanischer Perspektive einen herben Einschnitt und eine erinnerungsträchtige Erfahrungsschwelle. Bei dem Versuch einer Periodisierung der Nationalgeschichte bilanziert Justo Sierra um 1900 den Verlust der Nordterritorien als den Höhepunkt der Erniedrigung, der eine lange Phase kleiner und größerer Einbußen vorausging: ¡Cuánta energía desperdiciada, cuánta fuerza derramada en la sangre de perennes contiendas, cuánto hogar pobre apagado, cuánta, cuán infinita cantidad de vejaciones individuales, preparando la definitiva humillación de la patria!7 1848 bekommt die junge mexikanische Nation damit eine territoriale Reduktion verpasst, die einen langen Schatten in die Zukunft werfen und dafür Verantwortung tragen sollte, dass Carlos Fuentes 1985 in seinem Roman Gringo Viejo die Grenze mit den Metaphern der Narbe oder der blutenden Wunde beschreibt, die dem mexikanischen Nationalbewusstsein den Stempel eines verstümmelten Territoriums aufdrückt.8 Das mexikanische Selbstverständnis eines »mutilado territorio«, wie es López Velarde in La suave patria fasst, wurde bereits in der Auseinandersetzung mit dem Erinnerungssubstrat der Hacienda eingekreist.9 Kulturanthropologisch betrachtet wurde der Norden jedoch schon lange vor der mexikanischen Unabhängigkeit mit einer Invasionsbedrohung in Verbindung gebracht, wenn man mit Octavio Paz bedenkt, dass in der mesoamerikanischen Kulturgrammatik der Norden nomadische Volksstämme beherbergte, die nicht selten über die sesshaften Zivilisationen im Süden einfielen – eine Praxis, die bis weit in das 19. Jhd., etwa in den

4 5 6

7 8

9

Tobler 1984, 36. Aguilar Camín 1993, 41. Die Bedrohung der nationalen Souveränität aus dem Norden wurde sechs Jahre später ein letztes Mal real, als weitere knapp 80.000 km2 1853 im Gadsden-Kauf von den mexikanischen Staaten Sonora und Niederkalifornien an die mittlerweile US-amerikanischen New Mexico und Arizona verkauft wurden, was die amerikanische Expansionslust und wirtschaftliche Überlegenheit ein weiteres Mal unter Beweis stellte, gleichzeitig aber auch einen der kulturellen Urtexte für das außenpolitische Motiv der eigennützigen Veräußerung nationaler Güter bietet (vgl. Rajchenberg/HéauLambert 2007, 38). Sierra 1977, 158. »ésta no es frontera, sino que es cicatriz« (Fuentes 2008, 233 und sinnverwandt 57 und 235). Der Roman, der den biographischen Schlussakkord des US-amerikanischen Schriftstellers Ambrose Bierce in Mexiko imaginiert und das Phänomen der Grenze und der Transgression in zahlreichen Figurationen umspielt, flicht das dominante Grenzbewusstsein in die kognitive Kartographie beider Nachbarstaaten ein und behandelt die Idee der Internalisierung geographischer Grenzen als Leitmotiv (Fuentes 2008, 53f./61/198/235). Ein jüngeres Werk, das in der Tradition der literarischen Produktion der Erfahrungsschwelle seit Sierra und Velarde steht, ist der historische Roman México mutilado von Francisco Martín Moreno (2004). Bereits der Untertitel, La raza maldita, signalisiert die amerikanische Aneignung der Nordterritorien als chronologisches Zentrum mit einem langen, bis in die Gegenwart reichenden historischen Schatten.

329

330

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

regelmäßigen Vorstößen der Comanche, präsent bleiben sollte.10 Im Verweis auf eine kontinentale longue durée entwickelt Paz dabei eine Opposition entlang der Süd-NordAchse, die eine historische Sinnstiftung für Prozesse der nationalen Automodellierung ex negativo bereithält: La gran oposición de la América precolombina —en el territorio que ahora ocupan Canadá, Estados Unidos y México— no fue, como en el Antiguo Mundo, entre civilizaciones distintas, sino entre modos de vida diferentes: nómadas y sedentarios, cazadores y agricultores. Esta división tuvo una gran influencia en el desarrollo posterior de los Estados Unidos y de México. La política de los ingleses y los españoles frente a los indios norteamericanos estuvo determinada, en buena parte, por este hecho: no fue indiferente que los primeros fundasen sus establecimientos en el territorio de los nómadas y los segundos en el de los sedentarios.11 Von mexikanischer Seite aus betrachtet markieren die territorialen Abtretungen im 19. Jhd. eine Fortführung des kollektiven Invasionsphantasmas als kulturanthropologische Konstante, die von den beiden französischen Interventionen in Mexiko (1838-39/18621867) flankiert ist.12 Mit dem Vertrag von Guadalupe Hidalgo als »parteaguas convencional en la historia de los actuales espacios fronterizos«13 entstand ein »chronologisches Zentrum«14 – eine epochale Zäsursetzung, die mit Kosellecks Begriff der Erfahrungsschwelle in der mexikanischen Selbstwahrnehmung korrespondiert. Und wie bereits in den vorhergehenden Mnemotopie-Diskussionen illustriert, ist auch diesmal die chronologische Schwelle als eine topologische Umbruchserfahrung im nichtmetaphorischen, räumlichen Sinne lesbar, da in diesem Fall auch ein kulturgeographischer Limes nachhaltig verschoben wurde. In sozialkonstruktivistischer Betrachtung entsteht mit der territorialen Amputation

10 11

12

13 14

Vgl. Rajchenberg/Héau-Lambert 2007, 48. Paz 2016b, 479. In der Perpetuierung einer geographisch bedingten, im Sinne Kosellecks metahistorischen Opposition, erkennt Paz auch das Nachleben einer europäischen, religiös motivierten Antinomie zwischen einer angelsächsischen Reformationslogik und einer gegenreformatorischen Determiniertheit Spaniens, die für die kinematographische Selbstmodellierung der Nationalkollektive, wie in diesem Kapitel noch zu zeigen sein wird, nicht unerheblich war (vgl. ebd., 479f). Als Archetyp der Invasion auf mexikanischem Gebiet ist zweifelsohne die Ankunft der Spanier zu sehen, die ihre topologischen Referenzen in Veracruz und entlang der Atlantikküste und, sensu lato, in den bereits eingehend behandelten altamerikanischen Ruinenfeldern als Schattenorte der Conquista haben. Es ist hierbei bezeichnend, dass der amerikanisch-mexikanische Krieg einen Wendepunkt in der Besetzung des Hafens von Veracruz als Brückenkopf nimmt und in der finalen Batalla de Chapultepec (1847) gipfelt – »en el corazón del país« (Sierra 1977, 151) (Abb. 108). Der Konfliktverlauf weist damit eindeutige Parallelen zum spanischen Eroberungszug nach Tenochtitlan als imperialem Zentrum Mesoamerikas auf und zwingt den Mexikanern als fatale historische Repetition eine Opferperspektive auf, die mitunter der ästhetischen Strömung des Indigenismus als Desambiguierung der gegensätzlichen mexikanischen Identitätsstränge Vorschub leistet. Auf der anderen Seite findet man in der Hymne der US-Marines auch heute eine triumphale Erinnerung an Mexiko als das bezwungene indigene Andere gleich in der ersten Strophe: »From the Halls of Montezuma/To the shores of Tripoli;/We fight our country’s battles/In the air, on land, and sea«. Ceballos Ramírez 2003, 83. Ebd.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

auch das Bewusstsein für eine weitere »herida mexicana«15 und ein Gedächtnisanker kollektiver Defizienzerfahrung, der eine für das mexikanische Nation-Building konstitutive Wehmut an sich bindet.16 Im historischen Bewusstsein der Nachgeborenen bleibt das Ungerechtigkeitsempfinden angesichts der Gebietsverluste ein dominanter historischer Affekt. Zudem hat die Veränderung der geographischen Umrisse eine besondere staatspolitische Tragweite: Erst in der kollektiven Erfahrung einer territorialen Desintegration erhält die Idee der nationalen Gemeinschaft einen kompensierenden und zugleich einheitsstiftenden Impuls, so dass man behaupten kann, dass die postrevolutionäre Suche nach einer einheitlichen mexicanidad auf das historische Erbe der territorialen Verstümmelung und der Invasionserfahrung zurückgreift und die USA, wie Hector Aguilar Camín hervorhebt, zur zentralen Bedrohung nationaler Interessen stilisiert: El nacionalismo revolucionario ofreció […] su propia fórmula cultural y política a la vieja cicatriz de la nación: la presencia de Estados Unidos, aquel fantasma de carne y hueso que los liberales no supieron combatir […]. La Revolución Mexicana fue, en gran parte, la historia de un vivo conflicto con Estados Unidos. El amago político y la intervención militar de Washington, fueron hechos fundadores y experiencia de cada día en la conciencia revolucionaria. […] La actividad diplomática de la Revolución registró […] interminables fricciones con Estados Unidos: incidentes militares fronterizos, reclamaciones económicas, notas de protesta, advertencias y amenazas. No hubo jefe revolucionario de alguna jerarquía que no tuviera, en su momento, la tentación de ofrecer una respuesta armada a la hostilidad americana. La realidad activó la memoria y el conflicto reabrió en la imaginación de los revolucionarios el fantasma de la guerra de 1848, hasta configurar la moción beligerante de Estados Unidos como el peligro exterior número uno de la Revolución y el enemigo identificado de la nacionalidad y el orgullo mexicanos.17 In der Grenze als einer gedächtnisstiftenden historischen Wunde, die während gesellschaftlicher Krisenzeiten besonders spürbar wird, findet das mexikanische Ungerechtigkeitsempfinden gegenüber den USA seinen prominentesten Referenzort. Zu einem patriotischen Gegenschlag, der laut Aguilar Camín in revanchistischen Milieus immer wieder greifbar war, kam es nicht. Der Makel der Unterlegenheit und die Vorstellung von einer kulturellen und politischen Unvereinbarkeit beider Nationen blieben bestehen. Als Reaktion auf die neue découpage der kontinentalen Einflussgebiete wurden die neuen Grenzzonen mit einer Reihe von Schutzmaßnahmen gegen weitere Expansionsbestrebungen aus dem Norden überzogen. Die Logik der bedrohlichen Außenwelt, die

15

16 17

Vgl. Fuentes (1991). In der Wendung »herida abierta« (Fuentes 1992, 287) wird die traumatische Gedächtnisstiftung auch 150 Jahre nach der Schmach präsent gehalten. In der Folgezeit arbeitet auch Gloria Anzaldúa mit der Vorstellung der offenen Wunde, die im Bewusstsein eines permanenten destierro der Chicanos verankert ist (vgl. Anzaldúa 1987, 3-13). In nationalistischen Retrospektiven wird natürlich oft fallengelassen, dass die für 15 Mio. Pesos verkauften Nordterritorien soziopolitisch schwach erschlossen waren. Aguilar Camín 1993, 40ff.

331

332

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

in nuce bereits in der Typologie der comedia ranchera, aber auch bei der Betrachtung der Ruine als anfälligem Bollwerk aufgedeckt wurde, hat auf makrostruktureller Ebene der Landesgrenzen eine besonders hohe Bedeutung für die nationale Selbstvergewisserung. Der Ausbau der nördlichen Grenzregion, der nicht nur seine Anrainer betraf, folgte der staatspolitischen Maxime, das nationale Territorium vor weiteren Einbußen abzusichern: Si en la guerra del 47 el aislamiento, la dispersión y la desarticulación económica y política debilitaron a la población norteña y le impidieron defender exitosamente la integridad territorial, en etapas posteriores su inclinación por la lucha, la autonomía y la libertad le permitieron abrirse paso en el desierto, poblar los espacios más importantes de la línea fronteriza, impedir que ésta se desplazara más al sur.18 Die Besinnung auf das geschrumpfte Nationalterritorium resultierte in einer besseren infrastrukturellen Anbindung, die die »desnudez histórica«19 der Grenzgebiete zu überwinden half und den Norden aus dem Zustand der kultursemiotischen Einöde löste. Auch im 20. Jahrhundert waren die gesellschaftlichen Transformationsprozesse maßgeblich von einer Nord-Süd-Bewegung gekennzeichnet. Die maderistische Erhebung, die gemeinhin als Initialzündung der mexikanischen Revolution gesehen wird, nimmt ihren Lauf im Norden. Im US-amerikanischen Exil reifte Maderos Plan de San Luis (1910) heran, mit dem er das Ende des Porfiriats anstrebte. Sein langer Marsch in den Süden beginnt mit der Eroberung der Ciudad Juárez (1911), die Maderos Mitstreiter Pascual Orozco, Giuseppe Garibaldi und Pancho Villa dies- und jenseits des nationalen Territoriums vorbereitet hatten.20 Mit Hans Werner Tobler lässt sich hierbei behaupten, dass die geopolitische Lage des Nordens die Revolutionsbewegung begünstigt hatte: Die Situation im Norden war in hohem Maße durch seine periphere Lage gegenüber dem nationalen Macht- und Verwaltungszentrum gekennzeichnet. Einerseits hatte der Norden bis ins späte 19. Jahrhundert eine Art militärischer frontier gegen die häufigen Einfälle kriegerischer Indianer wie der Apachen, Yaquis usw. aufgewiesen, welche – über die Militarisierung der nördlichen Grenzbewohner – eine spezifisch nördliche Gewalttradition begründete. Hinzu kam, daß der relativ dünn besiedelte Norden und die Möglichkeit der Grenzüberschreitung in die USA die polizeiliche Kontrolle insbesondere der Sierras weitgehend unmöglich machte: Banditen, Viehdiebe, Schmuggler, aber auch politisch motivierte outlaws konnten sich deshalb leicht der Verfolgung

18

19 20

Salas-Porras Soule 1989, 8. In einer signifikanten Statistik erkennt man, dass erst im Zuge der territorialen Verschiebungen die neu entstandenen Grenzorte ein demographisches Wachstum erlebt haben, die mit der herkömmlichen Verstädterungsthese nicht hinreichend plausibilisierbar wäre (a.a.O., 12f). Zu den Asymmetrien als Ursache für die Verdichtungstendenzen an der Grenze gibt der historische Abriss von Burkard Auskunft (Burkard 1996, 339-351). Rajchenberg/Héau-Lambert 2009, 30. In den legendären dokumentarischen Aufnahmen von Salvador Toscano, die 1950 von seiner Tochter Carmen Toscano zum Film Memorias de un Mexicano kompiliert wurden, wird das Treffen Maderos und Orozcos »en las orillas del Rio Bravo« als Auftakt zur Revolution dargestellt.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

durch Ordnungskräfte entziehen. Schon vor der Revolution bestand hier denn auch eine starke Tradition lokaler Revolten und eines verbreiteten Sozialbanditismus, welche eine wichtige Grundlage für die Ausbeutung der maderistischen Erhebung abgeben sollte.21 Im weiteren Revolutionsverlauf, vor allem während des Huerta-Regimes 1913-1914, einer Periode der umfassenden nationalen Destabilisierung, bildete der außenpolitische Druck der USA, der in mehreren militärischen Kampagnen auf mexikanischem Territorium gipfelte, eine Erneuerung des mexikanischen Invasionsphantasmas. Im kulturellen mexikanischen Gedächtnis wird die Besetzung des Hafens von Veracruz 1914 als eine Intervention tradiert, die die ohnehin brüchige nationale Souveränität gefährdete und neben der ökonomischen Durchdringung der nationalen Wirtschaft auch als eine konkrete militärische Unterwanderung des mexikanischen Hoheitsgebiets empfunden wurde. Doch auch aus US-amerikanischer Perspektive bilden die Missachtungen der territorialen Souveränität, allen voran die Guerilla-Manöver des Revolutionsfürsten Francisco Villa, eine Bedrohung, die zu Gegenmaßnahmen motivierte. Unter den Grenzkonflikten, die in der amerikanischen Geschichtsschreibung retrospektiv in dem Sammelbegriff des Border- oder auch Bandit War (1910-1919) gefasst werden, markiert der Einfall Pancho Villas in der US-amerikanischen Grenzstadt Columbus 1916 ein folgenschweres Vordringen in das amerikanische Einflussgebiet, das sich fast 200 Jahre in einer stetigen Expansionsbewegung befand. Waren die USA zunächst noch ein Rückzugsgebiet für Dissidenten, wie im Falle Maderos, so stellten die vereinzelten Raubüberfälle Provokationen dar, die eine neue Mobilisierung entlang der porösen Grenzgebiete nach sich zogen.22 Einen Tag nach dem verhältnismäßig klein dimensionierten Battle of Columbus,

21

22

Tobler 1984, 151. In dieser Passage wird auch ersichtlich, dass das Milieu der borderlands eben nicht nur eine topologische Ereignismatrix für Lederstrumpfromantik oder den permanenten Ausnahmezustand des Westerns bereitstellte, sondern auch weitreichende realpolitische Folgen für die kulturellen Epizentren beider Nachbarstaaten hatte. In den USA bildet die Frontier-These und die Vorstellung von einer »advancing frontier«, die Frederick Jackson Turner in seinem seminalen Aufsatz The significance of the Frontier in American History (1893) entwirft, einen Eckpfeiler des US-amerikanischen Nation-Building-Modells, nämlich die sukzessive Bezwingung und Annexion der wilderness (Frederick J. Turner 1948, 1-38, vgl. auch Rajchenberg/Héau-Lambert 2009, 16f und 25, sowie Foucher 1988, 127). Die Idee der frontier als Motor der US-amerikanischen Expansionslust korrespondiert mit dem Begriff des Horizonts, den Albrecht Koschorke als einer »mit dem Betrachter vorwandernden Grenze« beschreibt (Koschorke 1990, 8). Man muss allerdings das US-amerikanische Monopol auf die Frontier-These relativieren, wenn man bedenkt, dass während der spanischen Reconquista maurische Territorien nach ähnlichen Prinzipien einer Grenze als Front wiedererlangt und resemiotisiert wurden. Eine spanische Frontier-Mentalität, die auch bei der Kolonisierung der Neuen Welt handlungsleitend war, bleibt der Gegenwart in toponymischen Rudimenten wie Jerez de la Frontera erhalten. Die US Border Patrol wurde erst 1924 gegründet und daran anschließend eine Visumspflicht für Ausländer 1927 beschlossen, womit die systematische Einreisekontrolle und der Ausbau einer entsprechenden Infrastruktur erst lange nach der dekretierten Grenzziehung von 1848 einen entscheidenden institutionellen Impuls bekommen hatten (vgl. Foucher 1988, 380 sowie Burkard 1996, 337). Zur Militarisierung der Grenze als US-amerikanische Tradition und »uno de los mayores elementos de asimetría«, siehe auch Vanneph/Revel-Mouroz 1994, 12.

333

334

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

reagierten die USA auf »das einzige Beispiel einer lateinamerikanischen Militärintervention in den USA«23 mit der Mexikanischen Expedition, die General John Pershing ein Jahr lang zur vergeblichen Verfolgung Villas und der vorgeblichen Eindämmung des revolutionären Bandenwesens anführte und Villa unweigerlich zum Symbol des nationalen Widerstands werden ließ (Abb. 109).24

Abb. 109: Bereits einen Tag nach Villas Übergriff am 9. März 1916, wurde die wenige Tage später initiierte ›Mexican Punitive Expedition‹ in den amerikanischen Zeitungen vorweggenommen als überfällige Grenzüberschreitung Uncle Sams auf der Jagd nach Francisco Villa, der als barfüßiger Bandit das Klischee des rückständigen Mexikaners verkörpert (Quelle: ›National Archives Catalog‹, https://catalog.archive s.gov/id/6011165 (zuletzt aufgerufen am 16.05.2021)).

23 24

Katz zit. in Tobler 1984, 286. Zur kalkulierten Grenzüberschreitung von Pancho Villa schreibt ausführlich Katz 1998, 550-557. Auf die Selbstinszenierung Villas im Zeitalter der filmdokumentarischen Pionierarbeit, mit der seine Popularität, aber auch die Bedeutung der Grenzgebiete medial potenziert wurde, wird bei der Betrachtung der Nordgrenze in der mexikanischen Filmkultur einzugehen sein.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

Nicht so sehr von der nationalen Demütigung der massiven territorialen Enteignung, als von der wirtschaftlichen Disparität der Kulturräume befeuert, bleibt die Grenze bis ins 21. Jhd. eine fixe, aber geopolitisch instabile Grenze. Das Ungerechtigkeitsempfinden, das dabei im Hinblick auf den Norden im kulturellen mexikanischen Gedächtnis zirkuliert, bildet den Nährboden für einen defensiven Nationalismus seit der Festlegung der Grenze bis in die cardenistische Phase (1934-1940), in der die nationale Souveränität gegen die wirtschaftlichen Interventionen neuzeitlicher »filibusteros y colonos norteamericanos«25 verteidigt werden musste. Im Zuge der panamerikanischen Allianzbildung, die durch die ideologische Frontenverlagerung gegen die Achsenmächte im zweiten Weltkrieg katalysiert wurde, wurde aber gerade die Achtung der Nationalgrenzen zur Maxime der kontinentalen Verständigung. So erklärt sich auch, dass der mexikanischen Angst vor einer US-amerikanischen Intervention mit der Good Neighbor Policy (1937) unter Franklin D. Roosevelt symbolisch begegnet wurde. Aber auch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges markierte die Doctrine of Nonintervention, die Harry S. Truman 1947 bei einem präzedenzlosen Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten in Mexiko ausgerufen hatte, den Eckpfeiler eines offiziellen amerikanisch-mexikanischen Dialogs. Die Pflege der binationalen Beziehungen unter dem Schlagwort der ›Guten Nachbarschaft‹ war jedoch nicht nur überschattet von einer historischen Verlusterfahrung, sondern auch stets belastet durch die wirtschaftliche und kulturelle Einflussnahme der US-amerikanischen Hegemonie in einem als backyard verstandenen Hispanoamerika, mit Mexiko an vorderster Front: »En cuanto a nuestra relación con los Estados Unidos:«, behauptet Octavio Paz 1978 in seiner Auseinandersetzung mit der inneramerikanischen Zivilisationsscheide, »sigue siendo la vieja relación entre el fuerte y el débil, oscilante entre la indiferencia y el abuso, la mentira y el cinismo. La mayoría de los mexicanos tenemos la justificada convicción de que el trato que recibe nuestro país es injusto«26 . Ein Dorn im mexikanischen Auge waren selbstverständlich auch die negativ konnotierten kinematographischen Darstellungen der Mexikaner, die in der US-amerikanischen Filmindustrie kultiviert und weltweit in Umlauf gebracht wurden, allem voran im Genre des Western, wie im Folgenden noch anzusprechen sein wird. Es liegt allerdings auf der Hand, dass die scharfen sozioökonomischen Kontraste spätestens im 20. Jhd. Interventionsängste auf den Plan rufen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. In Anbetracht der wirtschaftlichen Asymmetrie der Nachbarländer galt die US-amerikanische Befürchtung jedoch weniger einem organisierten Militärschlag, als den unkontrollierbaren Grenzüberschreitungen und kleinen Raubzügen entlang der Grenze. Jenseits sporadischer Einfälle indigener Reitervölker oder der revolutionären outlaws, markieren in der nachrevolutionären Ära des 20. Jhd die mexikanischen Wirtschaftsmigranten, die die Grenze als indocumentados, ilegales, wetbacks/mojados oder clandestinos überqueren, eine neue Spielart des Invasionsphantasmas auf USamerikanischer Seite. Während aus mexikanischer Sicht die Rückkehr nach Aztlán, wie die im 19. Jhd. abgetretenen Gebiete häufig genannt werden27 , ein bedeutendes Legi-

25 26 27

Salas-Porras Soule 1989, 10. Paz 2016b, 493. Zum Aztlán-Mythos und der Idee eines »retorno to the promised land« vgl. Anzaldúa 1987, 10-13.

335

336

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

timationsnarrativ mexikanischer Emigranten darstellt, spiegelt die US-amerikanische Empfindung einer »silent invasion«28 die Fortführung der Frontier-Mentalität wider. Die Migration als archetypisches Motiv der Grenz-Mnemotopie bestand, über die Wanderbewegungen nomadischer Völker und der Handelsrouten kolonialer Warenwirtschaft hinaus, natürlich auch nach der Fixierung der diffusen Grenze fort. Ihre Hochphasen hat die mexikanische Einwanderung in die USA im Zuge des Unabhängigkeitskrieges, während des porfiristischen Ausbaus der Eisenbahnverbindungen ab 1880 sowie während in den Fluchtbewegungen während der Revolution. Neben der »strukturellen Komplementarität«29 der beiden Nationalökonomien, war es aber auch die gezielte Anwerbung mexikanischer Arbeiter, die im Programa Bracero nach dem Kriegseintritt der USA 1942 und bis 1964 die Versorgung der US-amerikanischen Volkswirtschaft mit billigen Arbeitskräften gewährleisten sollte.30 Die Bekämpfung der klandestinen Invasion, die 1954 in der Operation Wetback, einer massenhaften Abschiebung illegaler Mexikaner gipfelte, hatte stets den Gegenpart einer öffentlich eingeworbenen Zuwanderung, mit der der Arbeitskräftemangel in den USA kompensiert wurde.31 Die mexikanischen Grenzgebiete selbst sind einerseits zum Stauraum der in den Norden drängenden Braceros (Wanderarbeiter), der mexikanischen und allgemein lateinamerikanischen Arbeitsmigration, geworden. Als kulturelle Kehrseite war der mexikanische Grenzsaum andererseits auch zur Transitzone und zum Herkunftsgebiet illegaler Einwanderung aber auch illegaler Produktionsgüter mutiert – eine Entwicklung, die von der Periode der Prohibition (1920-1933) entscheidend beeinflusst wurde. The Noble Experiment, wie die rigorose Kampagne innenpolitischer Regulierungen euphemistisch genannt wurde, beförderte das mexikanische Jenseits – das topische South of the Border – zum privilegierten Territorium für die Schattenwirtschaft und trug entscheidend zur Herausbildung transnational organisierter Schmuggelringe bei. Eine Kontinuitätslinie lässt sich dabei bis in die 1970er Jahre verfolgen, als Präsident Richard Nixon den War on Drugs proklamierte, die die Beziehungen zu Mexiko im Licht der von außen herangetragenen Destabilisierungstendenzen und einer unkontrollierbaren Invasion weiterführte. Auch im späten 20. Jhd. belastet die wirtschaftliche Durchdringung Mexikos als eine weitere Spielart der Invasion die Beziehungen der Nachbarstaaten. Der amerikanische Kontrollverlust über die Grenzbewegungen wurde teilweise durch eine Auslagerung der Produktionsstätten auf mexikanisches Territorium aufgefangen, was wiederum die mexikanische Empfindung eines Souveränitätsverlustes nach sich zog. Die im Zuge der Sonderwirtschaftsbestimmungen hochgezogenen Industriegebiete prägen das dysphorische Landschaftsbild der Grenzregion bis heute. Der Bau zahlreicher industrieller Fertigungsanlagen (maquilas) resultiert in einer »maquilización de la frontera«32 und bestimmt das kulturgeographische Bewusstsein Mexikos im Hinblick auf die »identidad fronteriza«33 .

28 29 30 31 32 33

Vgl. Burkard 1996, 349. Foucher 1988, 378. Vgl. Maciel/García-Acevedo 1999, 69-73. Vgl. Noble 2010, 151. Salas-Porras Soule 1989, 16-24. Salas-Porras Soule 1989, 10.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

Retrospektiv betrachtet setzte die »definitiva humillación«, der Verlust der Nordterritorien im 19. Jhd. als Invasion mit nachhaltiger Geltung, bis heute gültige Impulse der nationalen Integration Mexikos. Für das nationale Memory-Building war der symbolische und realpolitische Antagonismus zu den USA als wirtschaftlich und militärisch überlegene Gegenwelt entscheidend. Wie die kinematographischen Behandlungen des Grenzthemas zeigen werden, schwebt das mexikanische Selbstverständnis von jeher zwischen einer Imitation US-amerikanischer Gesellschaftsparadigmen und einer Rückbesinnung auf eine positiv gewandte Prämoderne, wobei die zweite Identitätsvorlage von einer überregionalen lateinamerikanischen Anti-Yankee-Opposition34 gespeist wird. Im Hinblick auf ein räumlich gestütztes, kontinentales Langzeitgedächtnis markiert die kollektive Befürchtung von einer fremden Kultur infiziert zu werden, wie Carlos Monsiváis das bilaterale Verhältnis im 20. Jhd. beschreibt35 , eine dominante Funktion der Grenzregion als Mnemotopie. Ein Blick auf die Darstellungstradition des verhältnismäßig jungen Mnemotops, das jedoch die langen historische Schatten der internationalen Nachbarschaftsbeziehungen zu den USA an sich bindet, soll im nächsten Schritt helfen, die Nordgrenze als einen symbolisch objektivierten Erfahrungsraum verständlich zu machen, mit dem ein patriotisches Funktionsgedächtnis gestützt wird, in dem sich aber auch verdrängte Überlieferungsbestände des kollektiven Unbewussten eingelagert finden.

2.2.

Memory-Building im Spannungsverhältnis mit Extrakulturen

In Maurice Halbwachs Gegenüberstellung weitgefasster sozialer Rahmungen und familiärer Milieus bei der Herausbildung kollektiv aggregierter Erinnerungsbestände bildet die Nation eine der umfassendsten Einheiten und, angesichts einer Vielfalt von Gedächtnisdialekten, auch eine der problematischsten.36 Dennoch scheint es im Hinblick auf die räumliche Begrenztheit eines Gedächtniskollektivs nahe zu liegen, dass die Außengrenzen eine große Bedeutung für die Evolution eines Nationalkollektivs besitzen. Es erscheint daher lohnenswert, eine universale Symbolik der Grenze als kultursemiotischen Weltrand Mexikos mit der Prägung der Nachbarschaftsbeziehung zu den USA engzuführen und die Implikationen für das nationale Memory-Building zu erörtern. Wie die historische Heranführung zeigte und das kinematographische Echo noch zeigen soll, findet sich an der mexikanischen Nordgrenze ein kulturelles Gedächtnis eingebettet, das die »kontinuierliche Denkströmung«37 eines asymmetrischen Verhältnisses

34

35 36 37

Die plausible Spekulation Fouchers, dass die Herausbildung der lateinamerikanischen Kulturregion letztlich ein »effet frontière« sei und die Abgrenzung von einer angelsächsischen Kulturtradition ein dominantes makrostrukturelles Distinktionsmerkmal darstelle, kommt bei der Analyse zur manichäischen Identitätsstiftung zum Tragen, die in den Filmen zur Nordgrenze enthalten ist (vgl. Foucher 1988, 132f). Vgl. Monsiváis 1997, 100. Vgl. Halbwachs 1968, 66. Halbwachs 1968, 70.

337

338

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

zu den USA in ganz Mexiko stabil hält. In der kollektiven Imagination einer kulturellen Alterität jenseits der Grenze wurde immer auch ein mexikanisches Selbstbild ex negativo modelliert. Stellvertretend für eine kollektive mexikanische Beziehung zum Nachbarn im Norden soll hier ein Bekenntnis von Octavio Paz aus seinem Essay El espejo indiscreto angeführt werden, in dem die USA von jeher als mexikanischer Gegenpol imaginiert werden: Antes de ser una realidad, los Estados Unidos fueron para mí una imagen. No es extraño: desde niños los mexicanos vemos a ese país como al otro. Un otro que es inseparable de nosotros y que, al mismo tiempo, es radical y esencialmente el extraño. En el norte de México la expresión »el otro lado« designa a los Estados Unidos. El otro lado es geográfico: la frontera; cultural: otra civilización; lingüístico: otra lengua; histórico: otro tiempo (los Estados Unidos corren detrás del futuro mientras que nosotros todavía estamos atados a nuestro pasado); metafórico: son la imagen de todo lo que no somos. Son la extrañeza misma. Sólo que estamos condenados a vivir con esa extrañeza: el otro lado es el lado contiguo. Los Estados Unidos están siempre presentes entre nosotros, incluso cuando nos ignoran o nos dan la espalda: su sombra cubre todo el continente. Es la sombra de un gigante. La idea que tenemos de ese gigante es la misma que aparece en los cuentos y las leyendas. Un grandulón generoso y un poco simple, un ingenuo que ignora su fuerza y al que se puede engañar pero cuya cólera puede destruirnos.38 Indem Paz die USA zu einer Kontrastfolie stilisiert, die dem mexikanischen Wir-Gefühl seine Konturen verleiht, wird deutlich, wie das individuelle Gedächtnis des Autors sich aus einem kollektiven Erfahrungsschatz speist. Zentrales Differenzierungsprinzip in der von Paz formulierten Dichotomie, die auch in der filmischen Grenzthematisierung immer wieder aufscheint, ist die Scheidung der Kollektive in die zukunftsorientierte und implizit ahistorische USA und ein vergangenheitsfixiertes mexikanisches Gedächtniskollektiv. Paz’ Einteilung der beiden Kulturregionen nach ihrem Verhältnis zur Zeitlichkeit korrespondiert mit Aleida Assmanns Begriff der »Zeitregime«, einer latenten Kulturdimension, die als »Komplex kultureller Vorannahmen […] menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deuten steuert, ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbst bewusst reflektiert werden«39 . Dass durch diese Individuationsgleichung ein mexikanischer Fortschritt tendenziell im Verdacht der Amerikanisierung steht, ist eine Schlussfolgerung, die in der kulturellen Demarkation, ja Polarisierung der Época de Oro eindeutig Resonanz findet. Die Betrachtung der Grenzregion als eines latenten räumlichen Gedächtnisankers findet auch ein theoretisches Echo in Lotmans Untersuchung zu kulturellen Semiosphären und ihren Begrenzungen.40 Wenn Halbwachs sich vor der großen Rahmensetzung eines nationalen Gedächtniskollektivs scheut, so weitet Lotman den Begriff der Semio-

38 39 40

Paz 1992, 413. A. Assmann 2013, 19. Eine Anwendung der kultursemiotischen Ansätze Lotmans auf die mexikanisch-US-amerikanische Grenze liegt bereits vor bei Berumen 2005, 13-30 sowie bei Maza 2014, 63-66 und 208-218.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

sphäre bewusst auf nationale Dimensionen aus. Zunächst erkennt er in der Grenze eine Linie, an der »periodische Formen«41 einer Nationalkultur enden: Der Raum innerhalb dieser Grenze wird als »unser eigener« als »vertraut«, »kultiviert, »sicher«, »harmonisch organisiert« usw. erklärt. Ihm steht der Raum »der anderen« gegenüber, der als »fremd«, »feindlich«, »gefährlich« und »chaotisch« gilt.42 Lotmans Auslegung der Grenze als konventionelle Zäsur zwischen den Kategorien des Eigenen und des Fremden ist in dieser anfänglichen Reduktion durchaus kompatibel mit dem komplementären Wechselspiel, das Octavio Paz zur mexikanischen Identitätsformel erhoben hatte. Ausgehend von Paz’ problematischer Opposition der Zeitregime ist der Sprung von einer Nationalgrenze zur zivilisatorischen Frontlinie kein großer und bestätigt den historischen Graben zwischen Anglo- und Hispanoamerika. Die mexikanische Vorstellung von einer mobilen Grenze als kulturelle Membran zwischen zwei Semiosphären findet sich bereits bei Alfonso Reyes in der Wendung »la piel a la que corresponde el cambio armonioso entre lo propio y lo ajeno«.43 Die Einladung der Grenze zum Dichotomisieren wird in den kultursemiotischen Überlegungen Jurij Lotmans im Hinblick auf die Prozesse der Fremdwahrnehmung und einer ethnozentrischen Qualität des kulturellen Gedächtnisses wieder. Auch Lotman erkennt die Grenze als Linie, die die cadres spatiaux der nationalen Gedächtniskollektive voneinander scheidet: Jede Grenze oder Membran (von der lebendigen Zellwand über die Biosphäre […] bis hin zur Grenze der Semiosphäre) hat die Funktion, das Eindringen zu erschweren und das, was von außen kommt, zu filtern und in etwas Inneres umzuformen. Diese invariante Funktion realisiert sich auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Weise. Auf der Ebene der Semiosphäre steht für die Trennung von Eigenem und Fremdem, für das Filtern äußerer Einflüsse, die als fremdsprachige Texte eingestuft werden, und für die Übersetzung dieser Texte in die eigene Sprache. So wird der Außenraum strukturiert. In Fällen, in denen die Semiosphäre auch real-territoriale Züge hat, bekommt die Grenze eine wörtlich zu verstehende räumliche Bedeutung.44 Lotmans Betonung der territorialen Trennschärfe erfährt eine sehr triftige Relativierung, da er der Herausbildung hierarchisch unterlegener Randzonen Rechnung trägt und ihnen das hohe Prestige einräumt, das sie in kulturelle Epizentren genießen. Kulturelle Grenzgebiete stellen nämlich potenzielle Laboratorien45 künftiger Sprachen dar, die aus marginaler geographischer Lage Einfluss auf das Zentrum nehmen und die Lotman daher als »Brennpunkte der semiotisierenden […] Prozesse«46 erkennt. Hierin liegt auch ein Erklärungsansatz für die Eigenschaft der Peripherie als »>heiße< Zone«47 , wie Albrecht Koschorke Lotmans Ideen zusammenfasst, einem Konzept, das sich mit Karl 41 42 43 44 45 46 47

Lotman 2017, 174. Ebd. Zit. in Ceballos Ramírez 2003, 82. Lotman 2017, 187. Vgl. Berumen 2005, 19-24. Lotman 2017, 182. Den Hinweis auf das Verständnis der Grenze als »heiße Peripherie« im kulturgeographischen Sinne verdanke ich Christian Wehr. Koschorke 2012, 30.

339

340

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Schlögels besprochener Vorstellung von »heißen Zonen« als räumliche Kristallisationen der historischen Dynamik überschneidet, wie im Hinblick auf die Hacienda als Schauplatz historischer Transitionen von der Topogenese bis zur Topoklastik untersucht wurde. Die Grenze als kulturelle Verwerfungslinie, als Ort der kommunikativen Brechung48 und als »Ort der Übersetzung«49 ist damit eine räumliche Kategorie, deren besondere Lage im Widerspiel mit den »Zentren einer (tendenziell hegemonialen) Hochsemantik«50 zur Herausbildung von Orten mit der historischen Funktion einer Frontlinie zu einer differenten Kultur, mitunter zu einer barbarischen Fremdheit beiträgt: Da die Grenze ein notwendiger Teil der Semiosphäre ist und kein »wir« ohne »die anderen« auskommt, schaffen Kulturen nicht nur ihre jeweils eigene Form von innerer Organisation, sondern auch ihren je eigenen Typ äußerer »Desorganisation«. In diesem Sinn können wir sagen, dass der »Barbar« ein Produkt der Zivilisation ist und er diese ebenso braucht wie sie ihn.51 Untersucht man die Bedeutung der nördlichen Peripherie für die mexikanische Selbstverständigung, stößt man bald auf die ambivalente Bewandtnis der Grenzen als kulturelle Frontlinien, aber auch als »breite Grenzsäume«52 , die durch eine semiotische Unschärfe charakterisiert sind. Die Nordgrenze markiert in der mexikanischen Kulturgrammatik einerseits die scharfen Kanten von nationalen Gedächtniskollektiven – »les témoins ou les mémoires d’une sorte de télescopage de temps différents«53 . Andererseits handelt es sich beim Grenzterritorium auch um einen Übergangsraum, den Octavio Paz in einem weiteren Essay zu den binationalen Beziehungen als einer »zona fluida« entlang der gleichermaßen imaginierten wie realhistorisch fundierten Zivilisationsscheide beschreibt: Las diferencias entre México y Estados Unidos no son, claro está, proyecciones imaginarias sino realidades objetivas. Unas son de carácter cuantitativo y pueden explicarse por el desarrollo social, económico e histórico de los dos países. Otras, las más permanentes, aunque también son el resultado de la historia, no son fácilmente definibles ni mensurables. Ya señalé que pertenecen al orden de las civilizaciones, esa zona fluida, de contornos indecisos, en las que se funden y confunden las ideas y las creencias, las instituciones y las técnicas, los estilos y la moral, las modas y las iglesias, la organización material y esa realidad evasiva que llamamos no muy exactamente »el genio de los pueblos«. La realidad que nombra la palabra civilización no se deja definir con 48 49 50 51 52 53

Vgl. Koschorke 2012, 32. Im Nachwort zu Lotman 2017, 397. Koschorke 2012, 32. Lotman 2017, 189. Piltz 2009, 87. Foucher 1986, 21. Im geopolitischen Verständnis des Autors markiert die Horogenese häufig ein räumlich imaginiertes Schisma der Zeitwahrnehmungen: »on se trouve, à des degrés variables, en présence d’une combinaison de temps sociaux distincts.« (ebd., Herv. im Original). Die Heterogenität wird hierbei, so ließe sich der Gedanke weitertreiben, von den Akzenten der historisch perspektivierten Automodellierung fundiert, die in zentralisierten Diskursen der nationalen Zugehörigkeit ihre Prägung erhalten und als Modelle der nationalen imagined communities in die Territorien der nationalen Peripherie diffundieren.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

facilidad. Es la visión del mundo de cada sociedad pero asimismo es su sentimiento del tiempo: hay pueblos lanzados hacia el futuro y otros que tienen los ojos fijos en el pasado.54 Unbeschadet der Problematik eines mentalitätsgeschichtlichen backshadowing55 , mit dem Octavio Paz eine schier unüberbrückbare kulturelle Alterität konstruiert, ist die mexikanische Grenze eine kulturelle Barriere von langer Dauer, die »diferencias sociales, económicas y psíquicas muy profundas«56 markiert. Blickt man nun auf die ortssemantische Evolution der Grenzgebiete, so dominierten auch nach der mexikanischen Unabhängigkeit tatsächlich auf beiden Seiten der Grenze Vorstellungen vom nationalen Jenseits als einer barbarischen Gegenwelt. Bereits in Folge der ersten französischen Intervention (1838-1839), wurde ein mexikanischer Nationalismus durch eine kollektiv empfundene, feindselige Alterität katalysiert und ein mexikanischer Schulterschluss zwischen Generationen und Klassen motiviert.57 Eine binäre Logik war auch in Bezug auf ein angloamerikanisches Pendant im Norden konstitutiv und bildete nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht eine Frontlinie zwischen der eigenen Norm und einer fremden Devianz. Allerdings gilt es an dieser Stelle auf die Besonderheit hinzuweisen, dass die Grenze aus mexikanischer Perspektive lediglich den Extrempunkt der nationalen Umrisse darstellte und die Alteritätserfahrung seit der Kolonialzeit aus dem Zentrum des Landes auf die nationalen Nordregionen projiziert wurde. Ein für zentralisierte Nationalkollektive klassisches Gegenspiel von Zentrum und Peripherie kann man in dem beredten Zeugnis von José Vasconcelos erkennen, das er bei der Beschreibung von Lampazos de Naranjo ablegt, einer unweit von Texas gelegenen Grenzsiedlung in Nuevo León: Quien haya recorrido la sierra de Puebla, la meseta de Oaxaca, ya no digo el Bajío y Jalisco comprenderá en seguida la impresión del mexicano del interior cuando avanza hacia el norte. Todo es barbarie mientras se llega a Nueva York, donde ya cuajó una cultura distinta de la nuestra, pero al fin cultura. El sur yanqui con su tradición francesa fracasada en Luisiana, y su aristocracia culturalmente contagiada del negro, es en todo inferior a lo que ha existido en Anáhuac, como centro, y Guatemala y Durango, acaso Saltillo como extremos. Entre estas dos civilizaciones, la española mexicana que tiene por foco la capital mexicana; y la anglosajona que tiene por núcleo a Nueva York y a Boston, hay una extensa no men’s land del espíritu un desierto de las almas. Una barba-

54 55

56 57

Paz 2016b, 477. Das Konzept des backshadowing ist eine auf die Sphäre der Narratologie übersetzte Problematisierung des Whiggismus. Im Anschluss an Herbert Butterfields geschichtsphilosophische Bedenken zur Ex-post-Beurteilung der Vergangenheit, diskutiert Morson die Tücken einer monodimensional auf die Gegenwart ausgerichtete Vergangenheitsdeutung in der Literatur: »Backshadowing may be defined as foreshadowing after the fact. The past is viewed as having contained signs pointing to what happened later, to events known to the backshadowing observer. Visible now, those signs could have been seen then. In effect, the present, as the future of the past, was already immanent in the past.« (Morson 1994, 234). Paz 2016b, 476. Vgl. Fein 2001, 182.

341

342

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

rie con máquinas y rascacielos en la región sajona; barbarie con imitación de máquinas y rascacielos en la región mexicana, de Monterrey al norte.58 Die Betrachtung der Peripherie als Niemandsland zwischen den geistigen Zentren der komplementären amerikanischen Nationen enthält das historische Echo der radialen Erschließung neuer Territorien im Zuge der kolonialen Besiedelung, die sowohl dem amerikanischen als auch dem mexikanischen Nation-Building-Modell zu Grunde liegt.59 Jegliche Nachahmungstendenz US-amerikanischer Zivilisationsparadigmen in die Schranken weisend, schwingt in der zentralistischen Vorstellung der dynamischen Grenzen bei Vasconcelos, der bereits mehrfach als caudillo cultural des mexikanischen Nationalbewusstseins eingeführt wurde, eine unverhohlene kulturgeographische Hierarchisierung des Nationalterritoriums mit. Die fließende topologische Bedeutungsabwertung zur Grenze hin mündet dabei aus zentralistischer Perspektive konsequenterweise in einer pauschalen Herabminderung der Grenzgebiete. In diesem Zusammenhang findet man in Renate Lachmanns Besprechung der Kultursemiotik nach Lotman die Mechanismen erklärt, die das Verhältnis einer Kultur zu ihrer »Extrakultur«60 modellieren. Auch hier ist die Polarisierungstendenz bei der Konstruktion epiphänomenaler aber auch tiefenstruktureller axiologischer Differenzen bedeutend für die Automodellierung. Im Hinblick auf endemische Wahrnehmungsparadigmen lässt sich mit Lotman sagen, dass »[b]estimmte Elemente […] generell außen [liegen]. Wenn die innere Welt den Kosmos reproduziert, dann liegt jenseits ihrer Grenze das Chaos, die Antiwelt, ein von Ungeheuern, infernalischen Kräften und mit ihnen verbündeten Menschen bevölkerter, unstrukturierter Raum«61 . Von mexikanischer Seite sind die USA als bedeutendste Extrakultur häufig auch als Antikultur imaginiert und beschrieben worden. »Al Sur de México, decían«, so ein Befund zum kollektiven mexikanischen Imaginären in Vasconcelos’ Autobiographie, »está Guatemala, nación que en cierto momento estuvo unida a la nuestra y al Norte habitan unos hombres rudos y pelirrojos que suben los pies a la mesa cuando se sientan a conversar y profesan todos la herejía protestante.«62 Dass die kulturelle Alterität jedoch nicht erst in den USA, sondern bereits in der eigenen Peripherie empfunden wird, bestätigt den semiotischen Sonderstatus der nationalen Grenzregion aus mexikanischer Perspektive, die als Kontaktzone mit einer Gegenwelt bereits sehr früh als Kehrseite der Nation imaginiert wird: El septentrión visto por los anglos contrasta notablemente con lo que se dice de él desde el México central. La estigmatización de ese territorio da continuidad a toda la cauda mitológica tejida desde los años coloniales. Es, desde esa perspectiva, »el revés de la nación« (Serje, 2005), una nación confinada al México central.63 58 59

60 61 62 63

Zit. in Ceballos Ramírez 1999, 39. Zur performativen Exploration unerschlossener Territorien durch kreolische Pioniere als Kontinuierung der imperialen Expansionspraxis, sind hier einmal mehr die Gedankengänge von Benedict Anderson leitend gewesen (Anderson 1991, hier 47-65). Vgl. Lachmann 2012, 115. Lotman 2017, 188. Vasconcelos 2000, 46f. Rajchenberg/Héau-Lambert 2009, 31.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

Während die Raumkategorie der wilderness im amerikanischen Expansionsparadigma also im Jenseits der nationalen Grenzen imaginiert wurde, war die mexikanische Peripherie seit der spanischen Kolonisierung bis zum Verlust der Nordgebiete als terra incognita, beziehungsweise als Wüste, ein internalisierter Bestandteil des Staatsterritoriums.64 . Mit Enrique Rajchenberg und Catherine Héau-Lambert kann man hierbei die These aufstellen, dass der mexikanische Norden von jeher ein Gebiet darstellte, das mit dem Stigma der Barbarei behaftet war. Das mexikanische Andere stützt sich daher nicht nur auf die Differenz zu den rüden, rothaarigen Ketzern von Vasconcelos, sondern auch auf einen den klimatischen Bedingungen geschuldeten Nomadismus in den »liminal spaces of national society«65 im Kontrast zu den radial expandierenden Zivilisationsmodellen der Sesshaftigkeit: Actualmente uno tiende a pensar que el territorio nacional coincide con la representación de la patria; sin embargo, no siempre ocurrió así […] el septentrión mexicano no fue incorporado a las representaciones territoriales a lo largo de los años formativos e incluso posteriormente. Al contrario, fue nombrado como desierto, simbolizado con un cactus y cargado con leyendas acerca de la ferocidad irrefrenable de su población indígena. La fuerza de estas representaciones dejó sus huellas en el imaginario colectivo con tinta indeleble.66 Die Mnemotopie der nördlichen Grenzgebiete steht daher in einer Tradition der terrains vagues, denen eine affektive Bindung des im mexikanischen Kernland gepflegten Patriotismus selten zuteilwurde, womit auch erklärbar wird, dass die Erfahrungsschwelle von 1848 ein viel weiter zurückreichendes Gedächtnis an den barbarischen Norden mitträgt. Während das Mexiko Tal (Valle del Anáhuac) die nationale Ursprungslegende beherbergt und der gesamten Nation als »cerebro y corazón de la patria«67 und »epítome de la nacionalidad«68 auch seinen Namen gibt, ist die soziohistorische Konstruktion der nördlichen Grenzterritorien aus der Perspektive der »región focal«69 zumeist in Form dysphorischer Landstriche gegeben, deren geographische Zugehörigkeit zum Staatsterritorium nicht mit einer affektiven Einverleibung wie im Falle der Ruinen oder Ranchos einhergeht. Das räumliche Stigma, das in den Umschreibungen der Grenzlandschaften wie desierto oder malpaís enthalten ist, bildet folglich das mexikanische Äquivalent zum ariden Landschaftstyp des Ödlands, der in den USA den beredten Namen der badlands im klimatischen wie im soziokulturellen Sinne trägt: La memoria histórica favorece a un grupo social sobre otros hasta incluso promover su exclusión de la historia, gracias al olvido al que los condena. Así, los aztecas borraron la memoria otomí del valle de México cuando fundaron Tenochtitlan. Los criollos, a su vez, retoman la historia azteca para transformar esta historia regional en una historia

64 65 66 67 68 69

Ebd., 15. Bhabha 1994, 162. Rajchenberg/Héau-Lambert 2007, 39. A. a. O., 48. A. a. O., 42. Ebd., 42.

343

344

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

nacional, borrando de un plumazo las otras memorias. El norte fue la principal víctima de este mecanismo de erradicación de sus diversas memorias como castigo por su larga resistencia a la conquista y para evitar, preventivamente, todo anhelo de reestructuración de una identidad chichimeca. El castigo fue no sólo su destrucción física sino también su aniquilación simbólica, negándole toda identidad propia, salvo bajo el término genérico despreciativo y altamente negativo de salvajes o bárbaros. De hecho, el septentrión se halla ausente de la historia nacional salvo como refugio, traición y asesinato de los próceres de la independencia.70 Die Front zur Kehrseite fällt in Mexiko, analog zu der territorialen Resistenz gegenüber der spanischen Kolonisierung, auch nach der Grenzverschiebung im 19. Jhd nicht mit der Grenzlinie zusammen, sondern beginnt bereits weit im Landesinneren und bildet eine diffuse Grenze oder Schwelle zur »Sub-Semiosphäre«71 der nördlichen Peripherie. Als Mnemotop bildet die Nordgrenze somit ein historisch verwurzeltes Projektionsfeld des otherings für die zentralmexikanischen germinal areas, in welchen die Diskurse und Symbole der nationalen Zugehörigkeit entstehen. Eine longue durée der topo- bzw. horogenetischen Semantisierung des Raums, lässt sich in einer doppelten Marginalisierung des mexikanischen Grenzsaums beobachten, der auch nach der Schließung der offenen Grenze72 im 20. Jhd. eine Projektionsfläche für das Verfemte und Ausgeschlossene bleibt.73 Die »zona fluida« wird in der mexikanischen mémoire-nation als eine Art kultureller »Limbus«74 repräsentiert und aktualisiert. Die Funktion eines Schattenterritoriums ist daher als eine historisch konfigurierte apperzeptive Ergänzung zu sehen, mit der die schwierige Integration der Grenzräume als allegorische Stiefkinder der mexikanischen patria kontinuiert wird: si bien no hay duda de que la región focal mexicana tiene por sede el altiplano central, demuestra poca capacidad para integrar el espacio físico norteño en la producción de un imaginario nacional y directamente excluye a los habitantes indios septentrionales, e incluso a los criollos y mestizos, si no es que […] concibe su exterminio.75 Die mexikanische »faja fronteriza«76 tritt damit ein topologisches Erbe der ausgegrenzten Orte der Barbarei an, so dass die borderlands, wie seinerzeit der Apache-Korridor als

70 71

72 73

74 75 76

A. a. O., 47. Lotman 2017, 184. Die Paradoxie der asymmetrischen Beschaffenheit der Semiosphäre und ihrer gleichzeitigen Homogenität veranlasst mit Lotman zu behaupten, dass bestimmte periodische Formen des nationalen Raums bereits früher enden. Vgl. Koselleck 2014b, 228. Der Vorstellung einer Konzentration des Abjekten in geopolitischen Randzonen, liegt die Definition Judith Butlers zu Grunde, die das Abjekte mit dem psychoanalytischen Begriff der Verwerfung engführt und das Moment der Isolation als Schutzfunktion vor der Selbstauflösung im psychologischen wie geographischen Sinne hervorhebt: »The abject designates here precisely those »unlivable« and »uninhabitable« zones of social life which are nevertheless densely populated by those who do not enjoy the status of the subject, but whose living under the sign of the »unlivable« is required to circumscribe the domain of the subject (Butler 2011, xiii). Martínez Zalce (2016). Rajchenberg/Héau-Lambert 2007, 49. Salas-Porras Soule 1989, 10.

2. Kulturelle Horizontbildung an Schwellenorten

Raum einer fremden räumlichen Souveränität und binational empfundener Extrakultur, isolierte Pufferzonen der semiotischen Überblendung bilden.77 Zusammenfassend war die Rolle marginaler Territorien für die Konfiguration der mexikanischen Selbstmodellierung daher die eines Projektionsraums für das kollektive Abjekte und die Herabminderung des Norte eine Folge der topologischen Schattenprojektion aus zentralistischer Perspektive. Wenn der äußerste Rand der Semiosphäre in Lotmans Verständnis »ein Ort des permanenten Dialogs«78 ist, war die Vorstellung von einer barbarischen Peripherie prägend für die Distanznahme beider Nationalkulturen. Symbolisch aufgeladen wurde die Identitätsschwelle dabei auch durch die USamerikanische Wahrnehmung Mexikos als »dangerously immature«79 . Wie der Historiker Mark Anderson hervorhebt, wurde der Mexikaner in den USA zumeist imaginiert als a conflation of the Hispanic and the Indian, but it also evolved as more than that. From the early days of the United States, Mexicans have been portrayed as a separate category combining the worst elements of the Hispanic and the Indian. […] Because English colonists carried anti-Spanish attitudes to the »New World« like so much cultural baggage, a similar sentiment took root and flourished as the colonies, and later the United States, shared a frontier with Spain and then Mexico. In the nineteenth century, as Mexico gained its independence from Spain and as the United States began its geographical expansion toward the Pacific Ocean, many Americans readily applied anti-Spanish sentiment to Mexico because of its partly Spanish heritage.80 Während sich Idealbilder der US-Identität in symbolischer Abschottung zum mexikanischen Außenbereich formieren, bildet die Grenze im kulturellen Gedächtnis Mexikos eine Region, die einerseits die Semiosphäre der Nation räumlich limitiert, andererseits auch, vor allem in der dominanten räumlichen Imagination der postnationalen Ära, eine Schwelle, an der es zur Überlappung mit dem gegenüberliegenden Kulturraum kommt, wo neue Elemente importiert und übersetzt werden. Das Phänomen des Grenzterritoriums als einer kontaminierten Semiosphäre81 ist hierbei als eine Folge der zentralstaatlichen Vernachlässigung sowie der Nähe zu den Vereinigten Staaten zu verstehen, wobei die Amerikanisierung des Nordens als »Umschmelzung«82 kultureller Kodes und Ausdruck transnationaler Selbstmodellierungen in Grenznähe in ähnlicher

77 78 79 80 81

82

Vgl. Foucher 1986, 372. Lotman 2017, 190. M. Anderson 2000, 117. Ebd., 118. Die Vorstellung von einer »polluted semiosphere« ist eine Weiterführung der Lotmanschen Ideen, die Jonathan H. Bolton vornimmt: »The idea of a polluted semiosphere preserves the idea of the circulation of information among competing codes but alludes as well to the limitations on the free flow of information that are, after all, implicit in Lotman’s »center-periphery« model.« (Bolton 2006, 341). Gleichwohl könnte man mit Aby Warburg, der den Begriff der Kontamination in ähnlicher Weise als Überlappung von Sinnfolien geführt hatte, erwidern, dass jede Kultur per se synkretistisch sei (vgl. Warburg 2010, 503). Vgl. Koschorke 2012, 31: »an der Peripherie geht es ja nicht um bloße Varianz innerhalb von feststehenden Codes, sondern um die Umschmelzung und Transformation des Codesystems selbst.«

345

346

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Weise seine Gültigkeit besitzt wie die Hispanisierung des US-amerikanischen Südens. Wie anhand der Filmbeispiele sichtbar wird, artikuliert das Gedächtnis zur Grenze eine Reihe von Sujets, die sich an der kulturellen Alterität der USA stoßen. Die Fremdheit, die maßgeblich von einem idealtypischen Verständnis der mexicanidad motiviert ist, wird im Cine de Oro als Schaltzentrale der mecánica nacional geprägt und gepflegt. Wenn in den Filmen als Spiegel eines kollektiven Imaginären dabei bis in das XXI. Jhd. eine Frivolisierung und moralische Diskreditierung der Peripherie manifest wird, so ist es die Fortführung einer Ortstradition83 , mit der die »unausrottbaren Klischees […] über die fronterizos«84 fortwährend und auf beiden Seiten der Grenze aktualisiert werden, wie die nachfolgenden Filmanalysen veranschaulichen sollen.

83

84

Vgl. Ceballos 2003, 78. Eine Monographie zur jüngsten Praxis der territorialen Diskreditierung und institutionellen Ächtung der Grenzgebiete sowie deren literarischer Verarbeitung legt Cota Torres (2007) vor. Burkard 1996, 340. Indem der Autor die Kriminalität, die atomaren Endlager, die maquiladoras und Giftmülldeponien aufzählt, wird letztlich auch erklärt, dass die Klischees, die sich um den nördlichen Grenzsaum ranken, in erster Linie durch zentralpolitische Verfügungen gesteuert werden, die eine Marginalisierung und Lebensfeindlichkeit der Grenzregion zusätzlich verschärfen.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Die Ortssemantik der Grenze und der anliegenden Gebiete wurde, die politischen Diskurse der Zeit sekundierend, allmählich auch von der Kinematographie aufgegriffen. Bei der Herausbildung einer kulturell besetzten Ortslogik der mexikanischen Grenzterritorien war die negative Darstellung der Grenzgebiete als »Landscapes of Fear« (YiFu Tuan) zwar dominant, doch es lassen sich auch Ausnahmen finden. Die Tatsache, dass im mexikanischen Film auch Filme produziert wurden, die eine positive Bewertung der Grenze vornehmen, liegt in der ambigen Beurteilung der kulturellen angelsächsischen Antipode sowie den schwankenden kulturpolitischen Vorgaben begründet, die ein Echo in der kinematographischen Thematisierung des Nordens fanden. Vor allem die vorübergehende panamerikanische Allianzbildung während des zweiten Krieges hatte auf beiden Seiten auch positive Evokationen der Nachbarschaftsbeziehungen zu Tage gefördert. Ein wichtiger filmhistorischer Vorläufer der kinematographischen Zusammenarbeit entlang der Grenze lässt sich bereits während der mexikanischen Revolution ausmachen und geht zurück auf die US-amerikanischen Filmreportagen, die eine Solidarität mit den vor dem Bürgerkrieg fliehenden Mexikanern jedweder ideologischer Couleur inszenierten. Vordergründig dienten die dokumentarischen Vorstöße zur mexikanischen Grenze jedoch einer Rückversicherung gegen eine Ausweitung der revolutionären Kampfzone auf US-amerikanischen Boden: La curiosidad cinematográfica de los norteamericanos por la Revolución se manifestó por primera vez cuando dos camarógrafos captaron escenas de la toma de Ciudad Juárez por las fuerzas maderistas en 1911. Una de las películas, Los peligros de Díaz, nada tenía que ver con el título al mostrar los movimientos de las tropas norteamericanas sobre la frontera mexicana en las zonas conflictivas para impedir la entrada de regimientos de cualquier bando.1 Wie Aurelio de los Reyes weiter ausführt, waren die Eignung des Filmmediums für dokumentarische Zwecke sowie der Mehrwert, den Pancho Villa in der filmischen Selbst-

1

de los Reyes 1996, 141.

348

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

inszenierung erkannt hatte, weitere bedeutende Impulse bei der Darstellung innermexikanischer Kriegsmanöver entlang der Grenze.2 Ein filmhistorisches Kuriosum, das der Nachwelt nicht erhalten geblieben ist, stellt in diesem Zusammenhang das Projekt The Life of General Villa (1914) dar, das der einflussreiche Pionier der Filmgeschichte David W. Griffith mit Raoul Walsh in der Rolle des jungen Pancho Villa und dem Centauro del Norte höchstpersönlich als sich selbst spielende Figur in die Wege geleitet hatte – eine in dieser Form präzedenzlose Fusion von Geschichte und ihrer filmischen Inszenierung.3 Eine Reminiszenz an die frühen US-amerikanischen Dokumentarfilme »donde se veía cómo se daba pan y abrigo a los heridos de cualquier facción«4 und ein Echo der topologischen Wahrnehmung der Grenze als rettendes Ufer, ist auf mexikanischer Seite sicherlich der 1937 unter der Regie von Alejandro Galindo entstandene Spielfilm Almas rebeldes. In der fiktiven kinematographischen Verarbeitung revolutionärer Krisen wird die schwierige Flucht einer Rebellentruppe in die USA nachgezeichnet, der die Federales auf den Fersen sind. Die Odyssee der revolutionären Outlaws ist allein auf das Ziel ausgerichtet, in das sichere Jenseits der Grenze vorzudringen, um der mexikanischen Militärjustiz zu entkommen. Der Film und die Verfolgungsjagd enden just an der Grenze. Nachdem die letzten drei Überlebenden den mit einem Grenzstein markierten mexikanischen ›Weltrand‹ überquert haben, ist die Gefahr schlagartig gebannt. Die berittene Grenzpatrouille auf US-amerikanischer greift nicht in das Geschehen ein und beobachtet ratlos, wie sich die mexikanische Verfolgungsjagd in der Wüste entwickelt. Der rechtschaffene Hauptmann und die renitente Soldadera sind mit dem Grenzübertritt erlöst und können sich nun endlich ihre Liebe gestehen. Die Flucht ist zwar geglückt, doch die Verluste sind groß: fünf von sieben Deserteuren werden abgefangen oder sterben in internen Konflikten. Für den sechsten von ihnen wird der Übertritt in die USA zu einer tragischen Transgression ins Jenseits, denn nur wenige Meter vor der Grenze wird er von einer Kugel der Federales tödlich verwundet und kann das ersehnte Ziel nur im Sterben erreichen (Abb. 110). Die Verheißungen der Grenzüberquerung werden in Almas rebeldes zum verhängnisvollen Wagnis, womit ein zentrales Motiv der kinematographischen Mnemotopie der Grenze benannt ist, das auch die meisten Assimilationsdramen mexikanischer Braceros prägt. Die Reise ins Jenseits der Grenze, so die Botschaft, ist nur Renegaten wie Francisco Villa vorbehalten, die in der postrevolutionären Zeit domestiziert werden mussten und als Fahnenflüchtige harsche Sanktionen erdulden mussten. Dass die Rebellen im Film das nationale Jenseits eben auch aufsuchen,

2

3

4

Die Erstürmung von Ojinaga, einer Grenzstadt von Chihuahua, ist ein frühes Beispiel für den Versuch der dokumentarischen Erfassung einer Kampfhandlung, bei der die Anforderungen des Filmmediums sogar prioritär in die strategischen Überlegungen im Vorfeld der Kampfhandlung eingeflossen waren. Ein ursprünglich geplanter Überraschungsangriff bei Nacht war nämlich aufgrund ungünstiger Lichtverhältnisse undenkbar (de los Reyes 1996, 146). Vgl. de los Reyes 1996, 151. Eine historiographische Analyse dieser kuriosen Verflechtung von Historie und Film, die Pancho Villa auch mit der Aussicht auf ein sattes Honorar zugestanden hatte bevor er im April 1916 mit der Invasion von Columbus die Sympathien al otro lado verspielen sollte, findet sich auch im Kapitel »Villa and Hollywood« in Katz 1998, 324ff, sowie in novelesker Verarbeitung bei Fuentes 2008, 218f. de los Reyes 1996, 146.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

um Waffen zu beziehen, wie am Anfang angedeutet wird, umspielt in diesem Zusammenhang eine zeitlose Bedrohung von außen, die als US-amerikanische Invasion, als Revolution oder Conquista in eine vermeintliche mexikanische Stabilität einbricht und Chaos stiftet.

Abb. 110: Das zweigeteilte ›terrain vague‹ entspricht in ›Almas rebeldes‹ einer geographisch schwach markierten »protofrontera« (Ceballos 1999, 17), die aber den kulturellen mexikanischen Horizont bereits als Begrenzung des administrativen Einflussbereiches absteckt und für politische Überläufer einen unsichtbaren Schutzwall darstellt. Abb. 111: In der Kommunikation des Rebellen mit seinem Verfolger über die Grenze hinaus, wird die territoriale Integrität demonstriert und der letzte Wille eines politisch Verfolgten, auf mexikanischem Grund begraben zu werden, erfüllt.

Obwohl Galindo für seinen frühen Periodenfilm die turbulenten Jahre der Revolution wählt, fungiert die Grenze dennoch als ein politischer Limes, der den politischen Ausnahmezustand auf das mexikanische Territorium beschränkt. Die Nordgrenze, eine seit 1848 unverrückbare territoriale Markierung, bedient damit die Logik einer kalten, historisch legitimen und Ordnung stiftenden Mnemotopie, die den Aufruhr räumlich limitiert und wie ein magisches Bannzeichen davon abhält, auf das Nachbarland überzugreifen. Im Sinne einer stabilen Raumordnung ist daher auch die Wahrung des Ehrenkodex, der im innermexikanischen Dialog befolgt wird. In einer letzten Konfrontation wird nämlich die nationale Zugehörigkeit der Rebellen untermauert, als der mexikanische Leutnant sich bereit erklärt, einen toten Rebellen wieder aufzunehmen und auf mexikanischem Grund zu begraben, ihn damit also symbolisch zu repatriieren: »Amigo o enemigo, no se le puede negar su último deseo. Después de todo, esta es su tierra« (1:10:21) (Abb. 111). Das Moment der territorialen Verbundenheit, das die absolut gesetzte Nichtzugehörigkeit zur gegenüberliegenden Semiosphäre zementiert, ist dabei zentral für die Funktion der Nordgrenze als Imaginationsraum der Identitätskonkretisierung und Katalysator patriotischer Stimmungen.5 Die Vorstellung des

5

Ein jüngeres Filmbeispiel, das die Rückführung eines in der amerikanischen Fremde verstorbenen Mexikaners ins Heimatland thematisiert ist The three burials of Melquiades Estrada (2005, Tommy Lee Jones). Die Grenze wird auch hier zu einer kulturellen Wasserscheide stilisiert und das Restituti-

349

350

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

US-amerikanischen Jenseits als Rückzugsort ist in Almas rebeldes nicht nur mit der todbringenden Überquerung der Transitzone verbunden, sondern funktioniert auch für die Überlebenden lediglich als vorübergehendes Entkommen aus der nationalen Sphäre. Die schwierige Assimilation im selbsternannten land of the free bleibt bei Galindo unterbelichtet und bildet einen Gegensatz zu den Filmen, die das Thema der legalen und illegalen Braceros tangieren, unterbelichtet. Die »Flucht auf den Horizont zu«6 , als historisches Motiv und Basismodell neuzeitlicher Raumerfahrung wird im kulturellen Gedächtnis Mexikos damit in der lockenden Transzendenzerfahrung an der Nordgrenze aufgefangen. Das Heilsversprechen revolutionärer Romantik, das im Frühwerk Galindos noch mit einer offenen und dennoch handlungsleitenden Grenz-Mnemotopie korrespondiert, wird in seinem weiter unten analysierten Einwanderungsdrama Espaldas mojadas (1955) eingetauscht gegen einen defensiven Nationalismus und erinnert an die Bedrohungen der Außenwelt, die ein Wirtschaftsflüchtling als moderner Outlaw gleich nach der Überschreitung der Grenze erfährt. Untersucht man spätere Darstellungsformen des mexikanischen Nordens im Kino der Época de Oro, wird auffällig, dass die nationale Peripherie im Paradigma einer zentral regulierten Diskurstradition in der Regel negativ ausfällt und immer wieder das zentralmexikanische Bedürfnis kanalisiert, die nördliche Peripherie als semiotischen Brennpunkt der Nation zu bezähmen. Die marginale Geographie korrespondiert häufig mit einer Vorstellung von Orten am Rande des Gesetzes, verfemten Milieus, gefährlichen Transitzonen und Sammelorten für Abtrünnige, bandidos und bandoleros, Menschenhändler und Schmuggler. In der filmischen Diskursproduktion zum Norden schlägt sich damit in alltagsgeschichtlicher Spielart ein zentripetaler gesellschaftlicher Raumsinn nieder, der im einheitsstiftenden Paradigma des Nationalkinos eine mexicanidad in Abgrenzung zur USA ausspielt. Eine Kombination von geographischen, in Reinhart Kosellecks Sinne metahistorischen, Dispositionen und der staatspolitischen Randständigkeit, ist der Norden historisch als unkontrollierbare und bedrohliche Wildnis vorgeprägt und in der Kinematographie entsprechend dargestellt. Auch wenn das cine fronterizo selten konkrete Vergangenheitsbezüge bemüht und Almas rebeldes lediglich eine Ausnahme bildet, schlägt sich in der raumsemantischen Aufladung der Grenze eine Stimmung nieder, die auf eine Mnemotopie riskanter Kontaktzonen rückführbar ist. Dass es sich hierbei selten um Erinnerungsfilme handelt, in welchen eine historische Veränderung nachvollzogen wird, ist dadurch zu begründen, dass im cine fronterizo eine geographische Erfahrungsschwelle über eine chronologische dominiert und die vertikale Zeitschichtung der mnemotopischen Gleichörtlichkeit von einer räumlichen Nachbarschaft schier unüberwindbarer Differenzen überschattet wird. Die Kopräsenz der Zeitregime, die sich in Octavio Paz’ Diktum der mexikanischen »superposición histórica«7 wiederfindet, wird in der Mnemotopie der mexikanischen Grenze damit auf ein kollektives Latenzgedächtnis ausgelagert und von der Vorstellung der Grenze als

6 7

onssujet für eine Abrechnung mit dem amerikanischen Generalverdacht gegenüber Mexikanern benutzt. Vgl. Koschorke 1990, 8. Paz 2016a, 240.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

kulturgeographische Membran ersetzt. Das Grenz-Mnemotop als Träger einer kollektiven »courant de pensée continu«8 konstituiert sich in dieser Spielart nicht in der Reproduktion eines verschollenen kulturellen Gedächtnisses, sondern in der Repetition konventionelles Grenztopik, die auch ohne explizite Vergangenheitsbezüge die Identität des Nationalkollektivs stabilisieren kann. Bezeichnenderweise kommt die Figur des US-Amerikaners, die ein Gefühl der mexikanischen Unterlegenheit an sich binden könnte, in der kinematographischen Identitätshygiene der Época de Oro kaum vor oder allenfalls in schematischer Überzeichnung, wie in den beiden Bracero-Filmen Pito Pérez se va de bracero und Espaldas mojadas näher untersucht wird. Als Folge einer Projektion mexikanischer als auch US-amerikanischer Schatten auf den Grenzraum, lassen sich daher einseitige Tendenzen der räumlichen Semiotisierung ausmachen, die den Norden hartnäckig als einen dysphorischen Zwischenraum imaginieren und zu einer kanonischen Projektionsfläche für kollektiv geächtete Handlungs- und Wirtschaftsformen stilisieren. Die territoriale Logik des riskanten Zwischenraums, die als Resultat der Invasionen im späten 19. Jhd. ihre apperzeptive Ergänzung besitzt, wird zudem aktualisiert in Folge der besprochenen US-amerikanischen Auslagerung kriminalisierter kultureller Praktiken auf die mexikanische Seite.9 Blickt man auf die rekurrenten topologischen Zugriffe, die Norma Iglesias in ihrer Definition des cine fronterizo aufzählt, so stellen die Grenzorte nahezu ausnahmslos »centros de perdición y vicio«10 dar. Diese konventionelle Raumdarstellung lässt sich innerhalb der Época de Oro vor allem am Genre des melodrama cabaretero festmachen, das den Mikrokosmos der Gangster und Femmes fatales sowie andere Charakteristika der Film-Noir-Ästhetik auffällig häufig an der mexikanischen Grenze situiert. So wird etwa in Aventurera (1949, Alberto Gout) in nahezu überhistorischer raumsemiotischer Tradition der soziale Abstieg von Elena (Ninón Sevilla) nachgezeichnet. Das melodramatische Sujet-Modell, das in den Verfilmungen des Romans Santa von Federico Gamboa bedeutende filmische Vorläufer besitzt11 , ließ sich an Grenzorten wie Ciudad Juárez oder Tijuana, an welchen das Rotlicht-Milieu durch den Sextourismus aus dem Nachbarland angefacht wurde, ohne größerer Plausibilisierungsnot einbetten. Die getäuschte Heldin, die ihre Mutter bei einem folgenschweren Seitensprung erwischt, wird konsequenterweise aus der Ciudad Chihuahua an die Grenze gedrängt, wo sie zu einer perdida verkommt und ihren Lebensunterhalt in einem Cabaret bestreiten muss. In epochentypischer Überzeichnung der Opposition zwischen Zentrum und Peripherie, wird in Aventurera eine symptomatische kulturgeographische Diskreditierung der Nordgrenze greifbar. Besonders deutlich wird die mexikanische »Border anxiety«12 im Doppelleben von Rosaura unter Beweis gestellt: Die Rolle der maîtresse de maison wird verkörpert von 8 9

10 11 12

Halbwachs 1968, 70. Die asymmetrische Interdependenz in Folge der Auslagerung des Alkoholkonsums, des Glückspiels und der Prostitution auf die mexikanische Seite, wird von Paul Theroux vom Standpunkt kultureller Überlegenheit, die Mary Louise Pratt in ihrer Studie zum imperialen Blick in Kontaktzonen untersucht, mit der kruden Metapher einer Symbiose zwischen einem Pilz und einem Dunghaufen beschrieben (Theroux (2008), sowie Pratt 2008, 212-217). Iglesias (2010). Vgl. Hahn (2015). Bennett/Tyler 2007, 21.

351

352

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Andrea Palma, die seit La mujer del Puerto (1934) von Arcady Boytler zur bekanntesten Diva des mexikanischen cine de pecadoras geworden war. Eine Gegenwelt zur verfemten Grenzstadt bildet das unbescholtene Guadalajara, Rosauras bürgerlicher Wohnsitz, wo ihre ahnungslosen Söhne leben und den sozialen Aufstieg mit unverfänglicheren Mitteln verfolgen. Doch eine melodramatische Schicksalsfügung führt Rosauras Sohn Mario mit Elena zusammen, als diese in der Hauptstadt gastiert und die Fahne der verruchten Exotik ins mexikanische Kernland trägt. Als Agentin der wilden Grenzregion muss die Femme fatale domestiziert werden, denn sie sät den moralischen Verfall im Herzen der Nation und fordert das bürgerliche Sittenbild der Eliten von Guadalajara offen heraus (Abb. 112). Um ihren Status zu rehabilitieren, muss sie Mario aus den Fängen des gefährlichen Nordens befreien und den mafiösen Zuhälter und Nebenbuhler überwinden. Die Ehrenrettung wird in der räumlichen Kulturgrammatik Mexikos damit als eine Rückführung ins Kernland imaginiert, wodurch der Kontrast zur Peripherie als diesige und typischerweise bei Nacht inszenierte Zone des Abjekten hervorgehoben wird (Abb. 113).13

Abb. 112: Als kubanische Version von Carmen Miranda, die in Hollywood als leicht bekleidetes Chiquita-Banana-Girl reüssierte, füllt Ninón Sevilla im mexikanischen Kino die Nische der von der Grenze herangetragenen exotischen Versuchung aus. Abb. 113: Im Happy End des Film Noir wird Elena aus dem Zwielicht der geographischen und soziokulturellen Randzone befreit und erlöst durch die Aussicht auf das bürgerliche Eheglück im privilegierten Zentralmexiko.

Mit einer sehr ähnlichen Sujetfügung wird in Frontera Norte (1953) von Vicente Oroná die habituelle Missbilligung einer Grenzstadt vorgenommen. Diesmal ist es aber Tijuana, das als Hort der Halbwelt, der contrabandistas und cabareteras porträtiert wird (Abb. 114). Während die ahnungslose Mutter des Nachtclubbesitzers Carlos im Landesinneren für den verlorenen Sohn betet, zeigt dieser als Anführer eines Schmugglerrings,

13

Nach Lotman korrespondiert die kulturelle Doublette Zentrum/Peripherie klassischerweise mit einem entsprechenden Tag/Nacht-Gegensatz: »Auch das städtische »Nachtleben« liegt an der Grenze oder außerhalb der Kultur. Diese verkehrte Welt orientiert sich am Anti-Benehmen.« (Lotman 2017, 188). Die überwiegend nächtliche Inszenierung mexikanischer Grenzorte bestätigt ihre konventionelle Perzeption als buchstäbliche Schattenorte der zentralistischen Automodellierung.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

wie man die Grenzkontrollen im Gewand eines geistlichen Waisenhausvorstehers ein ums andere Mal düpieren kann. Die Symbolik des Schmugglers und illegalen border shifters ist wie prädestiniert für die Lektüre des Film-Noir-Melodrams als Allegorie auf die Destabilisierung der nationalen Integrität an der Außengrenze. Die seriellen Grenzgänge, die einen unkontrollierten Geld- und Warenfluss bedingen, stellen nämlich nicht nur eine konkrete Unterwanderung der nationalen Souveränität dar, sondern auch eine Gefahr für die nationale Einheit, die sich gegen die US-amerikanische Außenkultur abschirmt. Das historische Kapital, das der Grenzregion in diesem Melodram zuteilwird, geht unmissverständlich einher mit den Geboten des postrevolutionären wirtschaftlichen Protektionismus und sorgt dafür, dass die extrakulturellen Kommunikation als unpatriotisches Fremdgehen und Bereicherung auf Kosten eines idealisierten Selbstbildes diskreditiert wird. Die nächtlichen ›Mikroinvasionen‹ von Carlos werden schließlich von seinem Bruder Roberto aufgedeckt, der als »agente federal« aus dem Landesinneren nach Tijuana gekommen ist, um das soziale Unkraut zu jäten (»para acabar con la mala hierba« (1:16:30)), das in der Grenzregion wuchert. Noch eindeutiger wird die allegorische Sinnebene, wenn man Robertos Ehrgeiz, die seit einem Raubüberfall an den Rollstuhl gefesselte Mutter zu rächen, als eine Bürgerpflicht dechiffriert. Robertos Einsatz repräsentiert den patriotischen Feldzug der Zentralgewalt gegen die semiotisch kontaminierten Randzonen der mexikanischen Nation. Was hier aber eigentlich geschützt werden soll ist natürlich das verklärte Heimatkonzept der Matria, das der melodramatischen Mutterfigur sehr häufig eingeschrieben ist. Sowohl Frontera Norte als auch Aventurera stellen die Nordgrenze als nationale Heterotopie dar, weisen aber auf eine latent tradierte Mnemotopie hin, die die Nordgrenze als Gedächtnislandschaft folgenschwerer Invasionen präsent hält. Die Instrumentalisierung der Peripherie für Darstellungen einer Gegenörtlichkeit besitzt in Mexiko eine historische Tiefendimension, die in den beiden melodramas cabareteros unbewusst mitschwingt. Als implizites Mnemotop verweist der Grenzraum auf die unbezähmbaren neuspanischen Kolonien im Norden. Die symbolische Stigmatisierung des »septentrión novohispano«14 ist das unbewusst tradierte kulturelle Erbe, das im 19. Jhd., aber auch in weiter zurückreichenden Epochen in der kollektiven Imagination verankert wurde und auf jene diffusen Grenzlandschaften verweist, in welchen Vasconcelos »una extensa no men’s land del espíritu« und einen barbarischen »desierto de las almas«15 ausgemacht hatte. Ähnlich wie in Aventurera wird in Frontera Norte eine Kontinuierung der Nordgrenze in ihrer Tradition eines »lugar de enfrentamiento con indios indómitos« hergestellt, die in der Aktualität des Films durch eine »difícil convivencia« und den »permanente conflicto con los Estados Unidos«16 bedingt und präsent gehalten wird. Obwohl explizite Rückholungen der Vergangenheit in dem historisch unbekümmerten Film nicht vorkommen, trägt die Nordgrenze dennoch die Erblast kollektiver Schattenprojektionen. Der abtrünnige Carlos, dessen moralische Desintegration sich in einem nachdrücklich thematisierten körperlichen Defekt widerspiegelt, wird als Schädling und Stiefkind der 14 15 16

Rajchenberg/Héau Lambert 2007, 56. Zit. in Ceballos Ramírez 1999, 39. Rajchenberg/Héau Lambert 2007, 57.

353

354

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Abb. 114: Das nächtliche Rotlichtviertel im Vorspann des Film Noir etabliert Tijuana als wilde Zone illegaler und unterprivilegierter Kontakte, die von der Zentralgewalt durchkämmt und zivilisiert werden muss. Abb. 115: Der schwierige brüderliche Schulterschluss zwischen Räuber und Gendarm ist eine Allegorie auf die von jeher problematische ›Ansippung‹ der nördlichen Peripherie.

mexikanischen Patria gebrandmarkt (Abb. 115). Im Gegensatz zu Aventurera misslingt jedoch der melodramatische Wiedereingliederungsversuch eines Eheschlusses. Carlos stirbt und mit seinem Tod wird symbolisch die Ausgrenzung des krisenhaften Nordens zementiert. Auch in Komödien verwertet die Identitätsmaschinerie der Época de Oro den Norden als Begrenzung periodischer Formen der mexicanidad und führt im Widerspiel der Inklusion und Exklusion eine Kontinuierung des kulturellen Gedächtnisschatzes zur Grenzregion vor. Die positiven Zuwendungen zum Norden sind nahezu vollständig geknüpft an eine Euphorie der Heimkehr und Wiedereingliederung in die nationale Gemeinschaft. Beispielhaft ist die Repatriierungskomödie Arriba el Norte (1949, Emilio Gómez Muriel), in der Abelardo, ein junger Señorito auf dem Weg ins heimatliche Eheglück, singend seine Freude verkündet, dem US-amerikanischen »suelo extraño que nunca me quiso« (4:49) den Rücken gekehrt zu haben. Die kinematographische Integration des Nordens geschieht hier in der Ästhetik einer comedia ranchera mit Elementen des nordmexikanischen Lokalkolorits, dem vor allem der zukünftige Schwiegervater Abelardos, der übergeschnappte Coronel Valente Cordero, einen Resonanzraum gibt. Als Oberst im Ruhestand, der seinerzeit von Venustiano Carranzas konstitutionalistischer Streitmacht zu Pancho Villas División del Norte übergetreten war, ist er aber lediglich eine Karikatur auf den wehrhaften Norden. Seine ulkige Erinnerungssuade zur Lokalgeschichte am Ende des Films stellt eine Aufzählung der glorreichen Ereignisse dar, in die auch Pancho Villas kleiner, aber denkwürdiger Einfall in das US-amerikanische Columbus eingereiht wird: En nombre de la terrible División del Norte, por la memoria de los muertos de la batalla de Zacatecas, por la toma de Torreón, por el asalto a Columbus, por todas las 50000 balas que supieron respetarme la revolución, María, si usted hace un paso más, le meto cinco tiros en la rabadilla (1:25:12).

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Das kulturelle Gedächtnis, das von der Figur eines närrischen Kriegsveteranen aufbereitet wird, bildet eine auf den Norden beschränkte Selektion der jüngsten historia patria, wird aber im Schlüssel einer säbelrasselnden Farce vorgetragen, die eine generationsübergreifende Geltung nur mit Vorbehalten für sich beanspruchen kann. Die Stimmung eines virilen Nordens wird in der Komödie allenfalls reinszeniert, um den verjährten Heldenmut des Obersts vor den Augen seiner koketten Ehefrau María erneut unter Beweis zu stellen. Zudem kann die Rückholung einer monumentalischen Geschichte Mexikos ihren Gegenwartsbezug nur unter Ausklammerung schmachvoller Niederlagen ausspielen. Parallel dazu kann die »definitiva humillación« (Justo Sierra) von 1848, die der Sohn Abelardo auf der anderen Seite der Grenze zu spüren bekommen hat, in der komischen Figuration des defensiven Nationalismus nur durch eine Rückführung der Kinder in den heimatlichen Schoß kompensiert werden, wodurch jede Form der Kommunikation mit dem Außenraum gekappt wird. Dass im Paradigma des Nationalkinos von außen herangetragene Prozesse einer Transnationalisierung unter einem Sanktionsimperativ standen, sieht man besonders deutlich in Acá las tortas (1951, Juan Bustillo Oro), einer weiteren Repatriierungskomödie zum Thema der entfremdeten Kinder und einem Komplement zu den Assimilationsdramen, die sich im nationalen Jenseits Mexikos abspielen und sich an den kulturellen oder phänotypischen Unvereinbarkeiten der hispanos in den USA abarbeiten.17 Das Drama um eine zerrüttete Familie von volksnahen Schnellrestaurantbesitzern beginnt mit der Rückkehr der Kinder, die als Guadalupe (Lupe) und Ricardo ins Ausland gegangen sind und als Betty und Dick zurückkehren. Die Metamorphose der Kinder, darunter die umgeprägten Ess- und Kleidungsgewohnheiten oder die lästigen englischen Füllwörter, die an die Halbsprachlichkeit der US-Mexikaner (pochos) erinnern sollen, wird von Juan Bustillo Oro, dem Meister sentimental-patriotischer Filme, in ein derart negatives Licht gerückt, dass das Publikum zur Identifikation mit einem traditionellen aber wohlvertrautem Eigenen regelrecht getrieben wird (Abb. 116). Wenn die nörgelnde Hausdame Jacinta auf das amerikanisierte Kauderwelsch der kontaminierten Kinder entgegnet »por favor niña, lo que tenga que decirme, dígamelo en cristiano« (29:45), werden die Sprachbarrieren und die grundlegende Skepsis gegenüber den »hombres rudos y pelirrojos« (Vasconcelos) ausgestellt, die das einfach gestrickte Nationalbewusstsein jäh an der Nordgrenze enden lassen.18 17

18

Neben den Bracero-Filmen, die ein ums andere Mal den historischen Archetyp der mexikanischen Mikroinvasion umspielen, wird im US-amerikanischen Film das Assimilationsdrama der Chicanos in Filmen wie Bordertown (1935) thematisiert und zwingt den ewig verstoßenen Mexikaner immer wieder in die Halbwelt south of the border zurück (vgl. Gordon (2019)). Zur Problematik der vorausgesetzten Herkunftsvergessenheit in den USA, den double binds von Gruppenloyalitäten sowie den daraus resultierenden Implikationen für alternative Bewusstseinsprägungen schreibt A. Assmann 2013, 113-122. In ähnlicher Weise wurde in El hijo desobediente (1945) Tin Tan in seiner klassischen Rolle eines kulturell kontaminierten Pachucos von seinem Vater abgekanzelt: »Ya te he dicho que me saludes en cristiano, como debe ser. […] Un hijo de Rogaciano Rico tiene que ser como su padre: un hombre de campo, no una chachalaca de cabaret« (2:30-3:50). Der Pachuco als semiotischer Exzess und Problemfall für eine mexikanische Identitätskonkretheit, die sich gegen Einflüsse aus dem Norden abschirmt, wird in Laberinto de Soledad von Octavio Paz bereits im eröffnenden Kapitel »El pachuco y otros extremos« untersucht (Paz 2016a, 151-171). In ähnlicher Weise wird der Typus des mexikani-

355

356

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Die Übersetzung allosemiotischer19 oder extrasemiotischer20 Elemente, diffuser oder schlicht unverständlicher Elemente aus dem Jenseits der Nordgrenze erfolgt im Cine de Oro mehrheitlich in Form einer vorübergehenden und rasch beseitigten Projektion kultureller Fremdheit im Landesinneren und kompensiert das kollektive mexikanische Phantasma der Invasion aus dem Norden anhand domestizierter Normüberschreitungen im Landesinneren. Was an früherer Stelle mit Foucher als grenztypische »télescopage de temps differents«21 eingeführt wurde, erfährt in Filmen wie Acá las tortas oder auch Primero soy mexicano (1950, Joaquín Pardavé) (Abb. 117) ein topologisches Echo, das den Generationenwandel monokausal auf den unheilvollen Einfluss der USA auf die Kinder Mexikos zurückführt. Mit leicht verdaulichen Appellen an den Nationalstolz wird eine folkloristische Defensive provoziert, bei der ein historisch konfiguriertes mexikanisches Unterlegenheitsbewusstsein durch die ältere Generation repräsentiert wird, die ihre Hausmacht zur Geltung kommen lässt. Die Ausklammerung des Nordens und seines traumatisch-unbewohnten Ortsgedächtnisses wird eine ähnlich retrograde mexikanische Selbstvergewisserung mobilisiert, wie sie bereits bei der Untersuchung kalter und nationalistischer Spielarten der Mnemotopie in Raíces (1953) oder Allá en el Rancho Grande (1936) ausgemacht wurde.

Abb. 116: »Perdóname, mami, pero, ¡ay, cómo apestas a cebolla!« (28:08). Der Generationenkonflikt in ›Acá las tortas‹ wird im defensiven Nationalismus der ›Época de Oro‹ übersetzt als Missachtung des Traditionskanons, den die Kinder als abgehobene ›pochos‹ dem Elternhaus entgegenbringen. Abb. 117: »Las tortillas son pesadas y burdas« (10:58). Der analphabetische Vater sitzt in ›Primero soy mexicano‹ neben seinem Sohn, einem eingebildeten und mit Doktorwürden geweihten Kulturimport aus den USA, der ein Emblem der ›mexicanidad‹, verschmäht.

Obwohl die hier in kursorischer Form vorgestellten Komödien sich in räumlicher Distanz zur Nordgrenze abspielen und nur mit Vorbehalten dem Genre des cine fronteri-

19 20 21

schen Jugendlichen in den US-amerikanischen Südstaaten bei Roger Bartra behandelt. Dort wird seine kulturelle Verwaisung und doppelte Marginalisierung als Folge der Verbannung aus dem provinziellen »edén subvertido« gedeutet (vgl. Bartra 2015, 119-122). Jantzen 2013, 96. Vgl. Lotman 1990, 290. Foucher 1986, 21.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

zo zugeschlagen werden können22 , veranschaulichen sie sehr eindrücklich den Umgang des mexikanischen Nationalkinos mit der Heteroglossie, die aus dem Norden ins Kernland vordringt. Sowohl Acá las tortas als auch Primero soy mexicano enden mit der kollektiven Glückseligkeit einer Wiedereingliederung, die die kulturellen Überläufer wieder zu ›Ultracharros‹ und würdigen Erben der Familienbetriebe verwandelt. Für die Nordgrenze als Mnemotop an dem ein Bewusstsein für eine prinzipiell andere Außenwelt eingelagert ist, leistet das Paradigma konservativer Gedächtnisvektoren enormen Vorschub, womit auch verständlich wird, dass der Kosmopolitismus der neuen Generation in zeremoniell verwerteter Gegenpositionierung zu den USA als respektloser Kontinuitätsbruch diskreditiert wird. In der nachrevolutionären Tendenz zur Bändigung der kulturellen Varianz, die am Beispiel von Flor Silvestre diskutiert wurde, liegt auch der Grund dafür, dass die nationalen Grenzräume mitsamt ihren historischen Sedimenten nurmehr als Problemzonen integriert werden konnten. Als geächtete oder gefürchtete Region war die Nordgrenze nicht nur ein topologischer Träger der territorialen Verlusterfahrung, sondern auch des Identitätsverlusts schlechthin. Die eingangs eingeführte Metaphorik der Grenze als offene Wunde kann man im Hinblick auf ihre mnemotopische Bewandtnis daher verstehen als gefährliche Destabilisierung der historia patria und der damit einhergehenden mexikanischen Automodellierung, die eine Schließung des kulturellen Kanons und eine Abschirmung der mexikanischen Semiosphäre begünstigt. Darüber hinaus stellt die Solidarität mit der alten Generation als Festhalten an einer präindustriellen Matria natürlich auch eine frühe Abkehr von der Amerikanisierung des Mittelstands, die Carlos Monsiváis als eine Entnationalisierung im Zuge der Imitation US-amerikanischer Standards ab den 1960er Jahren beschreibt.23 Bevor die zentripetalen Tendenzen der Época de Oro ausgeklungen war, bildete die Nordgrenze ein oft herangezogenes Instrument für Stabilisierungen einer zentral gepflegten mexicanidad. Vor dem Anbruch der nationalen Krise, die retrospektiv als »ocaso de los mitos«24 gesehen wird, war die Grenze weitestgehend einer binären Logik unterstellt und ermöglichte eine kinematographische Selbstvergewisserung in Abkehr von der amerikanischen »superpotencia«25 . Hier liegt der wesentliche Grund dafür, dass Maximiliano Maza die Funktion der Grenze im frühen mexikanischen Film als »[e]spacio de desarraigo«26 zusammenfasst, die in den beiden näher untersuchten Filmen zu den Braceros und ihrem zweifelhaften Heldenstatus vertieft wird. Das Verständnis des Mnemotops der mexikanischen Nordgrenze wäre aber monodimensional, wenn man die Darstellungskonventionen des Grenzraums in der USamerikanischen Filmindustrie außen vor ließe. Man muss hierbei anmerken, dass der mexikanische Protektionismus, der sich kinematographisch in einer Idealisierung des

22

23 24 25 26

In der Definition des cine fronterizo nach Iglesias wäre hier der fünfte Punkt ausschlaggebend, nämlich »[q]ue una parte importante de su argumento se refiera a la frontera o a problemas de identidad nacional« (Iglesias 1991, 17). Monsiváis 1997, 100. Vgl. Semo (1989). Paz 2016b, 476. Maza 2014, 39.

357

358

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

retrograden Mexikos im Schatten der Industrialisierung nach US-amerikanischem Vorbild niederschlug, seine Ursache natürlich auch in der wirtschaftlichen Konkurrenzsituation beider Staaten hatte, die auf dem Filmmarkt eine ohnehin problematische ideologische Rivalität verschärfte.27 Die Verankerung des mexikanischen Gedächtniskollektivs in Form einer positiv gewandten Kontinuierung alter Bräuche muss man daher in komplementärem Verhältnis zur negativen Darstellung der mexikanischen Grenze verstehen, die sehr tiefe Wurzeln im kulturellen Gedächtnis der USA besitzt. Seit den kinetoskopischen Bildern von Thomas Alva Edison, die bereits 1894 in der Pionierphase bewegter Bilder zwei Mexikaner bei einem Messerduell zeigten28 , über die niederträchtigen mexikanischen greaser 29 , bandidos, bandoleros und pistoleros des Westerns30 , bis hin zu Orson Welles’ Behandlung der mexikanischen Grenze als Ort des Abjekten in Touch of Evil (1958)31 , sieht man – mit wenigen Ausnahmen während des Zweiten Weltkriegs – eine durchgehend negative Darstellung der Grenzregion. Die Entstehung eines kanonischen Raumkonzepts der frontier, das Maza unter dem Schlagwort des »espacio de barbarie«32 zusammenfasst, korrespondiert dabei eindeutig mit der Kanonisierung der mexikanischen Figur als Ikone des moralisch verwerflichen Handelns, der Rauflust und skrupellosen Schießwut. Die lange Tradition des filmgestützten othering, die eine klare Opposition zwischen einem idealisierten US-amerikanischen Selbstbild und einem als barbarisch imaginierten Mexiko markiert, hat im Sinne einer kulturellen Barriere, die Norma Klahn treffend als »The Great Divide«33 bezeichnet, die borderlands zu Orten einer negativ überformten interkulturellen Begegnung werden lassen.

27

28 29

30

31 32

33

Zur filmpolitischen Intervention Hollywoods auf dem mexikanischen Filmmarkt und der mexikanischen Filmindustrie als Vehikel nationalistischer Gegenpositionierung schreibt Fein (2001). Der Schatten des Giganten wurde aber auch in Zensurmaßnahmen konkret, die eine unvorteilhafte Darstellung der USA in der mexikanischen Filmkultur regulieren konnte, wie am Beispiel von Espaldas mojadas gezeigt wird. Vgl. Maza 2014, 29. Zur Rolle des greaser, des mexikanischen Mestizen mit schmalzigem (engl. ›greasy‹) Haar als dominante Imaginationsform des Mexikaners im US-amerikanischen Film, eignet sich die begriffsgenealogische Passage von David Maciel im Kapitel »El bandolero, o los chicanos fabricados por Hollywood« (Maciel 2000, 38-45). Zur Überzeichnung des mexikanischen greaser im USamerikanischen Spielfilm der Stummfilmära vgl. Miquel 2005, 50-54. Aurelio de los Reyes situiert die Entstehung der Greaser-Figur während der mexikanischen Revolution, in der der Grenze eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde und die imaginierte Bedrohung durch bewaffnete pistoleros Hochkonjunktur hatte. Er beschreibt auch, wie die filmische »denigración« Mexikos unter Venustiano Carranza zur Staatssache wurde, wenngleich die Zensurmaßnahmen eine eher dürftige außenpolitische Hebelwirkung hatten (de los Reyes 1996, 213 und 232). Vgl. Villalobos 2007, 35. Maza 2014, 29-38. Die Darstellung der mexikanischen Grenze im US-amerikanischen Film kann hier nur kursorisch angeführt werden. Es sei aber auf die bedeutende Arbeit von Emilio García Riera verwiesen, der das Thema in umfassender Weise in seinem mehrbändigen Projekt México visto por el cine extranjero behandelt (vgl. García Riera 1988, 47-59 et passim). Darüber hinaus wird das Mexikobild im dichotomisierenden Genre des US-Western, wie bereits im Hacienda-Kapitel kurz angeschnitten, bei Foster 2008, 41f behandelt. Einen stichhaltigen Aufsatz zu literarischen Imaginationsformen von Mexiko in USamerikanischer Literatur bietet Klahn 1994, hier 29.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

In besonders markanter Weise wird diese Opposition im US-amerikanischen Filmgenre schlechthin geprägt, dem Western, den Roman Gubern prägnant herunterbricht auf eine »epopeya del pueblo invasor y vencedor, que sólo tiene memoria para sus glorias y que ensalza a sus héroes hasta convertirlos en mitos«34 . Die mythische Qualität der Revolverhelden führt auf eine entsprechend mythische Semantisierung der mexikanischen Grenzregion zurück und verweist auf die kollektive Furcht vor einem stets unwägbaren South of the Border, die in den zeitlosen Narrativen des Westerns kompensiert wird. Das Vordringen auf die andere Seite der frontier geschieht im Western nahezu ausschließlich in feindlicher Mission, wie etwa in Rio Grande (1950, John Ford) (Abb. 118), oder aus merkantilem Interesse, wie in The Treasure of the Sierra Madre (1948, John Huston) (Abb. 119). Es handelt sich dabei um zwei zentrale Motive der transgressiven Reise in die mexikanische Fremde, die das Gedächtnis an realhistorische Invasionen militärischer und wirtschaftlicher Prägung auf beiden Seiten der Grenze präsent halten.

Abb. 118: Das Übersetzen der US-Kavallerie auf die »Rio Bravo Side« zur »Ausräucherung« (1:12:20) der Apachen folgt in ›Rio Grande‹ einer außenpolitischen Invasionslogik, die in der› Mexican Punitive Expedition‹ (1916-1917) eine von zahlreichen realhistorischen Entsprechungen hat. Abb. 119: Die Wagenburgmentalität bleibt in ›The Treasure of the Sierra Madre‹ im Sinne einer kulturellen Abschottung auch innerhalb Mexikos als »bandit country« (1:51:11) wirkmächtig.

Wie in der Passage zur schwierigen Kommunikation mit der mexikanischen Extrakultur angedeutet, war bei der Eroberung des amerikanischen Südwestens neben der Auslöschung der unbezähmbaren Indianer auch der Antagonismus zur spanischen Kolonie eine topologische Konstante der Frontier-Mentalität – zwei Modelle der angelsächsischen Gegenidentität, die im Feindbild des Mexikaners fusionieren, wie am Beispiel von Sam Peckinpahs Spätwestern The Wild Bunch (1969) deutlich wird, in dem die Figur des Mapache, ein skrupelloser mexikanischer Warlord verkörpert von Emilio Fernández, die Antipathien an sich bindet. Sowohl im Western als auch im Film Noir – andere Nischen waren für den Hollywood-Mexikaner kaum gegeben – beschränkte sich die kinematographische Pflege der Nachbarschaftsbeziehungen zu Mexiko auf anrüchige Liaisons, gewalttätige Konfrontationen und gegenseitige Auslöschungsphantasien 34

Gubern (2014).

359

360

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

und folgte einer herabmindernden Konstruktion der kulturellen Alterität, die Norma Klahn unter dem Begriff des verruchten »South of the Borderism«35 fasst. Die Mnemotopie der Kontaktzone lässt sich in US-amerikanischer Inszenierungstradition damit eher als eine Mnemotopie der Kampfzone dechiffrieren, in welcher geographische wie moralische Transgressionen die Rechtsstaatlichkeit beider Nationen unentwegt zu Gegenreaktionen herausfordern. Es ist hierbei überraschend, dass die territorialen Verluste auf mexikanischer Seite kinematographisch sehr selten umgesetzt und die Erfahrungsschwelle von 1848 kaum rezipiert wurde. Die zwei Ausnahmen bilden die mexikanischen Western El último rebelde (1958, Miguel Contreras Torres) und El último mexicano (1960, Juan Bustillo Oro). In beiden Fällen wird aber, wie David Maciel herausstellt, eine Logik der unrechtmäßigen Enteignung nur rudimentär artikuliert.36 Die heiße Mythomotorik, die der territoriale Verlust im cine chicano entfaltet, wird im zentralistischen Paradigma der Época de Oro gegen das besprochene Leitmotiv des Rückzugs ins mexikanische Kernland eingetauscht, hinter dem sich eine kollektive Resignation verbirgt. Dass die verlorenen Territorien hier analog zu den Chicanos als »hijos entenados de la patria«37 im Nationalfilm entsprechend stiefmütterlich behandelt werden, zeigt die Vorbehalte der mexikanischen Kinematographie, der Dämonisierung des Mexikaners im US-amerikanischen Western mit Inversionen der Feindbilder zu entsprechen. Das mexikanische Kino begegnet der Anschwärzung der mexicanidad mit einer herabwertenden Isolation der eigenen Nordgebiete, womit die hier vertretene These untermauert wird, dass es sich bei der mexikanischen Grenzregion um einen Kompensationsraum kultureller Schatten handelt. Während die USA eine Art Outsourcing des Abjekten jenseits des Staatsterritoriums vornehmen und die Grenze als »cresta de ola – el punto de encuentro entre el salvajismo y la civilización«38 funktionalisieren, wird auf mexikanischer Seite der historisch weit zurückreichende Kampf gegen einen barbarischen Norden auf die Peripherie des nationalen Territoriums übertragen. Eines der eloquentesten Beispiele für die Integration kollektiver Vorstellungen des Abjekten südlich der Grenze sowie für den Western als Resonanzraum der historischen Folklore »put forward as a theater of purity and legitimacy«39 , stellt die US-amerikanisch-mexikanische Koproduktion Border River (1954, George Sherman) dar. Es handelt sich dabei um einen Western, in dem der mexikanische Renegat General Calleja (Pedro Armendáriz) die »Zona Libre« am Südufer des Rio

35

36

37 38 39

Klahn 1994, 31. Die Begriffsprägung stützt sich auf literarische Imaginationen des mexikanischen Anderen und ist explizit angelehnt an das Moment der persistenten Alteritätskonstruktion in Edward Saids Denkfigur des Orientalismus. »South of the Borderism« kann hier als negativ gewandte Spielart des tropicalismo aufgefasst werden, der in der Besprechung von Raíces eingeführt wurde. Maciel 2000, 115-118. Der Schwerpunkt der Anthologie gilt der Darstellung der Mexikaner in Amerika, so dass der Autor den Gebietsverlust als Trauma der Chicanos darstellt. Wenn in der Kinematographie der Época de Oro das Jahr 1848 keine Resonanz findet, wird die doppelte Ausgrenzung der ehemaligen Mexikaner verständlich, da sie auch aus dem Gedächtniskollektiv des territorial reduzierten Mexikos verbannt werden. Rajchenberg/Héau-Lambert 2007, 49. García Riera zit. in Maza 2014, 11. Spener/Staudt 1998, 24.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Grande beherrscht, die 1865, während der Zweiten Französischen Intervention in Mexiko (1861-1867), als rechtsfreier Grenzraum und »heaven for any man outside the law« (1:35) imaginiert wird. Die kulturhistorische Prämisse der doppelt marginalisierten Grenzregion, die in Form einer peripheren Sub-Semiosphäre für Prozesse der kollektiven Schattenprojektion sichtbar wird, ermöglicht einen Einblick in tiefenstrukturelle Reifungsprozesse des kulturellen Gedächtnisses und lässt sich im nationalbewussten Kino beider Länder mindestens bis in die 1960er Jahre verfolgen. Dass die eher einseitige kinematographische Semantisierung der Grenze historische Wurzeln hat, wie einführend gezeigt wurde, demonstriert, inwieweit das kinematographische Memory-Building ein in der Grenz-Mnemotopie vorgeprägtes historisches Bewusstsein artikulieren kann. Im habitualisierten Umgang mit dem Grenzterritorium der mexikanischen Kinematographie lässt sich die Pflege kollektiver historischer Affekte auch ohne explizite Aufforderungen zur Kommemoration erkennen. Im beschränkten historischen Repertoire der mexikanischen Populärkultur wird die latente Dimension der »kognitiven Ausblendung« der Grenze sichtbar, die man mit Jan Assmann als kulturelles Erbe des dynamisch Unbewussten bezeichnen kann.40 Das mit einer markanten kulturellen und wirtschaftlichen Asymmetrie besetzte mexikanische Gedächtnis, das die Region seit dem »[é]chec mexicain de 1848«41 mit sich trägt, wird daher nicht von Verweisen auf die peinigende Gebietsabtretung stabil gehalten, sondern mit Hilfe des massierten Motivs des Wanderarbeiters, der in den Norden zieht. Wie an den beiden näher behandelten Beispielen gezeigt wird, bietet die Überquerung der Grenzgebiete als Territorien der Entwurzelung im Kino zu den Braceros eine typische Motivierung der mexikanischen Grenze für Prozesse der Identitätskonkretisierung in Form der Zuweisung zu einem der diametral entgegengesetzten nationalen Gedächtniskollektive. Das Motiv der Grenzübertretung wird im mexikanischen Film komplementiert durch die seit dem 19. Jhd. dominante Repräsentationsform der Grenze als eines Ortes der illegalen und harsch sanktionierten Transgressionen. Die Behandlung des Migrationsthemas hat in der USamerikanischen Filmgeschichte Tradition und konstituiert, mit Ausnahme früher Filme wie Ramona (1910), Her Last Resort (1912) oder The Mexican (1914), eine populärkulturelle Stabilisierung des kollektiven Invasionsphantasmas.42 Wie Maciel und GarcíaAcevedo eindrücklich zurückverfolgen, ist das Thema der Braceros dabei als Derivat des Western-Genres zu sehen, bei dem der klassische Widerstreit idealisierter Angelsachsen gegen die ›Schwemme‹ illegaler Migranten in gegenwartsnaher Spielart aufgegriffen wird. Das Motiv der Grenzkontrolle, respektive ihrer Umgehung, wird in diesem Zusammenhang folgerichtig für Zwecke einer manichäischen Arbeit an der nationalen Identität wiederverwertet.43 Blickt man auf die soziopolitische Repräsentation der Nordgrenze im Film, so findet sich die historische Unterlegenheit des Südens dabei in der hartnäckigen Vorstellung von Lateinamerika als US-amerikanischem backyard be-

40 41 42 43

Vgl. J. Assmann 2005, 370. Foucher 1988, 374. Vgl. Stieglitz (2019). Maciel/García Acevedo 1999, 211f.

361

362

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

stätigt, wobei der mexikanische Grenzsaum als »région de sous-traitance«44 und Herkunftsraum illegaler Güter und Lohnkräfte an vorderster Front steht. Folglich wird das große Thema der Zivilisationskonflikte in den mexikanischen Bracero-Filmen der Época de Oro rezent gehalten, implizit aber auch eine kulturelle Inferiorität Lateinamerikas aktualisiert. Die Auswanderung im Sinne eines scheiternden, nicht lohnenswerten Übergangsritus in ein feindlich gesinntes Nationalkollektiv und die bekehrende Wiedereingliederung der rückkehrenden Abtrünnigen bildet ein narratives Schema, das hier vorausgreifend an El bracero del año (1964, Rafael Baledón) veranschaulicht werden kann. Analog zum Verlust der Nordterritorien an die USA wird im cine fronterizo das bange Gefühl einer wirtschaftlichen Durchdringung der mexikanischen Gesellschaft aufgefangen und die Dominanz der USA als »the usually invisible, but never absent »other« […] crucial to dominant Mexican discourses, whether disseminated through official rhetoric or popular entertainment«45 in markanten Gegenüberstellungen repräsentiert. Bei der komischen Odyssee des wetbacks Natalio Reynosa (Eulalio González alias Piporro) wird sein prekärer Status des permanent kriminalisierten Aliens in einer Sequenz besonders eindrücklich karikiert. In der anekdotisch überzeichneten Retrospektive eines schelmenhaften Bracero wird die Konfrontation mit dem amerikanischen Anderen imaginiert als Begegnung mit einem Sheriff, der etwa drei Meter größer sei und als »una especie de Rock Hudson injertado de Burt Lancaster« (57:20) eine parodistische Hyperbel der traditionellen Western-Figur darstellt, die für Zucht und Ordnung in den borderlands sorgt und ihren kulturellen Erben in der gefürchteten Border Patrol besitzt (Abb. 120).

Abb.120: In der Trickmontage in ›El bracero del año‹ verkörpert Piporro beide Seiten der karikaturesken Begegnung eines Sheriffs mit einem mexikanischen Wanderarbeiter. Obwohl der Aufenthaltsstatus des bracero im Film letztlich legalisiert wird, bleibt der allegorische Dialog der Nationen nicht auf Augenhöhe, sondern von einer mexikanischen Unterlegenheit gezeichnet, die sich im ironisch übersteigerten Größenunterschied repräsentiert findet.

Die groteske Gegenüberstellung lässt sich für die mnemotopische Funktion der Grenze übersetzen als eine Figuration diametral entgegengesetzter Zeitregime, bei der ein präindustrielles mexikanisches Selbstbild sich in der »sombra de un gigante«46 konstituiert. Die charakteristische zweite Überquerung der Grenze, die in Lotmans abs44 45 46

Foucher 1988, 377. Fein 2001, 160. Paz 1992, 413.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

traktem Grenzverständnis einer Restitution der alten Ordnung entspricht, ist in den Bracero-Filmen daher stets eine Rückkehr aus dem nördlichen espacio de desarraigo in ein vertrautes Gedächtniskollektiv. Die beiden Werke, die als nächstes eingehender behandelt werden, bilden die mexikanische Perspektive der Einwanderung ab, die in US-amerikanischen Propagandafilmen wie Border Patrol (1943, Lesley Selander) oder Border Incident (1949, Anthony Mann) vordergründig im Zeichen des illegalen Menschenhandels porträtiert wird mit dem die »cheap border crooks« (Border Inicident, 49:54) ihre krummen Geschäfte machen. Pito Pérez se va de bracero (1948) und Espaldas mojadas (1955) sind beispielhaft für die mexikanische Massenproduktion von Bracero-Filmen ab den 50er Jahren, in der sich das Unbehagen angesichts der zunehmenden Problematisierung von Migrationsströmen widerspiegelt. In beiden Filmen wird offenkundig, dass das filmgestütze mexikanische Selbstbild durch räumliche Alteritätserfahrungen konstruiert wird und dass in der USamerikanischen Gegenwelt Unterlegenheitsempfindungen ausformuliert werden, die eine historische Tiefendimension der Grenzgebiete rezent halten. Dass die gedächtnisstabilisierende Ortslogik der Nordgrenze im Cine de Oro als Vorbereitung auf den Boom des cine fronterizo gesehen werden kann, zeigt abschließend der Blick auf die Mnemotopie der Grenze im Kino der Gegenwart.

3.1.

Pito Pérez se va de bracero (1948)

3.1.1.

Der pikareske Grenzgänger

Dass die Überquerung der Grenze im mexikanischen Kino mitnichten nur als Tragödie imaginiert wurde, wie die zahlreichen Bracero- und Narco-Dramen ab dem späten 20. Jhd. vermuten lassen, kann man an einer Reihe von Filmen festmachen, die den Grenzgang mit der Ästhetik der spanischen Pikareske aufladen.47 Die 1948 von Alfonso Patiño Gómez veröffentliche Tragikomödie eines mexikanischen Vagabunden, der in die USA hinübersetzt, bildet in zweierlei Hinsicht einen Hypertext der mexikanischen Filmgeschichte. Einerseits handelt es sich bei Pito Pérez va de bracero (alternativer Titel El emigrante) um eine Fortführungsepisode der Abenteuer von Pito Pérez, einer mexikanischen Schelmenfigur aus Michoacán, den José Rubén Romero in seinem Roman La vida inútil de Pito Pérez (1938) entworfen hatte und der 1944 von Miguel Contreras Torres verfilmt wurde.48 Andererseits behandelt der Film auch ein übergreifendes Leitmotiv der mexikanischen Filmgeschichte – die unheilvolle Emigration ins nördliche Jenseits, die in dem Film El hombre sin patria (1922) einen Urtext besitzt. Das später vielfach nachgestellte Repatriierungssujet stellt den ersten Zugriff auf die Nordgrenze

47 48

Zu pikaresken Elementen der kinematographischen Grenzfolklore schreiben u.a. Fojas 2008, 3f. und Herrera-Sobek 2006, 63. Die Popularität der wohl bekanntesten mexikanischen Schelmenfigur seit dem kreolischen Bürgerschreck El Periquillo Sarniento kann man an zwei weiteren filmischen Adaptationen ablesen: Las aventuras de Pito Pérez (1957, Juan Bustillo Oro), mit Germán Valdés alias Tin Tan in der Hauptrolle, sowie La vida inútil de Pito Pérez (1970, Roberto Gavaldón) mit Ignacio López Tarso.

363

364

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

im mexikanischen Spielfilm dar und stammt ebenfalls von Miguel Contreras Torres, der als Filmpionier mit Vorliebe für monumentale Stoffe der historia patria auch das Thema der schwierigen Nachbarschaftsbeziehungen im Norden mehrfach aufbereitet hatte. Wie Andrea Noble bei der Betrachtung der mexikanischen Filme mit Emigrationsthematik herausstellt, seien infolge von El hombre sin patria zahlreiche Filme entstanden, die eine Warnung vor dem Identitätsverlust bergen, mit dem der Mexikaner in den USA unweigerlich konfrontiert wird.49 Die Fortsetzung der fiktiven Vita von Pito Pérez nähert sich der Nordgrenze und dem US-amerikanischen Anderen allerdings in einer Zeit, in der Mexiko von den USA umworben wurde, da der im zweiten Weltkrieg entstandene Arbeitskräftemangel durch mexikanische Landarbeiter kompensiert werden sollte.50 Folgt man der klassischen Einschätzung von Lesley Byrd Simpson, handelte es sich bei dem Bracero Program für Mexiko um eine eher ungewöhnliche offizielle Einladung aus dem Norden51 , die auf eine vorübergehende Allianzbildung zurückfällt und bis in die zweite Periode der Red Scare reicht, als die Bekämpfung einer allseits vermuteten kommunistischen Infiltration kontinentale Ausmaße angenommen hatte. Auf mexikanischer Seite trugen die im Hacienda Kapitel näher untersuchten Push-Faktoren der Verwaisung der Bauern, des stockenden postrevolutionären Strukturwandels sowie des demographischen Wachstums zu anhaltenden Versorgungsproblemen bei, die die Auswanderungstendenzen in die USA begünstigten und die wirtschaftliche Asymmetrie stabil hielten. Wie Octavio Paz in Laberinto de Soledad, in etwa zeitgleich zum Erscheinen von Pito Pérez se va de bracero schreibt: […] a pesar de todo lo logrado —y ha sido mucho— miles de campesinos viven en condiciones de gran miseria y otros miles no tienen más remedio que emigrar a los Estados Unidos, cada año, como trabajadores temporales. El crecimiento demográfico, circunstancia que no fue tomada en cuenta por los primeros gobiernos revolucionarios, explica parcialmente el actual desequilibrio. Aunque parezca increíble, la mayor parte del país padece de sobrepoblación campesina.52 Genau diese Grundstimmung der gesellschaftlichen Engpässe herrscht im postrevolutionären Mexiko der 50er Jahre vor, als der Landstreicher Pito Pérez infolge einer Verkettung von Zufällen in den Norden aufbricht. Bereits in der einführenden Szene, in der der Protagonist als umherziehender Krämer auf Zuggleisen balanciert, wird die soziale Randständigkeit des Pikaros unterstrichen, die einerseits auf die architextuelle Rolle des Schelms als »halben Außenseiter«53 hinweist, andererseits auf seine nomadische Verfassung, die im kulturellen Gedächtnis Mexikos mit einem rastlosen Norden in 49

50 51 52 53

Der von Noble erwähnte Film La China Hilaria (1939, Roberto Curwood), der vermutlich zum ersten Mal das Thema der mexikanischen Arbeitsmigration in die USA aufgreift, ist in ähnlichem Maße eine Imitation der Vorlage von Contreras Torres wie die im vorhergehenden Kapitel behandelten Filme zum Generationskonflikt im Deckmantel der Amerikanisierung (vgl. Noble 2010, 151f). Vgl. Salas-Porras Soule 1989, 11. Eine jüngere historische Kontextualisierung des Programa Bracero (1942-1964), seiner Vorläufer und seiner Folgen für das 20. Jhd. bietet Burkard 1996, 338f. Byrd Simpson 1963, 311. Paz 2016a, 331. Eine prägnante Diskussion der Gattungsmerkmale des Schelmenromans bietet Bauer 1994, hier 10.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Verbindung gebracht wird (Abb. 121). Der Pikaro als klassischer Grenzgänger54 ist einerseits die komische Version der Outlaws, die während der mexikanischen Revolution in der Grenzregion ihr Rückzugsgebiet hatten, und andererseits das historische Echo der Glücksritter und Goldschürfer, die ihr Fortkommen im 19. Jhd. ebenfalls im Norden gesucht haben. Die Prädestination des Pikaros für den Grenzgang als Leitmotiv des cine fronterizo hat dabei eine filmhistorische Familienähnlichkeit mit der US-amerikanischen Figur des Tramp oder Charlot, dem Charlie Chaplin zur Popularität verholfen hatte und dessen Habitus auch für Manuel Medels Version des komischen Landstreichers stilbildend war (Abb. 122).

Abb. 121: Pito Pérez, ein gesellschaftlich stigmatisierter »loco« und »borracho«, der sich selbst als »poeta« sieht (00:35), ist als Schelm auch ein sozialer Grenzgänger, der die internationale Grenzerfahrung sucht. Abb. 122: Die mexikanische Grenze wird in ›The Pilgrim‹ (1923) als Zwischenraum des Außenseiters karikiert, dessen einzige Rettung in einer wörtlich genommenen Gratwanderung zwischen der US-amerikanischen Justiz und der mexikanischen Rechtsfreiheit zu liegen scheint.

Chaplinesk ist die Figur des Pito Pérez auch, weil sie ebenfalls einen gutmütigen Anarchisten repräsentiert, dessen soziologische Devianz letztlich auf die Unvollkommenheiten des Establishments hinweisen möchte. Als rhetorisch versierter Taugenichts bindet auch der mexikanische Schelm die nationalen Sympathien an sich. Die im USamerikanischen Film übliche Stereotypisierung des mexikanischen Anderen wird in Alfonso Patiños Gegendarstellung nicht mit den Ressentiments oder dem blanken Zorn eines unbewältigten historischen Traumas kompensiert, sondern mit einer komischen Enthebung der kulturellen Gegensätze. Der comic relief als Antwort auf die Vernichtungsphantasien gegenüber dem greaser und ewigen Unruhestifter in den borderlands hat eine therapeutische Wirkung auf den überstrapazierten Antagonismus, der an der einschlägig imaginierten Nordgrenze zur Konvention geronnen ist. Der gracioso, wie Pito Pérez sich in der Romanvorlage selbst bezeichnet55 , ist gerade kein gemeingefährlicher bandido der zur Strecke gebracht werden muss und repräsentiert vielmehr einen

54 55

Vgl. Bauer 1994, 10f. Romero 2007, 27.

365

366

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

romantischen Anti-Macho, der den üblichen Gedächtnisschatz zum finsteren border shifter unterläuft.56 Die Erfahrung der Grenz-Mnemotopie aus der Perspektive des gutmütigen Sonderlings deutet auf eine mexikanische Aufwertung der Figur des Wanderarbeiters hin und bietet einen humorvollen Ansatz, die von jeher schwelenden Grenzkonflikte beizulegen. Dass die moralisatio des Schelms dabei in gleichem Maße an das postrevolutionäre mexikanische Establishment gerichtet ist, wird zu Beginn des Films mit seiner Verbannung aus der mexikanischen Dorfgemeinschaft angedeutet. Auch auf mexikanischer Seite wird der Nomade ausgegrenzt, was sich in milden Haftstrafen und einer wohlwollenden, paternalistischen Verständnislosigkeit der etablierten Ordnung gegenüber dem mexikanischen Charlot ausdrückt. Der unverbesserliche Status eines gesellschaftlichen Parias wird von Pito Pérez selbst aus der Distanz eines moralisierenden Beobachters kommentiert: »La ley no perdona a los pobres«, hält er einem gutmütig auf den Schelm einredenden Kommissar entgegen. »Yo he de ser malo hasta el fin, celoso del bien ajeno porque nunca he tenido bien propio, maldiciente, porque es mi venganza contra los que me desprecian. No tengo fe en nadie, porque nadie cree en mí, ni respeto a nadie … nadie me respeta« (7:35). Der Teufelskreis der Randständigkeit, der Pito Pérez nicht entkommen kann, birgt Hinweise auf soziale Mechanismen im Schoß der Gesellschaft, die den Schelm ebenso wie viele andere an die nationalen Grenzen treibt und, wie im kulturellen Gedächtnis zur Frontera verankert, die Nordgrenze zum anthropologischen Sammelpunkt für deviante Subjekte erklärt. Auf der Flucht vor dem institutionellen Korsett wird der Maulheld und Drückeberger – eine Karikatur des sentimentalen Revolutionärs – von einer Gruppe von Braceros aufgenommen, die im »Tren del Norte« (10:05) reisen. Seine Selbstqualifikation als »nadie« und als »pobre hombre con el alma rota« (6:30) spielt ihn damit einem Kollektiv von Gleichgesinnten zu, die sich ebenfalls auf der Flucht vor dem Gesetz oder der Armut befinden und aus dem mexikanischen Kernland an die Peripherie und darüber hinaus gedrängt werden. »Aquello se puso muy malo,« sagt einer der braceros in einem gleichsam überhistorischen Lamento des Emigranten, »y nos dijeron que en los Estados Unidos el dinero se barre con escoba« (14:49). Die Attraktivität des barbarischen Nordens ist in Mexiko aber kaum älter als der Goldrausch in Kalifornien, der 1848, just nach der Abtretung der Territorien an die USA, viele Glücksritter auf beiden Seiten der neu formierten Grenze angezogen hatte. Jene »verwahrloste Kolonie«, die die Vereinigten Staaten »endlich« aus Mexikos Händen gerissen hatte, wie Stefan Zweig in seiner Verarbeitung des Eldorado-Mythos schreibt57 , wird Ende des 19. Jhd. zur immer stärker frequentierten Zielregion für Mexikaner, die sich als Erntehelfer oder Gleisarbeiter verdingen. Auch im 20. Jhd. büßt das Überqueren der Nordgrenze sein Heilsversprechen 56

57

Bereits der Name Pito verweist auf die Harmlosigkeit des Helden, denn es führt zurück auf seine Vorliebe für selbstgeschnitzte Flöten, die er zum Leidwesen der Einwohner seiner kleinen mexikanischen Heimat allerorten spielte, wie es in der Romanvorlage heißt (vgl. Romero 2007, 25). Die positive Umwertung des Grenzgängers macht Pito Pérez damit nicht zum gay latin bandit, der in der kulturellen Folklore beider Nationen vor allem von der Figur des Zorro besetzt ist (vgl. Ortega Torres (2010b)), sondern zum traurig-komischen Prügelknaben gesellschaftlicher Strukturzwänge, die ihn zum nomadischen Leben und letztlich auch zum Grenzübertritt bewegen. Zweig 1977, 101.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

nicht ein, so dass Kalifornien die Ortslogik eines Zielpunkts beibehält, den die braceros als gelobtes aber letztlich fremdes Land anvisieren, auch wenn die vielen spanischen Toponyme unverkennbare Reminiszenzen an die territoriale Vorgeschichte darstellen. An der Grenze selbst macht sich dann bemerkbar, wie der im nationalen Latenzgedächtnis ausgelagerte Verlust der Nordterritorien übersetzt wird auf eine Alltagserfahrung der Unterlegenheit angesichts US-amerikanischer Autorität. Die historisch präfigurierte Hierarchie wird verschärft von der Spannung zwischen den Bittstellern des México mutilado auf der einen und den rigorosen Grenzhütern auf der anderen Seite. Von einem mafiösen Menschenhändler mit den nötigen Papieren versorgt, muss Pito Pérez sich der Gesinnungsprüfung am Grenzposten stellen, kann aber die ideologische Brandmauer problemlos passieren. Auf die Frage, ob er im Kriegsfall für die Ideale der USA kämpfen würde, so wie es seine compatriotas im ersten Weltkrieg getan hatten, antwortet der gerissene Schelm mit einem Verweis auf den panamerikanischen Zusammenhalt: »Pues, mire usted, aunque no me gusta meterme donde no me llaman, iríamos codo con codo. Pero si acabamos de firmarlo en Rio de Janeiro, ¿o usted no se ha enterado?« (25:52) (Abb. 123). Indem er auf den Tratado Interamericano de Asistencia Recíproca (1947) anspielt, in welchem die amerikanischen Nationalstaaten sich kurz zuvor auf eine enge Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung im Kriegsfall verständigt hatten, beruft sich Pito Pérez bei seinem Vorstoß auf eine kontinentale Bündnistreue. Die mexikanische Erinnerung an die historischen Verwerfungen und an die US-amerikanischen Kanonenbootdiplomatie, die den General Santa Anna zur Unterzeichnung der texanischen Unabhängigkeit gedrängt hatte, würde möglicherweise in der Beteuerung eines panamerikanischen Verbunds verblassen, wäre da nicht der krasse Gegensatz zwischen dem kleinen Pikaro und den US-amerikanischen Behörden. So wie der Einfall und Bildersturm der Spanier bereits die Aura der RuinenMnemotopie charakterisiert hatte, werden die »stigmates de la défaite«58 in der grenztypischen Identitätsstabilisierung der mexicanidad auf das vorbelastete Verhältnis zu den USA überschrieben. Nur das raffinierte »Stigma-Management«59 ermöglicht Pito Pérez letztlich, die in der Mnemotopie der Nordgrenze eingebettete Unvereinbarkeit der Kulturen zu überspielen und in die andere Welt zu gelangen, auch wenn er auf US-amerikanischer Seite den Status des ewig unrechtmäßigen Eindringlings nicht loswerden kann. Dass die grenztypische Gesinnungsprüfung Hand in Hand geht mit utilitaristischen Überlegungen der Einreisebewilligung, sieht man bereits in der darauffolgenden Sequenz, in der Pito Pérez sich von seiner Kramware trennen muss, weil er die Zollauflagen nicht erfüllen kann. Der Grenzübertritt erfährt hier ihre Bedeutungsaufladung zu einem symbolischen »Reinigungsbad«, das »die Auslöschung des zurückgelassenen, mit Makeln und Lastern behafteten Daseins«60 zu einer Zutrittsbedingung in die Gegenwelt erklärt. Dass Pito Pérez sich auch von den mexikanischen Fähnchen trennen

58 59 60

Augé 2003, 24. Vgl. Bauer 1994, 11. Koschorke 1990, 219.

367

368

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Abb. 123: Der legale Übertritt in die Gegenwelt ist nicht ohne ein Bekenntnis zur Ergebenheit zu bewältigen, die ein mexikanischer Einwanderer im Ernstfall unter Beweis stellen müsste. Abb. 124: Die Besteuerung der »chucherías«, darunter der mexikanischen Fähnchen, ist eine Auflage, die der mittellose Schelm nicht erfüllen kann und zu einer symbolischen Tabuisierung des Eigenen in der Fremde wird.

muss, unterstreicht die nationale Größenordnung des Schwellenopfers sowie die »despot duality«61 , die das Verhältnis der benachbarten Nationalkollektive prägt (Abb. 124). Die Dominanz empirischer Welterfahrung, die Michail Bachtin in Schelmenromanen hervorgehoben hat, lässt die Grenze zu einem Knotenpunkt des pikaresken »Chronotopos des abenteuerlichen Alltagsromans«62 werden. Hier enden die periodischen Formen der mexicanidad und hier findet gleichzeitig die Übersetzung der Grenz-Mnemotopie in alltagsgeschichtliche Begebenheiten statt. Die im kulturellen Gedächtnis Mexikos negativ besetzte Nordgrenze wird in Form einer negativen Alltagserfahrung aktualisiert, denn die historischen Gebietsverluste finden einen Widerhall in den peinigenden Grenzritualen der körperlichen und ideologischen Hygiene. Die Verschränkung der Gegenwart mit der Vergangenheit ist jedoch nur in latenter Form vorhanden, so dass die heiße Mythomotorik einer langfristigen Defizienzerfahrung kaum zur Geltung kommen kann oder höchstens in einer patriotischen Reaffirmation einer rückwärtsgewandten mexicanidad aufscheint, wie im nächsten Schritt näher untersucht wird. Fuentes Verständnis der Nordgrenze als einer historischen Narbe korrespondiert in Bracero-Filmen typischerweise mit der »alma rota« (6:30) der Grenzgänger, die von keiner der Seiten assimiliert werden wollen, genauso wenig wie das Grenzgebiet selbst mitsamt den darin eingebetteten Verlusterfahrungen. Da der Schelm seiner kleinen Welt im mexikanischen Kernland verbunden bleibt, wird behält der Norden seine Logik der Transitzone bei und bestätigt die einschlägige Besetzung der Grenz-Mnemotopie mit einem Bewusstsein für riskante Passagen. Im patriotischen Anstrich des Films wird die Vorführung der Mexikaner an der Grenze jedoch von einer viel größeren Bewährungsprobe in den Schatten gestellt, die

61 62

Anzaldúa 1987, 19. Bachtin 2008, 87 und 93.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

der Schelm in einer karnevalesk verkehrten Gegenwelt auf sich nehmen muss. Der ersehnte Wohlstand al otro lado erweist sich als ein dubioser Zivilisationsfetisch. Aus Pito Pérez Blickwinkel erscheint der US-amerikanische Fortschritt in einem neopikaresken, befremdlich-düsteren Licht der puritanischen Lustfeindlichkeit und Ausbeutung – eine Offenbarung, die der Nostalgie nach einem traditionsbewussten mexikanischen Heimatideal in die Hände spielt.

3.1.2.

Retrograde Selbstvergewisserung

Wie in der anfänglichen Kontextualisierung der Nordgrenze nahegelegt, spielt die pikareske Transgression ein tendenziell ahistorisches Raumbewusstsein aus, so dass die Grenzräume allenfalls eine latente Mnemotopie bilden, die eine »unbewusste Dimension des kollektiven Gedächtnisses«63 speichert. Das Erleben der räumlichen Unmittelbarkeit erfolgt in Pito Pérez se va de bracero, wie auch in vielen anderen wesensverwandten Bracero-Filmen, im Modus einer Grenzüberquerung, die ein Verbleiben an der Grenze selbst als unerwünschten Ausnahmezustand markiert. Dass die Grenze als ahistorischer Nicht-Ort im Sinne Augés dennoch den Charakter eines Ortes besitzt, wird im Stigma einer diskreditierten nationalen Zugehörigkeit manifest, die ein ausreisender Mexikaner an der Grenze zu spüren bekommt, wodurch die Grenze mit ihren bürokratischen Ritualen der Selbstvergewisserung in typologischer Nähe zu Bachtins Chronotopie der Schwelle und der ihr immanenten Krisenhaftigkeit steht.64 Der bürokratische Zwang zum Verweilen an den liminalen Orten, die im Raumbewusstsein des Cine de Oro das Stigma der Devianz vor sich hertragen, führt mitunter auch zur doppelten Logik der Grenzsäume, die Transitzonen und dauerhafte Lebensräume zugleich sein können. In Pito Pérez se va de bracero ist es vor allem die Qualität der Grenze als Andachtsort des Nationalbewusstseins, die die eingangs postulierte Prädestination der Grenz-Mnemotopie für Prozesse der Identitätskonkretisierung zum Zuge kommen lässt. Bereits auf dem Weg in die US-amerikanische Gegenwelt holt Pito Pérez immer wieder zur »Schelmenschelte«65 aus, um die Verhältnisse innerhalb Mexikos anzuprangern, etwa dass die Wählerstimmen in Mexiko gekauft seien, oder dass die Bevölkerung eine leichtgläubige Schafsherde (»manada de borregos« (12:50)) darstelle. Auch wenn die mexikanischen Fähnchen in seinen Bastkörben etwas anderes vermuten ließen, nimmt er sich kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die empirische Lebenswelt von seiner Außenposition aus zu verurteilen. »México es un gran país que produce«, behauptet er im Plausch mit den anderen Wanderarbeitern, »produce hasta braceros para los Estados Unidos« (19:24). Was wie ein kecker Seitenhieb auf den Nationalstolz anmutet, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine mexikanische Selbstvergewisserung aus einer Opferperspektive, die Pito Pérez sogleich in einem größeren historischen Bogen ausbuchstabiert: Nosotros los mexicanos somos muy ingratos con nuestras propias riquezas, que le entregamos al primero que llega, como en los tiempos de los conquistadores. Nosotros 63 64 65

J. Assmann 2005, 374. Vgl. Bachtin 2008, 186. Vgl. Bauer 1994, 25-31.

369

370

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

quedamos muy satisfechos con gritar el 15 de septiembre »¡Viva México!«, y nos pasamos el resto del año renegando de nuestra mala suerte (20:12) Noch bevor die Braceros an der Grenze ankommen, entpuppt sich die Schelte des mexikanischen Schelms damit als eine patriotische Brandrede. Die Identifikation der mexicanidad mit einer historischen Opferposition von der Conquista, über die Schmach im amerikanisch-mexikanischen Krieg, bis hin zur Bekämpfung der Grenzaktivitäten im Bandit War, zeigt sich hier als eine bereits im Hinblick auf die Ruinen untersuchte mexikanische Automodellierung, die im Falle der Grenze in der Kontiguitätserfahrung eines US-amerikanischen Nationalkollektivs manifest wird und die horizontale Dimension der Grenz-Mnemotopie unterstreicht. Was die Mexikaner nach Pito Pérez, dessen bittersüße Heimatliebe proportional zum Alkoholpegel steigt, brauchen, sind nicht die »dólares«, sondern die »brazos fuertes para labrar nuestra tierra« (20:56). »¡Vuelvan!«, warnt er die Braceros, die sich auf dem Weg in die Anonymität der desarraigados befinden, »que aquí los esperan los brazos buenos de una madre, de su esposa o de sus hijos« (21:10). Die räumlich vorgegebene Eigenschaft des mexikanischen Nordens als Sammelort für »mémoires d’une sorte de télescopage de temps différents«66 hat ihren Höhepunkt im Dialog mit US-amerikanischen Grenzbeamten. Es ist ein offizieller Grenzposten und die gefährliche Offenheit der Grenze ist gegen einen Checkpoint der Border Patrol eingetauscht, an dem die Braceros in einer langen Schlange auf ihre Abfertigung warten. Als Pito Pérez an der Reihe ist, dient ihm die heikle Gesinnungsfrage »¿ha sido o es usted comunista?« als Steilvorlage für die Inszenierung einer mexikanischen Überidentifikation mit der Vergangenheit: »Yo soy retrógrado«, bekennt er sich, »no encuentro en el avance de las ciencias nada que pueda superar a lo que lleve yo« (24:52). Das mexikanische Selbstbild, das im Dialog des Pikaros mit der kulturellen Exosphäre aufscheint, steht vollends im Einklang mit einer im Kino der Época de Oro gepflegten Idealen der Entschleunigung und traditionsbewussten Gegenmoderne. Die Nordgrenze imaginiert als scharfe Kante kultureller Diskontinuitäten bildet im Nationalfilm einen prominenten Ort für zeitresistente Selbstbeschreibungen. Hier offenbart sich auch ein habitualisiertes Gedächtnis zum kulturhistorischen Antagonismus zwischen Mexiko und den USA und wird das mit Hilfe der sozioökonomischer Gegensätze aktuell gehalten. Die interkulturelle Polarisierung der Zeitregime verschärft eine horizontale »combinaison de temps sociaux distincts«67 auf Kosten einer vertikalen »superposición histórica«68 und lässt die Grenze zu einer Front der Zeitempfindungen werden, die Mexiko eine fatalistische Vergangenheitstreue zuschreibt und die USA zum Sehnsuchtsort einer unerreichbaren Zukunft erklärt. In der repetitiven Betonung der kulturellen Hierarchie an der Nordgrenze wird der Sog der topologischen Verzeitlichung damit gegen eine ahistorische Präsenz der Identitätsunterschiede ausgespielt und die vertikale Zeitschichtung der Grenz-Mnemotopie hinter eine zeitlose kulturelle Alterität der USA gerückt.

66 67 68

Foucher 1986, 21. Foucher 1986, 21. Paz 2016a, 240.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

In dieser Logik der nationalen Konsolidierung in der Fremde wird Pito Pérez’ Aufenthalt in den USA zu einem Parcours patriotischer Kontrastierungen. Bereits die erste Arbeitsstation, die als »Ranch« an die landwirtschaftlichen Wurzeln der mexikanischen Matrias erinnern müsste, erweist sich alles andere als ein Rückzugsort der Prämoderne, sondern als eine camouflierte Fabrik und Stätte der industriellen Fließbandarbeit, in welcher die marktwirtschaftliche Maxime »El tiempo es dinero« (32:36) die Gegenwartswahrnehmung überformt (Abb. 125). Der arbeitsscheue Schelm, der sich höchstens auf die »venta de chuchería« (50:18) versteht, hat im US-amerikanischen Taylorismus keinen Platz und entschließt sich mit einem wie in Stein gemeißelten Credo der Gegenmoderne weiterzuziehen: »El trabajo es la maldición divina. Aquí es la maldición mecánica. ¡Qué trabajen las máquinas!« (36:40). Im Sinne einer Bändigung der kulturellen Varianz ist auch bemerkenswert, wie in diesem Paradebeispiel des nationalen cine fronterizo die Verschmelzung der Identitäten außerhalb Mexikos dargestellt wird. Pito Pérez’ erster Vorgesetzter wird ihm von einem pollero, einem zwielichtigen Arbeitsvermittler, als Henry King vorgestellt. Auf Pitos Nachfrage gibt der Chicano aber in gebrochenem Spanisch zu verstehen, dass er eigentlich Enrique Reyes heiße, womit die mexicanidad in den USA einer internen »Isonomie«69 zum Opfer fällt (Abb. 126). Was in der Halbsprachlichkeit des Chicanos natürlich demonstriert werden soll, sind die fatalen Folgen der Loslösung vom ursprünglichen Gedächtniskollektiv, die nach Maurice Halbwachs bekanntlich die wesentliche Ursache für das Vergessen eines milieu- und ortsgestützten Gedächtnisses darstellt.70 Das Assimilationsgebot in der Fremde wird aus der Perspektive der Época de Oro als unabwendbarer Heimat- und Sprachverlust signalisiert, ganz im Gegenteil zu den amerikanischen Assimilationsdramen wie Bordertown (1935), die den Chicano immer wieder an der Grenze als einem Limbus der Unvollkommenen isolieren. Indem der Film an der permanent zwischen den Stühlen sitzenden Volksgruppe der Chicanos das Drama des Selbstverlustes und der im Exil gefährdeten »liens historiques et familiaux«71 demonstriert, wird Pito Pérez … zum Vehikel eines defensiven Nationalismus, der im nachrevolutionären Zeitgeist Mexikos vorgeherrscht hatte. Auch die weiteren Stationen des anpassungsresistenten Pikaros in den USA sind nicht von Erfolg gekrönt. Sein episodisches Scheitern als Tellerwäscher oder Gleisbauer und die vielen Konflikte in der US-amerikanischen Fremde erhärten die Vorstellung von zwei geschlossenen und homogenen Nationalkulturen. Eine natürliche Konsequenz der graduell steigenden Entfremdung ist die Sehnsucht nach der Heimat, die bereits in der ersten Hälfte der Tragikomödie greifbar wird, als Pito Pérez einen Blick auf die sich selbst spielenden Erntehelfer wirft (37:52-39:46). Gleichzeitig appelliert auch die Tonspur an die matriotischen Affekte des Zuschauers, denn der Regisseur Alfonso Patiño unterlegt die dokumentarische Sequenz mit der Canción Mixteca, jener Hymne an

69 70

71

Foucher 1988, 31. Vgl. Halbwachs 1968, 3-11. Die kulturelle Entwurzelung ist das große Thema des cine chicano, das ab den 60ern in Werken wie Los desarraigados (1960), De sangre chicana (1974) oder La jaula de oro (1988) den Identitätsverlust als doppelte Marginalisierung behandelt, die seit der semiotischen Umprägung der annektierten Nordgebiete im 19. Jhd das Bewusstsein der Chicanos prägt. Foucher 1988, 367.

371

372

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Abb. 125: Die amerikanische Ranch erweist sich als Maquila und damit als grobe Verzerrung des mexikanischen Heimatidylls der Ranchera-Romantik. Abb. 126: »En Chahuahua (sic!) Enrique Reyes, pero aquí en los Esteyts, todo hay que traducirlo« (30:55). Henry Kings Assimilation ist gleichbedeutend mit der Aufgabe seiner ›mexicanidad‹.

die rurale Heimat, die seit Allá en el Rancho Grande die mexikanische Nostalgie an sich bindet. Wenn in der Hacienda-Mnemotopie der comedia ranchera der Heimatverlust für vergangenheitsverklärende historische Affekte verantwortlich war, bekommt der markante Stadt-Land-Kontrast im cine fronterizo eine internationale Dimension. Die Sehnsucht nach Mexiko bricht sich schließlich im Kollektiv der gleichgesinnten Legionäre Bahn, deren Akkordarbeit Pito Pérez mit einem spontanen Umtrunk unterbricht: »Yo siempre he dicho que se hace vicio rodar por el mundo«, behauptet der altkluge Schelm bei einer Tasse verdünnter Charanda, »pero siempre hay algo que le devuelve a uno a la patria chica, a sus costumbres, a sus tradiciones, ¡salud!« (56:31). Dass er dabei mit Hochprozentigem aus Michoacán, seiner persönlichen patria chica, anstößt, potenziert seine in Mexiko noch mit Vorbehalten gestandene Heimatliebe. Erst aus räumlicher Distanz wird hier die tradición eterna verklärt und ein nostalgischer Gedächtnisvektor auf das das fixe raumzeitliche Ideal des vergangenheitsfixierten Mexikos gerichtet. Waren die argwöhnischen Beamten an der Grenze Warnschilder vor der mexikanischen Deplatziertheit auf der anderen Seite, so ist die gestelzte mexicanidad, die die cabaretera Joan repräsentiert, ein weiterer Katalysator für Pito Pérez’ Heimweh. Der ahnungslose Schelm wird mit Hilfe des blonden Lockvogels einer obskuren Clique von Menschenhehlern zugespielt und soll helfen, Braceros in den Norden zu schleusen. Bei der interkulturellen Annäherung, die genauso wie im später gedrehten El bracero del año (1964) als komische Juxtaposition von »la gran estrella y el humilde bracero« (1:05:00) funktioniert, wird der Schelm zunächst von der blonden »Juanita« angelockt, die in grellem Kostüm einer Charra das vertraute Lied La paloma anstimmt. Bei näherem Hinsehen erweist sich die Tanz- und Singnummer aber eher als frivole Verwertung der South-of-the-border-Folklore, die der mexikanischen Kultur höchstens einen Platz in der Nische der Mexican-curios-Ästhetik einräumt (Abb. 127). Bei Joan zu Hause findet sich der Schelm daraufhin im vollautomatisierten Komfort wieder, Hausmädchen inklusive, und begegnet damit einem unbehaglichen Kontrastprogramm zum Modell der ruralen mexikanischen Heimeligkeit, das ihn auf seine Kondition des mexikanischen

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Landstreichers zurückführt. Die unmögliche Überblendung der Semiosphären wird im Film recht plakativ versinnbildlicht durch die Unnahbarkeit der lockenden Fremden als einer klassischen Allegorie auf die verheißungsvolle Exotik, hier jedoch im Sinne eines invertierten tropicalismo, der bereits im unmoralischen Gegenangebot des mexikanischen Subalternen in Raíces untersucht wurde.

Abb. 127: Die gestelzte ›mexicanidad‹ einer leicht bekleideten angelsächsischen Adelita erweist sich aus der Perspektive mexikanischer Fremdheit als Lockmittel, mit dem sich Kapital aus nostalgischen Affekten schlagen lässt. Abb. 128: Das Mantra der US-amerikanischen Heimatverbundenheit in der Ästhetik einer Leuchtreklame wird aus mexikanischer Perspektive als Symbol des Heimatverlustes gewertet.

Justo Sierras Anprangerung der »definitiva humillación de la patria«72 bildet in der mexikanischen Pikareske eine latente Hypolepse zur unüberwindbaren Unterlegenheit des Braceros. Das Schlüsselelement der soziokulturellen Unvereinbarkeit ist das Neonschild, das in leuchtenden Lettern »Home Sweet Home«, das Mantra der USamerikanischen Heimatliebe nachzeichnet (Abb. 128). Die falsche Vertrautheit dauert aber gerade einmal bis das Radio einen Streik in Solidarität mit den Minenarbeitern ankündigt, die Stromversorgung gekappt wird. Das Neonschild erlischt und mit ihm kollabiert auch der bürgerliche Komfort, so dass Pito Pérez’ Vorliebe für die vorindustrielle mexicanidad über den robotisierten Fortschritt triumphiert.73 Es ist auch der Zeitpunkt an dem die Illusion der Akzeptanz endgültig umschlägt in das generalisierte Gefühl der Abneigung gegenüber der mexikanischen Präsenz in den USA. Der enttäuschte Schelm wird von der Menschenhehlerbande zurück an die Grenze und das dazu gehörende Zwielicht des Film Noir befördert, wo er vor die unrühmliche Aufgabe gestellt, 72 73

Sierra 1977, 158. Der gewerkschaftlich organisierte Streik, der die bürgerlichen Ordnung gefährdet, ist natürlich ein versteckter Hinweis auf die Komplementarität von USA und Mexiko, die sich hinter dem USamerikanischen Wohlstand verbirgt. Herbert Biberman hat hierzu 1954 den gesellschaftskritischen Film Salt of the earth vorgestellt, der das Erwachen eines Klassenbewusstseins unter Chicanos nachzeichnet, die in den Minen von New Mexico arbeiten. Dass der in der McCarthy-Ära lancierte Film verboten und die mexikanische Hauptdarstellerin nach Mexiko deportiert wurde, unterstreicht den nachhaltig prekären Status der Braceros, die das historische Echo der FrontierMentalität zu spüren bekommen.

373

374

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

das Vertrauen der am Ufer des Rio Bravo wartenden Landgenossen zu gewinnen und sie den polleros auszuliefern, die von der Naivität der Neuankömmlinge profitieren. Am Ende seiner Odyssee in der Gegenwelt ist er damit wieder an der Grenze angekommen, dem Ort mit fataler Anziehungskraft für Nomaden, die sich ohnehin am Rande des Gesetzes oder des Existenzminimums befinden. Der Rio Grande als kulturgeschichtlich gekerbter Grenzfluss wird in der finalen Intrige des Films als Ort einer silent invasion imaginiert, die die nationalen Gedächtniskollektive gefährdet und gleichzeitig stabil hält. Kurios ist dabei, dass es ausgerechnet der mexikanische Schelm ist, der die Frontier-Mentalität präsent hält und indirekt die Maxime befolgt, dass eine offene Grenze vor Einflüssen von außen geschützt werden müsse. Pito Pérez fügt sich nämlich nur widerwillig seinem Auftrag der Beihilfe zur illegalen Einwanderung und versucht noch im letzten Moment die Braceros von dem riskanten Unterfangen abzubringen. Seine negative Migrationserfahrung, die Hinweise auf die miesen Arbeitsbedingungen und das fade Essen, das nicht für den mexikanischen Gaumen bestimmt sei, können die in den Norden drängenden paisanos jedoch kurz vor ihrem Ziel nicht mehr zur Umkehr bewegen. »Por la raza hablará el espíritu … de la fatalidad« (1:15:47), persifliert er die patriotische Devise von Vasconcelos und äußert damit seine ironische Verbitterung über die mexikanischen Grenzbewegungen, die zum Scheitern verurteilt sind. Pito Pérez’ nächtliche Rückführung an die internationale Grenze ist daher nur das widerwillige Zugeständnis an die Schleuser, die den Stromausfall für einen Coup der grenztypischen Schattenwirtschaft ausnutzen wollen. Die einseitige Thematisierung des Menschenhandels als rein mexikanisches Phänomen unterschlägt allerdings die die US-amerikanische Nachfrage nach billigen Arbeitskräften, wie sie in Border Incident (1949) oder im weiter unten behandelten Emigrationsdrama Espaldas mojadas (1955) aufscheint. In der verkürzten Darstellung der silent invasion wird damit ein kulturelles Gedächtnis stabilisiert, das die Prädestination der Grenzorte für illegale Exzesse auf die mexikanische Seite abwälzt und die Wahrnehmung der Grenze als Zivilisationsfront erhärtet. In dieser Grenzbehandlung steckt der implizite historische Kommentar, mit dem die territoriale Abtretung im 19. Jhd. zu einer unhintergehbaren historischen Fügung erklärt wird, so dass jede Überschreitung der Nordgrenze zum unrechtmäßigen Vorstoß in eine tabuisierte Außenwelt wird. Für den Schelm, der ausgerechnet an der Grenze sein subversives Potenzial einzubüßen scheint, wird die auferlegte Grenzführung im Sinne einer kalten, konservativen Mnemotopie handlungsleitend, womit der rituelle Grenzgänger sich der US-amerikanischen Grenzhoheit unterordnet. Da die Gefahr des Identitätsverlusts im Verhältnis zur wirtschaftliche Ausbeutung der Braceros als größeres Skandalon bewertet wird, bleibt der Grenze nur die Funktion eines kriminellen Zwischenraums vorbehalten, während die Figur des border shifters zum potenziellen Vaterlandsverräter verkommt. Die Abwertung des Grenzsaums, die im US-amerikanischen Kino Tradition hat, wird im Bracero-Film auch von mexikanischer Seite vorgenommen, wobei die bewaffneten und in zoot suits74 gekleideten Grenzganoven zu den eigentlichen Sün74

Der moderne greaser, der auch in den erwähnten mexikanischen Filmen Frontera Norte oder Aventurera eine zentrale Rolle spielt, entsteht während der Prohibition (1919-1933) und ist nach Vorbild von Al Capone idealtypisch mit einem Filzhut und einem zoot suit bekleidet. Die kinematographi-

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

denböcken der schwelenden Konflikte zwischen den USA und Mexiko erklärt werden (Abb. 129).

Abb. 129: Der nostalgische Schelm im Zwischenraum der organisierten Schattenwirtschaft der ›coyotes‹ und ›polleros‹. Abb. 130: Der gerührte Heimkehrer und die Anerkennung unüberwindbarer Differenzen, die sogar für einen ewigen Grenzgänger bindend sind.

Auf der anderen Seite wartet bereits die allgegenwärtige Border Patrol auf die Neuankömmlinge und damit auch der kollektive Haftbefehl, eine Gerichtsverhandlung und die unabwendbare Deportation. Für Pito Pérez, der als Komplize des »tráfico ilegal de braceros« (1:19:51) angeklagt wird, ist die Rückführung in die mexikanische Heimat aber sehr willkommen. In seinem Plädoyer, das die Dialektik der Schelmenschelte und Schelmenbeichte vereint, versucht er den Richter zu einer milden Strafe zu bewegen: »No creía que hubiera legalidad o ilegalidad en entrar a un país amigo«, sagt er zur Rührung und Erheiterung des vollen Gerichtssaals. »En el mio«, hält Pito dem Richter vor, »encontramos por todas partes güeritos como usted, y no se nos ocurre preguntarles, si su presencia en México es legal« (1:20:01). Auch wenn Pitos Aufrichtigkeit eine kaschierte Anprangerung der Ungleichheit enthält, sorgt die unfreiwillige Komik des vorgeführten Schelms nur für Gelächter im Saal. Als Spiel im Spiel wird der aussichtslose Gerichtsprozess zu einem didaktischen Dispositiv für das mexikanische Filmpublikum, das darauf eingestimmt wird, dass illegale Einwanderer nie ungeschoren davon kommen, und dass die bilateralen Beziehungen von unüberwindbaren Gegensätzen gezeichnet sind. Auf kollektiver Bedeutungsebene handelt es sich hier um den beschwichtigenden Impuls der »nationalistic pleasure«75 in Filmform, denn es ist der Versuch, das amerikanische Invasionsphantasma zu lindern und die negative Mnemotopie der Grenze mit dem Glauben an die Good Neighbor Policy zu relativieren, die die doppelbödigen panamerikanistischen Diskurse der Zeit bestimmt hatte. Das Urteil, »bajo la custodia de

75

sche Verfolgung zwielichtiger Hispanos ist ein Motiv des Film Noir beider Nationalfilmkulturen, das in den Zoot Suit Riots von 1943 eine realhistorische Entsprechung besitzt (vgl. Byrd Simpson 1963, 300). Noble 2010, 158.

375

376

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

las autoridades migratorias« deportiert zu werden, ist für den unfreiwilligen Frevler letztlich eine als Segen empfundene Eskorte in die Heimat.   Das zirkulär aufgebaute Sujet des Road-Movies mit dem emblematischen Alternativtitel El emigrante endet bezeichnenderweise mit der »Canción del Repatriado«, die Pito Pérez mit einer großen Gruppe ebenfalls heimkehrender Braceros anstimmt. Im Gegensatz zur Ausreise ist die Stimmung im Zug natürlich eine andere, denn die Aussicht auf eine unbehagliche Fremdheit zu Beginn des Films weicht nun der Euphorie über die bevorstehende Wiedererlangung der »liens historiques et familiaux«76 . Pito Pérez Strophe, die er unter Tränen und mit zitternden Stimme singt, untermauert die Grenzerfahrung als eine prise de conscience der unumgänglichen Zugehörigkeit zum mexikanischen Nationalkollektiv: Soy mexicano primero/luego soy de Michoacán./Ya no vuelvo al extranjero,/que es muy amargo su pan. (1:25:15) (Abb. 130) Die Bekehrung des Schelms, der seine regionale Herkunft einem nationalen Kollektivsingular unterordnet, erscheint als sentimentale Repatriierung eines Abtrünnigen. Hinter dem bitteren Brot des Auslands verbirgt sich natürlich die harte Brotarbeit des Braceros, die im Film als nicht lohnenswert inszeniert wird. Dass die Nordgrenze dabei in der Tradition eines historisch entleerten Raums dargestellt wird, weist auf eine Topophobie hin, die in der kinematographischen Grenzfolklore durch die Zeiten getragen wird. Auch in diesem Fall ist in der Missbilligung der Nordgrenze eine implizite Weigerung enthalten, dem Grenzraum einen positiven Ortscharakter zu geben und diesen vom Stigma der Barbarei zu befreien. Das mnemotopische Ortsverständnis der Nordgrenze als barbarischer Zwischenraums bleibt daher erhalten, allerdings nur in latenter Weise, überschattet von einem zeitlosen Bewusstsein für einen übermächtigen Nachbarstaat. Die wundersame Repatriierung des Schelms, die man in Anlehnung an Mircea Eliades Diskussion kultureller Initiationsriten als symbolische Wiedergeburt eines Verstoßenen ansehen kann, deutet zwar auf die Reintegration der Braceros hin, verharrt aber im Zustand eines idealisierten regressus ad uterum77 , da die Rückkehr nach Mexiko als eine definitive Rückkehr in die Vergangenheit anmutet. Pito Perez’ Heimreise in die mexikanische Matria nach seiner leidvollen Erfahrung der Schattenseiten des US-amerikanischen Fortschrittsglaubens mündet damit in eine offen bekannte »idolatría de la tierra«78 , die in den Bracero-Filmen gleichermaßen wie in der comedia ranchera zelebriert wurde. Hier stößt man erneut auf das Problem der national aufgeteilten Chrono-Diversität, die das Mexiko-Ideal der Época de Oro immer wieder auf ein prämodernes Heimatidyll zurückwirft. So wie Octavio Paz Mexiko im Vergleich zu den USA als »tierra de pasados superpuestos«79 fasst, führt die Opposition der Zeitregime in Pito Pérez se va de bracero letztlich auch in eine retrograde Einbahnstraße. Die differente

76 77 78 79

Foucher 1988, 367. Vgl. Eliade 1961, 197f. González 1995, 26. Paz 2016a, 480.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Zeitwahrnehmung, mit der Paz die Zivilisationsfront motiviert, behält Mexiko als einem der »pueblos […] que tienen los ojos fijos en el pasado«80 eine untergeordnete Rolle im Dialog mit den USA vor. Spitzt man die monodimensional auf die Zukunft gerichtete Fortschrittsdefinition zu, ist der gesellschaftliche Fortschritt Mexikos unumgänglich an eine Imitation US-amerikanischer Modelle gebunden, so dass die USA in dieser simplen Triangulation der Zeiten zur uneinholbaren Hegemonialmacht erklärt wird, die ein Monopol auf die Zukunftsentwürfe für sich beansprucht. Die Fortschrittsfeindlichkeit des Schelms im Exil, die Bachtins historischer Inversion81 , also der Zukunftsmodellierung im Einklang mit einer verklärten Vergangenheit nahekommt, unterstreicht die klassische Funktion der Grenze als Kultur- und Zeitfront, die eine Transkulturation als positiv verstandene Kontamination der Semiosphären hinter die Polarisierungstendenzen des Nationalfilms stellt und damit auch hinter ein zentralistisches Domestikationsbedürfnis des kulturellen Gedächtnisses. Wie auch im Falle der Haciendas und Ruinen wird die Grenz-Mnemotopie im Paradigma des defensiven Nationalismus zum gesellschaftlichen Sammelort für Rückversicherungen des Eigenen und der kollektiven Suche nach einer kulturellen Kontinuität. Die kompensierende Funktion der Grenz-Mnemotopie für die konfliktreiche Beziehung zum nationalen Außenraum soll im nächsten Schritt an einem ungleich bekannteren Bracero-Film demonstriert werden. Auch im zweiten Fall wird der Schatten des coloso del Norte an der Grenze ausgelagert. In Espaldas mojadas wird die grenztypische Topophobie jedoch abgewälzt auf die Figur eines korrupten US-amerikanischen Ausbeuters, dessen Vordringen auf die mexikanische Seite mit einer Ausweisung sanktioniert wird, die die Logik eines makabren identitätsstabilisierenden Rituals besitzt. Im Hinblick auf die filmgestützte Gedächtnisarbeit an der Nordgrenze wird im nächsten Filmbeispiel ein wesentlicher Unterschied greifbar: Trotz einer ähnlich zirkulären Sujetfügung, die charakteristisch für das cine fronterizo ist, beginnt und endet das Narrativ der illegalen Reise nicht im mexikanischen Kernland, sondern in der nationalen Peripherie. Am Beispiel der Grenzstadt Ciudad Juárez wird in der Exposition des Films eine latente Arbeit am historischen Bewusstsein zu den verlorenen Territorien vorgenommen. Auch wenn mit der Rückführung der Chicanos als verlorenen Kindern der Nation die geopolitische Veränderung im 19. Jhd. letztlich anerkennt und die Grenze als »fixed, inmutable line«82 bestätigt wird, kann man in Espaldas Mojadas dennoch stärkere Züge einer kollektiven Gedächtnisdynamik erkennen. Die latente Mnemotopie der Nordgrenze, die üblicherweise hinter den außenpolitischen Spannungen der Gegenwart verborgen bleibt, bietet im zweiten Filmbeispiel eine schonungslosere Reflexionsvorlage zu historischen Wunden der Zeit.

80 81 82

A. a. O., 478. Vgl. Bachtin 2008, 74-79. Noble 2010, 158.

377

378

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

3.2.

Espaldas mojadas (1955)

3.2.1.

Zensierte Umschreibung der Grenz-Mnemotopie

Von ähnlichen binationalen Disjunktionen durchzogen wie Pito Pérez se va de bracero ist auch Espaldas mojadas, eine populäre mexikanische Verarbeitung der Nordgrenze als einem kulturellen Schwellenort mit vernachlässigter historischer Tiefendimension. Die Grenze in Alejandro Galindos Bracero-Film entspricht einem liminalen Durchgangsort, den die Vertreter der »población flotante«83 bei ihrer Ausreise passieren müssen. Die Absteckung des Nationalterritoriums im Sinne einer »conscious, self-protective policy, linked to the preservation of imperial-dynastic interests«84 , die Benedict Anderson als unweigerliche Begleiterscheinung des Nation-Building begreift, wird bereits im expositorischen Lauftext vollzogen: Los personajes de esta narración no son reales sino representantes simbólicos de la situación que puede crearse cuando alguien se coloca al margen de la Ley y la narración misma no consigna hechos verídicamente históricos. El autor ha combinado hechos ocurridos en fronteras de distintos países, para formar un todo de interés dramático. Nuestro propósito es advertir a nuestros connacionales de la inconveniencia de tratar de abandonar el país en forma ilegal, con el riesgo de sufrir situaciones molestas y dolorosas que podrían hasta crear dificultades en las buenas relaciones que venturosamente existen entre ambos pueblos. (1:52-2:25) Auffällig bei dieser offiziellen Botschaft ist der von vornherein etablierte Ortssinn der Grenze, der einer Beziehungspflege zu den USA unterstellt wird und dem Zweck dienen soll, Mexiko als good neighbor zu porträtieren. Die volkserzieherische Stellungnahme entstand vor dem Hintergrund einer kulturpolitischen Intervention der USA, der die Darstellung der Einwanderungspolitik zu negativ erschienen war, so dass die Veröffentlichung des Films für zwei Jahre auf Eis gelegt war.85 Da die mexikanischen Behörden den Forderungen des US-amerikanischen Außenministeriums mit einer Zensurmaßnahme entsprachen, war eine kritische Neubewertung der an der Nordgrenze gepflegten bilateralen Verhältnisse zunächst vereitelt. Am Beispiel von Espaldas mojadas wird daher die prinzipielle Schwierigkeit des Umschreibens86 der Mnemotope während der

83 84 85 86

Vanneph/Revel-Mouroz 1994, 14. Anderson 1991, 159. Vgl. Noble 2010, 152. Der Begriff des »Umschreibens« lehnt sich an eine geschichtstheoretische Trias historiographischer Evolution an, die Reinhart Koselleck entwickelt. Prozesse historischen »Umschreibens« stellen nach dem »Aufschreiben« als Festhalten von Primärerfahrungen und dem »Fortschreiben« als deren Akkumulation und Einrücken in größere Sinnzusammenhänge, eine Phase der Neukonstitution und Revision überlieferter Erfahrungswerte (vgl. Koselleck 2013, 34-67). Zwar ist Kosellecks Dreischritt keineswegs deckungsgleich mit Nietzsches Trias historischer Wahrnehmungsmuster, doch lässt sich im Modus des Umschreibens, sofern dieser in Opposition zu fixierten Geschichtsbildern steht, unschwer Nietzsches Vorstellung von einer »kritischen Historie« erkennen, die auf eine Denaturalisierung scheinbar gesicherter Wissensbestände der monumentalischen und antiquarischen Perspektiven setzt (vgl. Nietzsche 1988, 269-270).

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Época de Oro erkennbar, mit dem offizielle Geschichtsbilder dennoch herausgefordert wurden – in diesem Fall durch eine Hinterfragung herkömmlicher Grenzprobleme, die einer Neuverhandlung der mexikanischen Einreiseauflagen in den Norden gleichkam. Gleichwohl kann auch die nachträgliche Präambel nicht verbergen, dass der Film die USA zur Mitverantwortung für die grenztypische Kriminalität ziehen wollte. Galindos skeptischer Blick auf den Nachbarstaat rückt vom Grenzbewusstsein seines Frühwerks Almas rebeldes ab, das darin bestand, den Übertritt als alternativlosen Ausweg für mexikanische Dissidenten aufzuwerten. Knapp zwei Jahrzehnte später richtet er die Kamera ein weiteres Mal auf die Grenze und inszeniert sie erneut als die tödliche »site of transgression«87 , um die sich das Sujet rankt. Ihre konkrete Entstehungsgeschichte, die Horogenese, ist auch diesmal vernachlässigt und damit auch das historische Bewusstsein für die relativ junge Trennung der Orte Ciudad Juárez und El Paso, die erst zum rapiden Wachstum der Zwillingsstädte88 im 20. Jhd. beigetragen hatte. Bereits im Vorspann als »próspera ciudad fronteriza« (00:10) betitelt, erfährt Ciudad Juárez zunächst eine zensurbedingte Korrektur ihrer konventionellen Symbolik des grenznahen Sündenpfuhls. Das vage Gedächtnis an einen Schattenort wird von der Stimme des allwissenden Erzählers nur heraufbeschworen, um eine Imagepflege vorzunehmen und einer Zäsur zu ermöglichen, die die vorbelastete Vergangenheit für abgeschlossen erklärt: Esto es Ciudad Juárez, ciudad fronteriza entre los Estados Unidos Mexicanos y los Estados Unidos de Norteamérica. En otros tiempos, centro de vicios y crímenes de sangre, guarida de malhechores, tahúres y contrabandistas internacionales, hoy en día Ciudad Juárez está dedicada al trabajo, cuyo ritmo de laboriosa vida se ve alterado por los continuos incidentes internacionales, que provocan los braceros, trabajadores manuales mexicanos que van atraídos al país del norte, deslumbrados por el brillo del dólar. (2:37-3:10) (Abb. 131) Indem Galindo die Stadt von der schwierigen Vergangenheit reinzuwaschen versucht, verlagert sich die Ursache gegenwärtiger Grenzprobleme auf die indocumentados, die, angelockt von trügerischen Aussichten auf materiellen Wohlstand, aus dem Landesinneren in die USA drängen. Der nationalistische Vorstoß, mit der die Reputation der Nordgrenze aufgebessert werden sollte, ist hierbei auch als Antwort auf die Willkür USamerikanischer Außenpolitik zu verstehen: Während der Film sich in der auferlegten Revisionsschleife befand, wurden in der Operation Wetback (1954) viele illegale Einwanderer, die den Willkommenssignalen des Bracero Program (1942-1964) gefolgt waren, zurück nach Mexiko deportiert. In der Exposition des Films wird der Kamerablick von Ciudad Juarez nach El Paso geschwenkt, so dass bereits der Establishing-Shot eine visuelle Grenzüberschreitung

87 88

Vgl. Nünning 2013, 759. Als ciudades gemelas werden in Bezug auf den mexikanischen Norden die zahlreichen Orte bezeichnet, die durch die Grenze voneinander geschiedene binationale Doubletten bilden. Die Bezeichnung ist angesichts der Asymmetrien natürlich irreführend, da die geschlossene Grenze eher eine »›bifurcación‹ de la evolución« bedingt und die Bezeichnungen »falsas gemelas« oder »lugares de diferencia« präziser wären (vgl. Vanneph/Revel-Mouroz (1994)).

379

380

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Abb. 131: Die Botschaft auf der Tram »Juárez, Mex. welcomes you!« ist einseitig an die Nachbarn gerichtet, während die »Farmacia Ideal« als unfreiwilliges Stichwort für eine propagandakritische Lektüre des Films gesehen werden kann. Abb. 132: Der mexikanische Blick auf die Skyline von El Paso suggeriert die räumliche Nähe und gleichzeitig eine absolute Distanz. Der unerreichbare Horizont wird hier lesbar als ein unerreichbares Zukunftsideal.

nachzeichnet, während die Erzählerstimme das Klischee des gelobten Landes im Norden kommentiert: Al otro lado del rio está el Paso, ciudad fronteriza norteamericana, en otros tiempos conocida como el paso del norte. Puerto de entrada a ese país que 40 años de cine lo han hecho aparecer ante el mundo como una nación donde todos sus habitantes son felices y donde todo se cuenta por millones. (3:14-3:33) Auffällig sind die metafiktionalen und medienreflexiven Signale des Films, der keinen Hehl daraus macht, dass die Kinematographie der historischen Bewusstseinsbildung sowie den Mechanismen der Selbst- und Fremdmodellierung enormen Vorschub geleistet hat. Das Kokettieren mit dem American Dream wird in dieser medienkritischen Lesart natürlich auf das Sendungsbewusstsein von Hollywood als einer Dream Factory zurückgeführt. Es ist jedoch eine Erkenntnis, die der Film indirekt auch gegen sich selbst und die patriotische Ausschlachtung eines brisanten politischen Themas richtet, denn Galindo holt nachfolgend zu einer nicht minder umstrittenen Gegendarstellung aus: De este lado es México, donde todavía se habla en español y se canta a la virgen con guitarras. Allá, del otro lado, los rascacielos, símbolo arquitectónico del país más poderoso del mundo donde todos sus habitantes tienen automóvil, radio y televisión. (4:00) (Abb. 132) Eine historische Tiefendimension der prinzipiellen Alterität lässt sich hier zumindest erahnen. Die Kontraste in Galindos Film legen eine kaum merkliche Gedächtnisdynamik offen, denn was bei dieser audiovisuellen Tour d’Horizon aus dem latenten mnemischen Potenzial der Nordgrenze gehoben wird, ist die Vorgeschichte des binationalen

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Konglomerats. Die Gegenüberstellung enthält nämlich einen latenten Hinweis darauf, dass el Paso bereits im 16. Jhd., lange bevor die Grenze im Zuge der amerikanischen Expansion geschlossen wurde, sogar bevor die Pilgrim Fathers ihren Fuß auf den Kontinent gesetzt hatten, einen Vorposten der spanisches Mission bildete, von dem aus Expeditionen in den barbarischen Norden unternommen wurden.89 Die Unvereinbarkeit der beiden Kultursphären, die von einem Bewusstsein für »[d]ifference and hostility born out of a historical relationship of social inequality«90 gespeist wird, funktioniert auch bei Galindo als eine Scheidung gegensätzlicher Zeitregime. Die Vorstellung, dass Spanisch nach wie vor auch al otro lado gesprochen und die Jungfrau von Guadalupe auch in den USA verehrt wird, passt genauso wenig zur Domestikation der kontaminierten Randzone wie die Annahme der Amerikanisierung Mexikos und der schleichenden Adaptation fremder Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster auf heimischem Boden. Die Nordgrenze wird damit auch in Espaldas mojadas zu einem historischen Mahnmal kultureller Unvereinbarkeit stilisiert und das mexikanische Selbstbewusstsein mit der nachfolgenden Parabel der fatalen Überquerung stabilisiert. Die Strategie mit der Galindo dem herkömmlichen othering des Mexikaners im US-amerikanischen Film begegnet liegt dabei nicht in einem interkulturellen Annäherungsversuch, sondern in einer Aufwertung der mexicanidad. Die gefilmte Brücke, die über den Grenzfluss führt, erscheint zwar als Aufforderung zur interkulturellen Kommunikation, doch diese kann kaum auf Augenhöhe stattfinden, wenn man die Exklusivitätsklauseln bedenkt, die für den Übertritt notwendig sind: El Puente internacional, lazo entre los dos países, se hizo para pasar por arriba en auto, a pie o en tranvía, pero solo para aquellos que han jurado decir la verdad, sólo la verdad y nada más que la verdad, y tengan un pasaporte con la visa consular correspondiente. […] Para pasar al otro lado, son muchos los requisitos. Pero la necesidad apremia y la ambición es grande. Hay otros caminos. (4:12-4:59) Für alle Bedürftigen und Ambitionierten, die für eine offizielle Einreise disqualifiziert oder zu ungeduldig sind, wird der Fluss unter der Brücke als Ausweg gezeigt und mit dissonanten Gitarrenklängen aufgeladen. Will man ohne Einlassprüfung auf die andere Seite, so muss man den nassen Rücken riskieren, der dem Film den Titel gibt und eine gängige Bezeichnung für illegale Einwanderer allgemein darstellt. Die Praxis des Übertritts »a la brava« (6:17) ist im Folgenden die zentrale historische Altlast, die Juárez mit sich führt und der Galindo den Kampf erklärt. Entgegen der anfänglichen topolo-

89

90

Dass eine Frontier-Mentalität auch in der spanischen Expansionslust und Evangelisierung der First Nations vorlag, liegt auf der Hand, womit die komplexe Frage nach der Legitimität territorialer Besitzansprüche zwischen Mexiko und den USA auf die problematische Dialektik zwischen conquistadores und conquistados zurückfällt. Wenn diese in der Ruinen-Mnemotopie im mestizischen Selbstbewusstsein synthetisiert wird, wird die Antithetik im Hinblick auf die viel spätere, amerikanische Invasion im Schwebezustand gehalten. Ungeachtet der ähnlich problematischen Annexion der Gebiete zu Zeiten des Virreinato, ist es doch auffällig, dass in der Erinnerungsarbeit der Época de Oro die Nordterritorien eine untergeordnete Rolle spielen und mit dem negativen Raumsinn auch eine lange historische Periode vernachlässigt wird. Noble 2010, 147.

381

382

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

gischen Laudatio fällt die Aufmerksamkeit letztlich doch auf die Nordgrenze als einem Brennpunkt interkultureller Spannungen. Anhand der »discontinuité politique«91 die an der Nordgrenze von Espaldas mojadas zum Vorschein kommt, wird im letzten Schritt die Rolle der Grenz-Mnemotopie bei der Konstruktion und Pflege des mexikanischen Gedächtniskollektivs untersucht und die Diskussion um das ortsgestützte Gedächtnisvermögen der mexikanischen Nationalkultur fortgeführt. Im Hinblick auf die Dialektik der In- und Exklusion, die eine Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gedächtniskollektiven reguliert, wird dabei der Rolle der Grenz-Mnemotopie in kinematographischen Vermittlungsformen der »nationalistic pleasure«92 erneut Beachtung geschenkt. Ihre Bedeutung für die Schließung geographischer aber vor allem auch kultureller Horizonte lässt sich in Espaldas mojadas in den Verweisen auf das Nachleben hartnäckiger Dichotomien beobachten, die zwar das Echo realhistorischer Verwerfungen zwischen Mexiko und den USA darstellen, aber stets auch mit überhistorischen Differenzierungsaspekten aufgeladen sind.

3.2.2.

Überhistorisch stabilisierte Kulturfront

Das im Folgenden aufgerollte Einwanderungsdrama um den Protagonisten Rafael Améndola Campuzano stellt aufgrund seiner zyklischen Reisebewegung ein einschlägiges Sujet der Bracero-Filme dar, das auch die Odyssee von Pito Pérez bestimmt hatte. Im Gegensatz zum Parcours des Schelms beginnt und endet Rafaels Erfahrung der Fremdheit jedoch an der Grenze selbst und rückt die Bedeutung des kulturellen Limes noch stärker ins Raumbewusstsein des Films. Galindos Behandlung des Grenztopos bietet Hinweise auf eine mythisch aufgeladene Mnemotopie. Auf diese Weise wird die serielle Geschichte der mexikanischen Grenzbewegungen in den Norden als Erfahrungswelt eines Migranten gestaltet, »in der das Realistisch-alltägliche mit dem Übernatürlichen untrennbar verwoben ist«93 . Rafaels traumatischer Grenzerfahrung geht die Begegnung mit den klassischen Figuren der peripheren Halbwelt voraus – coyotes und ficheras, Menschenhehler und Amüsierdamen. Im »Café Big Jim«, einem unheilvollen Limbus der Grenzgänger, versuchen sie ihr Kapital aus den Bracero-Strömen zu schlagen. Da der Film jedoch im Geiste eines epochentypischen »nacionalismo repelente«94 konzipiert wurde, wird die Zwischenwelt von »Big Jim« mit Hymnen der revolutionären Folklore wie »Adelita« oder »Valentina« aufgeladen, aber auch dem »Corrido del Norte«, der eine Wiedereingliederungspetition ehemals mexikanischer Territorien darstellt: Nací en la frontera de acá de este lado,/de acá de este lado puro mexicano,/por más que la gente me juzgue texano,/yo les aseguro que soy mexicano/de acá de este lado. (10:26)

91 92 93 94

Foucher 1986, 31. Noble 2010, 158. Wehr 2003, 380. Ayala Blanco 1968, 76.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Einer der Musiker persifliert während der Aufführung das berühmte Bonmot des mexikanischen Schriftstellers Nemesio García Naranjo, das das unmittelbare Grenzbewusstsein auf die gesamte Nation ausweitet: »Pobre de México. Tan lejos de Dios y tan cerca de los Estamos Hundidos (sic!)« (12:38). Mit dem Griff in den Fundus der Grenzfolklore wird auf ironische Weise das Bild einer dämonischen Gegenwelt al otro lado heraufbeschworen und der interkulturelle Hiatus präsent gehalten. In der Verballhornung von ›Estados Unidos‹ ist aber mit ›hundirse‹ (sp. für ›ertrinken, untergehen‹) auch der versteckte Hinweis auf den Untergang enthalten, der den espaldas mojadas beim Queren des Río Bravo tatsächlich droht. Folgt man dieser liminalen mexikanischen Selbstverortung am Rande der US-amerikanischen Hölle, so liegt auch die Analogie zwischen dem Rio Bravo und dem mythologischen Styx nicht fern, womit die illegale Auswanderung der Braceros auf überhistorischer Verständnisebene angedeutet wird als ein descensus ad inferos. Der Protagonist Rafael will die Seiten jedoch weniger aus ökonomischen, denn aus politischen Gründen wechseln. Dass er den Fluss mit anderen Braceros bei Nacht durchqueren möchte liegt daran, dass er sich auf der Flucht vor einem eigenmächtigen »hijo de caciquillo« (17:35) befindet. Angeführt wird die nächtliche Invasion von einem coyote, einem der Sündenböcke des Films, der als Frank Mendoza die problematische Hybridität professioneller border shifters bereits im Namen trägt. Die erste Begegnung mit der Fremdheit, die in Almas rebeldes noch ausgeblieben war und einem melodramatischen Happy End weichen musste, erfolgt in Form der kompromisslosen Zurückweisung: War der Grenzübertritt in Almas Rebeldes noch eine rein mexikanische Angelegenheit, so begegnen die mojados in diesem Fall einer gesichtslosen US-amerikanischen Allmacht, die durch einen Wachturm symbolisiert wird, von dem aus das Feuer auf die Eindringlinge eröffnet wird (Abb. 133). Wie auch in Galindos zweitem Spielfilm wird der Übertritt damit zum tödlichen Unterfangen. Die höhnische Prophezeiung des »estar hundido« wird damit recht bald erfüllt und auch diesmal wird der Wunsch eines sterbenden Deserteurs auf heimischem Boden begraben zu werden zu einem letzten Willen, das eine fatale mexikanische Erdverbundenheit suggeriert. Bezeichnenderweise muss Rafael am Ende des Films, bei seiner Rückkehr nach Mexiko, erneut an dem Wachturm vorbeikommen, der an Michel Foucaults Diskussion des Panopticon erinnert und als Allegorie auf einen »lückenlos überwachte[n] Raum« verstanden werden muss.95 Der Anspruch auf eine totale US-amerikanische Raumkontrolle wird recht unzweideutig in dem Graffiti »God is watching« signalisiert, das Rafael als Sichtschutz dient. Die Gegenwart eines strafenden Gottes in der grenztypischen »Überwachungskultur«96 befördert die Asymmetrie an der Nordgrenze zum zweiten Mal auf eine metaphysische Verstehensebene (Abb. 134), diesmal allerdings im Widerspruch zur in Mexiko postulierten Gottlosigkeit auf der anderen Seite. Alejandro Galindo spielt hier die Karte konfessioneller Unterschiede aus, um eine dauerhafte Unvereinbarkeit beider Semiosphären zu unterstreichen. An der Oberfläche hallt hier nämlich das religiöse Schisma alter Tage nach und ruft die »herejía protestante«97 ins Bewusstsein, die 95 96 97

Foucault 1977, 253. Fojas 2019, 60. Vasconcelos 2000, 47.

383

384

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

José Vasconcelos der ewig fremden Gegenwelt attestiert hatte. Die gegenwartsbestimmende Verbindlichkeit der Grenz-Mnemotopie unterstreicht die räumliche Orthodoxie der Kultursphären und lädt die Grenze zu einer religiösen Frontlinie auf. Übersetzt auf die Gegenwart wird mit dieser mexikanischen Fremdmodellierung an der Grenze die hässliche Seite des protestantischen Fortschrittsglaubens evoziert. Die schwierige mexikanische Modernisierung im Schatten der USA wird auf diese Weise gegen die kulturpessimistische Rückbesinnung auf ein ewiges Mexiko eingetauscht, die bereits in der nostalgischen Affektsteuerung der Hacienda-Mnemotopie ihre Geltung hatte.

Abb. 133: Der scharf schießende Grenzturm dient als symbolische Aufladung der unpassierbaren Schwelle zur Gegenwelt. Aus mexikanischer Perspektive wird die USA zur Figuration einer uneinnehmbaren Festung. Abb. 134: Rafael an der religiös motivierten Kulturfront. Mit der zur Staatsreligion stilisierten Grenzhoheit wird die illegale Einwanderung zum Sakrileg, das der Held durch eine ebenso riskante Rückkehr nach Mexiko sühnen muss.

Espaldas Mojadas provoziert das historische Invasionsphantasma förmlich heraus und perpetuiert die unheilvolle Nachbarschaft im kulturellen Gedächtnis Mexikos der mit mythisierenden Verfahren. die Octavio Paz’ beklemmende Vorstellung von einem Mexiko im Schatten des »grandulón […] cuya cólera puede destruirnos«98 bestätigen. Die Disziplinierungsmaßnahmen gegen Rafael richten sich gegen illegale Abwanderungsphantasien und stützen eine mexikanische border anxiety. Als Antwort auf ein historisches Erbe, das mit überhistorischer Symbolik potenziert wird, findet in Espaldas mojadas eine nationalistische Schließung der Grenze statt, die einer Begrenzung des kulturellen Horizonts und einer Domestikation der Zukunftspotentiale gleichkommt, wie es Albrecht Koschorke bei seiner Genealogie des Horizont-Begriffs herausarbeitet.99 Es ist also eine Frage der Zeit, bis die Paradieserwartung des Braceros, eine Inversion der kolonialen Entdeckungsreisen, in eine negative Erfahrung des kulturellen Jenseits mündet und die Entgrenzung der kulturellen Zugehörigkeit immer stärker als Vertreibung aus dem nationalen Paradies empfunden wird.

98 99

Paz 1992, 413. Vgl. Koschorke 1990, Kap. 9: »Die Wiederkehr der Grenze«.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Die Logik einer mexikanischen katabasis wird auf der anderen Seite in einer episodischen Reihung von unvorteilhaften Begegnungen Rafaels mit einem topischen USamerikanischen Überwachungsstaat ausgebaut. In einer raschen Sequenz, die gleichsam vor dem geistigen Auge des naiv-rechtschaffenen Helden verläuft, wird der Verfolgungswahn des illegalen Einwanderers als Leitmotiv der mexikanischen Alltagsgeschichte in den USA durchgespielt (Abb. 135).

Abb. 135: Die »ikonische Konstanz« (Blumenberg 2006, 165) des mythologischen Sheriffs wird durch den Verweis auf das Genre des Westerns im Hintergrund des sich versteckenden Mexikaners bestätigt. Der Bracero-Film übersetzt die Western-Poetik auf die Gegenwart und bestätigt die prinzipielle Deplatziertheit des Mexikaners auf amerikanischem Territorium.

Gleichzeitig wird mit der thesenhaft reproduzierten Xenophobie aber auch die Kontinuität der Frontier-Mentality suggeriert, die das US-amerikanische Invasionsphantasma noch immer prägt. Die Angst des mojado in der Fremde wird damit gespiegelt in der amerikanischen Angst vor dem Kontrollverlust im Zuge der silent invasion. Kurios ist dabei, dass die Frontier-These aus mexikanischem Blickwinkel entsprechend gespiegelt wird: auch Rafael kann in der Fremde seinen kulturellen Horizont nicht überschreiten, so dass die Grenze in konservativer, zivilisationsgeschichtlicher Lesart zur Metapher der internalisierten Kulturschranke wird. Der Zwischenraum von Espaldas mojadas reicht damit tief in das Kernland der USA denn die border mentality des Braceros begleitet ihn wie ein Kainsmal, das ihn daran hindert, den US-amerikanischen Horizont jemals zu erreichen.  Doch wenn die Sympathien des Films dennoch dem mexikanischen Grenzgänger gelten, treibt die Polarisierungstendenz des Bracero-Genres einen im Cine de Oro eher seltenen Schurken hervor. Neben dem hybriden Kleinganoven Frank Mendoza ist der ausbeuterische Arbeitgeber mit dem sprechenden Namen Mister Sterling der zweite Protagonist, der einer kollektiven mexikanischen Schuldprojektion ausgesetzt wird. Gespielt von Victor Parra, der bereits in Frontera Norte die kollektiven Antipathien als mexikanischer Grenzmafioso »El Baby« auf sich gezogen hatte, wird das Bild des odiösprofitgierigen Yankees zur Aktualisierung einer epochalen Feindschaft wiederverwertet (Abb. 136). Erst seine plakative Skrupellosigkeit gegenüber den mexikanischen Gleisbauern schweißt die Braceros in der Fremde zusammen und befördert eine nationalistische Spaltung. Auf allegorischer Verständnisebene wird Sterling spätestens dann zum Wiedergänger der »definitiva humillación«100 , als er dem gegen die unmenschli100 Sierra 1977, 158.

385

386

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

chen Arbeitsbedingungen rebellierenden Rafael ins Gesicht spuckt und ihn als »mexican greaser« diffamiert (Abb. 137).

Abb. 136: Der internationale Dialog der Halbwelt zwischen Frank Mendoza und Mr. Sterling ist die unheilvolle Allianz, die im Film einen Schatten auf die internationalen Beziehungen an der Nordgrenze wirft. Abb. 137: »Shut up, you dirty mexican« (1:00:29). Die historische Kränkung der mexikanischen Würde wird in ›Espaldas mojadas‹ reproduziert im Symbol des spuckenden Amerikaners.

Da aber die anderen Braceros Rafael mit der Beschwichtigungsformel »el tiempo y la distancia borran cualquier pena, paisano« (1:00:48) daran hindern, den Fehdehandschuh aufzuheben, wird der Topos der mexikanischen Resignation angesichts der wirtschaftlichen und bürokratischen Überlegenheit der USA aufgegriffen. Doch trotz des indirekten Appells an die außenpolitische Besonnenheit, weist Sterlings Geringschätzung mit Nachdruck auf ein verdrängtes historisches Bewusstsein hin der mexikanischen Ohnmacht gegenüber den USA mit sich führt. Da Galindos manichäische Kulturvergleich nach einer überfälligen Revanche eines mexikanischen Davids gegen den US-amerikanischen Goliath schreit, wird eine kollektive Genugtuung schließlich auf heimischem Boden bedient. Das abstrakte, ortlose, wenn man so will entgrenzte Bewusstsein einer nachhaltigen mexikanischen Unterlegenheit wird just an der Frontlinie zur US-amerikanischen Gegenwelt in einem performativen Ritual der nationalen Souveränität in Angriff genommen. Auf der mexikanischen Seite der Nordgrenze werden die Machtverhältnisse nämlich umgekehrt, so dass sich die Nemesis der Ausgebeuteten nun mit nationaler Rückendeckung konkretisieren kann. Im »Café Big Jim«, in dem sich die Wege von Rafael und Mister Sterling erneut kreuzen, kommt die »despot duality«101 , die der klassischen Mnemotopie der Nordgrenze immanent ist, nun in umgekehrter Richtung zum Tragen und entlädt die aufgestauten Ressentiments gegen Sterling, den Stellvertreter einer amerikanischen Selbstherrlichkeit. Bereits vor dem Duell wird der internationale Zwischenraum vom Barkeeper zu einer Gringo-freien-Zone ausgerufen (Abb. 138) und damit eine räumliche Autorität eingefordert, die in Nordmexiko auch nach 1848 prekär war und durch

101

Anzaldúa 1987, 19.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

US-amerikanische Invasionen unterschiedlicher Ausprägung und Größenordnung periodisch missachtet wurde.

Abb. 138: Die Domestikation der Peripherie in Form einer imperativ gesetzten Segregation weist auf eine Raumordnung zentralmexikanischer Prägung hin. Abb. 139: In der kollektiven Billigung der Lynchjustiz verbirgt sich nicht nur ein makabrer Dienst am Vaterland, sondern auch ein Bewältigungsversuch historischer Frustration.

Sterling, der sich in Mexiko auf der Suche nach einer frischen Ladung illegaler Wanderarbeiter befindet, will sich zwar nicht in Auseinandersetzungen verstricken, kann jedoch dem Retaliationsmechanismus nicht entkommen und wird von Rafael im Handgemenge zu Boden gerungen. In der Klimax nationalistischer Genugtuung nimmt die mexikanische Vergeltungsmaßnahme die Züge der Lynchjustiz an, denn das Publikum in »Big Jim« sieht tatenlos und sichtlich erheitert zu, wie Rafael den Gringo vor dem hetzenden Verbotsschild beinahe erwürgt (Abb. 139). Die krude Satisfaktion der Vernichtung eines ›Aliens‹ wird jedoch aufgeschoben, denn im letzten Moment wird Rafael vorgeschlagen, Sterling auf die ihm zustehende Seite zu befördern und am Rio Bravo auszusetzen. Was sich zunächst nach einer humaneren Konfliktlösung anhört, erweist sich als eine perfide Form der Hinrichtung. Als der wütende Mob den Yankee nämlich ins Wasser stößt, wird dem Menschenhändler eine bittere Empathie mit den Braceros aufgezwungen. Wie auch in Border Incident (1949), der US-amerikanischen Abrechnung mit dem hausgemachten Menschenhandel, muss Sterling daher am eigenen Leib erfahren, dass die Wanderarbeiter nicht nur auf der anderen Seite ausgenutzt werden, sondern auch an der Grenze selbst verkommen (Abb. 140). Viel Zeit für Reue bleibt ihm freilich nicht, denn während vom Ufer des Río Bravo Steine fliegen, bringt sich der schießwütige Wachturm am anderen Ufer bereits in Stellung und erfüllt kurz darauf seine automatisierte Funktion, das Feuer wahllos auf jede Form der Grenzbewegung zu eröffnen. Sterling stirbt denselben grausamen Tod wie die desperaten Braceros am Anfang des Films, die er zusammen mit Frank Mendoza auf die Gegenseite gelockt hatte. Sein Tod ist die symbolische Kompensation für das mexikanische Ungerechtigkeitsempfinden, das in den Schicksalen der Braceros eine invariante Raumordnung kontinuiert. Da die Verkörperung der US-amerikanischen Niedertracht letztlich im abjekten Zwischen-

387

388

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

raum verendet, wird die Anomie des Grenzraums erneut bestätigt und mit ihr die zentralistische Sehnsucht nach einer lückenlosen Erschließung des Nationalterritoriums erfüllt.102 Die indefinite zona fluida wird mit Hilfe einer kuriosen Renaturalisierung der Raummetapher von Octavio Paz tatsächlich auf den Fluss beschränkt und damit wird auch die Barbarei, deren Isolierung ein fundierendes Moment des US-amerikanischen Nation-Building darstellt, bis an den schmalen Rand der nationalen Semiosphäre gedrängt.

Abb. 140: Das obligatorische ›Reinigungsbad‹ beim Überqueren der kulturellen Front wird in ›Espaldas mojadas‹ wörtlich genommen, als der Yankee vom mexikanischen Pöbel in den Fluss gestoßen wird. Abb. 141: Ein Landstreicher, ein Outlaw und eine Chicana am Ufer des Río Grande. Der »effet frontière« löst eine nationale Rückbesinnung aus und ermöglicht den marginalisierten, abtrünnigen oder vergessenen Subjekten des nationalen Gedächtniskollektivs eine Reintegration in den homogenen Volkskörper.

Stellt man sich das Phänomen der Mnemotopie in diesem Fall als eine liminale Raumzeitlichkeit vor, wird der Kontamination des Grenzraums aus historischer Voreingenommenheit mit einer kommunikativen Brechung begegnet, die keine interkulturellen Synthesen zulässt. Jegliche Form des interkulturellen Kulturkontakts wird, qua Überbetonung der illegalen Auswanderung und Ausbeutung der mexicanidad, zur folgenschweren Beeinflussung erklärt. In der zentripetalen Imagination des Films wird die Mnemotopie der Grenze zum Gewährsträger einer Zivilisationsfront, die unweigerlich eine Lebensfeindlichkeit im Jenseits vermutet. Sehr aussagekräftig ist dafür das Lamento des Migranten, das Rafael auf US-amerikanischer Seite ausgerechnet in der Wüste als Korrespondenzlandschaft zur kulturellen Atrophie zum Ausdruck bringt und Vasconcelos’ ethnozentrische Vorstellung der Fremdheit als »una extensa no men’s land del espíritu«103 thesenhaft reproduziert: 102 In ähnlicher Weise werden die Schurken der Schattenwirtschaft auch in amerikanischen Filmen Border Incident (1949) und Border River (1954) hingerichtet. Dort ist es in beiden Fällen der mystische Treibsand in der straffreien Grenzzone, der sie als Repräsentanten gesellschaftlicher Pathologien verschlingt. 103 Vasconcelos zit. in Ceballos Ramírez 1999, 39.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

[…] y luego, en esta tierra tan extraña para mí, se siente uno como, como cortado de uno, sólo, en una rueda de soledad, tú en el centro y no te llega ni un ruído (sic!), ni una mirada. Nadie te ve, nadie te oye, ¡no existes! (1:05:15) Die Entfremdung des Bracero, der sich al otro lado auf permanenter Flucht befindet und sich »como un prófugo sin delito« (1:05:04) fühlt, bedient eine Wahrnehmung der US-amerikanischen borderlands als eines feindlichen Lebensraums. Es ist daher einer epochentypischen Stimmung geschuldet, dass die konventionelle Zerschlagung des ElDorado-Topos, der durch zahlreiche Hollywood-Produktionen auf die Gegenwart übersetzt wurde, auch in Espaldas mojadas in antiamerikanische Affekte umschlägt und die Rückkehr der bereits Exilierten motivieren soll. Es wirkt wie eine bittere Ironie, dass der im Film propagierte Kulturtransfer wörtlich genommen wird und sich darauf beschränkt, alle Mexikaner ins Mutterland zurückzuführen – auch diejenigen, die sich seit vielen Generationen im US-amerikanischen Exil befinden. Konkret sind es zwei Figuren, die mit dem Bracero die Verfassung einer »existential alienation«104 teilen und die Rafael bei seinem missratenen Gastspiel in den USA zur Rückkehr bewegt(Abb. 141): Zum einen ist es der Landstreicher Luis Villareal/Louie Royalville, die mexikanische Version des Tramps à la Pito Pérez, der wenige Sekunden vor dem Abspann am Grenzfluss bekehrt wird und die Aussicht auf einen Winter in Florida gegen Acapulco eintauscht. Zum anderen ist es die Chicana Mary/María del Consuelo, die der entschlossene Rafael ohne große Argumentationsnöte zu Heimkehr und Hochzeit überreden kann. Von der kulturellen Isolation der Chicanos getrieben, willigt sie in diese melodramatische Schicksalsfügung ein und wird dem Zuschauer als eine von den »descendientes ausentes« präsentiert, die sich seit 1848 zwischen zwei Welten befinden.105 Heimgesucht von der traumatischen Erinnerung an eine verlorene Welt, kann sie der »tentación de una patria« (1:15:38) nicht widerstehen. Indem Alejandro Galindo den effet frontière auf kollektive Identitäten illustriert, wird auch die klassische Funktion der Grenz-Mnemotopie bestätigt. Als »physical frame that mediates and constructs historical, social and economic entities«106 , trägt die Nordgrenze damit die kalte Logik einer Identitätsstabilisierung ex negativo durch die Zeiten und hält die Erinnerung an einen kulturellen Antagonismus zur Außenwelt aufrecht. Die eingangs mit Foucher eingeführte Formel »Les frontières sont […] des temps inscrits dans des espaces«107 hat ihre mnemotopische Relevanz in der Vergegenwärtigung der Vergangenheit, aber auch in der kulturellen Konstruktion differenter Zeitregime. Auch wenn konkrete Rückholungen der Vergangenheit in Espaldas mojadas ausbleiben, lässt sich ein hypoleptischer Bogen zwischen dem Vergeltungsmotiv an der Grenze und der

104 Noble 2010. 157. 105 Auf sehr emblematische Weise stellt José Antonio Burciaga, eine der bekannten lyrischen Stimmen der Chicano-Kultur, die prekäre Beziehung der verlorenen Töchter und Söhne zur mexikanischen madre patria im Gedicht »Para México con cariño« heraus, in dem die räumliche Distanz der Chicanos als Leitmotiv des schmerzhaften Identitätsverlusts aufscheint: »[…] Recuerda que somos mexicanos,/somos chicanos,/sabemos inglés,/y como descendientes ausentes/recuérdanos como hijos pródigos« (zit. in Valenzuela Arce 2004, 327). 106 Noble 2010, 147. 107 Foucher 1988, 11.

389

390

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Rückbesinnung auf eine territorial beschnittene Nation schlagen, die das mexikanische Raum- und Selbstbewusstsein seit dem 19. Jhd. koordiniert. In nationalistischer Vorliebe des Cine de Oro für eindeutige Selbstdefinitionen wird der mexicanidad auch in Galindos Film ein Monument errichtet und die Nordgrenze in der Logik einer cortina de nopal imaginiert, mit der bereits die Ruine in Raíces als Allegorie des Nationalterritoriums von äußeren Eingriffen abgeschirmt wurde. Die nationalistische Verwandtschaft beider Filme liegt auf der Hand, denn an der Nordgrenze von Espaldas mojadas wird die Vorstellung von Ruinen und anderen topologischen Gedächtnisankern im Landesinneren bis an die nationale Umrisslinie ausgedehnt. Die Identitätspflege in heftiger Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit wird bei Galindo wie in Raíces, wo ein ähnlich asymmetrisches Duell der Kulturen am Meeresufer ausgetragen wurde, in die nationalen Grenzgebiete verlagert. Die Tendenz zur kulturellen Abschottung lässt aus den Mnemotopen Projektionsfelder der historia patria werden, deren Daseinszweck eben auch darin besteht, eine kulturelle Abwehrhaltung mit monumentalen Erinnerungsvorlagen zu stützen und ein Arsenal von kollektiven Feindbildern zu pflegen. In diesem Sinne ist auch die Botschaft zu verstehen, die Rafael nach dem Tod des Volksfeinds an die Nachwelt richtet: [C]reen que nos hemos vengado. Pero, ¿qué ganamos con esto? Falta Frank Mendoza y todos los Franks de este lado que comercian con el hambre de sus hermanos. Viéndolo bien, son ellos que deberían estar manoteando a medio río. (1:50:28) Die kämpferische Vision, die Rafael mit starrem Blick über den Grenzfluss hinweg deklamiert, macht ihn zum Sprachrohr des wehrhaften Nationalismus. Das ›Unkrautjäten‹, wie der Staatsauftrag noch in Frontera Norte hieß, wird damit zur obligatorischen Sinnpflege der mémoire-nation an der Außengrenze. Nach der Beseitigung von Sterling richtet sich Rafaels Vision gegen die von außen herangetragene Transkulturation, die im pocho Frank Mendoza ihre verachtenswerte ›Blüte‹ treibt. Mit Reinhart Koselleck gesprochen werden hier die »Homogenisierungsaktionen im Zuge der Nationalstaatenbildung« sichtbar, deren Skala »von der Vertreibung bis zur Vernichtung reicht«108 . Aus der nachrevolutionären Perspektive eines Subalternen vorgetragen, wird in der dogmatischen Besinnung auf sich selbst jedoch ein mexikanischer Akzent sichtbar, der den Antiamerikanismus zur zukunftsweisenden Orientierungshilfe erklärt. Mit der schmerzlich empfundenen Ausgrenzung der Braceros vom Profit des Fortschrittsglaubens wird an der raumzeitlichen Front der mexikanischen Nordgrenze auch die Epochenschwelle zwischen Romantik und Moderne rezent gehalten109 , zwischen einem historisch bindenden Selbstbewusstsein im Süden und einem ahistorischen Zeitregime im Norden. In der pädagogischen des Films wird aber der »romantic nationalism«110 an der Grenze zu einer wehrhaften Rückbesinnung auf die eigene Folklore. Die Idee eines Schwellenraums oder eines Laboratoriums der Zukunft ist im Cine de Oro noch undenkbar und verbaut durch eine monolithische mexicanidad mit der dazugehörenden quasireligiösen mémoire-nation. 108 Koselleck 2014b, 238. 109 Vgl. Koschorke 1990, 226. 110 Lowenthal 1985, xvi.

3. Die Nordgrenze im Film – das Kontinuum der Schattenprojektion

Dass die Ciudad Juárez ein halbes Jahrhundert nach Galindos kläglich gescheitertem Versuch der kinematographischen Aufwertung als ein Ort der Bandenkriege, der Feminizide und dystopischen Sonderwirtschaftszonen perzipiert wird111 , zeigt, dass die Friktionen an der Nordgrenze im 21. Jhd. aktueller denn je sind, und dass die kulturellen und wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen den Nachbarstaaten das Raumbewusstsein dominieren. Mit jeder politischen Maßnahme der Grenzschließung wird auch die Ortslogik der Grenze als einer kommunikativen Bruchlinie und geopolitischen Kulturfront ausgebaut. Wie abschließend diskutiert werden soll, zeigt sich in der exponentiell steigenden filmischen Verwertung der Grenzprobleme im Anschluss an die Época de Oro, dass die Grenze in der postnationalen Ära zur besonders häufig thematisierten, um nicht zu sagen epochemachenden Raumkategorie geworden ist.

111

Das internationale Spektrum zur Darstellung der Ciudad Juárez reicht vom Roman 2666 (2004), in dem Roberto Bolaños eine Frauenmordserie in der fiktiven Stadt Santa Teresa thematisiert, für die Ciudad Juárez Modell gestanden hat, über den US-amerikanischen Thriller Bordertown (2007, Gregory Nava), in dem Jennifer López und Antonio Banderas in der Rolle von Journalisten den Frauenmorden auf die Spur kommen wollen, bis hin zu dem international produzierten Dokumentarfilm El Sicario, Room 164 (2010, Gianfranco Rosi), in dem ein vermummter Ex-Auftragsmörder über die kruden Kampfmethoden der Drogenkartelle berichtet. Vor allem in der Außenbetrachtung bleibt die Emphase der abjekten Seiten von Ciudad Juárez eine ›harte Währung‹, mit der das historische Stigma der Stadt an der Grenze im transnationalen Gedächtnis stabil gehalten wird.

391

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

Auch wenn man sich die kinematographische Produktionslandschaft in Mexiko nach dem Zerfall der nationalen Filmindustrie als eine Art Wimmelbild vorstellen muss, das von einer Dezentralisierung und Fragmentierung des während der Época de Oro gültigen Produktionskanons zeugt, markiert die Nordgrenze das große Thema des späten 20. sowie laufenden 21. Jahrhunderts. Die wachsende Bedeutung des cine fronterizo deutet darauf hin, dass die mexikanische Nordgrenze ein neuralgischer Punkt bleibt, an dem sich das kulturelle Gedächtnis entzündet. Die lokale Ortsgeschichte wird in der massiven Zuwendung zur Grenze nicht selten von einer irrationalen Stimmung der border anxiety oder von überhistorischen Implikationen des Grenztopos überlagert. Wenngleich man im Zeitalter transnationaler Produktionsbedingungen und Diskursverflechtungen auch die Herausbildung eines interkulturellen oder transnationalen Gedächtnisses vermuten könnte, bleibt die nationale Vergangenheit an der Grenze präsent und stützt eine mexikanische Automodellierung, die sich dem US-amerikanischem Zivilisationsmuster entgegenstellt. Bei der Untersuchung einer topologischen Konstanz der Nordgrenze drängt sich eine bittere Prophezeiung auf, die der Menschenschmuggler Frank Mendoza in Espaldas mojadas im Gespräch mit Mister Sterling an die Nachwelt zu richten schien: »Siempre habrá un tarugo que quiera pasar al otro lado creyendo que se va a hacer millonario.« (1:43:44). Worauf der pocho anspielt, sind die Spannungen, die politische Verwerfungslinien ausstrahlen und die Attraktivität, diese zu überschreiten. Im mexikanischen Raumbewusstsein entfaltet die Nordgrenze bis heute eine schier überhistorische »symbolische Prägnanz« (Ernst Cassirer) der riskanten aber verheißungsvollen Überquerung.1 Bei den beiden eingehender untersuchten Bracero-Filmen handelte es sich lediglich um zwei frühe Beispiele einer Fülle von kinematographischen Verarbeitungen dieser einschlägigen Raumlogik. Die konventionelle, seit Contreras Torres El hombre sin patria (1922) und spätestens seit Galindos Almas rebeldes (1937) nachdrücklich

1

Zur »ikonischen Konstanz«, die man als Übertragbarkeit von Urbildern bereits bei Ernst Cassirer diskutiert findet, vgl. Blumenberg 2006, 185ff.

394

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

warnende Desillusionsästhetik der Filme wird angesichts der nicht abnehmenden Auswanderungsströme auch in einer neuen Generation von Filmen bemüht, in welchen das Einzugsgebiet der Arbeitsmigration jedoch auf die gesamte lateinamerikanische Region ausgeweitet wird. In Produktionen wie Las pobres ilegales (1982, Alberto Mariscal) El Norte (1983, Gregory Nava), Tres veces mojado (1989, José Luis Urquieta) bis hin zu Siete soles (2008, Pedro Ultreras), La jaula de oro (2013, Diego Quemada Díez) oder Sin señas particulares (2020), wird ein ums andere Mal der American Dream als Albtraum der indocumentados porträtiert, die ihr Heil vergeblich im Norden suchen. In ihrer mnemotopischen Qualität hält die mexikanische Nordgrenze damit immer auch ein Gedächtnis an die räumliche Begrenzung des mexikanischen Nationalprojekts aufrecht, das sich auch in postnationaler Zeit an den restriktiven Konsequenzen des US-amerikanischen Expansionismus reibt. Natürlich ist abschließend noch einmal die berechtigte Frage zu stellen, ob es sich bei der Nordgrenze nicht um eine rein geographische Bruchlinie handelt, um eine ruptura oder découpage, die eine räumliche Konstanz vor den empfundenen Wandel der Zeiten stellt. Wie bereits mehrfach angedeutet, markiert die Mnemotopie der Grenze im Hinblick auf das nationale Selbstverständnis in stärkerem Maße eine horizontale Erfahrungsschwelle als eine vertikale. In dieser Spielart der Mnemotopie wird der Dialog einer Kultur mit ihrer eigenen Vergangenheit überformt durch einen nachhaltigen Kommunikationsbruch mit einem benachbarten Zeitregime, das dauerhaft in einem kulturellen Außenbereich isoliert zu sein scheint. Man kann die Besonderheit der GrenzMnemotopie auch damit erklären, dass die zeitliche Erfahrungsschwelle, die Prozessen der kollektiven Gedächtnisstiftung zu Grunde liegt, einer räumlichen Diskontinuitätserfahrung weicht, so dass in dieser binären Raumlogik die Gegenwart in noch stärkerem Maße die Zeitdimensionen der Vergangenheit und Zukunft vereinnahmt.2 Auch im neuesten cine fronterizo bleibt die Nordgrenze eine symbolische Trennlinie der Gedächtniskollektive. Vor allem das US-amerikanische Bestreben, die Grenze mit politischen Maßnahmen abzusichern, hält die Wahrnehmung der Differenz und gegenseitigen Bedrohung aufrecht. Nicht selten wird die wirtschaftliche Disparität dabei relativ einseitig heruntergebrochen auf die kulturelle Zugehörigkeit und nährt eine Xenophobie, die der im Zwischenraum agierende Künstler und Schriftsteller Guillermo Gómez-Peña als Gesinnung der »ethno-police«3 bezeichnet. In der Kinematographie der serialisierten Unterlegenheitsempfindung bleibt auf beiden Seiten ein Gefühl der Unvereinbarkeit dominant. Kurios ist dabei, dass die Fixierung auf die Nordgrenze im postnationalen Film stärker denn je mit einer gleichsam überhistorischen Gegenüberstellung der Zeitregime arbeitet. Die globale Provinzialisierung der mexicanidad, die im Rancho als haut lieu der mexikanischen Nostalgie untersucht wurde, findet im Hinblick auf einen perzipierten Entwicklungsvorsprung der USA einen bedeutende Katalysator

2

3

Vgl. Koselleck 2013, 248f. In eine ähnliche geschichtsphilosophische Kerbe schlägt auch Gumbrecht mit seiner bereits eingeführten Vorstellung von der Chronotopie der breiten Gegenwart als prinzipiell achronologische und vom Sog der Verzeitlichung wenig beeinflusste Zeitgeschichte (vgl. Gumbrecht 2012, 83f). Gómez-Peña 1993, 44.

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

für die affirmative mexikanische Einverleibung der Prämoderne. In der seriell imaginierten Überschreitung der Nordgrenze wird auch die Unterlegenheit des Südens, die seit dem 19. Jhd. latent mitschwingt, seriell bestätigt und konstituiert eine historische Stasis, die Andersons Begriff der Nation als »secular continuity«4 mit gewisser Ironie bestätigt. Die Grenze im Film bleibt eine Bruchlinie kollektiver Identitäten, eine kulturelle Front und Verhinderung von Synthesen, die der Kulturgeograph Edward Soja als Reworlding the Border 5 bezeichnet, wenn er die Grenze im Rückgriff auf Gloria Anzaldúa und andere Vertreter der postkolonialen Kritik als »a space of radical openness« gegen imaginäre Binarismen auszuspielen versucht.6 Besonders signifikant ist die Gegenüberstellung der Zeitregime für das cine chicano, das ab den 60er Jahren einen Boom erlebt und, wie es bereits der kontroverse Film Salt of the Earth 1954 vorweggenommen hatte7 , die verschollene Erinnerung an die Annexion der Nordterritorien als mnemotechnische Besonderheit der Chicano-Identität mitführt. Die Diskussion zur Mnemotopie der mexikanischen Nordgrenze abschließend, soll anhand von zwei neueren Vertretern des cine fronterizo gezeigt werden, dass die topische Überquerung der mexikanischen Nordgrenze bis heute das Raumbewusstsein des amerikanischen Kontinents prägt und die historischen Vorbedingungen der Grenzziehung im kollektiven Latenzgedächtnis weiterführt. Die Vorstellung der Grenz-Mnemotopie als einer Raumeinheit, die eine Vorzeitigkeit an sich zu bindet und kollektive Erfahrungsschwellen veranschaulichen lässt, wird an zwei Beispielen illustriert, die unterschiedliche Perspektivierungen der mexikanischen Nordgrenze bieten. Im Fall von Sleep Dealer (2008) ist es die Betrachtung der Nordgrenze aus einer mexikanischen ›Los-deabajo-Perspektive‹, die das Genre der Bracero-Filme mit einer düsteren Zukunftsprognose perpetuiert. Bei Bajo California: El límite del tiempo (1998) ist es die Überquerung der selben Grenze in umgekehrter Richtung, vom Norden in den Süden, die gerade nicht in der herkömmlichen Logik einer Invasion imaginiert wird. Es ist die Rückkehr eines Chicanos und damit ein Motiv, das als epochentypische Auflösung nationaler Gedächtnisrahmen gelesen wird und nebenbei auch den jüngsten »divorcio de la memoria«8 zwischen einem destabilisierten Gedächtnis der mexikanischen Nation und einer exterritorialen »tercera hispanidad«9 in den Vereinigten Staaten kompensiert.

4 5 6 7

8 9

Vgl. Anderson, Kap. 2: »Cultural Roots« (9-36), hier: 12. Soja 1996, 129. Vgl. Soja 1996, 125-144, hier: 127 Der auf den Index kommunistischer Propaganda gesetzte Film von Herbert J. Biberman enthält einen kommemorativen Sprengsatz in der Einleitung, in der die Ausbeutung der Minenarbeiter von New Mexico von der Chicana Esperanza Quintero, Frau eines Bergmanns, als Besatzung aufgeschlüsselt wird, womit eine unliebsame topologische Diskontinuität entborgen wird: »How shall I begin my story, that has no beginning? In these arroyos my great grandfather raised cattle, before the Anglos ever came. Our roots go deep in this place, deeper than the pines, deeper than the mine shafts. This is my village. When I was a child it was called San Marcos. The Anglos changed the name to Zinc Town. Zinc Town, New Mexico, U.S.A.« (1:24-2:03) Florescano 1999, 269. Fuentes 1992, 374.

395

396

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

4.1.

Sleep Dealer (2008) – Futuristische Vertrautheiten

In Alex Riveras Sleep Dealer (2008), einer Low-Budget-Produktion im Genre des Cyberpunk, wird das mnemische Potenzial der Nordgrenze projiziert auf eine dystopische Zukunft, in welcher die Frontera als »[d]as goldene Tor der Zukunft«10 für mexikanische Einwanderer endgültig vernagelt wird und ein mexikanisches Zurückgeworfensein auf die Endlichkeit des eigenen Territoriums in düsterer Science-Fiction-Ästhetik imaginiert wird. Rivera entwirft eine Welt, in welcher das US-amerikanische Invasionsphantasma mit neuen Technologien der Raumkontrolle aufgefangen und die Überwachung der Grenzen auf Drohnen ausgelagert wird. Gleichzeitig greift der Regisseur auf die wirtschaftlichen Tendenzen der »maquilización de la frontera«11 zurück, die den Personenverkehr über die Grenze eindämmt, da ein Großteil der mexikanischen Arbeitsleistung bereits auf mexikanischer Seite abgeschöpft wird. Riveras Dystopie wird damit zu einer kritischen Kommentierung des genius saeculi, denn während die wirtschaftlichen Barrieren mit der Ratifizierung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) ab 1994 fallen und Handelsgüter ungehindert zirkulieren können, bleibt der informale Personenverkehr ein anhaltendes Politikum, das die Durchlässigkeit und Unkontrollierbarkeit der weitläufigen Grenzgebiete ein ums andere Mal unter Beweis stellt. Der stets poröse Tortilla Curtain (T.C. Boyle) wird in Riveras Dystopie jedoch mit massiven Grenzbefestigungen verbaut und damit auch die hypothetische Aussicht mexikanischer und anderer lateinamerikanischer Wirtschaftsflüchtlinge auf eine bessere Zukunft. Was Rivera ebenfalls in konsequenter Zuspitzung der FrontierMentalität imaginiert, ist eine Ausweitung US-amerikanischer Einflussmacht in Mexiko. In Umkehrung herkömmlicher Durchdringungsängste und der Hysterie angesichts eines brown threat 12 , wird die US-amerikanische Hegemonie mit Hilfe von ferngesteuerten Drohnen bis in die entlegensten Winkel Mexikos transportiert: die problematischen Nachbarschaft zur Supermacht im Norden wird von der Peripherie in das mexikanische Kernland verlagert. In konzeptueller Analogie wird die Grenze als ökonomische Trennlinie auf einen Staudamm im tiefen Oaxaca übersetzt und die Ressourcenkontrolle zum wichtigsten Wohlstandskriterium erklärt, von dem die lokale Bevölkerung abgeschnitten ist (Abb. 142). Der Protagonist des futuristischen Bracero-Films ist Memo, ein junger mexikanischer Jedermann am Existenzminimum, den eine Leidenschaft für Technik auszeichnet und das gefährliche Hobby, sich in exklusive Informationssysteme zu hacken und vertrauliche Informationen abzufangen. Er wird geortet, als er auf einen geheimen Kommunikationskanals stößt, und muss die Konsequenzen für seinen arglosen Lauschangriff tragen. Der militärische Vergeltungsschlag im Dienste wirtschaftlicher Interessen lässt nämlich nicht lange auf sich warten. Memos Migration in die nördliche Peripherie beginnt nach der Invasion US-amerikanischer Drohnen in seine patria chica, bei der im Kampf gegen den Aqua-Terrorism mutmaßliche Störenfriede exekutiert werden, darunter irrtümlicherweise auch sein Vater, der zum bitteren Kollateralschaden globaler 10 11 12

A. Assmann 2013, 106. Salas-Porras Soule 1989, 16-24. Vgl. Burkard 1996, 349.

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

Abb. 142: Mit der ›Entgrenzung der Grenze‹ wird in ›Sleep Dealer‹ die wirtschaftliche Durchdringung Mexikos als radikale Kontinuierung der negativen Grenz-Mnemotopie imaginiert. Memos Vater, ein Kleinbauer dem das Wasser abgegraben wird, bleibt nur der topische Steinwurf gegen einen übermenschlichen Goliath. In diachroner Betrachtung wird hier aber auch der aussichtslose Kampf der mexikanischen Vergangenheit gegen eine fremdbestimmte Zukunft ausgefochten.

Kontrollphantasien wird. An der Grenzstadt Tijuana angekommen, heuert Memo in einer futuristischen Maquila als sogenannter cybracero an und darf im Modus einer kategorischen »Telepräsenz«13 eine Baumaschine fernsteuern, die sich auf dem verbotenen US-amerikanischen Territorium befindet. Im Zuge der für das Science Fiction Genre typischen Zuspitzung gegenwärtiger Tendenzen wird in Sleep Dealer eine Kontinuität der historischen Asymmetrien in einer nahen Zukunft imaginiert und die Vorstellung von einem monde à deux vitesses von einer totalen Grenze gestützt.14 Die mexikanische Zukunft ist in dieser Welt robuster Dichotomien von dem Modell einer vorindustriellen Subsistenzwirtschaft determiniert. Doch auch diese ist zunehmend durch die entgrenzte amerikanische Präsenz gefährdet: »Tuvimos un futuro«, behauptet der Vater 13

14

Die Aufhebung der räumlichen und zeitlichen Abwesenheit als technologische Errungenschaft, die Paul Virilio mit dem prägnanten Begriff der »Telepräsenz« (Virilio 1994, 44) beschreibt, wird in mexikanischer Konfrontation mit den Schattenseiten des Fortschrittsglaubens als ein Fluch der Moderne imaginiert. Der Titel des Films führt darauf zurück, dass die Gegenwart der cybraceros, die wie hypnotisiert an distanten Orten wirken, kommodifiziert werden kann. Die Überblendung von Arbeit und Schlaf als geistige Entkoppelung von der unmittelbar erfahrbaren Umwelt wird in Memos Fall zu einer radikal weitergedachten Form des braindrain – der Talentflucht, die die Asymmetrie der Regime zusätzlich verschärft. Die Grenze wird auch in US-amerikanischen Utopien als stabiler Sinnstiftungsmechanismus imaginiert, etwa in Downsizing (2017, Alexander Payne) wo die Nord-Süd-Achse mit entsprechendem Prestige-Gefälle auch für spekulative Weltmodellierungen bindend bleibt. Die Idee einer Weltgesellschaft in Miniaturform ist dort mit den selben Barrieren und Auslagerungstendenzen zwischen den USA und Mexiko besetzt, gegen die die Utopie der Menschenverkleinerung anfangs gerichtet zu sein schien (vgl. Gordon 2019, 401).

397

398

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

vor seinem tragischen Tod im Gespräch mit Memo, »estás parado en él. Cuando ellos obstruyeron el río, cortaron nuestro futuro« (5:48). Mit der interkulturellen Animosität, die der Film in typischen Wir-Sie-Kategorien skizziert, wird auch eine konventionelle Ortslogik der Nordgrenze auf die Zukunft ausgestrahlt. Die Mnemotopie der Nordgrenze, die auch ohne konkrete Vergangenheitsrekurse auskommen kann, erscheint als hyperbolisch aufgeladener Gemeinplatz des kulturellen Gedächtnisses, so dass die Erinnerungsleistung des Films mit der Grundstimmung einer zeitlos problematischen Nähe zur US-amerikanischen Gegenwelt verschmilzt. Wie bereits in Frontera Norte ist Tijuana der Ort, an dem sich die Not und das Ausgeliefertsein der an den Rand Gedrängten verdichten – »ciudad de neón y de misterio […] donde se hacen y deshacen los sueños del futuro«15 . Die Grenzregion bleibt somit ein haut lieu des Abjekten und Verdrängten, allerdings wird dem Limbus bei Rivera der Status des Wartesaals abgesprochen und damit auch der trügerische Erwartungshorizont der sozialen Mobilität oder der historischen Dynamik. Die Grenzzone als »Staging Area«16 der Bracero-Filme, die die Mexikaner bei der seriellen Reise in die Desillusion des Exils durchlaufen oder in riskanten Grenzgängen umgehen, ist in diesem Fall zur unüberwindbaren Sackgasse und zum statischen mexikanischen Horizont erstarrt (Abb. 143).17

Abb. 143: Memo der ›cybracero‹ an der Strandgrenze zwischen Tijuana und San Diego. Die Grenze in ›Sleep Dealer‹ ist ein Kontemplationsort und ein Symbol des seriellen Scheiterns mexikanischer Underdogs.

Was der Film anhand der Mnemotopie der Nordgrenze vorführt, ist die Vertiefung des Grabens zwischen einer »radikalen Zukunftsorientierung der Vereinigten Staaten

15 16 17

Brescia 2015, 277f. Vanneph/Revel-Mouroz 1994, 14. Ein ähnliches Konzept von Tijuana als einem Ort der lebenslangen Verdammnis vor den Toren zu einer goldenen Zukunft wird in Workers (2013, José Luis Valle) verfolgt, wo ein nach Mexiko abgeschobener Kriegsveteran aus Mittelamerika in die ewige Warteschleife zwischen zwei Welten geschickt wird.

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

seit ihren historischen Anfängen«18 und einer zukunftsresistenten mexikanischen Vergangenheitsfixierung. Die Vorstellung von einer Schranke zwischen diametral entgegengesetzten Zeitregimen wäre vollkommen, wenn Rivera für die Rolle des telepräsenten US-Soldaten, der eine Kampfdrohne bedient, nicht einen Chicano vorgesehen hätte. Von seinem Flugsimulator aus feuert Rudy Ramirez auf die Aqua Terrorists im entfernten Oaxaca, so als gälte es auch seine eigene Zugehörigkeit zum hispanischen Gedächtniskollektiv zu tilgen. Doch auch in Sleep Dealer greift die Logik der Repatriierung, da Ramírez sich aus Reue entschließt, die Grenze in den Süden zu überqueren, um Memo eine Wiedergutmachung anzubieten, und den Staudamm mit Hilfe der Drohne zum Einstürzen zu bringen. Während der Chicano-Soldat Farbe bekennt und als Deserteur tief in den mexikanischen Süden fliehen muss, entscheidet sich Memo an der Nordgrenze zu bleiben. Der Film endet mit seinem Bekenntnis zur landwirtschaftlichen Lebensform, die Memos Vater seinem nach Bildung und Entwicklung strebenden Sohn stoisch vorgelebt hatte. Memos hochgezogene milpa im Schatten der Grenzmauer ist das Symbol einer halb trotzigen, halb ausweglosen Rückkehr zum Rancho und damit zur traditionell konturierten mexicanidad der Mais- und Bohnenfelder. »[T]al vez hay un futuro para mi aquí, a la orilla de todo,« lautet der finale Appell des resilienten Cyberpunk-Renegaten, »un futuro con un pasado, si me conecto y lucho.« (1:23:20) (Abb. 144).

Abb. 144: An der Grenze werden in der Zukunftsvision von Alex Rivera neben Mais und Bohnen auch Ressentiments gegen den großen Anderen kultiviert, dessen Dominanz einen immer größeren Schatten auf das mexikanische Territorium wirft.

Mit dieser abschließenden Konsolidierung der Kulturfront wird der Name des Protagonisten zu einem sprechenden, denn Memo, eine Koseform von Guillermo, verkörpert letztlich eine unverbrüchliche Memoria Mexicana (Enrique Florescano), die als zäher Formen- und Ideenhaushalt die Zukunft präfiguriert. Eine Kuriosum der mediengestützten Mnemotechnik ist dabei, dass Rivera eine Gesellschaft entwirft, in der das 18

A. Assmann 2013, 107.

399

400

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Gedächtnis zu einer technisch reproduzierbaren Fremderfahrung wird und in Trunode, einem globalen Speichermedium, das der Regisseur in einem Interview als »un tipo de Youtube futurista«19 bezeichnet, externalisiert, kommerzialisiert und im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt werden kann. Hier könnte man, wenn man erneut Allison Landsbergs Vorstellung vom Medium des Films als kollektiver Gedächtnisprothese20 zu Rate zieht, den autoironischen Hinweis auf ein kinematographisches Ersatzgedächtnis vermuten, das sich selbst als eine Gedächtnisfabrik erkennt. Was in Sleep Dealer jedoch vordergründig prämiert wird, ist die Konservation des kommunikativen Gedächtnisses, das Memo an den tragisch-stolzen Lebensweg seines Vaters bindet, der den zeitlosen Archetypen der mexicanidad und der Idee eines stets bedrohten provinziellen Heimatidylls sehr nahe kommt. In der futuristischen Reaffirmation der liens du sang wird nebenbei auch das obsolet gewordene mexikanische Nationalbewusstsein mobilisiert und in einer herausfordernden Pose des lokalen Widerstands an den verschlossenen Pforten der Globalisierung in Stellung gebracht. Der Poetik der Nordgrenze bleibt damit auch nach der Ära des nacionalismo repelente das Element der kulturellen Resistenz vorbehalten, denn der Dialog mit dem stets distanten Nachbarn bleibt auch nach der Krise der Nationalstaaten ein neuralgischer Punkt des mexikanischen Selbstverständnisses. Was bei Rivera als Echo der Vergangenheit vernehmbar wird, ist das historische Leitmotiv der mexikanischen Border Bandits, die in Pancho Villa ein legendäres historisches Vorbild haben.21 Die Ambivalenz des mexikanischen Outlaws wird bei Rivera zu dessen Gunsten entschieden, der einen jungen Cyberpiraten zum Helden im Kampf gegen eine lebensbedrohliche Fremdbestimmung befördert. Die problematische Kontaktzone als Bühne kultureller Divergenzen findet im virtuellen Bereich lediglich eine Ausweitung der Konflikte in den borderlands. Während der Kulturkontakt zwischen den polarisierten Zeitregimen zunehmend die Züge einer klinischen Segregation annimmt, wächst die diachrone Bedeutung der Nordgrenze als einer Kontaktzone der Mexikaner mit ihrer eigenen Vergangenheit und bietet eine mnemische Orientierung bei der Selbstbehauptung gegen eine bedrohliche Extrakultur. Dass die silent invasion im düsteren Zukunftsbild des Films zum Erliegen kommt, ist natürlich als Triumph trennscharfer Automodellierungen zu verstehen. Die semiotische Kontamination der Grenzgebiete wird an der verhärteten Kulturfront ausgeschlossen und mit einem anderen Typus der Kontamination kompensiert, nämlich der Kontamination der Gegenwart durch eine traumatische Vergangenheit.

19 20

21

Zit. in Brescia 2015, 276. Zu dem in dieser Arbeit im Rahmen der comedias rancheras untersuchten Phänomen der Deckerinnerungen im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit vgl. Landsberg 2004, 15-18. Das Invasionsphantasma an der Grenze von Sleep Dealer wird konsequent bis in die Privatsphäre projiziert. In Riveras Zukunftsvision wird nicht nur der Schlaf der von ihrer Gegenwart entkoppelten cybraceros zum kommodifizierbaren Gut, sondern auch ihre intimsten Erfahrungen. Die Einverleibung der Fremdheit wird so imaginiert als Errungenschaft des technologischen Fortschritts, der jedoch, isoliert hinter der ökonomischen Grenzlinie einer Paywall, nur privilegierten Weltbürgern vorbehalten bleibt. Zur Geschichte und Soziologie der Border Bandits im Film legt Camila Fojas eine kenntnisreiche Studie vor, die eine filmhistorische Typologie des Grenzbanditen in die binationale Entwicklung einbettet (Fojas 2008, 5-8).

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

Eine Reise in das einschlägig imaginierte Zeitregime der Moderne einschließlich seines unbedingten Fortschrittsglaubens bleibt den Mexikanern in Sleep Dealer verwehrt und die gegenseitigen Feindbilder werden in der reziproken Angst vor einer Invasion aktuell gehalten. Indem Rivera die intime Feindschaft zum coloso del Norte weiterpflegt, wird die Mnemotopie der Nordgrenze in ihrer Funktion der kollektiven mexikanischen Selbstverständigung behauptet, gleichzeitig aber auch die Berechtigung eines alternativen Zukunftsmodells eingefordert. Genau hier scheint ein mexikanischer Akzent des cine fronterizo zu liegen, denn die Triangulation der Zeiten, die immer wieder durch die Grenzüberquerung veranschaulicht wird, bedient auch in diesem Fall eine Solidarisierung mit einer als rückständig gebrandmarkten Vergangenheit. Doch weit entfernt von einer zahmen »Wiederanknüpfung an das Ursprüngliche«22 , die in der Época de Oro häufig als zahnlose Schicksalsergebenheit inszeniert wurde, wird in Sleep Dealer die konfliktreiche Mnemotopie der Grenze mit heißer Mythomotorik der legitimen Auflehnung aufgeladen. In Memos Kampfansage an die Hierarchie der Zeitregime wird die Koexistenz der Zeitkulturen als bittere Konkurrenz verarbeitet, die an der Nordgrenze ausgefochten wird. Obwohl die Rückkehr zur Tradition zunächst an Bachtins eschatologisches Konzept der historischen Inversion erinnert, die in frühen mexikanischen Heimatfilmen den Gedächtnisvektor der restaurativen Nostalgie begründet hatte, wird in Memos Besinnung auf Wasser, Mais und Bohnen – zeitlosen Symbolen der mexikanischen Existenzgrundlage – letztlich eine alternative Zukunftsvision ins Feld geführt, die die mexikanischen tradición eterna nobilitiert, deren Kompatibilität mit einer technologischen Entwicklung er als Autodidakt der Informationsgesellschaft unter Beweis stellt. In dieser mexikanischen Zeitsynthese bleibt die Zukunft Mexikos geprägt vom Grenzbewusstsein, das Mexiko immer wieder auf das antimodernistischen Credo »Gegenwartsnegation durch Vergangenheitsaffirmation«23 zurückwirft und zu Gegenreaktionen herausfordert. Rivera revidiert die barsche Zurückweisung, die der Traktorfahrer Rafael in Espaldas mojadas bei der Grenzkontrolle erfahren hatte24 , indem er zunächst die historische Bürde der Unterlegenheit auf dem Rücken der cybraceros in virtueller Sphäre durchspielt. Die mexikanische Hypolepse bedient aber schließlich ein Ringen nach globaler Anschlussfähigkeit im Sinne einer selektiven Einverleibung des Fortschritts. Der ›sueño mexicano‹, der sich im Schatten des American Dream manifestiert, ist in Sleep Dealer das Klopfen des Parias an die Tür der globalen Wirtschaft. Wenn also die kulturelle Alterität als pensée du dehors (Michel Foucault) in Form eines subalternen und ausgegrenzten Mexikos erscheint, wird der Film als Herausforderung geopolitischer Mauern und sozialer Barrieren lesbar. Die lange Tradition der illegalen Grenzüberquerung, die auch im 21. Jhd. der Wanderarbeit und Schattenwirtschaft zu Grunde liegt, wird aufwertend demaskiert als die Forderung eines jungen mexikanischen Jedermanns nach Gerechtigkeit und Inklusion.

22 23 24

J. Assmann 1991, 348. Marquard 1987, 347. Mit »[l]as máquinas no son para los mexicanos« (5:32) wird Rafael als mexikanischer Jedermann in Espaldas mojadas vom Grenzbeamten pauschal in die Schranken der Vormoderne gewiesen.

401

402

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime   Der Solidarisierung mit dem Subalternen aus mexikanischer Perspektive steht eine fortwährende Auffrischung der Invasionsängste im jüngsten US-amerikanischen Kino gegenüber. Die mexikanische Einwanderung bleibt ein Störfaktor der kinematographischen Weltmodellierung und die Grenze zu Mexiko bleibt auch weiterhin besetzt mit der Ereignismatrix einer bedrohlichen Transgressivität. Im Medium des Unterhaltungsfilms als Vergrößerungsglas historischer Folklore wird die »xenofobia antimexicana«25 verwertet in zeitgenössischen Western-Narrativen wie Borderline (1980) oder karikiert in Chicano-Satiren wie Born in East L.A. (1987). Sie ist auch präsent in der Mexploitaiton-Ästhetik von Perdita Durango (1997) oder Machete (2010). Die diffuse Bedrohung aus dem Süden wird in unheimlicher Spielart auch im Blockbuster No country for old men (2008) verarbeitet und im Archetyp des unstoppable evil aufgefangen, so dass die Beziehungen zu Mexiko im Bereich einer stets konfliktträchtigen Überhistorie isoliert werden. In der massenmedialen Rekonstruktion des »Great Divide«26 kommt das historische Unbewusste in den zu interkulturellen Gemeinplätzen erstarrten Greaser- und Ranger-Ikonen immer wieder zum Tragen und verankert auf implizite Weise ein ums andere Mal die kulturelle Unvereinbarkeit im sozialen Gedächtnis der USA. Das »imaginary illegal Alien«27 wird in den narrativen Reproduktionen der US-amerikanischen Natiogenese zu einer immer wieder bemühten Kampfvokabel der Frontier-Mentalität, so etwa in der Gesellschaftssatire A Day Without a Mexican (2004), dem besagten Neo-Western Borderline (1980) aber auch in Broken Land (2014), einem Dokumentarfilm, der die lebenswirklichen Hintergründe der Invasionsängste nachzeichnet. Als handelte es sich um die Zuspitzung eines zeitlosen Credos des USNationalbewusstseins, das in den borderlands stets präsent bleibt, hört man dort einen Grenzbewohner, der sein Territorium vergeblich gegen Eindringlinge aus dem Süden abzuschirmen versucht, sagen: »It’s not paranoia, it’s just kind of a way of life.« (14:49). Dass die mexikanische Nordgrenze im 21. Jhd. als einer der weltweit bekanntesten Orte der Migrationsdramen ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt ist, spiegelt ein Interesse an den Schattenseiten des Kosmopolitismus wieder. Border cinema und cinema fronterizo fügen sich damit in das Übergenre des Accented Cinema (Hamid Naficy), das seine Blicke verstärkt auf Migrationsbewegungen und unbewohnbar anmutende Schattenorte der globalen Wirtschaft richtet. So wie in Sleep Dealer, werden im Kino des postnationalen Zeitalters weltweit Tendenzen der Renationalisierung oder Anerkennung von differenten Kulturmustern sichtbar:

borders are open, and infected wounds and the subjectivity they engender cannot be postnational or post-al, but interstitial. Unequal power relations and incompatible identities prevent the wound from healing.28

25 26 27 28

Fuentes 1991, 373. Klahn 1994, 29. Vgl. hierzu Fojas 2008, 83-108. Naficy 2001, 32.

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

Naficys Metaphorik der schwärenden Wunde ist deckungsgleich mit Fuentes’ Umschreibung der mexikanischen Nordgrenze als »herida abierta«29 und weist auf das Moment der mnemotopischen Zeitresistenz hin, das eine kollektive Identitätskonkretisierung nur über Rückholungen der Vergangenheit ermöglicht. Auch wenn seine Vorstellung von »Border Effects«30 im Gegensatz zu Fouchers effet frontière eher die semiotischen Überblendungen in den Vordergrund stellt, wird das Nord-Süd-Gefälle auch weit über die Época de Oro hinaus kinematographisch verarbeitet. Die Mnemotopie der Nordgrenze arbeitet damit auch im 21. Jhd. gegen eine transkulturelle Dynamik und konturiert die Nationalidentitäten in Nordamerikas anhand von konventionellen Vergangenheitsbildern. Die Mnemotopie als topologisches Verwahrungskonzept einer allzeit abrufbaren, hypoleptisch konstituierten longue durée weist auch nach der Sprengung klassischer Gedächtnisrahmungen auf eine prinzipielle »Angewiesenheit auf residuale Vertrautheiten«31 hin.

4.2.

Bajo California: los límites del tiempo (1998) – Zeitreisen der transnationalen Selbstverortung

Die seit den Anfängen der Filmgeschichte auffällig negative Symbolik der mexikanischen Nordgrenze, droht jedoch in einer allzu einseitigen Bilanzierung der Grenz-Mnemotopie zu enden. Es kann zwar kaum Zweifel darüber bestehen, dass die zyklische Renaissance nationalistischer Konjunkturen, die in Slogans wie America first unverkennbar mitschwingt, die Grenzspannungen präsent hält und die Bewältigung historischer Bürden zwischen den USA und Mexiko erschwert. Die Frage, die sich abschließend aufdrängt, ist daher, ob die Grenz-Mnemotopie jenseits ihrer Funktion einer zukunftsresistenten Kulturbarriere auch alternative kinematographische Aufbereitungen bereithält und einer weiteren Frontenverhärtung entgegenwirken kann. An einem letzten Beispiel soll daher gezeigt werden, dass im cine fronterizo auch positive Imaginationsformen der border shifters existieren. Die Vorliebe des Accented Cinemas für amphibolische Figuren32 gilt im Falle Nordamerikas vor allem dem Gedächtniskollektiv, das sich seit 1848 zwischen den Fronten zu befinden scheint: den Chicanos, die in Mexiko häufig als entfremdete pochos belächelt werden und in den USA, wo seit der Entstehung der Nation ein Kampf gegen den »défi hispanique«33 geführt wird, auf nicht minder schwierige Integrationsbarrieren stoßen. Carlos Bolados Debütwerk Bajo California: El límite del tiempo (1998) weist bereits im Titel darauf hin, dass die mexikanische Nordgrenze auch im jüngsten cine fronterizo zur Vorstellung entgegengesetzter Prägungen des Zeitbewusstseins beiträgt und die Nordgrenze in ihrer Funktion der historischen Trennlinie zwischen nationalen Gedächtniskollektiven betont. Mit seinem Film legt der Regisseur sein Augenmerk aber just auf

29 30 31 32 33

Fuentes 1992, 287. Naficy 2001, 31-33. A. Assmann 2013, 228. Vgl. Naficy 2001, 32. Foucher 1986, 385.

403

404

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

das fragile Gedächtniskollektiv der Chicanos, für die die Vorstellung der Grenze als Narbe in besonderer Weise das Bewusstsein für eine gebrochene, doppelt marginalisierte Identität stützt. Der Film zeichnet eine umgekehrte Bewegung im Vergleich zu herkömmlichen Bracero-Filme, denn die Überwindung der Grenze beginnt bei Bolado auf US-amerikanischer Seite. Die Hinwendung zur Vergangenheit, die der Protagonist Damián Arce (gespielt von Damián Alcázar) bei seiner rituellen Besinnungsreise in das mexikanische Kalifornien vornimmt, scheint zunächst das Leitmotiv des retrospektiven mexikanischen Zeitregimes zu bedienen. Doch mit Hilfe einer weiteren bemerkenswerten Umkehrung der konventionellen Grenz-Mnemotopie, wird im Film eine maximale zeitliche Gedächtnisklammer entworfen, die den Zuschauer auf die allerersten Spuren der Menschheit in Kalifornien mitnimmt. Das prähistorische Kulturerbe bietet eine universale Identifikationsvorlage, die nicht nur über Gedächtnisschranken, sondern auch allgemein über das Leid erhaben zu sein scheint, das im Namen territorialer Grenzziehungen der Neuzeit verursacht wurde. Damián ist ein in Los Angeles geborener Land-Art-Künstler der sich entschließt, das Grab der Großmutter in Baja California zu besuchen. Ein ebenso relevantes Reisemotiv ist für ihn aber auch die Flucht vor den Gewissensbissen, eine schwangere Frau mit ungeklärten Folgen angefahren zu haben. Gleich zu Beginn wird der topische Roadtrip nach Mexiko, die der Chicano auf Selbstsuche unternimmt, mit der Aura einer Zeitreise versehen. Der Kamerablick in den gebrochenen Rückspiegel des Autos (5:28), die Erinnerungen an den traumatischen Zusammenstoß und die Serie von Autowracks in den Straßengräben laden die Überschreitung der Grenze zu einer symbolischen Rückkehr in die Vergangenheit auf, die sukzessive die Züge einer prähistorischen Zeitrechnung annimmt. Im mexikanischen Süden wähnt Damián nicht nur einen unschuldigen status quo ante, sondern auch seine eigene Vorgeschichte und sein Tiefenbewusstsein. Den Umschlag der Zeitregime verdeutlichend, verbrennt Damián nach dem Grenzübertritt sein Auto in einer Art Reinigungsritual und entledigt sich nebenbei auch des Fortschrittssymbols, das den Unfall erst verursacht hatte. Im Motiv der brennenden Erde, die dieses verfluchte Artefakt der Moderne kreisförmig umgibt, wird die Sehnsucht des Büßers nach einer biographischen Erfahrungsschwelle symbolisiert, mit der Damián einen neuen Zyklus einläuten möchte. Damiáns Reise ins Jenseits der Frontera korrespondiert mit einer Reihe von liminalen Erfahrungen. Allem voran steht er an der Schwelle zu einer Neugeburt, denn er erwartet ein Kind von seiner angelsächsischen Lebenspartnerin, womit Bolado eine symbolische Überwindung der despot duality zwischen Mexiko und den USA anzubieten scheint (Abb. 145). Bei der Passage in den Süden handelt es sich aber auch um eine Art ›Reinitiationsreise‹ des verlorenen Sohns, die aber nicht in die Glorifikation der verschollenen Heimat münden kann, wie es die patriotische Affektsteuerung des Cine de Oro vorgegeben hätte. Ihm steht vielmehr eine Reifeprüfung bevor, die eine grenzübergreifende Wiedereingliederungsdynamik und eine neue Stufe der Transkulturation auslösen soll: die Rückbesinnung auf die kontinentale télé-histoire. Bolado schickt seinen Protagonisten auf eine Gedächtnisreise, bei der er eine Sensibilität für das Suchen von Spuren der Zeit entwickelt und jeden Fundort als potenzielle Kultstätte mit eigenen Land-Art-Schöpfungen weiht. Gleichzeitig sind diese Orte immer auch Forschungsstätten, an welchen sein historisches, mitunter auch prähistori-

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

sches Bewusstsein wächst. Auf besonders eindrückliche Weise wird die Bewohnbarkeit der Prähistorie symbolisiert durch das Walgerippe, das Damián rekonstruiert, als handle es sich um die archäologische Instandsetzung urzeitlicher Ruinen (Abb. 146). Dass die Urzeit, allen historischen Umbruchsmomenten zum Trotz, ihre Geltung ausspielen kann, wird durch den lebendigen Wal angedeutet, den der Zeitreisende im Pazifischen Ozean erblickt. Damiáns second birth34 aus dem prähistorischen Walgerippe steh damit für einen neuen Zyklus aber auch für den großen, überhistorischen Bogen, der seiner bevorstehende Vaterschaft vorausgeht, angedeutet durch die assoziative Kontrastmontage des auftauchenden Wals und des schwangeren Mutterleibs. Damiáns Erfahrung eines symbolischen regressus ad uterum35 und des anschließenden Wiedergeburtsritual stellt eine Verneigung vor zeitlosen Determinanten menschlichen Handelns dar, die an Eisensteins in Mexiko gereifte Gedankengängen zur zyklischen Entwicklung erinnert. Wie auch Que viva México! bietet Bolados Roadmovie eine Reflexionsgrundlage zur Allgegenwart des »prälogischen Denkens«, bei der das Reisen im Raum zu einer performativen Wiederbelebung der Vergangenheit wird und damit zu einer Reise durch die Zeit.

Abb. 145: Die Nordgrenze als Limes gegensätzlicher Zeitkulturen wird im Bewusstsein einer transnationalen ›in-betweenness‹ des Chicanos zu einem Symbolort seiner gebrochenen Identität. Abb. 146: Das rekonstruierte Walskelett bietet dem Chicano-Nomaden Schutz vor der metaphysischen Unbehaustheit. Hier wird auch das ›Reinitiationsmoment‹ übertragen auf eine Rückkehr in die absolute Vergangenheit.

In der Imagination eines außenstehenden desarraigado wird die Mnemotopie der mexikanischen Nordgrenze in Bajo California zum Einfallstor in die kontinentale Vorgeschichte, die umso präsenter wird, je tiefer der Heimkehrer in das Landesinnere dringt. Damiáns Parcours durch die Geschichte führt über die Jesuitenmissionen, architektonische Gedächtnisanker, die an die graduelle Erschließung des Nordens im Zuge der

34

35

Den Überlegungen zur Reise in das mythische south of the border als Übergangsritus der Chicanos liegen Eliades Ideen zur überhistorischen Symbolik der rituellen Wiedergeburt zu Grunde (vgl. Eliade 1961, 184-201). Vgl. Eliade 1961, 197f.

405

406

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

Conquista gemahnen. Mit der Rückholung der Kolonialzeit werden aber auch Reminiszenzen an die nomadischen Volksstämme wachgerüttelt, die als Rebellen gegen die Evangelisierung und als Opfer verheerender Epidemien ›das Zeitliche segnen mussten‹, womit ein früherer Einschnitt der kontinentalen Zivilisationgeschichte aktualisiert wird und sich vor die caesura historica von 1848 stellt (14:09). Die Reaktivierung eines topologisch ausgelagerten Gedächtnisses arbeitet aber auch der Rehabilitation einer verschollenen hispanischen Gemeinschaft in die Hände, die Damián zusammen mit einem Fremdenführer, der ebenfalls Arce mit Nachnamen heißt, bei seiner existenziellen Wallfahrt wiedererlangt. Der Schulterschluss mit seinem entfernten Verwandten gelingt, indem der Land-Art-Künstler aus dem Stegreif den Arce-Stammbaum anhand von Steinen rekonstruiert. Die gleichsam petrifizierte Geschichte wird damit aus einem mythischen Gedächtnis gelöst und die verschollene Verwandtschaft des Chicanos in einem performativen Akt der Selbstverortung restituiert. Was Benedict Anderson als die »aura of fatality«36 bezeichnet, die einer unumstößlichen nationalen Zugehörigkeit zu Grunde liege, kommt in der gebrochenen Identität Damiáns natürlich nur als Schwundstufe jener alten »beauty of Gemeinschaft«37 zum Vorschein, denn als Chicano weiß er um die Bitterkeit nationalistischer Einheitsstiftung. Charakteristisch für die Grenz-Mnemotopie ist das Moment der changierenden Zeitempfindung, die durch die räumliche Verlagerung eines Grenzgängers ausgelöst wird. Für den modernen Nomaden auf der Suche nach seinen Wurzeln wird die Rückkehr an die Ruhestätten seiner Vorfahren zu einem Ausdruck der räumlichen Identitätsverankerung: Erst mit der Überquerung der Grenze als límite del tiempo kann Damián wieder ein Bewusstsein für die tiefliegenden Sedimente der Zeit erlangen und in einen Dialog mit seiner Vergangenheit treten. Am Grab seiner Großmutter angekommen, wird der Totenkult als emblematischste Form der Vergangenheitspflege veranschaulicht: Ähnlich wie im Falle der reumütigen Geständnisse an den toten Vater in Flor silvestre wird der Friedhof zu einem mexikanischen Dialograum mit einer lebendig gehaltenen Vergangenheit: »Sabes abuela«, behauptet der border shifter bei seinem spirituellen Roadtrip, »nunca lo había sentido tan claramente: El pasado son todos nuestros muertos« (44:23). Im Gegensatz zu Flor Silvestre, wo die Anrufung des ermordeten Vaters eine konterrevolutionäre Vergeltungslogik motiviert, handelt es sich diesmal aber um eine befriedete Wiederbegegnung mit der eigenen Ahnenreihe. Da Damián seiner Großmutter zu Lebzeiten nie begegnet ist, weist seine Verneigung vor einer unbezeugten Vorgeschichte auf den Umschlag des kommunikativen Gedächtnisses in ein nurmehr indirekt erfahrbares kulturelles Gedächtnis hin und erweitert Andersons nationale Klammer der »indefinitely stretchable nets of kinship«38 auf eine übernationale, grenzübergreifende Identifikation mit der »gran familia mexicana«39 . Der metaphysische Dialog mit den Vorfahren weist hier in einer radikaleren Weise auf die Kontinuitätsstiftung einer situativen und lokal eingefassten Vergangenheit, denn was hier auf

36 37 38 39

Anderson 1991, 143. Ebd. Anderson 1991, 6. Pérez Montfort 2008, 133.

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

dem Spiel steht, ist die Zivilisationsgeschichte, die sich bajo California, unter der Erde Kaliforniens befindet. Wie es bereits im Wortspiel des Filmtitels anklingt, wird die historische Trennung von Baja und Alta California aus der Perspektive einer geologischen Indifferenz als ein zwar folgenschwerer, aber letztlich nicht sehr weit zurückreichender Eingriff des Menschen in den Naturraum relativiert. Das uneigentliche Verständnis von Geschichte als »Schichtung von Zeiten«40 , erhält in diesem temporalen Totalhorizont nicht nur eine allumfassende zeitliche Klammer, sondern auch eine räumliche Entgrenzung auf ein Kalifornien vor 1848, bevor es gegensätzlichen Nationalordnungen zugeführt wurde. Aus der Distanz des Spätgeborenen verzichtet Bolado in seiner Rückführungsfabel jedoch auf das Pathos der konservativen Repatriierungsdemut, mit der im klassischen mexikanischen Kino das Nationalbewusstsein gestählt wurde. Mit Feingefühl für die mexikanische Zyklik, die an Juan Rulfo und Carlos Castañeda geschult ist41 , skizziert der Regisseur die Verflechtung eines kollektiven Gedächtnisses mit einsamen Naturorten als cadres spatiaux naturverbundener Gemeinschaften. Analog zu Maurice Halbwachs’ Untersuchung materieller Gedächtnisanker, kann auch hier eine Gemeinschaftsbildung nur der Permanenz materieller Milieus entwachsen. Allerdings ist für die Identitätsstabilisierung des Nomaden die Physiologie der vertrauten Umgebung eine naturbelassene und vom Fortschritt ungekerbte. Das Leitmotiv der Steine, die der Landschaftskünstler zu genealogischen Stammbäumen fügt, als Ornamente arrangiert oder in den Mund nimmt, um einen Brauch der Urahnen nachzuahmen, spiegelt die »impassibilité des pierres«42 wieder, die das vertraute Dekor der heimatlichen Ordnung in sich trägt. Ein bedeutender Unterschied liegt allerdings darin, dass die Heimatverbundenheit eines bereits als dépaysé auf die Welt Gekommenen nicht wie bei Halbwachs mit der geschlossenen Formgebung einer Stadt oder Siedlung enggeführt wird, sondern in nomadischer Filiation mit einer Ära lebensbestimmender Naturgewalten. Und es ist buchstäblich die lokale Steinzeit, die Damián schließlich zur ultimativen Repristination seines Selbstgefühls aufsucht und dabei einen Identifikationsversuch unternimmt, der mit Jan Assmanns als »Anklammern an urzeitliche […] Ereignisse«43 betrachtet werden kann. Nach seiner transzendentalen Begegnung mit der Großmutter pilgert er nämlich weiter in die Berge von Baja California, wo ihn eine Serie von Wandmalereien erwartet, die zu den frühesten Zivilisationsspuren Kaliforniens gehört und Damián zur Rekonstruktion maximaler Zeitsynthesen einlädt. Auch hier ist das Vordringen in das mexikanische Hinterland als eine Zeitreise im Raum zu denken, bei der die Mnemotopie der Nordgrenze ihre Logik der Umbruchslinie von Zeitregimen weit in das Landesinnere ausstrahlt. Vor allem beim Anblick des prähistorischen mural, der als »la familia

40

41 42 43

Auf die scheinetymologische Verquickung von Geschichte und Raum weist Reinhart Koselleck hin. In der sprachhistorischen Reflexion zum Begriff ›Geschichte‹ erklärt der Autor zwar das Primat der Zeit mit dem Hinweis auf das Verb »geschehen« als eigentliches Etymon, behandelt jedoch die räumliche Dimension der Geschichte als nicht minder bedeutsam für das Geschichtsbewusstsein (vgl. Koselleck 2013, 9-12). Vgl. Ruffinelli 2010, 210. Halbwachs 1968, 134. J. Assmann 2013, 38.

407

408

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

del hombre« (1:20:18) bezeichnet wird, gelingt Damián der Brückenschlag zu den »aboriginal memories«44 , die eine paläontologische Identifikation mit überregionalen und letztlich auch universalen Ursprüngen der Menschheit bedienen. Zieht man Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) als prominentes Gegenbeispiel zur kinematographisch modellierten Anthropogenese bei Bolado heran, so wird der »Aufbruch der Menschheit« (»Dawn of Man«), wie die berühmte Ouvertüre des Films heißt, in Bolados Nachempfindung gerade nicht von einem fundierenden Mord in Gang gesetzt. Die postulierte Urszene der mexikanischen Eigengesetzlichkeit liegt in Bajo California vielmehr in einer integren Urhorde, die den Archetyp der Familie vor den Fortschrittsglauben positioniert. In Kubricks berühmtem match cut wird ein zur Tötungswaffe umfunktionierter Knochen von einem Affenmenschen in den Himmel geschleudert, wo er zum Raumschiff wird, so dass ein Gewaltakt als Triebfeder der menschlichen Evolution suggeriert wird. Im Gegensatz dazu ist es in Bajo California ein Stein, den Damián als friedfertiger homo faber im performativen Akt der Befreiung in eine tiefe Schlucht wirft. Kubricks Hymne an die Expansion des Menschen wird kontrastiert durch Bolados Regressionslust und der hypoleptischen Anknüpfung an eine Urzeit, die durch Damiáns Wiederentdeckung und Nachahmung des frühzeitlichen muralismo symbolisiert wird (1:00:04-1:01:41). Die Überschreitung der Nordgrenze bildet damit eine Reaktivierung des Gedächtnisses in vielfacher Hinsicht, denn die biographische Rückbesinnung Damiáns führt über eine überhistorische prise de conscience. Wie auch in Eisensteins Betrachtung der mexikanischen télé-histoire eine Reflexion zur »participation mystique« (Lévy-Brühl), respektive zur unio mystica vorgelegen hatte45 , erfolgt bei Bolado die mnemotopische Rückholung der Vergangenheit aus der paradoxen Stimmung einer reflektierten Ekstase. Die Mnemotopie der Grenze entfesselt auch in diesem Fall das hermeneutische Widerspiel, das Aby Warburg als »Einschwingen in die Materie und Ausschwingen zur Sophrosyne«46 gefasst hatte. Dieses Alternieren von Teil- und Distanznahme, das Damián immer wieder zum kontemplativen Innehalten veranlasst, bildet den »Grundakt menschlicher Zivilisation«47 , legt aber gleichzeitig auch die Grundzüge der mnemotopischen Raumwahrnehmung offen, bei der jeder historische Andachtsort immer auch ein potenzieller Denkort ist; bei der ein ritueller Vergangenheitsbezug immer auch intellektuellen Durchdringungsversuchen zugeführt werden kann; bei der schließlich jede Rückholung in gleichem Maße als passive und aktive Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftspflege vorgenommen werden kann. Natürlich deutet Damiáns Rückbesinnung, wenn man eine konservative Lesart bevorzugt, in ähnlichem Maße wie Memos mexikanische Selbstaffirmation in Sleep Dealer auf die Losung »Zukunft braucht Herkunft«48 hin, mit der Odo Marquardt den Ursprungsmythen eine dominante Rolle in der Triangulation der Zeiten einräumt. Für den Chicano ist jedoch der Ursprungsbegriff von jeher mit formativen Zwiespälten besetzt.

44 45 46 47 48

Said 2000, 178. Vgl. Bohn 2003, 135-142. Warburg 2010, 629. Ebd. Vgl. Marquardt 2003, 234-246.

4. Grenz-Mnemotopie – serielle Geschichte und Zeitreisen im Raum

Die idyllische Einheit des Ortes, die in der positiv gewandten Mnemotopie der Hacienda eine »Abschwächung aller Zeitgrenzen«49 darstellte, ist kaum vorstellbar in einer Welt akzentuierter Umbruchslinien, mit einer Frontera, die sich in Damiáns gespaltener Bewusstseinsprägung widerspiegelt. Seine Herkunft entspricht einer prinzipiellen Identitätsdoppelung, die in der Unauflösbarkeit biographischer und historischer Ursprünge präsent gehaltenen wird und die der Film mit einer maximalen, raumzeitlich ›entgrenzten‹ Gedächtnisklammer aufzulösen versucht. Innerhalb nationaler Identitätskategorien bleiben für Damián die »liminal spaces of national society«50 reserviert, Räume Identitätsamphibolien, die vor allem Gloria Anzaldúa in ihrer autobiographischen Selbstverortung Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, als den permanente Zwischenraum »Nepantla«51 prominent gemacht hat. Die Autoreflexivität von Damían ist in hohem Maße dafür prädestiniert, den Zuschauer beim Durchqueren der Zeitregime für die Kontingenzen der kontinentalen Geschichte zu sensibilisieren. Eine Aufwertung der ort- und heimatlosen »tercera hispanidad«52 , die üblicherweise in der Anomie einer zona libre isoliert wird oder sich in der kulturellen Peripherie des Third Space53 wiederfindet, wird in Bajo California daher just durch sein Oszillieren zwischen den Kultursphären versinnbildlicht. Nach der rituellen Reinitiation bricht er nämlich wieder in das nördliche Kalifornien jenseits der Grenze auf, wo bereits ein neuer Lebenszyklus grenzübergreifender Transkulturation in der Figur seiner neugeborenen Tochter initiiert wurde. Die Grenz-Mnemotopie in der Perspektive eines Chicanos, der es schafft, räumliche Barrieren in ähnlichem Maße wie die zeitlichen zu überbrücken, führt letztlich auch zur Ausweitung nationaler, von den Landesgrenzen limitierter Gedächtnisrahmen, die den mestizaje-Begriff auf Prozesse transnationaler Gedächtnisbildung projiziert. Man kann Bolados Film daher dem hypothetischen Genre eines ›cine transfronterizo‹ zuordnen, denn in der zirkulären Reisebewegung von Damián Arce wird die Fusion nationaler Binarismen, die bei Michel Foucher unter dem Schlagwort »Mexamérique«54 geführt wird, um die Invasionsängste bereinigt, die das cine fronterizo für gewöhnlich dominieren. Bolados Werk wird damit als Einladung lesbar, den schwierigen aber notwendigen Dialog zwischen konträren Gedächtnishorizonten als alternative Zukunft zu imaginieren. Und doch bildet Bajo California: El límite del tiempo eine Ausnahme in der kinematographischen Grenzfolklore, in der ein nahezu liturgisches Gedächtnis die kulturellen Grenzen

49 50 51 52 53

54

Bachtin 2008, 161. Bhabha 1994, 162. Vgl. Anzaldúa 1987, 78, Den Begriff führen im Folgenden u.a. auch Mignolo 1995, xvi und Keating 2006, 8f. Fuentes 1992, 374. Zum Zwischenraum, in dem jeder, wie Karl Schlögel schreibt, »ein bißchen zu einer amphibischen Existenz« wird (Schlögel 2003, 293), hat vor allem Edward Soja eine richtungsweisende Studie vorgelegt und als eine Weiterführung der Foucaultschen Skizze zum Phänomen der Heterotopologie konzipiert (vgl. Soja (1996)). Eine weitere Anknüpfung, auf die Soja ebenfalls zurückgreift, bildet die liminale Kulturverortung im Third Space bei Bhabha (vgl. Bhabha 1994, 36-39, sowie Rutherford (1990)). Foucher 1986, 384.

409

410

D. Die Nordgrenze – Kontaktzone der Zeitregime

präsent hält. Dass die »Aufhellung und Zerstreuung von Vorurteilen«55 selten das politsche Kalkül der kinematographischen Zerstreuungsindustrie darstellt, ist eine Binsenweisheit, die eine kritische Rezeption der massenmedialen Arbeit an Mnemotopen erfordert. Das freie Spiel mit den verschollenen Vertrautheiten macht Bajo California zu einem der spärlich gesäten, aber durchaus zukunftsträchtigen Filme, in der eine prinzipiell gespaltene Bewusstseinsprägung propagiert wird, die aus einer reflektierten Form des kulturellen mestizaje resultiert. Bolados kinematographische Gedächtnisarbeit, die ihre Botschaften gleichsam als »Flaschenpost für eine andere Zukunft« (Fredric Jameson) lanciert, besitzt das Potenzial, die Asymmetrien kultureller Identitäten abzubauen, da es den Grenzgang zur Metapher der empathischen Weltaneignung werden lässt. Seine Version der Grenz-Mnemotopie bietet dem Zuschauer einen kinematographischen Erfahrungsraum, der zur Identifikation mit Formen der kulturellen Alterität einlädt und Fremdheit, allen territorialen und historischen Bruchlinien zum Trotz, als letztlich immer schon internalisierte Größe begreifen lässt.

55

Arendt 1993, 17.

Conclusio: Mnemotopie und die große Zeit

The past is never dead. It’s not even past. (William Faulkner, Requiem for a Nun)   nuestro siglo XX había transformado la fábula de Mahoma y de la montaña; las montañas, ahora convergían sobre el moderno Mahoma (J.L. Borges, El Aleph)   La memoria nos hace creerla prístino manantial de identidad, cuando en verdad es un lioso mecanismo de supervivencia. (Mauricio Tenorio Trillo, Culturas y memoria) Eingedenk der Bilderflut, die während der mexikanischen Época de Oro entstanden ist, ist der Versuch, ein ortsbasiertes kulturelles Gedächtnis Mexikos im Filmmedium zu ergründen, mindestens als ambitioniert zu bezeichnen, Bereits Michel Foucault weist in Archäologie des Wissens darauf hin, dass man »das Archiv einer Gesellschaft, einer Kultur oder einer Zivilisation nicht erschöpfend beschreiben kann; zweifellos nicht einmal das Archiv einer ganzen Epoche«1 . Will man also der Gefahr eines epistemologischen Glasperlenspiels vorbeugen, werden bei der Arbeit mit großen kulturellen Textarchiven subjektive Organisationsprinzipien erforderlich, die im Rahmen des vorliegenden Projekts in der Selektion von drei Orten bestand, die der postrevolutionären Identitätsstabilisierung im Nationalfilm bedeutende Vorlagen für eine Einschmelzung divergenter, mitunter widerstreitender Vergangenheitsversionen boten. Die Tücken eines unfassbaren und gegensätzlichen Textarchivs ließen sich mit dem Befund umgehen, dass die Massenproduktion des Cine de Oro eine verhältnismäßig geringe Varianz der Vergangenheitsbezüge vorweisen kann und die großen Linien der gesellschaftlich relevanten Gedächtnisformation sich entlang von kleinen, aber repräsentativen Werkkorpora ziehen lassen. Indes lag die Herausforderung immer wieder in der Frage, welche Rolle die Ruinen, die Haciendas und die Nordgrenze im topologischen Traditionskanon tatsäch-

1

Foucault 1981, 189.

412

Mnemotopie im mexikanischen Film

lich gespielt haben und inwiefern der Film als Medium des Fort- aber auch Umschreibens der Geschichte zur Wechselbeziehung von Funktions- und Speichergedächtnis beitragen kann; welche Ortslogik, zum Beispiel, bei der Arbeit mit Ruinen aus einem undechiffrierbar gewordenen Speichergedächtnis entborgen werden konnte, oder was bei den Hacienda- und Grenz-Darstellungen im Bereich traumatischer Erinnerungen ausgelagert bleiben musste. Hierfür waren die Passagen zur topogenetischen Vorgeschichte unabdingbar, da sie nicht nur kulturelle Kontinuitätslinien und Bruchmomente erhellen konnten, sondern auch die Differenzen, die zwischen historiographischer Durchdringung der Vergangenheit und dem kinematographisch konstruierten Gemeinschaftssinn bestehen können. Eine diachrone Auffächerung der Ortsgeschichte und ihrer jeweiligen Gegenwartsbedeutung war darüber hinaus hilfreich, um eine jeweils andere gedächtnisstiftende Erfahrungsschwelle im mexikanischen Selbstverständnis auszuleuchten. Trotz seiner eher jungen Begriffsgeschichte ist das methodische Konzept der Mnemotopie, das die drei Fallstudien zusammenführt, sicherlich kein ideengeschichtliches Novum. und versteht sich, Im Gegensatz zum häufig vernommenen Ouvertürenpathos im »Karussell der ›turns‹«2 , war die methodische Annäherung an den Gegenstand von der Überzeugung geleitet, dass auch die Geistesgeschichte unweigerlich als ein hypoleptischer Prozeß zu sehen ist, bei dem die Ideenevolution in unbedingtem, wenn auch häufig unscheinbarem Verhältnis mit kulturellen Texten der Vergangenheit steht. Eilfertig proklamierte Innovationsschübe können daher höchstens zur Entstehung von kleinen Sinninseln im Meer der großen Zeit beitragen, wie Bachtins maximale Rahmensetzung im Dialog der Zeiten lautet: »Es gibt nichts absolut Totes: Jeder Sinn wird – in der »großen Zeit« – seinen Tag der Auferstehung haben«3 . Diese prinzipiell zukunftsoffene Vorstellung von Zeitlichkeit wird gänzlich rahmenlos, wenn man Bachtins Aufhebung aller zeitlichen und räumlichen Klammern konsequent weiterdenkt. Der Modus des mnemotopischen Erinnerns reiht sich daher nur unter Vorbehalten als Novum in die Vielfalt der Gedächtnistheorien ein und wird angesichts der 256 verschiedenen Erinnerungsmodelle, die der Psychologe Endel Tulving zusammenträgt4 , höchstens in Form einer Synthese verwandter Konzepte zum zweihundertsiebenundfünfzigsten. Da jede begriffliche Neuheit von der Rekombination vorhergehender Ansätze lebt und stets ihre Präfigurationen mit sich führt, bildete das Konzept der Mnemotopie im Kontext dieser Arbeit vielmehr eine ›tastende Schnittstelle‹ für Beiträge der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Raumforschung, der Geschichts- und Filmtheorie, die geeignet waren, Film- und Gesellschaftslektüren mit einem ortsaffinen Akzent zu entwerfen. Ein Deutungsmuster, das bei der Mnemotopie als Erkenntnisschlüssel oder theoretische Fabel ein bedeutende Rolle spielt, ist der Umstand, dass die anachronen Strukturen einer Gesellschaft, die selektive Vergangenheitspflege, die Koexistenz unterschiedlicher Zeitregime oder die formative Bedeutung der Geschichtskultur im Alltag –

2 3 4

Schlögel 2011, 585. Bachtin 1978, 357. Vgl. Tulving (2007).

Conclusio: Mnemotopie und die große Zeit

allesamt einschlägige Gegenstände der kulturwissenschaftlichen Memoria-Forschung5 – sich am kollektiven Raumbewusstsein ausrichten. So waren auch die untersuchten Ruinenfelder, Haciendalandschaften und Grenzterritorien allesamt als Gewährsträger der Ungleichzeitigkeit aufgedeckt worden, die den historischen Alltagsverstand mitprägen – sei es als Referenzorte für gegenwartsbestimmende Kontinuitäten oder als Symbole für eine Gleichörtlichkeit unterschiedlicher Bewusstseinsprägungen. Doch so zäh der senso comune oftmals anmutet, ist er freilich auch bei Antonio Gramsci keineswegs invariant. »Il senso comune«, gibt er zu bedenken, »non è qualcosa di irrigidito e immobile, ma si trasforma continuamente«6 , und was der Blick auf die MnemotopieGestaltung nach der Época de Oro tatsächlich immer wieder offenlegen konnte, ist die Wandlungsfähigkeit der Vergangenheitsdeutung und die instabile Sinnstiftung kollektiver Erfahrungsschwellen. Solange der postrevolutionäre Zeitgeist in Mexiko noch im Zeichen einer Vergangenheitsbändigung stand, ließ sich auch die Standardisierung der im kulturellen Gedächtnis eingebetteten Vergangenheitsbilder nachvollziehen. Die kulturhistorische Entwicklung des Landes, die sich in der Filmproduktion ab der zweiten Hälfte des 20. Jhd. wiedergespiegelt findet, zeigte hingegen, dass mnemotopisch institutionalisierte Erfahrungsschwellen natürlich auch den »wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart«7 unterstellt sind und einheitsstiftende Vergangenheitsbezüge unter der zunehmend fragilen Ägide der Nation einer Versprengung in gegensätzliche Gedächtniskollektive und Interessengruppen weichen, die im Dialog, häufig aber auch im Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Dabei gilt natürlich, dass Mnemotope im Zuge dieser mnemonischen Pluralisierung häufig herangezogen werden, denn sie liefern Vorlagen für eine Neubewertung der Vergangenheit, die mit der Entstehung neuer oder der Wiederentdeckung ins Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit geratener Erwartungshorizonte zusammenhängt. Es ist daher sehr bezeichnend, dass 1950 ein literarischer Selbstbestimmungsversuch publik wurde, den man als Vorboten der postnationalen Erfahrungsschwelle in Mexiko betrachten kann und in dem die mexikanische Dialektik zwischen der ruptura und der comunión als ein hypoleptischer Dialog mit der Vergangenheit aufgeworfen wurde. Die Rede ist natürlich von Octavio Paz’ Langessay El laberinto de la soledad, der, bei all seiner kontroversen Wirkungsgeschichte, zu einem fundierenden Text der mexicanidad wurde, ja selbst als zeitgeschichtlicher Limes angesehen werden kann, der unmerklich überschritten wurde. Bereits im ersten Kapitel, das sich mit der Zerrissenheit von mexikanischen Auswanderern in den US-amerikanischen borderlands beschäftigt, hebt Paz das Phänomen der »superposición histórica«8 als eine zentrale hermeneutische Voraussetzung bei der Suche nach den historischen Bahnungen mexikanischer Bewusstseinsprägungen hervor:

5

6 7 8

Ene Kõresaar steckt den zeitgenössischen Horizont der Memoria-Forschung auf prägnante Weise ab und fragt sich, ob es berechtigt sei, von einem transdisziplinären mnemonic turn zu sprechen (vgl. Kõresaar (2014)). Gramsci 1977, 76. J. Assmann 2013, 41f. Paz 2016a, 240.

413

414

Mnemotopie im mexikanischen Film

En nuestro territorio conviven no sólo distintas razas y lenguas, sino varios niveles históricos. Hay quienes viven antes de la historia; otros, como los otomíes, desplazados por sucesivas invasiones, al margen de ella. Y sin acudir a estos extremos, varias épocas se enfrentan, se ignoran o se entredevoran sobre una misma tierra o separadas apenas por unos kilómetros. Bajo un mismo cielo, con héroes, costumbres, calendarios y nociones morales diferentes, viven »católicos de Pedro el Ermitaño y jacobinos de la Era Terciaria«. Las épocas viejas nunca desaparecen completamente y todas las heridas, aun las más antiguas, manan sangre todavía. A veces, como las pirámides precortesianas que ocultan casi siempre otras, en una sola ciudad o en una sola alma se mezclan y superponen nociones y sensibilidades enemigas o distantes.9 Hier findet sich Bachtins Konzept der großen Zeit auf das mexikanische Sinnuniversum angewandt. Auf prägnante Weise finden sich in diesem Ausschnitt aber auch viele der zentralen Fluchtlinien des vorliegenden Projekts wieder: Die offenen Wunden der Zeit, die mit Carlos Fuentes und Isaiah Berlin als Eckpfeiler des Nationalismus nachvollzogen wurden; die sich überlagernden, mitunter konfligierenden Zeitschichten, die ein Echo in der Ungleichzeitigkeit bei Ernst Bloch, Reinhart Koselleck und Hans Ulrich Gumbrecht oder der Gleichörtlichkeit bei Karl Schlögel fanden; schließlich auch die Perseveranz scheinbar abgeschlossener Epochen, die nach Maurice Halbwachs, Aleida und Jan Assmann im kollektiven Gedächtnis eingebettet sind und ein phantomhaftes Nachleben fristen, die Georges Didi-Huberman mit Hilfe der produktiven Intuitionen von Aby Warburg aufbereitet. Diese und andere Konzepte waren notwendig, um den Begriff der Mnemotopie anzustrengen und auf eine empirische Reise durch die mexikanische Filmgeschichte zu schicken. Was Octavio Paz’ Passage jedoch auch zu enthalten scheint, ist die Annahme, dass die komplexe mexikanische Diskursvielfalt sich von den nationalen Homogenisierungsimpulsen, die während der Época de Oro so prägend waren, nicht einfangen lässt, und dass die Koexistenz heterogener cadres sociaux sich letztlich nicht in einen nationalen Einheitsrahmen fassen lässt. Mit jeder neuen Diskursivierung der Mnemotope wird das in ihnen eingebettete Speichergedächtnis wieder ›entbettet‹ und für einen Dialog mit der gesellschaftlichen Doxa der Zeit aufbereitet, in dem auch eine Kommentarfunktion zu den Umbruchsmomenten der Vergangenheit und dem sanften Lauf der Anpassung enthalten ist. Stellt man sich also die Frage, wie ein Filmarchiv das kollektive Gedächtnis der Zukunft mitprägt und inwiefern vergangene Inszenierungen der Mnemotope zur »hypoleptische[n] Diskursorganisation«10 einer Kultur beitragen können, gilt es zu bedenken, dass die Filme selbst zu Artefakten der Fortsetzung werden. Wie auch Mnemotope bilden sie exteriorisierte Gedächtnisspeicher und materielle Relikte der Zeit, die, solange sie nicht unwiederbringlich zerstört und die Archive zugänglich sind, immer zu Trouvaillen von morgen werden können, ja sogar die gegenwärtige Kulturproduktion in den Schatten stellen können, wenn man David Lowenthals Diskussion historischer Relikte folgt:

9 10

A. a. O., 154. J. Assmann 2013, 280.

Conclusio: Mnemotopie und die große Zeit

Like memories, relics once abandoned or forgotten may become more treasured than those in continued use; the discontinuity in their history focuses attention on them, particularly if scarcity or fragility threatens their imminent extinction. Artifacts of initially transient and diminishing value that fall into the limbo of rubbish are often later resurrected as highly valued relics.11 Auch hier besteht eine unverkennbare Nähe zu Bachtins der großen Zeit und dem permanenten Auferstehungspotenzial. In Lowenthals Modell der Kulturevolution ist aber gleichzeitig die Gefahr des anderen Extrems benannt, bei dem die Hypolepse mit einem Vergangenheitskult verwechselt wird und den Kulturbetrieb zur sterilen Rekursionsschleife verkommen lassen kann. Als Relikte der Zeit hinterlassen Medien der Audiovision zu Laufbildern geronnene Imaginationsformen der Vergangenheit und werden in kulturelle Selbstverständigungsprozesse eingespeist. Aber Filmbilder schreiben auch eine eigene Geschichte und bilden Versatzstücke eines transnationalen Formenhaushaltes, die verarbeitet und rekombiniert werden, von Liebhabern der Camp-Ästhetik rekontextualisiert oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden und im Post-Cinema des 21. Jhd. in Filmzitaten fortbestehen oder ganz verschollen gehen, um in Retrospektiven wiederentdeckt zu werden. Diese wirkungsgeschichtliche Dynamik des Kinos und die kulturelle Speicherfunktion allgemein, macht die Kinematographie zum Medium für die Arbeit am kulturellen Gedächtnis und in zweiter Instanz auch zu einem Archiv der Gedächtnisformationen; nicht zuletzt auch, weil die Kinematographie von der Darstellung kollektiver Orte lebt und mit Vorliebe auch Mnemotope als Drehorte und Reflexionsgegenstände verwertet. Was im kinematographischen »Zeitalter internationaler Bildwanderung«12 , die Aby Warburg als Kennziffer der »allzu mystisch« benannten Epoche der Renaissance erkannt hatte, übrig bleibt, ist ein mexikanisches Filmarchiv, das jenseits von Prozessen der Patrimonialisierung13 , mit welchen häufig die Verklärung eines eher vernachlässigten Speichergedächtnisses vorangetrieben wird, jedes Mal eine kleine Renaissance feiert, sobald die Werke wieder hervorgeholt und für hypoleptische Analysen zum Wandel der Zeit herangezogen werden. Octavio Paz’ Prämisse einer Koexistenz divergenter mexikanischer Zeithorizonte bietet aber stets auch die Möglichkeit, eine Aktualisierung der filmisch transportierten Vergangenheitsbilder der Historisierung und dem »Sog der Verzeitlichung«14 gegenüberzustellen, mit der Perioden im linearen Zeitverständnis aneinandergereiht werden. Wie jedes Mnemotop wird damit auch das Filmwerk selbst zum Gegenstand des hermeneutischen Zirkels. Vor dem Hintergrund des sich wandelnden Gegenwartshorizonts geht auch die Rezeption des Films mit der Zeit, und lässt Kontinuitätslinien in je anderen Konstellationen aufspüren oder eine Gegenwartsrelevanz der Mnemotopie in je anderer Spielart zur Geltung kommen. Nur so kann die dynamische Mumifizierung der Zeit, wie Sergei Eisenstein und André Bazin das besondere Vermögen des Filmmediums begriffen haben, ein Nachleben entfalten und als lebendes Fossil widerentdeckt werden. Nur so kann ein Film im Zeitalter des 11 12 13 14

Lowenthal 1985, 240. Zit. in Böhme 1997, 142. Vgl. Bonfil (2013). Koselleck 1998, 123.

415

416

Mnemotopie im mexikanischen Film

Reliktmengenwachstums15 auch einer tendenziell depolitisierenden Weihung zum historischen Dokument entkommen, die Serge Daney und Ignacio Ramonet im Hinblick auf Filmarchive beobachten.16 Die zahlreichen in dieser Arbeit behandelten Filme boten daher stets einen »Denkraum«17 für die Untersuchung der kinematographischen Gedächtnisstiftung, die, vor allem unter Berücksichtigung der dominanten Fiktionen nach Rancière oder des politisch Unbewussten nach Fredric Jameson, die kinematographische Inszenierung von Zeitspuren hinterfragen und immer wieder als Zerrspiegel der Vergangenheit aufdecken musste. Auch wenn die Fassade allzu patriotischer Gedächtnisarbeit im Zuge eines »counterhegemonic reading«18 zu bröckeln beginnt, war die nationale Filmkultur Mexikos der »Denkraumschöpfung als Kulturfunktion«19 , wie es Aby Warburg in seiner unbändigen Denklust fasste, sehr zuträglich. Auf die Frage, was die mexikanische Filmkultur der Época de Oro nun abgesehen von den Freuden einer antiquarischen Sammelwut noch leisten kann, bietet Alex Rivera in Sleep Dealer (2008) eine mögliche Antwort (Abb. 147). Als Memo und sein Bruder David auf die flimmernden Schwarz-Weiß-Bilder einer comedia ranchera blicken, wird das Cine de Oro auch in der Zukunftsvision des Regisseurs als Fundus von Vertrautheiten zitiert, der gleichermaßen der monumentalischen Historie in die Hände arbeiten kann, aber auch das kritische Geschichtsbewusstsein anregt, das Sleep Dealer selbst mit seiner Zuspitzung unbehaglicher Zukunftstendenzen tatsächlich auch bedient.

Abb. 147: Im »Dialog mit der Leinwand« (vgl. Lotman (1994)) wird in ›Sleep Dealer‹ die Filmkultur von gestern als Identifikationsvorlage ausgebreitet und implizit einer Neuverhandlung ausgesetzt. Der Rekurs auf Filmtexte der Vergangenheit wird damit als eine selbstbildmodellierende Praxis in die Zukunft projiziert, sei es nun als Identitätsstütze oder Kontrastfolie.

Doch in Sleep Dealer sind es nicht unbedingt die klassischen ›Phantomschmerzen der Vergangenheit‹, die einen patriotischen »Phantomstolz«20 angesichts bedrohter Traditionszusammenhänge auf den Plan rufen und die nationalen Wunden angesichts eines drohenden Identitätsverlustes in der Postmoderne wieder bluten lassen. Der Kontext des Films, in dem das mexikanische Kulturerbe ein bedeutendes Instrument der 15 16 17 18 19 20

Lübbe 2003, 427. Vgl. Daney/Ramonet in Ferro 1977, 81f. Warburg 2010, 497. Fein 2001, 187. Warburg 2010, 644. Vgl. Seibt (2001).

Conclusio: Mnemotopie und die große Zeit

Zukunftsbewältigung darstellt, ist eine prekäre Existenzgrundlage im Widerstreit mit neuen, transnationalen Totalitarismen. In Riveras Dystopie wird eine Bedrohung des Gemeinsamen und Übergreifenden in Form einer düsteren Erfahrungsschwelle in naher Zukunft imaginiert, die das Ausgraben und Erinnern (W. Benjamin) zur existenziellen Aufgabe der gesellschaftlichen Selbsterhaltung erklärt. So betrachtet, bietet das Nachleben der Vergangenheit in Mnemotopen wie auch das Nachleben der Filme selbst eine Überlebensstrategie in kulturellen Schwellenzeiten, in denen, wie Hartmut Böhme schreibt, »wie bei einem Erdriß die heiße Lava aus der Tiefe der Vergangenheit in die Gegenwart quillt«21 . Die »Interferenz der Zeiten«, die das Nachleben der Vergangenheitsbilder zum »Durchschuß präsentischen Bewußtseins durch verleiblichende Erinnerung«22 werden lässt, weist auf einen übernationalen Kulturbegriff hin, der auch dem mexikanische Erfahrungsschatz in der großen Zeit zur Geltung verhilft. Daher hat die Prophezeiung, die Carlos Fuentes in dem Essayband Nuevo Tiempo Mexicano an die Zukunft richtet, eine weltumspannende Gültigkeit: Nada muere por completo. El engaño del progreso ha sido decirnos que podemos dejar atrás lo que ya fuimos. México sabe que nunca hay un »ya fuimos«, hay un estamos siendo, vamos a ser, porque seguimos siendo cuanto hemos sido.23

21 22 23

Böhme 1997, 144. Ebd. Fuentes 1994, 206.

417

Bibliographie

Aguilar Camín, Héctor (1993): Subversiones Silenciosas, México: Aguilar. ― (2008): La invención de México – Historia y cultura política de México 1810-1910, México: Planeta. Alvarado, Salvador (2019[1918]): Mi actuación revolucionaria en Yucatán, Mexiko-Stadt: Biblioteca INEHRM. Andermann, Jens (2015): »Placing Latin American memory: Sites and the politics of mourning«, in: Memory Studies, 2015, Vol. 8(I), 3-8. Anderson, Benedict (1991[1983]): Imagined Communities – Reflections on the Origin and the Spread of Nationalism, London/New York: Verso. Anderson, Mark Cronlund (2000): Pancho Villa’s Revolution by Headlines, Norman: University of Oklahoma Press. Anzaldúa, Gloria (1987): Borderland/La Frontera – The New Mestiza, San Francisco: aunt lute books. Appadurai, Arjun (7 2005[1996]): Modernity at Large – Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis/London: University of Minnesota Press. Arendt, Hannah (1993): Was ist Politik? – Fragmente aus dem Nachlaß, München, Zürich: Piper. Arreaza Camero, Emperatriz (1991): »Movimientos comunitarios y resistencia popular: Cine Chicano«, in: Estudios Venezolanos de Comunicación, Nr. 73, 70-86. Arqueología Mexicana, La Arqueología y el Cine Mexicano, Edición Especial 49 (Junio 2013). Artaud, Antonin (1964): Œuvres complètes, IV, Paris: Gallimard. ― (1979): Das Theater und sein Double, Frankfurt/M: Fischer. Assmann, Aleida (Hg.) (1991): »Zur Metaphorik der Erinnerung«, in: Mnemosyne – Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M: Fischer, 13-35. ― (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck. ― (2009): »How history takes place«, in: Indra Sengupta (Hg.): Memory, History, and Colonialism: Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts, Bulletin of the German Historical Institute London, Supplement 1, London: German Historical Institute, 151-165.

420

Mnemotopie im mexikanischen Film

― (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? – Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Carl Hanser. ― (2015): »Die Chiffre 1915 – einsames oder gemeinsames Gedenken?«, in: Perlentaucher (online), https://www.perlentaucher.de/essay/die-chiffre-1915-einsames-oder-gem einsames-gedenken.html (zuletzt aufgerufen am 20.06.2017). Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1995): »Exkurs: Archäologie der literarischen Kommunikation«, in: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, et al. (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar: Metzler, 200-206. Assmann, Jan (1988): »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M: Suhrkamp, 9-19. ― (1991): »Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«, in: Aleida Assmann (Hg.): Mnemosyne – Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M: Fischer, 337-355. ― (2005): »Das Kulturelle Gedächtnis und das Unbewusste«, in: Michael Buchholz, Günter Gödde (Hg.): Das Unbewusste in aktuellen Diskursen. Anschlüsse, Bd. 2, Gießen: Psychosozial-Verlag, 368-392. ― (7 2013[1992]): Das kulturelle Gedächtnis, München: C.H. Beck. ― (2015): Exodus – Die Revolution der Alten Welt, München: C.H. Beck. (e-book) Augé, Marc (2003): Le temps en ruines, Paris: Galilée [in spanischer Sprache erschienen als: Augé, Marc (2003): El tiempo en Ruinas, Barcelona: Gedisa]. ― (1992): Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris: Editions Seuil. Ávila Espinosa, Felipe Arturo (2006): »La vida campesina durante la Revolución: El caso zapatista«, in: Aurelio de los Reyes (coord.): Historia de la vida cotidiana en México – Siglo XX. Campo y Ciudad (tomo V, Volumen 1), México: El Colegio de México/Fondo de Cultura Económica, 49-88. Ávila, Jacqueline/Sergio de la Mora (2016): »Allá en el Rancho Grande (1936)«, in: Christian Wehr (Hg.): Clásicos del cine mexicano, 31 películas emblemáticas desde la Época de Oro hasta el presente, Madrid, Frankfurt/M: Iberoamericana-Vervuert, 123-136. Ayala Blanco, Jorge (1968): La Aventura del Cine Mexicano, México D.F.: Era. Azuela, Mariano (1988[1915]): Los de abajo, ed. crítica de Ruffinelli, Jorge„ Mexiko D.F.: Colección Archivos. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt. Bachtin, Michail M. (1978): Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M: Suhrkamp. Bachtin, Michail M. (2008[1986]): Chronotopos, Berlin: Suhrkamp. Бахтин, М.М. (1979): Эстетика словесного творчеств,. Москва: Искусство. Bakhtin, Mikhail M. (1981): The Dialogic Imagination: Four Essays (hg. von Michael Holquist), Austin: University of Texas Press. Baecker, Dirk (2010): »Kultur«, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe (Bd.), Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 510-556. Barthes, Roland (1970[1957]): Mythologies, Paris: Points. Bartra, Roger (3 2015[1987]): La Jaula de la Melancolía – Identidad y metamorfosis del mexicano, México: Debols¡llo. Bauer, Matthias (1994): Der Schelmenroman, Stuttgart: Metzler.

Bibliographie

Bazin, André (1994[1967]): »Ontologie de L’Image Photographique«, in: ders.: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris: Éditions du Cerf. Benjamin, Walter (1991a): »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften. Band I-1, Frankfurt/M: Suhrkamp, 203-430. ― (1991b): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften. Band I-2, Frankfurt/M: Suhrkamp, 433-508. ― (1991c): »Über den Begriff der Geschichte«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften, Band I-2, Frankfurt/M: Suhrkamp, 691-704. ― (1991d): »Ausgraben und Erinnern«, in: Dietrich Harth (Hg.): Die Erfindung des Gedächtnisses, Frankfurt/M: Keip, 138. Bennett, Bruce/Tyler, Imogen (2007): »Screening Unlivable Lives: The Cinema of Borders«, in: Katarzyna Marciniak, Anikó Imre, Áine O’Healy (Hg.): Transnational Feminism in Film and Media, New York, Houndmills: palgrave macmillan. Berlin, Isaiah (1990): Der Nationalismus, Frankfurt/M: Anton Hain. Berque, Augustin (2003): »›Lieu‹ 1.«, Jacques Lévy/Michel Lussault (Hg.): Dictionnaire de la géographie et de l’espace des sociétés, Paris: Belin, (www.espacestemps.net/articles/lsquolieursquo-1/) Berumen, Humberto Félix (2005): La frontera en el centro – ensayos sobre literaura, Mexicali: Universidad Autónoma de Baja California. Bethell, Leslie (1998[1991]): Mexico since Independence, Cambridge: Cambridge UP. Bhabha, Homi K. (1994): The location of culture, London, New York: Routledge. Bloch, Ernst (1981): Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bloch, Marc (1952[1949]): Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Cahiers des Annales 3., Paris: Armand Colin. ― (1982[1939-1940]): La société féodale, Paris: Editions Albin Michel. Blumenberg, Hans (1958): »Epochenschwelle und Rezeption«, in: Philosophische Rundschau, Vol. 6, Nr. 1-2, 94-120. ― (1976): Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, Frankfurt/M: Suhrkamp. ― (2006[1979]): Arbeit am Mythos, Frankfurt/M: Suhrkamp. ― (2014): Präfiguration – Arbeit am politischen Mythos, Berlin: Suhrkamp. Böhme, Hartmut (1988): »Ruinen – Landschaften. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie in den späten Filmen von Andrej Tarkowskij«, in: ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt/M: Suhrkamp, 334-378. ― (1989): »Die Ästhetik der Ruinen«, in: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Der Schein des Schönen, Göttingen: Steidl, 287-304. ― (1997): »Aby Warburg (1866-1929)«: in: Axel Michaels (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München: C. H. Beck, 133-157. Bohn, Anna (2003): Film und Macht – Zur Kunsttheorie Sergej M. Eisensteins 1930-1948, München: diskurs film. Bolton, Jonathan B. (2006): »Writing in a Polluted Semiosphere – Everyday Life in Lotman, Foucault, and de Certeau«, in: Andreas Schönle (Hg.): Lotman and Cultural Studies – encounters and extension, Madison: The University of Wisconsin Press, 320-344.

421

422

Mnemotopie im mexikanischen Film

Bonfil Batalla, Guillermo (1990[1987]): México profundo – una civilización negada, México: Grijalbo. Bonfil, Carlos (2013[1997]): »El patrimonio fílmico«, in: Enrique Florescano (Hg.): El patrimonio nacional de México (Bd.2), México: Conaculta/Fondo de Cultura Económica, 130-143. Bordwell, David (1974): »Eisenstein Epistemological Shift«, in: Screen 15, 4, 29-46. ― (1991): Making meaning: inference and rhetoric in the interpretation of cinema, Harvard UP. ― (2005): The Cinema of Eisenstein. New York/London: Routledge. Boucheron, Patrick (2016): »Was die Geschichte vermag«, in: Merkur, Jg. 70, Mai 2016, 5-29. Boym, Svetlana (2001): The Future of Nostalgia, New York: Basic Books. Brading, David (10 2004[1973]): Los orígenes del nacionalismo mexicano, México: Era. Braudel, Fernand (1951): »Les Responsabilités de l’Histoire«, in: Cahiers Internationaux de Sociologie, Vol. 10, 3-18. ― (1958): »Histoire et Sciences sociales: La longue durée«, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations, Nr. 4, 725-753. ― (1985): La Méditerranée, Bd.1: L’espace et l’histoire, Paris: Flammarion. ― (1987): Grammaire des civilisations, Paris: Flammarion. ― (2006[1949]): »Géohistoire und geographischer Determinismus«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 395-408. Brenner, Anita (1967[1929]): Idols behind altars, New York: Biblo and Tannen. ― (1971[1943]): The Wind that swept Mexico, Austin/London: University of Texas Press. Brescia, Pablo (2015): »Sleep Dealer y el México futuro: ¿borrón y cuenta nueva?«, in: Friedhelm Schmidt-Welle, Christian Wehr (Hg.): Nationbuilding en el cine mexicano desde la Época de Oro hasta el presente, Madrid, Frankfurt/M: Iberoamericana-Vervuert, 275-282. Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.) (2013): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Burkard, Hermann (1996): »Auswanderung und die Situation an der Nordgrenze«, in: Dietrich Briesemeister/Klaus Zimmermann (Hg.): Mexiko heute: Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt/M: Vervuert, 337-355. Burke, Peter (1991): »Geschichte als soziales Gedächtnis«, in: Aleida Assmann (Hg.): Mnemosyne – Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M: Fischer, 289304. Butler, Judith (2011[1993]): Bodies That Matter – on the discursive limits of »sex«, London, New York: Routledge. Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hg.) (2 2012[2008]): »Ruine«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 355-357. Buve, Raymond (Hg.) (1984): Haciendas in Mexico from the Colonial Times to the Revolution – Labour Conditions, Hacienda Management and its Relations to the State, Amsterdam: CEDLA. Byrd Simpson, Lesley (3 1963[1952]): Many Mexicos: Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, Cambridge UP.

Bibliographie

Cárdenas, Nicolás/Tenorio Trillo, Mauricio (2001): »Mexico 1920’s-1940’s: Revolutionary Government, Reactionary Politics«, in: Stein Ugelvik Larsen (Hg.): Fascism Outside Europe: The European Impulse against Domestic Conditions in the Diffusion of Global Fascism, New York: Columbia University Press, 593-632. Carreño King, Tania (2000): »Yo soy mexicano, mi tierra es bravía«, in: Margarita de Orellana (Hg.): Artes de México, No. 50: Charrería, 50-61. Casey, Edward S. (1987): Remembering – A Phenomenological Study, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press. ― (1997): »How to Get from Space to Place in a Fairly Short Stretch of Time: Phenomenological Prolegomena«, in: Steven Feld/Keith H. Basso (Hg.): Senses of Place, Santa Fe: School of American Research Press, 13-52. ― (1998[1997]): The Fate of Place – A Philosophical History, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. ― (2004): »Public Memory in Place and Time,« in: Kendall Phillips(Hg.), Public Memory, University of Alabama Press, 17-44. Castañeda, Quetzil E. (1995): »La economía escritural y la invención de las culturas mayas en el »museo« de Chichén Itzá«, in: Revista Española de Antropología Americana, 25, Madrid: Universidad Complutense, 181-203. ― (2001): »The Aura of Ruins«, in: Gilbert Joseph/Anne Rubenstein/Eric Zolov (Hg.): Fragments of a Golden Age – The Politics of Culture in Mexico Since 1940, Duke UP, 452467. Ceballos Ramírez, Manuel (1999): La invención de la frontera y del Noreste histórico, México: Academia Mexicana de la Historia. ― (2003): »II. Consideraciones históricas sobre la conformación de la frontera norte mexicana«, in: José Manuel Valenzuela Arce (Hg.): Por las fronteras del norte, México: Conaculta/Fondo de Cultura Económica, 71-87. Chevalier, François (1956): »La formación de los grandes latifundios en México«, Problemas Agricolas e Industriales en México, Nr.1, Vol. VIII., 1-255. Cocteau, Jean (1936): Mon premier voyage: Tour du monde en 80 jours, Paris: Gallimard. Cota Torres, Edgar (2007): La representación de la leyenda negra en la frontera norte de México, Phoenix: Orbis Press. Cresswell, Tim (1996): In place/out of place: geography, ideology and transgression, Minnesota UP. ― (2008[2004]): Place – a short introduction, Oxford: Blackwell. Cuevas, José Luis (1988): »La cortina del nopal«, in: Ruptura – 1952-1965, México: Museo Carrillo Gil, 84-91. Curtius, Ernst Robert (11 1993[1948]): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen, Basel: Francke. Derrida, Jacques (1993): Spectres de Marx, Paris: Galilée. Dessau, Adalbert (1967): Der mexikanische Revolutionsroman, Berlin: Rütten & Loening. Díaz López, Marina (1996): »Allá en el Rancho Grande: La configuración de un género nacional en el cine mexicano«, in: Secuencias, No.5, 9-29. Didi-Huberman, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder – Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin: Suhrkamp.

423

424

Mnemotopie im mexikanischen Film

Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.) (2 2009[2008]): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript. Doetsch, Hermann (2016): »Emilio Fernández: Rio Escondido (1948)«, in: Christian Wehr (Hg.): Clásicos del cine Mexicano – 31 películas emblemáticas desde la Época de Oro hasta el presente, Madrid, Frankfurt/M: Iberoamericana-Vervuert, 203-230. Domínguez Jiménez, Román (2015): »Sobre cierta función política en el cine latinoamericano: el extraño caso de la mirada en El compadre Mendoza, de Fernando de Fuentes«, in: Georgina Torello, Isabel Wschebor (Hg.): La pantalla letrada, Estudios interdisciplinarios sobre cine y audiovisual latinoamericano, Espacio interdisciplinario: Universidad de la República Uruguay, 63-78. Doñán, Juan José (2000): »Por mi raza hablará Jorge Negrete«, in: Artes de México, No. 50: Charrería, 62-69. Du, Wei/Littlejohn, David/Lennon, John (2013): »Place identity or place identities: the Memorial to the Victims of the Nanjing Massacre, China«, in: Leanne White, Elspeth Frew (Hg.): Dark Tourism and Place Identity – Managing and interpreting dark places, London/New York: Routledge, 46-59. Dünne, Jörg/Stefan Günzel (Hg.) (2006): Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M: Suhrkamp. Dünne, Jörg (2009): »Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topographie: Wohin geht die Wende zum Raum?«, in: Albrecht Buschmann, Gesine Müller (Hg.): Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den Romanischen Kulturen, Universität Potsdam (Internetpublikation), 5-26. Dünne, Jörg (2011): Die kartographische Imagination – Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink. Durkheim, Émile (1897): Le Suicide, Paris: Félix Alcan. Eisenstein, Sergio M. (1955): El Sentido del Cine, Buenos Aires: Ediciones La Reja. Eisenstein, Sergej/Alexandrow, Grigori/Tisse, Eduard (1957): «Que viva Mexico«, ein bisher unvollendeter Film S.M. Eisensteins«, in: Kunst und Literatur, 10/1957, Berlin: Kultur und Fortschritt, 1090-1106. Eisenstein, Sergej M. (1984): »Fünf Epochen (Zur Inszenierung des Films >Die Generallinie