Mit Entsetzen Scherz: Die Zeit des Tragikomischen 9783787341283, 9783787341276

Tragisches und Komisches sind, seit von ihnen die Rede ist, im Gegensatz zu einander gesehen worden. Wird Tragisches mit

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Mit Entsetzen Scherz: Die Zeit des Tragikomischen
 9783787341283, 9783787341276

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Dorschel Mit Entsetzen Scherz

Mit Entsetzen Scherz Die Zeit des Tragikomischen Andreas Dorschel

Meiner

Andreas Dorschel

Mit Entsetzen Scherz Die Zeit des Tragikomischen

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4127-6 ISBN eBook 978-3-7873-4128-3

Gedruckt mit Unterstützung der Kunstuniversität Graz

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Vulpis ad personam tragicam Personam tragicam forte vulpis viderat: ›O quanta species‹ inquit ›cerebrum non habet‹. Phaedrus, Fabulae 1.7

Der Fuchs zur Maske des Tragöden Die Maske des Tragöden sah einmal ein Fuchs: ›Oh welch ein Antlitz‹, sprach er, ›doch es hat kein Hirn‹.

Inhalt

Folie à deux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Sterben vor Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1 Das Tragikomische ist ein Klischee. Aber vielleicht muß es keines bleiben. | 2 Die Frage nach dem Tragikomischen. Ein mögliches Beispiel. | 3 Tragikomisches: Tragisches und Komisches nicht nebeneinander gestellt, sondern ineinander verschlungen. | 4 Figur und kein Schluß. | 5  Tragisches und Komisches müßten einander in einem Punkt treffen,

damit Tragikomik möglich wird. Hypothese, dies gemeinsame Dritte sei die Verletzlichkeit der Menschen. | 6 Quelle der Verletzlichkeit im Beispiel (¶ 2). | 7 Erfundenes und Wirkliches. | 8 Sonst schwächen gegensätzliche Qualitäten einander. Warum soll es sich in diesem Fall anders verhalten ? | 9 Wechselseitiges Steigern schließt wechselseitiges Verändern nicht aus. Und: Das Interesse an Tragikomik (¶¶ 2–5, 8) kommt ohne die Annahme aus, Tragik oder Komik seien in sich mangelhaft. | 10 Das Paradox der Tragikomik (¶ 8) verschwindet, wenn man Innenperspektive und Außenperspektive unterscheidet. | 11 Kritik der Lösung (¶ 10): Auch aus der Außenperspektive können Tragisches und Komisches einander stärken, statt, wie zu erwarten wäre, einander zu schwächen. | 12 Einwand: Tragisches und Komisches haben nie zugleich in einem Bewußtsein Platz. | 13 Von dem Einwand (¶ 12) ist die Frage zu trennen, ob es eine Gattung Tragikomödie gibt. | 14 Antwort auf den Einwand (¶ 12): Er muß, um plausibel zu scheinen, das Bewußtsein verzerren. | 15  Gegeneinwand: Tragikomisches gibt es nur unter einer Deutung. Antwort: Das ist nichts Ungewöhnliches. | 16 Tragisches und Komisches im Verhältnis zu Fühlen und Denken. | 17 Was ist Einfühlung ? | 18 Einfühlung schließt Denken nicht aus. | 19 Welche Deutung (¶ 15) kommt hier für das ›Tragische‹ in Frage ? Traurigkomisches vs. Tragi ­­komisches.  | 20 Traurigkomisches (¶ 19): ein weitläufigeres Beispiel. | 21  Ob die eine Seite die andere bedingt, läßt sich testen, indem man im Gedankenexperiment die eine Seite in ihrer Qualität abwan 7

delt. | 22 Auch im Traurigkomischen können die beiden Seiten einander bedingen. | 23 Zur Wortgeschichte. Neue Formulierung der Frage.

Parabase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Dionysos’ Duplicitas: Tragik, Komik und das attische Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1 Fangen Philosophen an, von Tragik zu reden, ist eine Komik nah: die unfreiwillige. | 2 Was für ein Gegensatz ist ›tragisch‹ versus ›komisch‹ ? | 3 Definitionen helfen nicht. Über Genauigkeit. | 4 Tragik und Komik, allzu menschlich. | 5 Unabhängig von Geschichte sollen Tragik und Komik Kompensationen darstellen. | 6 Aber was jeweils kompensiert werden soll, verweist auf Geschichte. | 7 Nichts spricht dafür, ›tragisch‹

versus ›komisch‹ sei ein zeitloser metaphysischer Gegensatz oder eine anthropologische Universalie. | 8 Zu unterscheiden davon ist globales Marketing kultureller Ware, die solche Kategorien inkorporiert. | 9 Am Ursprung der Begriffe, dem klassischen Athen, leitete sich das Tragische von der Tragödie und das Komische von der Komödie her, nicht umgekehrt. | 10 Der Prozeß, die Qualität von der Gattung zu abstrahieren, begann bereits in klassischer Zeit. | 11 Bildeten Tragödie und Komödie einen Gegensatz ? | 12 Tragödie und Komödie entsprangen im Griechenland des 5. Jahrhunderts beide dem Kult des Dionysos. | 13  Vom Drama. | 14 Gegensätze gibt es nur in einer gemeinsamen Sphäre. | 15 Fundierende Annahme im griechischen Denken: Gegensätze ergänzen, erläutern und bestimmen einander. | 16 Aus Erfahrung, nicht aus Logik erwächst der Gegensatz. | 17 Die gemeinsame Sphäre (¶ 14) von Komödie und Tragödie war am historischen Ursprung ein konkreter Ort. | 18 Das Verhältnis beider zu einander ließ sich als Arbeitsteilung begreifen. | 19 Attische Tragödie und Komödie sortierten sich, entgegen einem späteren Vorurteil, nicht nach schlimmem und gutem Ende.  | 20 Ist der unausgleichbare Gegensatz die Differenz des Tragischen ? | 21 Hegel: Merkmal des Tragischen ist eine »Kollision« gleichermaßen berechtigter Ansprüche. | 22 Nicht einmal an Hegels Paradebeispiel, Sophokles’ Antigonē, überzeugt dies. | 23 Selbst wenn die »Kollision« (¶ 21) einmal paßt, muß sie in anderen Fällen erst zum Merkmal des Tragischen verbogen werden. | 24 Das Verhältnis zur Zeit: Während auf den tragischen Helden lastet, was war, setzen sich die komischen über es hinweg. | 25  Das bedeutet nicht, die klassische Tragödie sei ein traditionalistisches Genre. | 26 Nur die attische Komödie, nicht die Tra8 | Inhalt 

gödie, streicht an ihrem Theaterdasein das Gemachte heraus. | 27 Die klassische Tragödie ist verpflichtet aufs Wahrscheinliche, die Alte Komödie schreckt nicht zurück vor Unmöglichem. | 28 Die Sprache der klassischen Tragödie präsentiert sich als in den Dingen selbst verankert, die der Alten Komödie als Erzeugnis der Willkür. | 29 Unter den Begriffen des Komischen und Tragischen, die das klassische Athen prägte, ist schwer einzusehen, wie Tragikomisches gelingen könnte. Komisches in tragischer Umgebung bleibt komisch; Tragisches in komischer Umgebung wird selber komisch.

Ironie. Tod und Spiele: Euripides’ Bakchai . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 »The trick of singularity«: Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1 Was ist ein Selbst ? | 2 Historisierung der Frage. | 3 Vom Sinn des Selbstseins und seinen sozialen Instanzen. | 4 Person: Kultmaske, Theatermaske, Rechtssubjekt. | 5 Die Seele des Christen: Selbst sein ›aus Gott, durch Gott, in Gott‹ (Augustinus). | 6 Montaignes Selbst. | 7 Singularität ist eine Relation. | 8 Rückkehr des antiken Dramas als Text. | 9 Das Ko-

mische und Tragische sind in der Renaissance mögliche Bezugspunkte der Stilisierung des Selbst. | 10 An Malvolio, in Shakespeares Twelfth Night, wird der »trick of singularity« komisch durchgespielt. | 11 Komik als Sturz nicht aus wirklicher Höhe, sondern aus einer eingebildeten. | 12 Shakespeares Iago: Dienst, der vernichtet. | 13 »I am not what I am.« | 14 Othello: Der Riß im Selbst. | 15 Komische Verschlagenheit und heroische Opferbereitschaft sind unvereinbare Bezugspunkte der Stilisierung des Selbst: Nebeneinanderstellen lassen sie sich, nicht aber tragikomisch verbinden. | 16 Die Frage, die zu verfolgen ist, zielt nicht auf Klassifikation.

Intervention. Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear . . . . . . 133 Teilen, Herrschen und Genießen: Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1 Das Bürgertum ist unheroisch; die alte Tragik konnte es nicht fortschreiben. | 2 Im bürgerlichen Zeitalter fällt Tragik der Metaphysik zu, Komik hingegen der Psychologie. | 3 Metaphysik des Tragischen, idealistisch: Schellings Briefe (1795). | 4 Grundgedanke: Als Sinnen­wesen Inhalt | 9

geht der tragische Held zugrunde, aber noch in diesem Untergang triumphiert er als intelligibles Wesen. | 5 Tragik als »vollkommene Indifferenz« subjektiver Freiheit und objektiver Notwendigkeit: Schellings Philosophie der Kunst (1804/05). | 6 Bürgerliche Tragik als angewandter Idealismus. | 7 Freiheit und Notwendigkeit in Hebbels Gyges (1854).  | 8 Die Indifferenz beider (¶ 5) setzt Hebbel von der Metaphysik her voraus: Sie ergibt sich ohne künstlerische Überwindung eines Widerstands.  | 9  Metaphysik des Tragischen, lebensphilosophisch: Nietzsches Geburt der Tragödie (1872). | 10 Idealistische (¶¶ 3–5) und lebensphilosophische (¶ 9) Metaphysik des Tragischen teilen zwei Züge. | 11 Komik gilt in der bürgerlichen Welt als ein »Gefühl«, das den Gesetzen der Assoziation unterliegt. | 12 Zu erklären sei Komik gemäß psychischer Ökonomie als Abfolge einer Stauung und Entladung von Energie. | 13 Das Übrige – der Inhalt der Komik – folgt aus der bürgerlichen Lebensform. | 14 Psychoanalyse als verpaßte Gelegenheit, die mögliche Tragikomik bürgerlichen Seelenlebens zu entfalten. | 15 In der bürgerlichen Welt treffen Tragik und Komik nur als mögliche Objekte des Genusses zusammen. Diese Konstellation ergibt jedoch keine Tragikomik. | 16 Ausblick: Der moderne Roman.

Travestie. Willkür und Bedeutung: Kafkas Process . . . . . . . . . 183 Miniatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

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Folie à deux Folie à deux, ›Wahn zu zweit‹, lautet der Name einer Anomalie, derer sich früher die Seelenärzte annahmen.1 Die Nähe der Patien­ ten zu einander war in einem solchen Fall dafür verantwortlich, daß sie verrückt sein konnten; also mußte der entscheidende erste Schritt zur Besserung darin bestehen, beide von einander zu trennen. Einstweilen ist die folie à deux bei den Psychiatern in Ungnade gefallen; das neueste Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DSM–5, 2013) führt sie nicht mehr, da die Kriterien zu ihrer Bestimmung vage seien. Von falscher Exaktheit befreit zu sein könnte den Namen zu uneigentlichem Gebrauch befreien. Folie à deux scheint jedenfalls keine schlechte Metapher für Konstellationen, die tragikomisch genannt werden. Zwei Qualitäten statt zwei Personen wären es in der figurativen Rede, die zusammenkommen. Entscheidend ist hier wie dort die Nähe, bis zur Intimität. Wie die Zusammenziehung in das eine Wort, ›Tragikomik‹, andeutet, geht es nicht darum, daß in einer Ecke die Komik spielt und in einer anderen die Tragik; wie bei einer richtigen folie à deux muß sich eine gemeinsame Sphäre bilden. Daß in dieser Sphäre eine Portion Wahn, der Therapie entzogen, Platz hat, wird diese philosophische Untersuchung in drei Fallstudien erweisen. Deren Beispiele sind der europäischen Dichtung entnommen. Damit ist nicht bestritten, daß es im Leben öfter tragikomisch zugeht. Aber wer Leben so versteht, greift auf Vokabular zurück, das der Dichtung entstammt. Dieser Umstand weckt Zweifel an der Vorstellung, Dichtung ahme das Leben nach. War es in der Geschichte vielleicht manchmal umgekehrt ? Die Fallstudien erproben den Gedanken, mit der Rede von Tragikomik lasse sich in historisch prägnant unterschiedlichen Zusammenhängen etwas anfangen: dem des klassischen Athen, dem Englands unter Jakob I. sowie dem der Habsburgermonarchie in ihrer letzten Phase. Euripides’ Bakchai (erstmals auf Enoch, Puri u. Ball, ›Folie à deux‹. Genauere Angaben zu den Schriften, auf die Bezug genommen wird, verzeichnet die Bibliographie. 1

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geführt 405 v. Chr.), Shakespeares Tragedy of King Lear (gedruckt 1623) und Kafkas Der Process (verfaßt 1914/15) umkreisen je auf ihre Art Fragen des Status. Die Könige Pentheus und Lear ebenso wie der »Prokurist einer großen Bank« Josef K. erleben den Zerfall ihrer Macht und des Respekts, den sie zuvor genossen. Doch nicht, daß dies geschieht, schafft tragikomische Situationen, sondern die Art, wie es geschieht. Bestimmte Situationen innerhalb der Werke so zu charakterisieren, schließt kein Urteil über den Charakter der Werke im Ganzen ein. Bakchai, King Lear, Der Process sind, was immer sie sein mögen, keine Tragikomödien. Die drei Fallstudien tragen nichts bei zu literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskussionen. Statt einem angeblichen Genre ›Tragikomödie‹ gilt die Untersuchung bestimmten Konstellationen, die – so die These – in erhellender Weise als tragikomisch begriffen werden. Daß sie so begriffen werden können, ist indes erstaunlich. Den Fallstudien zu Euripides, Shakespeare, Kafka gehen Kapitel zum jeweils nach Zeit und Ort veränderten Sinn der Begriffe ›tragisch‹ und ›komisch‹ voraus, die darlegen, aus welchen Gründen im Griechenland des 5. Jahrhunderts (›Dionysos’ Duplicitas‹), in der Renaissance (›The trick of singularity‹) und in der Kultur des Bürgertums deutscher Sprache nach 1800 (›Teilen, Herrschen und Genießen‹) eine Verbindung jener beiden Qualitäten zu so etwas wie Tragikomik durchaus unwahrscheinlich war: sie schien jeweils einfach eine Ungereimtheit darzustellen. Das Unwahrscheinliche möglich machte Euripides durch Ironie, Shakespeare durch Intervention, Kafka durch Travestie; was das genau bedeutet, ist nicht auf die Schnelle zu sagen, sondern nur in den jeweiligen Kapiteln zu entfalten. Die drei Kunstgriffe unterscheiden sich in charakteristischer Weise; gemeinsam ist ihnen, daß sie, auf Geschehenes reagierend, jeweils Gegenwart mobilisieren. Ein Leitmotiv der Überlegungen – daher der Untertitel des Buches – bildet das Verhältnis zur Zeit: Komisches ist im Moment zuhause, 2 Tragisches beschreibt einen großen Bogen. Die Frage der Ungereimtheit, als Kern des Buches, exponiert das Kapitel ›N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ?‹ bereits zu Anfang umfassend. Dem Umstand, daß alles irgendwo herkommt und irgendwo hingeht, ohne daß sich präzis angeben 2

– oder einer Abfolge von Momenten; s. Kap. ›N.s Malheur‹, ¶ 21.

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ließe, woher und wohin, entspricht, gleichsam an den Rändern des Buches, die Form bloßer Skizzen. Sie sollen es nicht panzern – bei diesem Thema wäre das besonders verfehlt –, sondern nach beiden Seiten öffnen. Tragikomik, wenn’s denn welche ist, avant la lettre und après la lettre: Die kleine Studie am Anfang des Buches (›Sterben vor Lachen‹) widmet sich der Homerischen Welt als Vorgeschichte des Tragikomischen; wie es in der Obhut digitaler Technologien weiter gedeihen mag, fragt das Fragment am Ende des Buches. Fragend ist jedenfalls sein Sinn, auch wenn es sich in der sprachlichen Form behauptend ausnimmt. Dies Stück heißt: ›Miniatur‹. Denn es wäre doch gelacht, wenn eine Folie à deux, die eine so große Vergangenheit hinter sich hat, nicht wenigstens eine kleine Zukunft vor sich haben sollte. Falls diese Meditation über das Endgerät einen enttäuschenden Schluß ergibt, wäre zu erwägen, in welchem Anteil das Enttäuschende der Wirklichkeit, in welchem dem Autor, der von ihr handelt, zuzuschreiben ist.

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Sterben vor Lachen Schrecken und Gelächter scheinen unvereinbar. Heulen und Zähneklappern antworten jenem, nicht Kichern. Das Lachen bricht, wenn überhaupt, erst aus, sobald das Entsetzen gebannt ist. Den beiden unterschiedlichen Konstellationen dürfte allerdings etwas gemeinsam sein. In Erschrecken oder in Gelächter ausbrechen werden diejenigen, denen etwas begegnet, das die gewöhnliche Ordnung der Dinge zerreißt oder außerhalb ihrer liegt. Was sich ereignete, hat die in der einen oder anderen Weise Reagierenden an ihre Grenzen gebracht. Die Extreme berühren einander. Dies ist ein alter Gedanke; klassisch formuliert hat ihn Samuel Taylor Coleridge: Indeed, paradoxical as it may appear, the terrible by a law of the human mind always touches on the verge of the ludicrous. Both arise from the perception of something out of the common order of things – something, in fact, out of its place; and if from this we can abstract danger, the uncommonness will alone remain, and the sense of the ridiculous be excited. The close alliance of these opposites – they are not contraries – appears from the circumstance, that laughter is equally the expression of extreme anguish and horror as of joy: as there are tears of sorrow and tears of joy, so is there a laugh of terror and a laugh of merriment.1 Mag es auch paradox scheinen, so rührt doch das Schreckliche nach einem Gesetz des menschlichen Geistes immer an die Schwelle des Lächerlichen. Beide entspringen der Wahrnehmung von etwas außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der Dinge – von etwas, das nicht an seinem Platz ist; und wenn nun die Gefahr wegfällt, bleibt allein das Ungewöhnliche daran und erregt den Sinn fürs Lächerliche. Die enge Verbindung der Gegensätze – sie widersprechen einander nicht – ist dem Umstand abzulesen, daß Lachen gleichermaßen Ausdruck äußerster Angst und äußersten Grauens ist wie Ausdruck von Freude: wie es Tränen der Trauer und Tränen der Freude gibt, so gibt es auch ein Lachen des Schreckens und ein Lachen der Fröhlichkeit. Coleridge, ›Shakspeare [sic]‹, 147.

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Für das Lächerliche (»ludicrous«, »ridiculous«) trifft Coleridge den Vorbehalt, die Gefahr müsse wegfallen: »abstract danger«. Aber was für das Lächerliche gilt, das gilt nicht selbstverständlich auch für das Lachen: Es gibt das Auflachen im Schrecken, den »laugh of terror«. Als das Dritte, auf das beide bezogen sind, gerät der Leib in den Blick, besonders die Fähigkeit, noch Luft zu schöpfen: im Lachen ändert sich das Atmen, im Schrecken kann es einem den Atem verschlagen. Mehrere europäische Sprachen spannen in zwei merkwürdigen Wendungen das Lachen unmittelbar zusammen mit dem, was aus äußerstem Schrecken hervorgehen kann und wie wenig anderes seinerseits Schrecken hervorruft: dem Tod. ›Sterben vor Lachen‹ und ›sich totlachen‹ lauten die beiden Formeln. Eine von ihnen erscheint erstmals in einer Episode der Odyssee, deren epischer Held, Odysseus, die späteren tragischen und komischen Helden präfiguriert.2 Die Episode (18.1–116)3 steht an entscheidender Stelle: Odysseus ist angekommen, ohne bereits als der erkannt zu sein, der er ist: Hausherr des Palasts auf Ithaka. Er ist heimgekehrt und doch noch nicht daheim. Seine Wege haben ihn bis vor die Türschwelle gebracht, diese Zone des Übergangs, aber nicht schon auf diese. Insofern die Odyssee insgesamt das Epos von der Rückkehr des Helden in die Heimat ist, wird es in der Episode ernst; ohne diesen Bezug auf den Kern der Geschichte wäre sie es wohl kaum. Der Ernst, der in ihr das Lachen grundiert, erschließt sich von der Frage her, wer es eigentlich ist, der zurückgekehrt ist. Die Herrschaft des Odysseus über Ithaka – das ergibt sich aus allem, was während seiner zwanzigjährigen Abwesenheit geschah – kann nicht auf dynastischem Erbrecht beruht haben, auch wenn bereits sein Vater Laërtes König war. Dem Sohn Telemachos machen andere Fürstensöhne Zur Odyssee im Verhältnis zu Tragödie und Komödie vgl. Aristoteles, Peri poiētikēs 1453a30–39. Euanthius sieht in der Ilias das Vorbild der Tragödie, in der Odyssee das Vorbild der Komödie, ›Commentum de comoedia‹, 4: »Homerus tamen, qui fere omnis poeticae largissimus fons est, etiam his carminibus exempla praebuit et uelut quandam suorum operum legem praescripsit: qui Iliadem ad instar tragoediae, Odyssiam ad imaginem comoediae fecisse monstratur.« Zum »Komischen«, »Tragische[n]« und ihrem Verhältnis bei Homer Auerbach, Mimesis, 25. 3 Buch- und Versangaben ohne Zusatz beziehen sich im folgenden auf Homers Odyssee. Zitate folgen der Ausgabe Anton Weihers. 2

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die Nachfolge streitig, gegen die er sich allein nicht durchsetzen würde.4 Eben darauf scheint es in diesem Gemeinwesen anzukommen: sich durchzusetzen, kraft seiner Muskeln ebenso wie kraft des eigenen Verstandes. Die Freier sind nicht so sehr Usurpatoren als Prätendenten – Teilnehmer eines Wettbewerbs um den ersten Rang in einem Land, dessen König als verschollen gilt. Für Odysseus, der die Nebenbuhler in seinem Hause vorfindet, hängt alles davon ab, sich als der Stärkere und Klügere zu erweisen. Nicht sein Name, nicht seine alten Rechte zählen, sondern allein die ihm verbliebene Fähigkeit, mit einer vielfachen Übermacht fertig zu werden. Darum verhüllt er seinen Namen und erscheint als Bettler vor den Freiern. Gewiß sind die Lumpen des Bettlers die klug gewählte Verkleidung des Königs Odysseus. Doch im Sinne dessen, daß allein der Mann, der er ist, Odysseus zum König macht, sind sie zugleich etwas anderes als eine Verkleidung: die Requisite einer Probe darauf, daß ihm die Herrschaft zusteht. Auf der Schwelle des Hauses lagert ein Bettler, Iros – ein anderer Bettler, wie es scheint, denn auch Odysseus ist ja als ein solcher gekleidet. Iros heißt eigentlich Arnaios (18.5). Dieser eigentliche Name ist sprechend, hergeleitet von arnymai: Arnaios ist einer, der kriegt, der etwas bekommt: wie es, im besseren Falle, einem Bettler passiert. Ins Burleske aber rückt die Figur ihr Rufname ›Iros‹: Dieser ist nämlich gebildet als männliches Gegenstück zum Namen der Iris, der Götterbotin. Iros dient den Freiern als Laufbursche (18.7). Der Dichter kontrastiert die Extreme höchster kosmischer Macht einerseits, des sozialen Bodensatzes andererseits. Iros ist prädestiniert, Gelächter auf sich zu ziehen. Das Lächerliche der Szene grundiert jedoch der Tod: der mögliche Tod des Iros, den, je auf ihre Art, Antinoos (18.85) wie Odysseus (18.91) erwägen, und, als Präfiguration, der Tod der Freier. Beides verdichtet ein Vers in der Formel des Sterbens vor Lachen, gelō ekthanon (18.100). Iros verkörpert einen Typus, der später in der Komödie Karriere machte: den Verfressenen. Dieser Typus bildete sich dann in zwei Varianten aus: der des gutmütigen Verfressenen, der anderen ihr Teil gönnt, und der des mißgünstigen Verfressenen, der alles für sich will. Einer der letzteren Art ist bereits Iros. Er macht Odysseus Clarke, ›Telemachus and the Telemacheia‹, 129.

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die Schwelle streitig, weil er dort sein Futter empfängt. Dem Hausherrn die Schwelle des Hauses streitig zu machen verstößt eklatant gegen die Sitte. Aber es ereignet sich hier ja, vergleichbar Oidipous’ Hochzeit mit seiner Mutter, in der Weise unheilbringender Verblendung, für die eine andere Epoche den Terminus ›tragische Ironie‹ prägte. Odysseus verschärft diese Ironie der Situation zu einer bewußten Ironie, wenn er von sich in der dritten Person redet. Die wahre Drohung, als eine von Odysseus ausgehende, ist damit vor Iros zugleich ausgesprochen und nicht ausgesprochen: Alt bin ich freilich – doch schlag ich dir Brust und Rippen noch blutig. Morgen dann hätte ich größere Ruhe, vermut’ ich: ich meine Nämlich, du würdest in gar keiner Weise den Weg wieder finden, Nochmal ins Haus des Sohns des Laërtes, Odysseus, zu kommen. (18.21–24)

Ironie, Verhüllung, ist dies, eben weil Iros es nicht durchschaut; daß der Bettler Odysseus ist, wissen zu diesem Zeitpunkt nur Telemachos (16.154–219) und, allerdings, alle, die es lesen. Zwischen dem Autor, den herausgehobenen Figuren – Odysseus und Telemachos – und den Adressaten des Epos besteht gleichsam eine Verschwörung der Wahrheit. Vor den Freiern treibt Odysseus die Ironie noch weiter, indem er, der – was seine Lumpen vorübergehend verhüllen – körperlich weit Überlegene, sich als gebrechlichen Greis hinstellt: Freunde ! Ein alter, von Leid überwältigter Mann kann wohl schwerlich Kämpfen mit jüngeren Männern ! (18.52–53)

Um den Kampf herbeizuführen, tut Odysseus so, als müsse er ihn verlieren (vgl. 21.275–284): seine Ironie ist schlau. Aber ihren Schleier kann er gleich lüften; Worte und Lumpen haben getäuscht, der Leib spricht die Wahrheit. Erstaunt rufen die Freier aus:

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Jetzt trifft Iros Aïros das Unheil, das er herbeirief: Welch einen Hinteren zeigt uns der Alte da unter den Lumpen ! (18.73–74)5

Im Clinch der Bettler parodiert der Dichter Zweikämpfe aristokratischer Kriegshelden. Diese würden um Macht und Ehre streiten, bei jenen geht es um die Wurst, den gestopften Magen einer Ziege, den der Freier Antinoos als Preis für den siegreichen Bettler ausbot (18.43–49, 118–119). Doch die Eingeweihten – und das sind wieder neben Odysseus selbst sein Sohn Telemachos und die Leser – wissen, daß es zugleich nicht um einen Ziegenmagen geht, sondern um etwas Großes, das für den Verlauf des Epos alles Entscheidende: Odysseus’ Zutritt zu seinem Haus, um seine Heimkehr. Parodien werden lesbar als solche, insofern das durchscheint, was sie parodieren – hier eine aristokratische Kampfszene. Wie für Hektor vor Ajax in der Ilias (7.206–218) gibt es für Iros gegenüber dem Fremden, dem verkannten Odysseus nämlich, kein Zurück mehr (18.66–77), nachdem sie den Kampf jeweils selbst angezettelt haben – mögen sie, bebend vor Angst, auch noch so sehr wünschen, es gäbe ein Zurück. Und abgesehen von dieser speziellen Parallele ist ein allgemeines archaisches Muster des epischen Zweikampfs erkennbar: Die Gegner tauschen vor dem Kampf Drohreden aus (18.9–33), präparieren sich zum Duell (18.66–67), einem von ihnen hilft eine Göttin (18.69–70), der Unterlegene ›beißt in den Staub‹ (18.98), 6 der Sieger verspottet den Besiegten (18.104–107).7 Schließlich aber ist diese Parodie auch keine Parodie – denn bei einem der beiden Kämpfer handelt es sich um einen Helden des Trojanischen Krieges. Daß er Iros mühelos außer Gefecht setzt, versteht sich jedenfalls für wissende Leser von selbst. Doch welcher Sinn liegt darin, daß die Freier angesichts dieses Kampfes ›vor Lachen sterben‹ (gelō ekthanon, 18.100) ? Sie hatten ihn schon vorher mit Lachen begleitet: ekgelasas (18.35), geloōntes (18.40). Wie immer der Kampf ausging, eine Freude war ihnen als Zuschauern sicher: die Schadenfreude. Ihr Lachen über den Scha ›Aïros‹ – mit dem alpha privativum – bedeutet, sein Schicksal vorwegnehmend, ›Nicht-mehr-Iros‹ oder ›Nicht-mehr-Bote‹. 6 Vgl. Ilias 16.469. 7 Vgl. Ilias 21.122. 5

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den des Iros (18.111: gelōontes) ist indes kurzsichtig. Was sie als Unterhaltung betrachten, kündet ihren Untergang an. Die Freier ähneln Iros in mehrfacher Hinsicht – darin, daß auch sie den Fremden ruppig behandeln, sich an fremdem Eigentum vergreifen, ihrem Bauch verfallen sind, großmäulig auftreten und sich ebenso schamlos wie feige verhalten. Iros verschuldet selbst seinen Fall (18.73); das Gleiche tun die Freier. Die Verbindung zwischen dem Schicksal des Iros und dem der Freier spricht Telemachos im Gespräch mit Penelope aus – hier, im 18. Gesang, noch als Wunsch: Würden doch jetzt so die Freier in unsrem Palast überwältigt, Senkten sie so ihre Köpfe zu Boden, die einen im Hofe, Andre im Haus, und würde doch jedem so schwach in den Knieen, So, wie jetzt jener Iros da draußen am Tor unsres Hofes Sitzt, als wär’ er betrunken und wackelt nur so mit dem Kopfe. Aufrecht kann er sich nicht auf die Füße mehr stellen, und ­Heimkehr Gibt es nach Hause nicht mehr, so zerschlagen sind seine Glieder. (18.236–242)

Wenn der Dichter die Freier metaphorisch vor Lachen sterben läßt, dann weil sie am Ende ihr Leben verlieren werden der Verblendung halber, die durchweg in ihrem Lachen lag. Es begleitet ihren Weg in den Tod: Die Mägde lachen über den vermeintlichen Bettler (18.320: egelassan; 20.8: gelō); mit seinem Hohn über diesen bringt Eurymachos die anderen Freier zum Lachen (18.350: gelō); die Freier lachen Theoklymenos ins Gesicht, als er ihren Tod voraussieht (20.358: gelassan); sie lachen über die von Telemachos geladenen Gäste (20.374: geloōntes); sie lachen vor ihrem letzten Mahl (20.390: gelōontes); sie lachen – ein letztes Mal –, als Telemachos ihnen den Tod wünscht (21.376: gelassan). Nur ein einziges Mal wendet die Göttin selber dieses Lachen (20.346: gelō; 20.347: gelōōn) aus der Verblendung in die Wahrheit, die aber, der Normalität der Verblendung halber, die Gestalt momentaner Verrücktheit, von Wahnsinn (20.346: pareplagxen von paraplēssō, wörtlich: ›danebenschlagen‹) annehmen muß. 20 | Sterben vor Lachen 

Pallas Athene indessen Reizte die Freier zu unauslöschlichem Lachen. Ihr Denken Ging in die Irre. Sie lachten bereits mit fremden Gesichtern. Blutig wurde das Fleisch, das sie aßen, es füllten die Augen Voll sich mit Tränen: es sah ihr Gemüt schon den kommenden Jammer. (20.345–349)

Gnathmoisi (20.346), von Weiher hier wie schon von Voß mit »Gesicht« übersetzt, sind eigentlich die Backen oder Gebisse der Freier. Athene hat ihnen die Kiefer ausgehängt; die Bewegung der Mundpartie, die zum Lachen gehört, ist fremdgesteuert (vgl. 20.347: allotrioisin). 8 Sie besitzen es nicht; es ist besessen, ein irres, totes Lachen. In ihm haben die Lachenden sich selbst verloren, so wie sterben heißt sich zu verlieren. Das Lachen der Freier ist nicht das ihre, weil sie nichts mehr zu lachen haben, wie die Prophezeiung des Theoklymenos (20.350–386), die so eingeleitet wird, klarmacht.9 Ihre lächerliche Torheit und ihr Verhängnis ist damit in ein einziges Bild zusammengezwungen. Dieses Bild entzieht sich jedoch. Daß die Freier zugleich unauslöschlich lachen (20.346: asbeston gelō) und weinen (20.347–348: osse dakryophin pimplanto) sollen, liegt jenseits der Grenzen des Vorstellbaren: sie sind überschritten, wo Menschen Marionetten der Götter werden. Die komische Seite des Schrecklichen, lachhaftes Puppentheater, zeigt hier, wie schrecklich das Schreckliche ist; im vorhinein ist der Satz aus klassischer Zeit entkräftet, das Komische müsse harmlos sein.10 Es wäre anachronistisch, die Szene tragikomisch zu nennen. Doch in das, was dann Tragikomik wurde, geht der große Fund ein, den Homer hier machte: das Lachen derer, für die es längst nichts mehr zu lachen gibt.

Darin liegt ein Unterschied zum ›Lachen unter Tränen‹ der Andromache (Ilias 6.484). Zum Wahnsinn als göttlicher Schickung in der Odyssee vgl. Dodds, The Greeks and the Irrational, 67, 84. 9 Vgl. de Jong, Narratological Commentary, 501–502. 10 Aristoteles, Peri poiētikēs 1449a34–37. 8

Sterben vor Lachen | 21

N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? 1  Der Gegenstand dieser Studie, das Tragikomische, ist zunächst

ein Klischee: das des Bajazzo, dem zum Heulen ist, während er seine Possen reißt. Klischee bedeutet Abklatsch, zunächst den Probeabzug einer originalen Druckform. Ein Paradoxon, wie das Tragikomische, mag einmal gegen Klischees erdacht worden sein; ein solcher Umstand bietet und bot noch nie Gewähr gegen die Möglichkeit, selbst abgegriffen und nichtssagend zu werden. Guter Geschmack geht Klischees grundsätzlich aus dem Weg; aber derart unbehelligt bleiben sie, was sie sind. Gerade daß etwas Klischee wurde, wäre ein Grund, es so lange mit Fragen zu behelligen, bis es wieder frisch ist. Es kann sich herausstellen, daß dies mißlingt. Aber selbst das wäre eine Lehre. 2  Zu den Klischees (¶ 1) zählen gestanzte Antworten auf vorge-

fertigte Fragen. Die erste Frage, die sich stellt, wäre die nach der richtigen Frage. Darf sie lauten: Was ist Tragikomik ? Oder ist die Frage, so gestellt, verpönt, weil essentialistisch – und zu ersetzen durch Erkundigungen nach dem Wortgebrauch ? Manche Leute werden tragikomisch genannt, auch Situationen, Ereignisse, Vorgänge. Was für Vorgänge ? Jenseits des Klischees nach einer Sache gefragt wird erst, wenn sich nicht mehr von selbst versteht, was sie ist. Vielleicht hilft ein Beispiel weiter, das schnell jenes Etikett auf sich ziehen würde; jedenfalls bietet es reichlich Stoff zum Nachdenken über Tragikomik. Anton Tschechow notierte im Jahr 1901 in eine Kladde zum Kirschgarten: Die Lehrerin N. hört, als sie abends nach Hause geht, von einer Bekannten, X. habe sich in sie verliebt, wolle ihr einen Antrag machen. N. ist häßlich, hat nie zuvor ans Heiraten gedacht, kommt zitternd vor Angst nach Hause, kann nicht schlafen, weint, gegen Morgen verliebt sie sich in X.; und mittags erfährt sie, daß es nur eine Vermutung war, daß X. nicht sie heiraten werde, sondern Y.1 Čechov, Tagebücher Notizbücher, 141.

1

 23

Ein Anti-Aschenputtel. Auf den ersten Blick mag die Geschichte aussehen wie der simple Witz des Erzählers über eine Frau, für die es das höchste der Gefühle wäre, eines Tages geheiratet zu werden. Sein Sexismus ließe sich vielleicht daran festmachen, daß das Attribut »häßlich« N. von vornherein zum Opfer stempelt. Eventuell würde man hinzufügen, der Witz beute eben das stets reichlich vorhandene Gefühl der Schadenfreude aus, die sich leicht einstellt, wenn jemand – in diesem Fall die Protagonistin N. –, wie man so sagt, selber schuld ist. Aber ist die Sache wirklich so einfach ? 3  Was ist mit der Geschichte anzufangen ? Sofern Schadenfreude

(¶ 2) hier nicht das erste und zugleich letzte Wort hat, liegt Mitgefühl, wie traurig der Vorgang sei, unmittelbar nahe. Daß N. Opfer eines banalen Versehens wird, macht, was da passierte, erst recht trostlos: Gleichgültig, nämlich ungeprüft Hingesagtes erzeugt, über Stadien von Angst und Zittern, äußerste Involviertheit, die am Ende auf manifeste Gleichgültigkeit trifft. Hätte ein NichtIndif­ferenter, ein Feind, N. angegriffen, dann könnte sich ihr Leid und des Lesers Mitleid in Haß auf den Angreifer Luft machen. Sie könnte kämpfen. Aber N. hat keine Ansprüche an X., sie kann sich nicht zu Unrecht zurückgesetzt, 2 also im Recht fühlen. Ihr ist benommen, ihrer Enttäuschung in Empörung Luft zu machen. Wenn man N. ein Opfer nennt, fragt es sich doch: wessen Opfer ? Von bösen Absichten der drei anderen Beteiligten ist keine Rede. Niemand hat etwas gegen N. Und gerade daß sich nicht die Spur eines solchen Konflikts andeutet, läßt die Geschichte an Komik, bis zur Absurdität, teilhaben. Alles vollzieht sich an der Oberfläche, ohne Tiefe, ohne Sinn. Komisch ist, daß N. allein im Bett liegend ihr Herz an X. verliert.3 Daß dies Sichverlieben den anderen nicht braucht, spiegelt ironisch voraus, daß es ihn nachher nicht bekommt – eine Parodie poetischer Gerechtigkeit. Bloße Worte liegen diesem Entflammtwerden zugrunde, bloße Worte entziehen ihm die Grundlage. Es ist Zur Unterscheidung zwischen Unrecht und Unglück vgl. Shklar, Faces of Injustice, 5, 51–82. 3 Was ein Erzähler, dem es auf Aktion ankommt, beiseite schieben würde, macht Tschechow gerade zum Angelpunkt; vgl. zum Kontrast Thackeray: »How Miss Sharp lay awake, thinking, Will he come or not to-morrow ? need not be told here.« (Vanity Fair, 44) 2

24 | N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? 

Tschechows Kunst, zur Sprache zu bringen, wie wenig auf Sprache zu geben ist. Die Komik von N.s Fall speist sich aus dem bizarren Mißverhältnis zwischen der Nichtigkeit der Ursache – ein Tratsch, eine bloße Vermutung, die sich als Mißverständnis, als Verwechslung entpuppt – und der Macht ihrer Wirkung: Ein Leben, das, wie es scheint, nie an Liebe teilhatte, wird in dieses stärkste aller Gefühle gestürzt. Etwas Großes wird ausgelöst und dann für überflüssig erklärt. Es läuft ins Leere. Jene Nichtigkeit verschärft, daß X., um den sich alles dreht, nichts ahnt von dem, was sich um ihn dreht. Vorsichtshalber erklärt Tschechow N. für »häßlich«, so die Idealisierung vermeidend, die Männer für ihre reinen tragischen Heldinnen vorsahen – solche, für die Helden sterben. X. soll keinen Grund haben, N. auch nur zu bemerken. Zugleich ist die »Bekannte« als allenfalls gedankenlos oder verwirrt, nicht als hinter­listig zu denken. Die Auflösung einer vehementen Emotion in nichts ist geläufig als Struktur vieler Witze, 4 zugleich aber bezeichnet gerade sie den für N. tragischen Ausgang. Als Zerplatzen einer Seifenblase ist der geschilderte Verlust einer Illusion komisch; doch sobald N. sich in X. verliebt hat, ist mehr im Spiel als eine Illusion über irgend etwas da draußen. Die Illusion hat verändert, wie N. sich selber sieht – und daran rührt dann deren Zerstörung. Der merkwürdige Fall ist eingetreten, daß N. gedemütigt aus der Geschichte hervorgeht, ohne daß jemand sie gedemütigt hätte. Falls es triftig ist, das Ereignis tragikomisch zu nennen, dann jedenfalls nicht, weil Tschechow Tragisches und Komisches in etwa gleichen Anteilen kombinierte; statt neben einander zu stehen, erscheinen sie vielmehr verschlungen in einander und damit unentbehrlich für einander. 4  Tragisches und Komisches in einander verschlungen (¶ 3): Das

könnte erst recht gelten, stellte man die Notiz in den Zusammenhang von Tschechows Werk. Seine Stücke zeugen zur Genüge von weiblichem Unglück in der bürgerlichen Ehe. Wir erfahren aus der kleinen Skizze etwas darüber, wer N. ist – aber nichts darüber, wer X. ist. Vielleicht ist gerade der desperate Ausgang der Geschichte ihr Happy-End, der vermiedene Abstieg einer Lehrerin zum »An4

Locus classicus: Kant, Kritik der Urteilskraft A 222 = B 225, 273. N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? | 25

gel in the House«5 ? Allerdings schließt die Geschichte ja nicht – sie hört nur auf, mit einem Schmerz, den Tschechow nicht nennt und nicht nennen muß, sondern unausgesprochen in der Luft hängen läßt. Als Grund ließe sich vermuten, daß eben nur eine Skizze vorliegt. Doch bloßes Aufhören entspricht auch einem poetischen Grundsatz Tschechows. Zu Iwan Bunin sagte er 1895, bei ihrer ersten Begegnung: »Meiner Meinung nach sollte man, wenn man eine Erzählung geschrieben hat, den Anfang und den Schluß streichen. Da reden wir Belletristen den meisten Unsinn …«6 Falls das Happy-End der Komödienschluß wäre und der Untergang der Tragödienschluß,7 dann kann offenes Aufhören die Tragikomik wahren. Was aber bedeutet das: ›offen aufhören‹ ? In einem bestimmten Sinne hört jede Geschichte offen auf, weil man nie weiß, wie es weitergeht. Es kommt nicht vor, daß ›alles vorbei‹ ist, sofern das Wort ›alles‹ bedeutet, was es bedeutet. Auch nach der Hochzeit in der Komödie oder nach dem Tod des tragischen Helden könnte es auf vielerlei Art weitergehen. ›Offen‹ heißt daher ein Ende nicht in einem absoluten Sinne, sondern relativ auf das Problem, um welches das Drama jeweils kreiste. Und das gilt ja von dem Miniaturdrama der N. Offenes Aufhören und Tragikomik widersetzen sich beide der Eindeutigkeit. Daß nur offenes Aufhören die Tragikomik wahren kann, ist damit nicht gesagt; ein Schließen, das nicht in die eine oder andere Richtung kippt, bleibt denkbar. 5  Die antike Tragödie war Kritik des Helden: Er erweist sich als

unfähig, den Gang der Dinge zu bestimmen. Schon zwischen falsch und richtig zu unterscheiden gelingt ihm nicht. Der tragische Held hat, nüchtern gesagt, weder Erfolg noch Urteil. Das bedeutet nicht, er sei insgesamt eine einfältige Figur. Die Sphinx durch Klugheit zu besiegen gelang Oidipous; aber in der Führung des eigenen Lebens hat er, wiederum ohne Pathos gesprochen, weder Erfolg noch Urteil. Dies gilt auch von N.; von tragischen Helden unterschieden und zur komischen Figur designiert scheint sie jedoch durch die Art ihres Fehlers. Damit nun ein Geschehen, wie das um N., tragikomisch sein könnte, müßten die beiden Seiten, die das eine Wort Woolf, ›Professions for Women‹, 285. Bunin, Čechov, 13. 7 Vgl. aber Kap. ›Dionysos’ Duplicitas‹, ¶¶ 19–20. 5 6

26 | N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? 

benennt, einander in einem Punkt treffen. Im Mißverhältnis zwischen den Absichten, die sich mit einem Tun verbinden, und den Folgen dieses Tuns liegen Möglichkeiten nach jenen beiden Seiten, der tragischen und der komischen. Das Dritte, in dem sie einander treffen, scheint die Verletzlichkeit und Schwäche von Menschen zu sein. Auf diese beziehen sich Komik und Tragik in unterschiedlicher Weise – worin der Unterschied besteht, wäre herauszufinden. Den Punkt, in dem beide einander treffen, bezeichnet manchmal das Wort ›peinlich‹, das einerseits von dem Nomen ›Pein‹, also Schmerz, abstammt, andererseits Attribut von Verhaltensweisen ist, die, weil merkwürdig, ins Alberne oder Lächerliche ziehen. 6  Verletzlichkeit und Schwäche (¶ 5) kann vielerlei Quellen haben;

im Fall von N.s Geschichte rühren sie offenbar vom Phantasieren her. Einsamkeit macht anfällig für Phantasien von Zweisamkeit. Wer phantasiert, stellt im Kopf eine zweite Welt neben die erste. Das kann komisch werden durch die Inkongruenz des Realen und des Imaginierten. Es kann tragisch werden durch den tiefen Fall von der Höhe des Phantasierten auf den harten Boden der Realität. Und den Ausschlag in die eine oder die andere Richtung, die tragische oder die komische, gibt die Antwort auf die Frage, worum es ging in der Phantasie: Was für ein Bedürfnis liegt ihr zugrunde und welcher Gehalt kommt der Phantasie selber zu ? N.s Bedürfnis, geliebt zu werden, ist menschlich und mag tief loten; sich ihm hinzugeben aufgrund eines bloßen Berichts, ist albern. Die Kunst, so etwas vorzuführen, kann aber groß sein und größer als der reine Ernst. Nur einem, der vom Inhalt ohne weiteres auf die Form schließt, erscheint aufgrund der umrissenen Differenz Tragik als das Hohe und Komik als das Niedere. Weil Form stets die eines Inhalts ist, muß allerdings Substanz da sein, an der sich die komische Kunst bewährt; komisches Gefuchtel ohne Substanz heißt Klamauk. 8 Aber das ist kein Einwand gegen Komik. Es gibt schließlich auch tragisches Gefuchtel ohne Substanz.

Vgl. Kap. ›Sterben vor Lachen‹. Wäre sie nichts als die Keilerei zweier Bettler um einen Ziegenmagen, dann bliebe die Iros-Episode Klamauk. 8

N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? | 27

7  Obschon sie plausibel klingt, kann, einerseits, die Charakteri-

sierung von N.s Malheur als tragikomisch (¶¶ 3–4), wie jede Charakterisierung, bestritten werden. Schon daß die Worte ›tragisch‹ und ›komisch‹ dabei vorerst nur intuitiv verwendet werden, macht sie anfechtbar. Doch irgendwo muß man schließlich anfangen. Andererseits kann man fragen, was mit einer solchen Charakterisierung geleistet wäre. Versteht man damit eine solche Situation, die ja nicht nur in Notizbüchern von Schriftstellern vorkommt ? Denn auch wenn Tschechow die Geschichte der Lehrerin N. erfunden hat: Alles könnte sich im Leben so zugetragen haben – ja es ist unwahrscheinlich, daß dergleichen noch nie passiert ist. Das heißt nicht, daß Literatur das – übrige – Leben spiegelt; es könnte, gemäß Oscar Wilde,9 umgekehrt sein. Es heißt auch nicht, daß der Unterschied zwischen Literatur und übrigem Leben nichts ändert; Adam Smith weist, wenngleich nicht unironisch, darauf hin: The loss of a leg may generally be regarded as a more real calamity than the loss of a mistress. It would be a ridiculous tragedy, however, of which the catastrophe was to turn upon a loss of that kind. A misfortune of the other kind, how frivolous soever it may appear to be, has given occasion to many a fine one.10 Der Verlust eines Beines ist im allgemeinen als größeres wirkliches Unglück anzusehen als der Verlust einer Geliebten. Doch eine Tragödie, deren Wendepunkt ein solches Ereignis wäre, nähme sich lächerlich aus. Ein Mißgeschick der anderen Art hingegen, selbst wenn es leicht wiegt, hat schon zu mancher schönen Tragödie Anlaß gegeben.

Nicht etwa das nach den praktischen Maßstäben des Lebens schlimmere Ereignis ist das für literarische und speziell theatralische Tragik ergiebigere, sondern das nach den eigenen Maßstäben von Literatur und Theater pittoreskere, das schön – »fine« – darstellbare. Jedenfalls galt dies in einem Zeitalter des Geschmacks, wie es das 18. Jahrhundert war. Besser gesagt: seiner Dialogfigur Vivian, in ›The Decay of Lying‹, 32: »Life imitates art far more than Art imitates life.« 10 Smith, Theory of Moral Sentiments, 35–36. 9

28 | N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? 

8  Im Fall von Tschechows Lehrerin macht deren Status als Fik-

tion (¶ 7) einen maßgeblichen Unterschied. N. kann einem leid tun (¶ 3), doch das stört die Komik nicht. Es ist gleichsam ein Leidtun in Klammern. Für eine Erdichtung kann keiner etwas tun. Sich auf einen wirklichen Menschen moralisch einlassen, heißt hingegen, es ernst mit ihm meinen; die Komik hört auf. Aber man hat eben auch im Leben nicht immer Mitleid; Furchtbares passiert, das zugleich komisch ist, und komischer, weil furchtbarer. Falls, unter solchen Voraussetzungen, ›tragikomisch‹ ein treffendes Wort wäre für ein Ereignis, sei es in der Literatur, sei es im Leben, dann ist damit noch nicht geklärt, wie etwas tragikomisch sein kann. Wer Gutes und Schlechtes vermengt, erhält Mittelmäßiges. Wegen des Schlechten ist die Sache weniger gut, wegen des Guten weniger schlecht. Gegensätzliche Qualitäten schwächen einander. In tragikomischen Situationen hingegen scheint die eine Seite die andere zu steigern: so, eben Seite an Seite, werden sie noch schneidender. Vielleicht liegt dies daran, daß das Tragikomische kein Vermengtes ist. Oder es liegt daran, daß ›tragisch‹ und ›komisch‹ ein Gegensatz anderer Art ist als ›gut‹ und ›schlecht‹. Wo Tragik ins Große greift, macht ihr Gegenspieler, Komik, sich als das Verkleinernde geltend. Ein solcher Antagonismus braucht, weil er sich als Bewegung vollzieht, zunächst Abstand. Daß Tragik und Komik einander nah rücken können – wenn sie es denn können –, und zwar nah bis zum Ineinander-Verschlungensein (¶ 3), bleibt erstaunlich und erklärungsbedürftig. 9  In tragikomischen Situationen scheint die eine Seite die andere

zu steigern (¶ 8): Dies Wort, ›steigern‹, legt nahe, es ergebe sich jeweils ›mehr‹ der einen und der anderen Qualität. So ist es auch gemeint. Aber das schließt nicht aus, daß die beiden Seiten, statt einander nur zu stärken, in ihrem Verschlungensein (¶ 3) einander auch ändern, sich wechselseitig eine neue Note geben, zum Beispiel die des Grellen oder des Absurden. Daß Tragik und Komik einander steigern können – wenn sie es denn können –, impliziert ferner nicht, eine von ihnen sei für sich genommen mangelhaft. Beides wird verwechselt in dem konventionellen Kritikerlob, die Komik zum Beispiel Chaplins sei so groß, daß sie an Tragik heranreiche. Was aussieht wie ein ästhetisches Urteil, zeugt lediglich von einer N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? | 29

arbiträren Vorliebe. Von Kritikern, die so loben, wird man nicht lesen, die Tragik Sophokles’ sei so groß, daß sie an Komik heranreiche. Jenem kritischen Gemeinplatz liegt eine Rangordnung der Modi zugrunde. Tragik soll irgendwie besser sein als Komik; daher soll sich diese an jener nobilitieren können. Doch weit und breit ist kein Gedanke erkennbar, der eine solche Rangordnung begründen würde. Denn vom Inhalt zur Form führt nur ein Fehlschluß (¶ 6). Das Interesse am Tragikomischen (¶¶ 2–5, 8) ist anders beschaffen; es kommt ohne implizites oder explizites Mäkeln an Komik aus. 10  Falls es sich so verhält, daß Tragisches und Komisches je ein-

ander stärken, oder stärken können (¶ 8), dann ist nach einer Antwort, eventuell auch eher nach Antworten, auf die Frage zu suchen: Wie kann das sein ? Das Rätsel sei leicht gelöst, ließe sich einwenden. Zugespitzter Skepsis gälte Tragikomik als in sich widersprüchlicher Begriff. Einen Widerspruch weist man als scheinbaren auf, indem man zwei Hinsichten unterscheidet; die eine Seite gilt in einer Hinsicht, die andere in der anderen, und so bilden sie keinen Widerspruch mehr. Welche Hinsichten diese bewährte Strategie, Paradoxien auf den Leib zu rücken, zu unterscheiden hätte, liegt nahe. Um Tschechows Geschichte als tragikomisch aufzufassen, ohne daß darin eine Schwierigkeit fürs Denken läge, wäre zwischen der Innenperspektive der Lehrerin N. und der Außenperspektive von Lesern zu unterscheiden. Mit einer solchen Unterscheidung nähert man sich schon der gefährlichen Zone, die Wordsworth in ›The Tables Turned‹ benennt: »We murder to dissect.«11 Die Sache geht schief, sobald man beginnt, seinen Analysen von Geschichten mehr abzugewinnen als den analysierten Geschichten.12 Aber dazu führt der Gedanke vielleicht noch nicht ganz – sondern nach wie vor zur Geschichte selbst. Für N., so würde der Einwand besagen, sei der Vorgang überhaupt nicht komisch, er schneide tragisch in ihr Leben ein; für Leser hingegen sei das Ganze komisch.

Wordsworth, ›The Tables Turned‹, 48. Vgl. Matt, Schicksal der Phantasie, 10, sowie Gardner, The Business of Criticism, passim, bes. 12–13, 62. 11

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30 | N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? 

11  Für Leser (¶ 10) ist das Ganze nicht einfach komisch. Daß sich

N. im Zeitraum eines Tages desavouiert sieht als eine, die es wert sein könnte, geliebt zu werden, kann ein Leser begreifen. Wird er eine solche Erfahrung tragisch nennen, ist anscheinend nichts dagegen zu sagen. Der selbe Leser kann den Vorgang komisch finden, aus den genannten Gründen (¶ 3). Und er kann auch noch sehen, daß der Vorgang für N. einschneidender tragisch wird, eben weil er komisch ist, nämlich für N.s Mitmenschen, die ihn mitbekommen. Das Opfer eines Angriffs kann Trost bei seinen Mitmenschen finden und auf Hilfe hoffen. Mit Geschlagenen können alle sich in dem Maße identifizieren, in dem jeder im Leben zum Geschlagenen werden kann. Für einfältig hält sich hingegen kaum jemand, nicht einmal die Einfältigen. (Denn ihre Einfalt schützt sie vor solcher Selbsterkenntnis.) Dieser Umstand arbeitet einem Sichidentifizieren des Lesers entgegen; N. wird so zum Objekt, mit dem der Erzähler spielt. Da ihre Desavouierung als einer möglicherweise Liebenswerten sich unter so komischen Umständen vollzieht – eine Verwechslung, eingebildete Zustände –, ist ihre Geschichte durchaus trostlos und durchaus hoffnungslos. Wenn man das Wort hier in diesem Sinne versteht, ist sie tragisch, weil sie komisch ist. Ohne eine Perspektive (¶ 10) käme es nicht zu einer solchen Einschätzung. Aber da ist etwas, das aus einer solchen Perspektive gesehen wird. Die Einschätzung geht, anders gesagt, nicht in der Alternative ›subjektiv‹ versus ›objektiv‹ auf. 12  Niederschreiben läßt sich so ein Satz leicht: Etwas sei tragisch,

weil es komisch ist (¶ 11). Papier ist geduldig. Aber passen diese Züge wirklich in ein und demselben Bewußtsein zusammen ? Es kann einer nicht zugleich weinen und lachen. Jemand kann etwas ›mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen‹; aber das mag nur ein Bild sein. Wäre es nichts weiter, dann entzöge das möglicher Tragikomik von vornherein den Boden. Es entsteht die Tragikomödie, die Kunstgattung, deren ­Wesen darauf beruht, daß ein sich vor uns abspielendes Geschehen gleichzeitig und untrennbar komisch und tragisch ist. Die positive Bedeutung dessen ist sehr gering; es ist in der Praxis ohnehin undurchführbar, weil diese gleichzeitige Doppelseitigkeit des Sehens doch nie zum N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? | 31

spontanen Erlebnis werden und die tragische Seite eines komischen Falles, oder die komische eines tragischen nur nachträglich – und zwar großenteils intellektuell – empfunden werden kann.13

Georg Lukács hat den Gedanken in seiner Studie von 1914 derart nachlässig in Worte gefaßt, daß man meinen könnte, es sei keiner da. Denn ist Empfinden Sache des Intellekts ? Muß man sich über den Grad der »positive[n] Bedeutung« von etwas den Kopf zerbrechen, wenn es »ohnehin undurchführbar« ist ? Die Fragen sind angebracht, aber sie setzen sich darüber hinweg, daß im achtlos Gesagten ein Einwand steckt, der eine Antwort fordert. 13  Wogegen richtet sich derjenige Einwand Lukács’, der zunächst

eine Antwort fordert ? Das sagt der erste Satz des Passus: Ihn stört »die Tragikomödie« als »Kunstgattung«. Für sie fand Lukács nämlich keinen rechten Platz in der Geschichtsphilosophie der literarischen Gattungen, an der er zu dieser Zeit arbeitete und deren wichtigstes Stück, Die Theorie des Romans, zwei Jahre später erschien. Es ist allerdings eine Sache, Zweifel an einer Gattung namens Tragikomödie anzumelden, und eine andere Sache, zu bestreiten, daß eine Situation als tragikomisch erlebt werden kann. Mit Gérard Genette ist zwischen Modus und Genre zu unterscheiden. Modi sind adjektivisch, Genres substantivisch. »Il y aurait donc du tragique hors tragédie«14 – tragisch kann es zugehen jenseits der Tragödie, komisch jenseits der Komödie und tragikomisch jenseits der Tragikomödie. In letzterem Fall gebührt sogar dem Modus ein ästhetischer Vorrang vor dem Genre. Gegen eine Gattung namens Tragikomödie mag in der Tat einiges sprechen, wenn auch nicht gerade, daß eine Geschichtsphilosophie kein Fach für sie bereithält. Zu einer wirklichen Gattung schließen sich Werke stetig, zugleich bewahrend und erneuernd, zusammen – siehe Ballade, Symphonie, Stilleben –; davon kann bei sogenannten Tragikomö Lukács, ›Zur Soziologie des modernen Dramas‹, 683. Als er lebensphilosophisch statt geschichtsphilosophisch dachte, konnte Lukács, jedenfalls durch die persona einer seiner Dialogfiguren, noch die Tragikomik im Tristram Shandy bewundern, s. ›Reichtum, Chaos und Form‹, 315. 14 Genette, Introduction à l’architexte, 24. Zur Unterscheidung von Modus und Genre vgl. a. Knox, ›Euripidean Comedy‹. 13

32 | N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? 

dien keine Rede sein. Daß es sich so verhält, ist nicht einmal schade. Starke tragikomische Wirkungen entfacht eher, wer die Zuschauer ungewiß darüber sein läßt, in was für einer Vorstellung sie sitzen. Anzukündigen, halb tragisch, halb komisch werde sie sein, wie Beckett mit dem Untertitel von Waiting for Godot, A Tragi­comedy in Two Acts, ist zu adrett. So verpaßt ein Autor die Gelegenheit zu verwirren. Denn Verwirrung, und mit ihr die Erfahrung, in gegensätzliche Richtungen gezogen zu werden, kann ästhetisch ein Gewinn sein – und zugleich epistemisch, da sie das Denken fordert.15 Weder ist sie zwingend künstlerisches Versagen noch ihre Vermeidung zwingend künstlerisches Verdienst. Ins Unbequeme ihrer Lage fällt ein Glanz: der des Überraschenden. Im Programmheft angemeldete Verunsicherung verunsichert keinen; man weiß Bescheid. Die eindringlichsten tragikomischen Momente treten jenseits als Tragikomödien annoncierter Werke auf. Gäbe es eine solche Gattung, es wäre desto schlimmer für sie. Vielleicht ist ein Feld auszumachen, in dem sich Gattungen wie Tragödie und Komödie überschneiden, ohne daß dieses selbst zur Gattung würde. Nicht ob ein Genre namens Tragikomödie besteht, ist zu erwägen, sondern ob eine Handlung oder Lage als tragikomisch erlebt werden kann; erst an diesem Punkt wird das, was Lukács ausführt, bedenkenswert. 14  Lukács’ Einwand (¶ 12) lautet, an Tragikomik sei nichts, weil

sie hinzustellen nicht genüge. Sie müsse ankommen; das aber werde nicht geschehen. Im Jargon gesprochen: Lukács argumentiert von der Seite der Rezeption her gegen die Produktion – gegen bestimmte Produkte. Das Publikum könne diese nicht so erfahren, wie sie intendiert seien – tragikomisch nämlich –, weil sein Bewußtsein nicht auf eine entsprechende »Doppelseitigkeit« angelegt sei. Träfe dies zu, dann wäre Tragikomik als Thema wirklich erledigt; allenfalls ließe sich noch spekulieren, wie es je zu diesem künstlerischen Irrläufer kommen konnte. Allerdings muß Lukács die Perspektive des Publikums verzerren, um sein Argument durchzuführen. Seine Taktik steht und fällt mit dem Begriff des »Sehens«. Beim Sehen leuchtet es in der Tat ein, daß man eine 15

Vgl. Baker, The Aesthetics of Clarity and Confusion, 63–96. N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? | 33

Sache nicht zugleich als etwas und etwas anderes sehen kann. Das demonstrieren die Kippbilder oder Inversionsfiguren. Am NeckerWürfel sieht einer immer nur entweder das linke Quadrat oder das rechte als dessen Vorderseite; Edgar Rubins bekannte Figur kann jemand als eine Vase oder als zwei Gesichter sehen, doch nicht als beides zugleich; der von Wittgenstein erörterte Kaninchen-EntenKopf16 läßt sich als Kaninchen oder Ente sehen, aber nicht, im selben Augenblick, als Kaninchen und Ente; wenn der Zeichner William Hill die Betrachter auffordert, in einer berühmt gewordenen Zeichnung seine Gattin und seine Schwiegermutter zu entdecken,17 finden sie immer erst die junge oder die alte Frau. Es vermag einer jeweils beides nur nacheinander, nicht gleichzeitig in den Bildern zu sehen, weil Sinnlichkeit durchweg im Jetzt operiert. Sehen erschöpft indes nicht das, wozu man ins Theater geht: das Drama zu verfolgen. Aischylos’ Persai, aber ebenso Agatha Christies The Mousetrap ist mehr als ein Spektakel. Allerdings: Wenn es nichts zu sehen gäbe, würde man auch nicht ins Theater gehen, sondern zu Hause bleiben. Doch ›Zuschauer‹ schauen nicht nur; weil vielmehr das Medium des Werks Sprache ist – der Autor gestaltet nur diese, nicht das Sichtbare der Szene – und Sprache verstanden sein will, gehen Verstand und Sinnlichkeit im Erleben des Dramas ineinander. Das Verstehen ist nie lediglich im Augenblick, sondern noch im bereits Gehörten und schon in dem, was es zu hören erwartet: nur darum gibt es, manchmal, Spannung im Theater oder Überraschung. Zwar ist die Spannung am höchsten im Moment, da nichts gesagt wird. Aber sie ist es nur, weil sich vor diesem Moment etwas andeutete. Und Andeutungen muß man als solche verstehen. Lukács’ Argument hätte die für seine Theorie fatale Konsequenz, daß es im Theater nicht nur keine Tragikomik, sondern ebensowenig Tragik und Komik gäbe, denn auch diese sieht man nicht, sondern versteht sie allenfalls, in einem Zusammenspiel dessen, was man sieht, hört, denkt. Selbst in wortlosem Theater, einem gestischen, mimischen oder pantomimischen,18 wollen die Zuschauer nachvollziehen, was ausgedrückt oder gezeigt werden soll – auch dies geht auf ihrer Seite bereits über ein Hingucken hinaus. Ge Original: Fliegende Blätter 97 (1892), Nr. 2465, 147. Hill, ›My wife and my mother-in-law‹. 18 Lecoq, Théâtre du Geste. 16

17

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wiß meint Lukács »Sehen« in dem Passus irgendwie metaphorisch; aber Metaphern benutzen einen Aspekt des eigentlichen Sinnes, um etwas anderes zu charakterisieren. Diese Metapher verdunkelt die Erfahrung des Theaters, um die es geht, eher, als daß sie diese erhellte. Mit der in jedem Drama, das den Namen verdient, angelegten Rolle des Verstandes erledigt sich Lukács’ abschätziges »großenteils intellektuell«. Tragikomik kann erlebt werden, insofern es in diesem Zusammenhang niemals allein um punktuelle Sensationen geht, sondern um ein Bewußtsein, das vor- und zurückgreifen muß, wenn, weil und indem es überhaupt etwas erlebt. 15  Doch wenn das Bewußtsein hier derart tätig wird (¶ 14), kann

dies erst recht den Verdacht rege machen gegen die Rede von Tragikomik. Nach Lukács kommt Tragikomik überhaupt nur in einer Form vor: als verfehltes literarisches Projekt (¶ 12). Und er wendet sich damit gegen eine Rede von Tragikomik, die solche nicht nur als ein faszinierendes künstlerisches Phänomen kennt, sondern auch als etwas, das im Leben, außerhalb der Literatur, spielen kann (¶¶ 7–8). Solche Rede scheint wiederum anfechtbar, und zwar von folgender Unterscheidung her: Innerhalb der Geschichte von N. (¶ 2) bietet sich ein Schnitt an zwischen dem, was ein Element der Wirklichkeit sein kann, und dem, was es a limine nicht ist. Als wirklich läßt sich denken, daß N. nach Hause ging und daß sie weinte. Tragikomik hingegen sei nichts Wirkliches, sondern eine Deutung von Wirklichem. N.s Malheur lasse sich als Fall von Tragikomik auslegen oder auch ganz anders. Daran leuchtet zwar ein, daß Tragikomisches keine natürlich vorkommende Art bildet, wie etwa Pyrit (Schwefelkies, FeS2) oder der Europäische Aal (Anguilla anguilla). Gesellschaft aber besteht aus lauter Wirklichem, das aus Deutungen hervorgeht. Wer sich auf ein Versprechen verläßt, der hat Lautäußerungen in einer bestimmten Weise aufgefaßt. Daraus folgt nicht, es sei noch niemals ein Versprechen gegeben worden. Unter einer Deutung, die sich mit Gründen verteidigen läßt, kann von einem Vorgang gesagt werden, er sei tragikomisch. Das ist der Sinn, in dem manchmal gesagt wird, etwas – eine Situation, ein Vorgang, ein Ereignis – sei wirklich tragikomisch gewesen.

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16  Deutungen (¶ 15) haben die Eigenart, sich nicht der Dichoto-

mie ›objektiv‹ versus ›subjektiv‹ zu fügen. Objektiv sind sie nicht, weil es nicht die eine richtige Deutung einer Situation gibt, sondern typischerweise mehrere, die sich verteidigen lassen. Einfach subjektiv sind sie nicht, weil nicht Beliebiges als Deutung einer Situation durchgeht. Manche Aussagen sind schlechte Deutungen, manche sind gar keine Deutungen dieser Situation, auch wenn sie als solche angeboten wurden. Obwohl Deutungen nicht subjektiv sind, kommen sie nicht ohne Subjektivität zustande. Welche Aspekte von Subjektivität sind im Spiel, wenn eine Situation als komisch oder tragisch oder tragikomisch eingeschätzt wird ? Henri Bergsons Satz, nur wenn das Herz anästhesiert sei, stelle Komik sich ein,19 beerbt den klassischen Aphorismus Horace Walpoles, die Welt sei eine Komödie für die Nachdenkenden, doch eine Tragödie für die Fühlenden: »[T]his world is a comedy to those that think, a tragedy to those that feel«20 . Es gibt niemanden, der nur denkt, und niemanden, der nur fühlt. Aber kalte Leser würden die Geschichte von Tschechows N. eher nur komisch finden, sentimentale eher gar nicht komisch. Für diese extremen Typen von Lesern ist die Geschichte nicht tragikomisch. Wer von Tragikomischem reden will, muß entweder solche Leser, falls es sie gibt, als Adressaten ausscheiden, oder ihre Lesarten als einseitig kritisieren. Allerdings geht die Sache nicht so rein auf, wie Walpole sie der aphoristischen Kürze zuliebe stilisiert. Gibt es Komik für jemanden, der »nur denkt« ? Statt zu lachen, verfiele so jemand doch eher auf Spinozas »sedulo curavi, humanas actiones non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere«21: »Mit Fleiß habe ich Sorge getragen, die menschlichen Handlungen weder zu verlachen noch zu betrauern, noch zu verachten, sondern sie zu verstehen«. Sich an oder über etwas Bergson, Le rire, 4: »Le comique exige donc enfin, pour produire tout son effet, quelque chose comme une anesthésie momentanée du cœur. Il s’adresse à l’intelligence pure.« Vom ersten Satz zum zweiten führt ein Sprung, kein Schritt. Wilhelm Buschs Hans Huckebein manifestiert vollkommene Kaltblütigkeit; eine Sache der reinen Intelligenz ist seine Lektüre hingegen nicht. 20 Walpole, ›To Countess Ossory, 16 August 1776‹, 231. Von diesem Gedanken her – den Satz kannte er wohl nicht – hat Schiller eine Poetik der Tragödie und Komödie entworfen, vgl. ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹, 724–726. 21 Spinoza, Tractatus politicus 1.4, 52. 19

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belustigen ist entweder eine Emotion oder nah an einer solchen. Walpole zu folgen ist aber in der Frage: Welche Seiten der Subjektivität sind im Spiel, wenn eine Situation als komisch oder tragisch oder tragikomisch eingeschätzt wird ? 17  Von Walpoles Satz her kann Tragikomik als fauler Kompro-

miß oder als halbe Sache erscheinen. Es liegt nahe, Walpoles »[to] feel« als ›mitfühlen‹ oder ›sich einfühlen‹ zu verstehen. Tragikomik wäre ein fauler Kompromiß oder eine halbe Sache, wenn ferner angenommen wird, daß Einfühlung das Denken beeinträchtigt und Denken Einfühlung verhindert. Die beiden Zugänge sei’s zum Geschehen auf der Bühne, sei’s zum Geschehen in der Welt würden dann einander und damit das Komische respektive Tragische an den Vorgängen mindern. Die zusätzliche Annahme verficht die Figur des Thomas in Brechts Messingkauf-Dialogen. Man kann nicht sagen, daß Brecht sie verficht; was er dazu zu sagen hat, ist weder kohärent noch auch nur konsistent.22 Von der »Einfühlung« sagt aber jedenfalls Brechts Thomas, daß sie es »unmöglich macht«, zu »erkennen«, wie eine gegebene Lage beschaffen ist. Sie trübt ihm zufolge das kritische Urteil, auf das Denken zielt. Wer sich einfühle, sei somnambul und passiv: »Anstatt zu wachen, schlafwandelt er. Anstatt etwas zu tun, läßt er etwas mit sich tun.« Mit einem Wort: Der Sicheinfühlende »vegetiert«.23 18  Doch Einfühlen (¶ 17), dieses spezielle Fühlen, das an anderen

Anteil nimmt, kann selbst eine Form des Erkennens sein und wird es desto eher werden, je entschiedener es Empathie ist statt Projektion. Wer sich einfühlt, verläßt den eigenen Bereich und tut damit, was von Erkenntnis zu fordern ist: bei etwas anderem anzukommen  – in diesem Fall bei jemand anderem. Der Versuch, sich in jemanden einzufühlen, trifft oft genug auf Schwierigkeiten: eine blinde Projektion könnte nie in dieser Weise auf Widerstand stoßen. Und auch wenn die Schwierigkeiten überwunden werden, verlieren sich Einfühlende nicht in denen, in die sie sich einfühlen. Sie »Einfühlung« benutzte Brecht lediglich als Kontrastfolie zur ihn positiv interessierenden »Verfremdung«; je nachdem, was er der Verfremdung positiv nachsagen wollte, ändern sich seine Charakterisierungen der Einfühlung. 23 Brecht, ›Der Messingkauf‹, 566–567. 22

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bleiben, wie – oder als – Erkennender und Erkanntes, unterschieden. Wer sich einfühlt, ist nicht eingesperrt in die Perspektive derjenigen, in die er sich einfühlt, sondern bewegt sich zwischen Hier und Dort, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, auch wenn dieses dann weniger fremd scheint. Eine negative Haltung kann nicht nur am Anfang stehen, sondern auch erhalten bleiben. Wer klug ist, lernt sich in seine Gegner einzufühlen. Empathie ist nicht Sympathie. Und ›Ich bin du‹ sagt nur eine bestimmte Mystik; die Einfühlung sagt: ›Ich könnte wie du empfinden und handeln, wäre ich in deiner Lage.‹ Darum ist ›Identifikation‹ keine taugliche Erklärung fürs Einfühlen. Wie ein ›Sich-zum-selben-Machen‹ – denn das heißt ja Identifikation – je stattfinden könnte, ist ohnehin unklar. Statt Verschmelzung mit anderen zu sein, ist Einfühlung vielmehr, wenn sie gelingt, ein Zugang zu anderen. Allerdings begreift man möglicherweise manche besser, indem man sie ausschließlich kalt beobachtet, statt sich einzufühlen. Das ist nicht der Punkt. Einfühlung ist kein Schlüssel zu allem und allen. Sie ist nicht der Zugang – sondern ein Zugang. Weil sie ein Zugang ist oder werden kann, leuchtet nicht ein, daß Brecht ihr das »[G]lotzen«24 zuordnet. Denn Glotzen bleibt draußen; man glotzt an, nicht ein. Mit ›Denken‹ und ›Einfühlen‹ wird ein Unterschied bezeichnet, keine Alternative. Sie könnten beide im Spiel sein, wenn etwas – zum Beispiel – als tragikomisch erfahren wird. 19  Man deutet (¶ 15) etwas als etwas, zum Beispiel ein bestimm-

tes Tun oder Erleiden als tragikomisch. Solche Aussagen sind anfechtbar. Werden sie angefochten, dann muß man sie ausweisen. Mit Blick darauf, wie Tschechows Miniatur charakterisiert wurde, könnte die Herausforderung etwa so lauten: ›Du sagst, die Geschichte von N. sei tragikomisch. Damit behauptest du, pedantisch zergliedert, dreierlei: Erstens, sie sei komisch, zweitens, sie sei tragisch, und drittens, Komisches und Tragisches intensivierten einander. Komisch finde ich die Geschichte auch. Sie stammt aus den Vorarbeiten zum Kirschgarten, den Tschechow eine Komödie nannte.25 Aber was meinst du mit ›tragisch‹ ?‹ Der Herausforderer Brecht, ›Gedichte aus dem Messingkauf‹, 761. ›An Maria Lilina, 15. September 1903‹, 166.

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wird nicht bestreiten, daß die Geschichte traurig sei, jedenfalls für N. Nur ist ›traurig‹ offenbar nicht die Bedeutung von ›tragisch‹. Für Wesen, die keine Trauer kennen, könnte vermutlich nichts tragisch sein; doch mit dem Wort ›tragisch‹, wird es nicht bloß dahingesagt, muß mehr evoziert sein als eine traurige Lage. Denn ›traurig‹ und was diesem deutschen Adjektiv entspricht, ist ein elementares Wort aller Sprachen; um auszudrücken, was dieses Wort und seine Entsprechungen besagen, hätte es nie des merkwürdigen Wortes ›tragisch‹ bedurft. Das ›Mehr‹, das Tragisches von bloß Traurigem abhebt, machen manche an einem Konflikt fest, aus dem es keinen Ausweg gibt. Nicht tragisch wären danach Konflikte, die ein Kompromiß löst. Ein Kompromiß ist für die Geschichte von N. ausgeschlossen. N. kann nicht die eine Hälfte des begehrten X. erhalten und Y. die andere, oder den ganzen X. tageweise. Daß ein Kompromiß ausscheidet, ist nicht natürlich; in einer Gesellschaft mit Polyandrie käme er in Frage. Nur war Rußland im 20. Jahrhundert keine solche Gesellschaft. N. bleibt ohne Ausweg aus ihrer Situation. Es ist am Ende der Geschichte eine vollendete Tatsache, daß sie sich ein einziges Mal in ihrem Leben verliebt hat – um nichts willen. Würde sie etwa von Y. fordern, von ihrer Hochzeit mit X. zurückzutreten, da sie, N., gehört habe, X. wolle sie heiraten, dann tappte sie nur tiefer in die Lächerlichkeit. So verhält es sich aber, weil mit Blick auf Tschechows Geschichte von vornherein keine Rede von einem Konflikt sein kann. Gerade daß N. mit niemandem in Streit liegt, weder mit ihrem Bekannten noch mit X., noch mit Y., erzeugt die Nichtigkeit und mit ihr die absurde Komik des Vorgangs. So scheidet dieser Sinn von Tragik aus, und auch kein anderer ist in der Geschichte offenkundig. Die Geschichte von N. ist nicht tragikomisch, sondern traurigkomisch. 20  Ein, ja im 20. Jahrhundert vielleicht der Meister einer Kunst des

Traurigkomischen war Charlie Chaplin. Ein Beispiel: In The Kid (1921) bemerkt der Tramp in seinem Slum neben einer Mülltonne ein Baby. Erstaunt hebt er es auf, um es näher anzuschauen, und hat von diesem Moment an ein trauriges Problem: Wie werde ich einen Menschen los ? Und hinter diesem traurigen Problem steht ein zweites: Derjenige, der das Problem hat, ist im Leben kaum weniger hilflos als das Kind. Wie entfaltet Chaplin diese zweifache Misere ? N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ? | 39

Sein Medium ist der Stummfilm: Er kann sie nicht besprechen, sondern muß eine (fast) wortlose Handlung aus ihr machen. Zunächst bemerkt der Tramp einen Zweisitzer-Kinderwagen mit einem freien Platz und plaziert den Säugling darin. Aber die Besitzerin des Kinderwagens bemerkt dies rechtzeitig und knöpft sich den Tramp vor; er versucht nun, ohne daß sie es merkte, ihr Baby aus dem Kinderwagen zu nehmen, weil es kleiner ist als der Findling und daher eine geringere Last wäre: ein furchtbares Detail dieser Szene und ein furchtbar komisches. Es hilft ihm nichts; der Tramp muß mit seinem unerwünschten Fund wieder abziehen. Er legt ihn ab, wo er ihn aufgehoben hatte: neben der Mülltonne. Doch als er sich umdreht, steht sein ewiger Antagonist vor ihm: Ein Polizist hat sein Tun beobachtet. Dem Tramp bleibt nichts übrig, als das Baby wieder auf den Arm zu nehmen. Es folgt klassischer Slapstick: Der Tramp muß sich angeblich seinen linken Schuh binden, ein Bettler soll den Findling nur ganz kurz auf dem Arm halten – doch sobald der Bettler das Kind hält, wetzt der Tramp um die nächste Ecke. Der nun schon bekannte Kinderwagen fällt auch dem Bettler in die Augen, er entledigt sich seiner Last, die aber erst entdeckt wird, als der Tramp zufällig vorbeigeht; dieser bekommt es nun sowohl mit der Frau als auch mit der Polizei zu tun und erhält einmal mehr sein Kind zurück. Resigniert nimmt er auf dem Bordstein Platz. Zu seinen Füßen ist ein Gully; der Tramp öffnet das Metallgitter, aber den Säugling im Kanal zu versenken kann er sich nicht entschließen. Chaplin wußte, daß er die Szene nicht rein ins Traurige und nicht rein ins Komische auflösen durfte. Verwicklungen unaufgelöst zu lassen, wie Tschechow (¶ 4), war nicht seine Art. Es war nicht seine Art, weil es nicht die Art war, die sein Publikum goutierte. Chaplin entschied sich hier für eine dritte Qualität: das Sentimentale – einer Konvention des Traurigen das Gemüt und einer Konvention des Komischen das Happy-End entlehnend. In der Kleidung des Findlings bemerkt der Tramp ein Schreiben der Mutter: »Please love and care for this orphan child«. Er nimmt nun das Kind an, als wäre es sein eigenes. »An Chaplins quellkalter, elementarer, absoluter Komik scheitern kläglich die Mühen der Nachdenklichen, den liebenswerten Mann zu sentimentalisieren«,26 behauptete Alfred Pol Polgar, ›Chaplin‹, 378.

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gar 1926. Doch sie scheitern nicht am Elementaren und Absoluten, was immer diese sein mögen, sondern erübrigen sich ob Chaplins eigenem Sentimentalisieren der Schlüsse von Szenen und ganzen Filmen. Für einen kalten Komiker war Chaplin zu liebenswert. 21  Wie das Tragikomische wird auch das Traurigkomische (¶ 19)

erst dann zu einem lohnenden Gegenstand des Nachdenkens, wenn seine beiden Bestandteile nicht bloß an einander hängen – ›und dann … und dann‹ –, sondern in einem Sinn, welcher der Klärung bedarf, einander bedingen. Die Abfolge, die in Chaplins The Kid (¶ 20) vom verwundert gemachten Fund zur empfindsamen Adop­ tion führt, ist zwar episodisch, aber es folgen nicht traurige auf komische Episoden. In jeder einzelnen Episode zugleich gegenwärtig ist das traurige Problem der Entsorgung eines Menschen und seine komische Durchführung, stets virtuos eingefädelt, stets lächerlich mißlingend. Sie bedingen einander. Im Gedankenexperiment könnte man den traurigen Zug der Szene beseitigen, indem man das lebendige Kind durch eine industriell gefertigte Puppe ersetzte. Was immer mit einer solchen passierte: Ärgerlich kann es sein, traurig nicht. Auch die Hilflosigkeit des Tramp würde kaum mehr kümmern und bekümmern, solange er nur einen so gleichgültigen Gegenstand wie eine Puppe manipulierte. Mit der Beseitigung des Traurigen wäre indes auch das Verhalten des Tramp, der nicht merkte, was er auf dem Arm hält, eher dämlich als komisch. Wo das Dämliche beginnt, endet der Witz. Hohlheit ist eher Anlaß zum Achselzucken als zum Lachen. Allenfalls bliebe im Hantieren mit der Puppe Klamauk, der allerdings auch sein Recht hat – nur eben nicht mit Komik gleichzusetzen ist. Der Einschätzung, daß Chaplin in dieser Szene erst in der Spannung zum Traurigen Komik erreicht und sich über Klamauk erhebt, widerspricht nicht der Umstand, daß er Slapstick verwendet, beim simulierten Schnüren der Senkel vor dem Bettler. Als Regisseur und als Schauspieler arbeitet Chaplin mit solchen gestisch-mimischen Momenten, wie ein Maler mit Farben und Linien arbeitet. Komisch wird erst die Sequenz, bei aller Knappheit und Schnelligkeit, so wie im Fall des Bildes ausdrucksvoll zum Beispiel erst eine Figur ist.

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22  Auch ein anderer Einwand verfängt nicht: Zwar bliebe der

Tramp der Tramp, ob er nun eine Puppe (¶ 21) oder ein Kind (¶ 20) auf dem Arm hat; allein schon die Rolle weist halbwegs komische Züge auf: der Snobismus eines Stadtstreichers, das Zugleich von Anspruch auf Eleganz und manifester Schäbigkeit. Doch das berührt nicht das Besondere dieser Szene. Wie Chaplin wußte, bedarf auch das Komische einer Fallhöhe, und auf solche bringt es schiere Blödheit nicht; sie bleibt unten. Auf das Erreichen der Fallhöhe muß allerdings noch der Fall folgen – dann kommt es darauf an, was für ein Fall das ist. Im besonderen Fall der Findlingsszene aus The Kid stellt sich die Fallhöhe aus deren traurigem Problem – Wie werde ich einen Menschen los ? – her; das ist weder typisch noch repräsentativ, noch geeignet als Basis für Verallgemeinerungen. Zwar verlangt Komik, wie Tragik und Trauer, ein Maß an Substanz (¶ 6). Um Substanz zu haben, bedarf das Komische nicht des Traurigen, und fast immer kommt es ohne dieses aus. Aber ob sie nun sehr selten sind oder nicht: Konstellationen wie die der Findlingsszene aus The Kid kommen vor. Es gibt Traurigkomisches in dem Sinne, daß das Traurige und das Komische einander bedingen. 23  N.s Malheur, das hypothetische Beispiel für Tragikomik (¶ 2),

war zwar geeignet, Nachdenken über diese zu provozieren; die Charakterisierung der Miniatur Tschechows als ›tragikomisch‹ ließ sich jedoch nicht halten (¶ 19). N.s Schicksal ist traurig und komisch zugleich. In der klassischen Antike, die ›tragisch‹ und ›komisch‹ als Begriffe prägte, fehlen Beispiele für solches Traurig­ komische; es taucht erst später auf, etwa – nicht durchgehend zwar, aber episodisch – im Roman Der goldene Esel des Apuleius, eines Autors aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.27 Literarische Mode wird das Traurigkomische nicht vor der europäischen Neuzeit. Als die Theoretiker der Renaissance nach einem durch antike Herkunft geadelten Wort dafür suchten, stießen sie bei Plautus, dem römischen Komödienautor des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr., auf das hapax legomenon »tragicocomoedia«.28 Zwar war es keineswegs Trauriges, Apuleius, Metamorphoses; zu denken ist insbesondere an das Märchen von Amor und Psyche (159–239) und die Romanze von Charite und Tlepolemus (268–311). Vgl. May, ›Roman Comedy in the Second Sophistic‹, 763. 28 Plautus, Amphitruo, 59. 27

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das im Prolog des Amphitruo zur Komik gefügt werden sollte; doch soweit hier ein Mißverständnis ins Spiel kam, wurde es produktiv. Zusammengezogen zu »tragicomoedia« beginnt die Karriere von Wort und Sache im 16. Jahrhundert und dauert bis heute an. Der »tragical mirth«,29 den Shakespeare im Schlußakt von A Midsummer Night’s Dream (1595) im Kontrast zwischen dem Inhalt von Pyramus and Thisbe und dem Spiel der Handwerker diesen unbeabsichtigt unterlaufen läßt, 30 avancierte damals gerade zu einer dem Publikum willkommenen poetischen Absicht. Im Zuge seiner Karriere hat das Traurigkomische der Neuzeit, das sich tragikomisch nennt, allerlei Varietäten ausgebildet. Traurigkeit ist eine Stimmung, Trauer eine Emotion; Tragik, auch wenn sie auf Stimmungen trifft und Emotionen bewirkt, kann weder das eine noch das andere sein. Die Spielarten des Traurigkomischen haben rigorosere Unterfangen, die direkten Gegensätze, Tragik und Komik, auf einander zu beziehen, verdeckt. In letzteren wird die Sache zweifach zum Äußersten getrieben; dann gilt: Die Extreme berühren sich. Den Spuren dieser radikaleren Poetik gilt es nachzugehen.

Shakespeare, Midsummer Night’s Dream, 5.1.57. Shakespeare, Midsummer Night’s Dream, 5.1.66–70: »And tragical, my noble lord, it is; / For Pyramus therein doth kill himself: / Which when I saw rehears’d, I must confess, / Made mine eyes water; but more merry tears / The passion of loud laughter never shed.« 29

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Parabase War ich eine ebenso tragische wie lächerliche Figur, bei der sich am Ende Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden ließen ? Norbert Gstrein, Der zweite Jakob

I Zwischen dem Willen, etwas zu sein, und dem Irrtum, man sei es bereits, verläuft eine Grenze des Tragischen zum Komischen. Deshalb ist Don Quixote eine tragikomische Figur. II Tragisch, sich als überflüssig zu erkennen. Komisch, zugleich zu erkennen, daß ein Verzicht aufs eigene Selbst unmöglich ist, weil es sogar dazu noch eines Selbst bedarf, das verzichtet. III Tragödien werden in gehobener Stimmung verfaßt. IV Auf komische Gefühle folgen ernste Gedanken. V Je ernster eine Sache ist, desto komischer läßt sie sich darstellen. VI Der Körper, nicht weniger als der Geist, bestimmt das Genre. Ein fetter Hamlet macht Shakespeares Tragödie zur Komödie. VII Wer nicht über sich selbst lachen kann, ist nicht ernstzunehmen.  45

VIII Am Galgen erstickt auch der Galgenhumor. IX Grotesk heißt Komisches, über das sich am Ende doch nicht lachen läßt. X Wenn ihnen etwas so furchtbar erscheint, daß sie es nicht glauben können, sagen sie: Das muß ein Witz sein.

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Dionysos’ Duplicitas Tragik, Komik und das attische Theater Tragik, Komik und das attische Theater 1  Wer ein Wort gebraucht, weil es nach Tiefe klingt, hat für seine Plattheit schon gesorgt. So kann philosophisches Reden von Tragik es zu einer bestimmten Komik bringen: der unfreiwilligen. »Die Lage des Philosophen ist wahrhaft tragisch. Fast niemand liebt ihn«, schrieb der auch sonst für Wehen anfällige Philosoph Nikolai Berdjajew 1933 in Das Ich und die Welt der Objekte. »Selbst die Möglichkeit einer Philosophie wird fortwährend angezweifelt, und jeder Philosoph ist gezwungen, sein Werk mit einer Verteidigung der Philosophie und mit dem Nachweis zu beginnen, dass sie möglich und nicht fruchtlos ist.« Der Philosophie ›wahrhafte Tragik‹ ist ein ihr vorenthaltener Genuß: »Sie geniesst keineswegs das, was man Ansehen in der Oeffentlichkeit nennt«1. Wer dem eigenen Treiben Tragik bescheinigt, will sich selbst erhöhen; die erreichte Fallhöhe ist ein aufgelegter Witz. Seine Bücher mit apologetischen Vorreden versehen zu müssen, sie dennoch oder deswegen schlecht zu verkaufen und diesen Vorgang tragisch zu nennen, kann nicht anders als komisch sein. Prädikat: »nicht fruchtlos«. Selbstmitleid ist ja fast immer komisch; denn an einen, der so viel Mitleid für sich selbst übrig hat, wird die »Oeffentlichkeit« ihre eigene knappe Ration Mitleid kaum verschwenden – wenn sie auch ihren Spaß an ihm haben kann. 2  Nur im vollen Bewußtsein eines stets drohenden Absturzes in

unfreiwillige Komik sollte Philosophie sich daher an die Frage wagen, was tragisch und was komisch sei. Der Absturz droht hier, außer vom Drang nach Tiefe (¶ 1) her, auch einer etwas zweifelhaften Tugend dieser Disziplin wegen: der Pedanterie. Denn Tragisches und Komisches, so scheint es, bricht herein, kommt unvorhergesehen, hält nicht auf Pünktlichkeit, ist antipedantisch. Um Aussagen Berdjajew, Das Ich und die Welt der Objekte, 11.

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über sie unter rationale Kontrolle zu bringen, mag es sich empfehlen, zunächst einmal beide Begriffe zu definieren. Die Forderung weckt Hoffnung auf eine probat verfügbare Formel. Einst sollten Definitionen Wesensfragen beantworten: ›Was ist Tragik ?‹, ›Was ist Komik ?‹, ›Was ist Tragikomik ?‹. Und Antworten auf Wesensfragen versprach eben die Philosophie. Wie allerdings einem Philosophen, Friedrich Nietzsche, auffiel, ist »definirbar […] nur Das, was keine Geschichte hat«, weshalb die Mathematik eine Domäne solcher Begriffsbestimmungen allein aus Grundbegriffen oder bereits definierten Begriffen ist; so eminent historische Begriffe wie ›tragisch‹ und ›komisch‹ hingegen »entziehen sich der Definition«.2 Tragik und Komik sind nichts ein für allemal Gegebenes, sondern etwas Erzeugtes: etwas zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise Erzeugtes. Zwar entzieht sich nichts mehr der Definition, sobald statt Antworten auf Wesensfragen als bescheidener Ersatz sogenannte Nominaldefinitionen angeboten werden. Sie besagen nichts weiter als ›In diesem Text soll das Wort ›Tragik‹ oder ›Komik‹ dies oder jenes bedeuten‹, und können nie falsch sein, weil es keine Instanz gibt, die eingesetzt wäre, jemanden abzuhalten, Nominaldefinitionen so festzulegen, wie er oder sie will. Was nicht falsch ist, kann sich indes immer noch als steril erweisen. 3 Für termini technici sind Nominaldefinitionen (¶ 2) nützlich,

nicht aber für mit Geschichte gesättigte Ideen. Deren Changieren ist kein Mangel, sondern macht sie erst recht bemerkenswert; ihre nominale Definition wirkt als Barriere, manchmal als willkommene, da sie es erspart, der Genese von Bedeutungen nachzugehen. Dies jedenfalls zu versuchen heißt nicht und rechtfertigt auch nicht, Ausdrücke verworren oder verwaschen zu gebrauchen. Im Gegenteil, man muß eher genauer sein. Ja, gerade Ungenauigkeit geht einher mit überzeitlichen Definitionen. Daher rührt der Schauder, der manche Philologen oder Historiker überläuft, sobald Philosophen sich ihren Gegenständen nähern.3 Denn wenn sie ihrer déformation Nietzsche, Genealogie der Moral, II. Abh., § 13, 317. ›Manche‹, da es auch philosophisch enthusiasmierte Philologen gibt, die selber ahistorische Definitionen in die Welt setzen, zum Beispiel: »Das Tragische« sei eine Gewalt, welche »die Fugen des Sinnzusammenhangs« zerstöre (Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 185). 2 3

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professionnelle folgen, dann subsumieren professionelle Denker das Besondere eines Kunstwerks oder einer historischen Situation einem allgemeinen Begriff. Kafkas Process exemplifiziert dann die tragische Entfremdung des modernen Menschen. Es gibt allerdings auch eine andere Weise, in der Dichtung, Musik, Kunst oder historische Ereignisse philosophisch verstanden werden können, nämlich wenn ihr jeweils Besonderes nicht als Manifestation einer Idee verstanden wird, sondern als die Idee selbst, eine Idee, die sich auf nichts anderes reduzieren läßt und dennoch allgemein bedeutsam sein kann. Zugleich philologisch und philosophisch oder zugleich historisch und philosophisch zu sein heißt: sich auf die Details eines Textes oder eines geschichtlichen Vorgangs einzulassen, kurz: genau zu sein. 4  Um Geschichte herumzukommen, hoffte Nietzsche allerdings in

früheren Phasen seines Denkens. Das Tragische der Geburt der Tragödie (1872) ist, wenngleich ›Geburt‹ einen Prozeß bezeichnet, eine metaphysische Größe; in Menschliches, Allzumenschliches I (1878) philosophiert Nietzsche hingegen, wie er es später nannte, »am Leitfaden des Leibes«4 . Das mag ein Vorzug sein vor hochtrabenden Philosophien des Tragischen, die das rein Geistige beschwören. Aber unhistorisch sind auch ein Tragisches und Komisches, die aus der allgemeinen Natur »des Menschen« abgeleitet werden. Denn die »manche[n] hunderttausend Jahre«, die zu resümieren sich Nietzsche in Aphorismus 169 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches zutraut, sind gerade nicht historische Zeit: Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Tier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später, in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in’s Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde, Nietzsche, ›Frgm. 26 [374]‹.

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zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, – der Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das  Komische. Dagegen geht im Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in grosse Angst über; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so gibt es viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter, als dass man erschüttert ist.5

Ist »das Tragische« wirklich eine Art Zusammenzucken ? Kein Wort wendet Nietzsche hier an den Konnex des Komischen und Tragischen mit dem Theater. Der Passus steht allerdings im ›Vierten Hauptstück‹ von Menschliches, Allzumenschliches I, ›Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller‹; es geht, zumindest auch, um eine Erklärung künstlerischer Phänomene. Schon als Raum und Institution schirmt das Theater so vor Gefahren des wirklichen Lebens ab, daß es als Ort der Erleichterung über Komisches oder der Erschütterung von Tragischem, wie in Menschliches, Allzumenschliches imaginiert, kaum in Frage kommt. Nietzsche malt sich das wirkliche Leben eines tierischen Urmenschen aus, vor aller kulturellen und historischen Besonderung, und nimmt von ihm seine Erklärung her. Tragisches und Komisches werden dabei zu Gemütsbewegungen des Übergangs, mit denen »der Mensch« auf »Plötzliche[s], Unerwartete[s]« reagiert; Komik soll sich einstellen, wenn das Ereignis sich als ungefährlich erweist, Tragik hingegen, wenn als gefährlich. Eine Dialektik von Figur und Grund ist damit stipuliert: Gerade die Komik entfaltet sich auf dem Grund der Angst und die Tragik auf dem Grund des Übermuts. 5  Was Nietzsche der Theorie des Aphorismus 169 von Menschli-

ches, Allzumenschliches I (¶ 4) an erklärender Kraft zutraut, liegt, auch wenn das Wort nicht fällt, im Begriff der Kompensation. Jede Kompensation ist ein Stattdessen: Wer über einen Witz lacht, weil er ihn komisch findet, lachte danach in Wahrheit nicht über den Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 169, 157–158. Dies übernehmen Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 167: »Allemal« begleite Lachen »den Augenblick, da eine Furcht vergeht«. 5

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Witz; er lachte vielmehr aus Erleichterung darüber, daß die Pointe, obgleich plötzlich, unerwartet, entgegen aller Gattungserfahrung harmlos ist. Nun ist allerdings kein Gedanke an eine bei anderer Fortsetzung hypothetisch eingetretene, jetzt aber glücklicherweise ausgebliebene Gefahr im Bewußtsein derer, die über Witze lachen. Findet sich davon nichts in dem, was bewußt wird, dann kann es nur im Unbewußten sein. Dort allerdings kann man nicht nachsehen, sonst wäre es ja nicht unbewußt. Die Theorie entzieht sich der Überprüfung und wird nicht plausibler durch die Behauptung, der Mechanismus, den sie postuliert, habe sich durch »manche hunderttausend Jahre« eingeschliffen. ›Wir haben früher so gehandelt – also müssen wir jetzt so handeln‹: Es ist ein mythisches Schema, das Nietzsche, Freud vorwegnehmend, in der Sprache distanzierten Räsonnierens – »Wenn man erwägt, […] so darf man sich nicht wundern« – statt in mythischer Rede präsentiert. 6  In welchem Maße Tragik und Komik mit Geschichte imprä-

gniert sind, wird vollends deutlich, wenn Nietzsche an anderer Stelle beide – das Tragische dabei zum Erhabenen stilisierend – als Kompensationen einer durchaus anders beschaffenen Empfindung erklärt: der nämlich, das Leben sei nicht auszuhalten. Einerseits ertrügen Menschen das Leben kaum, weil es so grauenhaft, andererseits, weil es widerwärtig bis zur Sinnlosigkeit sei. Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. 6

Mit der Furcht der Urmenschen oder ihrer Erleichterung über ausgebliebene Gefahr (¶ 4) hat dieses Tragisch-Sublime und Komische nichts mehr zu tun. Nur der Form der Erklärung durch Mangel folgt Nietzsche hier wie dort; ihren Inhalt gibt dort eine Phantasie Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 57.

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von Urzeit ab, hier ein moderner ennui. Durch den sagenhaften Silen, der dem König Midas sagte, das Beste wäre, nicht geboren zu sein,7 will Nietzsche zwar beglaubigen, der Rekurs auf »jene Ekelgedanken« sei der Antike angemessen. Indes galt eben der Satz, den Nietzsche als Kern des Tragischen ausbietet, bereits in der Tragödie als Phrase. Andromache verschafft sich mit ihm billigen Trost über den Tod ihrer Schwester Polyxena. 8 Dieser billige Trost dient als dramatische Folie für das, worüber nichts mehr tröstet: die Tötung des Astyanax, des Sohnes der Andromache. Mit »Ekelgedanken« hat weder Andromaches illusionärer Trost noch ihre wahre Trostlosigkeit zu tun. Die Art von Überdruß am Leben, die Nietzsche aus der Midasanekdote heraus- oder in sie hineinliest, ist für keine Epoche vorher oder nachher besser bezeugt als für die europäische décadence des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Auch Pathos trägt ein Verfallsdatum. Ein paar Jahre später endete die tragische Weisheit des Silen ihre Karriere als komisches Exempel in Freuds Buch über den Witz: »›Niemals geboren zu werden, wäre das beste für die sterblichen Menschenkinder.‹ ›Aber‹, setzen die Weisen der Fliegenden Blätter hinzu, ›unter 100 000 Menschen passiert dies kaum einem.‹«9 7  Menschliches, Allzumenschliches war Nietzsches erster Angriff

auf die Metaphysik. Daß der Unterschied zwischen ›komisch‹ und ›tragisch‹ aus einer Hinter- oder Überwelt in die Welt der Erscheinungen hineinragt, ist denkbar unglaubwürdig. Aber Metaphysik dieser Spielart ist eben nur eine Weise, den Gegenstand unhistorisch abzuhandeln. Auch wenn von einer Hinter- und Überwelt keine Rede mehr sein kann in einer sogenannten immanenten Metaphysik,10 bleibt als Erbschaft der transzendenten Metaphysik die Voraussetzung, im Komischen manifestiere sich zeitlos genau eine Bedeutung, die zu entdecken und auszusprechen der Philosophie aufgetragen sei; diese Voraussetzung markiert der bestimmte Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 35; vgl. 57: »die Weisheit des Waldgottes Silen«. 8 Euripides, Trōades, 636–637. Die Euripideische Tragödie tut Nietzsche folgerichtig als Verfallsform der Gattung ab. 9 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 56. 10 Vgl. Bergson, ›Introduction à la métaphysique‹. 7

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Artikel im Untertitel von Bergsons Le rire: essai sur la signification du comique. Lachen – Bergsons Obertitel – und Weinen sind, den Anthropologen zufolge, menschliche Universalien. In jeder Kultur sind sie anzutreffen. Universal sind sie als biologische Phänomene, aber nicht nur als biologische Phänomene. Auf vieles, das geschieht, läßt sich routiniert durch Reden oder Handeln reagieren. An manchem aber gerät das routinierte Reagieren durch Wort und Tat »an eine Grenze«11 – und dann, je nachdem, heult man oder prustet los: anscheinend überall auf der Welt. Diese Bestimmung ist formal; weiter scheint die Universalität nicht zu reichen. Die Kulturen des Lachens und des Weinens – also wann von wem warum wo wie worüber gelacht oder geweint wird – unterscheiden sich bereits. Vollends das Komische und Tragische als menschliche Universalien zu traktieren fehlt der Grund. Zwar kann ein Theoretiker das Komische einfach als das Lachhafte definieren und es so ohne weitere Umstände als universal und perenn stipulieren – aber ein Begriff, der eine Geschichte hat, verliert diese nicht dadurch, daß ein Theoretiker sie ignoriert (¶¶ 2–3). Der Philosoph des Menschlich, Allzumenschlichen Friedrich Nietzsche (¶ 4) setzte sich bloß hinweg über das, was der klassische Philologe Friedrich Nietzsche wußte: ›Komisch‹ und ›tragisch‹ sind Worte und Konzepte, die einen bestimmten Ursprung in einer bestimmten Kultur haben, der des antiken Griechenland; von ihm erbte sie die römische Kultur, dann die europäischen Kulturen, samt ihren direkten Ausläufern in der sogenannten Neuen Welt. Dauer, selbst erhebliche Dauer, ist nicht dasselbe wie zeitloses Wesen. Das »und« zwischen »Worte« und »Konzepte« in jener Formulierung verbirgt aber eines der Probleme, um das sich ahistorische Definitionen drücken. Die Fortdauer eines Ausdrucks, wie ›komisch‹ und ›tragisch‹, sagt nichts Verläßliches über die Fortdauer des Begriffs, für den er einmal verwendet wurde.12 Der Begriff dauert nur fort kraft einer Tradition des Sinns, und diese bedarf geeigneter Medien, am besten einander ergänzender wie Rede und Schrift, etwa einerseits der szenischen Aufführung, andererseits der Texte von Tragödien und Komödien. Plessner, ›Lachen und Weinen‹, 360. Vgl. Williams, Modern Tragedy, 37: »All we can take quite for granted is the continuity of ›tragedy‹ as a word. It may well be that there are more important continuities, but we can certainly not begin by assuming them.« 11

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Da die antiken Konzepte selbst in Europa nicht ungebrochen wirksam waren, sondern – wie das Mittelalter zeigt – gebrochen,13 sind sie erst recht nicht ohne weiteres auf ganz andere Zusammenhänge weltweit zu übertragen. Ein Ethnologe, der über ›Das Tragische bei den Inuit‹ schriebe, würde ihnen etwas überstülpen, statt von ihnen etwas in Erfahrung zu bringen; darum hat die methodologische Reflexion des Fachs einen solchen Völkerkundler längst unmöglich gemacht. 8  Eine andere Sache ist es, daß einige Branchen der westlichen

Kulturindustrie, etwa das Kino Hollywoods, Tragödien, Komödien und vielleicht auch Tragikomödien produzieren und diese auf der ganzen Welt vermarkten. Ein solcher Vorgang bedarf der politischen und ökonomischen Analyse; möglicherweise ist, wie manche vorgeschlagen haben, ›kultureller Imperialismus‹ eine ihm angemessene Kategorie;14 eventuell gibt es Kategorien, die ihn besser treffen. Jedenfalls ist es eine Sache, sich mit dem Geschäft der globalen Distribution bestimmter Waren, die Vorstellungen wie die des Tragischen manifestieren, auseinanderzusetzen, eine durchaus andere hingegen, zu behaupten, solche Vorstellungen seien in der Natur des Menschen verankert. Darum sind ›tragisch‹, ›komisch‹, ›tragikomisch‹ als Konzepte mit einem bestimmten Ursprung in einer bestimmten Kultur zu behandeln, von dem aus sie sich unter allerhand Wandlungen in deren Ausläufer hinein verbreitet haben und verbreiten. Weder ist ein vermeintlich fortgeschrittenes Bewußtsein gegenüber angeblich tastenden Anfängen privilegiert, noch strahlt das Licht der Wahrheit vom Ursprung her auf dessen teils unrühmliche, teils rühmliche Derivate. Begriffe des Tragischen und Komischen, und folglich auch des Tragikomischen, die sich an Joyce als erhellend erweisen, mögen Euripides verdunkeln; Begriffe des Tragischen, Komischen, Tragikomischen, die an Euripides etwas erschließen, mögen einem den Zugang zu Cervantes, Shakespeare, Aphra Behn, Swift, Goya, Ibsen, Kafka oder Salman Rushdie versperren. Dafür, dennoch die gleichen Worte zu verwenden, gibt es keinen besseren Grund als den, daß diese Worte Vgl. etwa Hollander, ›Tragedy in Dante’s ›Comedy‹‹. Hamm u. Smandych (Hg.), Cultural Imperialism.

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2500 Jahre weitergetragen wurden, während ihr Sinn sich veränderte. Gerade dem, der nicht wissen will, wie der Sinn sich veränderte, weil er sich auf dessen Stabilität verläßt, zerfließt das Thema zwischen den Fingern. 9  »The past is a foreign country: they do things differently there.«15

Was im 21. Jahrhundert komisch oder tragisch genannt wird, mag wenig mit dem zu tun haben, was am historischen Ursprung dieser Begriffe so hieß (¶ 8). Daß es gar nichts damit zu tun hat, wäre nicht unmöglich, ist aber unwahrscheinlich. Jede Aussage, die darüber hinausgeht, muß sich ausweisen an dem, was überliefert ist. Das Überlieferte indes nimmt sich, den historischen Gegensatz ›tragisch‹ versus ›komisch‹ betreffend, von Anfang an vertrackt aus. Am griechischen Wortschatz des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ergibt sich der überraschende Befund, daß die komplizierteren, aus drei Elementen zusammengesetzten Adjektive kōmōdikos und tragōdikos früher erscheinen als die einfacheren, aus zwei Elementen zusammengesetzten Adjektive kōmikos und tragikos,16 die dann Vorläufer der lateinischen Worte comicus und tragicus wurden und später in fast alle europäischen Sprachen eingingen. Kōmōdikos und tragōdikos leiten sich unmittelbar von den dichterischen Gattungsnamen her; gemeint ist zunächst so etwas wie ›komödienhaft‹ und ›tragödienhaft‹, sodann auch ›komisch‹ und ›tragisch‹. Es war also nicht etwa erst eine Idee des Komischen und eine Idee des Tragischen da und dann, von ihnen her, Komödie und Tragödie, sondern umgekehrt. Komisches und Tragisches sind nicht als Einfälle zu denken, die sich eines Bewußtseins bemächtigten, das sie dann unter die Leute brachte, sondern: Sie entstanden daraus, daß Leute gemeinsam etwas taten – in diesem Fall, daß sie religiöse Feste feierten und diese zu Spiel im Theater umbildeten. Das Primäre waren die poetischen Genres und das mit ihnen jeweils verbundene Tun, vollzogen in eigentümlicher Ausstattung, Kostümen und Masken etwa; von ihnen her wurden der Sinn und die Worte ›tragisch‹ und ›komisch‹ durch Abstraktion geprägt. Hartley, The Go-Between, 9. Zum Beispiel Aristoteles, Politika 1276b5–6: hote men kōmikon hote de tragikon. 15 16

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10  Solche abstrahierende Prägung (¶ 9) begann allerdings schon in

klassischer Zeit, bei Aristophanes. So bemerkt etwa der Chorführer in Sphēkes, aus dem Jahr 422, von Eurykles, keinem Komödienautor, sondern einem Seher und Bauchredner: eis allotrias gasteras endys kōmōdika polla cheasthai, »in andere Bäuche versenkt, viel Komisches auszuschütten« (1020). Die Wortform ist hier die ältere, kōmōdikos; kōmikos zählt noch nicht zu Aristophanes’ Wortschatz, wohl aber der Neologismus tragikos. In Eirēne, ein Jahr später, 421, bei den Großen Dionysien aufgeführt, sagt eine der Töchter des Trygaios zu diesem: oukoun echrēn se Pēgasou zeuxai pteron, / hopōs ephainou tois theois tragikōteros, »Den Pegasus hättest du aufzäumen sollen, damit du vor den Göttern tragischer erschienest« (135– 136). Auf den Olymp möchte Trygaios, nicht auf die Bühne. Und zu einer Gattung der Dichtung gehört etwas, oder es gehört nicht zu ihr; so zeigt auch der Komparativ, tragikōteros, einen Abstand zum älteren Sinn, eine übertragene Bedeutung an. Trygaios hat vor, auf dem Rücken eines riesigen Mistkäfers zu den Göttern aufzusteigen; dieser neuartigen komischen Phantasie setzt die Tochter das Tragischere entgegen: nicht-komisch, mythologisch, durch Überlieferung sanktioniert, heroisch und in diesem Sinne tragisch wäre der Ritt auf dem Flügelroß. Einen direkten Bezug zur Gattung Tragödie gibt es freilich auch, denn Aristophanes parodiert hier Euripides’ Bellerophontes, ein Drama, dessen Held den Pegasus besteigt. Die eigentliche Arbeit begrifflicher Abstraktion versahen erst Theoretiker – nur Aristoteles’ Lehre hat sich erhalten –, Scholiasten, Literaturkritiker des 4. Jahrhunderts v. Chr. Obwohl kōmikos und tragikos nachträglich, abgezogen, schon etwas fern der originären poetischen Impulse waren, die sich in den Werken des 5. Jahrhunderts geregt hatten, gewannen diese Prädikate rasch ein Eigenleben. Daß sie es nicht nur gewannen, sondern bis in die Gegenwart behielten, kann den Wunsch erwecken, sie loszuwerden. Für die neueren Kritiker, welche dieser Wunsch beherrscht,17 ist Tragik ein mehr als zweitausend Jahre, von Aristoteles18 bis Nietzsche19 und weit darüber hinaus, währendes gigantisches Mißverständnis der Exemplarisch Marx, Le Tombeau d’Oedipe. Peri poiētikēs, s. insbes. 1453a29–30, 1453b39, 1456a21. 19 Nietzsche, ›Die Geburt des tragischen Gedankens‹. 17 18

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Tragödie, das es endlich zu überwinden gilt. Solche Kommentatoren der Tragödie wollen diese ohne Tragik.20 Aber die verständliche Begeisterung, eine mächtige Tradition zu zerschlagen, entzieht sich unbesehen der differenzierenden Frage: Ist es ein Mißverständnis oder ist es ein Verständnis unter anderen ? Und selbst wenn Tragik ein solches Mißverständnis gewesen wäre, ließe sich noch fragen, ob es möglicherweise produktiv war.21 11  ›Tragisch‹ und ›komisch‹ scheinen einen Gegensatz zu bilden,

aber etwas sperrt sich dagegen, im Verhältnis der poetischen Genres (¶ 9) selbst bereits einen solchen zu sehen. Strukturalistische Literaturtheoretiker reden freilich ohne die geringste Verlegenheit von einer »opposition […] between comedies and tragedies«22 . ­Binäre Oppositionen sind eben die Geschäftsgrundlage des Strukturalismus. Aber es sollte nicht die Theorie dem Gegenstand vorschreiben, wie er zu sein hat, sondern sich von ihm darüber belehren lassen, wie er ist. Und es scheint zunächst einmal seltsam zu sagen, die Komödie sei das Gegenteil der Tragödie. Der Grund ist nicht, daß es keinen offensichtlichen Übergang zwischen ihnen gibt. Manche Gegensätze sind über ein kontinuierliches Spektrum oder über distinkte Zwischenstufen vermittelbar, andere sind es nicht. Letzteres könnte hier der Fall sein. Der strukturalistische Zugriff ähnelt jedoch auffallend dem Verfahren, sich auf dem Weg der Definition einen ohne weiteres abrufbaren Sinn zu verschaffen (¶¶ 2–3). Durch die theoretische Abstraktion, Binarität, scheint das historisch Besondere übergangen: Denn das Theater Athens beherrschte eine Trias – Tragödie, Satyrspiel und Komödie. Daß es drei dramatische Gattungen gab und daß Tragödie und Komödie gegensätzliche Qualitäten aufwiesen, wäre allerdings miteinander vereinbar.23 Und obwohl die Trias der dramatischen Genres jedem Athener geläufig war, gibt es daneben doch auch Wendungen wie: tēs poiēseōs hekateras, kōmōdias men […] tragōdias de, »der beiden So der Untertitel des Buches von William Marx: pour une tragédie sans tragique. 21 Exemplarisch Billings, Genealogy of the Tragic, passim. 22 Steen, ›Genres of Discourse‹, 116. 23 So legt es auch die Stelle Platon, Nomoi 816de nahe; vgl. ¶ 15 dieses Kapitels. 20

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Dichtungsarten, der Komödie nämlich [und] der Tragödie«24 . Da Platon an dieser Stelle Homer (wörtlich) den »Gipfel« oder (freier) den »Meister« (einen der beiden akroi) der »Tragödie« nennt, meint er mit letzterem Wort auch gar nicht das Theatergenre, sondern so etwas wie »tragische Dichtungsart«, wie Schleiermacher treffend übersetzt. Das nominal Ausgedrückte ist gleichsam adjektivisch gedacht; um den Gegensatz zu formulieren, bedurfte es dann der Bildung der Adjektive. 12  Die Tragödie leitet sich nicht vom Tragischen, sondern das Tra-

gische von der Tragödie her, und die Komödie leitet sich nicht vom Komischen, sondern das Komische von der Komödie her (¶ 9). Woher aber kamen dann, im Athen des 5. Jahrhunderts, Tragödie und Komödie ? Die zusammengesetzten Begriffe legen nahe, daß der Ursprung dieser zwei Arten von Gesang, Lied oder Gedicht (ōdē) jedenfalls sprachlich ein Stück weit geklärt werden kann, mag auch ihre Vorgeschichte, über die schon Aristoteles nur Vermutungen äußert, im Dunkeln liegen. Tragos ist der Bock. Die Jagd auf ihn feiert etwa die Epodos des ersten Chorlieds der Bakchai des Euripides: Wonnen bringt er [Dionysos] im Waldgebirg, wenn er nach stürmischem Reigen zu Boden sinkt, bedeckt mit dem heiligen Hirschkalbfell, voller Durst nach dem Blut des getöteten Bockes [tragoktonon], voll Gier, sich zu laben an rohem Fleisch auf der Jagd durch phrygische, lydische Berge, er, unser Führer Bromios, Euoi ! (135–141).25

Komisch wiederum rührt von kōmos her, einem festlichen Umzug zu Ehren des Dionysos, in dem Trinken, Tanzen, Lachen sich mischen. Tragödie ist zunächst Bocksgesang, Komödie zunächst bakchischer Prozessionsgesang. Was auch immer dies über den Ursprung besagen mag – er ist jedenfalls ein gemeinsamer, näm Platon, Theaitetos 152e. -ktonos von kteinō, ›töten‹. Übersetzung von Dietrich Ebener, mit der Änderung »Bromios, Euoi !« statt »der lärmende Gott, Euhoi !« am Ende. 24 25

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lich: der Kult des Dionysos. Die Präsenz des Gottes im Kult wurde überführt in theatralische Repräsentation – mimēsis.26 Dionysos vermag Schein zu Realität und Realität zu Schein zu wandeln. Aus den dithyrambischen Chören bei den Festen dieses Gottes ging das Drama in der einen wie der anderen Gestalt hervor. Der Priester des Dionysos, der sonst den Kult des Gottes vollzog, wohnte den Theateraufführungen als Zuschauer bei – nicht als irgendein Zuschauer, sondern als der herausragende Zuschauer, auf einer Art Thron in der Mitte der ersten Reihe. 13  Tragödie und Komödie sind Formen des Dramas (¶ 12). Dieses

Wort rührt her von dran, ›tun‹; drama ist ›Handlung‹, dann auch ›Schauspiel‹; dramata eisagein heißt ›Bühnenstücke aufführen‹. Der Zusammenhang beider Bedeutungen ist der engste: Ohne Handlung, die Anfang, Mitte und Ende aufwiese, gäbe es weder Tragödie noch Komödie. Zwar ist es erstens wahr, daß in der alten Tragödie, im Unterschied zu jener der Neuzeit, bestimmte Momente der Handlung, insbesondere die Tötung eines Menschen, nicht auf offener Bühne gezeigt werden durften. Das gebot nicht allein die Ethik, sondern auch eine Ästhetik avant la lettre: Das Bild einer Bluttat in der Imagination kann stärker sein als das Verschütten von Tomatensoße überm Gewand auf offener Bühne. Doch eine solche Tat war im Rahmen der Erfindung des Dichters für keinen Zuschauer weniger Teil der Handlung, wenn er von ihr durch Schreie hinter den Kulissen oder durch einen Boten erfuhr. Es ist zweitens auch wahr, daß Getanes in diesem Theater oft und lang genug bedacht, gelobt oder getadelt wird; doch eben das ist ja charakteristisch für Handeln im Unterschied zu bloßen Reflexen oder instinktiven Abläufen: Das Besprechen mindert nicht den Handlungscharakter, sondern unterstreicht ihn. Drittens endlich ist es wahr, daß das Publikum im Dionysostheater von Athen mit der Handlung teils schon im voraus vertraut war. Aber eine bekannte Handlung ist eben eine bekannte Handlung, nicht keine Handlung. Daß die Zuschauer die Handlung kannten, zog ihre Aufmerksamkeit statt auf das Was vielmehr auf das Wie. Doch dieses war eben das Wie eines Nietzsche versteht solche Darstellung als apollinische Zähmung des dionysischen Impulses: Die Geburt der Tragödie, passim. 26

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dramatischen Verlaufs, nicht irgendeiner vordramatischen Angelegenheit, die positiv zu benennen in so auffallender Weise keinem gelingen will. Spannung nämlich gibt es in zwei Formen: äußere, sofern dem Publikum Neues, Unerwartetes vorgesetzt wird, und innere, welche sich im Verfolgen des Dramas auf der Bühne oder selbst beim Lesen immer wieder einstellt. Diese aufzubauen ist dramatische Kunst; jene, die äußere Spannung, braucht mit dramatischer Kunst wenig bis nichts zu tun zu haben – die Wahl eines Themas, mit dem keiner gerechnet hat und das daher verblüfft, mag genügen. Aischylos’ Oresteia oder die Ēlektra des Sophokles zielen als Dramen auf innere Spannung, aber darin (wenngleich in vielem anderem) unterscheiden sie sich nicht von einer Tragödie der Neuzeit, etwa Shakespeares Othello. Zu erwähnen ist all das ja auch nur, da es eine Weile die Mode – denn es gibt Moden des Denkens und erst recht des Nichtdenkens – gegen sich hatte und noch hat, auch wenn sie inzwischen ziemlich flau und grau wurde. Eines ihrer eigentümlichen Accessoires war und ist dieser Satz: »das antike Theater muß als wesentlich prä-dramatisch begriffen werden.«27 Wer unberührt geblieben ist von der poetischen Kraft der antiken Tragödie oder Komödie, den befriedigt es bereits, wenn er sie einer Rubrik seiner Wissenschaft unterordnen kann: »prä-dramatisch«. Der sich so zur Wesensschau erhebende Theaterwissenschaftler benutzte die modale Form der Notwendigkeit zwar ohne Grund, doch nicht ohne Anlaß: Je weniger etwas ist, desto heftiger wird ja auch sonst betont, daß es sein »muß«. Angemessener könnte das Unvermögen, einen Begriff von der Sache zu geben, sich schließlich kaum bezeugen als in dem äußerlichen Verweis, etwas werde von etwas anderem gefolgt, und das Wesen des »antike[n] Theater[s]« bestehe eben darin, vor (»prä«) diesem anderen zu sein. Daß »das antike Theater« davon nichts gewußt haben kann, beeinträchtigt nicht sein Wesen, verschafft aber moderner Theaterwissenschaft ihm gegenüber fortwährende Triumphe ihres Besserwissens. 14  In der Kulthandlung ist Dionysos präsent; das Theater stellt

eine Handlung dar – solche Repräsentation ist distanzierte Präsenz (¶ 12). Sie stehen einander gegenüber als Gegenwart und Ver Lehmann, Theater und Mythos, 2.

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gegenwärtigung. Ein Ursprung kann mit der Zeit für das, was aus ihm erwächst, gleichgültig werden. Aber er wurde es nicht für die klassische Tragödie und Alte Komödie in Athen und auch nicht für die Rede vom Tragischen und Komischen, die zunächst von diesen Gattungen her entstand (¶ 9). Deren gemeinsame Sphäre war jedenfalls für eine Zeit das Dionysische. Und nur innerhalb einer gemeinsamen Sphäre gibt es Gegensätze. So bilden ›gut‹ und ›schlecht‹ einen Gegensatz, indem sie an der gemeinsamen Sphäre teilhaben, die das blasse Wort ›Wert‹ benennt. Eine gemeinsame Sphäre ist nicht hinreichend dafür, einen Gegensatz zu bilden. Interessant zu sein ist auch ein Wert; doch obschon es insofern der selben Sphäre angehört wie ›gut‹ und ›schlecht‹, ist das Interessante weder der Gegensatz des einen noch des anderen. Lediglich eine notwendige Bedingung dafür, daß zweierlei einen Gegensatz bilden kann, macht das Bestehen einer gemeinsamen Sphäre aus. Das Dionysische – all das im Leben, vor dem ein kontrollierender Verstand versagt – als die gemeinsame Sphäre des Tragischen und Komischen anzusehen wurde irgendwann befremdend und noch später vergessen. Aber unbegreiflich oder eine bloße historische Kuriosität ist es auch nach 2400 Jahren nicht. Tragisches widerfährt, geschieht, durchkreuzt das Geplante, so wie das Lachen über Komisches einen überfällt. Und wenn es widersinnig scheint, daß Tragisches und Komisches beide ihren Ursprung in Dionysos haben sollen, so ist daran zu erinnern, daß ein Gott – oder dieser Gott – jede Gestalt annehmen kann.28 Ohne Mythologie gesprochen: Während die Nüchternen die Dinge auseinanderhalten, läßt Rausch die Grenzen verschwimmen. 15  Gegensätze können nur dann Gegensätze sein, wenn sie an ei-

ner gemeinsamen Sphäre teilhaben; doch das ist bloß eine notwendige Bedingung, keine hinreichende (¶ 14). Sind sie vermittelbare Gegensätze, dann müssen sie an den beiden Enden der selben Skala stehen, deren Grade den Übergang zwischen ihnen bezeichnen. Sind sie unvermittelbare Gegensätze, dann besetzen sie Pole, die gleichfalls auf einander bezogen sind, wenngleich sie nicht graduell in einander übergehen. Ergaben sich im griechischen Denken aus Euripides, Bakchai, 478.

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dem Gemeinsamen, das bei Gegensätzen jedenfalls im Spiel sein muß, Konsequenzen für den, der sich mit ihnen auseinandersetzt ? In Platons Nomoi bemerkt der Athener: Die komischen Verspottungen [kōmōdēmata] der häßlichen Leiber und Gedanken und was [sonst schon] ins Lächerliche [gelōtos] gezogen worden ist, durch das Wort und durch Gesang und durch Tanz und durch die Nachahmungen all dieser in der Komödie [kekōmōdēmena], muß man aber betrachten [theasastai] und erkennen [gnōrizein]: Denn ohne die lächerlichen Dinge [geloiōn] kann man die ernsten Dinge [spoudaia] nicht und überhaupt ohne das Entgegengesetze [enantiōn] das Entgegengesetzte [enantia] nicht begreifen [mathein], wenn man verständig [phronimos] werden will […].29

Der Begriff des Gegensatzes, wie er sich im griechischen Denken zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. herausbildete, 30 ist so zu verstehen, daß Gegensätze einander ergänzen, erläutern und bestimmen. 16  Nicht alles steht in Gegensätzen. Wo aber etwas im Gegensatz

steht, so der Gedanke (¶ 15), muß man, um es zu begreifen, das Entgegengesetzte erkennen. Erkenntnis kommt entweder durch Denken zustande, wie in den Formalwissenschaften – Logik und Mathematik –, oder durch Empirie, wie in den Realwissenschaften. Von welcher Art ist die Erkenntnis des Gegensatzes ? Dem Begriff eignet logisches Flair. Aber Logik führt lediglich aufs Kontradiktorische, nicht aufs Konträre, wie in dem Passus aus den Nomoi (¶ 15); man gelangt logisch vom Begriff des Komischen nur zum Begriff des Nicht-Komischen, der Negation im Unterschied zur Affirmation. Der Athener erläutert dem Kleinias, man müsse hinschauen, theasastai: Daß und wie das Tragische sich als Gegensatz des Komischen zur Geltung bringt und umgekehrt, setzt bestimmte Er Platon, Nomoi 816de, Übersetzung A. D.; tetrammenos ist das Partizip Perfekt Passiv von trepō, ›wenden‹, hier ›ziehen‹. Aristoteles hat die Lehre vom Entgegengesetzten (antikeimena; enantia) gegenüber Platon differenziert: Peri tōn katēgoriōn 11b15–12a25; Ta meta ta physika 1018a20–b8. 30 Lloyd, Polarity and Analogy. 29

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fahrungen voraus, die eine Kultur zu einer historischen Zeit anbieten mag, eine andere nicht, oder auch die selbe Kultur zu einer anderen Zeit nicht. Sie mag sie endlich manchen nahelegen, anderen nicht.31 Und das ist keine Besonderheit des Gegensatzes des Komischen zum Tragischen. Was ist der Gegensatz zum Süßen ? ›Das Saure‹ werden einige sagen; ›das Bittere‹, werden andere behaupten; Dritte aber, die das Flugpersonal unentwegt zur Wahl zwischen Keksen und Brezeln drängt, werden ›das Salzige‹ nennen. Erfahrung, nicht Logik schafft den Gegensatz. 17  Die gemeinsame Sphäre von Tragödie und Komödie (¶¶ 12, 14)

war im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. zunächst ein ihnen gemeinsamer Ort. Im Dionysostheater am Südhang der Akropolis wechselten seit dem Jahr 487 bei den Dionysien und den Lenaien, dem Fest der Kelter, Aufführungen von Werken der einen Gattung mit denen der anderen Gattung ab. Also kann eine historische Soziologie ihren Unterschied nicht erklären. Sie hatten das selbe Publikum; wer zu jenen Festen Tragödien sah, der sah auch Komödien. Ein Scherz, den Aristophanes in Ornithes einflocht, lautet: »Wenn irgendeiner von euch im Publikum Flügel hätte und hungrig oder müde oder gelangweilt von den Tragödien wäre, dann könnte er zum Mittagessen nach Hause fliegen, und wenn er satt wäre, zurückfliegen, um uns zu sehen«32 – zumindest damals, im Jahr 415, spielte man die Tragödien offenbar des Morgens und die Komödie am Nachmittag. Es scheint dabei, daß selbst wenn sie Flügel ge Wittgenstein erklärt, die Aussage eines Unterredners nicht zu verstehen, weil verschiedene Gegensätze in Frage kämen und offen bleibe, auf welchen die Aussage unausgesprochen bezogen sei: »I don’t know what he opposes this to.« (Lectures and Conversations, 69) 32 Aristophanes, Ornithes, 786–790. Aussagen über die Alte Komödie halten sich im folgenden an Aristophanes, den einzigen attischen Komödiendichter des 5. Jahrhunderts, von dem vollständige Dramen erhalten sind. Von den übrigen gibt es eine Vielzahl an Fragmenten; s. Kassel u. Austin (Hg.), Poetae Comici Graeci. Von einem Lyriker vermitteln manchmal schon vier Verse eine Idee; der Sinn von Dramenversen hängt so sehr von der dramatis persona und damit von der Funktion der Verse fürs Ganze ab, daß sich aufgrund der Fragmente kaum ein rechtes Bild ergibt. Überdies stammen zahlreiche Fragmente aus Scholien zu Aristophanes; Kommentatoren lösten sie heraus, sofern sie Licht auf eine Passage bei Aristophanes warfen. Zu Kratinos und Eupolis vgl. Nesselrath, ›Comic Fragments‹. 31

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habt hätten, die athenischen Männer nicht weggeflogen wären;33 die mehr als eintausend Tragödien, die im 5. Jahrhundert für die Großen Dionysien und die Lenaien verfaßt wurden – weniger als ein Zwanzigstel ist überliefert –, zeugen von einem unersättlichen Hunger nach Theater.34 Er ist nicht zu verstehen als Laune der einzelnen, eher als organisierter Appetit. Dionysien und Lenaien waren politische Feste, Feste der Polis.35 18  Die Politik der Polis (¶ 17) hatte das wilde Treiben dionysi-

scher Scharen in die geordneteren Bahnen von Theaterveranstaltungen gelenkt, die Akteure und Publikum trennten. Daß man Tragödie und Komödie bei den selben Festen zusammenspannen konnte, weist darauf hin, daß beide der Polis etwas zu sagen hatten, und zwar etwas über die Polis – doch nicht etwa das Gleiche, denn dann wäre eine der beiden Gattungen überflüssig gewesen, sondern Verschiedenes, vielleicht Gegensätzliches. Innerhalb ihrer gemeinsamen Sphäre waren Komödie und Tragödie getrennt. Für die komische und für die tragische Kunst waren separate Wettbewerbe angesetzt. Dichter schrieben entweder Tragödien, wie Sophokles, oder Komödien, wie Aristophanes; zu beiden Gattungen trug keiner bei. 36 Es gab keinen antiken Shakespeare. Dabei waren poetische Mittel und Apparat, die Dichter des einen wie des anderen Genres beherrschen mußten, ähnlich: Handlungspartien wechselnd mit Chorlyrik, drei oder vier Schauspieler und ein Chor. Doch was die komischen und die tragischen Dichter mit diesen Mitteln und diesem Apparat anfingen, war offenbar so gründlich verschieden, daß der Gedanke einer Arbeitsteilung zwischen ihnen weithin zwingend schien.37 Ob auch Frauen zum Publikum der Dionysien zählten, erörtert Goldhill, ›The Audience of Athenian Tragedy‹, 62–66; er kommt zu dem Ergebnis, die Frage lasse sich nicht mit Sicherheit beantworten (»cannot be securely answered«) (66). 34 Nelson, Aristophanes and his Tragic Muse, 1–7. 35 Vgl. Dobrov (Hg.), The City as Comedy; Carter, The Politics of Greek Tragedy. 36 Allerdings schrieben die Tragödiendichter auch Satyrspiele, das vierte Drama einer Tetralogie. Und es gab mannigfaltige Beziehungen zwischen Tragödie und Komödie. Zur Tragödie in der Komödie Farmer, Tragedy on the Comic Stage; zur Komödie in der Tragödie Jendza, Paracomedy. 37 Platon, Politeia 395a. 33

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19  Was für eine Arbeitsteilung war das ? Die Antwort auf diese

Frage muß erst der trivialisierenden Fuchtel einer Spielart moderner Literaturkritik entzogen werden. In ihr gilt es als ausgemachte Sache, daß Tragödien katastrophal ausgehen, Komödien hingegen rosig. »I believe that any realistic notion of tragic drama must start from the fact of catastrophe. Tragedies end badly«, meint George Steiner. 38 Aber die tragische Katastrophe ist nicht, wozu sie hier verbogen wird, das schlimme Ende. Sie ist vielmehr kata-strophē, Um-kehr, Um-wendung, Wechsel des Schicksals, gerade auf dem Höhepunkt der Handlung, keineswegs an deren Ausgang; Aristoteles’ Terminus dafür ist metabasis, von metabaino, 39 ›einen anderen Weg einschlagen‹. Und es ist nicht Realismus oder Treue zu einem Faktum, sondern Wunschdenken in der intellektuellen Konkurrenz um Schwärze, 40 allenthalben Desaster sehen zu wollen; Werke wie Aischylos’ Eumenides, das letzte Drama seiner Oresteia, Sophokles’ Oidipous epi Kolōnō und Euripides’ Ion, deren Zugehörigkeit zur tragischen Dichtungsart keinem Griechen zweifelhaft war, gehen gut aus. Als gut galt ebenso der vermiedene Tod, der Verzicht auf Blutrache am Ende der Eumenides, wie der versöhnende Tod des Oidipous auf Kolonos, den die Götter zu sich nehmen. Der Schluß von Aristophanes’ Nephelai hingegen – Strepsiades setzt mit seinem Diener Xanthias das Phrontisterion des Sokrates in Flammen – ist wohl kaum ein Happy-End. »[D]er Qualm erstickt mich ganz [deilaios apopnigēsomai]«, sind Sokrates’ letzte Worte, »Ich verbrenne [katakauthēsomai]«, die des Chairephon;41 aber auch Strepsiades geht es bei all dem nicht besser, sondern schlechter als Steiner, Death of Tragedy, 8. Aristoteles, Peri poiētikēs 1452a18, 1455b27–29. Zur Verwendung von katastrophē und katastrephein bei den attischen Tragikern und bei Aristophanes s. Briese u. Günther, ›Katastrophe‹, 158–160. In diesen Zusammenhang gehört das Konzept der Peripetie. Es wurde in der Renaissance der Aristotelischen Poetik der Tragödie entliehen und in der Theorie des Lächerlichen verwendet, s. etwa Madius, ›De ridiculis‹, 321: »Pulchra igitur erunt ridicula […], si in contrarium eius, quod expectatur, afferuntur: quoniam similis sunt peripetijs, quæ in fabulis miram afferunt uoluptatem«, »Vortrefflich werden lächerliche Dinge sein […], wenn man ins Gegenteil dessen, was man erwartet, versetzt wird; denn sie sind [dann] ähnlich den Peripetien, die in Dramen so wundervolle Lust verschaffen«. 40 Vgl. Briese u. Günther, ›Katastrophe‹, 193. 41 Aristophanes, Nephelai, 1498–1499. 38 39

Tragik, Komik und das attische Theater | 65

am Anfang. Der Gang jedenfalls dieser Komödie führt, gewiß unter komischen Verwicklungen, vom Unglück in größeres Unglück. 20  Die einzige Epoche, in der zwischen Tragödien und Komödien

einfach nach dem Kriterium des schlimmen oder guten Ausgangs unterschieden wurde, war das europäische Mittelalter42 – die Epoche, in der keine dramatischen Werke dieser Gattungen entstanden. Jenseits ihrer galt es als einfältig, auf das Ende von etwas zu schauen und aufgrund dessen sagen zu wollen, was es als Ganzes ausmacht. Für diese Einfalt gibt es im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. keine Indizien. Die Oresteia geht gut aus, aber dadurch wird nicht ungeschehen, was Iphigeneia, Agamemnon, Klytaimnestra erlitten oder getan haben. Den Unterschied zwischen der klassischen Tragödie und der Alten Komödie erschließt nicht der Gegensatz von Untergang und Happy-End (¶ 19). Ein anderer Vorschlag, den Unterschied zu bestimmen, nimmt sich auf den ersten Blick ähnlich aus, weist aber auf den zweiten Blick in eine andere Richtung. »[T]ragisch nenne ich eine Situation aus der kein Ausgang war«, äußerte Goethe, 43 für den die Werke Aischylos’, Sophokles’, Euripides’ einerseits, Aristophanes’ andererseits unübertroffene Exempel des Tragischen respektive des Komischen darstellten.44 Die ausweglose Situation ließe sich gleichsetzen mit dem sonst (¶ 19) behaupteten Unglück am Ende einer tragischen Dichtung. Und es erhebt sich der gleiche Einwand: Was immer das für ein Begriff des Tragischen sein soll, er trifft in dessen primärer Gestalt, der auch Goethe vor allem gerecht werden wollte, nämlich der klassischen Tragödie, auf entscheidende Gegenbeispiele. Die Eumeniden verkörpern eben den Ausweg aus dem Kreislauf der rächenden Gewalt. An anderer Stelle erläutert Goethe: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. So wie Ausgleichung eintritt oder möglich wird, schwindet das Tragische.«45 Zwar überschneidet sich dies mit Herrick, Comic Theory, 36. Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich v. Müller, 145 (2. Juli 1830). 44 Ebd. 45 Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich v. Müller, 89 (6. Juni 1824). Dazu Schmitt, ›Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern‹, 9–10: »der Gedanke, daß eine Handlung dann tragisch sei, wenn es in ihr um einen ›unausgleichbaren Gegensatz‹ [Goethe] gehe, der den Handelnden vor einen Konflikt 42 43

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der anderen Bestimmung. Wo keine Ausgleichung möglich wird, besteht auch kein Ausweg. Aber beide Formulierungen sagen nicht das Gleiche. Denn eine Lage könnte ausweglos sein, ohne daß ein »Gegensatz« ins Spiel käme. 21  Daß das Wesen des Tragischen in einem Konflikt besteht, der,

gerade weil sich gleich berechtigte Ansprüche gegenüberständen, »unausgleichbar« bliebe, ist keine alte und altbekannte Wahrheit; es stellt vielmehr, rund 2300 Jahre nach der Schöpfung der Tragödie, eine erstaunliche Innovation der deutschen Philosophie dar. Für Aristoteles, der weit mehr klassische Tragödien kannte als jeder andere Theoretiker der Gattung, gehörte zum Beispiel Musik (melopoieia) zu deren wesentlichen Elementen, nicht aber ein Streit. Von agōn oder eris ist in der Poetik keine Rede. Die Humanisten der Renaissance, die von den Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides in Buchform retteten, was zu retten war, machten so wenig Aufhebens von einem ›tragischen Konflikt‹ wie Aristoteles. Sie alle, wie auch ihre Nachfolger in Barock und Klassizismus, lassen den Konflikt meist unerwähnt, nicht weil es keinen gäbe, sondern weil sie irgendeine Form der Konfrontation für die gesamte dramatische Literatur als selbstverständlich voraussetzten. Das Undramatische ist die Idylle, in der es keine Konflikte gibt, sondern allenfalls Mißverständnisse, die verschwinden, sobald man sie erkennt. Selbst im pastoralen Drama, wie Tassos Aminta, ist der Frieden bedroht; ein reines Idyll bietet sich der Lyrik an, nicht dem Drama. Die Autoren der Poetiken hatten recht: Ein Zwist liegt so gut wie jedem europäischen Drama, die Komödien eingeschlossen, zugrunde, ehe dann im 20. Jahrhundert das postdramatische Theater erfunden wurde; sonst, so urteilte man vor dieser Erfindung, wären die Stücke ja langweilig (¶ 13). Und eben dieser Allgemeinheit halber gibt der Konflikt, als solcher, fürs Tragische wenig her. Auch Hegel, der – wenngleich Anstößen Schillers und August Wilhelm Schlegels folgend – als erster Theoretiker des Tragischen beim Konflikt ansetzte, sah es ja erst in einer »Kollision« gleichermaßen berechtigter Ansprüche erfüllt, im Fall der Antigonē des Sostelle, [stammt] nicht aus einer auf die griechische Antike zurückzuführenden Deutungstradition«. Tragik, Komik und das attische Theater | 67

phokles in der »Kollision« der »Familienliebe« mit »dem Recht des Staats«.46 Ob Ansprüche gleichermaßen berechtigt sind, könnte nur eine Autorität prüfen und entscheiden, die, von höherem Rang als alle Figuren der Handlung, über sie zu Gericht säße. Dieser Umstand beschädigt allerdings die Glaubwürdigkeit der Theorie empfindlich. Denn tragende Empfindung des Chors und der Zuschauer wäre dann »das Sicherheitsgefühl der Schnecke« gewesen, »die in ihrem Hause sitzt und es überallhin mitschleppt«47. Instanzen dieser Art scheinen, wie Nietzsche einwendet, antike Zuschauer nicht gewesen zu sein; vielmehr waren sie hingerissen von der Handlung, ja hineingerissen in sie. 22  Nach Hegel ist die Antigonē des Sophokles tragisch aufgrund

der »Kollision« der »Familienliebe« mit »dem Recht des Staats«48 (¶ 21). Es versteht sich nicht von selbst, daß jemand, der eine Charakteristik der Antigonē des Sophokles vorlegt, den richtigen Begriff des Tragischen gibt. Auch ist die Frage, ob von so etwas wie dem richtigen Begriff des Tragischen die Rede sein kann. Für Hegel war dies keine Frage; der richtige Begriff des Tragischen konnte nur der seine sein. Was aber richtig sei, zeige die Probe aufs Exempel. Darum spricht Hegel in der selben Passage von Sophokles’ Antigonē als von »dem absoluten Exempel der Tragödie«.49 Aber das leuchtet nicht ein. Gattungen der Kunst haben keine absoluten Exempel, sondern nur Exempel. Nicht ein Werk, sondern die Werke, im Plural, erzeugen und manifestieren die Gattung. Methodisch gesprochen hat die Rede vom »absoluten Exempel« die fatale Eigenschaft der Selbstbewahrheitung. »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen«, diagnostiziert Wittgenstein.50 In der Rede vom »absoluten Exempel« nährt man sein Denken nicht einmal mehr mit nur einer Art von Beispielen, sondern tendentiell mit nur einem Beispiel. Ist dann Sophokles’ Antigonē51 wenn schon Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 133. Nietzsche, ›Einleitung in die Tragödie des Sophocles‹, 9. 48 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 133. 49 Ebd. 50 Philosophische Untersuchungen, § 593, 155. 51 Sophokles, Antigonē, hg. u. übers. v. August Boeckh. Verszählung nach 46 47

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nicht das absolute, so wenigstens ein Exempel für das Tragische im Sinne Hegels ? Auch gegen seine Deutung dieser Tragödie richten sich Zweifel. Es sind keine besonders neuen Zweifel;52 aber an dieser Stelle sind sie von Belang. Denn auf der einen Seite bestimmt nicht »Familienliebe« Antigone, wenn sie sehenden Auges das Band zu ihrer Schwester zerreißt, deren Fühlen, Denken und Handeln vom Blick auf das Schicksal ihrer ganzen Familie geleitet ist (49–57). Antigone sagt ja auch selbst, daß etwa Mutterliebe sie nicht dazu gebracht hätte, entsprechend zu handeln (869–876).53 Und auf der anderen Seite bestimmt nicht das »Recht des Staats« Kreon, der es vielmehr zur Verbrämung eines Racheakts nutzt; daß Fleischfetzen des Polyneikes, die Vögel und Hunde nach Theben hereinschleppen, die Altäre und Herde der Polis beflecken (970–972), sagt, wie es um das »Recht des Staats« unter diesem Tyrannen steht. 54 Denn er wendet nicht »das Gesetz des Staats«55 an, sondern dekretiert ad hoc – »Dies also ist mein Wille« (203), sagt er selbst, »Also beliebt es« (207), antwortet ihm der Chor. Nur als Vorwände stehen »Familie« und »Staat« einander gegenüber; der tragische Konflikt – denn ohne Konflikt gelingt kein Drama (¶¶ 13, 21) – verläuft vielmehr zwischen den einen, die um jeden Preis handeln und so den Kreislauf der Gewalt in Gang halten, und den anderen, Antigones Schwester Ismene und Kreons Ratgeber Teiresias, zunächst – bevor er verzweifelt – auch Antigones Verlobter Haimon, die ihn durchbrechen wollen. Unerbittlich zu sein oder nachdenklich (phronein, 1279): das ist ein Widerstreit, aber kein Widerstreit in selbem Maße berechtigter Ansprüche. In der Polis (714) miteinander leben können nur solche, die für einander erbittlich sind, wie Ismene und Teiresias; dazu müssen sie, anders als Antigone und Kreon, der dieser Ausgabe; sie stimmt nicht mit der moderner Ausgaben überein. Boeckhs Verdeutschung wird aber von keiner späteren übertroffen. 52 Lloyd-Jones, The Justice of Zeus, 195: »Hegel’s interpretation is now thoroughly discredited.« 53 Vgl. Blundell, Helping Friends and Harming Enemies, 134: »Her distinction between irreplaceable and other relatives for the purposes of burial is highly unorthodox, and the assumption that the gods condone her priorities is even stranger.« 54 Rosivach, ›On Creon, Antigone and Not Burying the Dead‹. 55 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 133. Tragik, Komik und das attische Theater | 69

Frage zugänglich sein, ob das, was sie für die Wahrheit halten, eine auch andere überzeugende Wahrheit ist. Nur den Gedanken hege nicht, und den allein, Nur so wie du sprichst, sei es recht, und anders nicht. Denn wer nur selber und allein sich weise dünkt, Mit Rede wie kein andrer, oder Geist begabt – Die werden, sich enthüllend, oft als leer erkannt. (682–686)

Die widerstreitenden Haltungen in Sophokles’ Tragödie, die fanatischen und die erwägenden, stehen mit ungleichem Recht einander gegenüber. Zu versuchen, den Zirkel der Gewalt zu durchbrechen gilt Sophokles als das Rechte, und nicht weniger recht, weil es hier mißlingt.56 Das ist die besondere Konstellation dieser Tragödie; es ist weder typisch noch repräsentativ, noch ein absolutes Exempel. 23  Wäre Sophokles’ Antigonē, wie Hegel sie stilisiert, das Muster

(¶ 22), dann liefe Tragödientheorie auf die Alternative heraus, entweder Dramen, die anders sind, nach einem ihnen äußerlichen Maßstab zu verurteilen oder aber die abstrakte Formel des angeblichen Musters – Kollision gleich berechtigter Ansprüche – so zu verbiegen, daß sich etwa das Tragische des Sophokleischen Oidipous »im Gegensatze des Wissens und Nichtwissens«57 manifestieren kann: »Hier ist also der Gegensatz der beiden Mächte der des Bewußtseins und der Bewußtlosigkeit«58 . Blasser, abstrakter läßt sich ein Schicksal, das in die Selbstverstümmelung treibt, nicht benennen. Mit Wendungen wie »Eine andere Kollision ist z. B.« und »Um noch eine Kollision anzuführen«59 winkt Hegel eine Tragödie nach der anderen durch; als dialektische »Exempel« können sie nur passieren, wenn so Unterschiedliches wie widerstreitende Rechte und Negation ineinander laufen. Doch das begründet Hegels Verfahren nicht, sondern erklärt es nur. Staatliches Gesetz und familiale Pietät – wären sie denn nur Kreons und Antigones Beweggründe – würden vielleicht mit gleicher Berechtigung einander gegenüber Goldhill, Sophocles and the Language of Tragedy, 239–246. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 394. 58 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, 545. 59 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 133. 56 57

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stehen, kaum aber »Wissen« und »Nichtwissen«, »Bewußtsein« und »Bewußtlosigkeit«. Nicht jeder Gegensatz ist ein Konflikt. Man könnte sonst mühelos auch Tschechows Lehrerin N. 60 zur tragischen Figur im Sinne Hegels befördern, zu einer »im Gegensatze der Liebesbedürftigkeit und des Ungeliebtseins« stehenden. 24  Die Eigenart klassischer Tragödien, im Unterschied zu Ari-

stophanes’ Komödien, ist also anders zu bestimmen als durchs schlimme Ende (¶ 19) oder den Konflikt gleichermaßen berechtigter Ansprüche (¶¶ 21–23). Nach Aischylos’ Persai bewegt sich die klassische Tragödie stets im Bezirk der mythischen Stoffe, während Aristophanes in jeder der elf Komödien, die von ihm erhalten sind, Geschichten auf die Bühne bringt, die es so noch nicht gab. Zwar kann keine Tragödie einen Mythos präsentieren, ohne ihn zu verändern, und jede Komödie muß, um überhaupt verständlich zu werden, an Bekanntes anknüpfen. Aber das ändert nichts daran, daß Aischylos, Sophokles, Euripides Gegebenes bearbeiten, während Aristophanes wilde neue Fabeln schafft. Diese Konstellation verweist auf etwas Allgemeines: Tragisches prägt sich ein durch Vertrautheit, Komisches laugt aus durch Vertrautheit. Weil die Autoren ihre Figuren so in ganz unterschiedliche Handlungen einspannen, kehrt jener Kontrast an den Akteuren wieder. Pointiert gesagt: Die tragischen Akteure sind Nachfahren, die komischen Anfänger. Diese Charakterisierung betrifft das Verhältnis zur Zeit. Auf Helden wie Orestes, Oidipous, Aias lastet ihre Vergangenheit, während Figuren wie Dikaiopolis, Trygaios, Strepsiades sich mit schöner Unbekümmertheit über Früheres hinwegsetzen. Zwar haben auch diese eine Vergangenheit; doch was war, beherrscht sie nicht. Sie schneiden es ab und erfinden sich neu. 61 So depotenzieren sie das in irgendeiner Form Gegebene, sei es an einem outopos, wie in Aristophanes’ Ornithes, sei es am bekannten Ort, der athenischen Polis, wie in Sphēkes. In dieser Komödie, aus dem Jahr 422, gibt der Chor kurz vor dem Ende noch zu bedenken: to gar apostēnai chalepon / physeōs, hēn echoi tis aei, »Denn es ist schwierig, sich von der S. Kap. ›N.s Malheur‹, ¶ 2. Silk, Aristophanes and the Definition of Comedy, 221: »Aristophanic people have (or are given) the capacity to recreate themselves anew«; 223: »They have the power to switch«. 60 61

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Natur zu entfernen, die man immer gehabt hat«. 62 Damit liegt der Chor völlig falsch im Hinblick auf die Hauptperson des Stückes, den so durchaus wandelbaren, gar nicht auf Gegebenes festgelegten Charakter Philokleon. Tatsächlich zeigt die Komödie, wie außerordentlich leicht sich einer von dem, was einmal war, entfernt. Eine Neuerung, die Erhöhung des Richtertagegelds durch den Demagogen Kleon, hat das Leben einer ganzen Gesellschaft auf den Kopf gestellt. Keine Macht der Beharrung vermag dies aufzuhalten. Produkt der Neuerung ist ein bislang ungekannter Sozialcharakter, der Prozeßhansel, philēliastēs. Ihn verkörpert zu Beginn der Komödie Philokleon. Auf die öffentliche Neuerung antwortet der Sohn des Philokleon, Bdelykleon, nicht mit Appellen ans Altbewährte. Vielmehr probiert er es mit einer häuslichen Gegen-Neuerung: Er stellt seinen Vater unter Hausarrest. Das funktioniert: Philokleon sagt sich von Kleon und damit von dessen Machtbasis, den Gerichtshöfen, los. Er verläßt so gleichsam den Namen, der seinen Charakter festzulegen schien: Liebhaber des Kleon. Allerdings gelingt die Umerziehung nur zu gut. Denn der Vater prägt der verordneten Häuslichkeit seine Gegen-Gegen-Neuerung auf: Das Haus macht Philokleon zum Ort, an dem er die Nacht durchfeiert. So wird das vom Chor kaum für möglich gehaltene apostēnai physeōs an ihm wahr. Der komische Held ergreift entgegen der ihm zugewiesenen Rolle des Alten vielmehr die des Jungen. Die in der Komödie zerfallene Lebensweisheit des Chors aus Sphēkes kehrt dreizehn Jahre später in Sophokles’ Tragödie Philoktētēs abgewandelt wieder: hapanta dyschereia, tēn autou physin / hotan lypōn tis dra ta mē proseikota, »Alles wird schwer, wenn einer, indem er seine eigene Natur verletzt, tut, was nicht [zu ihr] paßt«63 , sagt Neoptolemos, der Sohn des Achilleus. Hier aber ist es ernst mit dem Satz – er ist eingelöst, als der tragische Protagonist dem Neoptolemos bestätigt: tēn physin d’ edeixas, ō teknon, / ex hēs eblastes, »die Natur hast du gezeigt, o Kind, aus der du gewachsen bist«64 . Woher einer kommt, das ist er in der Tragödie; in der Komödie ist er, wozu er sich macht. Aristophanes, Sphēkes, 1456–1457. Sophokles, Philoktētēs, 902–903. Daß Sophokles auf Aristophanes Bezug nimmt, ist nicht anzunehmen. 64 Sophokles, Philoktētēs, 1310–1311. 62

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25  Die Tragödie regiert der Gedanke, was geschehen sei, habe

geschehen müssen, die Komödie hingegen der Gedanke, alles sei möglich. Jene hat ihren Bezugspunkt im Unabänderlichen, das es zu erkennen gilt; diese stellt die Verhältnisse auf den Kopf. In der Sprache der politischen Macht hieß letzteres Verleumdung der Polis;65 Kleon versuchte Aristophanes im Jahr 426 aufgrund einer solchen Anklage strafrechtlich verfolgen zu lassen. Das bedeutet im Umkehrschluß nicht, die attische Tragödie sei Apologie des status quo gewesen. Denn die Fragen, mit denen sie den Mythen auf den Leib rückt, sind kritisch, ja radikal: an die Wurzel gehend. Das ist ihre Art zu tradieren: nicht das Gegenteil von Tradition, sondern eine eminent gründliche Form von Tradition. In der Suche nach Antworten auf jene Fragen dringt die Tragödie auf Wahrheit, selbst wenn diese zu erkennen einen verzweifeln ließe; die Wahrheit nicht finden zu können wäre erst recht zum Verzweifeln. Nie kann sich in der Tragödie, wie in der Komödie, die Bedrängnis lösen durch ein fiat, eine vorteilhafte Abmachung, ein Wortspiel, einen Witz. 26 Der Gegensatz der Gattungen ergreift nicht allein, intentio

recta, die Handlungen, sondern auch, intentio obliqua, das Theater selbst. Die klassische Tragödie behandelt das Theater, als sei es natürlich. Sie tut so, als werde dem Zuschauer Wirklichkeit vorgeführt. Der szenische Vorgang bietet sich dar, als müsse er sein, wie er ist. Bei Aristophanes hingegen wird das Theater als das Sammelsurium von Gemachtem kenntlich, das es ist. Die unsichtbare Wand, die das Publikum von den Schauspielern trennt, in der klassischen Tragödie stets respektiert, 66 durchbricht die Alte Komödie; Aristophanes’ Akteure reden die Zuschauer direkt an, oder auch über sie – gleich im zweiten Vers der Batrachoi etwa bringt Xanthias das Publikum (hoi theōmenoi) ins Spiel. Dies ist nicht so zu verstehen, als sei die klassische Tragödie natürlich, die Alte Komödie künstlich; auch das Publikum so zu behandeln, als sei es nicht da, obwohl es doch da ist, bedeutet eine artifizielle Maßnahme, die, Aristophanes, Acharnēs, 503: tēn polin kakōs legō; vgl. 377–382, 630–632, 659–664. 66 Respektiert wird sie, sofern die Schauspieler das Publikum nie anders als implizit adressieren; vgl. Torrance, Metapoetry in Euripides, 268–269. 65

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neben anderen Maßnahmen, eine bestimmte theatralische Kunstform stiftet. 67 27  Eine Kunstform stiften (¶ 26) heißt Grenzen ziehen. Irgendwel-

che Grenzen gibt es immer. Doch charakteristisch für die Alte Komödie ist ihr Freiraum, den weder Logik noch Physik einschränken. Nichts muß stets so bleiben, wie es ist; alles könnte auch anders sein, als es ist. Hier läßt sich, zum Beispiel, die Luft vermessen und in Grundstücke einteilen.68 Das Absurde darf sein. Frei schaltet der Komödiendichter mit den Gattungen des Lebendigen; es erscheinen – was in der Tragödie undenkbar wäre – Chöre in Tierkostümen: Menschen als Wespen, Fische, Frösche, Nachtigallen, Störche, Pferde. Wie Vasenbilder nahelegen, strichen die Tierattrappen das Attrappenhafte gerade heraus. Aristophanes und seine Konkurrenten archaisierten dabei nicht. Soweit die Überlieferung reicht, erschienen in ihren Chören keine Panther, Löwen oder Rehkitze: die Tiere, die traditionell dem Kult des Dionysos verbunden waren. Es geht um etwas anderes. Die Komödie distanziert das Wahrscheinliche (to eikos), auf das die Tragödie verpflichtet ist. 69 Es ist kein Einwand gegen einen Witz, daß nicht geschehen kann, was er imaginiert. Das gilt über den antiken Zusammenhang hinaus. Die Münchhausiade, der zufolge der Baron sich samt Roß am eigenen Schopf aus dem Sumpf zog, ist witzig, weil der Vorgang unmöglich ist. Auch physikalisch Unmögliches kann gesagt werden, und damit, daß es gesagt werden kann, rückt es in den Fundus komischer Möglichkeiten. In Aristophanes’ Ornithes gründet der komische Held eine Stadt in der Luft, weil ihm Athens Steuern und Sykophanten lästig fielen (¶ 28). Mit Humor braucht dergleichen wenig, ja nichts zu tun zu haben.70 Unabdingbar hingegen sind Witze; die Vgl. Giuliani, Possenspiel mit tragischem Helden, 10–11, 44, 48, 67–69, 78. Aristophanes, Ornithes, 995–996. 69 Aristoteles, Peri poiētikēs 1451a38, 1452a18. 70 Der Begriff des Humors gehörte zwei Jahrtausende, bis ins 18. Jahrhundert, in die medizinische Physiologie; nachdem das bürgerliche Wissen die Vier-Säfte-Lehre diskreditiert und die Humoralpathologie durch Zellularpathologie ersetzt hatte, im 19. Jahrhundert, sicherte sich das bürgerliche Fühlen den Humor in kompensatorischer Funktion: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Wenn schon diese Bedeutung von ›Humor‹ als einer subjektiv versöhnlichen Haltung zu Widrigkeiten des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft 67

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Aristophanische Komödie strotzt von solchen. Gemacht werden sie aus Worten: Witze beruhen darauf, in Sprache etwas so hinzubiegen, daß es der Realität spottet. 28  Sprache (¶ 27) präsentiert sich in der attischen Tragödie als in

den Dingen selbst verankerte, nach ihnen sich richtende; an ihren Sprachen – hier paßt nur der Plural – betont hingegen die Komödie den Charakter des Machwerks. In Aristophanes’ Nephelai, in der Belehrung des Strepsiades durch Sokrates, explodiert zum Beispiel die Illusion, das grammatische Geschlecht der Worte spiegele ein irgendwie natürliches Geschlecht dessen, wofür die Worte stehen.71 Daß aber die Benennungen bloß von den Menschen gemacht sind, bedeutet nicht, sie hätten sie unter rationaler Kontrolle (¶ 14). Im Gegenteil; es geht unter dieser Voraussetzung – und das kommt der Komödie zupaß – eher verrückter zu. Der Name des Pheidippides, ebenfalls in Nephelai, verdankt sich dem Wunsch des Vaters, dem Kind die Kleinbürgertugend der Sparsamkeit – pheidomai, ›geizen‹ – einzuimpfen, an den sich der Wunsch der Mutter hängte, es mit dem aristokratischen hippos, ›Pferd‹ – Reiter, hippeus, ist Ritter – zu schmücken. Das Resultat, so etwas wie ›Sparroß‹, ist eklatanter Unsinn; wer knausert, leistet sich kein Roß.72 Willkür heißt nicht Beherrschung, schon weil Willkür fortwährend Willkür durchkreuzt. Sofern es überhaupt einem gelingt, die logoi zu meistern, geschieht dies auf Kosten der anderen. Ihnen entgleitet das Machwerk der Sprache fortwährend, wächst ihnen über den Kopf, beherrscht eher sie, als daß sie es beherrschten – eine unverwüstliche Quelle der Komik. In der Komödie schafft nicht die Natur der Dinge sich die eine Sprache; zwei Worte, willkürlich assoziiert über ihren bloßen Klang, nämlich polis, Stadt, und polos, Himmel, können hier Wirklichkeit erzeugen. Dem Wolkenkuckucksheim so spät auftritt, daß sie für eine Untersuchung, die nicht ahistorisch sein will, unbrauchbar wird, gilt dies erst recht für den inflationären Gebrauch des Ausdrucks im 20. und frühen 21. Jahrhundert, annähernd als Synonym für alles irgendwie Lustige. Vgl. Preisendanz, Art. ›Humor‹. 71 Aristophanes, Nephelai, 658–692. 72 Aristophanes, Nephelai, 61–68. Das Suffix -idēs bezeichnet die Abstammung. Die Verdeutschung »Sparroß« geht auf Lessing zurück, s. Aristophanes, Wolken, übers. v. Friedrich August Wolf, 13, Fn. **. Vgl. a. Kanavou, Aristophanes’ Comedy of Names, 13: »wish-naming gone wrong«, 67–74. Tragik, Komik und das attische Theater | 75

(­Nephelokokkygia73) genügen darum unsichtbare Grenzziehungen, auf nichts markiert.74 In der Übersetzung von Droysen, dem unübersetzbaren Wortspiel mit den deutschen Worten ›Stadt‹ und ›Stätte‹ nachhinkend, lautet die Schlüsselstelle: Peishetairos: Baut euch allen Eine Stadt [polin] ! Epops: Was für ’ne Stadt [polin] könnten wir, die Vögel, bau’n ? Peishetairos: Wahrhaftig ? o wie linkisch war dies Wort gesagt ! / Sieh’ mal nach unten ! Epops: Nun, ich seh’ ! Peishetairos: Nach oben jetzt ! Epops: Ich seh’ ! Peishetairos: Nun drehe den Kopf herum ! Epops: Beim grossen Zeus ! / Da hab’ ich was Rechtes, wenn ich den Hals mir umgedreht ! Peishetairos: Was siehst du ? Epops: Ich sehe Wolken, Himmel [ouranon], weiter nichts ! Peishetairos: Und ist denn das nicht eure, der Vögel, Stätte [­polos] ? wie ? Epops: Wie ? Stätte [polos] ? was meinst du [tina tropon] ? Peishetairos: Was man sonst wohl nennt den Raum [topos], / Wo alles euch gestattet ist [poleitai], und stattlich steht, / Zu Statten kommt, von Statten geht, wird Stätte [polos] genannt; / Und wenn ihr sie jetzt bebautet und untermauertet, / So würde sie aus eurer Stätte [polou] zu eurer Stadt [polis]; / Alsdann beherrschtet die Menschen ihr Graspferdchen gleich, / Dann hungertet ihr die Götter aus, wie die Melier !75 Aristophanes, Ornithes, 819. Den »Ort« (topos), an dem Peishetairos die Stadt projektiert (Ornithes, 180), kann man ebenso, wie Iris es dann tut, als »Unort« (atopon) (1208) bezeichnen – und damit auch als Unsinn. Die Göttin bewegt sich durch die angeblich ummauerte Stadt, als gäbe es sie nicht (1217–1219). 75 Aristophanes, Ornithes, 172–186, übers. v. Johann Gustav Droysen, 32; Namen der Figuren nach dem Griechischen. Wo Droysen für poleitai »gestattet ist« schreibt, bringt er, um das deutsche Wortspiel zu retten, den griechischen Sinn zum Verschwinden; poleō bedeutet ›umdrehen‹, ›umwenden‹, ›umkehren‹. ›Aushungern‹ ist ein milder Ausdruck für das Vorgehen Athens gegen Melos. Im Sommer 416 belagerten die Athener die Insel; als die Bewohner aufgaben, töteten sie alle erwachsenen Männer und versklavten die Frauen und Kinder. 73 74

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Epops, der Wiedehopf, den Himmel ouranos nennend, hat den Trick nicht heraus, wie man mit Sprüchen Fakten schafft und Macht erlangt; Peishetairos, der Exil-Athener, führt es ihm, dem in einen sprechenden Vogel verwandelten Tereus, vor. Tropos heißt im 5. Jahrhundert schon: Stil der Rede, rhetorische Manier. Metapher wird Körper: Peishetairos vermag mit Worten zu bauen. Konstituiert durch nicht mehr als zwei Sprachspiele schiebt der tropostopos, die polos-polis sich zwischen Menschen und Götter, steigt zur Großmacht auf, verdunkelt den Himmel, verdreckt die Erde mit Vogelkot und verwehrt den Olympiern so lange den nährenden Opferrauch, bis Zeus den Peishetairos seiner Tochter Basileia, der Souveränität selbst, vermählt. Zur Hochzeit reicht man dann gebratene Vögel – Aufständische, wie der neue Herr der Welt anmerkt. Die Folgen dessen, daß der Manipulateur nach Belieben mit der Sprache schaltet und waltet, verteilen sich in nicht-beliebiger Weise auf ihn und die Manipulierten. 29  In den nicht-beliebigen Effekten komischen Geschehens (¶ 28)

waltet allerdings keine Instanz, die allem Belieben vorausliegt und darauf wartet, sowohl erkannt als auch anerkannt zu werden.76 Der Gegensatz zwischen einer gegebenen und gemachten Welt (¶¶ 24– 28) scheint unvermittelt, ja unvermittelbar. Unter den gerade bezeichneten Begriffen des Komischen und Tragischen, denen des klassischen Athen, ist schwer einzusehen, wie Tragikomisches eindringlich gelingen könnte. Niemand wird sich etwas versprechen von einer reichlichen Portion des einen, geklotzt zu einer ebenso reichlichen Portion des anderen. Die tragische Bindung (¶ 24) konzentriert und vereinheitlicht, das komische Belieben (¶ 27) vervielfacht und zerstreut. Das Hauptbild eines Glockenkraters des frühen 4. Jahrhunderts v. Chr., aus dem griechischen Unteritalien, zeigt eine eigentümliche Szene: ein tragischer Held, Aigisthos, ist an eine Gruppe komischer Figuren geraten. Doch in solcher Gesellschaft kann er kein tragischer Held sein; dazu bräuchte er ebenbürtige Gegner. Aigisthos kann es nicht fassen, in welche Lage er sich da Thukydides (Historiai 5.84–116) verleiht dem Melierdialog den Sinn tragischer Ironie: Wer so siegt wie Athen, betreibt die eigene Niederlage; vgl. Wohl, Euripides and the Politics of Form, 117. 76 Nelson, Aristophanes and his Tragic Muse, 55–61. Tragik, Komik und das attische Theater | 77

Apulischer Glockenkrater, um 380 v. Chr., Seite A. Museo Archeologico Nazionale di Napoli, Objektnr. 248778. Foto: Museo Archeologico Nazionale di Napoli.

gebracht hat – »er greift sich an den Kopf«77. Die komischen Figuren hingegen haben keine entsprechende Not mit ihm; ihre Welt ist ohnehin das Disparate. Sie geraten nicht in Verlegenheit. Eine komische Figur neben einer tragischen Gestalt bleibt eine komische Figur. Die Szene auf der Vase ist insgesamt komisch. Sie saugt den fassungslosen tragischen Helden gleichsam auf; auch er wird zur komischen Figur. Ließe sich dies verallgemeinern, dann würde gelten: Komisches ist stärker als Tragisches; es ruiniert die Tragik. Ist Tragikomik zu denken als ein Balanceakt, wie es das Wort durch Beiordnung des Gegensätzlichen nahelegt, dann müßte er in der Ausführung, durch Kippen auf die komische Seite, immer mißlingen. Doch an eben diesem Punkt muß der Versuch, die Schwierigkeit zu durchdenken – weil er, statt freihändig zu definieren (¶¶ 2–3), vielmehr das historisch Besondere ernst zu nehmen hat (¶¶ 7, 9) –, sich an einem zusammenhängenden Stück Überlieferung erproben. Giuliani, Possenspiel mit tragischem Helden, 11–48, 74–79, Zitat: 78, zu ­Aigisths Geste genauer: 31–33. 77

78 | Dionysos’ Duplicitas 

Ironie Tod und Spiele: Euripides’ Bakchai

Stets sind die einen hinter den anderen her: die Vernünftigen hinter den Unvernünftigen, die Guten hinter den Bösen, die Ungläubigen hinter den Gläubigen – oder auch umgekehrt. Welches Etikett auf wen paßt, das sehen die Verfolgten ohnehin meist anders als die Verfolger. Wenn der Verfolger unversehens der Verfolgung ausgesetzt ist, wird das Geschehen zur Tragödie – für ihn. Nun ist die Umkehrung eines an sich trostlosen Vorgangs dieser Umkehrung halber keineswegs komisch. Oder doch ? Die Handlung von Euripides’ Tragödie Bakchai kulminiert in einem kōmos (1167; 1172: synkōmos).1 Gerade in einem jener ausgelassenen Umzüge, denen die Komödie ihren Namen verdankt, vollzieht sich der tragische Untergang des Helden, der kein Held ist, Pentheus. Komisches und Tragisches durchdringen einander in diesem Spätwerk des Euripides. Denn als Pentheus’ Gegenspieler tritt hier Dionysos auf, der die Einheit der Gegensätze, des Komischen und des Tragischen, verkörpert.2 Spiel ist das, was der Gott mit dem Menschen spielt, aber ein tödliches. Die Handlung spielt in Theben, der Anti-Stadt, in die Athens Tragödiendichter das Grauen verlegten, als müßten sie es von der eigenen Polis fernhalten. Dionysos oder Bakchos ist Sohn des Zeus und der Semele, Tochter des Königs Kadmos von Theben. Als die schwangere Semele, von der eifersüchtigen Hera verleitet, Zeus in seiner himmlischen Gestalt sehen wollte, verbrannte sie durch die Blitze des Gottes. Doch noch im Sterben gebar sie vorzeitig ihr Kind – pyrigenēs, ›der im Feuer Gewordene‹, lautet dann ein Beiname des Gottes. Zeus verbarg Der Ausdruck ist bemerkenswert; unerhört in der Tragödie ist er nicht: Kassandra in Aischylos’ Oresteia nennt den Chor der Furien einen kōmos (Agamemnōn, 1189). Zitate aus Euripides’ Bakchai im Text mit Angabe des Verses nach der Ausgabe von Bernhard Zimmermann und der Übersetzung von Ernst Buschor. 2 S. Kap. ›Dionysos’ Duplicitas‹, ¶¶ 12, 14. 1

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Dionysos vor Hera in der Hüfte und trug ihn abermals aus: ›der zweimal Geborene‹ bedeutet sein Name. In Asien bekehrte Dionysos Frauen zu seinem orgiastischen Dienst, die dann Mänaden genannt werden, eigentlich ›die Rasenden‹, von mainesthai, ›wahnsinnig sein‹. Mit deren thiasos, seinem Gefolge, betrat er Griechenlands Boden; zunächst zog er nach Theben, seiner Heimat. Semeles drei Schwestern, Agaue, Ino und Autonoë, hatten seine Gottheit nicht anerkannt. Daß er von Zeus abstamme, sei Erfindung. Dionysos aber, so verkündet er zu Beginn des Euripideischen Dramas, will seine und seiner Mutter Ehre in Theben wiederherstellen. Die Schwestern Semeles trifft seine Macht zuerst. In Ekstase taumeln sie aus der Stadt und schwärmen mit anderen thebanischen Frauen durch die Wildnis des Kithairongebirges. Agaues Sohn, Pentheus, hat inzwischen von seinem Großvater Kadmos die Herrschaft in Theben übernommen. Im Rausch, der die Stadt ergriffen hat, bleibt er nüchtern. Nur Schwindel erblickt der junge König im dionysischen Kult. Dieser ist bereits in den Palast eingedrungen; der greise Kadmos und der Seher Teiresias wollen dem neuen Gott huldigen. Pentheus verspottet die Alten und läßt, um die Ohnmacht der neuen Religion zu demonstrieren, einen Schwarm ihrer Anhänger ergreifen und fesseln. Dessen Anführer, von den Häschern herangeführt, gibt sich vor Pentheus als bloßer Diener des Dionysos aus. Dies ist eine Täuschung; der Fremde (xenos) ist der Gott selbst – ein Gott in Verkleidung. Und er täuscht einen, dem er vorhält, daß er sich über sich selbst täusche – ein Verhältnis, in dem Tragik und Komik einander wechselseitig speisen: Dionysos: Du weißt nicht, was du tust und wer du bist. Pentheus: Pentheus, Agaues und Echions Sohn. D.: Der Leidmann, dem das schwerste Leiden [endystychēsai] droht. P.:  Nun fort und sperrt ihn in den Pferdestall,

Wo ihm das Tageslicht verfinstert ist ! Dort tanze ! (506–511)

Während der König meint, den anderen unter seine Kontrolle zu bringen, gerät er unter die Kontrolle dieses anderen. Der Fremde stößt Pentheus auf seine tragische Blindheit (506); in komischer Begriffsstutzigkeit gibt der König, flach und sachlich, Auskunft über 80 | Ironie 

sein Elternhaus (507). Aufs engste legt er sich die Frage zurecht, die so weit reicht, wie sein Leben insgesamt – genau übersetzt, was Buschor arg verkürzt, würde Vers 505 lauten: »Du weißt nicht [ouk oisth’], was für ein Leben du führst [ho ti zēs], noch was du tust [ho dras], noch wer du bist [hostis ei].« Die unfreiwillige Komik der Antwort des Pentheus bestätigt seine tragische Blindheit; danach war nicht gefragt. Am bloßen Namen prallt die Frage nach dem Dasein des Gefragten ab. Aber die Nennung Agaues weist voraus auf Pentheus’ Schicksal, dystychia; der Fremde zieht die Tragik unter der Komik hervor (508) – worauf dem König in tragikomischer Verkennung der Lage nichts einfällt als der Pferdestall (509–511).3 Dort läßt der Fremde sich zunächst einsperren, ohne Gegenwehr zu leisten; doch dann, gleichsam der Tanz des Dionysos (511), erschüttert ein Erdbeben den Palast. Der getarnte Gott schreitet frei heraus. Pentheus, den der Gang der Ereignisse auch sonst ständig überrascht, eilt herbei und trifft auf einen Hirten, der von den Orgien der thebanischen Bakchen im Gebirge berichtet. Sofort will der König sie mit seinem Heer aufspüren, doch der Fremde rät ihm, die Schar zunächst unbemerkt, selbst als Mänade verkleidet, auszuspähen und zu belauschen. Der Vorschlag reizt ihn zutiefst; er läßt sich von dem Fremden als Frau (gynaikomimō, 980) verkleiden und macht sich mit ihm ins Gebirge auf. Doch der Jäger der Bakchen (thēragreuta bakchan, 1020) wird nun selbst zum von ihnen Gejagten. Sie halten Pentheus für ein wildes Tier und zerreißen ihn, berichtet ein Bote. Verblendet trägt Agaue selbst das abgeschlagene Haupt ihres Sohnes als Jagdtrophäe heim. Erst im Gespräch mit Kadmos erkennt sie die brutale Wahrheit. Am Ende erscheint Dionysos, nun nicht mehr verstellt, sondern, triumphierend, in göttlicher Gestalt. Daß sein Sieg ein Werk der Raserei ist, der Zerstörung des Denkens durch eine Macht, welche sich diesem entzieht, fordert das Denken heraus. Einsetzen kann das Denken beim Theater. Euripides’ Bakchai sind die einzige erhaltene attische Tragödie, in der Dionysos, der Gott der tragischen und der komischen Dichtung, als Akteur auftritt. Es ist für den Gott der Komödie nur passend, daß er als ­xenos Zum Einsperren eignete sich der Pferdestall, weil er keine Fenster hatte; vgl. Euripides, Orestēs, 1449. 3

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vor Thebens König eine Komödie spielt. Und es ist dem Gott der Tragödie nur angemessen, daß die Komik dieser Komödie sie tragisch macht. An Euripides’ Bakchai läßt sich erkennen, wie Tragikomik sich ins Werk setzt, wenn Tragisches und Komisches von ihrem Sinn im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. her begriffen werden.4 Damit wird dem Drama nicht die Zugehörigkeit zur Gattung Tragödie bestritten. Diese ist historische Realie, schon der Institutionen der Polis halber, wie jenes ausschließlich Tragödien vorbehaltenen Wettbewerbs, den dies Drama für sich entschied. Dagegen eine angebliche Gattung Tragikomödie aufbieten zu wollen, wäre sinnlos. Gattungen orientieren Erwartungen von Zuschauern, Zuhörern, Lesern, Betrachtern und so weiter; weil es zu jener Zeit, laut den historischen Quellen, keine derartige Gattung gab, fand auch keine solche Orientierung statt. Nicht sinnlos ist es, sich über die Gestaltung einer tragikomischen Konstellation, oder tragikomischer Konstellationen, gerade in einer Tragödie klar zu werden. Dazu gibt der Umstand Anlaß, daß die Handlung auf ihrem Höhepunkt das Motiv entfaltet, daß einer einen anderen hereinlegt, und dieses Motiv als das entscheidende bis kurz vor dem Ende – allerdings nicht bis zum Ende – durchhält. Einem Verhältnis aber, dessen Charakteristik darin liegt, daß einer einem anderen auf den Leim geht, scheint die Bezeichnung ›komisch‹ angemessen – nicht in dem verwaschenen Sinne fröhlicher Laune, sondern in dem präzisen antiken Sinne, daß Sprache hier, statt an Natur rückgebunden zu sein, ihre Macht der Setzung ausspielt, Realität vorzuspiegeln – so, daß Manipulateur und Publikum sie zugleich durchschauen. Nicht etwa Täuschung wäre in diesem Sinne komisch; Oidipous ist zwar verblendet, doch keiner überlistet ihn. Den Pentheus hingegen legt Dionysos herein, so wie die Vögel in Aristophanes’ Ornithes von Peishetairos übertölpelt werden: sie verhelfen ihm zu seiner Macht und enden, als seine Hochzeit mit Basileia diese besiegelt, auf der Bratenplatte.5 Dies geschieht in anderem Ton als jenes, nicht durchweg übrigens, doch über weite Strecken. Der Ton ist wesentlich, da es sich um Dichtung handelt: um etwas nicht auf einen abstrahierbaren Inhalt zu Reduzierendes. Aber daraus folgt nicht, der S. Kap. ›Dionysos’ Duplicitas‹, ¶¶ 9–10, 12, 14, 17–18, 24–28. S. Kap. ›Dionysos’ Duplicitas‹, ¶ 28.

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Inhalt sei belanglos. Form ist stets Form eines Inhalts, und Inhalt stets einer in Form.6 Wer einen Gott nicht erkennt, weil er sich vor ihm verbirgt, muß mit dessen Proselyten vorlieb nehmen. Mit Sorgfalt und Schärfe – bis zur Satire – zugleich diskreditiert Euripides den Dionysos vorab durch seine Anhänger. Die ersten und im Grunde auch einzigen (monoi […] monoi, 195–196) Jünger des Gottes, die vor den Zuschauern als Individuen auftreten – denn der Chor ist kollektive Stimme  –, sind zwei ältere Herren: Teiresias und Kadmos. Und nachdem eben noch ein jugendlicher Chor in raschen Daktylen davon gesungen hatte, wie die Bakche im Tanzschritt vorwärts stürmt (kōlon agei tachypoun skirtēmasi bakcha, 167), fragt dieser Greis jenen: Wie muß ich tanzen ? Wohin meinen Fuß, Wohin das graue Haupt bewegen ? Sag Du weiser Alter es dem alten Mann ! Nicht müde will ich werden Tag und Nacht, Den Thyrsus aufzustoßen. Süß verspür Ich neue Jugend. (184–189)

Dies ist illusionäres Gerede. Der da seine Jahre angeblich nicht mehr spürt, wird gleich nur noch gestützt auf den anderen gehen können. Und die Weisheit des Teiresias – sy gar sophos (186) – zeigten die ernsten Tragödien, in denen er auftrat, Sophokles’ Oidipous tyrannos und Antigonē,7 Euripides’ Phoinissai, 8 als Sehergabe, nicht als Kenntnis von Tanzschritten. So widerspricht der Prophet auch nicht dem abgedankten Herrscher. Er fährt in gleicher Einfalt, oder scheinbarer Einfalt, fort: Wie ich selber auch: Mit jungen Kräften schreite ich zum Tanz. […] Zum Reigen zieht ein eng verschlungnes Paar. (189–190; 198)

Das nimmt sich aus wie senile Erotik, Ringelpiez mit Anfassen oder auch wie gute Vorsätze zu einer Heilgymnastik für Senioren, die Vgl. Wohl, Euripides and the Politics of Form, 132–141. Oidipous tyrannos, 299–462; Antigonē, 988–1090. 8 834–959. 6 7

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nicht weit reichen werden. Doch hier geht es um Religion. Welcher Geist spricht aus den Alten ? Teiresias will für beide sprechen: Sophistisch reden [sophizomestha] von den Göttern liegt uns fern, Was uns von Alters überliefert ist [patrious paradochas], Macht kein Verstand [logos] zunichte, wenn er auch Den Gipfel aller Klugheit sich erklimmt. (200–203)9

Dies jedenfalls ist nicht mehr einfältig, indes ebenso fragwürdig wie das Vorhergehende. Implizit legt Teiresias bereits an dieser Stelle Pentheus zur Last, was er und der Chor ihm im Weiteren explizit vorwerfen werden, nämlich daß er sophistisch gegen die durch den Volksglauben überlieferte und geheiligte Religion klügle. Doch nicht dem Alten widersetzt Pentheus sich, sondern der Einführung eines neuen Kults.10 Der Vorwurf des Sophismus aus Teiresias’ Munde ist selbst ein Sophismus. Er benutzt den logos gegen den logos (202). Seine Berufung auf die patrious paradochas11 ist ein Fall »nachgeahmter Substantialität«12 . Dieser Teiresias, auch hierin scharf abstechend von der würdigen Gestalt gleichen Namens in den älteren Tragödien, weiß, daß sich, sofern er nur spitzfindig genug vorgeht, mit Worten – fast – alles anstellen läßt. Darin steht er einer Komödienfigur wie Peishetairos in Aristophanes’ Ornithes kaum nach. Aus einer abstrusen Etymologie, die griechischen Substantive mēros, ›Schenkel‹, meros, ›Stück‹, und homēros, ›Pfand‹, auf einander beziehend, kombiniert mit einem Versatzstück aus dem jonischen Materialismus,13 biegt Teiresias sich – sophizomestha (201) – seine Dionysosmythologie zurecht. In der Tragödie geht es auf Biegen und Brechen. Doch etwas zu verbiegen ist fast immer komischer, als es zu zerbrechen. Vers 200 lautet bei Buschor: »Wir rechnen beide nicht mit Göttern ab.« Aber eine Abrechnung ist etwas anderes als das, was hier mit sophizomestha gemeint ist, nämlich ›räsonnieren‹, ›vernünfteln‹, ›die Sache hin und her drehen‹. 10 Diesen Gedanken pointiert folgerichtig Ovid, der Pentheus etwa sagen läßt: »Et patrium retinete decus« (»Wahrt den Anstand der Ahnen !«) (Metamorphoses 3.548). 11 Von paradechomai, also: ›das, was die Ahnen billigten‹. 12 Habermas, ›Nachgeahmte Substantialität‹. 13 Als schwebend und von Gas umgeben wird die Erde vorgestellt bei Anaximander (›Test. Ar 75‹) und Anaximenes (›Test. As 35‹). 9

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Du höhnst [katagelas] ihn [sc. Dionysos], weil er in den Schenkel [mērō] eingenäht Des Zeus gewesen ? Ja, das stimmt, ich will dich lehren ! Als Zeus entrafft ihn aus des Blitzes Feuerstrahl Und hoch auf den Olymp sein göttlich Kind gebracht, Da wollte Hera aus dem Himmel es verbannen. Doch Zeus hat listig sich gewehrt [antemēchanēsath’], recht wie ein Gott. Er riß ein Stück [meros] vom Äther [aitheros], der die Welt umgibt, Und formt’ ihn wie Dionysos und gab ihn Hera Zum Pfand [homēron], auf daß den Streit sie ende. Später hieß es, Zeus habe ihn im Schenkel [mērō] ausgetragen; dies Erfand man, unter Tausch des Wortsinns, weil das Bild Des Gottes einst als Pfandgeschenk [hōmēreuse] für Hera diente. (286–297)14

Das Intrigenspiel auf dem Olymp, Zeus gegen Hera, ist eine Komödienszene. Es nimmt zugleich die List (mēchana, 805; vgl. 291) des Fremden alias Dionysos vorweg, bis hin zum wunderlichen Detail des Äthers (aither’, 631). Den absurden Rest lügen dann die Menschen zusammen. Ein Scholion zu Euripides’ Andromachē verteidigt den Dichter gegen den Verdacht, »bei den tragischen Personen von der Komödie […] Gebrauch gemacht zu haben« (epi tragikois prosōpois kōmōdian […] diatetheisthai).15 Der Scholiast hätte sich mit seiner Verteidigung auch an Euripides’ Bakchai abmühen können. Am Lack der Autoritäten in Religion, Familie und Staat kratzt diese Tragödie so dreist, weil sie an dieser Stelle ebensosehr Komödie ist.16 Während sich Teiresias noch in Phrasen hüllt, plaudert Kadmos aus, worum es geht:

Die meisten Übersetzungen kapitulieren davor, zu Tereisias’ Absonderlichkeiten deutsche Entsprechungen zu finden. Dietrich Ebener hat es immerhin frei versucht (133). Unhaltbar ist die Konstruktion von Gallistl (Teiresias, 37–39), der in 293–294 Hēras neikeōn von Dionyson abhängig machen will. 15 N. N., ›Scholion eis Andromachēn 32‹, 254 (Z. 11). 16 Desolat komisch, »bleakly comic«, nennt Peter Burian den Charakter der Szene: ›Myth into muthos‹, 197. 14

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Wenn dieser auch kein Gott ist, wie du sagst, Verkünd ihn dennoch, lüge [katapseudou], daß ers ist ! Wenn Semele als Gottesmutter gilt [dokē], Wird unser ganzes Haus in Ehren stehn ! (333–336)17

Nicht Überlieferung von alters her hat die thebanische Prominenz an der Religion entdeckt, sondern deren aktuelle Opportunität für den Erhalt und Ausbau dynastischer Macht. Die Einfalt eingangs der Szene war also gespielt. Pentheus’ Gedanke, der Dionysoskult sei menschliches Machwerk, ist deren neuem Anhänger Kadmos durchaus nicht fremd; nur zieht er aus ihm die umgekehrte Konsequenz. Und Teiresias steht neben Kadmos als der Ideologe neben dem Politiker. Zusammen gleichen sie Pentheus, der Ideologe und Politiker in einer Person ist. Auch er will Ehre für sein Haus, die in einer Aristokratie dem zukommt, der die Macht hat; doch der Griff nach der Macht soll nicht einfach eben dies sein, Griff nach der Macht, sondern ein Sieg der Vernunft. Was laut historischer Fiktion eine Welt archaischen Adels ist – Herodot schätzte Kadmos’ Epoche auf etwa 1600 Jahre vor der eigenen18 –, ist in ihrem Denken durchaus die des 5. Jahrhunderts – eines Jahrhunderts der Sophistik und der Philosophie. Und so erscheint auf beiden Seiten, im Plädieren für und gegen Dionysos, spiegelbildlich in fast identischen Worten – noun ouk echon (252) und noun ouk echōn (271) – der Vorwurf des Fehlens der Vernunft beim jeweils anderen.19 Auf ein solches Patt laufen ideologische Debatten unweigerlich hinaus; danach – auch hier – entscheidet die Gewalt. Jüngern des Dionysos wie Teiresias und Kadmos kommt es auf eines überhaupt nicht an: Wahrheit. Und von ihnen fällt in der Dramaturgie von Euripides’ Bakchai grelles Licht voraus auf den Gott. Denn dieser ist ein Intrigant. Obgleich er versichert, der ­König habe eine Lektion von ihm zu lernen (39, 480, 490), wird er ihn nicht lehrend überwinden.20 Der Moment der Einsicht, den Vgl. 30 (Kadmou sophismath’), wonach Kadmos früher dazu riet, Dionysos’ Genealogie als Lüge darzustellen. 18 Historiai 2.145.4, Bd. 2, 326/327–328/329. 19 Zur Fragwürdigkeit solcher Vernunft Holmes, The Symptom and the Subject, 264. 20 Vgl. Sewell-Rutter, Guilt by Descent, 90. 17

86 | Ironie 

Pentheus hat (1120–1121), bleibt für das Drama folgenlos; auch läßt Euripides in auffallender Weise offen, worin die Einsicht überhaupt besteht. Statt Pentheus mit der Wahrheit zu bezwingen, wird Dionysos ihn mit einem Trick erledigen. Dieser ist kein Beiwerk der Handlung, sondern ihr Antrieb, »the dramatic engine of the play«21. Wie sich ein Trick vollzieht, wird für Beobachter, wenngleich nicht für das Opfer des Tricks, komisch. Zugleich verschärft es die Tragik. Denn durch einen Trick umzukommen, ist nie heroisch. In Tragödien ohne Komik stirbt man wenigstens als Held; das ist, in Kulturen des Ruhms wie der athenischen, ja überhaupt der griechischen der Antike, 22 ein hoher Trost. Der durch einen von ­Komik jedenfalls nicht freien Trick erledigte Pentheus geht ruhmlos ­unter. Aikeia (aikia) (1374), Schmach, ist am Ende alles, was bleibt.23 Eine Erörterung von Tragikomik in Bakchai muß nicht in Widerspruch stehen zu Aristoteles’ Urteil, Euripides sei »der tragischste der Dichter« (tragikōtatos tōn poiētōn).24 Die Tragödie, die durch Komik hindurchgeht, ist, wie sich schon bei Aischylos abzeichnet,25 keine aufgeweichte Tragödie, sondern die härtere Tragödie. Solche Tragikomik färbt das Lachen in Euripides’ Bakchai. Die sich verjüngt wähnenden, eben doch nicht recht verjüngten Greise Kadmos und Teiresias im Kostüm von Bakchen wirken ungewollt albern. Vielen Gelächters – polyn gelōn (250) – scheint Pentheus das juvenile Gebaren des blinden Wahrsagers und des abgedankten Königs wert, wenngleich er sich zugleich schämt (anainomai, 251). Denn das Lächerliche, soweit es von Kadmos ausgeht, kommt in der eigenen Familie vor – der Familie, die sich für die beste am Ort hält. Mit Scham 26 gelacht ist indes doch gelacht. Daß Teire Patton, Religion of the Gods, 114. Homer, Ilias 9.413: kleos aphtiton, »ewiger nachruhm [sic]« (Voß). 23 Vgl. auch Kadmos’ atimos (1313) und atimazei (1320). 24 Aristoteles, Peri poiētikēs 1453a29–30. 25 Sommerstein, ›Comic Elements in Tragic Language‹, 163: »far from being light relief of any sort, comic language is used in the Oresteia to heighten the blackness and bleakness of the vicious cycle of retaliatory violence, and disappears at the point where that cycle is broken.« Sommerstein erörtert 31 Stellen, an denen »comic language« in der tragischen Trilogie vorkommt. 26 Die Grundbedeutung von anainomai ist ›verweigern‹, ›abschlagen‹. Statt ›ich schäme mich‹ könnte an dieser Stelle auch gemeint sein: ›ich verleugne 21

22

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sias daran (diagelan, katagelan) Anstoß nimmt (272, 286, 322), trägt nichts aus. Da Lachen sich unwillkürlich einstellt, bleibt der Imperativ ›Lach’ nicht‹ stets ohnmächtig. Mächtig wird allein überwältigendes Gegengelächter. Und wirklich antwortet in dieser Tragödie Lachen dem Pentheus, wenn er meint, einen Kult, den rauschhafte Begeisterung speist, könne der Einsatz des Militärs unterbinden. »Lachend [gelōn] gab er sich mir in Haft« (439), berichtet Pentheus’ Trabant diesem von dem Fremden.27 Euripides’ Bakchai sind eine Tragödie, die um die einzige Frage kreist, wer zuletzt lacht. Zuerst lacht Pentheus (250), doch nie lernt er, über sich selbst zu lachen. Je länger, desto tiefer bohrt Pentheus sich in einen fanatischen Ernst hinein. Er unterliegt einer Dialektik: Je verbissener einer sich selbst ernst nimmt, desto nachdrücklicher wird er zur Karikatur seiner selbst, also lachhaft. Darum liegt die größere tragische Gewalt bei dem, der das Lachen beherrscht. Einerseits weiß Dionysos es zu provozieren (854). Obwohl Gelächter sich unwillkürlich einstellt, ist es empfänglich für eine Regie, die lächerliche Situationen zu arrangieren weiß. Andererseits ist es gleichsam Teil einer dionysischen Musik – »mit der Flöte zu lachen«, meta t’ aulou gelasai (380), singt der Chor im ersten Stasimon. Weil ein solches Lachen Gemeinschaft stiftet, ist es (’ggelan, 842) stark genug, einen einzelnen, sei er auch der Machthaber, in Angst zu versetzen. Auf dieser Linie wird ein Punkt erreicht, an dem Komik und Lachen auseinandertreten; er wird am Ende überschritten. Für Dionysos freilich, der Komik verkörpert, so wie er Tragik verkörpert, mag nichts der Komik entzogen sein. Doch dies erlaubt keine Rückschlüsse auf die Zuschauer der Tragödie des Euripides, die schließlich vom Chor in der letzten Strophe des vierten Stasimon vernehmen, Dionysos werde gelōnti prosōpō, »mit Lachen im Gesicht« (1021), die tödliche Schlinge um Pentheus’ Hals zuziehen. Daß der dich‹. Jedenfalls aber wäre ›sich schämen‹, sofern bezeichnet durch anainomai, zu unterscheiden von dem, was das Verb aideomai ausdrückt: der Verlust der eigenen Ehre, den Pentheus beim Anlegen der Frauenkleider fürchtet (828: aidōs). Dazu Cairns, Aidōs, zu Euripides 265–342. 27 Joshua Billings erkennt die Tragikomik des Dramas, weist aber schlüssig die seit den 1940er Jahren weithin kursierende Annahme zurück, der Schauspieler des xenos habe eine lachende oder lächelnde Maske getragen: ›The ›Smiling Mask‹ of Bacchae‹. Viele frühere Deutungen standen mit dieser Annahme und fallen durch Billings’ stringente Argumentation. 88 | Ironie 

Strick um den Hals Metapher ist, mildert nichts; denn die Metapher steht dafür, daß Dionysos die Frauen der eigenen Familie auf Pentheus hetzte. Was sich bei Homer bereits abzeichnet, 28 spitzt Euripides zu: die Erkenntnis, daß Gewalt und Gelächter einander nicht ausschließen, ja in bestimmten Fällen einander bedingen. Solches Gelächter heißt hämisch. Euripides’ Dichtung dringt zum Kern des Phänomens der Häme vor: Das Lachen des Täters und das Lachen der Zeugen von dessen Tat lacht das Leiden des Opfers hinweg. Als Leiden schwindet es für die Lachenden auch und gerade dann, wenn sie über das Leiden lachen. Es wird etwas anderes, komische Verrenkungen zum Beispiel. Und deshalb verschärft das Lachen des Täters und der Zeugen, wenn die Opfer dieses Lachens gewahr werden, ihr Leiden. Wenn Lachen auf der Bühne, gespieltes und erst recht bloß erwähntes, es nicht darauf anlegt, Lachen im Publikum zu provozieren, ist dies an sich weder ausgefallen noch auch nur auffallend.29 Daß auf der Bühne gelacht wird, kann zum Heulen sein; daß auf der Bühne geheult wird, kann sich lächerlich ausnehmen. Es kommt immer darauf an, wer wie worüber lacht oder heult. Ansteckend zu lachen versuchen eher unbedarfte Komiker und ›canned laughter‹ hält erst die Sitcom bereit. Solche Mechanik der Stimmungsmache, ein Merkmal von Klamauk, weisen viele zurück, die Theater treiben. Doch jenseits stupider Belustigung gibt es, was die Stimmung betrifft, unzählige Stufen subtilen Einvernehmens zwischen Zuschauerraum und Bühne. Auffallend in Bakchai ist der Riß zwischen beiden Bereichen, der sich auftut, als das dionysische Kollektiv fordert, 30 den Ahnungslosen abzuschlachten. Zu einem solchen Riß kommt es erst, wenn Theater als tragikomische Kunstform sich ins Tragische wendet. »Ein schöner [kalos] Kampf«, singt der Chor ironisch zur verblendeten Agaue, »dein Kind zu umarmen mit einer Hand, die vor Blut trieft« (1163–1164). Tragisch wird hier, was nicht mehr komisch ist. Wie aber kommt es dazu ? Pentheus wird vom Lachenden des Anfangs zum Verlachten des Endes, weil das, was er verlachte, ihn unwiderstehlich anzieht: die S. Kap. ›Sterben vor Lachen‹. Vgl. Taplin, ›Comedy and the Tragic‹, 190–191. 30 Die attische Tragödie kennt stets nur Worte für Gewalt, nie die Gebärde einer Gewalttat auf offener Bühne. 28 29

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Verkleidung und das, was sie möglich machen soll. Sie selbst entbehrt der tragischen Notwendigkeit. Das telos der Handlung würde nicht erfordern, daß Pentheus als Frau verkleidet wird; ginge er in seinem üblichen Gewand, würde er auch sterben. Die Verkleidung macht ihn lächerlich: »Ich will, daß er, der ganzen Stadt zum Spott [gelōta Thēbaiois: den Thebanern ein Gelächter], / In Weiberröcken [gynaikomorphon: wie eine Frau geformt] durch die Straßen zieht« (854–855). Dies ist das Hohngelächter, das Pentheus für Kadmos und Teiresias übrig hatte, doch gesteigert, weil allgemein, Thēbaiois. Lächerlichkeit tötet; die Lächerlichkeit eines Königs vor seinen Untertanen tötet diesen als König. In einer Tragödie ist Lächerlichkeit kein selbstverständliches Ziel. Weil die Verkleidung so durchaus am Pol des Gemachten, nicht des Gegebenen steht, ist sie eine komische Technik kat’ exochēn. Die Verkleidungsszene der Bakchai ist ohne jede Präzedenz in der attischen Tragödie. Vielmehr verwandelt sich Euripides in ihr einen Auftritt aus der Komödie an, jene Szene aus Aristophanes’ Thesmophoriazousai, in der dieser ihn, Euripides, seinem Schwager weibliche Kleidung anlegen läßt: Mnesilochos soll sich so unbemerkt unter Athens Frauen mischen (209–268). 31 Viele im Publikum der Bakchai würden Aristophanes’ Komödie gesehen und Szenen aus ihr im Gedächtnis behalten haben. 32 Dies resultiert wohl kaum in einer Verschmelzung der Gattungen – »generic fusion of tragedy and comedy«33 –, sondern in einem Hineinspiegeln des Komischen ins Tragische, das ihre Differenz gegenwärtig hält. Daß Kleider Leute machen, heißt, daß die Natur sie nicht macht. Von Verkleidung zu reden ergibt allerdings nur dann Sinn, wenn in ihr jemand steckt, der nicht so ist, wie er durch seine Verkleidung erscheint. Verkleiden macht keine Leute; vielmehr muß es unabhängig von der Verkleidung schon so und so beschaffene Leute geben, damit sie sich als andere verkleiden lassen. Daß der König hier zum Transvestiten wird, müßte nicht komisch sein.34 Komisch wird die Szene vor der Folie zweier früherer Szenen innerhalb des Dramas: der Einkleidung der Greise Kadmos und Teiresias als Bak May, Aristophanes and Euripides, 205–206. Zu Theater und Gedächtnis Carlson, The Haunted Stage. 33 Jendza, Paracomedy, 117. 34 Zum rituellen Hintergrund vgl. Bremmer, ›Dionysos travesti‹. 31

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chen sowie der ersten unmittelbaren Begegnung des Pentheus mit dem Fremden aus Lydien. Wer tut, was er selber soeben für komisch erklärt hatte, tut Komisches. Das beschreibt das Verhältnis zur ersten der beiden früheren Szenen, bei allen Unterschieden. Zwar entfällt die jugendliche Stilisierung von Alten; um so prononcierter nimmt sich die weibliche Stilisierung eines Menschen aus, der besonders auf seine Männlichkeit hält. Verwickelter ist das Verhältnis der Verkleidungsszene zur ersten Begegnung der beiden Protagonisten, zu deren Beginn Pentheus den vermeintlich Fremden, der in Wahrheit sein Cousin – der Sohn der Schwester seiner Mutter – ist, auf eigentümliche Weise beschreibt: Du bist nicht häßlich [ouk amorphos], doch ein halbes Weib – Auf Weiber gingst du nur in Theben aus – Die Locken lang und nicht nach Ringerart, Auf Wangen hingegossen, sehnsuchtsvoll, Die weiße Haut seit langem wohlgepflegt Im Schatten ohne jeden Sonnenstrahl, Auf Aphrodites Siege stets bedacht. (453–459)

Eigentümlich macht diese Beschreibung, daß und wie sie zwischen Anziehung und Abstoßung oszilliert. Die Anziehung einzugestehen, sich und anderen, fällt Pentheus schwer; vor solchem Eingeständnis ausweichend, steht das anfängliche ouk amorphos, also lediglich »nicht unförmig«, anstelle eines vorbehaltlos ausgesprochenen »schön«. Abgestoßen ist Pentheus – und dies hingegen betont er gern – sowohl von der femininen Weichlichkeit des Fremden als auch von dessen Lüsternheit. An anderer Stelle nennt er ihn ton thēloumorphon xenon (353), »den wie ein Weib geformten Fremdling«. Ein solcher wird den abstoßen, der das Geschlecht am Leib (sōm’, 453) deutlich ausgeprägt sehen will; daß ein Mann männlich auszusehen habe, scheint Pentheus so selbstverständlich, daß er es ungesagt läßt. Weiblich sind die langen Haare; weiblich ist die Distanz zum Ringkampf, einem markant männlichen Sport; weiblich ist die weiße Haut gemäß der Norm der attischen Kultur, die Frau habe sich vorwiegend im Haus zu bewegen, während maßgebliche Sphären des Mannes, wie Jagd, Ackerbau, Krieg, die Geschäfte der Polis, außer Haus lägen. So entspricht Buschors »doch ein halbes Tod und Spiele: Euripides’ Bakchai | 91

Weib« durchaus dem allgemeinen Sinn der Passage, nicht aber dem spezifischen der Verse 453–454, in denen die Formulierung hōs es gynaikas Pentheus vielmehr dazu dient, das anfängliche Kompliment, der Fremde sei ansehnlich, von sich weg- und den Frauen zuzuschieben, so die eigene Anziehung weiter kaschierend. Doch wer, der nicht selber angezogen wäre, würde derart Zug um Zug taxieren, eben die langen Locken, die von diesen berührten Wangen, die weiße Haut. Diese Beschreibung eines Fremden wird umgehend intim und so ist Buschors »Sehnsucht« für pothos (456) zu keusch. Sexuelles Begehren behauptet Pentheus im Haar des Fremden zu sehen; es ist in Wahrheit sein eigenes. Wenn der Mann aus Lydien nicht lediglich, nach Pentheus’ Charakterisierung, wie eine Frau ist, sondern auch nur zu sehr die Frauen begehrt, dann begehrt Pentheus ihn seinerseits wie eine Frau. Nur aus der Balance zwischen Abgestoßen- und Angezogensein erschließt sich die Figur des Pentheus – so aus zwei Versen, in denen sich sein Wechsel von wütendem Angriff zu Unterwerfung erstmals andeutet, wörtlich übertragen: »Ich weiß keinen Weg mehr (aporō), wie wir den Fremden niederringen (sympeplegmetha), / Ob er nun leidet (paschōn) oder handelt (drōn), nie schweigt er still.« (800–801) Der Gestus dieses Distichon ist Hinnahme: ungern und zugleich gern. Diesen Gestus zerstört etwa Raoul Schrott in seiner auch sonst plumpen Version ›nach‹ Euripides: Gibt’s denn kein mittel, ihm einen maulkorb anzulegen ? Gleich um was es auch geht, er bellt einfach weiter ! Gegen alle werd ich mich verteidigen ! Wenn’s sein muß, auch allein !35

Das Hundebild ist verfehlt. Ringer sind Gleiche, nicht wie Herr und Hund von vornherein in einem Rangverhältnis. Schrott bringt die Zwischentöne der Dichtung prosaisch auf den Hund. Symplekesthai kann einen erotischen Sinn haben;36 das Vorausgehende legt ihn hinreichend nahe. Mit der Ambivalenz verschwindet auch Pen­ Schrott, Bakchen. Nach Euripides, 56 Vgl. Sophokles, ›Frgm. 618 (561) [aus Trōilos]‹: egēmen hōs egēmen aphthongous gamous, / tē pantomorphō Thetidi symplakeis pote, »Er [Pēleus] machte Hochzeit, stummes Liebesspiel, / Mit Thetis ringend, die im Kampfe wandlungsreich sich zeigte«. S. a. Platon, Symposion 191a. 35

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theus’ Tragikomik; er verkommt bei Schrott zum Berserker. Bellende Hunde stehen dem, was sie anbellen, nur gegenüber. Euripides’ Pentheus hingegen sucht die Umarmung im Kampf. Sein Eifer speist sich aus dem, wogegen er anrennt. Jemandes Kampf aber gegen etwas, das er offiziell ablehnt und insgeheim begehrt, gerät tragikomisch. Dionysos: Willst du ihr [der Frauen] Lager sehen auf dem Berg ? Pentheus: Viel Barren Goldes gäbe ich darum ! D.: Wie überfiel dich diese große Lust [erōta megan] ? P.: Aufdecken wollt ich ihren wüsten Rausch. D.: Und dennoch heimlich dich daran erfreun ? P.: Ja, ganz geheim, im Tannengrün versteckt – D.: Wer noch so heimlich kommt, wird aufgespürt. P.: Ganz wie du willst. So komm ich öffentlich. D.: Soll ich dich führen [agōmen] ? Machst du dich bereit ? P.: Geh gleich voran, die Frist ist dir gegönnt ! D.: So lege schnell die Byssuskleider37 an ! P.: Wozu ? Was soll der Mann im Frauenkleid [es gynaikas ex andros telō] ?38 D.: Der ist des Todes, der als Mann erscheint. P.: O guter Rat ! Schon immer warst du schlau [sophos]. D.: Der Geist des Dionysos weht in mir. P.: Und wie vollführ ich deinen guten Plan ? D.: Im Hause reich ich dir die neue Tracht. P.: Nur keine Frauentracht [stolēn thēlyn], ich schäme [aidōs] mich ! D.: Und die Mänaden willst du nicht mehr sehn [theatēs] ? P.: So sage, wie du mich dort ausstaffierst ! D.: Von deinem Scheitel falle langes [tanaon] Haar ! P.: Was ist das zweite an der neuen Tracht [kosmou: Schmuck] ? D.: Das Schleppkleid, und die Binde um das Haupt. P.: Was hast du außerdem mir zugedacht [prosthēseis: vorgesetzt] ? D.: Den Thyrsus und des Rehes buntes Fell. (811–835) Byssuskleider sind Frauengewand aus feinster ägyptischer Baumwolle. Eigentlich: »Vom Mann werde ich zur Frau«, telō es mit Akkusativ wird für die Annahme einer neuen Identität verwendet, etwa bei Erhalt des Bürgerrechts oder Einweihung in Mysterien. 37

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So ausgestattet, wird Pentheus zum Doppelgänger des xenos. ­Berauschte sehen doppelt, und Doppeltes durchzieht Euripides’ Drama vom Gott des Rausches. Doppelt sind die Bakchen, nämlich lydische und thebanische, doppelt erscheint Dionysos, als theos und xenos, als Gott der Tragik und der Komik, doppelt sieht Pentheus, ehe er in seinen Untergang rennt: »Zwei Sonnen seh ich dort am Himmel, hier / Zwei Städte, zweimal Thebens Mauerring« (918–919). Was ist gleich an dem, was gleich aussieht, und was ist es nicht ? Mit schönen Dingen zieht der Gott, der betrügt, offenbar weil er betrügen muß, sein Opfer in einen Betrug. Und Pentheus läßt sich in den Betrug ziehen, weil er, verlockt vom Geheimnis, den Taten beiwohnen will, die er verabscheut. Ihn fasziniert, was er bekämpft. Bevor er Dionysos unterliegt, ist er bereits den eigenen Trieben unterlegen. Die von ihm gewählte Maske, die ihn verbergen soll, drückt doch zugleich sein Selbst aus. Sie ist das nach außen gestülpte Innenbild, das er von sich hat. In Pentheus steckt schon der Fremde, dem er sich angleicht; deshalb hat er diesem am Ende nichts entgegenzusetzen. So muß Dionysos, um das Ende herbeizuführen, nur Pentheus’ dionysische Züge aus diesem herauskitzeln. Indem Pentheus sie aus sich herauskitzeln läßt, sorgt er dafür, daß er unterliegen wird, und meint doch, seine Überlegenheit zu etablieren. Intrigant, schlagfertig, dialektisch gewieft, in Kniffen (technais, 806) bewandert wie der Fremde ist er nicht. So will er sich dessen Schlauheit (sophos, 824) zunutze machen. Tragikomisch ist, daß einer, indem er eine List ins Werk setzt, überlistet (mēchana, 805) wird. Listen fallen durchaus in den Bereich menschlichen Machwerks. Die Komödie liebt Ränke. Da hier aber Pentheus’ List die List dessen ist, den er das Stück hindurch als Feind behandelte – festnehmen ließ, in den Kerker warf, mit dem Tod bedrohte –, liegt es in der Natur der Sache, daß diese List gegen ihn ausschlägt (sophos sophōs, 1190). Die Zweideutigkeit der Stichomythie läßt Buschors Übersetzung eher nur erahnen als erkennen. »P.: Aufdecken wollt ich ihren wüsten Rausch. / D.: Und dennoch heimlich dich daran erfreun ?« Lyprōs nin eisidoim’ an exōnōmenas (814): »Schmerzhaft wird es sein, wenn ich sie im Weinrausch sehe« – schmerzhaft für die Bakchen, weil Pentheus’ List die Zerschlagung ihres Kults vorbereitet. Das ist Pentheus’ bewußter Sinn. Der Zuschauer versteht die tragi94 | Ironie 

sche Ironie des Satzes: Für Pentheus wird es schmerzhaft werden, wenn er sich auf diese List einläßt. Homōs d’ idois an hēdeōs ha soi pikra; (815) »Zugleich soll dir das Schmerzliche, wenn du es siehst, Lust verschaffen ?« So fremd, wie er tut, kann dem Gott der Tragödie dieses merkwürdige Sehen nicht gewesen sein, denn so erleben Zuschauer die Tragödie: mit Lust das Schmerzvolle; ja schon Dionysos’ Kult setzt auf Lust und Schmerz zugleich. Den Doppelsinn des vorausgehenden, von Pentheus gesprochenen Verses (814) läßt Euripides in der Replik (815) subtil offen. Denn der Widerspruch, wenn es denn einer ist, zwischen dem Schmerzlichen (lypēron, pikron) und dem lustvoll (hēdeōs) Erlebten ergäbe sich sowohl, wenn Pentheus erfolgreich die Vernunft (noun, 252) wieder zur Geltung brächte, wie er angeblich allein es möchte, als auch, wenn sein Vorhaben scheiterte, wie es muß, da er seinen Widersacher zum Führer (agōmen, 819; pompos, 965) macht. Und zu dieser ebenso komischen wie tragischen Konstellation käme es nicht ohne Pentheus’ uneingestandenes und doch unverkennbares Begehren, erōs (813, vgl. 405). Das Verkleiden selbst transformiert dann endlich Pentheus’ Begehren des (vermeintlichen Dieners des) Dionysos in Identifikation. Schon tanaos, »lang« (831), wie Pentheus zuvor (455) halb verächtlich, halb bewundernd des Fremden Haar beschrieb, weist darauf. Am Ende der Verkleidungsszene müssen beide auf der Bühne vor einander stehen wie Spiegelbilder. Jean Paul wunderte sich in seiner Vorschule der Ästhetik, weshalb Dichter die »Verdopplung der Gestalt« bislang »nur komisch, nicht auch tragisch verwendet« hätten;39 Euripides hat es getan: beides zugleich. Und wie Spiegelbilder invertiert sind, stehen auch Pentheus und der Fremde spiegelverkehrt voreinander. Beide sind Betrüger – doch in der Komödie triumphiert die List, in der Tragödie scheitert die Täuschung: Euripides zieht dies in einen Vorgang. Auf der einen Seite ist hier zwar der Schein die Subversion der Wahrheit; es ist aber auch, auf der anderen Seite, die Wahrheit die Subversion des Scheins: Eine Verhüllung, künstlich hergestellt mit Stoff und Farbe, enthüllt endlich, was Pentheus längst wollte. In dieser Szene wird er, was er begehrte. Und damit wird er selbstverliebt. Pentheus spielt die Variante einer

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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, 113. Tod und Spiele: Euripides’ Bakchai | 95

Mythe durch, die sich schon im Original tragikomisch lesen läßt: der Geschichte von Narziß. D.: O Pentheus, gierig nach geheimer Schau Und allzu eifrig, wo kein Eifer ziemt, Tritt aus dem Haus und laß dich vor mir sehn, Im Weiberkleid, in der Mänaden Tracht, Spion der Mutter und der großen Schar. Nun gleichst du Kadmos’ Töchtern auf ein Haar. […] P.: Wie siehst du mich ? Hab ich nicht Inos Schritt Und nicht Agaues, meiner Mutter, Gang ? D.: Wenn ich dich sehe, stehen sie vor mir. Nur diese Locke hat sich vorgedrängt, Die ich der Binde kunstvoll eingefügt. (912–917, 925–929)

In komischer Weise ist Geschlecht hier gemacht, nicht gegeben. Pentheus übertreibt an sich die Weiblichkeit, die er früher an dem Fremden aus Lydien aggressiv verachtet hatte (thēlymorphon xenon, 353). Der Widerspruch wird komisch: Pentheus will Weiblichkeit nun auch kokett spielen (925–926), als Teilnehmerin am Bacchanal, obwohl der Zweck der Verkleidung doch ein Zuschauen (theatēs, 829; kataskopēn, 838) ohne Mitwirkung war. Der Widerspruch wird auch tragisch: Denn so wird Pentheus vom Schauenden zum Beschauten werden. Und zu diesem dramatischen Ende gilt es die Übertreibung seiner Rolle noch einmal zu forcieren. Euripides unterbricht die eben erst (ab 923) begonnene Distichomythie, in der sich Pentheus allzu selbstgefällig präsentiert (925–926); zwar schmeichelt ihm Dionysos (927), doch die irregulären drei Verse (927–929) markieren einen Einschnitt: die Zubereitung des Pentheus zu dem, was er für seinen Triumph hält und was seine Vernichtung wird, ist erst noch zu perfektionieren.40 D.: Da du mir schon den Kleiderdienst verliehst, Leg ich sie richtig. Hebe nur dein Haupt ! P.: Ich unterwerfe [anakeimestha] mich der klugen Hand.

Vgl. Seidensticker, Palintonos Harmonia, 123–126.

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D.: Der Gürtel sitzt nicht und der Faltensaum Liegt nicht, wie sichs gehört, am Knöchel an. P.: Nur diese Seite weist den Fehler auf, Links fällt der Mantel wohlgelegt herab. D.: Du hältst mich noch für deinen besten Freund [prōton philōn], Wenn du der Bacchen keusche Ordnung siehst. P.: Ganz will ich ihnen gleichen. Diesen Stab, Hebt ihn die rechte oder linke Hand ? D.: Die rechte Hand, mit deinem rechten Fuß ! Wie schön erfaßt dich die Begeisterung ! P.: O lüd ich des Kithairon Felsenhaupt Auf meine Schultern samt der Frauenschar ! D.: Du kannst es, wenn du willst. Nun ist dein Geist Von seiner Krankheit endlich ganz erwacht ! P.: Reiß ich den Gipfel mit dem Hebel los ? Mit nackter Hand ? Mit angestemmtem Arm ? D.: Da geht der Nymphen Sitz in Trümmer und Des Pan, der droben seine Röhren bläst. P.: Wohl wahr; so unterbleibe die Gewalt [ou sthenei nikēteon] Und ich verberge mich im dichten Tann. D.: Wie bald verbirgt [krypsē] dich die Verborgenheit [krypsin], Die jedem Späher der Mänaden ziemt ! P.: Schon seh ich sie wie Vögel in dem Nest In süßer Enge sich der andern freun. D.: Das ist dein hoher Auftrag und vielleicht Ertappst [lēpsē] du sie – bevor man dich ertappt [lēphtēs]. (932–960)

Dionysos sperrt Pentheus in eine Komik, die dieser nicht bemerkt: das ist seine Tragik. Das Begehren dessen, der da Felsengipfel stemmen will und die Auskunft erhält, er könne es auch, heißt, als komischer Zug benannt, Verschrobenheit, als tragischer Hybris (375: hybrin). Die tragikomische Ambiguität erzeugt sich aus einem Sprechen, das nicht lediglich gewitzt ist, sondern ironisch. Witz zehrt von Einfällen und springt von einem zum nächsten; die Ironie, etwa wenn Dionysos Pentheus seiner Kraft versichert, bleibt bei der Sache, die sie verkehrt. Die Sache umschreibt das Ziel, das Dionysos verfolgt: die Umkehrung des Verhältnisses von Jäger und Beute. In Tod und Spiele: Euripides’ Bakchai | 97

dem Vers »Ertappst [lēpsē] du sie – bevor man dich ertappt [lēphtēs]« (960) verdichtet Euripides das tragikomische Bild des verfolgten Verfolgers; es ist zugleich das Bild des als Sittenwächter (phylax, 959) drapierten Voyeurs (957–958). Daß einer das eine meint, der andere das andere und die Zuhörer beiderlei Sinn zugleich erkennen, ist für sie gerade noch komisch – je klarer ihnen der zweite, dem Pentheus verborgene Sinn wird, desto weniger. So zerfällt im Vexieren der Worte bereits die Komik; am Ende der Tragödie wird nichts von ihr geblieben sein. Der Übergang vollzieht sich so, daß jede Formulierung furchtbarsten (deinotatos, 861) Hintersinn annimmt, der Erlöser (sōtērios, 965) wird sich als Vernichter erweisen, der siegreiche Einzug mit der Mutter (966), an ihrer Hand (chersi, 969), als ihr Tragen (pheromenos, 968) des abgerissenen Hauptes auf dem Thyrsos, das Unübersehbare des Triumphs (episēmon onta pasin, 967) als das Sichaufdrängende des Schreckens, tryphan (969), der Jubel, eher Prunk, als tryphos (von thryptō), Bruchstück, Trümmer. Die Zweideutigkeit ballt die folgende Passage in der Verwendung des Wortes deinos, das ›ehrwürdig‹ und ›furchtbar‹ bedeuten kann, was vielleicht am ehesten das deutsche Wort ›gewaltig‹ einfängt: deinos sy deinos kapi dein’ erchē pathē (971), »Gewaltig bist du, bist gewaltig; Gewaltiges erfährst du«. P.: O führe mitten mich durch Thebens Stadt ! Ich bin der einzige, der solches wagt. D.: Nur du nimmst alles für die Stadt auf dich Und kämpfst den Kampf, der dir allein bestimmt. So folge mir, ich führe dich zum Glück [sōtērios], Doch heimwärts bringt dich … P.: … meiner Mutter Hand ! D.: Vor aller Augen ! P.: O ersehntes Ziel ! D.: Du wirst getragen … P.: Stolzer Augenblick ! D.: Von Mutters Händen ! P.: Man umjubelt mich ! D.: O, diesen Jubel … P.: … hab ich mir verdient. 98 | Ironie 

D.: Gewaltig bist du, bist gewaltig; Gewaltiges erfährst du, Und ziehst die Sterne auf dein stolzes Haupt. – Agaue, streck die Hände aus, und ihr, Des Kadmos andre Töchter ! Diesen Mann Führ ich zum Kampf. Doch Sieger bleib ich selbst Und Bromios – und bald wird es enthüllt. (961–976)

Talla d’ auto sēmanei (976). Sēmainein heißt: ein Zeichen geben. Ein Zeichen wofür ? Nicht für die Gerechtigkeit, denn Dionysos, obschon er die dikē (847) im Mund führt, ist Streitpartei; Zeus allein könnte richten, den Dionysos indes stets nur als seinen Vater ins Spiel bringt, nie als Hüter der Gerechtigkeit. Nicht für die Vernunft, denn obschon Dionysos sie (logon, 940) dem bakchischen Treiben nachsagt, manifestiert es sich als Wahnsinn (mania, 305) und Raserei (oistroisi, 665). Nicht für die Wahrheit, denn Dionysos’ Strategie Pentheus gegenüber beruht von der ersten Begegnung bis zu dessen Tod auf Täuschung. Getäuscht, hat dieser sich im Spiel der Macht verspielt, nicht auf Dionysos als »Mitkämpfer« (symmachon, 1343) gesetzt – das ist alles. Pentheus’ Vernichtung beweist endlich nichts weiter als die brutale Gewalt des Gottes, inszeniert als irrer Witz; ihre Brutalität besiegelt, daß Pentheus zuletzt auf Gewalt verzichtet hatte (ou sthenei nikēteon, 953). Vom »Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt«, 41 in dem Hegel den Sinn der Gattung erblickte, bieten Euripides’ Bakchai nichts. Allerdings wird in dem Satz, der das sēmainon, das Siegeszeichen, ankündigt, die täuschende Unterscheidung zwischen Dionysos und dem Fremden kurz aufgehoben (ab 1047, auf das letzte Gefecht bezogen, ist wieder vom xenos die Rede). Bisher hatte der Fremde den Schein selbst da gewahrt, wo er ihn strapazierte: »Was du mir tust, das hast du ihm [dem Dionysos] getan« (518). In gleicher Manier heißt es hier noch: »ich selbst und Bromios« (dies ist ein anderer Name des Dionysos) (975–976), als seien sie zwei. Aber eingerahmt sind diese Worte von der Wendung ho nikēson […] estai, »der Sieger […] wird sein« (975–976) – den Schein der Zweiheit hebt die grammatische Einzahl auf. Sie kann es, denn Pentheus Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, 526.

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hört diese Worte nicht mehr. Daß der Schein vor der Schlußszene unterbrochen wird, macht ihn dem Zuschauer erst recht bewußt. Dionysos und Pentheus stehen in dieser Tragödie einander gegenüber als eirōn und alazōn, das klassische Gegensatzpaar der griechischen Komödie. Der eirōn ist der Überlegene, der sich kleiner darstellt, als er ist, wie der Gott als Diener, der alazōn hingegen der Unterlegene, der sich größer darstellt, als er ist, 42 der Angeber, der etwa, wie Pentheus, faselt, er könne Berge versetzen (945–946, 949–950). Dieser ist starr, fixiert auf den Superlativ, jener hingegen »elastisch wie Gummi oder schlüpfrig wie Oel«43. Eirōneia heißt der Schein, der sich in Worten um ein Sein legt. Ist sie Ironie ? Unter dem Aspekt des Ziels scheint sie das Gegenteil zu sein. Der Fremde lügt Pentheus an. Seine eirōneia funktioniert, solange der König sie nicht durchschaut. Wer hingegen ironische Bemerkungen macht, will, daß die Ironie bemerkt werde. Deshalb wird Ironie in der Rede markiert – auf unterschiedliche Weise. Wenn Jonathan Swift einen Modest Proposal vorbringt und Regierungen diesen aufgreifen, hat er offenbar etwas falsch gemacht. Allerdings spricht mit dem, was der Fremde als eirōn zu Pentheus sagt, nicht nur der eine Protagonist des Dramas mit dem anderen, sondern auch Euripides mit dem Publikum. Und insofern ist die eirōneia doch Ironie: Sie soll in einem Sinn jenseits des wörtlichen verstanden werden. Ja selbst vom Fremden zu Pentheus gesprochen sind die Äußerungen der eirōneia nicht einfach Lügen, sondern, eigentümlich raffiniert, wohldosierte Wahrheiten, eingelassen in einen umfassenden Trug. Da Dionysos den Pentheus so erfolgreich in die Lüge eingewickelt hat, er sei nur ein Diener Gottes, kann er sicher sein, daß solche Wahrheiten, seine – freilich doppeldeutigen – Hinweise auf die Gegenwart des Gottes, selbst noch die Wahrheit verschleiern. Der Fremde betrog die ganze Zeit schon mit der Wahrheit. D.: Und welche Strafe hast du mir bestimmt ? P.: Als erstes nehm ich dir die Lockenpracht. D.: Sie ist dem Gotte [tō theō] heilig und geweiht. Locus classicus: Aristoteles, Ēthika Nikomacheia 1127a20–23. Ribbeck, ›Ueber den Begriff des eirōn‹, 382.

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P.: So übergib mir diesen Thyrsosstab ! D.: Er ist des Gottes [Dionysou] ! Raube ihn dir selbst ! P.: Dann wirft man dich ins dunkle Kerkerloch ! D.: Wenn ich ihn rufe, macht der Gott [ho daimōn] mich frei. P.: Da mußt du erst bei seinen Bacchen sein. D.: Von nahem sieht er alles, was geschieht. P.: Wo ist er ? Meine Augen sehn ihn nicht. (492–501)44

»Mischung« – »blending of tragic pathos and comic elements«45 – ist ein bequem greifbares Bild für Euripides’ Kunst in seiner letzten Tragödie. Bilder sind manchmal unvermeidlich in der Rede von Kunst; aber in einem Fall wie dem der Bakchai bedarf es statt bequem – und zu bequem – greifbarer Bilder vielmehr geeigneter Begriffe für eine Antwort auf die Frage, die allenfalls das Kunstwerk aufzuschließen verspricht: Wie ist es gemacht ? Geeignete Begriffe sind manchmal diejenigen des Künstlers oder jedenfalls seiner Zeit, manchmal andere. Ein Fall der letzteren Art ist hier der Begriff der Ironie. Otto Ribbeck, in seiner klassischen Studie, nennt ihn »proteusartig«46 . Der antike und der moderne Begriff der Ironie überschneiden sich zwar, aber sie decken sich nicht. Es gibt moderne Begriffe, die antike Sachverhalte eher verschleiern oder verzerren; ein Aufschluß gebendes Werkzeug im Umgang mit antiken Texten ist der moderne, aber an der klassischen Tragödie entwickelte Begriff der dramatischen Ironie. 47 Oidipous, in Sophokles’ Oidipous tyrannos, tut alles, damit das Orakel nicht wahr wird, und sorgt so dafür, daß es wahr wird.48 Das ist ein Fall der Die klassische Ironie der Umkehrung findet sich in diesem Wortwechsel nur in Vers 492, der wörtlich übersetzt etwa lauten würde: »Sag, was ich erleiden muß. Was an Furchtbarem willst du mir antun ?« Der verhüllte Sinn ist, daß Pentheus Schreckliches erleiden wird. Nach diesem Vers wechselt Dionysos in die raffiniertere Ironie: die Ironie der Wahrheit. 45 Gakopoulo, ›Euripides’ Bacchae: The End of an Era or the Beginning of a New One ?‹, 174. 46 Ribbeck, ›Ueber den Begriff des eirōn‹, 400. 47 Vgl. Thirlwall, ›On the Irony of Sophocles‹; zu Thirlwall und seinen deutschen Quellen Goldhill, Sophocles and the Language of Tragedy, 253–256. 48 Dies bezeichnet Simon Goldhill als »the heart of Sophocles’ tragic perspective«: »humans, in their pursuit of knowledge, their attempts to change things, their hope to escape from the narratives in which they find themselves 44

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sogenannten tragischen Ironie: sie steckt in den Verhältnissen gegenüber dem Protagonisten; es gibt keine dramatis figurae, die mit ironischen Bemerkungen über Oidipous spotten. Daß ein Akteur den anderen ironisch behandelt, also zum Narren hält, ist gängig in der Komödie – und heißt »komische Ironie«. 49 Den Verdacht, daß einer ironisch redet, kleidet man auch in die Frage, ob das, was er sagte, ernst gemeint war; so kommt die Ironie in Berührung mit dem Unernsten. Wenn Trygaios, der Protagonist von Aristophanes’ Eirēnē, zu Kleonymos’ Sohn sagt, dessen Vater sei »weise« oder »besonnen« (sōphrōn) (1279) gewesen, dann hält er ihn zum Narren und bei Laune – der Sohn soll hier ein Lied zugunsten des Friedens singen –; die Charakterisierung ist sowohl eirōneia – verschleiernd nämlich dem Sohn gegenüber – als auch Ironie: Der Chor ist im Bilde, daß Trygaios den Kleonymos – eine bevorzugte Zielscheibe Aristophanischen Spottes50 – als Feigling durchschaut hat (446). Was dem einen verdeckt bleibt, liegt dem anderen offen zutage.51 Oidipous hält keiner zum Narren. Er ist verblendet. Der Mörder des Laios fahndet nach dem Mörder des Laios. Daß Oidipous, indem er seinem Verhängnis zu entfliehen sucht, es heraufbeschwört, weiß zunächst niemand im Theater als die Zuschauer, die den Mythos kennen; als Teiresias es durchschaut, sagt er dem König un­ enmeshed, are relentlessly and with grim irony drawn back into disaster at every turn« (Sophocles and the Language of Tragedy, 15; vgl. aber auch 26–37, 250–251). 49 Müller, ›Ironie, Lustspiel, Aristophanes‹, bes. 177, 181. Der hier vorgeschlagene Wortgebrauch ist nicht die einzige Weise, in der die Ausdrücke verwendet werden. Bei manchen Autoren heißt komisch, im Gegensatz zu tragisch, diejenige Ironie, die in ein Happy-End mündet, so z. B. Knox, ›On the Classification of Ironies‹, 53: »The term ›comic irony‹ […] should be reserved for that aspect, the reverse of the tragic, in which the appearance of desaster resolves in the reality of good fortune.« Da aber Tragödien nicht immer ins Desaster führen und Komödien nicht immer in den glücklichen Ausgang, ist es ungeschickt, die Bedeutungen so festlegen zu wollen. 50 Acharnēs, 88, 844; Hippeis, 958, 1294, 1372; Nephelai, 353, 400, 673–675, 680; Sphēkes, 19, 20, 822; Ornithes, 289–290, 1475; Thesmophoriazousai, 605. 51 Das entspricht der Definition von Ironie in Fowler, A Dictionary of Modern English Usage, 305: »Irony is a form of utterance that postulates a double audience, consisting of one party that hearing shall hear and shall not understand, and another party that, when more is meant than meets the ear, is aware of that more and of the outsiders’ incomprehension.« 102 | Ironie 

ironisch die furchtbare Wahrheit ins Gesicht 52 . Ungeachtet dieses Unterschieds sind tragische wie komische Ironie Formen der Zweideutigkeit. Oidipous deutet sein eigenes Tun als Rettung vor dem ihm Prophezeiten, während die Zuschauer dasselbe Tun richtig als dessen Erfüllung deuten. Trygaios nennt Kleonymos »den Besten an seelischer Kraft« (psychēn g’ aristos) (675) und meint, wie aus seiner Erläuterung (676–678) hervorgeht: eine Memme. Dort, bei Sophokles, stehen die gegebenen Verhältnisse und das Bild, das der tragische Held sich von ihnen macht, einander gegenüber, hier, bei Aristophanes, das figürliche und das wörtliche Verstehen dessen, was der komische Held sagt. Nach Albert Cook vollzieht Euripides in Bakchai »the seemingly impossible fusion of grim tragic event and broad comedy throughout the action«53. Verschmelzung – denn das bedeutet »fusion« ja – ist ein vages Wort für das, was sich im Text vollzieht. Die beiden Seiten werden genau auf einander bezogen. Wie geschieht das ? In der tragischen Ironie – der Ironie des Schicksals – erscheint ein Mißverhältnis zwischen Absicht und Ergebnis des Handelns. Sie ist der komischen Ironie – der Ironie der Worte – nicht ganz unverwandt, insofern auch in dieser etwas Tatsächliches, hier das Gesagte, und etwas Intendiertes, hier die gemeinte Bedeutung, auseinanderfallen. Ironie erhält bei Euripides die Rolle des Dritten, das zwischen Komik und Tragik vermittelt. Tragische Ironie heißt: Ein Geschick vollzieht sich so, daß dessen Opfer unwissentlich an dessen Vollzug mitwirkt; komische Ironie heißt: Jemand wird von einem anderen – momentan oder fortdauernd – zum Narren gehalten. Einerseits ist Pentheus ein zweiter Oidipous. Von jedem der beiden thebanischen Könige gilt: Was er tut, erzeugt, was er erleidet. Diese Ironie der Verhältnisse ist schon in Kraft, bevor Pen­ theus des Fremden ansichtig geworden ist. Indem er den Führer der Bakchen gefangen nehmen läßt, macht er sich zu dessen Gefangenen. Tragische Ironie gründet in den Verhältnissen und wird nicht erst von einem, der überredet, in Worten gesetzt. Doch um sich über die Verhältnisse zu täuschen, muß einer sie sich schon in einer bestimmten Weise zurechtgelegt haben. Thebens König, Sophokles, Oidipous tyrannos, 413–419. Cook, Enactment: Greek Tragedy, 132.

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ehe der Fremde mit ihm geredet, geschweige denn ihn überredet hat, stolpert bereits durch Verhältnisse, die er mißversteht, weil er sich nach Männerphantasien (222–225, 236–237, 686–688) und unter schiefen Etiketten wie ›krank‹ (die anderen) und ›gesund‹ (er selbst) (262) etwas über ihre Beschaffenheit vormacht. Dies sind seine willkürlichen Setzungen. Mit Gewalt durchzusetzen (226– 232, 239–247) sucht Pentheus diese ja nur, weil sie eben nicht in der Natur der Dinge gegeben sind. Von dem Moment an aber, da der Fremde vor ihm steht (434), hält dieser Pentheus durchweg so zum Narren, daß er ein solcher, lächerlich in seiner Eitelkeit, wird. Eben damit besiegelt er sein Schicksal: Komische und tragische Ironie greifen in einander. Wird mit Frege zwischen Sinn und Bedeutung unterschieden, 54 dann erwächst Komik in Euripides’ letzter Tragödie aus dem Sinn, den Pentheus den Worten beilegt. Diesen Beitrag leistet er unfreiwillig, von einer Illusion über sich in die nächste purzelnd. Je gründlicher er sich dabei verheddert, desto freier fühlt er sich auf dem Weg in den Triumph. Sein frohes Fantasieren schafft den komischen Sinn; sein Wunsch ist dessen Vater. Er, Pentheus, sei – was in Buschors Übersetzung untergeht – der einzige richtige Mann (monos anēr, 962) in der Stadt, einer mit Mut zum Wagnis (tolmōn), redet dieser alazōn sich ein und sucht es seinem Gegenüber einzureden eben in dem Moment, da er seinen Ausflug in die Weiblichkeit, den er zunächst aus Vorsicht, nämlich zur Tarnung unternommen hat, bis zur Koketterie auskostet. Dionysos aber kennt die Bedeutung der Worte, und sie ist es, die das Drama zur Tragödie macht. Die Bedeutung gründet in der Wirklichkeit, die sich in diesem Moment vorbereitet. Die Hände derer, die Pentheus zerreißen werden, üben sich bereits auf dem Kithairon im Jagen. In diesem tragischen Bereich walten die ehernen Gesetze einer so noch gar nicht formulierten Ontologie: »Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz. Die Sache ist, eh sie existirt«55. Aber dies Wesen der Dinge ist abhängig von den Arrange­ments, die der Gott getroffen hat. Dionysos weiß, daß die Bedingungen vorhanden sind, denn er hat sie, einerseits in Gestalt Frege, ›Über Sinn und Bedeutung‹. Hegel, Wissenschaft der Logik I, 321.

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seines Kults, andererseits durch Manipulation des Pentheus, gesetzt.56 Insofern ist auch nicht einfach der eirōn, Dionysos, da er mit Worten spielt, der Quell der Komik, und der alazōn, Pentheus, da er untergeht, der Quell der Tragik. Keine der beiden Qualitäten läßt sich in Euripides’ Tragödie einer Gestalt des Dramas zurechnen. Anders gesagt: Es gibt nicht die komische oder die tragische Figur. Die Konstellation zwischen ihnen ist tragisch und komisch – in diesen Qualitäten keineswegs ununterscheidbar, doch untrennbar und insofern tragikomisch. Tragikomik ist nicht das letzte Wort des Dramas, sondern das vorvorletzte. Sein letztes ist die Theophanie (1330–1392). In ihr soll sich die Machtvollkommenheit des Dionysos manifestieren. Das vorletzte Wort der Bakchai des Euripides, das qualvolle Zerfleischen des Pentheus (977–1329), hat indes die Theophanie vorab ins Zwielicht gesetzt. Dionysos’ Vater Zeus, auf den er sich beruft (1349), kann vernichten – Torturen sind nicht sein Fach. Grausamkeit verrät, daß Souveränität mangelt. Das ist nicht im mindesten komisch. Doch Euripides macht auf diese Weise den tragischen Gott zu einer so fragwürdigen Gestalt wie sonst nur Aristophanes, in Batrachoi, mit Mitteln der Komik.

Susanetti, ›The Bacchae: Manipulation and Destruction‹.

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»The trick of singularity« Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance

1  Das antike Theater war eines der Masken; das neuzeitliche ist

eines der Gesichter. Dieser Wandel gehört in die Geschichte des Selbst beziehungsweise in die Geschichte der Vorstellungen vom Selbst: Beides ist einerseits nicht gleichzusetzen, andererseits nicht zu trennen. Was aber macht ein Selbst aus ? Jeder und jede sieht selbst die Welt, mit den eigenen Augen. Ihre Augen können sie sehen, im Spiegel, aber das jeweilige Selbst, das mit ihnen sieht, können sie nicht sehen. Nichts scheint naheliegender und selbstverständlicher als das Selbst, und nichts erweist sich als weniger greifbar. Jedenfalls ist ein Selbst nichts von der Art etwa eines Granitblocks: ein Ding, dem einfach anzusehen wäre, was es ist – sofern man sich mit Dingen dieser Art auskennt. Ein Leichnam mag von außen betrachtet ununterscheidbar sein von einem lebendigen Menschen, der sich totstellt: doch dieser ist sich seiner bewußt, jener nicht. Für eine Kennzeichnung als Selbst – nicht für Selbstsein – ist das Reflexivpronomen der entscheidende sprachliche Ausdruck:1 Zu einem Selbst gehört, daß es sich in einer bestimmten Weise als ein solches sieht. Es muß aber weder über das Reflexivpronomen noch allgemein über eine Wortsprache verfügen. Wenn ein Schimpanse sich im Spiegel erkennt, 2 ist das Grund genug, ihn als ein Selbst zu charakterisieren, nicht aber den Granitblock, der auf der gleichen Oberfläche gespiegelt erscheinen mag. Eine solche abstrakte Charakterisierung von Selbstsein ist auf höhere Tiere und Menschen anwendbar. Bei Tieren bleibt sie unhistorisch, nicht aber bei Menschen. Wie kommt mit Blick auf das Selbst Geschichte ins Spiel ?

Vgl. aber Jeremiah, The Emergence of Reflexivity, 15–18. Vgl. Lin, Bard u. Anderson, ›Development of Self-Recognition in Chimpanzees‹. 1 2

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2  Der Ausdruck ›Selbst‹ gehört in ein Ensemble älterer und neue-

rer Ausdrücke, die sich in ihrem Sinn berühren, aber nicht zusammenfallen: das nominalisierte Personalpronomen ›Ich‹, ferner ›Person‹, ›Subjekt‹, ›Individuum‹. Was eines schien (¶ 1), fächert sich so gleichsam auf. Es bleibt nicht bei der Feststellung, daß sich jemand als ein Selbst versteht, und kommt zu der Frage, in welchem Sinne sich so jemand als ein Selbst versteht. Ein solcher Sinn stellt dasjenige dar, was eben nicht ein für allemal gegeben, sondern erzeugt ist; als erzeugter wandelt er sich im Lauf der Geschichte.3 Ein achaiischer Held, etwa Achilleus, verstand sich nicht im gleichen Sinne als ein Selbst4 wie ein deutscher Beamter des 21. Jahrhunderts. Möglicherweise ist das Maß, in dem sich der Sinn des Selbstseins wandeln kann, begrenzt. Doch auch Grenzen dieses Maßes wären nicht von vornherein gegeben; wo sie verlaufen, würde sich allenfalls erweisen im Lauf der Geschichte. 3  Das Wort ›ich‹ gibt, und gibt es nur, innerhalb des Systems der

Personalpronomina. So gibt es auch ein Ich (¶ 2) nur gegenüber dir, gegenüber ihm oder ihr, gegenüber uns, euch oder ihnen. Die sogenannte erste Person, das Ich, das auf die Welt kommt, lernt von den zweiten und dritten Personen, die schon auf der Welt sind, von dir, von ihm oder ihr, von uns, euch und ihnen, ›ich‹ zu sagen und als ein Ich aufzutreten. Und diese haben es ihrerseits so gelernt. Als Ich aufzutreten heißt allerdings, sich zu sich selbst zu verhalten (¶ 1); aber wer sich so zu sich selbst verhält, tut dies, indem er oder sie eine Rolle anderen gegenüber einnimmt. Den Sinn, in dem sich jemand als ein Selbst versteht (¶ 2), schafft nicht das einzelne Selbst. Was es heißt, ein Selbst zu sein, umreißen solche allgemeinen Ordnungen wie Religion, Recht und Ökonomie; weil und insofern derartige Ordnungen sich verändern, verändern sie auch jenen Sinn. Denn sie brauchen, zum Beispiel, das Geschöpf Gottes oder den Sünder oder einen, der haftbar zu machen ist, oder den Eigentümer. Instanzen wie Religion, Recht und Ökonomie bieten nicht etwa interessante Theorien des Selbst an, das, als lediglich ein Gegenstand Vgl. Kap. ›Dionysos’ Duplicitas‹, ¶¶ 2–3, über Tragik und Komik. Vgl. dazu Snell, Die Entdeckung des Geistes, 35–36. Zur Frage, ob mit Blick auf antike Texte überhaupt vom ›Selbst‹ die Rede sein kann, vgl. Stang, Our Divine Double, 10. 3 4

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dieser Theorien, von diesen so unberührt bliebe wie der Granitblock (¶ 1) vom Erscheinen neuer Schriften zur Gesteinskunde. Von bloßen Theorien unterscheidet jene Instanzen ihre Macht. Kraft ihrer werden sie, metaphorisch gesprochen, zu Quellen von – beides ist unablösbar – Selbst und Selbstverständnis. Charles Taylors Sources of the Self, das die Metapher der Quelle im Titel führt, laboriert exemplarisch an Fehlanzeige in puncto Macht. Daß Taylor kanonische Texte erörtert, ist ihm nicht vorzuhalten; die Zitate, die Taylor aus ihnen anführt, zeigen, daß sie unübertroffen sind in der Artikulation des Selbst. Doch wenn »Power« ihm nicht einmal ein Stichwort im Register zwischen »Post-Schopenhauerian thought« und »Prescriptivism« wert war, 5 dann ist Taylors Geschichte des Selbst zu schön, um wahr zu sein. 4  Das Nomen Person (¶ 2) leitet sich von persona her, der lateini-

schen Übersetzung der griechischen Wörter prosōpeion und pro­ sōpon, ›das, was sich vor dem Gesicht befindet‹6 – in klassischer Zeit Bezeichnungen der tragischen7 oder komischen8 Theatermaske. Die griechischen Wörter und das lateinische Wort sind sprachlich nicht verwandt; möglicherweise geht persona auf φersu zurück, den etruskischen Ausdruck für ›Maske‹.9 Die Erklärung von persona durch per und sonare, ›durch eine Maske hindurchtönen‹ mag etymologisch unzutreffend sein; aber daß sie bereits in der Antike versucht wurde, ist für ihren älteren Sinn aufschlußreich. Masken haben freilich ihren Ursprung nicht im Theater, sondern in religiösen Zeremonien, in Kulten der Ahnenwelt.10 Und sie stehen in diesen immer für etwas Allgemeines: modern gesprochen also gerade für das Unpersönliche. Dies schreibt sich in den Bereich des Theaters hinein und über diesen hinaus fort. Das von den Griechen für den Taylor, Sources of the Self, 599. Die Präposition pros bedeutet mit Genetiv ›von … her‹, mit Akkusativ umgekehrt ›auf … zu‹; hier ist sie dativisch zu denken: ›vor‹ oder ›an‹. 7 Calame, ›Facing Otherness‹; Wiles, Mask and Performance in Greek Tragedy. 8 Webster, The Masks of Greek Comedy; Hughes, ›The Masks of Comedy‹; Totaro, ›Masks and Power in Old Greek Comedy‹. 9 Auf einem Grabfresko der Tomba degli auguri in Tarquinia ist das etruskische Wort einer maskierten Figur beigeschrieben; Vetter, Art. ›Phersu‹. 10 Flower, Ancestor Masks. 5 6

Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 109

Bereich des Theaters adaptierte Konzept übertrugen die Römer in die Sphäre des Rechts.11 Die römische Republik machte die Person zum Träger von Rechten und Pflichten, zum Adressaten des Gesetzes, zum Staatsbürger. Erwärmen konnte sich an einer solchen Figur allerdings keiner. Mildere Luft strömte auch erst aus einer anderen Himmelsrichtung ein: von Südost. 5 Der Person, dieser zuvor abstrakten Figur (¶ 4), verlieh das

Christentum inneres Leben, moralisches Bewußtsein, Gewissen. Augustinus’ Confessiones, an der Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert verfaßt, sind das exemplarische Porträt eines solchen Selbst. Hier ist nicht mehr ein bestimmter Kreis von Menschen als Personen bestimmt, weil die staatliche Gewalt ihnen Ansprüche konzedierte und sie unter Obligationen stellte; vielmehr ist jeder Mensch Person, da Gott selbst Person ist12 und selbst das Bild war, nach dem er jenen schuf. Nicht die wechselseitige Anerkennung von Inhabern bestimmter Rechte ist der Weg, der zu beschreiten ist, sondern eine Wendung ins Innere: Et inde admonitus redire ad memet ipsum, intravi in intima mea duce te, et potui, quoniam ›factus es adiutor meus‹. intravi et vidi qualicumque oculo animae meae supra eundem oculum animae meae, supra mentem meam, lucem incommutabilem. Hierdurch gemahnt, zu mir selbst zurückzukehren, trat ich, geführt von dir, in mein Innerstes ein. Ich vermochte es, denn ›du warst mein Helfer‹. Ich trat ein und sah mit dem Auge meiner Seele, so schwach es war, über diesem meinem Seelenauge, über meinem Geiste ein unwandelbares Licht.13

Zum Selbst führt keine Emanzipation, sondern, im Gegenteil, ein in manum dare, ein vorbehaltloses Sich-in-die-Hand-Gottes-­ Geben: duce te. Augustinus blickt in sich und erblickt dort den, der ihn allererst hat blicken lassen: seinen Herrn. Oder umgekehrt: Er Albanese, Le persone nel diritto privato romano. Schlossmann, Persona und prosōpon. Zu den Komplikationen einer solchen Auffassung Ayres, Augustine and the Trinity, 77, 79–82, 217–220, 231–233. 13 Augustinus, Confessiones, 7.16, 290–291. 11

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erblickt sich in Gott. Konjunktiv und Frage zeigen ein Suchen nach Worten an, die treffen, was hier vorliegt: non ergo essem, deus meus, non omnino essem, nisi esses in me. an potius non essem nisi essem in te, ›ex quo omnia, per quem omnia, in quo omnia‹ ? Ich könnte nicht sein, mein Gott, ganz und gar nicht, wärst du nicht in mir. Oder ist’s nicht vielmehr so: ich könnte nicht sein, wäre ich nicht in dir, ›aus dem alles, durch den alles, in dem alles ist‹ ?14

Wenn dieser Vorgang einerseits nicht einfach Freisetzung des Individuums bedeutet, so andererseits auch nicht einfach Rückkehr zur Religion, den kultischen Ursprüngen der ›Person‹. Denn dieser Ausgangspunkt war das Ritual gewesen, in dem es auf die Maske ankam, nicht auf den, der sie trug. Christlich verstanden ist die Person vielmehr Seele15 und als solche unvertretbar, unersetzlich. »Das Individuum, das Gottes Kind ist, darf sich als unendlich wertvoll betrachten«, formuliert Ernst Troeltsch.16 Unersetzlich ist streng genommen nur das Einmalige. Eine Schraube ist eben darum ersetzbar, weil es tausende andere gibt, die als Mittel den gleichen Zweck erfüllen. Christliche Seelen sind nicht wie solche Schrauben. Insofern setzte das Christentum aufs Individuum. Aber was diesem die Heilsperspektive eröffnet, ist dann doch wieder etwas, das es mit allen gemeinsam haben soll: der wahre Glaube und eventuell, je nach Dogma, in allgemeinen Geboten bestimmte gute Werke. Insofern setzte das Christentum auch wieder nicht aufs Individuum; mit aller Konsequenz auf dieses zu setzen erforderte, sich – verdeckt oder offen – im entscheidenden Punkt vom Christentum abzusetzen. 6  Den ›unendlichen Wert‹, den das Christentum jedem einzelnen

zugesprochen hatte (¶ 5), säkularisierte die Renaissance. Der Gedanke der Einmaligkeit, auf die hin sich das exponierte Individuum Augustinus, Confessiones, 1.2, 10–11. Das Schriftzitat ist 1. Kor. 8.6. Das Selbst als Seele aufzufassen, war unter christlichen Voraussetzungen aber keine leichte Sache; vgl. Walker Bynum, The Resurrection of the Body, 10–11, 259, 262, 302, 305, 318–319. 16 Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 39. 14

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des neuen Zeitalters stilisierte, überantwortete, was zuvor Gott geschuldet war, dem Individuum selbst – richtiger: ausgewählten Individuen. Dies ist der Sinn von Iagos Formel »’Tis in ourselves that we are thus or thus«,17 »Es liegt an uns selbst, so oder so zu sein«. So spricht kein ›Kind Gottes‹ (¶ 5). Iagos Satz ist die Formel einer Emanzipation. Daß er dem Bösen in den Mund gelegt ist, diskreditiert die Formel nicht. Das Freiwerden muß eines sein zum Guten und Schlimmen. Gäbe es eine Macht, die das Werden von vornherein aufs Gutsein festlegte, dann wäre es kein Freiwerden. Deshalb hat es mit dem Wandel der Autorschaft – das Selbst als Autor seiner selbst statt als Kind Gottes – auch nicht sein Bewenden. Es wandelt sich das, wodurch einer jeweils einzig ist. Der Fromme, der sich dem Heil seiner Seele widmete, wandte sich dem zu, was ewig an ihm ist. Montaigne hingegen, der im Geist der neuen Zeit von sich spricht, erblickt, wenn er »in sich« (»dedans moy«) schaut,18 nur Wandel. Seine Essais sind das fixierte Werk über einen Gegenstand – Montaignes partikulares Selbst –, der sich nicht festhalten läßt.19 Dann aber kann sich das neue Selbst auch nuancierter verstehen als in Iagos Formel. Die Veränderung faßt Montaigne nämlich aktiv und passiv zugleich auf: Ebensosehr forme er sich, wie er geformt wird. Je le [sc.: mon object] prens en ce poinct, comme il est, en l’instant que je m’amuse à luy. Je ne peinds pas l’estre, je peinds le passage: non un passage d’aage en autre, ou, comme dict le peuple, de sept en sept ans, mais de jour en jour, de minute en minute. Il faut accommoder mon histoire à l’heure. Je pourray tantost changer, non de fortune seulement, mais aussi d’intention: C’est un contrerolle de divers et muables accidens et d’imaginations irresolues, et quand il y eschet, contraires: soit que je sois autre moy-mesme, soit que je saisisse les subjects, par autres circonstances, et considerations.20 Shakespeare, Othello, 1.3.313, 91. Die Behauptung ist nicht zu verwechseln mit einem stoischen Appell, Selbstbeherrschung zu üben, denn deren Grund wäre die Tugend; sie weist Iago unmittelbar zuvor zurück: »Virtue ? A fig !« (1.3.313, 91). 18 Montaigne, Les Essais, II.17, 697. Shakespeare, von dem im folgenden die Rede sein wird, las Montaigne in John Florios 1603 erschienener Übersetzung. 19 Vgl. dazu allgemeiner Greene, ›The Flexibility of the Self‹. 20 Montaigne, Les Essais, III.2, 845. Gerade der Erkenntnis der tatsächlichen Inkonstanz von Selbst und Welt verdankt die Constantia als moralisches Kor17

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Ich ergreife ihn [sc.: meinen Gegenstand] in diesem Zustand, wie er ist, in dem Augenblick, in dem ich mich mit ihm beschäftige. Ich zeige nicht das Sein, ich zeige den Übergang; nicht einen Übergang von einem Alter zum andern, oder, wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von Minute zu Minute. Ich muß meine Erzählung nach der Stunde richten. Ich könnte alsbald ein anderer werden, nicht nur äußerlich, sondern auch anderen Sinnes. Es ist eine Aufzeichnung verschiedener und veränderlicher Zufälle, unbestimmter, und, wenn es sich trifft, auch gegensätzlicher Einfälle: sei es, daß ich selber anders geworden bin, sei es, daß ich die Dinge unter andern Umständen und anderem Winkel betrachte.21

Allerdings widerspricht Montaigne dem, wenn er sein Selbst etwas später in diesem Essay als ein relativ beständiges Wesen, eine forme maistresse, beschreibt: Il n’est personne, s’il s’escoute, qui ne descouvre en soy, une forme sienne, une forme maistresse, qui lucte contre l’institution: et contre la tempeste des passions, qui luy sont contraires. De moy, je ne me sens gueres agiter par secousse: je me trouve quasi tousjours en ma place, comme font les corps lourds et poisans.22 [D]a ist niemand, wenn er auf sich horcht, der nicht in sich eine ihm eigene Form entdeckte, eine Grundform, die gegen die Erziehung und gegen den Ansturm der Einwirkungen ankämpft, die ihr entgegenstehen. Ich für mein Teil fühle mich kaum je von Erregungen hin und her gerissen, ich finde mich fast immer an meinem Platz, wie es mit schweren und plumpen Körpern der Fall zu sein pflegt.23

Aber dieser Widerspruch bestätigt nur die erste Aussage: Montaigne sagt wirklich über alle möglichen Gegenstände, auch über den seines Selbst, in einem Moment das eine und im anderen Morektiv (Lipsius, De Constantia Libri Duo) ihre bedeutende Karriere in der selben Epoche. 21 Montaigne, Essais, 623. 22 Montaigne, Les Essais, III.2, 851–852. 23 Montaigne, Essais, 632. Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 113

ment etwas anderes. Die Behauptung der Stabilität manifestiert Instabilität. Und Montaignes Rhetorik der Bescheidenheit ist eine Poetik des Stolzes: Wenn er selbst sich und die Welt »von Minute zu Minute« nie wieder so sieht, wie er diese sah, dann sieht erst recht kein anderer Mensch ihn und die Welt so, wie er von beiden schreibt. Sein Flüchtiges verachtet ersichtlich nicht, wer es aufzuzeichnen für wert erachtet. Weil es veränderlich ist, ist es zugleich originell. Der Zusammenhang beider, der Originalität und der Veränderlichkeit, erschließt sich indes weniger von der Frage her, wie oder was einer ist, als von der Frage her, was einer aus sich macht. Ihr antwortet dann Iagos Behauptung, aber um den Preis der Nuancen. Bei Montaigne sind sie noch nicht geopfert. Il ne faut pas se clouer si fort à ses humeurs et complexions. Nostre principalle suffisance, c’est, sçavoir s’appliquer à divers usages. C’est estre, mais ce n’est pas vivre que se tenir attaché et obligé par necessité, à un seul train. Les plus belles ames sont celles qui ont plus de varieté et de souplesse. […] Si c’estoit à moy à me dresser à ma mode, il n’est aucune si bonne façon, où je voulusse estre fiché, pour ne m’en sçavoir desprendre. La vie est un mouvement inegal, irregulier, et multiforme. Ce n’est pas estre amy de soy, et moins encore maistre; c’est en estre esclave, de se suivre incessamment: et estre si pris à ses inclinations, qu’on n’en puisse fourvoyer, qu’on ne les puisse tordre.24 Man darf sich nicht so fest an seine Neigungen und Anlagen ketten. Es ist unsere vornehmste Gabe, uns nach verschiedenen Lebensarten fügen zu können. Es heißt dasein, aber nicht leben, wenn man sich notgedrungen beständig in einem einzigen Geleise eingezwängt und festgefahren hält. Die schönsten Seelen sind jene, die am meisten Beweglichkeit und Schmiegsamkeit besitzen. Wenn es bei mir stünde, mich nach meinem Sinn zu entwerfen, so gibt es doch keine noch so vorzügliche Form, in die ich so gebannt sein möchte, daß ich nicht mehr von ihr loskommen könnte. Das Leben ist eine schwankende, unregelmäßige und vielgestaltige Bewegung. Man ist nicht Freund und noch weniger Herr, sondern Sklave sei Montaigne, Les Essais, III.3, 859.

24

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ner selbst, wenn man ohne Unterlaß sich selber zu Willen steht und so an seine Neigungen gefesselt ist, daß man nicht davon abgehen und sie nicht beugen kann.25

Das ist keine Philosophie des Opportunismus. Montaignes »souplesse« – seine Geschmeidigkeit – geht einher mit »Widerstand gegen jene Bequemlichkeiten, mit denen der Mensch, statt Individualität zu sein, ausweicht in ein Jedermanndasein«26 . Der Freund und der Herr sind freie Menschen, der Sklave ist es nicht; so gehören Veränderlichkeit, Besonderheit des Individuums und Freiheit bei Montaigne zusammen – freilich nicht wie die Töne eines vollen harmonischen Dreiklangs, sondern eher wie die Elemente eines fragilen Mobiles. 7  Jacob Burckhardt macht für die italienische Renaissance auf »die

Ausdrücke uomo singolare, uomo unico für die höhere und höchste Stufe der individuellen Ausbildung«27 aufmerksam. Sie gehören in Elogen. Doch nicht jeder fand Ansprüche auf Einzigartigkeit gut. Montaignes und Shakespeares jüngerer Zeitgenosse John Donne schrieb: For every man alone thinkes he hath got To be a Phœnix, and that then can bee None of that kinde, of which he is, but hee. This is the worlds condition now. […]28 Denn jeder denkt allein, er müsse ein Phönix sein. In der Art, von der er sei, gäb’ es dann keinen – als ihn. So ist jetzt die Welt. […]

Ob indes mißbilligt oder nicht: Dies wurde um 1600 in Europa »the worlds condition« – als Anspruch: wie auch immer es wirklich um die bestellt sein mochte, die ihn erhoben. Zum so verstandenen Zu Montaigne, Essais, 643. Friedrich, Montaigne, 201. 27 Die Cultur der Renaissance in Italien, 131. 28 ›An Anatomie of the World‹, 216–219, 238. 25

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stand der Welt gehört der Blick auf die jeweils anderen. Erst dieser beglaubigt, einer sei wie keiner (»None«). Nicht durch Introspektion (¶ 5) enthüllt er sich als einzig; singulär erscheint er vor der Folie seiner Gruppe. Entgegen dem Anschein bezeichnet das Wort eine Relation. Die Singularität muß, wie Burckhardt sagt, ›ausgebildet‹ werden, und das geschieht in vielfältigem Umgang mit anderen. 8  Paradoxerweise – in Wahrheit: logischerweise (¶ 3) – kann Ein-

maligkeit nur an Mustern erlernt werden: nicht zuletzt solchen des Theaters. Mit dem Untergang der antiken Welt verschwanden auch Komödie und Tragödie für ein Jahrtausend aus der europäischen Kultur. In der christlichen Welt des Mittelalters ging nur noch ein Drama über die einzig erlaubte Bühne, die der Kirchen: die Heilige Messe mit Jesus Christus als dem Helden des Dramas, den Priestern als dessen Chor und der Gemeinde als teilnehmenden Zuschauern. Dieses Drama bestätigte aber einen Glauben, statt Überzeugungen auf die Probe zu stellen, wie es die Autoren der antiken Tragödien und Komödien je auf ihre Art unternommen hatten. Zwar hatte man auch im Mittelalter einen Begriff von Tragödie und Komödie – denn Horaz’ Ars poetica, die Ars Grammatica des Diomedes, mit ihrem Vergleich der Gattungen im dritten Buch, und die Glossen des Aelius Donatus zu Terenz waren bekannt. In etwa auf der Linie dieser Schriften spricht auch Dante von »tragedia« und »comedia«.29 Ein Begriff von Tragödie und Komödie ist indes kein Bühnenleben. Selbst Texte von Tragödien und Komödien ergeben kein solches. Diese können eine neue Theaterpraxis, anders beschaffen als die, für die sie einst bestimmt waren, jedoch immerhin vorbereiten. Im 16. Jahrhundert wurden einige Werke des attischen Theaters wieder auf Griechisch greifbar. Die editio princeps von neun der erhaltenen Komödien des Aristophanes legte Aldus Minutius bereits 1498 vor; Lysistrata und Thesmophoriazousai folgten 1515. Der große venezianische Buchdrucker veröffentlichte die Werke des Sophokles 1502, die des Euripides (ohne Ēlektra) 1503, die des Aischylos (ohne Choēphoroi, das zweite Stück der Oresteia) 1518. Einflußreicher noch wurden lateinische Autoren: einerseits Seneca, andererseits Plautus und Terenz. Dabei ist, was man so Einfluß Dante, De vulgari eloquentia, 2.4, 46–48.

29

116 | »The trick of singularity« 

nennt, vielleicht nicht einmal das Entscheidende. Shakespeare hat wahrscheinlich nie eine griechische Tragödie gelesen, und doch ist Lear dem Oidipous des Sophokles näher als irgendeiner der Figuren Senecas, die Shakespeare durch Lektüre kannte.30 9  Durch Nachahmungen sowohl der griechischen wie der römi-

schen Dramen in italienischer, französischer, spanischer, englischer, deutscher Sprache kamen Werke mit den Gattungsbezeichnungen ›Tragödie‹ und ›Komödie‹ wieder auf die Bühne. Wiedergeburt des Altertums ist der Sinn des Wortes ›Renaissance‹. Doch in der Geschichte gibt es kein Zurück (›Re-‹). Komisch und tragisch waren in der klassischen Antike die Masken des Dionysos. Für die frühe Neuzeit war Dionysos ein toter Name. Das ist zwar kein Grund anzunehmen, die Vorstellungen vom Komischen und Tragischen in der Antike einerseits, in der Renaissance andererseits hätten nichts miteinander zu tun.31 Aber es ist ein Grund, auf den entscheidenden Unterschied zu achten: Der tragische Held und die komische Figur wurden in der Renaissance zu Provokationen der Stilisierung des Selbst (¶¶ 6–7). Die Worte ›Provokationen der‹ stehen an dieser Stelle statt des Ausdrucks ›Angeboten zur‹, weil es mindestens so sehr darum ging, was zu vermeiden sei, wie darum – was Offerten nahelegen würden –, was anzunehmen sei. Man möchte schließlich kein Malvolio werden. 10  Malvolio, »a kind of puritan«32 , ist einer, der mit Komik, der

des Clowns Feste zum Beispiel, nichts anzufangen weiß – doch die Komik der Twelfth Night weiß desto mehr mit ihm anzufangen. Zum komischen Opfer wird Malvolio durch den Brief Marias – in Olivias Handschrift –, der alle Register des neuen Selbst zieht:

If this fall into thy hand, revolve. In my stars I am above thee, but be not afraid of greatness. Some are born great, some achieve greatness, and some have greatness thrust upon ’em. Thy fates open their hands; let thy blood and spirit embrace them, and, to inure thyself Wilson, Mocked with Death, 16. Vgl. Silk, ›Introduction‹. 32 Shakespeare, Twelfth Night, 2.3.119. Zitate im folgenden nach dem New Cambridge Shakespeare. 30 31

Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 117

to what thou art like to be, cast thy humble slough and appear fresh. Be opposite with a kinsman, surly with servants; let thy tongue tang arguments of state; put thyself into the trick of singularity. She thus advises thee that sighs for thee. Remember who commended thy yellow stockings and wished to see thee ever cross-gartered: I say, remember. Go to, thou art made if thou desir’st to be so; if not, let me see thee a steward still, the fellow of servants, and not worthy to touch Fortune’s fingers. Farewell. She that would alter services, The Fortunate-Unhappy. (2.5.116–132) Wenn dies in deine Hand fällt, dann erwäge. Meine Schicksalssterne erheben mich über dich; doch fürchte Größe nicht. Manche werden groß geboren, manche erringen Größe, und manchen fällt Größe zu. Dein Schicksal öffnet die Hände; greif zu mit Herz und Geist. Um dich an das zu gewöhnen, was du werden wirst, wirf deine niedere Hülle ab und erscheine in neuer Gestalt. Tritt Verwandten entgegen, behandle Diener ruppig; laß deine Zunge Staatsweisheit reden; vertief’ dich in die Kunst der Einzigartigkeit. Das rät dir die, welche nach dir seufzt. Denke daran, wer deine gelben Strümpfe lobte und dich immer mit kreuzweise gebundenen Strumpfbändern zu sehen wünschte: ich sage, denke daran ! Auf denn ! Du bist ein gemachter Mann, wenn du es sein willst; wenn nicht, dann bleib Verwalter, ein Diener unter Dienern, der es nicht wert ist, Fortunas Finger zu berühren. Leb’ wohl. Sie, die mit deinem Dienst tauschen würde, die Glücklich-Unglückliche.

Du bist, was du aus dir machst, sagt der Brief, aber allzu viel brauchst du gar nicht zu machen – nur: zuzugreifen (»embrace«, »touch«). Das komische Kalkül des gefälschten Billetts geht dadurch auf, daß dessen Adressat sich in ihm so wiedererkennt, wie Maria es vorausgesagt hatte: »he shall find himself most feelingly personated« (2.3.133–134), »er wird sich in ihm auf die einfühlsamste Weise personifiziert finden«. Malvolio spricht selber das Geheimnis begehrlicher Lektüre aus: »If I could make that resemble something in me« (2.5.101–102), »Wenn ich mir das nur angleichen könnte«: was ihm dann alles eher denn schwerfällt. Obwohl ein Betrug, hält es Marias Streich mit der Wahrheit; er ist entlarvend. Durch ihn wird öffentlich, was bisher privater Tagtraum war. ­Marias Täu118 | »The trick of singularity« 

schung nutzt und zeigt Malvolios Selbsttäuschung. Wie Montaigne ­entdeckt hatte, ist das Selbst gegen nichts besser geschützt als gegen Selbsterkenntnis; Shakespeare, diese Komödie in »Illyria« (1.2.2– 3) verortend, mag auf Illusion anspielen. Malvolio ist jedenfalls nur zu empfänglich für den Rat, seine Einzigartigkeit – »singularity« – zu kultivieren, weil er sich in der Tat längst für einzigartig hielt – »crammed (as he thinks) with excellencies« (2.3.127; Maria), »gestopft (wie er glaubt) mit herausragenden Eigenschaften«. Das Feld, auf dem er sich bisher selbstherrlich aufführte, war die Moral. Seine Überlegenheit schöpfte Malvolio aus der Rolle des puritanischen Spielverderbers. Das machte ihn allerdings einzigartig in der Welt der Twelfth Night; aber es waren säuerliche Triumphe, die ihm diese bloß appellierende Form der Singularität bot, ohne wirkliche Befriedigung. Die Chance auf solche, sexuelle ebenso wie ökonomische, tut sich ihm unverhofft auf in den Zeilen, die vermeintlich Olivia an ihn richtete. In Wahrheit geht es nicht um Einzigartigkeit, sondern um deren »trick«. Denn erreicht werden soll sie durchs Sichanpassen an eine bereits zum Code verfestigte Mode.33 Doch das ficht Malvolio keinen Moment an. 11  In dem Moment, in dem Malvolio sich selbst zu finden (»find

himself«) meint, hat er sich selbst verloren. Der Brief gibt ihm Gelegenheit, sein Ich aufzublasen, nur um diesen Ballon dann platzen zu lassen. Ein Spielverderber, zuvor, war Malvolio immerhin wirklich, ein Mann für Olivia hingegen nie und nimmer. Der Untertitel von Twelfth Night, What You Will, erhält in seinem Fall eine eindeutige Glosse: Malvolio kann nicht sein, was er sein will. Bezeichnenderweise tauchen die Worte des Untertitels im Text einzig in einer Bemerkung auf, die Olivia an Malvolio richtet (1.5.90). Mit dem What You Will dissoniert schon sein Name – italienisch mal voglio, von volere, heißt: Ich will schlecht. Dies hat einen doppelten Sinn. Zum einen den des Übelwollens. Wer übelwollend statt wohlwollend ist, wertet sich auf, indem er andere abwertet. Und so hält es der selbstverliebte Malvolio ja auch. Zum anderen aber ist schlechtes Wollen eines, das ins Mißlingen führt. Folgerichtig in diesem zweiten Sinne ereignet sich das komische Fiasko, sobald 33

Zur Codierung Giese, ›Malvolio’s Yellow Stockings‹. Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 119

Malvolio das gewollte neue Selbst einlösen will (3.4.16–106). Er fällt in dieser Szene nicht, wie ein tragischer Held, von einer wirklichen Höhe, 34 sondern, als komische Figur, von einer nur eingebildeten. 12  Während Malvolio sich nur oben wähnt (¶¶ 10–11), ist der Ti-

telheld von Shakespeares Tragödie Othello, the Moor of Venice35 es an deren Beginn wirklich; selbst Iagos böse Worte über seinen General – es sind die ersten im Drama, die Othello charakterisieren – lassen daran keinen Zweifel: Mit Stolz (»pride«), Zielbewußtsein (»purpose«) und rhetorischem Prunk (»bombast«) hat dieser gerade gegen Widerstand seinen Willen durchgesetzt (1.1.12–14). Othello selbst erblickt in seinem Erfolg Gerechtigkeit, also Verdienst und Glück in Proportion: […] and my demerits May speak unbonneted to as proud a fortune As this that I have reached. […] (1.2.22–24) Mit unverhülltem Haupt darf mein Verdienst Anspruch erheben auf ein Glück so stolz Als dies, das ich erreicht. […]36

Othello hat bewiesen, was ein Mann aus sich machen kann.37 Etwas aus sich zu machen heißt für ihn zunächst, sich anzupassen – das unterscheidet ihn von anderen Fremden in Shakespeares Dramen, von Aaron, Caliban, Shylock. Es bedeutet, den »Moor« vergessen zu lassen und sodann die anderen, die Weißen, zu übertreffen. Desto eifriger ist Iago bemüht, Othello hinter seinem Rücken auf Vgl. Chaucer, ›The Prologue of The Monk’s Tale‹, 189: »Tragedie is to seyn a certeyn storie, / As olde bookes maken us memorie, / Of hym that stood in greet prosperitee, / And is yfallen out of heigh degree / Into myserie, and endeth wrecchedly.« (»Tragödie ist eine bestimmte Art von Geschichte, wie alte Bücher uns erinnern, von einem, der in großem Wohlstand war und tief ins Elend fiel und schlimm endete.«) 35 Shakespeare, Othello. Zitate im folgenden nach dem New Cambridge Shakespeare. 36 Shakespeare, Othello, übers. v. Wilhelm Jordan, 295. 37 Und vielleicht nur ein Mann. Zur Frage des Geschlechts eines tragischen Selbst s. Belsey, The Subject of Tragedy. 34

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das festzulegen, was sich nicht machen läßt, das Gegebene, seine Natur: »his Moorship« (1.1.33).38 Der Doge meint indes, natürliche Beschaffenheit lasse sich durch gesellschaftlichen Wert – »virtue« – ausgleichen; als christlicher Soldat zeige sich Othello »weit eher hell denn schwarz« (»far more fair than black«) (1.3.285–286). 39 Seiner Tugend wegen verdiene er die Ehre, die der Staat ihm verleiht, und die Liebe, die Desdemona ihm schenkt. Weil er liebt und geliebt wird, hat Othello mehr zu verlieren als Malvolio, der, hierin Iago gleich, niemanden liebt und von niemandem geliebt wird. »I do love thee; and when I love thee not, / Chaos is come again« (3.3.91– 92), sagt er zu Desdemona, »Ich liebe dich, und lieb’ ich dich nicht mehr, / So ist das Chaos wieder hier«. Da Othello seiner Tugend wegen geehrt und geliebt wird, ist es Iagos Ziel, sie manipulierend zu untergraben. Er will Othello bei der Ehre packen, seine Liebe zerstören und so Chaos herbeiführen. Zur Manipulation, die er in Gang setzt und durchführt, befähigt ihn überlegenes Wissen. Iago begreift Othello durchaus, aber Othello begreift Iago nicht. Auch die Zuschauer begreifen ihn ja nicht, obwohl er ihnen alles darlegt – außer das Entscheidende (5.2.300–301) –; die Brillanz seiner Darlegungen macht sie zu Voyeuren der Infamie. Wissen indes genügt nicht für eine Intrige; es muß auch gegen den oder die anderen ausgespielt werden. Als Fähnrich des Generals Othello hat Iago diesem zu dienen. Othello glaubt auch, daß Iago ihm diene. Doch im Verlauf der Tragödie dient Othello immer eifriger Iagos Werk: der Zerstörung Othellos. Ohne Diener gibt es keine Herren wie es keine Herren ohne Diener gibt; der Diener aber, der seinen Dienst nur zum Schein versieht (»shows of service«, 1.1.52), während er in Wahrheit lediglich sich selber dient, hat das Zeug zum Herren der Lage (1.1.41–55). 13  Allerdings greift es zu kurz, Iago aus der Differenz von Sein

und Schein (¶ 12) heraus deuten zu wollen. Er mag ›Iago‹ heißen, Zur Frage, was »Moor« und »black« hier bedeutet s. Neill, ››Mulattos‹, ›Blacks‹, and ›Indian Moors‹‹. 39 Historische Folie dieser Behauptung ist der konträre Gemeinplatz: »The association between blackness and permanence is implicit in the Elizabethan commonplace that the epitome of futility is to wash an Ethiopian white.« (Royster, ›White-limed Walls‹, 442) 38

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weil dieser Name an italienisch ›io‹ und lateinisch ›ego‹ anklingt;40 aber er hat, oder ist, ein Ego, das von sich sagt: »I am not what I am« (1.1.66), »Ich bin nicht, was ich bin«.41 Iago sagt eben nicht, bequemer verständlich: »Ich bin nicht, was ich scheine«. Sein »Ich bin nicht, was ich bin« ist die Kontrafaktur des Satzes, den Gott von sich sagt: »Ich bin, der ich bin.« (Exodus 3.14) Das »nicht« in Iagos Satz entspricht präzis der Definition des Bösen in der Augustinischen und Thomistischen Tradition: malum privatio essendi, »Das Böse ist Mangel an Sein«. In der Theologie war dies das Urteil über das Böse; Iagos Satz beschreibt die ohne Reue, mit Lust vollzogene Ersetzung der langweiligen göttlichen Tautologie durch die herausfordernde Paradoxie seines Selbst. Aus seinem Mangel heraus wird Iagos Sein an anderem Sein kreativ. Der Satz »I am not what I am« bezeichnet ein Element, das Bindungen löst – auf ein Chaos hin (¶ 12). Nicht wie das Sein Gottes, dem es an nichts mangelt, mithin durch eine Schöpfung aus dem Nichts, kann Iagos Sein kreativ werden. Es aktualisiert lediglich Potenzen – und doch wendet sich die Handlung, wo immer dies geschieht. Indem Iago darauf achtet, was sich aus der Schöpfung auch noch machen ließe, verkehrt er sie. Konfrontiert mit Cassio fragt Iago, wozu ein solcher Mann als Material taugen würde: Cassio’s a proper man: let me see now; To get his place and to plume up my will In double knavery. How ? How ? Let’s see. After some time, to abuse Othello’s ear That he is too familiar with his wife; He hath a person and a smooth dispose To be suspected, framed to make women false. (1.3.374–380) […] Cassio ist Ein hübscher Mann. – Laßt sehn – es gilt sein Amt Zu haschen, meinen Willen zu befiedern Zu einer Doppelschelmerei. – Doch wie ? Adelman, ›Iago’s Alter Ego‹, 127: »Iago’s name unfolds from the Italian io, Latin ego«. 41 Ganz anderen Sinn nimmt dieser Satz aus Violas Mund an; Shakespeare, Twelfth Night, 3.1.126, 113. 40

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Othello raun’ ich zu nach einiger Zeit, Er sei mit seiner Gattin zu vertraut. Geschmeidig sanft, ist er ein Mann danach, Um Argwohn zu erwecken, wie geschaffen Die Weiber zu verführen […]42

Wer sich so verwandeln kann wie Iago, der vermag auch andere zu verwandeln – den vertrauenden Othello in einen eifersüchtigen. Diese Verwandlung findet ihr Werkzeug in der Verleumdung. Sie schweißt Herrn und Diener zu Komplizen. Ihre Komplizität ist entscheidend für den Vorgang;43 Othello darf nicht rein Iagos Opfer werden. Allerdings täuscht Iago Othello; doch Othello läßt sich von ihm täuschen (3.3.387–389). Seine Eifersucht, einmal erregt, ergreift alles, aber auch nur das, was sie bestätigt. Der Versuch, sich des Verlusts zu erwehren – des Verlusts der geliebten Frau nämlich –, bringt so zwingend eben den befürchteten Verlust hervor. Denn das eifersüchtige Ich legt sich das andere Ich als ein Es zurecht, als Besitztum, als Ding – »the thing I love« (3.3.274), »das Ding, das ich liebe«, nennt Othello Desdemona, sobald Iago ihm den Verdacht gegen sie und Cassio eingeredet hat. Dieses Zurechtlegen muß mißlingen, weil der Eifersüchtige nicht vergessen kann, daß das Objekt seiner Eifersucht Subjekt bleibt und als solches eigenes Begehren hat. Dieses Begehren würde er genauso besitzen wollen wie alles andere, als Ding – aber ließe es sich so besitzen, dann wäre es kein Begehren. […] O curse of marriage, That we can call these delicate creatures ours And not their appetites ! […] (3.3.270–272)

[…] O Fluch der Ehe, Daß wir die zarten Wesen unser nennen können Und ihr Begehren nicht ! […]

Wer das Begehren nicht haben kann, will es wenigstens kennen – wie Iago weiß, genügt das Leichte, ein Taschentuch, die Beargwöhnte schwer zu belasten: Shakespeare, Othello, übers. v. Wilhelm Jordan, 313–314. Dies betont Tomasi di Lampedusa, Shakespeare, 69.

42 43

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[…] Trifles light as air Are to the jealous confirmations strong As proofs of holy writ. […] (3.3.323–325) Denn luftig leichte Nichtigkeiten sind Dem Eifersüchtigen beweisesstark Wie Bibelverse. […]44

Die Nichtigkeit des Taschentuchs ist wesentlich. Nur weil es nichtig ist, muß Othello so viel Wesens von ihm machen (3.4.52–73). Der Name dieses Wesens lautet: »honour«. 14  Ehre (¶ 13) ist für Othello alles, und er verfällt ihrem Imperativ

desto blindwütiger, je tiefer er, als seiner Herkunft nach Fremder (¶ 12), an der Gewähr der eigenen Ehre zweifelt. Denn was ehrt und was nicht, bestimmen in Venedig die Einheimischen. Weil er die Ehre, diese Relation zwischen Gesellschaft und Individuum, absolut setzt, verliert Othello sie, und sich. Der Wille zur Ehre gebärdet sich würdevoll. Indem Othello – auch hier noch »pomp and circumstance« – seine Mordtat als Ritual ins Werk zu setzen sich müht, reklamiert er Würde für sie. Weit kommt er nicht mit seinem priesterlichen Gehabe. Die zu Ermordende stört seine Nomenklatur für den Vorgang. Als Desdemona ihn mit der Wahrheit belästigt (5.2.58–61), beklagt Othello sich: O perjured woman ! Thou dost stone my heart And mak’st me call what I intend to do A murder, which I thought a sacrifice ! (5.2.63–65) Meineid’ge Frau ! Du machst mein Herz zu Stein. Und Mord muß ich nun nennen, was ich tuen will, Obwohl ich es als Opfer dachte.

Hier beginnt ein Riß in Othello sichtbar zu werden, den Iago aufgebrochen hat, seiner eigenen Formel (¶ 13) folgend: »I am not what I am« (1.1.66). Eklatant wird dieser Riß erst am Widerspruch der 44

Shakespeare, Othello, übers. v. Wilhelm Jordan, 359.

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letzten Worte, die Desdemona von Othello sagt. Er, die flachere Figur, blieb angesichts des Risses, den er im Gegensatz von Opfer und Mord sah, in Selbstgerechtigkeit stecken, sie nicht. »O, falsely, falsely murdered !« (5.2.118), »Oh, ungerecht gemordet !«; »A guiltless death I die«, »Einen schuldlosen Tod sterbe ich« (5.2.123), ruft sie auf dem Totenbett aus; doch als Emilia hereinstürzt und Desdemona fragt, wer die Tat begangen hat, antwortet sie: »Nobody; I myself. Farewell. / Commend me to my kind lord. O farewell !« (5.2.125–126) Beide Behauptungen können nicht wahr sein; wurde Desdemona aufgrund falscher Anschuldigung ermordet, dann ist es unmöglich, daß keiner (»nobody«) die Tat beging. Dieser Widerspruch löst sich nicht nach einer Seite auf. Daß Desdemona sich selbst (»I myself«) erstickt hat, kann allerdings im Ernst nicht gemeint sein. Die zweite Behauptung wird üblicherweise als Schutzbehauptung zugunsten Othellos gedeutet, und diese Deutung ist plausibel genug. Doch sie verschiebt die Schwierigkeit nur. Denn Grund, Othello zu schützen, bestünde für Desdemona, wenn sie in ihm wirklich noch ihren »kind lord« sieht; sähe sie ihn nicht so, hätte sie keinen solchen Grund. Damit bleiben die beiden Seiten des Widerspruchs bestehen. Dasjenige Selbst, auf welches sich die beiden einander widersprechenden Behauptungen beziehen, Othello, der nun gleichfalls nicht ist, was er ist, durchschaut am Ende zwar die Intrige; in der mörderischen Logik der Ehre aber verharrt er, ohne sie zu durchschauen.45 Während Desdemona am Ende in den Riß blickte, der durch das Selbst geht, will Othello ihn, um sein Selbstbild zu retten, mit »honour« verkleistern. Was er immerhin voraussah (3.3.91–92), nämlich daß Chaos eintreten werde (¶ 12), will er nun nicht mehr sehen; verdecken soll es die Ehre. Sie stellt hoch (¶ 12); sie macht blind. Othellos letzte Worte im Drama überhaupt gelten der ehrenvollen Bekanntmachung einer von ihm verübten Gewalttat in einem Ehrenhändel: »Set you down this; / And say besides that in Aleppo once / Where a malignant and a turbaned Turk / Beat a Venetian and traduced the state, / I took by th’throat the circumcisèd dog / And smote him thus.« (»Das schreibet hin und saget außerdem, / Daß in Aleppo einst ein böser Türke / In hohem Turban einen Venetianer / Geschlagen und gelästert unsern Staat, / Ich aber den beschnitt’nen Hund ergriff / An seiner Gurgel und ihn so erstach.«) (5.2.347–352; Othello, übers. v. Wilhelm Jordan, 429). So schwadronierend endet ein Schauspieler; Othellos letzte Worte wie seine letzte Tat richten sich an ein Publikum. 45

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Lodovico: O, thou Othello, that wert once so good,   Fallen in the practice of a damnèd slave,   What shall be said to thee ? Othello: Why, anything:   An honourable murderer, if you will;   For naught did I in hate, but all in honour. (5.2.288–292) Lodovico: Othello, du, der einst so trefflich war,   Du gingst in des verruchten Schuftes Falle ?   Was soll von dir gesagt sein ? Othello: Was ihr wollt;   Daß ich ein ehrenwerter Mörder sei.   Aus Ehre that ich Alles, nichts aus Haß.46

In diesen Worten, jenseits der Täuschung über Desdemona, aber immer noch diesseits der Selbsttäuschung, liegt, wie es in der letzten Szene im Anblick des Sterbelagers Desdemonas und Othellos heißt, »die tragische Last dieses Bettes«, »the tragic loading of this bed« (5.2.359). 15  Einer, der nicht auf Iago hereingefallen wäre, ist der alte Sir

John Falstaff – er hätte ihn ausgelacht. Jedenfalls gilt das für den geistesgegenwärtigen Falstaff des ersten Teils von King Henry the Fourth47. Hier stellt Shakespeare diese komische Figur neben den jungen Percy Hotspur, der, wenn schon kein tragischer Held, so doch aus dem Stoff ist, den Dichter wie Marlowe zu tragischen Helden formten.48 Send danger from the east unto the west, So honour cross it from the north to south, And let them grapple. […] (1.3.193–195)

Shakespeare, Othello, übers. v. Wilhelm Jordan, 426. Lodovicos »to thee« hat hier den Sinn von »of thee«, wie Othellos Antwort zeigt; daher paßt Jordans Übersetzung »von dir«. 47 Shakespeare, The First Part of King Henry IV, im folgenden zitiert nach dem New Cambridge Shakespeare. 48 Vgl. Barker, ›Tragical-Comical-Historical Hotspur‹. 46

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Laßt mir Gefahr von Ost nach Westen brausen, Womit sich Ehre kreuzt von Nord nach Süden, Und laßt sie ringen ! […]49

Noch einmal die Ehre (¶ 14). Hotspur ist ernst, edel, leidenschaftlich, »plump Jack« (2.4.398) hingegen lose, zynisch und faul. Der Schlußakt führt beide in einen parallelen Zweikampf, Hotspur gegen Prince Hal, den englischen Thronfolger, Sir John gegen den Earl of Douglas. Beide, Hotspur und Falstaff, verlieren den Kampf. Zuerst stürzt Falstaff. Er liegt am Boden und rührt sich nicht mehr; sein Gegner, Douglas, geht ab. Dann fällt Hotspur im Duell mit dem künftigen König Henry V. Hotspur ist ›in der Blüte seiner Jahre‹ für die Ehre gefallen, Falstaff für – nun, es gibt kein ›Für‹, kein Ideal, keinen höheren Sinn und Zweck, dem er sich opfern würde. Er ist sein Leib, wie Hal in seinem kleinen Nekrolog auf Falstaff vermerkt, feststellend: »Death hath not struck so fat a deer today«, »Der Tod hat heut’ kein fett’res Wild erlegt« (5.4.106) und auch sich verwundernd: »could not all this flesh / Keep in a little life ?«, »Konnt’ denn all dies Fleisch / nicht etwas Leben halten ?« (5.4.101–102) Indes: Es konnte, und nicht nur etwas. Denn der Koloß ist nicht gefallen, er hat sich nur fallen lassen. Sein militärischer Einsatz ist zwar nicht gerade vorbildlich, aber unzweifelhaft singulär auf dem nur sogenannten Feld der Ehre. Und so ist Falstaff, obschon geboren aus dem miles gloriosus der römischen Komödie, als ein Überlebender gegen alle Wahrscheinlichkeit reif für die andere der beiden Arten von Komik, für die Komik der Lust statt für die Komik des Spottes: nicht jene also, in der man über jemanden – wie über Malvolio (¶¶ 10–11) und auch über den fetten Ritter in anderen Partien der Dramen Shakespeares – lacht, das heißt: ihn auslacht, sondern die Art Komik, in der man mit jemandem lacht. Kaum ist Prince Hal abgegangen, kommt es zur Auferstehung des Bauches mit anhängendem Verstand. Dieser war jenem wohl zu Diensten. Den Tod vortäuschend, blieb Falstaff am Leben. Diese Dialektik zu entfalten läßt er sich nicht nehmen – und macht damit auf seinen Kopf aufmerksam. Dies ist bemerkenswert, 49

251.

Shakespeare, König Heinrich IV., erster Theil, übers. v. Heinrich Viehoff,

Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 127

insofern Komik es sonst, und im Fall Sir Johns besonders, mit dem Unterleib hält und damit der Tragik die Zuständigkeit für die obere Hälfte des Körpers zuzuweisen scheint. Gerade »Sir John Sack, and Sugar Jack« (1.2.92), der so betont Unterleib ist, denkt schärfer als Shakespeares tragische Helden. Tertium datur. Den beiden offenkundigen Möglichkeiten seines Zweikampfes gegenüber, nämlich daß Douglas lebt und er stirbt, oder er lebt und Douglas stirbt, hat er eine dritte ausgemacht: daß beide leben. Gewiß hätte Hotspur Entsprechendes verworfen, wäre er darauf gekommen; aber er wäre auch nicht darauf gekommen. Der junge Ritter war ein Fall des, mit Montaigne zu reden, »se tenir attaché et obligé par necessité, à un seul train« (¶ 6). Den rigiden Helden bannt Shakespeare in würdigen Blankvers, während er Falstaff, Prosa sprechend, sich freier in der Sprache und im Gedanken bewegen läßt: ’twas time to counterfeit, or that hot termagant Scot had paid me, scot and lot too. Counterfeit ? I lie, I am no counterfeit. To die is to be a counterfeit, for he is but the counterfeit of a man who hath not the life of a man. But to counterfeit dying, when a man thereby liveth, is to be no counterfeit, but the true and perfect image of life indeed. (5.4.111–116) Es war Zeit, eine Maske anzulegen; sonst hätte mir wahrhaftig der schottische Eisenfresser sein Eisen zu kosten gegeben. Eine Maske ? Da lüg’ ich; ich bin keine Maske geworden. Sterben heißt eine Maske werden; denn der ist nur noch die Maske eines Menschen, der nicht das Leben eines Menschen hat. Aber die Maske des Todes annehmen, wenn man dadurch am Leben bleibt, heißt das ächte und vollkommene Bild des Lebens sich bewahren.50

Falstaff begehrt nicht auf gegen die Obrigkeit. Mögen seine Manieren auch plebejisch sein – sein Status ist patrizisch: Er ist Sir. Doch Shakespeare, König Heinrich IV., erster Theil, übers. v. Heinrich Viehoff, 347. ›Counterfeit‹, als Verb und als Nomen, also ›Fälschung‹, ›Vorspiegelung‹ bzw. ›fälschen‹, ›vorspiegeln‹, ist in diesem Drama ein proteischer Ausdruck. Bei seinem ersten Erscheinen führt Falstaff mit ihm die Metapher der Falschmünzerei ein (2.4.449–450). Dies würde im Schlußakt nicht passen; »Maske« ist hier eine Möglichkeit, den Sinn zu wahren. 50

128 | »The trick of singularity« 

er führt die Werte eines Aristokraten weder im Mund noch lebt oder stirbt er ihnen gemäß. Hotspur ging es um die Ehre, Falstaff um sein Leben. Als Ehrenmann macht Hotspur seine Selbstachtung von der Achtung der anderen – jener anderen, die zählen: also des Adels – abhängig. In seinem letzten Satz, den er nicht mehr vollendet, wechselt Hotspur von der ersten Person in die zweite, als sähe er sich selbst so: von außen. Und er nennt sich selbst beim Namen, dem Träger der Ehre: »No, Percy, thou art dust, / And food for –« (5.4.84–85). Dem Denken Falstaffs hingegen zeigt sich die Ehre als nichts – jedenfalls als nichts ohne seine Voraussetzung, das Leben und mit ihm die Empfindung, die Ehre auch spürt. Falstaff ist nominalistischer Philosoph.51 Was er vorzutragen hat, referiert er indes nicht in Form einer philosophischen Abhandlung. In seinem ganz und gar der Welt ergebenen Falstaff parodiert Shakespeare vielmehr das repetitive und didaktische Frage-Antwort-Schema des neuen52 geistlichen Genres, des Katechismus: [H]onour pricks me on. Yea, but how if honour prick me off when I come on, how then ? Can honour set to a leg ? No. Or an arm ? No. Or take away the grief of a wound ? No. Honour hath no skill in surgery then ? No. What is honour ? A word. What is in that word honour ? What is that honour ? Air. A trim reckoning ! Who hath it ? He that died a’ Wednesday. Doth he feel it ? No. Doth he hear it ? No. ’Tis insensible, then ? Yea, to the dead. But will it not live with the living ? No. Why ? Detraction will not suffer it. Therefore I’ll none of it. Honour is a mere scutcheon – and so ends my catechism. (5.1.129–138) Ehre spornt mich an zum Vorwärtsdringen. Richtig ! wie aber, wenn Ehre mich beim Vorwärtsdringen zu Tode spornt ? Wie dann ? Kann Ehre ein Bein ansetzen ? Nein. Oder einen Arm ? Nein. Oder O’Connor, ›A Digressive Essay upon Some Metaphysical Paradoxes‹, 48. Mit der Herausbildung der Konfessionen, also erst in der Neuzeit, beginnt die eigentliche Geschichte der Katechismen. Der Katechismus der anglikanischen Kirche (A Short Catechisme) erschien 1553 unter Edward VI., Englands erstem protestantisch erzogenen Monarchen; Shakespeares Henry the Fourth (pt. I) wurde wohl 1597 erstmals gespielt. Zur Komik der Parodie Bethell, ›The Comic Element in Shakespeare’s Histories‹. 51

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Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 129

den Schmerz einer Wunde wegnehmen ? Nein. Ehre versteht sich also nicht auf die Chirurgie ? Nein. Was ist Ehre ? Ein Wort. Was steckt in dem Wort Ehre ? Was ist diese Ehre ? Luft. Eine saubere Rechnung ! – Wer hat sie ? Einer, der vergangenen Mittwoch starb. Fühlt er sie ? Nein. Hört er sie ? Nein. Ist sie also unwahrnehmbar ? Ja, für die Todten. Aber lebt sie nicht mit den Lebenden ? Nein. Warum nicht ? Das läßt Verläumdung nicht zu. Also will ich nichts von ihr wissen. – Ehre ist nichts als ein bunter Wappenschild bei einer Leichenfeier, – und damit ist mein Katechismus zu Ende.53

Das Leben, heißt es, sei der Güter höchstes nicht. Daher gibt es Helden wie Percy Hotspur, die das Opfer ihres Lebens höheren Gütern darbringen, etwa der Ehre. Die Frage ist nur: Wer hat dann die Ehre ? Wohl kaum die Leiche dessen, der für sie gestorben ist. Und so charakterisiert der alte Saboteur sich nicht lediglich selbst; die komische Figur spricht auch dem wenn schon nicht tragischen, so doch zur Tragik tauglichen jungen Helden, Hotspur, im vorhinein das Urteil. Metaphysik ist lebensgefährlich. Auf dem Schlachtfeld von Shrewsbury, in der vierten Szene des letzten Aktes, setzt Shakespeare in seinem dritten Genre, in einer seiner »Histories«, Komödie und einen jugendlichen Untergang, der jedenfalls auf tragische Tonlage – Pathos angesichts des »waste in brief mortality«54 – gestimmt ist, unmittelbar nebeneinander. Aber es bleibt bei der Juxta­ position. Auf diese Weise leben und sterben, in jener Art leben und nicht sterben: das sind unvereinbare Lebensentwürfe. Von der Frage her gedacht, wie sich einer in der Renaissance zu einem Selbst formen konnte, geben sie nur Kontrastfolien für einander ab. Falls es so etwas wie Tragikomik bei Shakespeare gibt, muß sie den Rahmen dessen sprengen, was eine akademische fashion des späten 20. Jahrhunderts »Self-Fashioning«55 nannte. Shakespeare, König Heinrich IV., erster Theil, übers. v. Heinrich Viehoff, 335–336, mit der Änderung »Chirurgie« statt »Feldscherkunst« für »surgery«. Zur Komik der Rede Falstaffs über die Ehre Auden, ›Notes on the Comic‹, 378– 379. 54 Shakespeare, King Henry V, 1.2.28, 86. 55 Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning; der Ausdruck im Titel steht für eine platte These über das Selbst in der Renaissance, nämlich: »there is no layer deeper, more authentic, than theatrical self-presentation« (Greenblatt, ›Psychoanalysis and Renaissance Culture‹, 222). 53

130 | »The trick of singularity« 

16  In seinen Dramen hält Shakespeare das Publikum manchmal

dazu an, über seine Dramen nachzudenken.56 Polonius beschreibt dem Prinzen die Schauspieler, die nach Elsinore kommen, als [t]he best actors in the world, either for tragedy, comedy, history, pastoral, pastoral-comical, historical-pastoral, tragical-historical, tragical-comical-historical-pastoral, scene individable, or poem unlimited 57 die besten Schauspieler der Welt, sei es für Tragödie, Komödie, Historie, Pastorale, Pastoral-Komödie, Historiko-Pastorale, Tragi­ ko-Historie, Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale, für unteilbare Szene oder unbegrenztes Gedicht.

Der Witz entspringt sowohl der Länge der Liste wie der Komplikation der Kategorien, die durch weiteres Unterteilen und Verknüpfen per Bindestrich offenbar ins Absurde getrieben werden kann. Absurdität ist ein besonderer Fall von Inkongruenz. Ein besonderer Fall ist sie, insofern nicht alles Inkongruente absurd ist. Absurdes verträgt sich nicht mit dem Verstand. Wiederum aber ist nicht alles, das hinter Maßstäben des Rationalen zurückbleibt, absurd. Ein einfacher Rechenfehler bleibt hinter ihnen zurück; absurd ist er nicht. Erst was extravagant mit dem Verstand zusammenprallt, wird absurd: nicht das also, was dessen Maßstäbe unerfüllt läßt, sondern das, was die Schwelle überschreitet, jenseits derer es keinen Sinn mehr ergibt, sie anzulegen. 58 In dem lateinischen Ausdruck steckt ja surdus, ›taub‹: Die Maßstäbe des Verstandes finden hier kein Gehör mehr. Aber dabei geht es merkwürdig zu. Ein un Vgl. Homan, When the Theater Turns to Itself, passim. Shakespeare, Hamlet, 2.2.363–366, 146–147. Vollends als nichtig erkennbar wird Polonius’ Gerede durch das Drama, das die Schauspieler dann aufführen. Sarkastisch mit Blick aufs Genre bemerkt Hamlet über The Murder of Gonzago (2.2.491): »if the king like not the comedy« (»wenn der König die Komödie nicht mag«) (3.2.266); das Stück ist eine Tragödie der Rache in Senecas rhetorischer Manier, und Hamlet sieht scharf darauf, daß die Schauspieler keine komischen Einlagen improvisieren, während das Publikum die »notwendige« – tragische – »Frage des Spiels zu erwägen hat« (»some necessary question of the play be then to be considered«) (3.2.31–36). 58 Vgl. Nagel, ›The Absurd‹, 722. 56 57

Tragik, Komik und das Selbst der Renaissance | 131

ter der Ägide des Verstandes entwickeltes Verfahren, Klassifikation durch Subdivision, benutzt Polonius: Das Resultat ist mit Zunahme der Kombinationen, die immer weiter zu gehen drohen, Unverständliches. Er ist ein absurder Schwätzer, und absurdes Geschwätz ist es offenbar, Theater, Shakespeares Theater – denn darum geht es in Wahrheit – unter Genrekategorien zu zwängen. Der Schluß hängt vordergründig noch zwei Kategorien an: »Unteilbare Szene« wiese ein Drama auf, das sich an die traditionellen Einheiten der Zeit, des Orts und der Handlung hielte, im Unterschied zu einem »unbegrenzten«, das nicht so verfahren würde. Aber da alles Vorhergehende in Einteilungen (»divisions«) besteht, gewinnt dieser Schluß noch einen Hintersinn, nämlich: »scene individable«, das wahre szenische Geschehen ist nicht einteilbar, und »poem unlimited«: das wahre dramatische Gedicht kennt keine Grenzen. Shakespeares Witz macht die Begriffe des Tragischen und Komischen indes nicht obsolet; er funktioniert nur, wenn sie zugleich verstanden werden. Und er ist selber komisch. Statt auf ein Vermeiden der Begriffe kommt es auf die Weise des Umgangs mit ihnen an. Polonius schubladisiert mit ihnen, und das gleiche, nur komplizierter, betreibt eine Literaturwissenschaft, die Gattungsfragen an die erste Stelle setzt. Leitet hingegen ausdauernder Widerstand gegen Pedanterie das Fragen, dann läßt sich herausfinden, wie Shakespeare Komisches und Tragisches in Figuren, Handlungen, Szenen, Sätzen, Worten und Wortwechseln individuiert und kombiniert. Das ist die Aufgabe.

132 | »The trick of singularity« 

Intervention Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear

In der letzten Szene der Tragedy of King Lear (5.3.)1 sind Albany und Edgar mit wichtigen Dingen befaßt. Der Earl of Kent, ein gebrochener Mann, stolpert herein; sein Ansinnen ist, im Sturm dessen, was sich eben ereignet hat – Kampf, Mord, Selbstmord –, ein beiläufiges, wenn auch dessen wörtlichen Sinn ein metaphorischer begleitet: Kent möchte nur dem König eine gute Nacht wünschen. An dieser Stelle legt Shakespeare dem vom Gang der Ereignisse etwas überforderten (5.3.194–196) Albany einen Vers von umwerfender Komik in den Mund: »Great thing of us forgot« (5.3.211). »Das große Ding, das wir vergaßen«, ist nichts Geringeres als die Hauptperson des Dramas: »where’s the King […] ?« (5.3.212). Der Witz, abgründig wie er ist, mildert nicht die Härte dessen, was Lear geschah. Er schärft sie: Lear ist zwar noch am Leben, aber auch so weit all dessen, was er einmal war und hatte, beraubt, daß er wirklich zu vergessen ist. Die Schärfung ist von der Art der Brue­ ghelschen Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, wenige Jahrzehnte früher: Ein Mensch, auch er ein Titelheld, geht unter, doch man ist mit anderem beschäftigt – der Bauer gräbt seine Furche, der Angler angelt, die Schiffer segeln weiter. Ihr Nichtsehen zu sehen sind die Betrachter dieses Bildes aufgefordert. Der Satz ›Das Leben geht weiter‹ gewinnt hier eine schneidende Note, anstelle der schlaffen, in der er sich üblicherweise selbst gefällt. Wystan Hugh Auden beginnt das Gedicht ›Musée des Beaux Arts‹, dessen letzte Strophe sich Brueghels Gemälde widmet, mit den Zeilen: Shakespeare, King Lear. René Weis’ Parallel Text Edition stellt The History of King Lear – 1608 im First Quarto (Pied Bull) gedruckt – und The Tragedy of King Lear – 1623 im First Folio gedruckt – einander gegenüber; letztere liegt der Erörterung zugrunde. Die Zahlen bezeichnen Akt, Szene und Vers. Soweit Übersetzungen zitiert werden, handelt es sich um die Georg Herweghs (Sigle H) und Wilhelm Jordans (Sigle J). Herwegh übersetzte durchweg aus dem Folio, Jordan nach einer Ausgabe, in der Quarto- und Foliotext kontaminiert waren. 1

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About suffering they were never wrong, The Old Masters: how well they understood Its human position: how it takes place While someone else is eating or opening a window or just walking dully along2 Was das Leiden betrifft, lagen sie nie falsch, Die Alten Meister: wie gut verstanden sie Seinen Platz im Leben der Menschen: wie es geschieht Während einer ißt oder ein Fenster öffnet oder dumpf seiner Wege geht.

Solche Alten Meister sind Brueghel wie Shakespeare. Die Betrachter des Bildes aber blicken auch auf den Gestürzten, und Lears Leiden läßt die Zuschauer der Tragödie beständig an ihn denken – wird es sich lösen, und, wenn ja, wie ? –; die Gedächtnisschwäche (»of us forgot«) reflektiert vor allem komisch auf Lears Schwiegersohn Albany, den Mann, der immerhin am Ende über die Herrschaft des desolaten Staatswesens disponieren will (5.3.295–296). Wie aber wurde aus Lear, was er am Ende ist, das Objekt einer komischen Amnesie ? Von Beginn an hat der König sich verrannt. Bereits mit der ersten Szene des Dramas sitzt Lear in der eigenen Falle. Sobald er seine jüngste Tochter verstoßen hat, findet er sich in einer Lage, von der aus er weder vorwärts noch rückwärts kann. Rückwärts nicht, weil er das zunächst unter keinen Umständen will und fürstlicher Wille Gesetz ist (1.1.166–170). Vorwärts nicht, weil dort keiner auf ihn wartet, am wenigsten Goneril und Regan. Wer sich so festrennt, reagiert verbohrt. Als sein treuer Ratgeber, Kent, ihm doch noch einen Weg bahnen will, auf dem er zu Cordelia zurückfände, herrscht Lear ihn an, er solle sich nicht zwischen den Drachen und seine Wut stellen: »Come not between the dragon and his wrath« (1.1.116). Wieviel von der einstigen Kraft des Drachen blieb, nachdem der König in der selben Szene seine Macht den älteren Töchtern abtrat, wird sich rasch weisen: Dieses Ungetüm speit von nun an eher Rauch als Feuer – und mit dem Rauch unfreiwillige Komik Auden, ›Musée des Beaux Arts‹, 3.

2

134 | Intervention 

inmitten dieser Tragödie. Seine Macht erhält der König nicht zurück. Pfade aus dem Verranntsein könnte es dennoch geben, ja das Drama von Lear läßt sich teils verstehen als weitläufige Suche nach solchen Pfaden. Komik wäre ein naheliegender Weg, die Fixierungen eines tragischen Helden zu lösen. Wenn es, in einer Bemerkung eines der Ritter zu Kent, vom Narren Lears heißt, er suche diesen »herauszuspaßen« (»outjest«) (3.1.8), dann scheint das eine komische Lockerungsübung für einen Menschen zu versprechen, der sich verrannt hat und verbohrt wurde. Ist sie so beschaffen: die Komik in dieser Tragödie Shakespeares ? The Tragedy of King Lear ist eine Tragödie, die der Tragödie mißtraut. Dies Mißtrauen gilt der Sprache. In der Tragödie soll extremes Leiden rhetorisch Form annehmen. Aber ein Leiden, das sich derart artikulieren kann, ist nicht extrem: »The worst is not / So long as we can say ›This is the worst.‹« (4.1.27–28) Wer ins Schlimmste gerät, so läßt der Satz vermuten, wird entweder schreien oder schweigen. In beidem würde alle Kunst aufhören. Statt dessen bringt Shakespeares Drama Tragisches und Komisches in eine Konstellation, die an das Schlimmste heranreicht. Dazu muß der tragische Held bei der Verkörperung des Komischen, dem namenlosen ›Fool‹, in die Schule gehen: »Sirrah, I’ll teach thee a speech« (1.4.108). Der Narr kommt aus der Komödie in die Tragödie; darum konnte Festes Lied vom täglichen Regen aus Twelfth Night zu Lears Fool wandern (3.2.74–77). Das Pensum, das der Narr Lear aufgibt, spielt zwischen Macht und Wahrheit. Die Macht braucht die Wahrheit und sie verträgt die Wahrheit nicht. Sie braucht die Wahrheit, weil Verblendete ihre Ziele nicht erreichen, jedenfalls nicht auf Dauer. Eben dies zeigt sich ja an Lear. Die Macht verträgt die Wahrheit jedoch nicht, weil die Wahrheit über sie ist, daß Wahrheit nie ihr Grund ist; Zufall, Willkür, Gewalt, Täuschung sind, in unterschiedlichen Anteilen, stets bessere Kandidaten. Daraus ergeben sich allerhand Verwicklungen, tragische und komische. Die Machthaber der höfischen Gesellschaft in Europa gingen mit jenem Widerspruch um, indem sie sich einen hielten, der allein ihnen, also der Macht, die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte. Er mußte ein Komiker sein: der Hofnarr.3 So erhielt man die Wahrheit zugleich Vgl. Southworth, Fools and Jesters at the English Court.

3

Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 135

mit der Lizenz, sie nicht ernst zu nehmen: eine elegante Lösung jenes Widerspruchs. Dieser ist im Lear in besonderer Weise akzentuiert, insofern die erste Wahrheit, die dem Machthaber beizubringen wäre, lautet: daß er die Macht verloren hat. Denn wer anders als einer, dem die Macht abhanden kam, brächte es in seiner unfreiwilligen Komik bis zum Erhabenen ? I will have such revenges on you both That all the world shall – I will do such things, What they are, yet I know not; but they shall be The terrors of the earth. (2.4.268–271) Ich räche mich an euch, daß alle Welt – Ja, Dinge will ich thun – ich weiß noch nicht, Von welcher Art – doch schaudern soll die Erde ! (J)

Macht – auch die bloß vermeintliche – sagt: »I will«. Der gegenwärtige Moment ist ihr nie genug. Die Zukunft soll in ihrer Hand liegen. Lears Liebesauktion, mit der die tragische Handlung einsetzt, zielt als gegenwärtiger Zugriff aufs Künftige: »that future strife / May be prevented now« (1.1.43–44). Die Maßnahme, künftigen Streit zu vermeiden, erzeugt künftigen Streit. Je weiter Absichten und Wirkungen auseinanderliegen, das heißt je gründlicher die Lear gewohnte Macht versagt, desto desperater sucht Lear sie zu entfesseln, bis hin zur Verwandlung des Kosmos in Chaos. Und sollte es im vorigen Wutausbruch nur die anderen, insbesondere die älteren Töchter treffen, so sieht Lear nun, daß auch er selbst, oder wenigstens seine Frisur, nicht verschont bleiben kann. Blow, winds, and crack your cheeks ! Rage, blow, You cataracts and hurricanoes, spout Till you have drenched our steeples, drown the cocks ! You sulphurous and thought-executing fires, Vaunt-couriers of oak-cleaving thunderbolts, Singe my white head; and thou all-shaking thunder, Strike flat the thick rotundity o’ th’ world, Crack nature’s moulds, all germens spill at once That makes ingrateful man ! (3.2.1–9) 136 | Intervention 

Ihr Winde, blast, daß euch die Backen bersten ! Orkane, Wolkenbrüche, raset, gießt, Bis auf dem Thurm der Wetterhahn ersäuft ! Gedankenschnelle Schwefelflammen, zuckt, Als Läufer eichenspaltender Donnerkeile, Versengt mein weißes Haupt ! Das All durchdröhnend Schlagt platt der Erde rundgewölbten Ball. Zerschmettert alle Formen der Natur, Vertilgt auf einmal jeden Keim, aus dem Der undankbare Mensch entsteht. (J)

Leiden ist manchmal eine Form des Sichgehenlassens; hier jedenfalls ist es eine solche. Und wer sich gehen läßt, hat einerseits sich selbst, andererseits seine Sache nicht mehr im Griff. Lear, der den Sturm auffordert, die Welt zu zertrümmern, zertrümmert anstelle dieser sein magisches Weltbild. Die Elemente kümmern sich nicht um seine königlichen Befehle. Die Komik der so heraufbeschworenen Apokalypse ist Theaterkomik, sie liegt nicht in den Worten, sondern in der Gestalt, die sie ausstößt, einem Tattergreis, der die unbeherrschbaren Elemente zu beherrschen sich anschickt, und im Bühnengeschehen, dem Ausbleiben jeglicher Wirkung seiner Worte. Soweit schlechtes Wetter auf der Heide herrscht, war es auch ohne diese pathetischen Imperative da. Und auch wenn es sehr schlecht ist, hämmert es nicht den Erdball platt. Zwar unterminiert die Komik das tragische Pathos; doch je komischer Lear erscheint, desto verblendeter, gebrochener, verwundeter erscheint er auch: In diesem Sinne steigert die Komik die Tragik des Königs. Auch beläßt es Shakespeare nicht bei dessen unfreiwilliger Komik in Blankversen, sondern ergänzt sie präzis um die freiwillige Prosakomik des Narren: »O nuncle, court holy-water in a dry house is better than this rain-water out o’ door« (3.2.10–11), »Höfisches Weihwasser« – gemeint sind Schmeicheleien – »in einem trockenen Haus ist besser als dieses Regenwasser draußen, Onkel«. Lear als »wütender Prophet«4 hatte sich einen letzten Trost geschaffen: Wenn er schon untergeht, soll mit ihm der Planet untergehen. Eines hat er begriffen: Nicht das tragische Ende ist das Hofmannsthal, ›Shakespeares Könige und große Herren‹, 146.

4

Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 137

schlimmste, sondern das schäbige. Aber ob er tragisch endet oder schäbig, steht nicht mehr in seiner Macht. Der Narr nimmt den Worten des Königs den Nimbus. Lear hat sich in der Dimension vergriffen; was die Handvoll abgerissener Gestalten anlangt, die noch bei ihm ausharren, geht es nicht um den Planeten, sondern um ein Dach über dem Kopf. Wenn Lear sich in seinem Scheitern als tragische Figur wenigstens noch an der Größe dieses Scheiterns berauschen will, so scheitert er selbst damit an der nüchternen und ernüchternden Komik des Narren. Sie entpathetisiert. Groß wäre die Apokalypse. Die große Rede, die ihr gilt, heißt Prophetie. Und so endet die Szene mit einer komischen Demontage der »prophecy« (3.2.80), dieser archetypischen Gestalt großer Rede vom Künftigen. Selbst wenn die vierzehn Verse eine Interpolation der Herausgeber des Folio sein sollten, um der Rolle des Narren ein weiteres Glanzlicht aufzusetzen: sie dienen nicht allein dem Schauspieler dieser Rolle, sondern werfen ein komisches Licht, kraft dessen die Tragedy of King Lear insgesamt hintergründig glänzt. When priests are more in word than matter, When brewers mar their malt with water, When nobles are their tailors’ tutors, No heretics burned but wenches’ suitors, When every case in law is right, No squire in debt, nor no poor knight, When slanders do not live in tongues, Nor cutpurses come not to throngs, When usurers tell their gold i’ th’ field, And bawds and whores do churches build, Then shall the realm of Albion Come to great confusion; Then comes the time, who lives to see’t, That going shall be used with feet. (3.2.81–94) Wann die Pfaffen die Welt nur mit Worten bessern, Wann die Brauer ihr Malz zu sehr verwässern, Der Junker des Schneiders Vormund genannt wird, Statt des Ketzers der Dirnenjäger verbrannt wird; Wann vor Gericht ein Jeglicher Recht hat, 138 | Intervention 

Der Herr keine Schulden und Geld der Knecht hat; Wann Verleumdung anstimmt Lobgesänge, Der Taschendieb meidet das Volksgedränge, Die Wucherer borgen aus Lieb’ und Vertrauen, Die Kuppler und Huren Kirchen erbauen: Dann kommt Britanniens Reich und Thron In große Verwirrung nebst Konfusion, Dann kommt die Zeit – wer lebt wird sehn – Wo es Mode wird, mit den Füßen zu – gehn. (J)

Auf die Ungereimtheit dieser Weissagung verweist Shakespeare, oder der Interpolator, indem er die unreinen Reime häuft: »matter« – »water«, »tutors« – »suitors«, »tongues« – »throngs«, »field« – »build«, »Albion« – »confusion«, »see’t« – »feet«. Die bestimmende Ungereimtheit ist hier eine der Zeiten. Prophetie bezieht sich auf die Zukunft. Diese erfaßt sie in einem Konditionalsatz, zum Beispiel: Wenn bestimmte Zeichen am Himmel erscheinen werden, dann wird das Jüngste Gericht über die Menschheit hereinbrechen. Die ersten drei Verse, mit »When« eingeleitet, statuieren offenbar Bedingungen. In einer Prophezeiung verwundern sie allerdings. Was hier gesagt wird, erfordert keinen Propheten. Es bezieht sich auf Vergangenheit und Gegenwart: Seit langem war es üblich, daß Priester die Welt nur mit Worten besserten, nicht mit Taten, daß die Brauer das Bier verwässerten und der Adel von der Mode mehr Aufhebens machte als die Schneider selbst. Prophetie wurde versprochen, Satire wird geboten. Der vierte Vers weicht indes vom gerade etablierten Schema ab. Daß »[s]tatt des Ketzers der Dirnenjäger verbrannt wird«, könnte Gegenwart oder Zukunft sein, wünschenswert oder verwerflich. Den Zuschauern im Theater bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken oder es zu entscheiden; jeder Vers springt hier in eine andere Sphäre der Gesellschaft und sogleich wieder aus ihr heraus. Prophetie soll Orientierung geben über die Zeit; aber was der Narr vorbringt, desorientiert. Da der vierte Vers erstmals ohne das »When« beginnt, wirkt er wie die Kadenz einer Melodie – jetzt könnte das »Then« folgen. Es kommt anders. Der Narr fährt fort mit »When«; doch nun steigert sich die Konfusion. Statt daß es in gleicher Weise weiterginge, wie die Konjunktion erwarten läßt, schlägt die Rede um ins Gegenteil: Utopie Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 139

tritt an die Stelle von Satire. Unfehlbare Gerechtigkeit zwischen den Menschen, Wohlstand für alle, Wohlwollen in aller Rede über einander und so weiter: so ist die Welt offenbar nicht beschaffen. Wird sie es einmal sein ? Dann erübrigte sich das »Then«, denn die Prophezeiung wäre gemacht: Die gegenwärtige Misere (Vers 1 bis 4) wird von einer schönen Zukunft (Vers 5 bis 10) abgelöst. Da aber Verwirrung das Ziel ist, folgt jetzt, eben weil es sich erübrigt hat, das »Then«. Es sagt, statt die schöne Zukunft der vorangehenden sechs Verse fortzuschreiben, daß Britannien in Verwirrung gestürzt wird, wie es gerade dem Zuschauer mit dieser Prophezeiung passiert, aber auch dem archaischen Britannien der Tragedy of King Lear infolge des fehlgeleiteten Umgangs des Königs mit seinem Erbe. Worin besteht aber die Verwirrung ? An dieser Stelle müßte das Buch der Offenbarung sich öffnen, die Apokalypse ausgemalt werden. Diese Erwartung, mit ihr die großen Worte des Propheten – »realm«, »great«, »the time« –, mit diesen wiederum die Idee von Zukunft, auf die hin Prophetie zu orientieren behauptet, läßt der Narr jedoch zerplatzen in einer Platitüde, nämlich: daß man mit den Füßen geht. Letzteres ist indes auch der Grund, warum es niemals besser wird auf der Welt: weil in ihr alles immer so weiter geht, wie es immer ging. Mit der zielsicher plazierten Antiklimax ist die Prophezeiung des Narren, die keine war, beendet. Nicht beendet ist aber seine Rede. Denn bevor er abgeht, fügt er seinen Versen noch einen Satz in Prosa hinzu: »This prophecy Merlin shall make, for I live before his time« (3.2.95–96), »Diese Weissagung wird Merlin verkünden, denn ich lebe vor seiner Zeit«. Was hat es mit dieser Nachbemerkung auf sich ? King Lear spielt in einem imaginären archaischen Britannien, etwa des 8. Jahrhunderts vor Christus. Damit der Narr archaisch klingt, parodiert Shakespeare hier die Sprache Chaucers, also das Middle English des 14. Jahrhunderts. Merlin selbst, den Zauberer aus der Artussage, von dem Geoffrey of Monmouth in seiner lateinischen Chronik aus dem 12. Jahrhundert, De gestis Britonum, berichtet, stellte man sich zwischen diesen Zeiten vor, etwa im 6. Jahrhundert nach Christus. Shakespeares Text aus dem frühen 17. Jahrhundert ist also an dieser Stelle ein Palimpsest der Zeiten. Innerhalb dieses Palimpsests plaziert sich der Narr frech als tiefste Schicht. Ein anderer Prophet, Merlin zum Beispiel, würde 140 | Intervention 

Ereignisse prophezeien. Einen solchen übertrumpft der Narr aber komisch: Er prophezeit den Propheten. Denn er lebt ja vor dessen Zeit – »I live before his time« – und weiß schon, was dieser sagen wird. Damit entwertet er den Propheten, setzt dessen Prophetie zur überflüssigen Wiederholung herab; Voraussagen sollten nicht voraussagbar sein. Kurz: Propheten kommen und gehen, aber was allen Prophezeiungen zugrunde liegt, ist Narretei. Die beiden großen pathetischen Weisen, über die Zukunft zu verfügen, das Kommando und die Vision, sind absurd. Lektionen der Ohnmacht machen Lears Narren – bis zu dem Punkt, an dem die Lektionen halbwegs sitzen, also lange – zum heimlichen Zentrum der Handlung, wie der König das offenkundige ist. Aber das heimliche Zentrum ist dem offenkundigen überlegen: »I am better than thou art now; I am a fool, thou art nothing« (1.4.167–168), »Ich bin besser, als du jetzt bist; ich bin ein Narr, du bist nichts«, sagt der Narr zu Lear. Auch damit spricht er die Wahrheit. Denn den Machthaber bezeichnet die Macht, und diese kann er verlieren – so wie Lear sie verloren hat –; den Narren hingegen bezeichnet die Narrheit: diese kann er nicht verlieren; jedenfalls hat der ›Fool‹ im Lear sie nicht verloren. Die Härte des Redens, die aus dem intimen Verhältnis der Narrheit zur Wahrheit folgt, spricht also nicht für Lockerungsübungen – für Lockeres im einst oder heute üblichen Sinne des Wortes. Nun hat ein Satz wie »I am better than thou art now; I am a fool, thou art nothing« auf den ersten Blick mit Komik nichts zu tun: weder für ein Publikum des frühen 17. Jahrhunderts noch für ein Publikum des frühen 21. Jahrhunderts. Auf den zweiten Blick allerdings schon. Man könnte einwenden, das bereits widerlege alle Rede von Komik, denn es gebe keine andere als die auf den ersten Blick. Doch sicher ist das nicht, zumal nicht bei Shakespeare. Ein zweiter Blick also auf das »thou art nothing«. Much Ado about Nothing wäre ein Titel für mehr als eine Komödie. Es ist ein unverwüstliches komisches Muster, daß eine Erwartung sich in nichts auflöst – auch bei Shakespeare, etwa wenn Falstaffs Hinscheiden auf dem Feld der Ehre bei Shrewsbury sich als Bluff erweist. 5 Auch daß ein König sich als nichts entpuppt, könnte komisch sein. S. Kap. ›The trick of singularity‹, ¶ 15.

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Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 141

Im Lear scheint darin zwar eher die Gattungsbezeichnung im Titel der Folioversion, Tragedy, zu gründen; aber aus diesem Umstand folgt nicht, Lears und Gloucesters Taten und Leiden blieben von Komik unberührt. Vielmehr entfaltet Shakespeare die zweifache tragische Handlung als auf den Kopf gestellte Komik, deren Mitte das Wort »nothing« bildet. Während Komik, oder eine bestimmte Komik, zeigt, daß etwas, vorzugsweise etwas Großes – für Malvolio in Twelfth Night die Wende seines Schicksals – nichts war, wird im Lear umgekehrt vorgeführt, daß nichts nicht nur etwas ist, sondern dasjenige Etwas, welches den Gang der Ereignisse wie kein anderes bestimmt. Diese Demonstration setzt mit der ersten Szene des Dramas ein: Lear: […] [W]hat can you say to draw   A third more opulent than your sisters ? Speak. Cordelia: Nothing, my lord. Lear: Nothing ? Cordelia: Nothing. Lear: Nothing will come of nothing; speak again. (1.1.84–89) Lear: […] Was kannst du sagen, um dein Drittel dir   Noch reicher auszustatten als die Schwestern ? Sprich. Cordelia: Nichts, mein Herr. Lear: Nichts ? Cordelia: Nichts. Lear: Von nichts kommt nichts. Sprich noch einmal.

Von diesem Wortwechsel geht die Tragik als invertierte Komik im Lear aus; auf ihn kommt sie immer wieder zurück: Sein Nichts ist der Stein des Anstoßes. Cordelias »Nothing, my lord« bildet die ursprüngliche Intervention in den Fortgang des mächtigen Etwas: Königtum, Vaterschaft, Erbe. Lear wollte die Macht, die er lange innehatte, ohne Unterbrechung auf seine Töchter und deren Männer übergehen lassen. Ihn beherrschte der Glaube, Ununterbrochenes sei gerechtfertigt; der Verdacht, es könne auch ununterbrochene Misere geben, kam ihm nie. Den Übergang setzte Lear als Ritual in Szene; in dieses Ritual interveniert Cordelias Nichts. Das »Nothing, my lord« der Exposition der Haupthandlung kehrt mit der näch142 | Intervention 

sten Szene wieder in der Exposition der Nebenhandlung; so wird diese schon gehört oder gelesen in dem Wissen, wie folgenschwer ein Nichts sein kann. Hier wie dort wird ein Geschehen angestoßen, das für die jeweiligen Protagonisten alles zunichte macht, an dem ihr Leben hing. Gloucester: Why so earnestly seek you to put up that letter ? Edmund: I know no news, my lord. Gloucester: What paper were you reading ? Edmund: Nothing, my lord. Gloucester: No ? What needed then that terrible dispatch of it into your pocket ? The quality of nothing hath not such need to hide itself. Let’s see. Come, if it be nothing I shall not need spectacles. (1.2.28–35) Gloucester: Warum steckst du den Brief so eifrig fort ? Edmund: Ich weiß nichts Neues, mein Herr. Gloucester: Was war das für ein Papier, das du eben gelesen hast ? Edmund: Nichts, mein Herr. Gloucester: Nein ? Wozu dann die schreckliche Hast, mit der du es in deiner Tasche verschwinden ließest ? Die Qualität des Nichts hat es nicht nötig, sich zu verstecken. Laß sehen. Komm, wenn es nichts ist, brauche ich keine Brille.

Wie Lear in der korrespondierenden Szene glaubt Gloucester, nichts sei dasjenige, womit er nichts zu schaffen hat; das, womit er zu schaffen hat, meint er, sei jedenfalls etwas. Edmunds »Nothing, my lord« (1.2.31) spiegelt das Cordelias (1.1.86) – aber spiegelverkehrt: als Lüge die Wahrheit. Im Spiegel ist man nicht Geste, sondern Maske. Dabei ist die Lüge, die zählt, gerade nicht das, was Gloucester dafür hält. Daß Edmund den Brief zu »Nothing« erklärt: diese Lüge ist nur sein abgefeimter Trick, Gloucesters Neugier zu wecken. Die Lüge, die zählt, ist der Brief selber. Gloucester indes findet ein Nichts, das man in die Tasche stecken kann, vorwiegend komisch. Oberflächlich ist es das allerdings, und Gloucester selbst ist, in den Anfangsszenen, oberflächlich. Darum kann Edmund durch das Mittel des gefälschten Briefes so in den Lauf der Dinge intervenieren, daß Gloucester sich weiterhin für den Herrn Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 143

der Lage hält. Shakespeares tragikomische Kunst ist eine des doppelten Bodens: Unter der komischen Oberfläche der Brille, deren es nicht bedarf, um nichts zu sehen, plaziert er die tragischen Omina. Was sich hier andeutet, ist in der Tat, wie Gloucester sagt, »terrible«. Doch schrecklich ist nicht das, was er so nennt; schrecklich sind die unter solcher Oberfläche liegenden Absichten Edmunds, dessen Alliierte Gloucester bald die Augen aus den Höhlen drücken werden:6 das Ende seines »Let’s see«. Wo es um alles oder nichts geht, scheint Ernst geboten. Sofern im Lear von Komik die Rede sein kann, dient sie – obwohl sie denen gilt, die sich verrannt haben – weder der Auflockerung noch sonst einer Lockerung: für Gloucester so wenig wie für Lear. Dessen Weg markieren drei Stadien im Verhältnis zu nichts. Zu Beginn – in der angeführten Prüfung Cordelias – hält Lear sich selbst für alles und meint, aus nichts werde nichts. Das eine wie das andere erweist sich als falsch; die beiden folgenden Stadien berichtigen zunächst die erste, dann die zweite Annahme. Im zweiten Stadium erteilt der Narr Lear die Lektion, daß er nichts ist: eine nackte (»naked«, 3.4.28) Wahrheit, wenn es je eine gab. Erst als er dies erfaßt hat – es kostet ihn Mühe –, sieht Lear im dritten Stadium, daß aus nichts doch etwas werden kann: Nur dies befähigt ihn, wieder zu Cordelia zu finden. Die Narrheit, die in diese Lektionen über nichts eingeht, kann von Anfang an nicht anders als bitter sein; hier ist dieser Anfang: Kent: This is nothing, fool. Fool: Then ’tis like the breath of an unfeed lawyer: you gave me nothing for ’t. Can you make no use of nothing, nuncle ? Lear: Why no, boy. Nothing can be made out of nothing. Fool [to Kent]: Prithee, tell him so much the rent of his land ­comes to. He will not believe a fool. Lear: A bitter fool. (1.4.121–128) Kent: Das ist nichts, Narr. Narr: Dann ist es wie der Atem eines unbezahlten Advokaten; du gabst mir nichts dafür. Kannst du von nichts keinen Gebrauch machen, Onkel ? Gloucester erfährt in der Blendungsszene von dieser Allianz (3.7.85–87).

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Lear: Nein, mein Junge. Aus nichts kann man nichts machen. Narr [zu Kent]: Bitte, sag’ ihm doch, daß die Einkünfte seines Landes genau so viel ausmachen. Einem Narren glaubt er nicht. Lear: Einem bitteren Narren.

Das Intervenieren, bei Cordelia ein einmaliger Akt, ist dem Narren Metier. Den Gang der Dinge bestimmen andere; sein Beruf ist es, Einfälle zu haben, mit denen er einfällt ins Reden vom Gang der Dinge. Diesem Beruf gemäß ist er der Spezialist für nichts an der Seite des Königs. Er verdient sich sein Brot, eine reale Substanz, mit einer Folge von Wortspielen, Witzen und Rätseln – lauter Nichtigkeiten. Und eben diese Nichtigkeiten kommen der Wirklichkeit der Macht – in diesem Fall der politischen Ökonomie Britanniens – näher als Lears, Kents, Albanys moralische Empörung über die neuen Machthaber. Wieder hat der Dialog einen doppelten Boden. Noch hat Lear nichts gelernt. Sein »Nothing can be made out of nothing« (1.4.125) wiederholt nahezu, was er Cordelia entgegnet hatte: »Nothing will come of nothing« (1.1.89). Wenn Lear das glaubt, dann hat er versäumt, es auf sich selbst anzuwenden. Er hat all seinen Grund und Boden weggegeben, ohne aus seinem Prinzip ›Von nichts kommt nichts‹ zu folgern, daß kein Grund und Boden keinen Ertrag abwirft: Ein König ohne Land ist, in den frechen Worten des Narren, »a shelled peascod« (1.4.173), »eine ausgekernte Erbsenschote«, leer. Nach den Maßstäben von Staat und Gesellschaft, in deren Zentrum er zuvor stand, ist ein solcher König nun nichts. Die Logik beherrscht ein Narr ersichtlich besser als andere. Was in der Logik die Konklusion ist, das ist im Witz die Pointe. Schwächt man Konklusionen ab, leidet die Logik; macht man Pointen, also Spitzen, stumpf, leidet der Witz. Er ist weniger Witz in dem Maße, in dem er schonend beigebracht wird; das Schonungslose der Narrheit des Narren nennt Lear »bitter«. Doch was seine Rede für ihn bitter macht, greift tiefer als der Hinweis auf Lears Armut. »Can you make no use of nothing, nuncle ?« – diese Frage enthält den Stachel, daß es Lear nicht gelang, mit Cordelias »nothing« etwas anzufangen. Am Ende wird Lear Cordelia »my poor fool« (5.3.279) nennen; denn sie, wie der Narr, hat wahr gesprochen. Allerdings ist es Unsinn, ›nichts‹ als den Namen von etwas zu behandeln, dem dann allerhand prädiziert wird, das doch immer Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 145

wieder lediglich nichts bedeuten kann. Aber dieser Unsinn ist kein beliebiger. Er berührt den Kern von King Lear. Die Sprache dieses Unsinns verändert den üblichen Sinn für das sogenannte Wirkliche. Shakespeares Tragödie macht aus der Forderung, den Gebrauch von nichts zu erlernen – ›making use of nothing‹ –, einen Witz und eine Wahrheit. Was mit Lear nicht stimmt, wird erkennbar in dem komischen Medium, als das Shakespeare den Narren einsetzt; durch ihn erkennen die Zuschauer dies Unstimmige, bevor Lear selbst soweit ist. Diese eigentümliche Form nimmt Tragikomik auch in der Nebenhandlung an: Im komischen Modus wird ein Wissen von der tragischen Figur, hier Gloucester, in Szene gesetzt, das der tragischen Figur selbst fehlt. Dieses komische Wissen ist moralisch indifferent; auch Edmund besitzt es mit Blick auf seinen Vater und spielt es ohne Skrupel gegen ihn aus. Darum fällt in der Tragedy of King Lear an entscheidender Stelle in der Exposition der Nebenhandlung das Wort »comedy«: beim ersten Zusammentreffen von Gloucesters beiden Söhnen, des legitimen und des illegitimen. Als Edgar eintritt, sagt Edmund zunächst zu sich selbst, dann (ab »O«) vernehmlich: Pat: he comes like the catastrophe of the old comedy; my cue is villainous melancholy, with a sigh like Tom o’Bedlam. [Aloud] O these eclipses do portend these divisions. Fa, sol, la, mi. (1.2.124– 127)7 Patsch: er kommt wie die Katastrophe in der alten Komödie. Mein Stichwort ist spitzbübische Schwarzseherei, mit einem Seufzer wie von Tom dem Irren. [Laut] Oh, diese Verfinsterungen künden Zwietracht. Fa, sol, la, mi.

Nicht nur »comedy«, sondern auch »cue«, »Stichwort«: Es soll bemerkt werden, daß hier Theater im Theater gespielt wird. Zwar platzt Edgar als »catastrophe« in die Komödie; doch davon ahnt er nichts. Edgar taugt nur zur »catastrophe«, das heißt zum Wende-

Mit »old comedy« ist die römische gemeint – Plautus und Terenz.

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punkt der Handlung, 8 weil Edmund die Komödie so eingerichtet hat, daß sie sich zu seinen eigenen Gunsten wendet. Und gerade zu dieser von ihm gewollten und gemachten Wendung der Verhältnisse zitiert er als komischer Schauspieler und Autor in Personalunion – er hat sich seine Rolle auf den Leib geschrieben – Unabwendbares. Die »eclipses«, von denen Edmunds Gespräch mit Edgar seinen Ausgang nimmt (1.2.126), greifen zurück auf die vorausgehenden Worte des Vaters; Gloucester entwarf von den Verfinsterungen der Himmelskörper her eine düstere Vision tragischer Notwendigkeit: These late eclipses in the sun and moon portend no good to us. Though the wisdom of nature can reason it thus and thus, yet nature finds itself scourged by the sequent effects. Love cools, friendship falls off, brothers divide; in cities mutinies, in countries discord, in palaces treason, and the bond cracked ’twixt son and father. This villain of mine comes under the prediction: there’s son against father, the King falls from bias of nature: there’s father against child. We have seen the best of our time. Machinations, hollowness, treachery, and all ruinous disorders follow us disquietly to our graves. Find out this villain, Edmund. It shall lose thee nothing. Do it carefully. And the noble and true-hearted Kent banished, his offence honesty: ’tis strange. (1.2.95–108) Die jüngsten Verfinsterungen von Sonne und Mond verheißen nichts Gutes. Mag die Naturkunde sie auch so oder so erklären, die Natur selbst findet sich doch von den Folgen solcher Erscheinungen gegeißelt. Liebe erkaltet, Freundschaft zerfällt, Brüder entzweien sich; in den Städten Meutereien, in Ländern Zwietracht, in Palästen Verrat, und das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen. Dieser Verbrecher macht die Vorzeichen wahr: da ist Sohn gegen Vater; der König verleugnet den Hang der Natur: da ist Vater gegen Kind. Unsere beste Zeit liegt hinter uns. Heimtücke, Leerheit, Verrat und zerstörerische Unordnung verfolgen uns bis zum Grab. Forsch’ den Verbrecher aus, Edmund ! Es soll dein Schade nicht Der Terenz-Kommentator Euanthius nennt die »catastrophe« eine »Umwendung der Dinge«, »conversio rerum« (›Commentum de comoedia‹, 8). 8

Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 147

sein. Sei umsichtig dabei ! Und der edle, treue Kent verbannt ! Sein Verbrechen ? Ehrlichkeit. Es ist seltsam.

Mit diesen Worten ging der Vater ab. Edmund aber bietet, ohne daß ein einziges vermittelndes Wort dazwischenträte, in seinem Monolog komische Parodie und psychologische Erklärung der tragischen Vision Gloucesters in einem: This is the excellent foppery of the world, that when we are sick in fortune – often the surfeits of our own behavior – we make guilty of our disasters the sun, the moon, and stars, as if we were villains on necessity, fools by heavenly compulsion, knaves, thieves, and treachers by spherical predominance, drunkards, liars, and adulterers by an enforced obedience of planetary influence; and all that we are evil in, by a divine thrusting on. An admirable evasion of whoremaster man, to lay his goatish disposition to the charge of a star ! My father compounded with my mother under the Dragon’s tail, and my nativity was under Ursa Major, so that it follows I am rough and lecherous. I should have been that I am had the maidenliest star in the firmament twinkled on my bastardizing. (1.2.109–123) Das ist doch in der Welt der Blödsinn auf seiner höchsten Stufe: Wenn wir kein Glück haben – oft weil wir des Guten zu viel getan haben –, schieben wir die Schuld an unserem Mißgeschick auf Sonne, Mond und Sterne, als wären wir Verbrecher durch Notwendigkeit, Narren durch himmlische Nötigung, Gauner, Diebe und Verräter durch die Macht der Sphären, Säufer, Lügner und Ehebrecher durch aufgezwungene Unterwerfung unter den Einfluß der Planeten, und alles Üble, das wir sind, durch himmlischen Anstoß. Wundervolle Ausrede für einen Hurenbock, seine Brunst einem Stern zur Last zu legen ! Mein Vater wurde mit meiner Mutter unter dem Drachenschweif handelseinig und unter dem Großen Bären kam ich zur Welt – daraus soll folgen, daß ich derb und lüstern bin. Ach was; ich wäre geworden, was ich bin, hätte der jungfräulichste Stern am Firmament über meiner Bastardzeugung gefunkelt.

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Beide Reden, die Gloucesters und die Edmunds, sind gleich lang, als gälte es, das tragische und das komische Gewicht an dieser Stelle auszutarieren. Die tragische Vision einer zerrissenen Welt bietet der Komik einer sich mit kosmischen Vorgängen drapierenden ziegenhaften (»goatish«) Geilheit allererst das Material. Und die Komik schärft die Tragik der Figur Gloucesters, der im übertragenen Sinne für seinen älteren Sohn blind wird, ehe er durch die Verbündeten seines jüngeren Sohnes im wörtlichen Sinne erblindet. Das Nichts, das er unbedingt sehen wollte, der gefälschte Brief, macht ihn blind für das, was ist. Es gibt hier nicht eine Komödie und eine Tragödie; vielmehr: Edmunds »comedy« ist Gloucesters Tragödie. Aber sie kann es nur sein, insofern die Beziehung der Protagonisten dieser beiden Stücke, das ein einziges wird, asymmetrisch ist. Der Sohn beherrscht auch die sakrale Sprache des Vaters (etwa 2.1.44– 47) – sie zu simulieren heißt, seine Komödie zu spielen –, während der Vater von der Sprache, in der das Ganze auf die »foppery« von »fools« heruntergebracht ist, nichts ahnt. Der Komödiant ist um eine Drehung der Reflexion weiter als die tragische Gestalt. Obschon Gloucester verblendet ist und das Publikum dies weiß – denn es kennt Edmunds Intrige –, war nichts an seinen Worten von Haus aus lächerlich. Shakespeare gestaltete sie zu in ihrer Düsternis eindrucksvoller Rede. Edmund muß diese erst lächerlich machen. Seine komische Sicht der Dinge verhält sich wie, ja als Aufklärung zum Mythos, mochte dieser sich in Gloucesters, des gebildeten Mannes, Worten noch so sehr intellektuell gewählt – »sequent effects« – artikulieren. Die neue Wissenschaft wischte Gloucester vom Tisch – »the wisdom of nature can reason it thus and thus« –; »nature finds itself scourged«, im selben Satz, war pathetischer Anthropomorphismus, wie ihn Edmund dann aufspießt. Die Anzeichen der Unordnung in der Gesellschaft, die Gloucester in der Natur fand, hatte er allererst in sie hineingesteckt. Daß Astrologie im 17. Jahrhundert noch als respektable Disziplin galt, ficht Edmund, der sich auch sonst keiner Autorität beugt (es sei denn aus Berechnung), nicht an. Als Demontage des Mythos ortet Aufklärung, durch Umkehrung der Perspektive, Freiheit, wo jener nur Notwendigkeit erblickt. Wille des Einzelnen steht gegen allgemeines Schicksal. Der Mythos sagt: Alles hängt mit allem zusammen; Aufklärung isoliert die Elemente, trennt Astronomie von Psychologie Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 149

und macht sich über den mythischen Beziehungswahn lustig. »My father compounded with my mother under the Dragon’s tail«  – die Gestirne haben Besseres zu tun, als sich um Techtelmechtel zu kümmern. Zum tragischen Text – »all ruinous disorders follow us disquietly to our graves« – liefert die Komik des Verstandes, eine Komik der Inkongruenz und der Überlegenheit, den Kommentar, der jenen unterminiert, doch dem Autor des tragischen Textes, Gloucester, entzogen bleiben muß. Edmunds eher schadenfrohe als fröhliche Wissenschaft ist fürs Publikum. Dieses erhält Aufklärung; in der dramatischen Handlung selbst bleibt sie bloße Aufgeklärtheit, die Wahrheit nicht unter die Leute bringt, sondern für sich behält. Nur sofern die anderen außerhalb des Lichts der Aufklärung bleiben, kann das Kalkül des Aufgeklärten aufgehen: genau die Komödie zu spielen, die er ersonnen hat. So wird der Kommentator des väterlichen Textes, Edmund, doch auch zu einem Autor eigenen Rechts: Spaß machen ihm einzig Verbrechen, die von Anfang bis Ende die seinen sind, ohne Mitwirkung kosmischer Ursachen. Edmund ist der moderne self-made man: »Let me, if not by birth, have lands by wit« (1.2.163), »Wenn nicht Geburt, verschafft mein Kopf mir Land«. Mit dem self-making hat es freilich eine eigene Bewandtnis. Auch Edmunds Verbrechen könnten sich nicht ohne Mitwirkung anderer vollziehen. Doch daß er mit seinem Vater und seinem Bruder spielt, bedeutet lange nicht, sie spielten mit ihm. Spiel wird häufig so wahrgenommen, als sei es an die Bedingung der Wechselseitigkeit geknüpft – wirklich kann ein Team nur Fußball spielen, wenn das andere Team Fußball mit ihm spielt und nicht irgend etwas anderes treibt, zum Beispiel den Rasen umgräbt. Doch so ist es nicht immer. Das Spiel des Heiratsschwindlers ist nur für ihn eines, nicht für die Getäuschten; was den Kater als Spiel vergnügt, das Herumwirbeln der Maus, gerät dieser zu tödlichem Ernst; Krieg kann Spiel, ein strategisches und taktisches, für den darstellen, der ihn führt, aber nicht für den, der von der Bombe zerrissen wird. Auch Edmund spielt im Lear Komödie unter der Bedingung, daß Gloucester und Edgar sie nicht als Spiel und nicht als Komödie durchschauen. Das Mißverhältnis des Wissens ist – für ihn – komisch. Erhabene kosmische Konstellationen mit einer sozial anrüchigen Form sexuellen Vergnügens zu kontrastieren provoziert nicht lautes Auflachen, 150 | Intervention 

sondern läßt mit einem Schlag das Lächerliche an einer Sache sehen, die eben noch in ihrem Ernst Eindruck machte – Komik der Intelligenz eher denn des Zwerchfells. Sie braucht, wie die Szene 1.2 zeigt, die Tragik, um sich von ihr abzustoßen, und führt wieder in sie hinein. Auch in diesem Sinne, nicht nur im Sinne eines Oben und Unten auf dem Rad der Fortuna, gilt Edmunds Wort in der letzten Szene: »The wheel is come full circle« (5.3.166). Das Rad ist ein Bild der Zeit. Die Zeit der Komik ist anders beschaffen als die der Tragik. Wie Kürze die Seele des Witzes bildet – Shakespeares Witz ist, den Satz »brevity is the soul of wit« dem exemplarischen Schwätzer, Polonius, in den Mund zu legen –,9 so kommt Komik besonders akut, also intermittierend und inter­ venierend zur Geltung. Auch die Verfasser großer komischer Formen wie komischer Romane – Cervantes im Don Quixote oder Thomas Mann im Felix Krull etwa – kommen nicht darum herum, ein ums andere Mal komische Momente zu schaffen. Im vierten Lear-Akt ist Edgar ein Agent solcher Interventionen. Shakespeares besondere Kunst läßt sie nicht, wie es gerade bei diesem poetischen Verfahren naheläge, in ein bloßes Nebeneinander von Komischem und Tragischem führen. Weil das komische Wissen vom Tragischen moralisch indifferent ist, kann Edgar sich Gloucesters leichtgläubige Art ebenso in – so jedenfalls beansprucht es Edgar für sich – hochherziger Absicht zunutze machen, wie Edmund es in niederträchtiger Absicht tat. Während indes Edmund sich über Narrheit nur mokiert (1.2.109), hat Edgar an ihr teil. Gestaltete Shakespeare das Reden des namenlosen ›Fool‹ als komische Reflexion der tragischen Hauptfigur, des Königs, so werden die Worte und Taten Edgars in seinen närrischen Verkleidungen, bis hin zur Nacktheit, zur komischen Reflexion beider tragischer Figuren des Dramas, Lears wie Gloucesters. Shakespeare, Hamlet, 2.2.90, 134. »Wit« bedeutet hier eher Scharfsinn als Witz. Doch indem Shakespeare mit eben diesen Worten Witz an den Tag legt, ja einen Witz auf Kosten des Phrasendreschers macht, ist auch dieser Sinn anwesend. Expliziert hat die Beziehungen zwischen Scharfsinn, Kürze, Witz und Witzen dann Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, bes. 175–178. Zur Beziehung zwischen »wit« und Witzen (»jokes«) vgl. a. Empson, The Structure of Complex Words, 87. In historische Perspektive rückt die Kürze Neumann, Vom Schwank zum Witz. 9

Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 151

Edgar will in die Tragödie eines Selbstmords seines Vaters mit der Komödie eines fehlschlagenden Selbstmordversuchs intervenieren, so jene abbrechend. Wenn Reflexion Spiegelung bedeutet, so ist die Edgars eine verzerrte. Auf seine gute Absicht verfällt er nur, weil er seinen Vater verkennt. Gloucester ist nicht eine tragische Figur, deren Leben zu früh abgebrochen würde, sondern eine tragische Figur, deren Leben sich, »comfortless« (3.7.82), zu lange schon hinschleppt.10 Um ihn davon abzuhalten, seinen einzigen verbliebenen Wunsch – den Wunsch zu sterben – wahr zu machen, muß der pseudonym auftretende Edgar, wie er klar sieht, den blinden Vater an der Nase herumführen. Er vollführt dazu unter einer Maskerade ein komisches Manöver: Edgar tut so, als bringe er Gloucester an einen Abhang am Meer bei Dover, so daß dieser springen kann; tatsächlich stehen beide auf ebenem Gelände. Damit macht Edgar sich zum Regisseur eines sehr speziellen Theaters im Theater, dessen einziger Schauspieler, Gloucester, nie merkt, daß er als Schauspieler eingesetzt wird. Das komische Manöver verlängert nur das Andauern des tragischen ›overliving‹, wie das prägnante englische Wort lautet, zu dem es kein deutsches Pendant gibt; die Komik intensiviert die Tragik. Doch dieser Umstand mildert nicht die Spannung zwischen ihnen; er rührt von ihrer Spannung her. Edgar spürt diese, wenn er das eigene Tun mit den Worten charakterisiert: »I do trifle thus with his despair« (4.5.33), »Ich treibe Späße mit seiner Verzweiflung«. Sie werfen die Frage nach dem Sinn des Tragikomischen auf. Edgar gibt sich selbst auf diese Frage zwar eine Antwort: »to cure it [sc.: his despair]« (4.5.34), »sie [sc.: seine Verzweiflung] zu heilen«. Die Komik ist, anders gesagt, gar nicht das Gegenteil der Tragik, sondern eine bestimmte Weise, mit der Tragik zu leben, in diesem Fall: mit ihr am Leben zu bleiben. Doch die Antwort, die Edgar sich selbst auf jene Frage gibt, überzeugt nicht. Gloucesters Verzweiflung ist an diesem Punkt nicht mehr zu heilen – oder, falls doch, dann nur durch den Tod, den Gloucester sucht, Edgar hingegen eben mit seinen Späßen (»trifles«) verhindert. Gloucester kann den Kreidefelsen bei Dover nicht sehen, weil er blind ist. Aber auch Edgar kann den Abhang nicht sehen: es gibt keinen. Da beide auf flachem Grund stehen, muß Edgar die Klippe 10

Wilson, Mocked with Death, 113–128.

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dichten – und er muß sie ausschweifend dichten, um seinen Vater in den Schwindel zu versetzen, den sonst der Blick in den Abgrund schaffen würde. Seine Schilderung wird zugleich zur Meditation über die Gefahren und die Grenzen des Sehens: Come on, sir, here’s the place. Stand still. How fearful And dizzy ’tis to cast one’s eyes so low ! The crows and choughs that wing the midway air Show scarce so gross as beetles. Halfway down Hangs one that gathers samphire, dreadful trade ! Methinks he seems no bigger than his head. The fishermen that walk upon the beach Appear like mice, and yond tall anchoring bark Diminished to her cock, her cock a buoy Almost too small for sight. The murmuring surge That on th’ unnumbered idle pebbles chafes Cannot be heard so high. I’ll look no more, Lest my brain turn and the deficient sight Topple down headlong. (4.5.11–24) Kommt, Herr; dies ist der Ort; steht still. Wie furchtbar Und schwindelnd ist’s, den Blick so tief zu senken ! Die Krähn und Dohlen in der Mitte flatternd Sehn kaum wie Käfer aus; halbwegs hinab hängt Ein Mann, der Fenchel sammelt – grausig Handwerk ! Nicht größer als sein Kopf kommt er mir vor; Die Fischer, die am Strande gehn, erscheinen Wie Mäuse, dort das hohe Schiff vor Anker Klein wie sein Boot, sein Boot wie eine Boie, Fast nicht zu sehen mehr; der Brandung Rauschen, Die um zahllos unnütze Kieseln tost, Dringt nicht so hoch. Ich schaue nicht mehr hin; Das Sehn vergeht mir sonst, und in die Tiefe Kopfüber stürz’ ich. (H)

So führt Edgar die Szenerie vor Augen, um sie zum Ort der Handlung – der Selbsttötung – für Gloucester zu machen. Der Blick des Sohns, jetzt, und der Akt des Vaters, danach, sollen korrespondieMacht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 153

ren. Die Richtung ist jeweils ausschließlich die nach unten. Eine Korrespondenz aber gibt es auch bereits innerhalb dieser Schilderung. Abwärts gerichtet zu sein, das gilt hier für den Blick und fürs Erblickte: Für die Sicht, die Augen »cast […] so low«, und für den Mann, der am Rand hängt wie das Wort »Hangs« am Rand der Verszeile. Bezogen ist beides aufeinander in einem weiten Raum. In die Tiefe blicken, in diese Tiefe, heißt zugleich in die Ferne blicken. Je länger man an dieser Stelle hinschaut, desto mehr entziehen die Dinge sich dem Blick. Sie sind nicht länger, was sie sind; Vögel scheinen Insekten zu sein, Menschen kleine Tiere. Diese Distanz klärt und ernüchtert nicht; sie verrückt. »Lest my brain turn«, »daß mein Gehirn sich nicht dreht« bedeutet, ähnlich dem deutschen Verb ›durchdrehen‹, daß Wahnsinn droht; Herweghs »Das Sehn vergeht mir sonst« – eher auf eine Ohnmacht (›mir vergeht Hören und Sehen‹) deutend – ist noch zu harmlos. Sicher sucht Herwegh hier zugleich den folgenden Ausdruck »the deficient sight« zu übertragen. Das Subjekt der Schlußwendung, »and the deficient sight / Topple down headlong« ist metonymisch, pars pro toto: die Sicht steht für das Ich, das erste Wort des letzten Satzes (»I«), das bei Herwegh, der die Figur rückgängig macht, zum Subjekt wird. Es liegt aber in der Logik des Passus, daß gerade die Sicht abstürzt, die in den Wahnsinn geführt hat. Für Gloucester, der nicht sieht, sollte es hier einen Weg geben, der dem Wahnsinn entgeht, und einen solchen hat Edgar im Sinn. Andernfalls droht, was das Englische mit einer ebenfalls schwer zu übersetzenden Wendung ›going over the edge‹ nennt. Bei Sinnen bleiben hieße, nicht bis zum Letzten den Sinnen, jedenfalls dem Sehsinn folgen. Er führt in den Abgrund. Allein von dieser in der Imagination beider geschaffenen tragischen Fallhöhe her wird die Komik, die sich nun entspinnt, möglich.11 Der Sturz oder Fall gehört zu dem, wovon Lessing sagt, es sei »der Tragödie und dem Possenspiele […] gemein« – Geschehnisse, »über die wir entweder spotten oder zittern wollen«;12 wie der Sturz ausfällt, macht den Unterschied. Gloucester tut den suizidalen Schritt über den Klippenrand – und fällt flach auf den Boden vor ihm. Slapstick also sieht Shakespeare an dieser Stelle vor: Grobe 11

Wilson Knight, ›King Lear and the Comedy of the Grotesque‹, 118. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 56. Stück, 491.

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Komik bildet bei ihm keinen Gegensatz zur feinen Komik, sondern erscheint neben ihr als einer der zwei Aggregatzustände des selben Elements, der lebendigen Komik; gemeinsamer Gegensatz beider Zustände wäre eine sterilisierte oder zu anderen Zwecken lediglich benutzte Komik. Was Gloucesters Leib betrifft, gelingt Edgar mit dessen Sturz, der keiner ist, die komische Intervention ins tragische Geschehen; dessen Seele, glaubt er, wird sich darein finden. Tragisches und Komisches steigern einander hier nicht, indem das eine sich dem anderen assimiliert, sondern indem sie sich komplementär verhalten: Edgars tragische Vision eines intakten Sehsinns, der in den Wahn treibt, wird evoziert durch Worte, ohne daß das beschriebene Ding, die Klippe bei Dover, da wäre; die Komik hingegen erzeugt sich durch den Leib ohne Sprache. Das Ansetzen zum Sprung und die Landung platt davor sind reine Pantomime, wenngleich gewiß nachher wieder geredet wird: »Thy life’s a miracle« (4.5.55), »Dein Leben ist ein Wunder«, läßt der Sohn, in wieder neuem Inkognito, ihn wissen; »But have I fall’n or no ?« (4.5.56), »Aber bin ich gefallen oder nicht ?«, fragt der Vater nach. »Look up a-height […] Do but look up« (4.5.58–59), er möge doch nur aus dem Abgrund nach oben blicken, fordert der Sohn Gloucester auf, einmal mehr dessen Blindheit ausbeutend. Dies ist eine Farce, und daß Edgar sie spielt und spielen kann, stellt noch einmal dasjenige Moment an Gloucester heraus, das ihn sein Glück kostete: seine Leichtgläubigkeit – Leichtgläubigkeit bis zur Dummheit. Die Komik der Szene legt insofern den Finger auf die Wunde – zwar auf komische Art, doch eben auf die Wunde. Die tragikomische Übung muß absolviert werden, glaubt Edgar und weiß doch zugleich längst, wie fragwürdig sie ist: »Bad is the trade that must play fool to sorrow« (4.1.39), »Schlecht der Beruf, in dem man zum Leid den Narren spielen muß«. Mußte er ? Die Möglichkeit, das eigene Leben durch Tod zu enden, war Gloucester als »benefit« und »comfort« (4.5.61–62) erschienen; Edgar hat den Vater durch die von ihm inszenierte Farce dieser »Wohltat« und dieses »Trostes« beraubt. »Bad is the trade …«: Angesichts dieser Schlechtigkeit ist es folgerichtig, daß Edgar der Untere, der den Vater an der Absturzstelle in Empfang nimmt, Edgar den Oberen, der ihn am Klippenrand zum Sprung verleitete und den er dort neben dem Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 155

Vater gesehen haben will, also sich selbst, als Schreckgestalt, und zwar als grotesk komische, beschreibt: As I stood here below, methought his eyes Were two full moons. He had a thousand noses, Horns whelked and waved like the enragèd sea. It was some fiend. Therefore, thou happy father, Think that the clearest gods, who make them honours Of men’s impossibilities, have preserved thee. (4.5.69–74) Wie zwei Vollmonde schienen seine Augen Hier unten mir; er hatte tausend Nasen, Gewundne Hörner wallend wie die See: Gewiß ein böser Geist. Drum preis dich glücklich, Und denke, Vater, daß die lichten Götter, Die sich zur Ehre rechnen was den Menschen Unmöglich ist, dich gnädiglich beschützten. (H)

Die »tausend Nasen« imaginierend bleibt Edgar in der Farce und überhöht sie zugleich, durch die »lichten Götter«, mit religiösem Sinn. Aber er bleibt vor allem in der Lüge: Hier ist kein »happy father«. Weder das Lachen über die Farce noch der höhere Sinn lösen oder erlösen. Denn die Komik der Situation erkennt Gloucester nicht und den höheren Sinn glaubt er nicht – nicht mehr. Die poetische Lüge ist ausgereizt. Nach der langen komischen Ehrenrunde über den Kreidefelsen ist Gloucester wieder dort, wo er vorher war: in Gedanken an den Tod. Und Edgar hat ihnen am Ende – denn dies ist Gloucesters Ende – nichts mehr entgegenzusetzen als schale Lebensregeln, jenseits von Tragik und Komik, das heißt: er hat ihnen nichts entgegenzusetzen. Edgar: Come on. Gloucester: No further, sir; a man may rot even here. Edgar: What, in ill thoughts again ? Men must endure   Their going hence even as their coming hither.   Ripeness is all. Come on. Gloucester: And that’s true too. (5.2.7–11)

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Edgar: Komm’ weiter. Gloucester: Nicht weiter, Herr; selbst hier kann man verrotten. Edgar: Schon wieder hadernd ? Dulden muß der Mensch   Sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft.   Reif sein ist alles. Komm’ nun weiter. Gloucester: Auch das ist wahr.

»Men must endure / Their going hence even as their coming hither« und »Ripeness is all« haben den Charakter von Sentenzen. Einst frisch, rückt die Sentenz um 1600 in die Nähe von »an old man’s saw«,13 etwa: alter Hut, abgegriffene Redewendung. Im Fall Edgars ist es gerade der Junge, der altklug zum Alten redet. Seine Sentenz ist weniger etwas, das Edgar zu Gloucester, der Sohn zu seinem Vater sagt, als etwas, das ein weiser Mann zur unreifen Menschheit sagt – »lehrhaft« und »superklug«, wie Eichendorff solche Sprüche kennzeichnete.14 Sprecher von Sprüchen müssen widerstreitende individuelle Erfahrung aus diesen tilgen; Entleertes aber wird hohl. In ihrer Allgemeinheit, ihrem Absehen vom Besonderen, steht Weisheit dieser Art fortwährend an der Kippe zur Dummheit, wie im Singsang des Sprichworts und der bereits damals toten Metapher in den Schlußworten der Tragedy of King Lear: The weight of this sad time we must obey, Speak what we feel, not what we ought to say. The oldest hath borne most; we that are young Shall never see so much, nor live so long. (5.3.299–302)

Shakespeare, The Rape of Lucrece, 244, 163. Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, 100. – Zur vorgeschlagenen Deutung des letzten Austauschs zwischen Edgar und Gloucester vgl. den Einwand von Rüdiger Bittner: »›Ripeness is all‹ heißt doch, man hat über das Leben keine Macht. Von der Klippe zu springen ist keine gute Idee, man muß warten, bis die Früchte so reif sind, daß sie von selbst runterfallen. Das ist aber eine Weisheit, die Gloucester schon gebrauchen kann, und Lear auch. Ich empfinde diese letzten Sätze von Edgar und Gloucester wie ein Einrollen der großen Tragik, nachdem sie vorher durch Komik desavouiert wurde. Jetzt packen die Schauspieler die Masken ein und sagen, ›Gehen wir halt weiter‹, ›Come on‹. Was nicht tröstlich ist, aber womit man doch aus dem Stück herauskommt.« (Mitteilung vom 26. Februar 2021) 13 14

Macht und Wahrheit: Shakespeares Lear | 157

Gehorchen wir dem Drang der Trauerstunden, Die Rede sei, statt klug gewählt, empfunden. Das Alter trug die schwerste Last; die spätern Geschlechter dulden niemals gleich den Vätern. (J)

Das »must obey« in der letzten Szene korrespondiert dem »must endure« des dünnen Plädoyers fürs Lebenbleiben und gegen das Sterbenwollen in der vorausgehenden Szene. Die lehrhaft behauptete Notwendigkeit verdankt sich in beiden Fällen einem eigentümlichen Unwillen, sich lehren zu lassen von dem, was ist und was war. Nachdem, beginnend mit Cordelias »I cannot heave / My heart into my mouth« (1.1.90–91), fünf Akte lang gründlich vorgeführt wurde, daß Gefühl sich nicht durchsichtig in Sprache überträgt, faßt Edgar zusammen, man solle sein Gefühl durchsichtig in Sprache übertragen. Das, was als Moral von der Geschichte ausgeboten wird, hat die Geschichte längst desavouiert. Auf die gereimten Banalitäten dieser Moral antwortet niemand mehr, es sei denn die Zuschauer. Edgars Sprüche für den Vater hingegen erhalten noch eine Antwort durch diesen, fünf Worte kurz. Gloucesters letztes Wort ist »too«, »auch«. Mit Sätzen, die »auch« wahr sind und für viele Fälle gelten, ist dem Lebensmüden nicht geholfen. Die »ill thoughts« verscheucht weder ein komischer Regisseur noch endlich ein so unkomischer wie untragischer Pädagoge. Was Gloucester fehlt, ist der eigene Tod; reif (»ripe«) für ihn ist er nur allzu sehr. Komisches erweist sich als dem Tragischen durch Wissen überlegen und dennoch als unfähig, mit ihm zu Rande zu kommen. Keiner lacht am Ende des King Lear.

158 | Intervention 

Teilen, Herrschen und Genießen Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter

1  Im bürgerlichen Zeitalter, nach 1789, konnte auch Tragik nicht

bleiben, was sie lange gewesen war. Der tragische Held der Überlieferung verkörperte, wie gebrochen auch immer, die Werte der alteuropäischen Aristokratie. Die Bürger des 18. Jahrhundert störte es, daß im vorausgehenden Jahrhundert der adlige Stand der Figuren den Ausschlag für tragische Höhe zu geben schien – wie etwa Schiller an der französischen Klassik beanstandete: Die Könige, Prinzessinnen und Helden eines Corneille und ­Racine vergessen ihren Rang auch im heftigsten Leiden nie und ziehen weit eher ihre Menschheit als ihre Würde aus. Sie gleichen den Königen und Kaisern in den alten Bilderbüchern, die sich mitsamt der Krone zu Bette legen.1

Ein König, der sich mit Krone aufs Ohr legt, rückt, auch wenn er einer Tragödienfigur gleicht, ans Komische heran – aus Sicht der Bürger; in den »alten Bilderbüchern« war er einfach nur emblematisch. Embleme fungieren innerhalb einer ungebrochenen Ordnung von Zeichen als Sinnbilder. Je gebrochener ein tragischer Held die Werte des Adels verkörperte, desto lieber wurde er den Bürgern; keiner war ihnen lieber als Hamlet.2 Zwar konnten sie aus Hamlet schlecht ihresgleichen, einen Bürger, machen. Doch al Schiller, ›Über das Pathetische‹, 513. Schlegel, ›Ueber das Studium der Griechischen Poesie‹, 107: »Es giebt vielleicht keine vollkommnere Darstellung der unauflöslichen Disharmonie, welche der eigentliche Gegenstand der philosophischen Tragödie ist, als ein so gränzenloses Missverhältniss der denkenden und der thätigen Kraft, wie in Hamlets Charakter. Der Totaleindruck dieser Tragödie ist ein Maximum der Verzweiflung. Alle Eindrücke, welche einzeln gross und wichtig schienen, verschwinden als trivial vor dem, was hier als das letzte, einzige Resultat alles Seyns und Denkens erscheint; vor der ewigen Kolossalen Dissonanz, welche die Menschheit und das Schicksal unendlich trennt.« 1 2

159

lein der Umstand, daß der Prinz nicht weiß, wie er die Vorgänge in Elsinore deuten soll, nach dem Muster der Rache gemäß der altdänischen Sage, nach dem Muster höfischen Verhaltens gemäß den Brevieren der Renaissance oder nach dem Muster der Konkurrenz um Macht gemäß Machiavelli, entzog ihn der Eindeutigkeit seines Standes. Die Werte der Ritter, Krieger, Fürsten, aus denen sich ein großer Teil der tragischen Helden der Vergangenheit rekrutiert hatte, verwarf die Bourgeoisie offiziell. Sie hatte ja selbst das Heldentum abgelegt, sobald sie etabliert war. »Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen.«3 Der Ritterstand hatte Heldentum als Lebensform jedenfalls proklamiert; dem Bürgertum hingegen wurde es befristetes Mittel zur Einführung einer nichtheroischen Lebensform. Insgeheim schämte sich das Bürgertum ein wenig seines unheroischen Charakters, der Angleichung des Lebens an Buchhaltung. Selbst die Börse, mit ihrem Hauch von Abenteuer, blieb ein armseliger Ersatz für den Heiligen Gral.4 2  Partikulare soziale Werte loszuwerden kann auf mancherlei Art

gelingen; auf die feine Art gelingt es per Abstraktion. Diese fällt in die Zuständigkeit der Philosophie, und so wurde das 19. Jahrhundert, von Schelling und Schopenhauer bis Nietzsche, zur Epoche der Metaphysik – genauer: der Metaphysiken – des Tragischen (¶¶ 3–5, 9–10). Den Werten des Adels nicht verpflichtet gewesen war hingegen der komische Held. Keiner metaphysischen Abstraktionskur bedurfte daher die Komik. Die Bürger konnten sie der Psychologie überlassen (¶¶ 11–13). 3  Eine Metaphysik des Tragischen verspricht Auskunft auf Fragen

nach dem Sinn des Leidens. Aber als Metaphysik muß die gegebene Auskunft sich grundlegend unterscheiden von einer solchen, wie sie der Alltag bereithält, etwa, alles sei nur halb so schlimm. Der Weg zur metaphysischen Auskunft muß ein erheblicher Umweg sein, denn er führt über das Wesen der Dinge. Wie ist dieses Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 2. Schumpeter, Capitalism, Socialism, and Democracy, 137.

3 4

160 | Teilen, Herrschen und Genießen 

kategorial zu bestimmen ? »Mittelpunkt der Philosophie« ist nach Schelling der »Gegensatz […] von Notwendigkeit und Freiheit«.5 In einer seiner frühesten Schriften, den ›Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus‹ von 1795, 6 behauptet Schelling, im Hinblick auf diesen Gegensatz habe die neuere Metaphysik sich irrig auf je eine Seite desselben geschlagen. Dem Dogmatismus, für den Spinoza repräsentativ sei, gelte das Objekt absolut, dem Kriticismus, als dessen Vertreter damals besonders Fichte Aufsehen machte, hingegen das Subjekt. Jener setze einseitig auf die Notwendigkeit, dieser verfechte einseitig die Freiheit. Eine Philosophie des Nicht-Ich oder der Natur und damit der Determination und eine Philosophie des Ich und damit der Spontaneität, so Schelling, ständen einander starr gegenüber. Dieser Gegensatz sei aufzulösen. »Entweder kein Subjekt und ein absolutes Objekt, oder kein Objekt und ein absolutes Subjekt. Wie soll nun dieser Streit geschlichtet werden ?« (298) Das Licht der Vernunft versagt vor dieser Aufgabe. Ein anderer Geist muß unsrer Schwachheit – jener der Philosophie – aufhelfen. Als – anschließend mit Kautelen versehenes (338) – Modell der Auflösung des metaphysischen Gegensatzes von Notwendigkeit und Freiheit führt Schelling im letzten seiner Briefe den tragischen Helden ein: Er gehe mit Notwendigkeit in den »Untergang« (336); doch indem er diesen »willig« auf sich nehme, beweise er noch »durch den Verlust seiner Freiheit« – ein solcher Verlust vollzieht sich ja in seinem Untergang – »selbst eben diese Freiheit« (337). Der tragische Held befriedigt damit, auf die Antike projiziert, das um 1800 besonders in der deutschen Kultur akute Bedürfnis, ein Weltbild aus Kräften zu konstruieren, die isoliert betrachtet Gegensätze seien, doch sich mit Blick aufs Ganze versöhnen ließen. Projizieren heißt, einen Abstand zwischen sich und etwas legen, das einem nahe, zu nahe, nämlich am Herzen liegt. Am Tragischen interessiert die Metaphysik zunächst nicht einfach, daß sie einen Gegenstand gefunden zu haben meint, den sie eindrucksvoll erklären kann. Entscheidend ist vielmehr, daß das Tragische eine Lösung für ein Problem vor Augen führt, oder vor Augen zu führen Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 4. 6 Schelling, ›Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus‹; Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Ausgabe von 1856. 5

Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 161

scheint, das die Metaphysik in dieser historischen Periode mit sich selbst hat. Der tragische Held wird ihr Märtyrer, da er durch Handeln beweist, was sich ihren begrifflichen Deduktionen entzieht. Es gibt nicht einfach eine Metaphysik, die neben anderem auch mit dem Tragischen befaßt ist; der tragische Akt ist vielmehr selbst ein metaphysischer.7 4  Die bürgerliche Metaphysik des Tragischen um und nach 1800

ist vorbereitet durch die Kantische Kritik. In dieser selbst kommt das Tragische nirgends vor. Aber sie enthält eine Denkfigur, die für die Metaphysik des Tragischen unabdingbar wurde: die vom Menschen als dem Bürger zweier Welten, der empirischen und der intelligiblen: als homo phainomenon sei er nezessitiert, als homo noumenon hingegen frei. 8 Indem Friedrich Schiller diesen Kantischen Gedanken in die Theorie des Tragischen hineintrug, hat er sie, noch vor Schelling,9 von Ästhetik in Metaphysik überführt. Tragisch ist, wie es in einem Gedicht Schillers heißt, »das große gigantische Schicksal, / Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt«.10 Erheben, die Bewegung nach oben, und Zermalmen, die Bewegung nach unten, widerstreiten einander, wenn sie, wie es hier der Fall ist, als zugleich am selben sich vollziehend gedacht werden. Dieser Widerstreit ist nur dadurch aufzulösen, daß der Mensch doppelt gedacht wird – und so denkt ihn Schiller mit Kant: als sinnlichen und als sittlichen Menschen. Zermalmt werde jener, erhöht dieser. Am Leib gehe der tragische Held zugrunde, aber noch in diesem Untergang triumphiere sein edler Geist. Indem Schiller den Konflikt des Empirischen und des Intelligiblen als etwas denkt, das sich in eine Handlung umsetzt und durch sie löst, weicht er zugleich von Kant ab.11 Es gibt ein Xe Billings, Genealogy of the Tragic, 84: »Schelling at this stage does not so much philosophize about tragedy as through it. Greek tragedy provides a model for representing conflict and division under the sign of reconciliation.« Zum Martyrium 87. 8 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AB 106–127, 87–101. 9 Billings, Genealogy of the Tragic, 83: »Schiller is the first thinker of German Idealism to move tragedy from the domain of aesthetics into the domain of ontology.« 10 Schiller, ›Shakespeares Schatten‹, 302. 11 Billings, Genealogy of the Tragic, 82. 7

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nion Schillers, das diese Art der Lösung – »gelöst« ist sein letztes Wort – vorführt. Die höchste Harmonie Ödipus reißt die Augen sich aus, Jokasta erhenkt sich, Beide schuldlos; das Stück hat sich harmonisch gelöst.12

Daß dieses Distichon mit der Lösung des Tragischen zugleich deren Fragwürdigkeit vorführt, ist vielleicht keine abwegige Lesart. Dem satirischen Geist der Xenien entsprechend mag Schiller im Sinn gehabt haben, einen Zeitgenossen zu parodieren; doch dann wäre ihm eine Selbstparodie mit unterlaufen. 5  Im Tragischen, so Schiller, triumphiert die Freiheit, das Sittliche,

über die Notwendigkeit, das Sinnliche (¶ 4). Wie Schiller ist es auch Schelling nicht einfach um die Tragödie, sondern um die Bestimmung des »wahrhaft Tragische[n] in der Tragödie«13 zu tun. Doch Schelling, es philosophisch strenger nehmend als Schiller, fordert, dem Sieg der Freiheit über die Notwendigkeit müsse ein Sieg der Notwendigkeit über die Freiheit gegenüberstehen. Was in den ›Philosophischen Briefen‹ von 1795 nur angedeutet war, hat Schelling in Vorlesungen ausgearbeitet, die er 1802/03 in Jena sowie 1804/05 in Würzburg hielt. Sie fanden in Mitschriften rege Verbreitung; gedruckt wurden sie erst nach seinem Tod, im Jahr 1859, unter dem Titel Philosophie der Kunst. Wahrhaft tragisch, heißt es darin, sei allein ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Nothwendigkeit als objektiver, welcher Streit sich nicht damit endet, daß der eine oder andere unterliegt, sondern daß beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen. (337)

Das grammatische Maskulinum von »der eine oder andere« hindert das Verständnis des Satzes; denn mögliche Bezugsworte stehen entweder im Neutrum (»Subjekt«) oder im Femininum (»Frei Schiller, ›Xenien, Nr. 327‹. Schelling, Philosophie der Kunst, 341; Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Ausgabe von 1980. 12 13

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heit«, »Nothwendigkeit«). Als Bezug in Frage käme der tragische Protagonist und sein Antagonist, zum Beispiel Prometheus und Hermes in Aischylos’ Prometheus Vinctus; aber von »vollkommener Indifferenz« kann in Bezug auf sie keine Rede sein. Dann bleibt nur die Konjektur, daß es sich um ein Versehen handelt und Schelling »die eine oder andere« meint, nämlich – wie auch zwei Parallelstellen (334, 343) nahelegen – die Freiheit und die Notwendigkeit. Erst durch ihre doppelte Überwindung und ihr doppeltes Überwundensein sei die »höchste Harmonie«, nämlich eine vollständige Versöhnung der beiden gegensätzlichen metaphysischen Prinzipien, zu erreichen. Weiter durchgeführt gerät der Gedanke allerdings in Schwierigkeiten. In einer Philosophie der Kunst kommt Schelling nämlich nicht darum herum, auch die Komödie irgendwie unterzubringen (vgl. 337). Das geschieht in einem Anhängsel zur Lehre vom Tragischen (355–361). Die Aussicht darauf, metaphysische Prinzipien, die um der tragischen Dichtung willen ins Spiel gebracht wurden, dem witzigen Genre zu applizieren, ist trüb. Da es in Schellings Identitätsphilosophie hier wie dort nur darum gehen kann, Freiheit und Notwendigkeit in die absolute Indifferenz zu führen, läßt sich kaum überzeugend zwischen Komischem und Tragischem, Komödie und Tragödie, wie es eine Philosophie der Kunst doch müßte, differenzieren; denn das liefe auf Differenzierung von Indifferenzen hinaus.14 In Wahrheit weiß die Metaphysik mit dem Komischen nichts anzufangen und das Komische nichts mit ihr. In den ›Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus‹ hatte Schelling es noch mit seiner Metaphysik verschont (¶ 3); verschonen aber kann er nicht mehr, sobald, wie eben in einer Philosophie der Kunst, der Systemzwang greift. Mit dem Zerfall der idealistischen Systeme in der Mitte des 19. Jahrhunderts hielt sich die Metaphysik – solche gab es ja weiterhin – wieder aus der Komik heraus und überließ sie der Psychologie (¶¶ 11–13). 6  Wer es kann, der schafft; wer es nicht kann, der philosophiert

dann übers Geschaffene. Doch im 19. Jahrhundert drängt sich zuweilen der Eindruck auf, Tragödien seien geschrieben worden, um 14

Vgl. Szondi, ›Schellings Gattungspoetik‹, 216–217.

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das metaphysische Schema von Freiheit und Notwendigkeit zu erfüllen. Schelling hatte es auf die antike Tragödie gemünzt, gerade nicht auf das moderne Drama (362); er konnte nicht ahnen, was im 19. Jahrhundert noch auf die Deutschen zukam. Daß selbst die bürgerliche Sexualmoral sich jenem Schema gefügig machen ließ, erwies Friedrich Hebbel in Schellings Todesjahr 1854 mit Gyges und sein Ring.15 Dies gegen jegliche Komik sorgsam abgedichtete Drama ist, um seine »Problemtiefe«16 zu benennen, die Tragödie der Ehefrau, welche die exklusiven Besitzansprüche ihres bürgerlichen Gatten auf sie – Ansprüche, mit denen er es nicht mehr ganz so genau nimmt – gegen diesen kehrt und daran, nach ihm selber, aus freier Notwendigkeit und in notwendiger Freiheit zugrunde geht. Der Bibliothekar des Wiener Polizeipräsidiums, Karl Braun von Braunthal, der dem bürgerlichen Eheleben entspringende aktuelle Verbrechen offenbar mit Geschichtstiefe zu grundieren wußte, hatte den Dichter auf die antike Fabel hingewiesen;17 freilich gab es für Hebbel viel zu tun, ihr »moderne Atmosphäre«18 zu verschaffen – sie, metaphysisch wie moralisch, auf den Stand des 19. Jahrhunderts zu bringen. 7  Von tragischer Kunst fordert Hebbel, im »Moment der Idee« die

»verlorne Einheit« wiederzufinden; dazu müsse sie, von der Philosophie präpariert, »mit den jetzt obschwebenden allgemeinen Prinzipien-Fragen in engster Verbindung stehen« – kurz: »zeitgemäß sein«.19 Signatur des Zeitgemäßen aber, und ein Prinzip, wie es im (philosophischen) Buche steht, war für Hebbel zunächst die Freiheit. Ungebunden zeigt sich Kandaules, der König der Lyder. Wer ihm mit Altem kommt, dem entgegnet er: »So darfs nicht länger bleiben !« (1.47) Für Neues hingegen ist er stets aufgeschlossen. Als ihm sein griechischer Freund Gyges das titelgebende gadget schenkt, einen Ring, der jeden unsichtbar macht, der ihn trägt, Hebbel, Gyges und sein Ring; Zahlen im Text bezeichnen Akt und Vers. Schwartze, ›Das Problem des Tragischen in Hebbels Gyges und sein Ring‹,

15 16

61.

Hebbel, Tagebücher II, 136 (14. Dez. 1853). Keller, ›Anmerkungen‹, 695. 19 Hebbel, ›Vorwort zur Maria Magdalene‹, 312 u. 314. Zur »Idee« vgl. Kraft, Poesie der Idee. 17 18

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drängt Kandaules den Geber dazu, inkognito die Königin, Rhodope, die sich anderen Männern nur verschleiert zeigt, nackt im Schlafgemach zu betrachten. Der Einfall scheint auf den ersten Blick zu nichts weiter gut als einem Streich unter echten Kerlen, Material zu späteren Prahlereien; doch Hebbel kommt alles darauf an, daß »das Drama sich über das Anekdotische hinaus zum Symbolischen«20 erhebe. Aufgrund jenes im mehrfachen Sinne freien Akts kommt es, wie es kommen muß. Kleine Ursache, große Wirkung – zunächst: Gyges verfällt der einzigartig schönen Frau. Seine Verliebtheit läßt sich nicht verbergen, und sie ist anders nicht zu erklären als durch heimliches Ausspähen. Als Sühne muß Rhodope, die, ebenfalls aus Prinzip, auf ihre Reinheit hält, vom Gatten und König den Tod des Voyeurs verlangen: Er hat an dir gefrevelt, wie noch keiner, Und du mußt strafen, wie du nie gestraft ! (3.1110–1111)

Kandaules, als Gyges’ Freund, muß dies verweigern. Diese Entscheidung läßt nur einen anderen Weg offen, den umgekehrten: Kandaules muß sterben, durch Gyges’ Hand. Du mußt es tun, Wie ich es fordern muß. Wir dürfen beide Nicht fragen, obs uns schwer wird oder leicht. (4.1529–1531)

Gyges, als Kandaules’ Freund, muß dies seinerseits eigentlich verweigern. In dieser verfahrenen Lage kommt nun mit Wucht zum Tragen, was John Osborne als »[t]he metaphysical symbolism of Hebbel’s conflicts« bezeichnet.21 Der Autor läßt Kandaules endlich die hier waltende Notwendigkeit frei anerkennen; willkommen ist ihm die Aussicht, daß sein Freund ihn umbringen wird: Wer frevelte, Muß Buße tun, und wer nicht lächelnd opfert, Der opfert nicht ! (5.1748–1750) Hebbel, Tagebücher I, 666 (Juni 1844). Osborne, ›Theories of drama‹, 543. Hofmannsthal nennt derartiges Vorgehen bei Hebbel »zudringlich« (›Rede auf Grillparzer‹, 121). 20 21

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Durch sein poetisches Programm hat Hebbel sich in die Schwierigkeit manövriert, Zeitstück – der Problemlage nach, ungeachtet des archaischen Kolorits – und zeitlose metaphysische Tragödie zugleich zu offerieren. Innerhalb eines dem ›jetzt Obschwebenden‹ verpflichteten Theaters ist Rhodope eine konservative Dame, Kandaules zunächst ein moderner Freigeist, der sich dann aber zu den Werten seiner Gattin bekehrt. In diesem Rahmen sind die sogenannten Notwendigkeiten lediglich Konventionen. Im Rahmen der zeitlosen metaphysischen Tragödie, die Hebbel zugleich auf die Bühne bringen will, dürfen sie aber nicht lediglich Konventionen sein. »Der Notwendigkeit ist die Menschheit unterordnet [sic]«; die »Freiheit« des Individuums soll ein für allemal in seiner »Aufopferung« bestehen: in tragisch bejahter Notwendigkeit.22 Dies ist bei Hebbel nicht mehr, wie bei Schelling, Philosophie, also aus einem Gedankengang hervorgegangen, sondern eher Gesinnung, die vom Gedanken nicht weiter angefochtene tröstliche Weltanschauung, ›Ich muß‹ bedeute ›Ich will‹, ›Ich will‹ jedoch auch ›Ich muß‹. Hebbel hat sie bei anderer Gelegenheit in handliche Form gebracht: Wenn der Mensch sein individuelles Verhältnis zum Universum in seiner Notwendigkeit begreift, so hat er seine Bildung vollendet und eigentlich auch schon aufgehört, Individuum zu sein, denn der Begriff dieser Notwendigkeit, die Fähigkeit, sich bis zu ihm durchzuarbeiten[,] und die Kraft, ihn festzuhalten, ist eben das Universelle im Individuellen, löscht allen unberechtigten Egoismus aus und befreit den Geist vom Tode, indem er diesen im Wesentlichen antizipiert.23

Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Eingedenk des Grundsatzes Schellings, daß im Tragischen »durchaus dem Zufall nichts zugegeben werden darf«,24 kann es selbst, als Kandaules tot daliegt, mit Hebbels Verketten der Taten und der Worte zu Notwendigem Hebbel, Briefe, 477 (an Elise Lensing, 19. Dez. 1836). Hebbel, Briefe, 661 (an Amalia Schoppe, 1. Mai 1848). Die Depotenzierung des Individuums macht den Übergang zur Komik möglich. Vgl. Morgenstern, Stufen, 65: »Wenn das Individuum – wie Hebbel sagt – letzten Endes komisch ist – und es ist komisch –, so ist die Tragödie die höchste Form der Komödie.« 24 Schelling, Philosophie der Kunst, 343. 22 23

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noch kein Bewenden haben. Rhodope, damit sie von keinem unbekleidet betrachtet wurde, der nicht durch Heirat dazu berechtigt ist, muß sich dem Mörder vermählen. Sie muß aber auch den Vollzug der Ehe vereiteln, da Gyges der Mörder ihres Gatten ist. Noch im Tempel der jungfräulichen Hestia, in dem die Hochzeit geschlossen wird, tötet sie, weil sie auch das noch muß, aus freien Stücken sich selbst. Gegen derart zwingende Notwendigkeit hätte auch die Wiener Polizei nichts ausrichten können, und angesichts derart erhebender Freiheit aller Beteiligten hätte sie womöglich nicht einmal etwas ausrichten wollen. Vorhang. 8  Der Einwand liegt nahe, Hebbels tragische Gestalten böten, ent-

lang der »jetzt obschwebenden allgemeinen Prinzipien-Fragen« (¶ 7), nur Karikaturen der metaphysischen Indifferenz von Notwendigkeit und Freiheit bei Schelling. Aber das Problem ist eher: Weil Hebbel unter der Voraussetzung einer idealistischen Metaphysik des Tragischen dichtete, mußte er diese nur noch an Figuren exemplifizieren – und genau dies leistete er. An Geschick daran ließ er nichts zu wünschen übrig. Gyges und sein Ring gleicht einer Rechnung, die glatt gelöst wird. Der Dichter nannte so etwas »eine Tragödie absoluter Notwendigkeit«25. Was in der Rechnung ohne Rest aufgeht, gibt der Tragödie den Rest. In ihrer Gestalt – jenseits von Fragen der Schaffenspsychologie, die durch Selbstaussagen nie zu klären sind – bieten sich Hebbels Tragödien dar als Werke eines Dichters, der, von der metaphysischen Prämisse ausgehend, »mit der Abwickelung des Ideenfadens«26 so vollauf beschäftigt ist, daß der künstlerischen Überwindung von Widerständen kein Raum bleibt. Es liegt jedenfalls nicht auf der Hand, daß Menschen, welche die Identität dessen, was sie tun wollen, mit dem, was sie tun müssen, exemplifizieren sollen und insofern »schon aufgehört [haben], Individuum zu sein«, je etwas anderes sein können als Karikaturen. Hätte Hebbel seine Figuren als solche gemeint, könnte darin ein Verdienst liegen – wenngleich es nicht das Verdienst wäre, eine tragische Dichtung geschaffen zu haben. An George Bernard Shaws Hebbel, Briefe, 659 (an Heinrich Theodor Rötscher, 22. Dez. 1847, hier auf Herodes und Mariamne bezogen). 26 Hebbel, Briefe, 709 (an Karl Werner, 16. Febr. 1852, hier auf Agnes Bernauer bezogen). 25

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Stücken sind mögliche Meriten dramatischer Karikaturen zu studieren. Doch intendiert als Karikaturen sind Kandaules, Gyges, Rhodope ersichtlich nicht. Insofern sie ernst gemeint sind – sie sind es nur zu unbedingt –, verdankt sich ihr Ernst dem idealistischen Rahmen, keiner Arbeit in und an der dramatischen Sprache. Der Einwand besagt nicht, Hebbel sei pathetisch; er besagt nicht einmal, Hebbel sei zu pathetisch. Denn es gibt kein sinnvolles Maß dafür, wie viel Pathos sein darf. Vielmehr besagt der Einwand, daß es sich in Gyges und sein Ring um faules Pathos handelt. ›Faul‹ kann zweierlei heißen: ranzig und träge. Im Fall dieser Tragödie Hebbels gilt beides. Ersteres gilt, weil bereits verwest, wer so nach lächelndem Opfern schmachtet wie Kandaules. Doch auch dies kann nicht der Einwand sein. Es liegt auf der Ebene des Stoffes; der dramatischen Kunst ist, zu ihrem Stoff, mit Recht nichts Menschliches fremd. Vielmehr ergibt sich der Einwand aus der Faulheit im zweiten Sinne des Wortes: Wer auf diese Weise Lust am Untergang zeigt und zeigen läßt, hat es sich mit dem Denken bequem gemacht, nämlich zu wenig nachgedacht über Zerstörung und Selbstzerstörung – eben dies merkt man seinen Figuren an. Deren Pathos erzeugt sich nicht aus der dramatischen Auseinandersetzung, die sie miteinander führen, sondern aus einer angeblich tieferen Bedeutung, die vorab feststand. Sie spulen diese, den »Ideenfaden«, nur ab. 9  Die idealistische Metaphysik des Tragischen, wie Schelling sie

formulierte (¶¶ 3, 5) und Hebbel sie, deren Ideenfaden abwickelnd, der Bühne lieferte (¶¶ 6–8), blieb nicht die einzige. Wie Schelling erachtete auch Friedrich Nietzsche es als »nöthig«, sich »mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen«27. Er will Tragik vom »Ursein« (62) her denken.28 Doch Die Geburt der Tragödie, 152; Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Bd. 1 der Kritischen Studienausgabe. 28 Es scheint ähnlich und ist in seinem Sinn doch etwas anderes, wenn Schelling schreibt: »Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung.« (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 23). 27

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Nietzsches Anlauf ist so kühn, daß sein Schwung ohne weiteres in Propaganda übergeht: »Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden.« (132) Die versprochene Erlösung soll von der Kunst, spezifisch von der Bayreuths, der die Propaganda gilt, ausgehen; die dieser Kunst entsprechende Metaphysik artikuliert Nietzsche lebensphilosophisch statt idealistisch  – bereits der erste Satz der Geburt der Tragödie weist darauf hin: Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. (25)29

Diese »Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen«, fügt Nietzsche sogleich hinzu, sei keine von »Begriffen«, sondern von »Gestalten« (25). Würden Begriffe nur mittelbar erfaßt, nämlich diskursiv, so Gestalten »unmittelbar«, intuitiv (155). 30 Lebensphilosophie dreht den Idealismus um, 31 stellt ihn vom Kopf – nicht auf die Füße, eher auf die Geschlechtsorgane. Wo Schelling Konzepte, Notwendigkeit und Freiheit, einander entgegengesetzt hatte, konfrontiert Nietzsche Kräfte – oder, genauer, »Triebe« (25): den geeignetsten Vergleich (»in ähnlicher Weise, wie«) findet er, Wagner nachahmend, in der Sexualität. 10  Die lebensphilosophische Metaphysik des Tragischen soll sich

von der idealistischen markant abheben (¶ 9). In zwei Zügen stimmt sie jedoch mit ihr überein. Gemeinsam ist den beiden Metaphysiken, der idealistischen in Schellings ›Briefen‹ und der lebensphilosophischen der Geburt der Tragödie, erstens, daß sie, statt Tragi »Generation« (lat. generatio) bedeutet hier: Fortpflanzung. Um dieser auf Leibniz und Kant zurückgehenden Alternative zu entgehen, hatte Schelling die »intellektuale Anschauung« eingeführt: ›Vom Ich als Prinzip der Philosophie‹, 181. 31 Die Formulierung ist angelehnt an Nietzsche, ›Frgm. 7 [156]‹: »Meine Philosophie ist umgedrehter Platonismus«. 29

30

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sches einfach als ein weiteres Thema von Philosophie zu traktieren, vielmehr im als tragisch gestalteten Vorgang selbst Metaphysik am Werk sehen; Nietzsche spricht von der »Kunst« – er hat dabei vor allem die tragische Kunst Wagners im Sinn – als »der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens« (24). Und gemeinsam ist beiden Metaphysiken zweitens, eben weil sie das Phänomen metaphysisch begreifen, auf idealistische beziehungsweise lebensphilosophische Art dem Tragischen Spuren einer Gestalt des Sozialen, das seinen jeweiligen Ort in der Geschichte hat, auszutreiben. Nicht nur den Sinn des Tragischen dachte Nietzsche in dieser Weise, sondern auch den Einfluß, der angeblich von ihm ausgeht. Da Tragisches von metaphysischem Rang sei, entpolitisiere es unmittelbar: [D]ies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt. (56)

Es gewähre den metaphysische[n] Trost, – mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt – dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei (56).

»Unzerstörbar«: Wenn Idealismus und Lebensphilosophie im übrigen auch konträr sind, so teilen beide Spielarten einer Metaphysik des Tragischen, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte, doch den Gedanken, im Untergang des Endlichen, dem physischen Tod des tragischen Helden, leuchte etwas Unendliches, ein metaphysischer Wert, auf. 11  Das bürgerliche Zeitalter brachte hervor, was weder die An-

tike noch die frühe Neuzeit je entwarfen: Metaphysiken des Tragischen; Metaphysiken des Komischen aber stellte es diesen nicht an die ­Seite.32 Als Disziplin, der man dieses überantworten konnte, 32

Am Versuch einer Metaphysik des Vergnügens von Johann Heinrich Abicht Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 171

bot sich die Psychologie an (¶ 2). Theodor Lipps’ ›Psychologie der Komik‹33 ist repräsentativ für die Epoche. Deren Kultur ruht auf zwei Pfeilern: Moral (¶ 7) und Wissenschaft; letztere ergreift die Zuständigkeit fürs Komische und bestimmt es zunächst als »ein eigenartiges Gefühl« (I.385). 34 Im »Gefühl der Komik« sieht die Wissenschaft vom Seelenleben »ein unter gewissen Bedingungen nothwendiges Ergebniss des ›associativen Vorstellungsverlaufs‹«; es sei aufgrund der »Gesetze der Association« zu erklären (I.385).35 Allerdings hat der Forscher seine liebe Not, akuter Gefühle, also auch des »Gefühl[s] der Komik«, habhaft zu werden. Wissenschaft benötigt ein stabiles Objekt; dieses aber erweist sich als flüchtig: Nichts scheint leichter, und nichts ist in der That schwieriger, als die Feststellung dessen, was jetzt eben in unserem Bewusstsein sich abspielt. Indem wir es fassen, analysiren, erklären wollen, ist es schon nicht mehr es selbst. Es zergeht und verwandelt sich in unsern Händen. Dies gilt besonders von unsern Gefühlen; auch vom Gefühl der Komik. (I.386)

Kaum ist also der Status der Komik wissenschaftlich geklärt, nämlich als »Gefühl«, entzieht sie sich auch schon der Wissenschaft. Diese Verlegenheit des Psychologen spricht methodisch gegen den »naturgemässeste[n] Weg zur Bestimmung des Wesens der Komik«, nämlich daß man zunächst das Gefühl der Komik in seiner Eigenthümlichkeit zu begreifen sucht, um dann zuzusehen, welche Besonderheiten der Gegenstände diese Wirkung nach psychologischen Gesetzen ergeben können, bezw. wie sie dieselbe ergeben können. (I.386)

fällt vorwiegend auf, wie wenig metaphysisch er ist; abgesehen davon ist Vergnügliches nicht eo ipso komisch. 33 Lipps, ›Psychologie der Komik‹; Ziffern im Text bezeichnen Teil (I–V) und Seite. 34 Zum »Gefühl der Komik« s. IV.129–160. Zur Lehre vom Gefühl s. Lipps, Leitfaden der Psychologie, 314–344. 35 Zu den angeblichen Gesetzen der Assoziation s. Lipps, Leitfaden der Psychologie, 88–95. 172 | Teilen, Herrschen und Genießen 

Kann er so nicht vorgehen, dann sieht sich der Psychologe der Komik auf das »dem vorigen direkt entgegengesetzte Verfahren« (I.386) verwiesen: Wir fassen sofort die Gegenstände selbst ins Auge, analysiren sie, vergleichen verschiedenartige Fälle, variiren die Bedingungen und gelangen so, auf dem Wege landläufiger Induction, zu den Momenten, auf denen die Wirkung beruhen muss. Wir machen dann die Probe auf das Exempel, indem wir zusehen, ob die Momente, die die Wirkung ergeben müssen, sie auch nach allgemein psychologischen Gesetzen ergeben können; oder was dasselbe sagt, ob die Wirkung, die aus jenen Momenten nach allgemeinen psychologischen Gesetzen fliesst, mit derjenigen, die wir thatsächlich erfahren, identisch ist. (I.386)

Wenngleich oder möglicherweise weil die Methode, welche »sofort die Gegenstände selbst ins Auge« fassen läßt, nicht »naturgemäss« ist (I.386), macht sie die Lösung des Rätsels einer Psychologie der Komik verblüffend einfach: Komisch ist, was der Bürger komisch findet. 12  Der Bürger will, grundsätzlich, geachtet sein. Diese Idee speist

sich aus einer Dialektik von Selbst und Anderen, welche der Verfasser des Grundbuchs bürgerlichen Lebenswandels – ein Adliger – klassisch in die Regel faßte: »Respektiere Dich selbst, wenn Du willst, daß andre Dich respektieren sollen.«36 Diese Regel ist indes nicht so zu verstehen, als stelle der Bürger sich allen anderen gleich. Auf Gesindel blickt er herab aus einer »gewisse[n] Erhabenheit«. Wird er selber nicht respektiert, findet der Bürger das überhaupt nicht komisch; im Gegenteil hört gerade dann der Spaß auf. Psychologisch erwogen ändert sich dies aber, sobald an die Stelle der Perspektive des von sich überzeugten Betroffenen der Gesichtspunkt eines zweifelnden Betrachters tritt. Achtung fordern bedeutet nicht schon Achtung verdienen. »Die Empfindung der Komik«, so Lipps,

36

Knigge, Über den Umgang mit Menschen, 1.2.5, 84. Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 173

entsteht überall, indem der Inhalt einer Wahrnehmung, einer Vorstellung, eines Gedankens den Anspruch auf eine gewisse Erhabenheit macht oder zu machen scheint, und doch zugleich eben diesen Anspruch nicht machen kann, oder nicht scheint machen zu können. (III.31)

Unter dem Aspekt der Diskrepanz zwischen Anspruch und Einlösung seien aber zwei Arten von Fällen zu unterscheiden: Ein Object wird komisch das eine Mal, weil es selbst eine Erwartung unerfüllt lässt, das andere Mal, weil es eine Erwartung erregt, die unerfüllt bleibt. Dieser Gegensatz geht durch. Der Mann, der ein Kinderhäubchen aufsetzt, und der kleine Junge, der sich einen Cylinder aufs Haupt stülpt, beide sind gleich komisch. Zunächst ist dort das Häubchen komisch, weil man an seiner Stelle die würdige männliche Kopfbedeckung erwartet, hier das Kind, weil wir als Träger des würdigen Cylinders einen Mann erwarten. Dann aber heftet sich die Komik auch, in jenem Falle an den Mann, in diesem an den Cylinder, weil der Mann, indem er das Häubchen aufsetzt, seiner Würde als Mann, der Cylinder, indem er sich herablässt das Haupt des Kindes zu schmücken, seiner Würde als männliche Kopfbedeckung sich zu begeben scheint. (I.405–406)37

In solchen Fällen scheint sich die Komik aus der Wahrnehmung zu ergeben: Man sieht die Köpfe und die Kopfbedeckungen. Dennoch genügt es nicht hinzuschauen. Das Lachen des Bürgers über seinesgleichen – einen Herrn – unterm Kinderhäubchen oder das Kind unterm Zylinder ist jedenfalls kein bloßer Reflex. Er gehört einer Leistungsgesellschaft an; daß er etwas komisch findet, ist eine »psychologische Leistung«, gegebenenfalls eine »erhebliche«. Leistung, lehrt die Physik, ist der Quotient aus aufgewendeter Energie und Zeit. Lipps begreift Komik als Verausgabung psychischer »Energie« (IV.130–131) in der Zeit, als einen Prozeß von Stauung und Entladung. »Daß das Komische in dem Zusammenhang, in dem es auftritt, ein Fremdes ist, bedingt die Stauung. Diese entlädt sich auf Das Kind mit Hut ist vermutlich das Abziehbild bürgerlicher Komik schlechthin. Vgl. z. B. den ersten Satz von Spencers ›Physiology of Laughter‹, 395: »Why do we smile when a child puts on a man’s hat ?« 37

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das Komische.«38 Die Entladung vollzieht sich im Bewußtsein, daß es nun keiner weiteren Anstrengung bedarf; die Spannung fällt damit ab und »Lust« (IV.142) wird frei.39 Wer mit dem Unbekannten denkend zurechtkommen will, braucht Metaphern; die Energetiker unter den Psychologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vor Lipps insbesondere Herbert Spencer40 – wurden bahnbrechend, indem sie, von Stauung und Entladung redend, Metaphern einführten und sie sodann in Theorien des Komischen als wirkliche Zustände oder Vorgänge behandelten. 13  Die Forderung der Achtung (¶ 12) soll wechselseitige Erwartun-

gen im Umgang so unter Kontrolle halten, »daß sich keiner mehr gegen euch herausnehme, als er durch eure Art zu handeln sich herauszunehmen sich berechtiget sieht«41. Der Bürger ist Respektsperson. Respektabel ist auch der Besuch, den der bürgerliche Akademiker zu empfangen pflegt; ist er einmal wider Erwarten nicht respektabel, dann bietet er dem Hausherrn immerhin Anlaß zur Komik. Ein wichtiger Besuch ist mir angekündigt. In dem Augenblicke, in dem der Besuch kommen soll, höre ich draussen Schritte; die Thüre öffnet sich; es tritt jemand ein. Mit jedem dieser Momente steigert sich die Erwartung. Die Erwartung ist aber als solche zugleich ein der thatsächlichen Verwirklichung vorauseilender Glaube an die Wirklichkeit des Erwarteten. Die Person, die eintritt, ist für mich, ehe ich sie sehe, die angekündigte; insbesondere die Wichtigkeit Lipps, Leitfaden der Psychologie, 335. Helmuth Plessner spricht von »frei werdendem Kraftüberschuß« (›Lachen und Weinen‹, 321). 40 In ›The Physiology of Laughter‹ (399–400, 402) erklärte Spencer »die halbkonvulsivischen Handlungen, die wir Gelächter nennen« (»the half-convulsive actions we term laughter«) als »Entladung« (»discharge«) einer »großen Menge Nervenenergie« (»large quantity of nervous energy«), der jeder andere Auslaß »verschlossen« (»closed«) sei; Komik eröffne ihr die Möglichkeit herauszubrechen. Doch das sei nur ein Fall eines universalen Schemas. Man solle, forderte Spencer, um zu »einer vollständigen Erklärung geistiger Phänomene« (»a complete explanation of mental phenomena«) zu gelangen, »in jedem Fall« (»in every case«) die Frage stellen: »Wohin hat sich all die Nervenenergie verausgabt ?« (»Where is all the nervous energy gone ?«). 41 Bahrdt, Handbuch der Moral für den Bürgerstand, 235. 38 39

Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 175

oder Bedeutung, welche die erwartete für mich hat, weise ich ihr im Voraus zu, und ich thue dies um so sicherer, je bestimmter die Erwartung wird. Nun tritt in Wirklichkeit ein Bettler ein. Dieser besitzt also im Momente seines Eintretens für mich jene Bedeutung; er ist die wichtige Person. Thatsächlich freilich kommt ihm die Bedeutung nicht zu. Aber diesen Gedanken muss ich erst vollziehen; ich muss den Bettler als solchen erkennen und anerkennen; ich muss ihm auf Grund dessen die Bedeutung wieder absprechen. Damit ist eine psychologische Leistung bezeichnet, eine um so erheblichere, je sesshafter der Gedanke an die Bedeutung der eintretenden Person vorher in mir geworden ist. Ehe ich die Leistung vollzogen habe, im ersten Momente also, bleibt die vorher vollzogene Vorstellungsverbindung in Kraft. Dann freilich löst sie sich unmittelbar. Der Bettler sinkt unvermittelt in sein Nichts zurück. (I.418)

Lipps’ Beschreibung des Falles ist keine reine Beschreibung, falls es dergleichen denn geben sollte; in ihr macht sich, deutlicher noch als in dem Beispiel der Kopfbedeckungen (¶ 12), die wirkliche Erklärung – statt des leeren Rekurses auf angebliche Gesetze der Assoziation42 – geltend. Sie liegt in dem speziellen Geschmack des Ichs dieser Geschichte, das man sich zum Beispiel als Günstling vorstellen kann, der seinem Gönner entgegenfiebert. Für ihn ist die Kluft zwischen seiner Hochschätzung der »wichtige[n] Person« und seiner Geringschätzung des Bettlers so riesig, daß nur noch ein Lachen darüber trägt. In Erwartung des Geachteten hatte er psychische Energie gestaut, im Anblick des Mißachteten entlädt sie sich. Vor dem Schnorrer muß sich der aufstrebende Akademiker nicht zusammennehmen. Jemandem, dem gesellschaftliche Unterschiede jener Art gleichgültig wären, könnte der unerwartete Besuch ebenso bedeutsam und aufschlußreich sein, wie der erwartete es gewesen wäre – und damit fände sich auch keine Spur mehr von Komik. Solche Gleichgültigkeit darf im Einzelfall toleriert werden, aber als Geschäftsgrundlage der bürgerlichen Gesellschaft wäre sie ungeeignet. Wer in ihr mitspielt, findet sich in einem Theaterstück, Vgl. die Kritik von Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 32–46. 42

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welches Dignität gewöhnlich dadurch empfängt, daß ein jeder in seiner Rolle bleibt. Kommen die Rollen jedoch durcheinander, und sei es auch nur im Kopf eines Betrachters mit sonst »sesshafte[n]« Gedanken, dann unterbrechen den Ernst des bürgerlichen Lebens komische Momente: Der Bettler, so können wir allgemeiner sagen, spielt die ›Rolle‹ des wichtigen Besuches, nicht in Wirklichkeit, sondern für mein Vorstellen; er beansprucht die Bedeutung desselben, geberdet sich so, für mein Bewusstsein nämlich. Dann stellt er sich unvermittelt dar als das, was er ist. Ebenso spielt das Kinderhäubchen auf dem Kopf des Erwachsenen die ›Rolle‹ der männlichen Kopfbedeckung, der kleine Knabe unter dem männlichen Hute die Rolle des Mannes. (I.418)

›Jedem das Seine‹ ist das Prinzip bürgerlicher Seriosität. Welche »Bedeutung« wem »thatsächlich« zukommt, weiß der Bürger genau. Steht der Bettler mit einem Mal im Salon, in den er nicht gehört, statt im gesellschaftlichen »Nichts«, in das er gehört, kann das lachhaft sein, sofern es auf den Moment beschränkt bleibt und der Habenichts sich willens zeigt, »in sein Nichts« zurückzugehen. Die Situation ist irregulär, aber sie darf nicht absurd werden, das heißt: Die normalen Maßstäbe der bürgerlichen Welt müssen in Kraft bleiben. Nicht nur auf dem Kopf des Knaben, auch auf dem Kopf eines einzelnen Arbeiters, der morgens zur Fabrik geht, schiene dem Bürger der Zylinder komisch; alles kann es für ihn werden, insofern es von seiner akkurat nach Status und damit nach Respektabilität sortierten Welt sowie von seiner durch Routinen geordneten Weise des Daseins in dieser Welt momentan abweicht. Bürgerlich ist eine Komik, in der sich ihr Adressat geborgen fühlt; man ist ja sonst, der Beschaffenheit der bürgerlichen Welt halber, in so wenigem geborgen. Möglich wird bergende Komik, solange die Abweichung nichts Gefährliches an sich hat – daher die Biederkeit der Beispiele des Herrn mit dem Häubchen und des Knaben mit dem Zylinder (¶ 12). Dies eine Mal sind die Klassiker zu etwas gut; der Aristotelische Satz, das Komische müsse harmlos sein, 43 43

Aristoteles, Peri poiētikēs, 1449a34–37. Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 177

spricht dem Bürger des 19. Jahrhunderts aus dem Herzen. Ständen fünfzig Bettler im Zimmer oder träten plötzlich alle Arbeiter mit Zylindern auf, so käme das dem Bürger eher unheimlich vor als komisch. Und an der Komik selbst ist nach seinen eigenen soliden Maßstäben nicht viel dran. Da ihre Lust in einer Entladung (¶ 12) bestehen soll, ermangele sie der »Stetigkeit und Gehaltenheit«, das heißt der »Fähigkeit, die seelische Kraft dauernd festzuhalten«.44 Sie ist, kurz gesagt, kein Besitz. Insofern ist in Lipps’ Welt der Bettler tatsächlich die ideale komische Figur.45 14  Was Sigmund Freud über den Witz zu sagen hat, ist keinem

anderen Autor stärker verpflichtet als Theodor Lipps.46 Wenn Lipps bemerkt, der Bettler spiele »die ›Rolle‹ des wichtigen Besuches, nicht in Wirklichkeit, sondern für mein Vorstellen« (I.418), leitet bereits seine Psychologie eine Theatermetapher. Konsequenter als Lipps denkt jedoch Freud die Psyche als innere Bühne. Auf dieser tragen das Ich, das Über-Ich und das Es dramatische Konflikte aus.47 Die Szenen, die sich abspielen, sind tragisch. Zwar war Freud mit Sophokles’ Gestaltung der Figur des Oidipus unzufrieden, da sich aus ihr kein Komplex gewinnen ließ. Dazu mußte Freud erst »den geheimen Sinn und Inhalt der Sage«, 48 den er in der dichterischen Überlieferung vermißte, aus der Psychoanalyse selbst er Lipps, Grundtatsachen des Seelenlebens, 676–677. Lipps’ ahistorische Erklärung des Komischen durch momentane »status transactions« (wie es dann genannt wurde) verbreitete in der modernen Dramaturgie Johnstone, Impro, 38–74, bes. 39. Das wissenschaftliche Fundament dazu findet auch Johnstone in der Psychologie (41–42). Doch vom Versuch, das Spezifische des Komischen zu treffen, bleibt desto weniger übrig, je entschiedener Johnstone Status zum passepartout dramatischer Wirkung schlechthin erklärt (72). Lipps, zum Unterschied, war immerhin noch spezifisch. 46 Vgl. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 13–17, 20–22, 39–40, 67–68, 112, 132, 138–139, 151, 176, 182, 185, 188, 218. 47 Metzger, ›Über Modellvorstellungen in der Psychologie‹, 44: »Das Modell, das Freud dafür heranzieht, ist die Bühne, ist der Mensch als Arena, auf der mehrere als verhältnismäßig selbständig gezeichnete Wesen, die er ›Instanzen‹ nennt, das Überich, das Ich und das Es, miteinander im Kampf liegen; genauer, in der die mittlere Instanz, das Ich, von den beiden ›äußeren‹ Partnern zugleich bestürmt wird, ihnen zu Willen zu sein, – was vielfach bedeuten würde, daß es einander ausschließende Dinge zu gleicher Zeit zu tun hätte.« 48 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 326. 44 45

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schließen, um ihn dann dem Mythos vor Sophokles zuzuschreiben, dessen Urwüchsigkeit wiederum die Wahrheit der Psychoanalyse bestätigte. Nicht also die Tragödie Oidipous tyrannos des Sophokles kommt auf die Bretter, welche die innere Welt bedeuten, sondern die Tragödie Ödipus von Sigmund Freud – jedenfalls aber eine Tragödie. Die chronische Wirrnis der Psyche, welche die Psychoanalyse zu therapieren verspricht, ließe indes erwarten, auch komische Figuren würden sich mitunter auf die innere Bühne verirren. Das Zeug zu einer Tragikomödie der bürgerlichen Seele war in der Tat da.49 Doch Freud hat sie nicht geschrieben. Denn – dazu war er von Anfang an entschlossen – die Psychoanalyse mußte eine ernsthafte Wissenschaft werden. 15  Unter solchen Vorzeichen (¶¶ 3–14) treffen sich das Tragische

und das Komische nur in einem Punkt: jenes wie dieses soll ihm »Genuß« verschaffen – allerdings, gemäß ungleicher Dignität, keinen gleichen Genuß. Die bürgerliche Welt ist zweckmäßig eingerichtet. Auch vor der ästhetischen Sphäre macht die Teilung der Arbeit nicht Halt. Da nach klassisch bürgerlicher Auffassung »Tragik die Erhebung über die schweren Wehen und Kämpfe des Lebens, die Komik aber die Belustigung an den petites misères und Widersprüchen des Daseins zur Aufgabe« hat, so gilt, daß sich »der Genuß des Tragischen als Pathos, Mitleiden, Erhebung, der Genuß des Komischen aber als Lust, Behagen, Kitzel« vollzieht. 50 Und insofern man nicht gleichzeitig erhoben und gekitzelt sein könne, scheidet selbst das eine Feld der Konvergenz von Tragischem und Komischem, der Genuß des Bürgers, als Ort denkbarer Tragikomik aus.

Metzger, ›Über Modellvorstellungen in der Psychologie‹, 44: »Doch läßt die Person-Ähnlichkeit der Freudschen Neben-Instanzen des Ich nichts zu wünschen übrig, so, wenn das Überich als strafender Richter und u. U. sogar als strafender Quälgeist, das Es hingegen als in die Tiefe des Unbewußten verbanntes, aber stets auf Gelegenheit zum Ausbruch lauerndes wildes Ungeheuer geschildert wird.« Shakespeares an komischen Elementen reicher Tempest mag Metzger bei dieser Bemerkung vor Augen gestanden haben. 50 Zeising, Aesthetische Forschungen, 282. 49

Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 179

16  Etwas fehlt im Bild. Wenn es nun genannt wird, dann nicht

als liebenswerte Ergänzung, sondern als dasjenige, dessen Qualitäten sowohl der bürgerlichen Metaphysik des Tragischen als auch der bürgerlichen Tragödie mangelten. Ein Verdienst um das Tragische, das Komische und eine mögliche Verbindung beider in tragikomischen Situationen kommt der bürgerlichen Welt zu: die Schöpfung des modernen Romans. Dieser kann ein Geschehen auf verzerrte – jedoch vom Leser als verzerrt durchschaute – Weise perspektivieren. Ein Täter auf der Bühne ist ein Täter; aber ein Täter, dessen Stimme und damit Subjektivität ein Romanautor bezeugen läßt, was geschah und geschieht, kann sich als Täter aus seinen Taten herausreden und zugleich so aus ihnen herausreden, daß er sich desto tiefer in sie hineinredet. Besser als jede ›Theorie des Romans‹ führt dies ein Beispiel vor Augen. Es wäre Stoff zu einer Tragödie, daß ein alternder Mann das Leben einer jungen Frau, die noch ein Kind ist, zerstört. Die amerikanische Landschaft, in der Nabokovs Tragödie spielt, steht Lears englischer Heide in nichts nach; mit den Worten »and everything soiled, torn, dead«, »und alles beschmutzt, zerrissen, tot« endet das 7. Kapitel des zweiten Teils von Lolita.51 Der Autor einer Shakespeareschen Tragödie, Tragediia gospodina Morna – sie ist Nabokovs einziges abendfüllendes Drama –, kannte sich in solch desolaten Gegenden aus. Doch geschult an der großen russischen und französischen Romankunst des 19. Jahrhunderts faßt Nabokov Lolitas Tragödie ins Plappern – ins Hinwegplappern – des Mannes, der als Agent dieser Tragödie in ihr partout anderes sehen will als eine solche.52 Ihn hat es aus der Alten Welt, der Heimat des Bürgertums, in der er sich auskannte, in die Neue Welt verschlagen, die seine Koordinaten auflöst. Als leere Worte hat er diese jedoch eben noch parat. Ungustiös seien die Vorgänge; dies zuzugeben ist er bereit. »I am now faced with the distasteful task of recording a definite drop in Lolita’s morals«, Nabokov, Lolita, 173|311. Die erste Seitenzahl hier, dann eingeklammert im Text, bezieht sich auf die englische Ausgabe, die zweite auf die deutsche. Vom Wortlaut der Übersetzung wird, wo nötig, abgewichen. 52 Vgl. Appel, ›Introduction‹, xxvi: »There are thus at least two ›plots‹ in all of Nabokov’s fiction: the characters in the book, and the consciousness of the creator above it – the ›real plot‹ which is visible in the ›gaps‹ and ›holes‹ in the narrative.« 51

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»Ich stehe jetzt vor der unerquicklichen Aufgabe, Bericht über Lolitas entschieden sinkende Moral zu erstatten« (171|309), beginnt jenes Kapitel, als sei Humbert Humbert – erste Verzerrung – unbeteiligter, wenn auch in seinem Geschmack (»taste«) verletzter Zuschauer und nicht der Protagonist des Geschehens. Daß er letzteres ist, kann aber selbst der Mann, den sein komischer Name maskiert, nicht mit letzter Konsequenz beiseite schieben. Irgendwie muß er es anerkennen, nur eben nicht in der schlicht zutreffenden Feststellung, daß er die zwölfjährige Dolores Haze systematisch zum Tausch sexueller Dienstleistungen gegen Geld abrichtet. So bleibt für ihn auf der Flucht vor der Wahrheit folgerichtig nur – zweite Verzerrung – die Rolle eines in seiner Quasi-Mechanik komischen Protagonisten: O Reader ! Laugh not, as you imagine me, on the very rack of joy noisily emitting dimes and quarters, and great big silver dollars like some sonorous, jingly and wholly demented machine vomiting riches; and in the margin of that leaping epilepsy she would firmly clutch a handful of coins in her little fist, which, anyway, I used to pry open afterwards unless she gave me the slip, scrambling away to hide her loot. (172) O Leser ! Lach nicht bei der Vorstellung, wie ich da auf der Folterbank der Lust lag und Kupfer- und Nickelgeld und sogar große Silberdollars klingend von mir gab wie eine klirrende, scheppernde und völlig übergeschnappte Maschine, die Reichtümer erbricht; und am Rande dieser zuckenden Epilepsie hielt sie eine Handvoll Geld in ihrer kleinen Faust umklammert, die ich ihr ja doch hinterher aufzubrechen pflegte, es sei denn, sie entwischte mir und raste weg, um ihre Beute zu verstecken. (310)

Mit Lolita schließt Nabokov an die durch Augustinus’ Confessiones inaugurierte Tradition der Bekenntnisliteratur an. »Lolita, or the Confession of a White Widowed Male, such were the two titles under which the writer of the present note received the strange pages it preambulates«, »Lolita oder Die Bekenntnisse eines Witwers weißer Rasse, dies waren die beiden Titel, unter denen dem Autor dieser Vorbemerkung die merkwürdigen Seiten zugingen, Tragik und Komik im bürgerlichen Zeitalter | 181

welchen sie nunmehr voransteht« (3|9) – so eröffnet der fiktionale Herausgeber des Textes, »John Ray, Jr., Ph. D.« (5|13), sein Vorwort; so also eröffnet Nabokov seinen Roman. Bekenntnisliteratur will, wenn man ihrem Anspruch glaubt, vor allem die Wahrheit. Humbert Humbert will die angenehme Täuschung: Selbsttäuschung ebenso wie die Täuschung anderer – oder, falls sie nicht zu haben sind, dann wenigstens eine erträgliche Unwahrheit. Betretenheit angesichts des Verfalls der Moral ist an H. H. so komisch wie sein Selbstbild als einer lustig klingelnden Maschine, die Geld erbricht. Formen komischer Selbstverkennung wie diese, und sie allein, machen die Tragödie der Verwüstung einer Kindheit allererst möglich. Kein erzählerisches Verfahren könnte schonungsloser sein als die Darstellung der Schonung, die Nabokovs Protagonist sich selbst angedeihen läßt. Solche Konstellationen haben im modernen Roman über ein bloßes Nebeneinander von Komik und Tragik hinausgeführt. Dies Genre ließ und läßt, in seinen besten Exemplaren, den Tiefsinn der Metaphysik (¶¶ 2–5, 9–10) und den Flachsinn der Psychologie (¶¶ 11–13) gleichermaßen unter sich.

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Travestie Willkür und Bedeutung : Kafkas Process

Was ist Gerechtigkeit ? Die tragische Heldin, Antigone, sähe sie erfüllt in der Beisetzung des Polyneikes, ihres Bruders; da dieser gegen die eigene Stadt Krieg geführt hatte, sähe der Herrscher Thebens, Kreon, die Gerechtigkeit durch die selbe Handlung verletzt. Nach einer konventionell gewordenen Lesart macht Antigone gegen das positive Gesetz des Staates die göttliche Gerechtigkeit geltend. Allerdings äußert sie, Kreons Gebot, den Feind der Stadt unbestattet zu lassen, gehe nicht zurück auf »Dike, sie, die mit den untern Mächten thront«1, hē xynoikos tōn patō theōn Dikē (438). Doch dem Chor scheint der Gedanke fernzuliegen, die Göttin der Gerechtigkeit im Hades anzusiedeln; statt ihn als religiöse Überlieferung zu approbieren, sieht er in ihm offenbar eher Antigones Einfall, der gerade gut zu ihrem Entschluß paßt. Dike, »die Alles ans Licht bringt«,2 sei selber im Licht zuhause und regiere das Leben der Menschen;3 die Göttin kränke, wer sie ins Totenreich verweise. Vorschreitend bis zum Äußersten des Trotzes stießest du, o Kind, an Dike’s Thron gewaltig an. (821–823)

Antigone, bemerkt der Chor kurz zuvor, machte sich selbst ihr Gesetz zurecht (autonomos, 790); am Werk war da, wo sie die angeb Sophokles, Antigonē, 39; Verszählung nach August Boeckhs Ausgabe. Im Griechischen ist zwar statt von Thronen nur vom geteilten Wohnsitz (xynoikos) die Rede; doch die Korrespondenz, die Boeckh zu Vers 822 (bathron hier ›Thron‹) herstellt, ist erhellend. 2 Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes, 141. Statt aus Antigones Worten leuchtet demnach aus denen des Chors »das goldstrahlende Antlitz der Göttin, das uns Sophokles zeigt« (ebd.). Vgl. aber 149–150, 152–153. 3 Vgl. Santirocco, ›Justice in Sophocles’ Antigone‹, 186: »[For Antigone], Dikē is an infernal or nether deity ›who lies with the gods below‹ […]. Yet, as we have seen, justice must somehow be reconciled with the laws of the land.« 1

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lich in der Unterwelt hausende Göttin der Gerechtigkeit ins Spiel brachte, vielmehr autognōtos […] orga (842), »selbsterfundene […] Neigung«, Willkür. Nicht allein ausgehen von einem Individuum kann Willkür indes; umgekehrt kann ein Individuum der Willkür ausgesetzt sein. Und dafür mag ebenso die Göttin der Gerechtigkeit herhalten müssen. In Franz Kafkas Der Process4 studiert der Bankprokurist Josef K., den das Gericht verfolgt, ein Bild des Malers Titorelli, der dieser Behörde dient. Eine große Figur die in der Mitte über der Rückenlehne des Tronsessels stand konnte er sich nicht erklären und fragte den Maler nach ihr. »Sie muss noch ein wenig ausgearbeitet werden«, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rändern der Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. »Es ist die Gerechtigkeit«, sagte der Maler schließlich. »Jetzt erkenne ich sie schon«, sagte K., »hier ist die Binde um die Augen und hier die Wage. Aber sind nicht an den Fersen Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf ?« »Ja«, sagte der Maler, »ich musste es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in einem.« »Das ist keine gute Verbindung«, sagte K. lächelnd, »die Gerechtigkeit muss ruhen, sonst schwankt die Wage und es ist kein gerechtes Urteil möglich.« »Ich füge mich darin meinem Auftraggeber«, sagte der Maler. »Ja gewiss«, sagte K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. »Sie haben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Tronsessel wirklich steht.« »Nein«, sagte der Maler, »ich habe weder die Figur noch den Tronsessel gesehn, das alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe.« (133)

Das Gemälde fügt Dike, Artemis und Nike oder, nach ihren lateinischen Namen, Iustitia, Diana und Victoria zusammen. Die Gerechtigkeit, mit verbundenen Augen ohne Ansehen der Person urteilend, soll unparteiisch, frei von Willkür sein. Aber sie hat immer schon Partei für sich selbst ergriffen. Als Jagdgöttin hetzt sie Kafka, Der Process; Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Ralf Kellermanns Ausgabe. 4

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ihre Opfer ohne Gnade, als Siegesgöttin bringt sie sie zur Strecke. Das ist ihr Auftrag; es darzustellen der Titorellis. Triumph, Verfolgung und Gerechtigkeit sind eins. Die »große Figur« bietet ein Zerrbild der idealistischen Synthesen, etwa jener von Freiheit und Notwendigkeit. Titorelli ist, anders als Josef K. vermutet, kein gewöhnlicher Realist, der einfach malen würde, was »wirklich steht«. Er ist etwas Höheres und etwas Niedrigeres, ein Maler politischer Konzepte und ein Maler, der liefert, wofür sein »Auftraggeber« zahlt. Was das Gericht ist und was es mit seiner eigentümlichen Gerechtigkeit auf sich hat, kommt in Titorellis Kunst zur Erscheinung – doch nicht ganz sinnfällig, denn es bedarf, statt bloß weiteren Strichelns mit dem Pastellstift, einiger Nachhilfe durch Allegorese. Wie der Sinn hinter der Erscheinung, so steckt auch das Gericht hinter dem Gewusel bürgerlichen Lebens. Für K. sind seine Wohnung, seine Bank und die Stätten seiner kleinen Vergnügungen einfach da. Zu dieser Welt verhält sich das Gericht als Hinterwelt, welche die private und berufliche Existenz eines wie K. jederzeit liquidieren kann und am Ende wirklich liquidiert. Diese Hinterwelt ist also mächtig; göttlich ist sie nur auf Titorellis Bild. Das Metaphysische, das im tragischen Helden edle Größe annehmen sollte, fällt in Kafkas Process schäbig aus; er travestiert zugleich tragische Dichtung und Metaphysik, die seit der Zeit um 1800 ineinander verschlungen waren.5 Die ihnen gemeinsame Idee hatte, zwei Generationen vor Kafka, Friedrich Hebbel so formuliert: Das Leben ist eine furchtbare Notwendigkeit, die auf Treu und Glauben angenommen werden muß, die aber keiner begreift, und die tragische Kunst, die, indem sie das individuelle Leben der Idee gegenüber vernichtet, sich zugleich darüber erhebt, ist der leuchtendste Blitz des menschlichen Bewußtseins, der aber freilich nichts erhellen kann, was er nicht zugleich verzehrte. 6

Das Travestierte muß in der Travestie noch erkennbar bleiben, und so ist auch der »Process«, den Kafka vorführt, furchtbar und Vgl. Kap. ›Teilen, Herrschen und Genießen‹, ¶¶ 2–10. Hebbel, Tagebücher I, 551 (12. Juli 1843).

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unbegreiflich. Doch in seinem Werk steht keine Idee dem Leben, das vernichtet wird, gegenüber. Selbst daß es noch Leben, gar »individuelle[s]«, sei, scheint am Ende fraglich; beim Gehen bilden die beiden Henker mit Josef K. zwischen ihnen »eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann« (207). Wie »Laternen« (207) schwach über K.s letztem Gang leuchten, so verzichtet auch Kafkas »tragische Kunst« darauf, sich superlativisch als »der leuchtendste Blitz des menschlichen Bewußtseins« in Szene zu setzen. Denn dieser Autor weiß von keiner »Notwendigkeit«, die sich »erhellen« ließe, darum aber auch von keiner Pflicht – Hebbels »muß« –, solche Notwendigkeit »auf Treu und Glauben« anzunehmen. Sinnfällig wurde jene »Notwendigkeit« einst darin, daß die Katastrophe, die entscheidende Umwendung im Leben des Helden, »Schritt vor Schritt«7 erreicht wurde. In ›Über die tragische Kunst‹ formulierte Schiller, Tragik müsse Entwicklung sein und als solche dergestalt nachvollziehbar, daß sich der abgezielte tragische Eindruck vollständig, wie ein Knäuel von der Spindel, abwindet und das Gemüt zuletzt wie mit einem unzerreißbaren Netze umstrickt. Der Künstler, wenn mir dieses Bild hier verstattet ist, sammelt erst wirtschaftlich alle einzelnen Strahlen des Gegenstandes, den er zum Werkzeug seines tragischen Zweckes macht, und sie werden unter seinen Händen zum Blitz, der alle Herzen entzündet. 8

Tragische Blitze, bei Hebbel wie bei Schiller, sind also weit weniger das, was Blitze sonst vor allem sind: plötzlich. Obschon laut Hebbel das Leben »keiner begreift«, mußte sich die tragische Heim­ suchung, wie man es auch auszudrücken pflegte, anbahnen. Kafka setzt seine Travestie nicht, wie Autoren minderen Ranges, durch Vokabular eines anderen Registers unter Beibehaltung der Form ins Werk, sondern umgekehrt durch eingreifend veränderte Konstruktion in einer Sprache von klassischer Schlichtheit. Dieser ungeachtet liegt es Kafka fern, »wirtschaftlich« zu »sammel[n]«. Im Process wird gerade nicht nachvollziehbar prozediert; die Umwen Schiller, ›Über die tragische Kunst‹, 388. Schiller, ›Über die tragische Kunst‹, 387.

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dung im Leben des Nichthelden ist vielmehr im ersten Satz bereits vollzogen: »Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« (7) Daß dies, der Verzicht aufs Anbahnen, Kafka nicht unterlief, sondern zum Arsenal seiner literarischen Strategien zählt, lehrt der Blick auf den ersten Satz seiner Erzählung Die Verwandlung: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.«9 Was sich nicht nachvollziehbar entwickelt, kann manchmal dennoch nachträglich aufgeklärt werden. Anfänge wie die des Process und der Verwandlung geben Rätsel auf, die Lösung fordern, doch keine Lösung erhalten. K.s Frage nach dem Grund seiner Verhaftung – »Und warum denn ?« – beantworten die Wächter nicht: »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen.« (8) Was aber hat der Vorgang dann zu bedeuten ? K. will sich zum Beispiel seine Schuld, wie das Gericht sie konzipiert – lateinisch wäre das ›culpa‹ –, von Schuld, wie seine Bank sie handhaben würde – lateinisch ›debitum‹ –, her erklären (114). Der »Process« besteht einerseits darin, daß K. immer wieder versucht, das Unbekannte, das ihm geschieht, auf Bekanntes zurückzuführen – auf einen »Spaß« der »Kollegen in der Bank« (10) etwa, auf eine Verwechslung (45– 46), auf ein Abschöpfen von Bestechungsgeldern (61) oder auf »ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank abgeschlossen hatte« (114) –, andererseits darin, daß er fortwährend mit dieser Suche nach Bedeutung scheitert. Denn geführt wird der »Process« von einer Behörde, die zwar souverän, aber diffus operiert: Das Zentrum oder das leitende Organ des Gerichts, falls es dergleichen gibt, bleiben unsichtbar. Seine Macht repräsentiert sich nicht in einer Hierarchie. Keiner gibt Rechenschaft. Nicht einmal furchtbare Gewißheit, wie in Sophokles’ Tragödie des Oidipous, löst hier Ungewißheit je ab. Die Verhaftung wird ausgesprochen, doch Quelle und Inhalt der Anklage, auf seine Person bezogen, entziehen sich K. Er erfährt sie nie; aber unbedingt in Erfahrung bringen will er sie. Franz Kafka, dem Versicherungsbeamten, war geläufig, daß in der bürokratisch verfaßten Welt Tragödien nicht vorgesehen sind. 9

Kafka, ›Die Verwandlung‹, 69. Willkür und Bedeutung: Kafkas Process | 187

Zu rechnen ist vielmehr mit der Normalverteilung, dem statistischen Durchschnitt und dem gelegentlichen Unfall. Das »Gesetz«, von dem im Process teils mit Pathos die Rede ist, stellt keinen Kodex von Normen dar. Als K. einem solchen auf der Spur zu sein meint, entdeckt er auf dem Richtertisch nur einen Band mit einer pornographischen Kritzelei (53). Gesetz des »Processes« ist allein das statistische, welches besagt, daß es jeden treffen kann. Ihm gegenüber erwächst Komisches aus dem Beharren auf der Besonderheit des Ich, wie K. es betreibt:10 Alle Einzelheiten seines Lebenslaufs – eines durchschnittlichen Lebenslaufs –, obwohl diese im Verfahren offenkundig keinen im geringsten kümmern, will er in einer »Eingabe« ans Gericht auseinandersetzen; sie würde nicht weniger verlangen, als daß »das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft« werde (116). Eine solche Apologie zum Zweck der Rettung des eigenen Lebens würde eben dieses auffressen. Denn die Rechenschaft über die Existenz erstreckte sich über einen längeren Zeitraum als die Existenz selbst: Jede schriftliche Darstellung und Prüfung eines gelebten Moments nimmt mehr als einen Moment in Anspruch. Die Eingabe zu machen hieße, alles an etwas zu setzen, das nichts ist. Insgeheim befürchtet K., sein Plan – der Plan eines Münchhausen, welcher sich am eigenen Schopf nicht aus dem, sondern in den Sumpf zieht – könne komisch wirken: Als der Stellvertreter des Bankdirektors in »große[s] Gelächter« ausbricht, bezieht K. dies eben auf die geplante Schrift zu seiner Verteidigung (115). Als Besonderes macht sich auch der literarische Text, im Unterschied zur Akte des Versicherungsbeamten, geltend. Im Winter 1914, während der Arbeit am Process, notierte Kafka: Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint hoffnungslos, daß dieser neue noch unfertige überall empfindliche Organismus in der fertigen Organisation der Welt sich wird erhalten können, die wie jede fertige Organisation danach strebt sich abzuschließen.11 Vgl. Vogl, ›Kafkas Komik‹, 85. Kafka, Tagebücher, 65.

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Dies Mißverhältnis zwischen Unfertigem und Fertigem, zwischen dem lächerlich Wenigen eines literarischen Werks und dem erdrückend Vielen einer längst solid eingerichteten Welt sucht Kafka nicht zu mildern, indem er das, was das literarische Werk anzubieten hat, sorgfältig motiviert. Grundlos treten Josef K.s Verhaftung und Gregor Samsas Verwandlung in die mit Gründen saturierte Welt. Derart opak mag das initiale Unglück jeweils als Unsinn erscheinen, und Unsinn kommt für Komik in Betracht. Das entgeht auch Josef K. nicht: Man konnte, so erwägt er, »das ganze als Spaß ansehn« (10). Ein Vorgang, der das Zeug zur Tragödie hätte, kippt dann in deren generisches Gegenstück: »war es eine Komödie, so wollte er mitspielen« (10). Auf die dramatische Gattung Komödie bezieht sich der Satz nicht metaphorisch, sondern wörtlich. K. vermutet, die angeblichen Wächter seien Laienschauspieler, eventuell »Dienstmänner von der Straßenecke«, für dieses Stück anläßlich seines »30te[n] Geburtstag[es]« durch »die Kollegen in der Bank« (10) angeheuert. Die Welt als – für K.s hohe Maßstäbe stets allzu schäbiges – Theater zu sehen, als komisches oder tragisches Bühnengeschehen, als Schauspiel oder Oper: diese Sicht durchzieht Kafkas Process, bis hin zur Hinrichtungsszene. Abgehalfterte Chargen einer minderen Bühne meint K. da in den Exekutoren zu erkennen und erkundigt sich: »An welchem Teater spielen Sie« (206) – eine Frage ohne Fragezeichen, die unbeantwortet bleibt und K. auf seine Mutmaßungen verweist: »Vielleicht sind es Tenöre dachte er im Anblick ihres schweren Doppelkinns.« (207) Wie deplorabel auch immer die Vorstellung mit »unter­ge­ ordnete[n]« Darstellern sein mag: K. spielt sie mit. Eingelassen ist dieses Drama – so es denn eines ist12 – jedoch in einen epischen Text. Ein Erzähler teilt von K., in der dritten Person, mit, »er« – K. – wolle »mitspielen«, wenn das Ganze »eine Komödie« wäre. Wie zuverlässig ist der Erzähler ? Diese Frage stellt sich durchgehend; vom ersten Satz an hat der Autor sie aufgeworfen: »Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« (7) Der von Kafka entworfene Erzähler sieht die rechtliche Prozedur in eigenartiger Weise moralisch: Ob »Böses« vorliegt oder nicht, ist die Frage, während es ju12

Vgl. Liebrand, ›Theater im Proceß‹. Willkür und Bedeutung: Kafkas Process | 189

ristisch nüchtern einfach um Verbotenes ginge. Die Verleumdung K.s hat der Erzähler nicht beobachtet; sonst würde er sagen: »X. hatte Josef K. verläumdet.« Daß Josef K. verleumdet wurde, ist vielmehr die Konklusion eines Schlusses. Der Schluß beruht auf der Annahme, daß jeder – daher »musste« –, der verhaftet wird, ohne etwas Böses getan zu haben, »verläumdet« wurde. Diese Annahme läßt, ohne es zu begründen, andere mögliche Erklärungen für Verhaftungen beiseite, zum Beispiel Irrtum oder Willkür seitens der Staatsgewalt. Gerade letzteres, Willkür, erweist sich im weiteren dann als durchaus von Belang für das Geschehen. Der Erzähler ist also unzuverlässig – nicht nur seines zweifelhaften Schlußvermögens halber, sondern auch des Inhalts mancher Aussagen wegen, etwa der, K. habe nichts »Böses getan«: Nur wer K. unausgesetzt beobachtet hätte, könnte das bezeugen. Konvention hält dazu an, einen Erzähler Erzähler zu nennen; doch von den drei Aussagen, die dessen erster Satz enthält, ist nur eine – die, K. sei verhaftet worden – erzählt; die erste und zweite Aussage des Satzes sind Spekulation. In der Frage, inwiefern K.s Fall tragisch und komisch ist, sind die Leser einem solchen spekulierenden Erzähler ausgeliefert und können dies Verhältnis ihrerseits tragisch und komisch finden. Sie sind dem Erzähler nicht ganz und gar ausgeliefert, sonst wäre Kritik dessen, was er sagt – wie hier seines ersten Satzes –, unmöglich. Aber sie sind ihm ausgeliefert, insofern es keinen Zugang zu K. gibt als über den Erzähler, dem nicht zu trauen ist. Gegen Ende heißt es von K. selber, »seine Haltung« sei eine »unglaubwürdige« (210) gewesen. Der unglaubwürdige Erzähler findet also seinen Gegenstand, K., unglaubwürdig. Und genau dies ist glaubwürdig. K. ist insgesamt von Kafka, zum Unterschied von Gestalten wie Euripides’ Pentheus oder Shakespeares Lear, nicht als glaubwürdiger Charakter angelegt – als jemand, der auf einer Bühne und selbst beim Lesen für die Imagination so etwas wie Fleisch und Blut gewänne. Daß dem so ist, weist auf keinen poetischen Mangel. Vielmehr fügt es sich gerade so zur komischen Travestie tragischer Dichtung. Diese mißlingt nicht im Unstimmigen, sondern gelingt, wenn sie gelingt, durch das Unstimmige hindurch. Die beiden gegensätzlichen Aspekte der Geschichte treten in eigenartiger Weise zusammen. Wenn jemand vom »schweren Doppelkinn« auf das Stimmfach »Tenor« schließt (207), ja auch nur diese 190 | Travestie 

beiden weit auseinanderliegenden Ideen assoziiert, dann ist dies so unsinnig, daß es ans Komische jedenfalls grenzt. Ist aber die vermeintliche Zusammengehörigkeit zwischen der hohen männlichen Stimmlage und dem fetten Doppelkinn die Angelegenheit, die einen Menschen auf dem Weg zu seiner Exekution beschäftigt, dann ist das Mißverhältnis ins Ungeheure gesteigert. Statt zu mildern, intensivieren die beiden Seiten einander; Kafka schafft eine tragikomische Konstellation. Theodor W. Adorno hat, ähnlich seinem ästhetischen Antagonisten Lukács, Tragikomik als »Gemisch«13 abgetan. Der Ausdruck geht indes vorbei an der Weise, in der Kafka tragikomische Konstellationen herstellt. Mischen schüfe ein dingliches Verhältnis.14 Ein solches liegt im Process nicht vor. Das Verhältnis stellt sich unter einer Perspektive ein und erscheint dann zunächst als eines, dessen beide Seiten asymmetrisch zu einander stehen, da, traut man dem Erzähler, die Komik in die Illusion fällt. Nichts in der Erzählung deutet darauf hin, daß es sich sei’s bei den Wachmännern des Anfangs, sei’s bei den Exekutoren des Schlusses wirklich um angeheuerte Komiker handelt. Allerdings ist dem Erzähler nicht zu trauen. Es könnte sich umgekehrt verhalten: so, daß die Komik nicht der Schein, sondern die Wahrheit der Vorgänge ist. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers ist zwar ein Effekt des Textes – schon seines ersten Satzes –; aber der Text sortiert darum doch nicht, was als geschehen zu nehmen ist und was nicht. So macht erst Kafka, durch das Mittel des unzuverlässigen Erzählers, ausdrücklich aufmerksam auf etwas, das schon vor seinem Kunstgriff wahr war: daß Tragikomik keine in Texten fixierte Eigenschaft ist, sondern sich über Texte, über Spiel und über anderes mehr in Betrachtern, Hörern, Lesern herstellt. Durch dies Ausdrückliche kommt auch das Deuten,15 statt bloß nachträglich auf das Geschehen angewandt zu werden, in das Geschehen selbst hinein – in der vorletzten Szene, im Dom, als Versuch, den Sinn des Gleichnisses ›Vor dem Gesetz‹ zu erschließen. Der Gleichnisrede gaben, soweit von Europa die Rede ist, die biblischen Schriften ihren Platz im Denken und im Glauben. An ihnen wurde jahrhundertelang erlernt, wie Gleichnisse zu lesen Adorno, ›Ist die Kunst heiter ?‹, 605. Vgl. Kap. ›N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ?‹, ¶ 8. 15 Vgl. Kap. ›N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch ?‹, ¶ 15. 13 14

Willkür und Bedeutung: Kafkas Process | 191

und aufzufassen seien. Das zwölfte Kapitel des 2. Buchs Samuel beginnt mit einem Gleichnis; der Prophet Nathan trägt es König David vor. Die Vorgeschichte dazu steht im elften Kapitel des Buches. Vom Dach seines Palastes hatte David im benachbarten Hof eine junge Frau, die sich wusch, erblickt. Er erfuhr dann, die Nackte sei Batseba, die Frau Urias, eines seiner Soldaten. Hingerissen von ihrer Schönheit läßt David sie in seinen Palast kommen und schläft mit ihr. Als sie schwanger wird, beordert David Uria vom Schlachtfeld zu sich nach Jerusalem. Nachdem dieser ihm Bericht erstattet hat, drängt David Uria, die Nacht bei seiner Frau zu verbringen. Er hofft, Batsebas Schwangerschaft werde dann ihrem Ehemann zugeschrieben werden. Doch Uria hält auf militärischen Anstand; es soll ihm nicht besser gehen als seinen Kameraden. So verbringt er die Nacht im Freien neben den übrigen in Jerusalem stationierten Soldaten. Am nächsten Abend versucht David noch einmal, sein Ziel zu erreichen. Er feiert mit Uria und macht ihn betrunken; doch wieder weigert sich dieser, nach Hause zu gehen. So ändert David seinen Plan; er sorgt dafür, daß Uria im Krieg einem Angriff der Feinde ausgesetzt ist, der für ihn tödlich enden muß. Der Plan geht auf. Die Witwe holt der König zu sich in den Palast. Doch Jahwe mißfallen Davids Taten; dies findet Ausdruck in Nathans Gleichnis. Das Gleichnis, Davids Reaktion auf es und Nathans Antwort auf diese lauten in der 1984 revidierten Fassung der Lutherbibel: Und der Herr sandte Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, daß es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß und er hielt’s wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: So wahr der Herr lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat ! Dazu soll er das Schaf 192 | Travestie 

vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat. Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann ! (2. Sam. 12.1–7)

Jedes Gleichnis ist eine Fiktion, die für Wirkliches stehen soll. Ungewöhnlich an Nathans Gleichnis ist die Art, in der es sich zwischen Fiktionalem und Wirklichem bewegt. David wird zornig über den Mann, den die Geschichte fingiert, als gäbe es ihn. Darum hat er als Richter gleich ein bestimmtes Urteil parat. Nathan muß nur noch bestätigen, daß der Mann wirklich ist – nur eben ein anderer, als David dachte: »Du bist der Mann !« (2. Sam. 12.7) Dieser Satz stellt keinen Teil des Gleichnisses mehr dar und macht doch das Gleichnis erst zum Gleichnis. Er ist nicht die Pointe der Geschichte, sondern der Schlüssel zu ihr. Und er wird zum Schlüssel, insofern Nathan identifiziert. Der harte Kern des biblischen Gleichnisses ist mehr als ein Gleichnis, mehr als die Aussage, etwas sei wie etwas; er besteht in einer Metapher. Nathan sagt nicht: Du ähnelst diesem Mann. Jeder ähnelt irgendwelchen anderen Leuten in irgendeiner Hinsicht; daraus muß nichts folgen. Das Gleichnis ist ein Spiegel. Im Spiegel sieht man sich selber und nicht bloß jemand ähnlichen. Im Gleichnis soll David sich erkennen. Die biblischen Gleichnisse steuert die paradoxe Logik, es sei leichter, sich mittelbar, nämlich in einem anderen – der Figur des Gleichnisses –, selbst zu erkennen, als indem man sich unmittelbar auf sich selbst bezieht. Leichter heißt nicht leicht: Wie Davids Zorn zeigt, erkennt er sich in dem reichen Mann des Gleichnisses zunächst eben nicht. Es bedarf noch des didaktischen Hinweises durch Nathan, der Moral der Geschichte: »Du bist der Mann !« Das Gleichnis, das »ein Geistlicher« (192) Josef K. im Dom erzählt, ähnelt biblischen Gleichnissen. Wie ein biblisches Gleichnis geht es von einer religiösen Autorität aus; dieser Umstand verheißt abschließende Klärung einer verwirrenden Lage. Zu diesem Zweck reduziert sich das Gleichnis auf die baren Archetypen, den Sucher und den Wächter des Gesuchten. Es folgt einem schlichten Schema: Ankunft, Warten, Tod. Sein Tempus ist ein ewiges Präsens, universale Wahrheit versprechend.16 Und doch stellt der Autor das bi Nathans Gleichnis steht – in Luthers Übersetzung wie im hebräischen Original – in der Vergangenheitsform, um Davids Empörung über begangene Ungerechtigkeit zu provozieren, doch gemeint ist es, wie alle biblischen Gleich16

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blische Muster am Ende durch einen einzigen Hebel geradezu auf den Kopf. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹, sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht.‹ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ›Wenn es Dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.‹ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen dünnen schwarzen tartarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen wie sie große Herren stellen und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles und sei es noch so wertvoll um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ›Ich nehme es nur an, nisse, als zeitloses Urbild von Verhältnissen zwischen Menschen (oder, in anderen Fällen, der Menschen zu Gott). Ich danke Konrad Schmid für seinen Blick in den hebräischen Text. – Wie Kafka das Präsens einsetzt, wenn das Gesagte über sich hinausweist, zeigt im Process exemplarisch der vorletzte Absatz; der erzählte Monolog K.s steht im Präteritum, aus dem ein einziger Satz springt, die Gnome: »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.« (210) 194 | Travestie 

damit Du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‹ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren laut, später als er alt wird brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. ›Was willst Du denn jetzt noch wissen ?‹, fragt der Türhüter, ›Du bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wie so kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat ?‹ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon am Ende ist und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen brüllt er ihn an: ›Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹ (197–198)17

Josef K.s Frage nach der Bedeutung des gegen ihn angestrengten Verfahrens ist zugleich die nach seiner Schuld. Vor ihr steht er ohne Antwort. Er kann »nicht die geringste Schuld auffinden« (16), auf die eine Anklage gegen ihn zu gründen wäre. Für den Geistlichen indiziert eben dies Nichtfindenkönnen K.s Schuld: »[S]o pflegen Kafka löste das Gleichnis ›Vor dem Gesetz‹ aus dem Romanfragment heraus und veröffentlichte es 1915 in der zionistischen Zeitschrift Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift, 1916 in Vom jüngsten Tag. Ein Almanach neuer Dichtung, 1917 in der revidierten Neuauflage dieses Almanachs und 1919 in seiner Sammlung Ein Landarzt. Vgl. Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, 328. 17

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die Schuldigen zu reden« (194). Falls nicht die Unauffindbarkeit der eigenen Schuld bereits selber die Schuld wäre, müßte der Geistliche K. sagen können, worin sie besteht. Denn sein Beruf ist es, gewöhnliche Menschen wie K. an das Wissen und den Willen der höheren Macht heranzuführen. Diese spricht aus ihm. Was hat sie hier durch die Rede des »Predigers« (191) mitzuteilen ? Wie ein biblisches Gleichnis läuft auch das im Process auf einen Schluß zu, der das Ganze in Perspektive rückt. Aber dieser Schluß ist in jeder Hinsicht anders beschaffen. Der Erzähler tritt nicht aus dem Erzählten heraus. Er teilt nicht, wie Nathan gegenüber David – und gegenüber dem Bibelleser –, die Moral von der Geschichte mit. Der Schluß des biblischen Gleichnisses erschließt es dem Verständnis; der Schluß des Kafkaschen Gleichnisses schafft erst die entscheidende Schwierigkeit, es zu verstehen. Indem er die Finalität der Textart beibehält – hier wie dort hängt alles am Schluß –, aber, die Beschaffenheit des Schlusses umkehrend, diesen von seinem erwarteten Ziel ablenkt,18 schafft Kafka die Travestie eines biblischen Gleichnisses. Diese verschränkt er mit der Travestie der Tragödie, welche Der Process insgesamt darstellt. Hier wie dort bleibt – so erfordert es die Travestie – in der Verkehrung ins Gegenteil das ursprüngliche Muster erkennbar. Das Gleichnis im ganzen sieht tragischer Ironie ähnlich: Der Mann vom Lande sucht das richtige Leben, das er vom Gesetz zu empfangen meint, und durch eben diese Suche verliert er sein Leben: Er verwartet seine Zeit für etwas, das niemals kommt. Doch zur tragischen Ironie – Suchen heißt Verlieren – hätte Kafka, oder der fiktive Erzähler, nicht der Einführung des Wächters bedurft. Man kann sein Leben verschwenden, ohne daß jemand einen dazu bringt, es zu verschwenden. Indes ist der Türhüter doch offenbar der wahre Akteur der Geschichte, und ihm ist folgerichtig auch das Schlußwort, dieses vom Schlußwort eines biblischen Gleichnisses so scharf abstechende, zugewiesen: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Kafka nähert das Schlußwort des Gleichnisses einer Form der Aussage, die dem Schlußwort eines biblischen Gleichnisses, der Moral von Diese Kategorien verwendet Gerhard Neumann in ›Umkehrung und Ablenkung‹. 18

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der Geschichte, konträr ist: In ihm findet »ein Witz, ein ganz vortrefflicher, bei dem«, wie Kafka zu anderer Gelegenheit formulierte, »die Hölle ganz höllische Lachkrämpfe bekommt«, seine Pointe.19 Wenn der vom Gericht angestrengte »Process« zuvor eher wie ein schlechter Witz erschien, so präsentiert das Gleichnis ihn als einen bösen. Seine gutartige Variante erzählt Kafka in Das Schloss: Lange sucht der Protagonist ins Schloß aufgenommen zu werden, endlich verrät der Sekretär Bürgel die einzige Möglichkeit dazu, die »Gelegenheit«, »außerordentlich selten« und »einzig groß«: Gegeben sei sie, wenn die Schloßverwaltung den Bewerber um die Stelle des Landvermessers nicht mehr erwarte und der Bewerber die Anstellung nicht mehr suche; doch da ist K. in Schlaf gesunken, also – abgründiges Wortspiel mit dem Romantitel – »abgeschlossen gegen alles, was geschah«.20 Übrigens erfüllt K. damit jene Bedingung: Wer schläft, sucht nicht. Was im Process die böse Pointe schafft, im Schloss hingegen zur bösen Pointe fehlt, ist die Absicht. Jedenfalls kann eine Quelle böser Pointen die Verkehrung eines Zweckes sein: Eine Sache ist nur zu einer Bestimmung gut, und eben diese wird vereitelt. Denn dies ist ja der Widersinn des Hütens der Türe: Niemand anders konnte Einlaß erhalten, weil das Tor der Eingang einzig für den Mann vom Lande war, und dieses Tor nutzte der Türhüter allein dazu, den Mann vom Lande am Zugang zum Gesetz zu hindern. Die Pforte nur für ihn diente als Sperre nur für ihn. Der Schluß erklärt nicht die Geschichte, die er ja vielmehr erst auf den Abweg führt – auf dem sie doch von Anfang an gewesen sein muß. Und abwegig sind ja auch, unterwegs, etwa Hoffnungen auf die Autorität umstimmende Flöhe oder der Tadel der Unersättlichkeit gegenüber einem, der bloß wartet und nichts bekommt. Eins aber erklärt der Schluß des Gleichnisses in seiner Annäherung an die Pointe eines bösen Witzes nachträglich: nämlich das Lachen des Türhüters, als der Mann vom Lande versuchte, durch das Tor ins Innere – zu dem Ort hin, an dem er sein künftiges Leben imaginierte – zu blicken. Kafka, ›An Oskar Pollak, 24. August 1902‹, 12. Auch das Präsens paßt zum Witz, der es mit dem Gleichnis teilt; s. Weber, ›Laughing in the Meanwhile‹. Über Witze und Kafkas Erzählen vgl. a. Foster Wallace, ›Laughing with Kafka‹. 20 Kafka, Das Schloss, 496. 19

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Das biblische Gleichnis erteilt eine Lektion; Kafkas Gleichnis gibt Rätsel auf. Seine Travestie des biblischen Gleichnisses vom Schluß her, durch die unbotmäßige Verkehrung der lehrhaften Moral in die jeder Lehre spottende Pointe, hat Kafka in einem kleinen Text reflektiert: Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: ›Gehe hinüber‹, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: ›Warum wehrt ihr euch ? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.‹ Ein anderer sagte: ›Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.‹ Der erste sagte: ›Du hast gewonnen.‹ Der zweite sagte: ›Aber leider nur im Gleichnis.‹ Der erste sagte: ›Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.‹21

Zwei Teile machen das von Max Brod mit dem Titel ›Von den Gleichnissen‹ versehene Stück aus: eine monologisch vorgetragene Beschwerde und eine dialogische Auseinandersetzung. Jene trägt ein Kollektiv vor; aber es ist offenbar so sehr eines Sinnes, daß sie monologisch ausfällt. Dialogisch hingegen streiten Individuen, »einer«, »[e]in anderer«. Beschwerde erhebt der gesunde Menschenverstand. Er steht auf dem Standpunkt des Hier. Sein Maßstab ist die Bewältigung des gewöhnlichen Daseins. Die »Gleichnisse« geben keine geeigneten Werkzeuge ab, mit dem »täglichen Leben« besser zurechtzukommen. Nach diesem Maßstab urteilend gelangen die vielen zu dem Ergebnis, daß Texte oder Reden dieser Sorte »nichts nützen«. Der Grund für diesen Schluß ist eine bestimmte Verwen Kafka, ›Von den Gleichnissen‹, 257–258.

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dungsweise der Sprache in den Gleichnissen. Wenn der Weise sage, man solle hinübergehen, gebe er keine klare Richtung an; ohne solche Angabe bleibe nur ein »sagenhaftes Drüben«. Dies sagenhafte Drüben ist der Gegenstand von Metaphysik und Religion. In dem Grund für das Verdikt über sie wird die Unterscheidung zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn in Anspruch genommen. Damit sagt die Beschwerde aber, daß die Gleichnisse Gleichnisse sind. Denn es ist die figurative oder uneigentliche Rede, die Gleichnisse zu Gleichnissen macht. Statt aber den eigenen tautologischen Charakter zu registrieren, macht die Beschwerde den Gleichnissen gerade einen solchen – nämlich: tautologischen – Charakter zum Vorwurf: sie besagten nur, daß »das Unfaßbare unfaßbar« sei. In diesem Verkennen der eigenen Überlegung endet der Monolog der vielen und setzt der Dialog zweier einzelner über den selben Gegenstand ein. Statt in der Sache zu widersprechen, wechselt der »eine«, der »­[d]ar­auf« etwas sagt, zu den Personen, die sich über die Gleichnisse »beklagen«. Er beschreibt deren Akt der Klage neu, nämlich als Abwehr. Diese neue Beschreibung setzt die Gleichnisse in eine rhetorisch vorteilhafte Position. Die vielen hatten darauf hinausgewollt, Gleichnisse seien im Grunde »gar nichts«, jedenfalls »nichts«, das »helfen kann«. Wehren hingegen wird man sich nur gegen etwas, das Macht oder Kraft hat. Diese Zuschreibung an die Gleichnisse bleibt aber im ersten Satz, den der eine sagt, lediglich Implikation. Der Satz selbst ist eine Frage – eine Warum-Frage nämlich, also eine Erkundigung nach den Ursachen oder Motiven oder Gründen der Stellung der vielen zu den Gleichnissen und damit auch zu den »Weisen«. Die Frage ist keine rhetorische, da der Sprecher sich nicht selbst die Antwort auf sie gibt oder eine Antwort als selbstverständlich insinuiert. Vielmehr bleibt die Frage offen und wird damit den Lesern oder Hörern des kleinen Textes zur Beantwortung überlassen. Statt die Frage zu beantworten, erläutert der eine in seinem zweiten Satz vielmehr die Implikation dieser Frage, nämlich daß den Gleichnissen Macht oder Kraft zukommt. Er setzt damit dem Maßstab der vielen, die an den Gleichnissen mangelnde Genauigkeit beklagt hatten – es gelinge den Weisen nicht, das in ihrer Gleichnisrede Gemeinte »näher zu bezeichnen« –, einen anderen Maßstab entgegen. Die Kraft der Gleichnisse wird als Kraft Willkür und Bedeutung: Kafkas Process | 199

der Verwandlung erklärt: »dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden«. Der eine hält also den vielen vor, sie hätten mißverstanden, was mit den Gleichnissen anzufangen sei. Die vielen dachten, die Gleichnisse sollten Werkzeuge zum Bewältigen des »täglichen Leben[s]« sein, und stellten dann fest, daß sie vor diesem Anspruch versagen. Der eine legt nahe, den Anspruch an sie geradewegs umzukehren: Nicht als Mittel solle man sie behandeln – wozu sie laut den vielen untauglich sind –, sondern als Ziel, als das, wozu man selber werden kann. Diesem Vorschlag vermag die »andere« Seite im Dialog jedenfalls keinen wörtlichen Sinn abzugewinnen: »Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist«. Dieser Satz hat einen Hintersinn. Denn es liegt nicht auf der Hand, was für eine Art von Text Kafkas Stück ›Von den Gleichnissen‹ ist. Die Bemerkung des anderen gibt von ihrem Hintersinn her zu erwägen, ob ›Von den Gleichnissen‹ selbst ein Gleichnis ist. Falls dem so wäre, dann würde es sich bei »dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden« um ein potenziertes Gleichnis handeln: ein Gleichnis in einem Gleichnis. Der Hintersinn grundiert einen vordergründigen Sinn. Dem gesunden Menschenverstand, in dessen Namen sich die vielen äußerten und dessen Standpunkt sich der »andere« seinerseits zu eigen macht, mißbehagt der Satz »dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden«, insofern ein Gleichnis Wort ist, »ihr selbst« hingegen etwas aus Fleisch und Blut. Eine Wandlung von der einen Sphäre in die andere gibt es nur in der Sphäre der Religion, und deren Redeweise ist das Gleichnis. Würden Gleichnisse ohne weiteres profane Wirklichkeit, dann verlöre der Begriff ›Gleichnis‹ seinen Sinn; es gibt Gleichnisse nur im Gegensatz zu einer wörtlich verstandenen Realität. Allerdings bemerkt der andere nicht bloß: ›Sicher ist auch das ein Gleichnis‹. Er erklärt vielmehr seine Bemerkung zur Eröffnung einer Wette. Man wettet gegen jemanden. Der Dialog ist nicht lediglich Gedankenaustausch; er wird zum Kampf. Bei Wetten gibt es Gewinner und Verlierer. Dazu muß es allerdings einen allen an der Wette Beteiligten und auch den nicht an ihr Beteiligten zugänglichen Bezugspunkt geben, dem abzulesen ist, ob einer gewonnen oder verloren hat: zum Beispiel die Plazierung der Pferde in einem Wettrennen. Doch ein solcher – und damit führt Kafka die bis zu diesem Punkt nachvollziehbare Folge der Sätze auf den 200 | Travestie 

Abweg – fehlt hier. Eine Wette, bei der es im Belieben einer Seite steht, Gewinner und Verlierer auszurufen, ist keine. Auf eine solche Wette, die keine ist, läuft ›Von den Gleichnissen‹ hinaus. Die alleinige Autorität darüber, welche Aussagen als Gewinnen oder Verlieren der Wette zählen, zieht der »eine«, der Anwalt der Gleichnisse, an sich: »Du hast gewonnen.« »Aber leider nur im Gleichnis.« »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.« In der Form gleicht ›Von den Gleichnissen‹ insofern dem Gleichnis ›Vor dem Gesetz‹. Vom Genre Witz entlehnt Kafka das Prinzip der Pointe: eine Erwartung auf den Kopf zu stellen. Er wendet die – oder: eine – Methode der Komik auf das Material der Tragik – Gerechtigkeit, Schuld, Tod – an. Doch es sind merkwürdige Pointen, auf die Kafkas Gleichnisse hinauslaufen. Bei einem gewöhnlichen Witz markiert die Pointe einen Endpunkt: Man versteht sie, im besseren Falle, und lacht. Die Pointen von Kafkas Gleichnissen sind Antipointen, insofern sie sich dem Verstehen widersetzen. Sie werden, läßt man sich auf sie ein, zum Ausgangspunkt von Gedanken, die nicht leicht zu einem Ende kommen, nachdem man zunächst versteht, daß man sie nicht versteht. Die Pointe eines Witzes ist sein letztes Wort; die Pointe eines Kafkaschen Gleichnisses, wie sehr sie der Pointe eines Witzes auch ähnlich sieht, ist, daß es ein letztes Wort nicht gibt.22 In Der Process wird der vergebliche Prozeß, aus einem Gleichnis – dem Gleichnis ›Vor dem Gesetz‹ – eine Moral zu ziehen, noch selbst Gegenstand der Darstellung. Das biblische Gleichnis, Nathans Geschichte vom armen und vom reichen Manne, hatte ihren Sinn in der aus ihm gezogenen Moral. Was aber ist der Sinn des Gleichnisses vom Türhüter und vom Sucher des Gesetzes ? Statt die Lage für K. zu klären, bedarf es selber der Klärung. Zuerst versucht K. sich daran, mit einer einfachen moralischen Deutung: »Der Türhüter hat also den Mann getäuscht« (198). K.s Deutung entspricht dem biblischen Muster; ›Der reiche Mann hat den armen Mann des Liebsten beraubt, das er hatte, und du, David, den Uria‹, könnte Nathan resümieren. Aber es wäre am Geistlichen, dem Pendant zu Diese Charakteristik liegt nah bei der Jakob Hessings in Der jiddische Witz, hier bezogen auf die Geschichte von der Kutschfahrt zum Schtetl: »Ist das nur ein Witz, der uns zum Lachen bringen soll – oder ist es nicht eher so, dass er uns nachgeht, nachdem wir ihn gehört haben ?« (21) 22

Willkür und Bedeutung: Kafkas Process | 201

Nathan, K. den Sinn des Gleichnisses zu enthüllen, wie Nathan es mit seinem »Du bist der Mann !« (2. Sam. 12.7) schlagend tut. Statt dessen hält er K. vor, er dürfe mit seiner Deutung nicht über den Text hinausgehen: »Ich habe Dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts« (198); »Du hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte« (198–199). Dürfte Deutung nicht über den Wortlaut hinausgehen, dann wäre sie als dessen Wiederholung überflüssig. Sie könnte nur Tautologien erzeugen. Tatsächlich nimmt sich der Geistliche das, was er K. verwehrt, selbst heraus: Er erteilt dem Türhüter Zensuren, die nicht im Wortlaut der Schrift enthalten sind. Zuerst lobt er ihn der »Genauigkeit« halber, mit der er seinen »Dienst« versieht: »Kann es einen pflichttreueren Türhüter geben ?« (199) Zweitens aber beanstandet der Geistliche, »seine« – des Türhüters – »Auffassung« sei »durch Einfalt und Überhebung getrübt« (200). Drittens würdigt er den Türhüter in Umkehrung des Votums, dieser verkörpere geradezu »pedantisch« genaue »Pflichterfüllung« (199), als »durchaus nicht immer Amtsperson«, »seiner Naturanlage nach freundlich« und von »Regungen des Mitleids« gegenüber dem Mann vom Lande geleitet (200). Autorisierte »Erklärer der Schrift« (199), aber nur sie, dürfen nach Belieben Bedeutungen aus dieser hervorbringen. Es genügte nicht, daß das Gleichnis vom Türhüter mit einem Rätsel statt mit einer Moral schloß; vielmehr mußte dieses Gleichnis auch noch unstimmig zerredet werden. »Die einfache Geschichte war unförmlich geworden« (204), denkt K., nachdem er alles – denn es folgt noch mehr als die Trias von pedantischer Pflichterfüllung, trüber Einfalt und warmem Mitgefühl – gehört hat. Texte verfetten durch Deutung, jedenfalls durch Deutung dieser Art. Alles kann behauptet werden; es kommt einzig darauf an, wer es behauptet. Die biegende moralpsychologische Hermeneutik, die der Geistliche an die Figur des Türhüters wendet (199–200), entspricht der biegenden moralpsychologischen Logik, die er im Vorgespräch an K. wandte: Verneinung der Schuld beweise seine Schuld (194). Kraft solcher Techniken des Worts kann er sagen, was er will; sein Wille entscheidet. Entscheidend ist weniger der Inhalt der Zensuren des Geistlichen – diesen erklärt er selbst zur Sache bloßer »Meinungen« (200) – als einerseits deren innere Unstimmigkeit, andererseits der Umstand, daß er sich mit seinen Deutun202 | Travestie 

gen über die zu deutende Figur erhebt und ihr überhaupt Zensuren erteilt. Als Josef K. dies versucht hatte – »Der Türhüter hat also den Mann getäuscht« (198) –, widersprach ihm der Geistliche mit dem Hinweis, die »Schrift« sei unantastbar. Es geht dem Geistlichen also um Deutungshoheit, das heißt, wie dem Gericht, um Macht – Religion ist kein Refugium der Seele, sondern nur ein Rad mehr im Mechanismus der Beherrschung: Der Geistliche, als »Gefängniskaplan« (194), »gehört« (196, 205) zum Gericht. Das Gleichnis versprach K. Erleuchtung darüber, weshalb sein mit der »Verhaftung« eingetretenes Los – der »Process« – ist, wie es ist. Würde K. dessen Bedeutung verstehen, dann könnte er dies Los annehmen. Das freie Sichbeugen des Individuums unter die eingesehene Notwendigkeit des Schicksals nannte die idealistische Anschauung des bürgerlichen Zeitalters »tragisch«. Als Franz Kafka an seinem Buch schrieb, 1914/15, wurde gerade im Namen dieser idealen tragischen Notwendigkeit Krieg geführt 23 – »überall herrschte Friede« (9–10), vermerkt der Autor ironisch im Process. Im ersten großen Maschinenkrieg verbuchte man die von den neuen militärischen Apparaten Liquidierten immer noch als auf dem Feld der Ehre tragisch Gefallene. Im Process treibt Kafka die idealistische Auffassung von Tragik durch komische Travestie über sich selbst hinaus. Was es mit der Notwendigkeit dann auf sich hat, lehrt die Mahnung, die der Geistliche zuletzt an Josef K. richtet: »man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.« (203) Durch das den Anspruch herunterschraubende »nur« vom Wahren abgesetzt, wird, dem Idealismus des Tragischen entgegen, das unverrückbar Notwendige, dem sich das weisungsgemäß für notwendig Gehaltene substituierte, mit Lüge vereinbar. Seine praktische Gestalt – die der Praxis des Gerichts nämlich – ist Willkür; insofern im Process dessen sogenanntes Gesetz normativ leer ist, steht es dem Belieben des Gerichts gänzlich offen. Da »müssen« und »notwendig sein« modale Synonyme sind, besagt der zweite Halbsatz des Geistlichen: »es ist notwendig, alles für notwendig zu halten«, oder kurz: »Man muß müssen«. Diese Übersetzung räumt auch die Freiheit des Idealismus der Tragik – Vgl. Volkelt, Aesthetik des Tragischen, 526–537: »Der Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt des Tragischen«. 23

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sein Korrelat der Notwendigkeit – ab. Kurz bevor er getötet wird, kommt K. ein Bild in den Sinn: »Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstreben.« (207) Sinnloses Zucken der Glieder ist, was am Ende an Freiheit bleibt. Kafkas Travestie der Tragik verrät die Wahrheit über die Macht, welche das im Idealismus des Tragischen imaginierte Versöhnen der Freiheit mit der Notwendigkeit verschleiert: Sie will, ohne Wenn und Aber, Unterwerfung. Als moralische Genugtuung sollte im tragischen Untergang, nach idealistischer Lehre, stets noch einmal die Würde des Menschen aufleuchten. Den Aufputz von Würde, in welchen die Willkür sich hüllt, treibt Kafka bis zur Karikatur: »In Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Cylinderhüten« (206), tritt das Exekutorenpaar auf. »Alte untergeordnete Schauspieler schickt man um mich« (206), beklagt K. sich über das komische Personal seiner Hinrichtung und erblickt die eigene Tragik darin, daß ihm Tragik vorenthalten wird: »Es war nichts Heldenhaftes wenn er widerstand« (208) – solch albernen Figuren nämlich. Er unterläßt es und entgeht im Sterben der Würde, diesem Trostpreis der Tragik samt zugehöriger edler Floskel. Zur Macht gehört ein Gefälle; dessen naheliegendes Bild ist die menschliche Pejoration des Tiers. So beantwortet sich im Process die Frage, was Gerechtigkeit sei, durch die Tat. Josef K. geht vor die Hunde gemäß der tragikomischen Notwendigkeit der Macht: »Wie ein Hund !« (211).

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Miniatur The future kept arriving. Ian McEwan, Machines like me

Menschen des 21. Jahrhunderts, soweit sie eine Rolle spielen – also die meisten –, besitzen ein rechteckiges Gerät, 13,1 mal 6,4 cm klein. Stets führen sie es mit sich. Alle irdischen Desaster, die vergangenen, die gegenwärtigen und Prophezeiungen der künftigen, enthält der kleine Apparat. Zuoberst in seiner Darstellung reiht er die neuesten. Tragisches, einst, wie Pentheus’ Theben oder Lears Britannien, Attribut ältester Verhältnisse, ist nun Tummelplatz der news. Vertreibung, Mord, Folter, Zerstörung, Verheerungen am Lebendigen in vielen seiner Arten: als news liegen sie gut in der Hand, solche tragischen Geschehnisse; auf gut Deutsch heißt das, was sie so liegen läßt, daher Handy. Das Gerät verurteilt seine Benutzer nicht dazu, das handliche Elend, das auf seinem screen zappelt oder flackert, lediglich zu konsumieren. Die user rücken vielmehr, ohne Volontariat und ohne Redaktion, zu Journalisten des jeweils neuesten Tragischen auf. Dieses aber gerät im universellen Medium der Informationsgesellschaft eher zum Anlaß als zum Gegenstand. Produktiv werden die vernetzten Individuen an tragischen Geschehnissen, insbesondere wenn sie zugleich Sensationen sind, in Form der Selbstdarstellung, gerichtet an alle und keinen. Als selfies wäre ja weit mehr zu bezeichnen als die Photos, die einer von sich macht; es gibt auch selfies aus Sprache. Der Stoff, aus dem diese wie jene, Bild-selfies wie Wort-selfies, gemacht sind, ist die Frage: Was werden die anderen denken ? Jedes posting in social media vollzieht, was der beispielhaft demokratische Philosoph, John Dewey, antizipiert hatte: »Individuierung durch Vergemeinschaftung«1. Die Benutzer sind total geschockt, daß wieder etwas passiert ist, mag es auch noch so niedlich aussehen en miniature; vor allem aber teilen sie dies von sich mit, wie es auch ihnen von den anderen mitge Jörke, Demokratie als Erfahrung, 190.

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teilt wird. Sie sind dabei gebeugt über ihre Endgeräte, wie einst die tragischen Helden gebeugt waren vom Schicksal. Über installierte apps entspinnen sich in chats Dialoge, gleich den alten Tragödien, deren Lektüre dank des Medienwandels überflüssig wurde. Doch festzuhalten ist: Es tritt hier nicht die Wirklichkeit selbst, der Griff ins volle Menschenleben, an die Stelle von Literatur, sondern: news und postings sind auch Genres, Formen der Darstellung, wie früher die Tragödie eminentes Genre einer anders verfaßten Demokratie war. Für Tragik ist mithin gesorgt im digitalen Zeitalter. Komik, lehrt die historische Erfahrung, folgt ihr meist auf dem Fuße. Zur je selben Zeit schufen Sophokles und Aristophanes, Shakespeare und Shakespeare, Corneille und Molière, Wagner und Offenbach – also auch, in Echtzeit, Twitter und Twitter. Zwar sind Begriffe wie Tragik und Komik in der digisphere nicht mehr so genau zu nehmen, insbesondere nicht so genau wie in dieser Studie; aber das macht nichts, denn solche Studien sind ihrer zu geringen Reichweite halber irrelevant. In news und postings geht es bei Tragik und Komik schlicht um Abwechslung. Das aktuelle Verderben beeinträchtigt nicht das aktuelle Vergnügen. Grauen ist der mit einer Berührung in den Vordergrund zu wischende Hintergrund von fun. Und fun gerät intensiver vor dem Hintergrund von Unheil anderswo. So ist dieses alternierend mit spaßigen Werbebannern auf den Bildschirmchen zu verfolgen. Allerdings waren die Dichtungen mit und ohne Musik Formen der Reflexion des Tragischen und Komischen; in Tweets erscheinen Reflexe. Dieses Defizit auszugleichen ist indes nur eine Frage der Intelligenz, unter den gegebenen Umständen also des Entwicklungsstandes der Künstlichen Intelligenz. An sie, Seite an Seite mit der beschränkten natürlichen Intelligenz, die sie schuf, reicht das dramatische Potential von Dionysos mit Pentheus kaum heran. Das Beisammensein jener Intelligenzen, durch machine-learning ins sich steigernde Mißverhältnis getrieben, wird gewährleisten, daß Tragik, Komik und endlich Tragi­komik auf Erden die besten Zeiten noch vor sich haben.

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224 | Bibliographie 

Register Absurdes 29, 39, 51, 74, 85, 131– 132, 141, 177 Abweg 197, 200–201 Achtung 129, 173, 175–176, 202 Adel 19, 75, 86, 129, 139, 159–160 Allegorese 185 Angst 15, 19, 23–24, 49–50, 88 Atem 16, 144 Betrug 94–95, 118 Bewußtsein 18, 31–35, 51, 55, 70–71, 94, 100, 107, 110, 172, 175, 177, 185–186 Biegen 51, 70, 75, 84, 202 Bürgertum 25, 74–75, 159–182, 185, 203 Burleske 17 Chor 56, 58, 64, 68–69, 71–72, 79, 83–84, 88–89, 102, 116, 183 Definition 48, 53, 57, 78, 102, 122 Denken 21, 23, 30, 33–38, 40–42, 60–62, 68–69, 78, 81, 115, 128– 129, 131, 139, 159, 162, 169, 175 Deuten 35–36, 38, 67, 69, 88, 103, 121, 125, 157, 160, 191, 201–203 Drama 26, 34–35, 57, 59–60, 63–70, 82, 87, 96, 101, 104–105, 116–117, 131–132, 150, 165–166, 169, 178, 180, 189 Durchschnitt 188 Ehre 58, 80, 86, 88, 121, 124–127, 129–130, 141, 156, 203 Eifersucht 79, 123–124 Einfühlung 37–38, 118

Einsamkeit 27 Ekel 51–52 Emanzipation 110, 112 Emblem 159 Emotion 25, 37, 43 Empfindung 38, 41, 51, 68, 129, 173 Energie 174–176 Erfahrung 31, 33, 35, 63, 157, 173, 195 Ernst 16, 27, 29, 45, 62, 72, 88, 102, 136, 144, 150–151, 169, 177, 179 Erwartung 34, 49–51, 60, 65, 82, 139–141, 174–176, 194, 196–197, 201 Fallhöhe 42, 47, 154 Familie 68–70, 85, 87, 89 Farce 155–156 Freiheit 115, 149, 161–170, 185, 203–204 Furcht 49–51 Gefahr 15–16, 49–51, 127, 153 Gefühl 24–25, 45, 68, 99, 158, 171–172 Gegensatz 29, 55–63, 66–67, 70–71, 73, 77, 100, 102, 125, 155, 161, 174, 200 Genauigkeit 48–49, 199, 202 Genuß 47, 179 Gerechtigkeit 24, 99, 120, 140, 183–185, 193, 201, 204 Geschichte 11, 48–53, 107–109, 117, 129, 171 Geschlecht 75, 91, 96, 120, 170 Geschmack 23, 28, 176, 180–181 Register | 225

Gesetz 69–70, 110, 134, 183, 188, 191, 194–197, 201, 203 Gewalt 48, 66, 69–70, 86, 88–89, 97–99, 104, 110, 125, 135 Glaubwürdigkeit 190 Gleichnis 191–203 Grenze 15, 21, 45, 53, 61, 74, 108, 132, 153 Häme 89 Happy-End 25–26, 40, 65–66, 102 Held 16, 19, 25–26, 71–72, 77–79, 87, 103, 108, 116–117, 120, 126, 128, 130, 135, 159–162, 171, 183, 185–187, 204, 206 Humor 74–75 Hybris 97 Idee 49, 55, 165, 168–169, 185–186 Idyll 67 Intervention 12, 142–143, 145, 151–152, 155 Intrige 85–86, 94, 121, 125, 149 Ironie 12, 18, 24, 28, 77, 89, 94– 95, 97, 100–105, 196, 203 Kampf 18–19, 24, 49, 89, 91–94, 98–99, 127–128, 133, 170, 178– 179, 200 Karikatur 88, 168–169, 204 Katastrophe 28, 65, 146–147, 186 Klamauk 27, 41, 89 Klischee 23 Kollision 67–70 Komödie 16–17, 26, 32–33, 36, 38, 42, 45, 53–67, 71–75, 79, 81–82, 84–85, 90, 94–95, 100, 102, 116–119, 127, 130–131, 135, 141, 146–147, 149–150, 152, 164, 167, 189 Kult 59–60, 74, 80, 84, 86, 88, 94–95, 105, 109, 111 Kürze 36, 151 226 | Register

Lachen 15–17, 19–21, 31, 36, 41, 45–46, 50–51, 53, 58, 61, 74, 87–89, 127, 156, 158, 174, 176, 181, 194, 197, 201 Lächerlichkeit 15–17, 21, 27–28, 39, 41, 62, 65, 87–90, 104, 149, 151, 188–189 Leben 11, 20, 25–26, 28–31, 35, 39, 50–52, 61, 74, 81, 114, 127–130, 133, 152, 155–158, 160, 171, 179– 180, 183, 185–188, 196–200 Lebensphilosophie 32, 170–171 Leib 16, 18, 49, 62, 91, 127, 155, 162 Leid 18, 24, 80, 89, 92, 134–135, 137, 142, 155, 159–160 Leistung 174, 176 Liebe 25, 31, 71, 121, 123, 136, 147 Logik 62–63, 74, 145, 170, 194 Lüge 85–86, 100, 128, 143, 148, 156, 203 Macht 12, 17, 19, 72–73, 77, 80–82, 86, 88, 99, 105, 109, 134–136, 138, 141–142, 145, 157, 160, 187, 199, 203–204 Manipulation 77, 82, 105, 121 Markt 54 Maske 55, 88, 94, 107, 109, 111, 117, 128, 143, 157 Metapher 11, 35, 77, 88–89, 109, 128, 133, 157, 175, 178, 189, 193 Metaphysik 49, 52, 130, 160–172, 180, 182, 185, 199 Mitleid 24, 29, 47, 179, 202 Modus 32, 146 Moral 29, 110, 112–113, 119, 145–146, 151, 165–168, 180–182, 189–190, 201–202, 204 Mythos 51, 56, 61, 71, 73, 84, 96, 102, 149–150, 179 Narr 102–104, 135, 137–141, 144– 146, 148, 151, 155

Natur 49, 54, 71–72, 75, 82, 90, 104, 121, 136–137, 147, 149, 161, 171–173, 202 Neuheit 29, 32, 56, 60, 71–72, 80, 83–84, 86, 93, 112, 117–118, 120, 129, 165, 188, 205 Nichts 25, 39, 76, 122, 129–130, 141–146, 149, 176–177, 188, 197–199 Notwendigkeit 60, 90, 147–149, 158, 161, 163–168, 170, 185–186, 203–204 Objektivität 31, 36, 163 Opfer I (lat. sacrificium) 77, 124– 125, 127, 130, 160, 166–167, 169 Opfer II (lat. victima) 24, 31, 87, 89, 94, 103, 117, 123, 185 Parodie 19, 24, 56, 129, 140, 148, 163 Pathos 52, 101, 130, 137, 169, 179, 188 Pedanterie 38, 47, 132, 202 Peinlichkeit 27 Person 11, 85, 108–113, 118, 122, 129, 175–176, 179, 184, 187, 189, 199, 202 Perspektive 30–31, 33, 38, 149, 173, 180, 191, 196 Phantasie 27, 51–52, 56, 104 Pointe 51, 145, 193, 197–198, 201 Polis 64, 69, 71, 73, 75, 79, 82, 91 Politik 54, 64, 73, 86, 145, 171, 185 Projektion 37, 161 Prophetie 83, 137–141 Psychologie 148–149, 160, 164, 172–179, 182 Publikum 33, 40, 43, 59–60, 63–64, 73, 82, 89–90, 100, 125, 131, 141, 149–150 Rache 66, 69, 131, 136, 160

Rausch 61, 80, 88, 93–94, 138 Recht 16–17, 68–69, 73, 93, 108, 110, 138, 140, 183–185, 189 Reife 157–158 Religion 55, 80, 84–86, 108–109, 111, 156, 183, 193, 199–200, 203 Respekt 12, 173, 175, 177 Riß 89, 124–125, 147, 149, 180 Rolle 42, 72, 96, 108, 119, 138, 147, 177–178, 181, 205 Satire 83, 139–140, 163 Satyrspiel 57, 64 Schadenfreude 19, 24 Schein (vs. Sein) 59, 95, 99–100, 121–122, 153–154, 174, 191 Schicksal 19–20, 65, 69–70, 81, 103–104, 117–118, 142, 149, 159, 162, 203, 206 Schmerz 26–27, 94–95, 129–130 Schrecken 15–16, 21, 98, 101, 143–144, 160 Selbst 31, 45, 47, 80, 88, 94, 99, 107–122, 125–126, 129–130, 144–145, 173, 182–184, 193, 198, 200, 205 Sentenz 157 Sentimentalität 36, 40–41 Setzung 71–77, 82, 90, 96, 104 Sexualität 92, 119, 150, 165, 170, 181 Singularität 115–116, 118–119, 127 Sinnlichkeit 34, 162–163 Slapstick 40–41, 154 Sophismus 84, 86 Spannung 34, 60, 175 Spiel 31, 43, 55, 79, 82, 95–96, 99, 105, 131, 149–150, 155, 177–178, 189, 191 Sprache 24–25, 34, 39, 51, 55, 75, 77, 82, 107, 128, 135, 140, 146, 149, 155, 158, 169, 186, 198–199, 205 Staat 68–70, 85, 110, 121, 125, 134, 145, 171, 183, 190 Register | 227

Status 12, 128–129, 177–178 Stimmung 43, 45, 89 Subjektivität 31, 36–37, 74, 180 Suizid 133, 152–154 Sympathie 38 Täuschung 80, 82, 95, 99, 103, 119, 123, 126–127, 135, 150, 182, 201–203 Theater 28, 34–35, 50, 55, 57–60, 63–64, 67, 73–74, 81, 89–90, 102, 107, 109–110, 116, 130–132, 137, 139, 146, 152, 167, 176, 178, 189 Tiefe 24, 27, 47, 153–154, 165, 169, 179, 182 Tier 49–50, 74, 81, 107, 154, 204 Tod 16–17, 20, 26, 49, 52, 65, 93–94, 99, 125, 127–130, 152, 155–158, 166–167, 171, 192–193, 195, 201 Tragödie 16, 26, 28, 32–33, 36, 45, 52–61, 63–75, 79, 81–85, 87–90, 95, 98–102, 104–105, 116–117, 120–121, 131, 134–135, 146, 149, 152, 154, 159, 163–165, 167–171, 179–180, 182, 187, 189, 196, 206 Traurigkomisches 39–43 Travestie 12, 185–186, 190, 196, 198, 203–204 Trost 24, 31, 52, 79, 87, 137, 155, 157, 167, 171, 204 Übergang 16, 50, 57, 61, 98, 113, 142, 167 Übermut 50 Überraschung 33–34, 81 Unglück 24–25, 28, 66, 118, 189, 195 Unsinn 26, 75–76, 145–146, 189–191 Untergang 20, 26, 66, 79, 94, 130, 161–162, 169, 171, 204

228 | Register

Vergangenheit 13, 71, 139, 160, 193, 205 Verkleidung 17, 80, 90–91, 95–96, 151 Verleumdung 73, 123, 130, 139, 187, 189–190 Vernunft 86, 95, 99, 161 Verschrobenheit 97 Versöhnung 65, 74, 99, 161, 164, 170, 204 Verstehen 34, 36, 63, 103–104, 108, 112, 196, 201, 203 Verwandlung 77, 123, 136, 172, 187, 189, 200 Verzweiflung 69, 73, 152, 159 Wahnsinn 11, 20–21, 80, 99, 154–155 Wahrheit 18, 20, 70, 73, 81, 86–87, 95, 99–101, 103, 118, 124, 135–136, 141, 143–144, 146, 150, 181–182, 191, 193, 204 Wahrscheinlichkeit 12, 74, 127 Weinen 21, 23, 31, 35, 53 Wende (des Schicksals) 28, 65, 122, 142, 146–147, 186 Willkür 75, 88, 104, 135, 184, 190, 203–204 Wissen 18–19, 70–71, 103, 121, 143, 146, 150–151, 158, 195–196 Witz 24–25, 41, 46, 50–52, 73–75, 97, 99, 131–133, 145–146, 151, 178, 197, 201 Wortspiel 73, 76, 145, 197 Würde 124, 159, 174, 204 Zeichen 99, 139, 147–149, 159 Zeit 12, 31, 33–34, 36, 41, 48–53, 61, 63, 71, 86–87, 101, 104, 113– 114, 132, 136, 139–141, 151, 165, 167, 169, 174–179, 188, 193–196 Zufall 113, 135, 167, 195 Zukunft 13, 136, 138–141, 197

Dank Mit Entsetzen Scherz. Die Zeit des Tragikomischen entstand zwischen Spätsommer 2020 und Frühsommer 2021 am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Ich kenne keinen besseren Ort zu freiem Denken; denen, die das Kolleg zu einem solchen gemacht haben und machen, bin ich verbunden, besonders der Rektorin, Barbara Stollberg-Rilinger. Alfred Brendel danke ich dafür, daß er mich für den Aufenthalt vorschlug und das Vorhaben mit Neugier, Interesse und Sympathie begleitete, Rüdiger Bittner, Luca Giuliani, Daniel Schönpflug, Bettina Schwab und Thorsten Wilhelmy dafür, daß und wie sie Kritik an Entwürfen zu diesem Buch übten. In Gesprächen mit Nora Kreft, die gegen Ende des Fellowjahres eine Woche zu Gast am Wissenschaftskolleg war, habe ich einiges gelernt über Schwächen des Textes und meine eigenen; erstere habe ich zu beseitigen gesucht, letztere dürften nicht zu beseitigen sein. Wir sind uns zwar nicht einig geworden darüber, in welchem Maße es wünschenswert ist, zu vermeiden, was Nietzsche »die beleidigende Klarheit«1 nennt. Aber Nora Krefts Anregungen haben jedenfalls für mehr nichtbeleidigende Klarheit gesorgt. Daß Ève Chiapello meinen notorisch schlechten Scherzen etwas abgewinnen konnte, oder jedenfalls hartnäckig so tat, als könne sie es, hat meine Laune während der Arbeit an dem Buch beträchtlich gehoben. Nach einem Herzanfall in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 2021 hat mir das medizinische Personal der Klinik für Kardiologie des Martin Luther Krankenhauses Berlin, allen voran der diensthabende Gefäßchirurg Dr. Marius Schwerg, durch rasches Handeln für die Zukunft die Tür dazu offengehalten, eines Tages doch noch vor Lachen zu sterben statt an etwas so Ordinärem wie einem Infarkt.

Nietzsche, Götzen-Dämmerung, ›Streifzüge eines Unzeitgemässen‹, Aph. 1, 110. 1

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