Migration in der Adoleszenz: Eine biographische Studie zu jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien [1. Aufl.] 978-3-658-26904-3;978-3-658-26905-0

Janina Zölch untersucht, welchen Einfluss eine Migration in der Phase der Adoleszenz auf den Entwicklungsprozess von jun

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German Pages IX, 470 [476] Year 2019

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Migration in der Adoleszenz: Eine biographische Studie zu jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien [1. Aufl.]
 978-3-658-26904-3;978-3-658-26905-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Janina Zölch)....Pages 1-6
Hintergrund: Geschichte und aktuelle Lage der (Spät-)AussiedlerInnen (Janina Zölch)....Pages 7-40
Theoretischer Rahmen: Migration in der Adoleszenz (Janina Zölch)....Pages 41-97
Forschungsstand: (Spät-)AussiedlerInnen im Kontext von Adoleszenz und Migration (Janina Zölch)....Pages 99-125
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Präzisierung der Fragestellung (Janina Zölch)....Pages 127-137
Forschungsprozess (Janina Zölch)....Pages 139-172
Biographische Fallrekonstruktionen (Janina Zölch)....Pages 173-386
Theoretische Verallgemeinerung: Konstellationen und zentrale Ergebnisse (Janina Zölch)....Pages 387-426
Schlussbetrachtung (Janina Zölch)....Pages 427-433
Back Matter ....Pages 435-470

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Adoleszenzforschung

Janina Zölch

Migration in der Adoleszenz Eine biographische Studie zu jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien

Adoleszenzforschung Zur Theorie und Empirie der Jugend aus transdisziplinärer Perspektive Band 7 Reihe herausgegeben von Vera King, Frankfurt, Deutschland Hans-Christoph Koller, Hamburg, Deutschland

Der Fokus dieser Reihe liegt auf der Erforschung der Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein. Leitend sind dabei der Anspruch einer Verknüpfung insbesondere von gesellschaftlich-kulturellen und individuellen Ebenen sowie eine damit verbundene transdisziplinäre Ausrichtung. Besondere Schwerpunkte liegen weiterhin in einer fundierten Weiterentwicklung der Theorie und einer Forschung, die zugleich den erheblichen zeitgenössischen Wandlungen dieser Lebensphase empirisch differenziert Rechnung tragen kann. Welche Bedeutung kommt in gegenwärtigen Gesellschaften der Adoleszenz als Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein zu – in Bezug auf sozialen und kulturellen Wandel, auf biographische Entwicklungen und individuelle Bildungsprozesse? Wie verändern sich gesellschaftliche Konstruktionen von Jugend und Adoleszenz als historisch variierende Formen, in denen Generationsverhältnisse und Generationsabfolgen reguliert werden? Unter welchen Bedingungen können kreative Potenziale der Adoleszenz wirksam werden? Diesen Fragen werden die Beiträge dieser Reihe nachgehen – verbunden mit dem Interesse an theoretischen Differenzierungen und aktuellen empirischen Fundierungen, disziplinübergreifenden Vermittlungen und in Rekurs auf den internationalen Stand der Jugend- und Adoleszenzforschung. Die Reihe richtet sich an Forschende, Studierende und Lehrende der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und anderer Disziplinen, die an Adoleszenz- bzw. Jugendforschung interessiert sind.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11658

Janina Zölch

Migration in der Adoleszenz Eine biographische Studie zu jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien

Janina Zölch Universität Hamburg Hamburg, Deutschland Dissertation Universität Hamburg, 2017

ISSN 2512-0433 ISSN 2512-0441  (electronic) Adoleszenzforschung ISBN 978-3-658-26904-3 ISBN 978-3-658-26905-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

An erster Stelle möchte ich meinen Interviewpartnern herzlich für die Einblicke danken, die sie mir in ihre Lebensgeschichten gewährt haben. Ohne ihre Offenheit und spannenden Erzählungen hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Für die Zukunft wünsche ich ihnen nur das Beste! Ein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang auch jenen Personen, die mir Kontakte vermittelt haben. Meiner Erstbetreuerin, Prof. Dr. Vera King, möchte ich nicht nur für die Begleitung der Arbeit danken, sondern auch für die vielfältige Förderung seit meinem Studium. Sie hat mir den Weg in die Wissenschaft geebnet, mir Möglichkeiten eröffnet und mir zugleich die notwendige Autonomie zugestanden, um mein Eigenes zu finden. Ebenso habe ich meinen Zweitgutachter, Prof. Dr. HansChristoph Koller, seit dem Studium als wertvollen Unterstützer erlebt. Beide haben meine Gedanken durch Texte und Gespräche angeregt und mir durch Mitarbeiterstellen wissenschaftliche Weiterentwicklung und über weite Strecken auch die Finanzierung der Arbeit ermöglicht. Ein weiterer Dank gilt Prof. Dr. Ulrich Gebhard, der trotz der Länge der Arbeit als mündlicher Gutachter die Disputation bereichert hat. Prof. Dr. Sandra Rademacher möchte ich meinen besonderen Dank für den Freiraum aussprechen, den sie mir im Rahmen meiner Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin zugestanden hat. Nur dadurch konnte ich die Arbeit abschließen. An Prof. Dr. Gabriele Rosenthal geht mein Dank für ihr Interesse aus der Ferne und die Möglichkeit, erste Ergebnisse in ihrem Kolloquium präsentieren zu dürfen. Dies hat mir die Sicherheit gegeben, methodisch auf dem richtigen Weg zu sein. Mein herzlicher Dank geht an die VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen von Doktorandenkolloquien und anderen Formaten, in deren Rahmen Auszüge aus der Arbeit diskutiert werden konnten. Die gemeinsame Betrachtung der Konzeption sowie der Fälle war sehr hilfreich und die Atmosphäre in allen Kontexten herzlich und motivierend. Es war mir ein Vergnügen! Im Besonderen möchte ich Dr. Susanne Benzel, Dr. habil. Anke Wischmann, Dr. Anne Rosken, Kathrin Böker, Katarina Busch und Jess Vehse für den wertvollen Austausch über Jahre und/oder die kritische Lektüre einzelner Teile der Arbeit danken. Ich wünsche Euch weiterhin viel Erfolg und immer Freude an der Wissenschaft.

VI

Danksagung

Darüber hinaus möchte ich mich bei der Promotionsförderung der Universität Hamburg bedanken, durch die ich in den ersten drei Monaten finanziell unterstützt wurde. Georg, Wolfgang, Franz und den anderen schicke ich von Herzen Dank für ihre wundervollen Werke, die mich bei der Arbeit stets begleitet haben. Sascha Milovic möchte ich für den intellektuellen Austausch und die Diskussionsbereitschaft danken. Sein Vertrauen in mich und meine Arbeit hat mich stets bestärkt. Heidrun Milovic danke ich für die jahrelange familiäre Unterstützung. Ich widme diese Arbeit in Liebe den beiden, die mich oft von ihr abgehalten und ihr zugleich Sinn gegeben haben: Maximilian und Theresa. Janina Zölch

Inhalt

Einleitung .......................................................................................................... 1 1 

Hintergrund: Geschichte und aktuelle Lage der (Spät-)AussiedlerInnen ............................................................................. 7 1.1 Historischer Kontext ................................................................................ 8  1.2   Rechtsstatus und gesellschaftliche Anerkennung in Deutschland ......... 20  1.3   Einreisemodalitäten und Lebenssituation in Deutschland ..................... 27  1.4   Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen .................................... 34

2  Theoretischer Rahmen: Migration in der Adoleszenz ......................... 2.1 Adoleszenz ............................................................................................ 2.1.1 Historische Entwicklung und soziale Bedingungen .................... 2.1.2   Adoleszente Transformationen ................................................... 2.1.3   Ablösung und Generativität ........................................................ 2.2   Migration ............................................................................................... 2.2.1   Krisis-Erfahrungen im Kontext von Migration ........................... 2.2.2   Migrationsspezifische Transformationen .................................... 2.2.3  Zugehörigkeitskonstruktionen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen ................................................................. 2.3   Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration ................................ 2.3.1   Analogien zwischen Adoleszenz und Migration ......................... 2.3.2   Folgen der Migration im Familienverbund ................................. 2.3.3   Besonderheiten männlicher Adoleszenz in der Migration ..........

41  41  45  46  50  61  62  65  74  79  79  88  91



Forschungsstand: (Spät-)AussiedlerInnen im Kontext von Adoleszenz und Migration ..................................................................... 99  3.1  Allgemeiner Überblick zur Forschungslage in Bezug auf (Spät-)AussiedlerInnen .......................................................................... 99  3.2   Studien mit Fokus auf Adoleszenz und Migration .............................. 111



Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Präzisierung der Fragestellung ......................................................................................... 127

VIII

Inhalt

5  Forschungsprozess ................................................................................ 5.1   Verortung in der Biographieforschung ................................................ 5.2   Erhebungsmethode: Biographisch-narratives Interview ...................... 5.3   Die Interviewpartner ............................................................................ 5.4   Wechselseitige Konstitution von Erleben, Erinnern und Erzählen ...... 5.5   Auswertungsmethode: Biographische Fallrekonstruktion ................... 5.6   Reflexive Betrachtung der Forschungssituation ..................................

139  139  141  145  150  153  163

6  Biographische Fallrekonstruktionen ................................................... 6.1  Fallrekonstruktion Vadim: „Hier ist man gar nichts dann und da, da erinnert man sich noch an mir“ ............................................................ 6.1.1   Interviewsituation ..................................................................... 6.1.2   Analyse der biographischen Daten ........................................... 6.1.3   Text- und thematische Feldanalyse ........................................... 6.1.4   Rekonstruktion der Fallgeschichte ............................................ 6.1.5   Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte ... 6.2  Fallrekonstruktion Anton: „hab ich auch so Zwischenfälle irgendwie, wo ich nich verstanden wurde“ ........................................................... 6.2.1   Interviewsituation ..................................................................... 6.2.2   Text- und thematische Feldanalyse ........................................... 6.2.3   Rekonstruktion der Fallgeschichte ............................................ 6.2.4   Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte ... 6.3  Fallrekonstruktion Semjon: „Aber trotzdem gibt es einen Bereich in der Psyche, der danach verlangt irgendwie so, [mh] sich konkret zuzuordnen“ ......................................................................................... 6.3.1   Interviewsituation ..................................................................... 6.3.2   Text- und thematische Feldanalyse ........................................... 6.3.3   Rekonstruktion der Fallgeschichte ............................................ 6.3.4   Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte ... 6.4   Fallrekonstruktive Kurzportraits .......................................................... 6.4.1   Kurzportrait Jurij ....................................................................... 6.4.2   Kurzportrait Sergej .................................................................... 6.4.3   Kurzportrait Fjodor ...................................................................

173 



Theoretische Verallgemeinerung: Konstellationen und zentrale Ergebnisse .............................................................................................. 7.1  Konstellationen zum Verhältnis von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen ....................................................................... 7.2   Theoretisierende Betrachtung der zentralen Ergebnisse ...................... 7.2.1   Strukturelle Bedingungen der Migration ..................................

174  175  177  184  210  264  271  271  273  277  313  320  320  322  327  364  371  371  376  381 387  387  397  397 

Inhalt 7.2.2  7.2.3   7.2.4   7.2.5   7.2.6   7.2.7  7.2.8   7.2.9  7.2.10 

IX Der zentrale Wendepunkt? Die lebensgeschichtliche Einbettung der Migration .......................................................... Erschwerter Zugang zu Freundschaftsbeziehungen .................. Soziale Unterstützung als wichtige Ressource .......................... Eine große Herausforderung: die neue Sprache ........................ Bildungserfolg – der Weg zum Studium ................................... Adoleszente Auseinandersetzungen mit der eigenen Zugehörigkeit ............................................................................ ‚Bedeutsame Orte‘ .................................................................... Männlichkeit und die Auseinandersetzung mit dem Vater (und der Mutter) ........................................................................ Von zentraler Bedeutung: die familialen Beziehungen und die generative Haltung der Eltern ...................................................

402  404  408  410  412  414  417  420  422

8  Schlussbetrachtung ............................................................................... 427  8.1   Reflektion des methodischen Vorgehens und der Generalisierbarkeit 427  8.2  Besonderheiten einer Migration in der Adoleszenz bei jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien ................................................... 430 Literatur ........................................................................................................ 435 

Einleitung

„Die Jugend – wer könnte daran zweifeln? – ist das beste und das schlimmste Alter für alles; auch für die Migration“ (Grinberg/Grinberg 1990, 144)

Die Aussage der Psychoanalytiker Grinberg und Grinberg wirkt durch die rhetorische Frage und die Gegenüberstellung der beiden im Superlativ formulierten Adjektive apodiktisch. Aus einer erziehungswissenschaftlichen Forschungsperspektive heraus gilt es dennoch, die ‚zweifelsfreie‘ Besonderheit zu hinterfragen: Was macht eine Migration während der Lebensphase der Jugend bzw. Adoleszenz zu einem (offenbar) solch spezifischen Geschehen? Adoleszenz und Migration sind Themenkomplexe, die in den letzten Jahren eine eingehende (erziehungs-) wissenschaftliche Betrachtung erfahren haben, bislang jedoch fast ausschließlich in Hinblick auf Angehörige der zweiten und dritten Migrantengeneration untersucht worden sind. Für die bereits im Einwanderungsland der Eltern oder Großeltern Geborenen gibt es die Annahme, dass „die Folgen der Migration für die Familie und die Art der Verarbeitung durch die Eltern“ (King/Koller 2009, 12) als Herausforderung in den adoleszenten Auseinandersetzungen der Kinder indirekt wirksam werden können. Kaum betrachtet wurden bisher hingegen junge Männer und Frauen, die selbst während der Adoleszenz migriert sind und sich dadurch mit der oben benannten spezifischen Parallelität von Adoleszenz und Migration konfrontiert sehen. Dabei machen die Arbeiten von King und Schwab (2000) sowie Günther (2009) den Gewinn einer Perspektive deutlich, die Adoleszenz und Migration in ihren Wechselwirkungen betrachtet. Allerdings sind die Untersuchten sowohl bei King und Schwab als auch bei Günther ohne ihre Familien nach Deutschland migriert. Auch wenn die Eltern, z.B. durch die Delegation von Bildungserfolg, selbst ohne personelle Anwesenheit bedeutsam für die Entwicklung der Heranwachsenden sind, ist davon auszugehen, dass eine sich davon unterscheidende Konstellation vorliegt, wenn die Migration im Familienverbund geschieht. Durch eine solche sind alle Familienmitglieder zeitgleich mit dem Verlust des Vertrauten konfrontiert und müssen sich im Einreiseland neu orientieren und verorten. Dies kann zu Veränderungen in der jeweiligen Familiendynamik führen (vgl. Rosenthal et al. 2011, 206) und Einfluss auf die adoleszenten Auseinandersetzungen der Kinder nehmen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_1

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Einleitung

Diesem Themenkomplex – dem Zusammentreffen bzw. der wechselseitigen Überlagerung der Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration – widmet sich die vorliegende Arbeit in Bezug auf junge Männer aus der ehemaligen Sowjetunion, die als Spätaussiedler während ihrer Adoleszenz nach Deutschland migriert sind. Die Entscheidung für diese Untersuchungsgruppe ist erstens dadurch begründet, dass (Spät-)AussiedlerInnen1 im Vergleich zu den meisten anderen Migrantengruppen nahezu ausnahmslos im Familienverbund nach Deutschland einwandern, der zumeist Eltern und Kinder bzw. Jugendliche und teilweise auch die Großeltern umfasst (vgl. Wierling 2004, 197). Dadurch finden sich unter den (Spät-)AussiedlerInnen viele Personen mit eigenen Migrationserfahrungen in der Adoleszenz, was sie zu einer besonders vielversprechenden Gruppe in Hinblick auf das Zusammentreffen der beiden Herausforderungen macht. Zweitens handelt es sich auch quantitativ um eine bedeutsame Gruppe, denn mit insgesamt rund 2,4 Millionen eingewanderten Personen stellen die (Spät-)AussiedlerInnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland dar (vgl. Worbs et al. 2013, 28). Obgleich diese einen privilegierten Status insofern besitzen, als sie juristisch als Deutsche gelten, werden sie z.T. gesellschaftlich marginalisiert und haben mit anderen MigrantInnen vergleichbare (Integrations-)Schwierigkeiten (vgl. Dietz/Roll 1998, 18). Und drittens ist die Forschungslage in Bezug auf männliche (Spät-)Aussiedler als desolat zu bezeichnen. Junge männliche (Spät-)Aussiedler wurden bisher fast ausschließlich defizitorientiert mit Blick auf Integrationsprobleme und abweichendes Verhalten betrachtet. Eine Untersuchung, die die Biographien und adoleszenten Entwicklungsprozesse von bildungserfolgreichen männlichen Spätaussiedlern zum Gegenstand hat, steht bislang aus. Einen Beitrag zur Überwindung dieses Desiderats soll im Folgenden geleistet werden, indem bildungserfolgreiche männliche Spätaussiedler in den Blick genommen werden, die während ihrer Adoleszenz mit ihrer Familie nach Deutschland migriert sind. Das Ziel der empirischen Studie ist es, anhand der Rekonstruktion von biographischen Erzählungen herauszuarbeiten, welchen Einfluss das Zusammentreffen der Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration auf den adoleszenten Entwicklungsprozess von männlichen Spätaussiedlern hat. Unter Adoleszenz wird in dieser Arbeit der psychosoziale Transformationsprozess eines Menschen von der Kindheit zum Erwachsensein verstanden (vgl. King 2000a, 42). Durch die geistigen und körperlichen Veränderungen in der

1

In dieser Arbeit wird der Begriff ‚(Spät-)AussiedlerIn‘ verwendet, wenn inhaltlich beide Gruppen – also AussiedlerInnen und SpätaussiedlerInnen – eingeschlossen sind. An Stellen, die sich nur auf Personen beziehen, die vor 1993 eingereist sind, wird die Formulierung ‚AussiedlerIn‘ gebraucht und vice versa findet, wenn es nur um nach 1993 migrierte Personen geht, der Begriff ‚SpätaussiedlerIn‘ Verwendung.

Einleitung

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Pubertät und die in der Jugend steigende Bedeutsamkeit von Gleichaltrigenbeziehungen, wird eine auf veränderte Weise stattfindende Auseinandersetzung mit der Welt der Kindheit, den familialen Erfahrungen, den bisher selbstverständlichen Lebensbedingungen und dem eigenen Gewordensein möglich (vgl. King 2007a, 37f). In diesem Kontext gilt es, das bestehende Verhältnis zu den Eltern zu modifizieren und adoleszente Ablösungsprozesse zu vollziehen, die eigene Geschlechtlichkeit auszugestalten und vor allem, einen individuierten Lebensentwurf herauszubilden und eine generative Haltung einnehmen zu können. Zentraler Ausgangspunkt der adoleszenten Entwicklungen ist die Familie. Dabei ist es wichtig, die Adoleszenz nicht nur als individuellen Entwicklungsprozess, sondern als intergenerationales Geschehen zu verstehen, bei dem für eine produktive Gestaltung beide Seiten – die Heranwachsenden und ihre Eltern – Veränderungen in den Generationenbeziehungen zulassen müssen (vgl. King 2010a). Ebenso wird die Migration nicht nur als singulärer Akt der Auswanderung betrachtet, sondern als ein Transformationsprozess begriffen, bei dem ein umfassender „Wechsel der bisherigen individuellen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge“ (Günther 2009, 59) stattfindet. Insofern stellt die Migration ein Lebensereignis dar, das einen Einschnitt in die Biographie eines Menschen bedeutet, der sowohl Bewältigung erfordert als auch Entwicklungspotential enthält und chancenhaft genutzt werden kann (vgl. Frogner 1994). Zentral dafür sind die Art des Umgangs mit den Themen „Trennung und Umgestaltung“ (King/Schwab 2000, 211), die Bewältigung von Fremdheitserfahrungen sowie die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeitskonstruktionen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Beide Prozesse – Adoleszenz und Migration – werden zum einen durch geschlechts- und milieuspezifische sowie sozial-strukturelle Bedingungen bestimmt und zum anderen durch die familialen Generationenbeziehungen in Wechselwirkung mit dem zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerk (vgl. Reich 2005, 136). Bei einer Migration in der Phase der Adoleszenz treffen die mit den beiden Wandlungsprozessen verbundenen Herausforderungen zusammen. Heranwachsende in der Migration müssen sich nicht nur mit adoleszenten Themen auseinandersetzen, sondern auch ganz unmittelbar mit den Folgen und Anforderungen der Migration, die in vielen Punkten Analogien aufweisen. Dies beinhaltet sowohl die Gefahr des Scheiterns als auch die Möglichkeit der produktiven Bewältigung, wie es auch in der gegensätzlichen Formulierung des „beste[n]“ und „schlimmste[n]“ Alters des einführenden Zitats enthalten ist. Da es sich bei Adoleszenz und Migration „nicht um punktuelle, in sich klar strukturierte Ereignisse mit jeweils spezifischen Folgen“ (Breckner 2009, 121) handelt, sondern um zeitlich ausgedehnte Prozesse, die lebensgeschichtlich einge-

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Einleitung

bettet sind, ist diese Arbeit in der Biographieforschung verortet. Als Erhebungsmethode wurde das von Schütze (1983) entwickelte ‚biographisch-narrative Interview‘ gewählt. Die Auswertung der Interviews erfolgte mithilfe der ‚biographischen Fallrekonstruktion‘ nach Rosenthal (1995), die speziell für die Analyse narrativer Interviews entwickelt wurde und es ermöglicht, die Lebensgeschichten vielschichtig und jenseits des manifesten Gehalts in den Blick zu nehmen. Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich übergreifend in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Das 1. Kapitel widmet sich der Geschichte der (Spät-)AussiedlerInnen und ihrer Lebenssituation in Deutschland. Informationen über die historischen Hintergründe, die Ausreisebedingungen, den rechtlichen Status in Deutschland, die Komplexität der Zugehörigkeitskonstruktionen, die Besonderheiten im Vergleich zu anderen Migrantengruppen sowie die Lebens- und Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen sind relevant für das Verständnis der untersuchten Gruppe. Darüber hinaus dient das Kapitel auch als Hintergrundwissen für die Fallrekonstruktionen. Im 2. Kapitel wird der theoretische und konzeptionelle Rahmen für die eigene empirische Forschung dargestellt. Dabei geht es um die Frage, was geschieht, wenn die beiden Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration zusammentreffen. Daher wird in diesem Kapitel zunächst jeweils der der Arbeit zugrundeliegende Erkenntnisstand zu beiden Themen umfassend präsentiert. Im Anschluss werden die beiden Unterkapitel zusammengeführt und um weitere Gedanken ergänzt. Dafür wird zunächst differenziert auf die Analogien zwischen Adoleszenz und Migration sowie die möglichen Folgen im Falle ihres Zusammentreffens eingegangen. Da (Spät-)AussiedlerInnen fast ausschließlich im Familienverbund einreisen, werden anschließend die Besonderheiten ausgeführt, welche dies – vor allem im Kontext der Adoleszenz – mit sich bringt. Das Kapitel schließt mit der Betrachtung der Spezifika männlicher Adoleszenz in der Migration. Das 3. Kapitel gibt einen umfassenden Einblick in den Forschungsstand zu (Spät-)AussiedlerInnen im Kontext von Adoleszenz und Migration. In einer sich zuspitzenden Bewegung beginnt das Kapitel mit einem allgemeinen Überblick zur Forschungslage in Bezug auf (Spät-)AussiedlerInnen und endet mit den aktuellen Erkenntnissen zu Adoleszenz und Migration bei Menschen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen und (Spät-)AussiedlerInnen im Besonderen. Dabei werden Anschlussstellen und Desiderate herausgearbeitet.

Einleitung

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Am Ende des theoretischen Teils erfolgt im 4. Kapitel eine Zusammenfassung der vorangegangenen drei Kapitel. In dieser sollen noch einmal die relevantesten Aspekte rekapituliert sowie Leerstellen und Anknüpfungspunkte aufgedeckt werden und daraus Schlussfolgerungen für die eigene Arbeit gezogen werden. Davon ausgehend wird die Hauptfragestellung der Arbeit um Unterfragen angereichert. Es folgt der empirische Teil der Arbeit, der sich der eigenen Untersuchung widmet. Um den Verlauf der Erkenntnisgewinnung transparent und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. Steinke 1999, 207), gibt das 5. Kapitel zunächst einen dezidierten Einblick in den Forschungsprozess. Dafür wird die biographieanalytische Herangehensweise begründet, das Erhebungsverfahren des narrativen Interviews sowie die Auswertungsmethode der biographischen Fallrekonstruktion erläutert, das Sample vorgestellt und die Forschungssituation einer detaillierten reflexiven Betrachtung unterzogen. Kapitel 6 ist das umfangreichste und bildet das Zentrum der Arbeit. In diesem werden drei biographische Fallrekonstruktionen ausführlich dargestellt, die anhand von minimalen und maximalen Fallvergleichen ausgewählt wurden. Um den Nachvollzug der Interpretationen zu gewährleisten, wird der Auswertungsprozess am Fall von Vadim extensiv aufgefächert. Nach einer Zusammenfassung der relevanten Lebensdaten und der Interviewsituation werden alle fünf Auswertungsschritte der biographischen Fallrekonstruktion dargestellt. Für die beiden Fälle Anton und Semjon erfolgt, um Vergleichbarkeit zu ermöglichen, die gleiche Darstellungslogik, jedoch jeweils in gekürzter Form. Jeder Fall endet mit dem 5. Auswertungsschritt, in dem die beiden Auswertungsebenen der erlebten und erzählten Lebensgeschichte kontrastiert werden und die Fallgeschichte noch einmal verdichtet dargestellt wird. Darauf werden drei weitere Fallrekonstruktionen in Form von Kurzportraits vorgestellt, wodurch die Spezifika der einzelnen Fälle noch stärker herausgearbeitet und weitere Varianten des Gesamtsamples aufgezeigt werden sollen. In Kapitel 7 findet ein Wechsel von der Ebene der Einzelfälle zu den übergreifenden Ergebnissen statt. In einem ersten Schritt werden drei Konstellationen zum Verhältnis von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen präsentiert. Diese sind ausgehend von allen Fällen in Hinblick auf das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration erstellt worden. Im zweiten Schritt erfolgt eine theoretisierende Betrachtung der zentralen Ergebnisse, die sich in den Interviews übergreifend als wesentlich für das Themenfeld der Arbeit erwiesen haben. Dabei werden die empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund des vorgestellten Erkenntnis- und Forschungsstandes diskutiert. Es wird dargestellt, an welchen Stellen die Ergebnisse übereinstimmen oder sich widersprechen und herausgehoben, welche neuen Erkenntnisse die Untersuchung hervorgebracht hat.

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Einleitung

Die Arbeit wird mit Kapitel 8, der Schlussbetrachtung, abgerundet. Darin wird eine reflexive Betrachtung des methodischen Vorgehens und der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse vorgenommen und ein Ausblick auf anschließende Forschungsmöglichkeiten gegeben, ehe die zentralen Resultate der Arbeit in Form von vier Thesen zusammengefasst werden.

1 Hintergrund: Geschichte und aktuelle Lage der (Spät-)AussiedlerInnen

Um die Besonderheiten der Gruppe2 der (Spät-)AussiedlerInnen, z.B. in Bezug auf die Ausreisebedingungen, ihren rechtlichen Status in Deutschland und die Komplexität der Zugehörigkeitskonstruktionen verstehen zu können, ist es unabdingbar, sich mit ihrer bewegten Geschichte auseinanderzusetzen; denn der Schlüssel zur heutigen Situation liegt in der Vergangenheit (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 49). Daher wird zunächst der historische Kontext (1.1) nachgezeichnet und dargestellt, wie deutsche SiedlerInnen einst nach Russland kamen und wie sich ihre Geschichte in den folgenden mehr als zweihundert Jahren gestaltet hat. In Hinblick auf die Migration wird der Rechtsstatus der (Spät-)AussiedlerInnen (1.2) erklärt und aufgezeigt, auf welche Weise ihre gesellschaftliche Anerkennung in Deutschland (1.2) damit konfligiert. Dies stellt ebenso eine gesellschaftliche Bedingung dar, wie die anschließend angeführten Einreisemodalitäten und die Lebenssituation von (Spät-)AussiedlerInnen in Deutschland (1.3), die Einfluss auf den Möglichkeitsraum der Adoleszenten nehmen. Abschließend erfolgen Informationen über die Bildungssituation der Kinder und Heranwachsenden (1.4). Die detaillierte Darstellung der Geschichte und der sozialen Lage der (Spät-)AussiedlerInnen ist auf zwei Ebenen relevant. Erstens sollen die Ausführungen den LeserInnen als Hintergrundwissen dienen, das im Weiteren auch zu einem besseren Verständnis der Fallrekonstruktionen beitragen kann. Zweitens waren die Informationen zu den spezifischen historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen, die bis in die Gegenwart der Familien hineinwirken (vgl. Brandhorst 2015, 97), unverzichtbar für die Rekonstruktionen der Fälle selbst. Ohne dieses Hintergrundwissen wären viele Aspekte unverstanden geblieben oder vorschnell gedeutet worden.

2 Der Begriff ‚Gruppe‘ soll kein homogenes Bild der Menschen mit (Spät-)Aussiedlerhintergrund suggerieren, sondern stellt lediglich den Versuch einer handhabbaren Formulierung dar.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_2

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Hintergrund

1.1 Historischer Kontext (Spät-)AussiedlerInnen sind Nachfahren von SiedlerInnen, die im 18. Jahrhundert mit der Zusicherung zahlreicher Privilegien aus dem (süd-)deutschen Raum ins Russische Reich ausgewandert sind (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 51ff).3 Grundlage dafür boten die Manifeste von Katharina II. und Alexander I. von 1763 bzw. 1804. Ihr Ziel war es, bisher unbewohnte und ungenutzte fruchtbare Landstriche des Reiches zu bevölkern und dadurch den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu beflügeln. Da die russischen Bauern durch die Leibeigenschaft an ihre Grundherren gebunden waren, wurden dafür SiedlerInnen aus dem Ausland angeworben (vgl. Malchow et al. 1990, 17f). Um für die ausländischen Bauern attraktiv zu sein, wurden ihnen in einem international bekannt gemachten Anwerbemanifest vom 22. Juli 1763 zahlreiche Privilegien zugesichert. Nicht nur erhielt jeder Siedlerhaushalt dreißig Hektar Ackerland, sondern – anders als die russischen Bauern – waren die Einwanderer keine Leibeigenen, sondern Freie, durften Grundstücke von Privatpersonen kaufen und erhielten eine weitgehende lokale Selbstverwaltung. Des Weiteren durften sie u.a. ihre Religion frei ausüben und waren von Steuern und dem Militärdienst befreit (vgl. Ingenhorst 1997, 20). Die versprochenen sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Privilegien stießen insbesondere im (heutigen) Hessen und Baden-Württemberg auf Interesse, wo die Menschen stark unter den Folgen des Siebenjährigen Krieges und Missernten gelitten haben. Die Auswanderung von Süddeutschland nach Russland war im 18. Jahrhundert sehr beschwerlich und gefährlich, sodass etwa 15 Prozent der SiedlerInnen auf dem Weg starben (vgl. ebd., 22). Insgesamt migrierten während der etwa einhundert Jahre dauernden Einwanderungsbewegung etwa 100.000 Personen aus dem heutigen Raum Deutschlands nach Russland (vgl. Malchow et al. 1990, 22). Die größten Siedlungsbiete bildeten sich in der Wolga- und Schwarzmeerregion, daneben gab es bedeutende Siedlungen im Kaukasus und in Wolhynien (vgl. Kiel 2009, 19). Nach den Anstrengungen der ersten Jahre, gelangten die von ‚Deutschen‘ besiedelten Gebiete etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu sichtbarem Wohlstand (vgl. Traub 2011, 57). In Bezug auf ihre russische Umwelt nahmen sie sich als Fremde wahr und isolierten sich fast vollständig. Die eindeutige ethnische Verortung als Deutsche und die Beibehaltung der kulturellen Praxen prägten die kommenden Generationen. Die SiedlerInnen gründeten eigene Schulen und eigene 3 Es gab auch in den Jahrhunderten zuvor Auswanderungen von Deutschen nach Russland, z.B. von Technikern und Handwerkern unter Peter I. (Zar von 1682-1725). Diese machen jedoch zahlenmäßig nur einen sehr geringen Anteil aus. Zudem handelt es sich bei den (Spät-)AussiedlerInnen um die Nachfahren der späteren bäuerlichen Auswanderung (Steenberg 1989, 17), weshalb die anderen Gruppen und ihre Geschichte an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.

Historischer Kontext

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größtenteils evangelisch-lutherische Kirchen, wohingegen die sie umgebende russische Bevölkerung überwiegend russisch-orthodoxen Glaubens war. Zu Ehen zwischen Russen und Deutschen kam es nicht (vgl. Ingenhorst 1997, 32). Der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung beschränkte sich fast vollständig auf den Austausch von Waren. Die öffentliche Wahrnehmung der deutschen SiedlerInnen war überwiegend positiv, sie galten als fleißig sowie „als überdurchschnittlich sittliche und moralische Menschen“ (Kiel 2009, 21). Dennoch stellten ‚die‘ deutschen SiedlerInnen keine heterogene Gruppe dar (vgl. Mukhina 2007). Sie kamen in geschlossenen Gemeinschaften aus ihren Herkunftsgebieten und verblieben im Einwanderungsland in diesen Gruppen. Diese unterschieden sich (z.B. in Hinblick auf Religion, Dialekt oder die wirtschaftliche Entwicklung) und waren durch große geographische Entfernungen getrennt, sodass es untereinander kaum zu Kontakten kam (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 53). Von einem übergreifenden gemeinsamen Wir-Gefühl als ‚Deutsche‘ ist für diese Zeit daher nicht auszugehen (vgl. Rosenthal et al. 2011, 40). Verschlechterung der Lage 1865 wurden alle Anwerbungen gestoppt und die Privilegien der deutschen Siedlungen sukzessive zurückgenommen. Fortan mussten auch sie Steuern zahlen; später folgte die Aufhebung der örtlichen Selbstverwaltung (1871), die Einführung russischer Amtsnamen für die Siedlungen sowie die allgemeine Wehrpflicht (1874). Mit dem Fremdengesetz von 1887 wurden das Wahlrecht sowie das Recht auf Grundbesitz eingeschränkt. Auslöser dafür lagen sowohl auf russischer Seite als auch auf der des Deutschen Reiches. Nachdem die Leibeigenschaft der russischen Bauern 1861 abgeschafft wurde, sollten die unterschiedlichen Rahmenbedingungen abgebaut werden (vgl. Brandes 1992, 99). Dies umso mehr, desto stärker die nationalistischen Strömungen im Russischen Reich zu dieser Zeit zunahmen. Die geistige und politische Idee der ‚Panslawismus‘ stellte sich ein slawisches Großreich unter russischer Herrschaft vor und lehnte die Sonderrechte der Deutschen ab. Die Diskussion um die ‚deutsche Frage’ verschärfte sich durch die Gründung des zweiten Deutschen Reiches 1871 und die Politik, die Bismarck während des Berliner Kongresses (1878) zu Ungunsten Russlands betrieb (vgl. Malchow et al. 1990, 23f; Velten 2003, 24f). In Presse und öffentlicher Meinung häuften sich Ressentiments gegen die deutschen SiedlerInnen (vgl. Eisfeld 1992, 69). Erstmals wurden diese „kollektiv mit den Ideen und Absichten des Deutschen Reichs gleichgesetzt“ (Ingenhorst 1997, 31), obgleich diese überwiegend zarentreu waren und kein Interesse für das Bismarck-Reich zeigten.

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Zum Zeitpunkt der ersten russischen Volkszählung im Jahre 1897 lebten 1.790.489 Personen im Russischen Reich, die Deutsch als ihre Muttersprache angaben, was einen Anteil von 1,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmachte. Davon lebten 33 Prozent in der Wolgaregion und 31 Prozent in den Schwarzmeergebieten (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 53). Etwa 300.000 von ihnen wanderten aufgrund der verschlechterten Umstände bis 1912 nach Nord- und Südamerika aus (vgl. Malchow et al. 1990, 23f). Kurz darauf begann der Erste Weltkrieg. Der Sieg der deutschen Truppen bei Tannenberg im August 1914 führte dazu, dass die deutschen SiedlerInnen zu ‚inneren Feinden’ erklärt wurden (vgl. Malchow et al. 1990, 27). Alle deutschen Schulen wurden geschlossen, deutsche Zeitungen durften nicht mehr erscheinen und es war fortan verboten, die deutsche Sprache öffentlich zu gebrauchen, auch in den Kirchen mussten die Predigten auf Russisch gehalten werden. Im Mai 1915 kam es in Moskau zu einem Pogrom gegen Deutsche mit Toten und Verletzten (vgl. Boldt/Piirainen 1995, 21). Innerhalb eines 100-150 km breiten Streifens entlang der Westgrenze des Russischen Reiches, des Schwarzen Meeres und der Ostküste, sollten alle dort lebenden Deutschen in Richtung Wolga ausgesiedelt werden (vor allem nach Sibirien). Bis zum Zusammenbruch des Zaren-Regimes im Jahr 1917 konnte dies zunächst nur in Wolhynien umgesetzt werden, was dennoch etwa 200.000 Deutsche betraf, von denen einige die Umsiedlung nicht überlebten (vgl. Eisfeld 1992, 72). Dabei dienten im Ersten Weltkrieg etwa 300.000 (Russland-)Deutsche in der russischen Armee oder im Sanitätsdienst und standen überwiegend loyal zum Russischen Reich (vgl. ebd., 73; Boldt/Piirainen 1995, 21). Vom kurzen Aufschwung bis zur Verfolgung Die Russische Revolution 1917 brachte ‚den Deutschen‘ neue Freiheiten. Die vorläufige Regierung garantierte allen Bewohnern des Russischen Reiches einheitliche Bürgerrechte. In Zeiten der Unruhe wurde die Wolgaregion 1918 durch Lenin als autonomes deutsches Gebiet anerkannt und 1924 zur ‚Autonomen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen‘ aufgewertet (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 54). Die Ernennung zum eigenständigen deutschsprachigen Teilstaat der 1922 gegründeten Sowjetunion stellt den Höhepunkt der Entwicklung der deutschen Siedlungen dar. Die ‚Autonome Republik der Wolgadeutschen’ florierte so lange sie bestand. Dort und auch in anderen Regionen wurde Deutsch zur Unterrichts- und Geschäftssprache erhoben. Hochschulen, Theater, Bibliotheken, Buch- und Zeitungsverlage wurden gegründet (vgl. Velten 2003, 26f). Unter der Regierung Stalins verschlechterte sich die Situation der deutschen Bevölkerung jedoch bereits wieder. Nachdem er seine Macht als Generalsekretär

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der Kommunistischen Partei ausgebaut hatte, startete 1929 die „berüchtigte Kampagne gegen die ‚Großbauern’ (Kulaken)“ (ebd., 27). Diese wurden deportiert und oft brutal ermordet, während ihr Besitz großen Agrarkollektiven zufiel. Diese Aktion richtete sich nicht speziell gegen Deutsche, weil aber einige „den von Stalin festgelegten Kriterien eines Kulaken entsprachen, traf die ‚Entkulakisierung’ prozentual besonders viele von ihnen“ (ebd.). Des Weiteren wurden die christlichen Kirchen geschlossen und die Ausübung der Religion unter Strafe gestellt (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 54). Die Machtergreifung Hitlers und der NSDAP am 30.1.1933 in Deutschland und ihre Propaganda gegen den ‚jüdisch-bolschewistischen Kommunismus’ führten dazu, dass die Loyalität der Deutschen im eigenen Land erneut infrage gestellt wurde. Bereits 1934 wurden diese unbemerkt in Listen erfasst, die als Grundlage für die später durchgeführten Säuberungen und Deportationen dienten (vgl. Ingenhorst 1997, 44). Bei der ‚Großen Säuberung‘ (1936-38) wurden fast alle deutschen Intellektuellen (wie Pastoren, Lehrer) getötet oder in Gulags und Gefängnisse gebracht; insgesamt starben etwa 50.000 Menschen. 1939 stellte die deutsche Presse ihr Erscheinen ein, deutsche Verwaltungsbezirke wurden aufgelöst und in den Schulen wieder Russisch zur Unterrichtssprache erklärt (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 54f). Am 23. August 1939 unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion einen ‚Nichtangriffspakt‘; eine Woche später erfolgte der deutsche Angriff auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste (vgl. Malchow et al. 1990, 29). Unter dem Decknamen ‚Unternehmen Barbarossa‘ begann die deutsche Wehrmacht – entgegen der gemeinsamen Vereinbarung – am 22. Juni 1941 auch Krieg gegen die Sowjetunion. Für die Deutschen im Land hatte dies eine Massendeportation zur Folge, die damit begründet wurde, dass sich unter ihnen „Tausende und aber Tausende von Diversanten und Spione [befänden], die nach dem aus Deutschland gegebenen Signal Explosionen in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons hervorrufen sollen“ (Originalerklärung des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28.8.1941 nach Hildebrandt 1990, 87). Auch wenn diese Kollaborations-Anschuldigung von Historikern als nichtzutreffend bewertet wird, mag diese durch die Siege der deutschen Truppen über die Rote Armee und die nationalsozialistische Propaganda aus Deutschland befördert worden sein, die die Deutschen in der Sowjetunion „als aus der ‚slawischen Flut’ herausragende Denkmäler der ‚germanischen Rasse’ verherrlichte“ (Velten 2003, 27). Im September 1941 begannen die Deportationen der Deutschen „[z]wecks Vorbeugung dieser unerwünschten Erscheinungen und um kein ernstes Blutvergießen zuzulassen“ (Originalerklärung des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28.8.1941 nach Hildebrandt 1990, 87). Das Eigentum blieb zurück und wurde von den sowjetischen Behörden beschlagnahmt (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 55).

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Hintergrund

Bis Ende des Jahres 1941 sind bereits ca. 800.000 Deutsche deportiert worden. In den Folgejahren sollten noch einmal knapp 200.000 folgen. Insgesamt erlitten etwa 2/3 der ca. 1,4 Millionen Deutschen, die damals in der Sowjetunion lebten, dieses Schicksal (vgl. Kurilo 2010, 138). Die Deportationen erfolgten überwiegend nach Sibirien; viele Menschen starben bereits auf dem beschwerlichen Weg dorthin. Immer wieder brachen Krankheiten aus, gingen Familienmitglieder verloren. Ab Herbst 1941 wurden alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren aus den Verbannungsorten in die sogenannte ‚Arbeitsarmee‘ (Trudarmija) eingezogen, die 1942 dem System GULAG einverleibt wurde (vgl. Hildebrandt 1990; literarisch: Solschenizyn 1988). In mobilen Arbeitskolonnen mussten sie u.a. im Bergbau und bei der Errichtung von Straßen, Bahnlinien und Industrieanlagen schwerste körperliche Arbeit bei spärlicher Verpflegung verrichten (vgl. Hilkes/Stricker 1997, 230; Schmitt-Rodermund 1999, 55). Die ‚Arbeitsarmee‘ beutete nicht nur die physischen Kräfte der Menschen aus, sondern beschädigte auch deren Psyche (vgl. Kurilo 2010, 140). Der Überlebende Hildebrandt (1990) schreibt: „Wir Trudarmisten waren zum Massensterben verurteilt durch unmenschlich schwere Arbeit, durch Hunger, Kälte und daraus folgende Krankheiten“ (90). Ab Oktober 1942 folgten alle Frauen zwischen 16 und 45 Jahren, außer denen, die schwanger oder Mutter von Kindern unter drei Jahren waren. Bei Kindern, die älter als drei Jahre waren, sich aber trotzdem noch nicht um sich selbst kümmern konnten, führte dies oftmals zu Verwahrlosung oder Tod. Insgesamt starben etwa 30 Prozent aller ca. 970.000 Deportierten infolge der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Lagern und der ‚Arbeitsarmee‘ (vgl. Pinkus/Fleischhauer 1987, 315). Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation Deutschlands. Obgleich die ‚Arbeitsarmee’ daraufhin 1946 aufgelöst wurde, durften die Deutschen ihre ‚Sondersiedlungen‘ bis 1956 nicht verlassen und waren in dieser Zeit von wesentlichen Rechten der Sowjetbürger ausgeschlossen (vgl. Velten 2003, 28). Sie galten als verbannt auf ‚ewige Zeiten‘ und das unerlaubte Verlassen der Siedlungen wurde mit Zwangsarbeit von bis zu 20 Jahren bestraft (vgl. Boldt/Piirainen 1995, 25). In der Deportation war die Pflege des kulturellen und religiösen Lebens nicht möglich. Zwischen 1942 und 1956 erschien keine Zeitung, kein Buch in deutscher Sprache. Hinzu kam das Verbot, öffentlich Deutsch zu sprechen und der fehlende muttersprachliche Schulunterricht. 1926 bezeichneten noch 95 Prozent derjenigen, die sich als Deutsche eintragen ließen, Deutsch als ihre Muttersprache, 1959 war der Anteil bereits auf 75 Prozent gesunken. Dies rührte daher, dass vor allem die während der Deportation geborenen Kinder immer mehr mit der russischen Sprache aufwuchsen (vgl. Berend/Riehl 2008, 23). Bergner (2007) urteilt daher, dass der deutsche Sprachverlust „in den allermeisten Fällen das Ergebnis stalinistischer

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Repressionspolitik und deshalb untrennbar mit dem Kriegsfolgenschicksal verbunden“ (84) sei. Metz (2016) weist darauf hin, dass bis zu den 2000er-Jahren keinerlei „Aufarbeitung der durch staatliche Gewalt erlebten tragischen Ereignisse“ (141) stattgefunden habe und diese auch seitdem nur punktuell geschehe. Sowohl die Erfahrungen während der stalinistischen Repressionszeit als auch die Auswirkungen des Deutsch-Seins konnten in der sowjetischen Öffentlichkeit damals nicht verarbeitet werden“ (ebd.), sodass sie von einem „kollektiven Trauma“ (ebd.) ausgeht, das in den Familien zu einer Tabuisierung von Themen rund um die Repressionserfahrungen geführt habe: „Traumatische Erfahrungen, die von Betroffenen nicht verarbeitet und integriert werden können, bleiben nicht nur für diese selbst eine lebenslange Belastung. Sie zeigen sich auch in den Träumen, Phantasien, im Selbstbild, emotionalen Erleben und unbewussten Agieren ihrer Nachkommen“ (Moré 2013, 2).

Freie Wohnortwahl – Zerstreuung im Staatengebilde Erst die deutsch-sowjetischen Verhandlungen im September 1955 im Rahmen des Besuchs des Bundeskanzlers Adenauer bewirkten, dass am 13. Dezember desselben Jahres schließlich ein Dekret erlassen wurde, das den Deutschen ihre Bürgerrechte zurückgab und ihnen erlaubte, fortan die ‚Sondersiedlungen‘ zu verlassen und anderswo zu leben. Ausgenommen waren jedoch die früheren Siedlungsgebiete und auch ihren ehemaligen Besitz erhielten sie nicht zurück (vgl. SchmittRodermund 1999, 55). In der Folge kam es zu einer Binnenmigration, die eine völlig neue Bevölkerungsverteilung der Deutschen in der Sowjetunion mit sich brachte. Von den ca. 1,24 Millionen Deutschen in der Sowjetunion lebten 1926 31,8 Prozent in der Ukraine, 54,6 Prozent in den anderen europäischen Teilen (einschließlich Krim und Kaukasus), 6,6 Prozent in Sibirien, 4,1 Prozent in Kasachstan und 0,8 Prozent in Mittelasien. 1979 war die Zahl der Deutschen auf etwa 1,94 Millionen angestiegen. Von diesen lebten nur noch 1,8 Prozent in der Ukraine (einschließlich Krim und Karpato-Ukraine), 18,6 Prozent im restlichen europäischen Teil und 23 Prozent blieben in Sibirien, der größte Teil (46,5 Prozent) lebte nun jedoch in Kasachstan und 9,3 Prozent in Mittelasien (vgl. Eisfeld 1992, 148). Mit dem Verlassen der ‚Sondersiedlungen‘ war zumeist der psychologische Wunsch verbunden, den ‚Ort der Repressionen‘ zurückzulassen (vgl. Barbašina 1999, 168). Zu der großen Zahl von Binnenmigrationen nach Kasachstan kam es vor allem dadurch, dass dieses durch ein (im Vergleich zu Sibirien) mildes Klima und gute Chancen auf einen Arbeitsplatz als attraktiv empfunden wurde. Zugleich kam es zu einer starken Urbanisierung; 1926 lebte nur 1 Prozent der Deutschen in Städten, 1979 war dieser Anteil auf etwa 50 Prozent angestiegen

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(vgl. Eisfeld 1992, 148). In zahlreichen Familien liegen demnach bereits Erfahrungen von Zwangs- und freiwilliger Migration vor, die intergenerational wirksam werden können. Aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit erfuhren die Deutschen in den folgenden Jahren auch an den neuen Wohnorten Stigmatisierungen, wie Beschimpfungen als ‚Fritz‘ oder ‚Faschist‘ und berufliche Benachteiligungen (vgl. Boll 1992, 194). Durch die gemeinsamen lebensgeschichtlichen Erlebnisse von Kollektivverurteilung, Deportation, ‚Sondersiedlungen‘ und andauernden Repressionen nach dem Krieg, entstand zu dieser Zeit erstmals das Gefühl, einer übergreifenden Schicksalsgemeinschaft von ethnischen Deutschen in Russland bzw. der Sowjetunion anzugehören (vgl. Hilkes/Stricker 1997, 224; Kiel 2009, 59f). Es konstituierte sich ein „einheitliches Wir-Bild […], das sich in knappster Form in der Formel zusammenfassen lässt: ‚Zuerst als Deutsche von Katharina der Großen eingeladen und dann als Deutsche verfolgt‘“ (Rosenthal et al. 2011, 44). Zugleich waren es jedoch auch die Nachkriegsjahre, in denen es durch die Zerstreuung in der Diaspora „immer schwerer, auf die Dauer fast unmöglich [wurde], deutsches Brauchtum, Sprache und Traditionen zu erhalten“ (Ingenhorst 1997, 57). Die Abnahme deutscher Sprachkenntnisse zeigt sich z.B. in der schwindenden Kenntnis deutscher Volkslieder. Eine in den Jahren 1972 bis 1982 durchgeführte Untersuchung erbrachte, dass die Siebzigjährigen etwa 90 deutsche Lieder kannten. Bei den Fünfzigjährigen bestand der Liedkern nur noch aus 45 deutschen und ebenso vielen russischen Liedern. Bei der jüngsten Generation bestand zu diesem Zeitpunkt kein deutsches Liedgut mehr (vgl. Eisfeld 1992, 148f). Sie wuchsen in einem multiethnischen Umfeld auf, in dem die Identität des Einzelnen eher eine unterrepräsentierte Rolle spielte und stattdessen eine übergeordnete Identität als ‚Sowjetmensch‘ hervorgehoben wurde (vgl. Schmitz 2013, 153). Ein Teil der Deutschen bemühte sich auch Jahrzehnte nach der Deportation noch um die Wiedereinrichtung der ‚Autonomen Republik an der Wolga‘ und gründete 1989, als es politisch möglich wurde, die Organisation ‚Wiedergeburt‘, die sich die Wiederherstellung dieser zum Ziel gesetzt hatte. Dies spricht dafür, dass für einen Teil der Deutschen in der Sowjetunion die ethnische Zugehörigkeit auch über die Jahrzehnte hinweg von großer Bedeutsamkeit geblieben ist und der Wunsch nach Erhalt von Sprache und Traditionen fortbestand. Für diese mag nach der Aussiedlung die bekannt gewordene Zuschreibung ‚In Russland Deutsche, in Deutschland Russen’ passen (vgl. Steiz 2011, 86). Diese soll ausdrücken, dass sie sich in Russland als Deutsche fühlten und als solche stigmatisiert wurden und in Deutschland wiederum nicht als ‚vollwertige‘ Deutsche anerkannt werden, sondern durch Herkunft, Sprache/Akzent, … als ‚Russen‘ wahrgenommen werden. Größer ist jedoch die Gruppe derer, bei denen eine zunehmende Anpassung an die russisch-sowjetische Kultur stattgefunden hat. Die Tatsache, dass fast die

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Hälfte aller Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in Russland, sondern in Kasachstan lebte, ändert daran nichts, denn die sowjetische Nationalitätenpolitik führte dazu, dass auch dort die russische Kultur allgegenwärtig und in vielen Bereichen der Gesellschaft dominierend und privilegiert war. Als Kasachstan 1936 den Status einer Sowjetrepublik bekam, wurde Russisch zur Amtssprache erklärt und durch mehrere russische Einwanderungswellen lebten von den 1950er- bis zu Beginn der 1980er-Jahren sogar mehr Russen (ca. 42 Prozent) in Kasachstan als Kasachen (ca. 32 Prozent). Die Deutschen stellten mit ca. 6,5 Prozent eine bedeutende Minderheit dar (vgl. Harris 1993, 5). Die Beherrschung der russischen Sprache und die Orientierung an der russischen Kultur wurde zur Voraussetzung für beruflichen Erfolg und sozialen Aufstieg (vgl. Rosenthal et al. 2011, 46). So dominierten vor allem bei den in den 1940er- bis 1960er-Jahren geborenen Deutschen, also der Elterngenration meiner Interviewpartner, die ausschließliche Verwendung der russischen Sprache, ein russischer Freundeskreis und die Wahl russischer Ehepartner. Zum Teil kam es auch zum Engagement in politischen Institutionen (vgl. ebd.). Verbunden mit den Assimilierungsbestrebungen war der Wunsch, Stigmatisierungen und Benachteiligungen zu entgehen und selbst ein erfolgreiches Leben in der Sowjetunion führen zu können sowie dies den eigenen Kindern ermöglichen zu können. Etlichen Angehörigen dieser Generation gelang denn auch der Aufstieg in das mittlere soziale und politische Establishment der Sowjetunion (vgl. ebd., 25). „Manche von ihnen, insbesondere jene, die russische Partner heirateten, definierten sich nicht mehr vor dem Hintergrund ihrer deutschen Familienvergangenheit, sondern identifizierten sich mit der Wir-Gruppe der ‚Sowjetmenschen‘“ (Diakonisches Werk 2010, 8). Barbašina (1999) stellt ausgehend von Interview- und Fragebogenergebnissen die Behauptung auf, dass junge deutsche Frauen bewusst Ehen mit Russen eingegangen seien, um dadurch ihren deutschen Familiennamen gegen einen russisch klingenden eintauschen zu können und mehr gesellschaftliche Akzeptanz zu erfahren (vgl. 168). Die Zahl von binationalen Eheschließungen steigt seit den 1950er-Jahren stark an (vgl. Eisfeld 1992, 149). Zwar gibt es keine offiziellen Daten dazu, doch gehen Schätzungen für die frühen 1990er-Jahre davon aus, dass mindestens 40 bis 60 Prozent der Kinder in Spätaussiedlerfamilien einen Elternteil nicht deutscher (stattdessen überwiegend russischer) Herkunft haben (vgl. Dietz/Roll 1998, 40; Khuen-Belasi/Internationaler Bund 2003, 119). Wormsbecher (2006) spricht sogar von einem Anteil bi-nationaler Ehen von 90 Prozent. In diesen Familien war Russisch im Herkunftsland die Umgangssprache und bleibt es meist auch nach der Einreise (vgl. Dietz/Roll 2003, 14f). Selbst wenn es gewollt gewesen wäre, hätte sich die Kindergeneration der russisch-sowjetischen Kultur nicht gänzlich entziehen können. Rosenberg/Weydt (1992) bezeichnen den Kindergarten, der von fast allen Kindern besucht wurde,

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da die Berufstätigkeit von Mann und Frau die Regel war, als erste „Russifizierungsinstanz“ (239). Es folgten Schule, Jugend- und Sportgruppen, die im Sinne des Kommunismus allesamt russisch-sowjetisch geprägt waren. Die Heranwachsenden wurden ganz im sowjetischen Umfeld sozialisiert und waren „zumeist voll integriert“ (Masumbuku 1994, 72). Kultur und Lebensweise orientierten sich an zeitgenössischen Kultur- und Konsummustern der sowjetischen Gesellschaften (vgl. Wierling 2004). Für sie „ist es selbstverständlich geworden, russische Rockmusik zu hören, russische Freunde zu haben und einen Russen oder eine Russin zu heiraten“ (Holtfreter 1999, 19). Doch auch wenn forcierte Anpassungsbewegungen zu verzeichnen sind und oftmals bereits in der Elterngeneration nur Russisch gesprochen wird, ist es dennoch sehr bedeutsam, die unterschiedlichen historischen Familienerfahrungen nicht aus dem Blick zu verlieren. So haben Russen und Deutsche während der Zeit der frühen Sowjetunion, vor allem während des Krieges, komplett unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Obgleich sie sich der Sowjetunion überwiegend zugehörig fühlten, wurden die Deutschen zu Verrätern erklärt und deportiert. Viele starben, die Überlebenden trugen physische Beeinträchtigungen und psychische Traumata davon. Auf der anderen Seite ist Russland das Land der Welt, das im Zweiten Weltkrieg mit geschätzten 26,6 Millionen Menschen, die höchste Gesamtopferzahl des Krieges zu beklagen hatte (vgl. Hartmann 2011, 115f), sodass auch unter den einheimischen Russen die Themen Leid und Tod hochpräsent waren. Auch dort lagen und liegen bei den Überlebenden z.T. traumatische Erlebnisse vor und verloren viele Familienmitglieder und Freunde. Allerdings besteht die ‚moralische‘ Differenz, dass sie gegen einen Feind kämpften und aus diesem Kampf als Sieger hervorgingen (vgl. Kurilo 2010, 303). Bereits am Tag nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion titelte die Zeitung Prawda (Правда = Wahrheit), die Organ der kommunistischen Partei war, vom ‚Großen Vaterländischen Krieg des sowjetischen Volkes‘ (Великая Отеичественная война), so wie Stalin ihn ausrufen ließ (vgl. Barber 1993, 41). Bis heute wird diese Bezeichnung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion für den deutsch-sowjetischen Krieg vom 22.6.1941 bis zur Kapitulation am 8./9. Mai 1945 verwendet und ist mit dem besonderen Stolz verbunden, als zunächst unterlegene Armee, die vollständige Niederlage des Deutschen Reichs errungen zu haben. In der Folge ist das ‚sowjetische Nationalgefühl‘ angestiegen, wohingegen die Tradierung ‚des Deutschen‘, wie geschildert, immer mehr zurückging und mit dem ‚Deutschsein‘ ein Stigma verbunden war. Auch wenn die Mehrheit der jungen Generation eher ‚russisch sozialisiert‘ wurde, dürfen die Familiengeschichte und mögliche intergenerationale Transmissionen nicht vergessen werden. Besonders vielschichtig stellt sich die Situation für jene Kinder und Jugendlichen dar, die sowohl ein deutsches als auch ein russisches Elternteil haben, wie es mittlerweile auf die Mehrheit zutrifft. In

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diesen Familien finden sich beide historischen Hintergründe, was in der bisherigen Literatur nicht entsprechend diskutiert wurde. Die Entwicklung der Ausreisen Bereits bis 1957 wurden über 100.000 Ausreiseanträge mit der Bundesrepublik Deutschland als Ziel gestellt. Und dies, obwohl die Antragstellenden öffentlich bekannt gemacht wurden und infolgedessen mit Repressionen von NachbarInnen und ArbeitskollegInnen rechnen mussten. Als Begründung für den Ausreisewunsch wurden damals vor allem ethnische Motive genannt, da es ohne geschlossene Siedlungsgebiete mit Deutsch als Umgangssprache und Schulen oder sonstige kulturelle Einrichtungen unmöglich sei, die eigene Kultur zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Zudem wurde das ‚Deutschsein‘ als ‚Makel‘ und Diskriminierungsgrund erlebt. Darüber hinaus gab es den Wunsch nach persönlicher, politischer und religiöser Freiheit (so gab es z.B. keine deutschen Geistlichen und war der Religionsunterricht für Jugendliche verboten) (vgl. Boldt/Piirainen 1995, 45). Die Möglichkeit, überhaupt aussiedeln zu können, war auf Familienzusammenführungen im engen Verwandtschaftsverhältnis beschränkt (vgl. ebd., 46). „Die Zahl der jährlichen Genehmigungen lag sehr niedrig und schwankte noch zusätzlich mit der allgemeinen politischen ‚Großwetterlage’ im Kalten Krieg zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion“ (Ingenhorst 1997, 59f). Von 1960 bis 1969 konnten nur 8571 Deutsche aus der Sowjetunion nach Deutschland aussiedeln (insgesamt waren es in diesem Zeitraum 221.516 AussiedlerInnen, von denen jedoch 110.618 aus Polen und 16.294 aus Rumänien kamen, vgl. Seifert 2012, 1). Im August 1964 wurden die Deutschen zwar formal rehabilitiert, indem der Oberste Sowjet die Anschuldigungen von 1941 zurücknahm, jedoch blieb dieses Dekret der breiten Öffentlichkeit lange Zeit unbekannt. Zudem durften sie weiterhin nicht in ihre historischen Siedlungsgebiete zurückkehren – und dies als einziges der ehemals deportierten Völker (vgl. Barbašina 1999, 167). 1985 wurde Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Auf dem 25. Parteitag 1986 verkündete er die Prinzipien von ‚Perestroika‘ (Umgestaltung) und ‚Glasnost‘ (Transparenz) (vgl. Ingenhorst 1997, 62), die von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen wurden (vgl. Rewenko 1993, 33). In der Folge kam es zu einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel und in letzter Konsequenz 1991 zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Im Zuge der politischen und ökonomischen Umstrukturierung wurden unter Gorbatschow auch die Ausreisegesetze liberalisiert, sodass 1987 bereits 14.888, 1988 47.572 und 1989 ca. 98.000 AussiedlerInnen aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik auswandern konnten (vgl. Boll 1993, 348). Die Ausreisewünsche wurden noch dadurch gemehrt, dass

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es der Organisation ‚Wiedergeburt‘ nicht gelang, die ‚Autonomen Republik an der Wolga‘ wiederherzustellen, obwohl es sowohl auf Seiten der sowjetischen Regierung leichte Unterstützung gab (Zulassung von deutschen Rayons und Dorfsowjets) als auch aus der BRD finanzielle Hilfen kamen. Die Bemühungen scheiterten vor allem am Widerstand der ansässigen russischen Bevölkerung (vgl. SchmittRodermund 1999, 56). Zu einem weiteren Anstieg der Aussiedlungszahlen trugen auch der Zusammenbruch der Sowjetunion und dessen Folgen bei. Dadurch kam es einerseits zum Zerfall der bisher vorherrschenden idealistischen, politischen und sozialen Werte, was viele als Sicherheitsverlust erlebten. „Der Sozialismus, die Solidarität, die Unterordnung unter die Autorität der Partei, der böse Kapitalismus […] Die Jugendlichen erlebten, dass die Erwachsenen von heute auf morgen als komplett unglaubwürdig dastanden und selbst nicht wussten, was sie denken und tun sollten“ (Khuen-Belasi/Internationaler Bund 2003, 99). Andererseits kam es zu ökonomischen Schwierigkeiten. Gab es in der Sowjetunion eine Arbeitsplatzgarantie (Frik 2009, 187), so stieg die Arbeitslosigkeit nun stark an. Im Juli 1991 antworteten auf die Frage, ob ihr Arbeitsplatz in den nächsten ein bis zwei Jahren erhalten bleibe, noch 57 Prozent der Befragten mit ‚Ja‘, acht Monate später im März 1992 taten dies nur noch 20 Prozent (vgl. Slepzow 1993, 19). Das Realeinkommen von Familienhaushalten sank stark ab (vgl. Winzen 2001, 23). Die Arbeitslosigkeit unter den 16- bis 29-Jährigen betrug zu jener Zeit etwa 20 Prozent mit stark steigender Tendenz (vgl. Slepzow 1993, 15). Die drohende Massenarbeitslosigkeit ohne adäquate soziale Schutzmaßnahmen führte vor allem unter den jungen Menschen zu Sorgen und es kam zu einem Anstieg des Alkohol- und Drogenkonsums sowie einer Zunahme von psychischen Erkrankungen und Suizidfällen (ebd., 31). Durch den Zerfall der Sowjetunion erhielten die einzelnen Republiken mehr Macht. Statt des Russischen wurden wieder die eigenen Sprachen zur Landes- und Amtssprache (je nach Wohnort z.B. Kasachisch oder Ukrainisch), sodass es für die Deutschen spätestens jetzt zur Notwendigkeit wurde, auch diese zu erlernen (vgl. Ingenhorst 1997, 68). Zuvor waren die Deutschen fast ausschließlich russischsprachig und hatten zu einem großen Teil russische Ehepartner. Durch die Stärkung der Nationalstaaten wurden fortan nicht nur Deutsche, sondern auch Russen benachteiligt. Sprache wurde zum Ausschlusskriterium und entschied, gekoppelt mit der ethnischen Zugehörigkeit, über einen Arbeitsplatz in staatlichen Strukturen und über den Zugang zu Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen. In Kasachstan, dem Land mit der höchsten Anzahl von Deutschen, wurden Russen und Deutsche mit der Begründung von zu geringen kasachischen Sprachkenntnissen aus Führungspositionen verdrängt und durch Kasachen, unabhängig von ihrem Qualifikationsgrad, ersetzt (vgl. Bremmer 1994, 620f). Die Interviewpartner von Rosenthal et al. (2011) erklärten, „dass sie sich von Kasachinnen

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und Kasachen an der Bildungspartizipation gehindert und von denselben sogar bedroht fühlen, weil die mit deren Machtzuwachs verbundene sprachliche und kulturelle Kasachisierung der Alltagswelt die russisch sprechende Menschen immer mehr in eine Außenseiterposition dränge“ (201). Dies löste z.T. Ängste aus, die auch durch das Erinnern an das Schicksal der Großelterngeneration genährt wurden. War der Wunsch ‚als Deutscher unter Deutschen zu leben‘ bis Mitte der 1980er-Jahre noch das Hauptausreisemotiv (vgl. Dietz/Hilkes 1992, 116)4, werden seit Beginn der 1990er-Jahre vor allem „wirtschaftliche Gründe und allgemeine Perspektivenlosigkeit in Verbindung mit der wirtschaftlich desolaten Situation in den Nachfolgestaate der UdSSR“ (Greiner 2002, 48) genannt. Die deutsche Abstammung rangiert als Ausreisegrund laut Sekler (2008) nur auf Platz 5 (vgl. 232). Während der Anteil von Personen aus Polen und Rumänien aufgrund der Demokratisierungsprozesse und der Verbesserung der Minderheitensituation in diesen Ländern rasch absank, stieg der (Spät-)Aussiedleranteil der Deutschen aus Russland und Kasachstan seit dem Ende der Sowjetunion 1991 und den erleichterten Ausreisemöglichkeiten stark an. 1994 erreichte die Zahl der (Spät-)AussiedlerInnen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion mit über 200.000 Menschen allein in diesem einen Jahr ihren Höhepunkt. Und je mehr Personen auswanderten, desto höher wurde der Ausreisedruck auf die noch Gebliebenen, vor allem in Gebieten in denen eine hohe Anzahl von Deutschen lebte (vgl. Ruhland 2009, 36). Verbunden mit positiven Erzählungen von Verwandten kam es zu einer „Kettenmigration“ (Metz 2016, 211): „Und wenn alle fahren, fährt man auch. Keiner will der letzte sein“ (Malchow et al. 1990, 53). Im Jahr 1989 lebten 946.855 ethnische Deutsche in Kasachstan, 1999 waren es nur noch 353.441 und noch einmal zehn Jahre später lediglich 178.400 (vgl. Rosenthal et al. 2011, 200). Ingenhorst (1997) urteilt: „Mag die Aussiedlung von jedem einzelnen als Gewinn gesehen werden, für die Gruppe ist jeder Aussiedler ein Verlust. Geht der Exodus mit der gleichen Geschwindigkeit weiter, wird es in absehbarer Zeit die Russlanddeutschen5 als eine erkennbare nationale Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion nicht mehr geben“ (68). Miller (1999) geht noch weiter: „Als ein Volk, das durch gemeinsame Kultur, Geschichte und Sprache ver-

4 Diejenigen, die mit der Motivation migrierten, ‚als Deutsche unter Deutschen zu leben‘ machten häufig die Erfahrung, dass ihre in der Sowjetunion gelebte deutsche Kultur „nicht mehr dem Entwicklungsstand der gegenwärtigen bundesdeutschen Kultur“ (Boll 1993, 313) entspricht. 72 Prozent der (Spät-)AussiedlerInnen gaben in einer Studie an, „daß die Menschen in Deutschland in vieler Hinsicht anders denken und fühlen als wir“ (Graudenz/Römhild 1996, 51). Die „Erkenntnis der Unvereinbarkeit der eigenen als deutsch empfundenen Kultur mit bundesdeutschen Kulturelementen“ (Kiel 2009, 170) führt oftmals zu einer tiefen Erschütterung der eigenen Position. 5 ‚Russlanddeutsche‘ ist ein weiterer Begriff für ‚Deutsche aus Russland‘.

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bunden ist, haben [sie] zu existieren aufgehört. […] Was geblieben ist, sind assimilierte ‚Rußlanddeutsche‘, bei denen es etwas wie Deutschtum nicht länger gibt“ (54f). 1.2 Rechtsstatus und gesellschaftliche Anerkennung in Deutschland (Spät-)AussiedlerInnen gelten im Sinne des Artikels 116 des deutschen Grundgesetzes und des Staatsangehörigkeitsrechtes als Deutsche. Damit gehen eine Rechtssicherheit und eine relative soziale Absicherung einher (vgl. Hesselberger 2000, 366). Doch auch wenn (Spät-)AussiedlerInnen juristisch deutsche Staatsbürger sind, ist zu bedenken, dass sie dennoch sozial und psychisch MigrantInnen sind (vgl. Nieke 2004, 49) und ebenso wie andere Einwandernde vor den Herausforderungen stehen, die ein Wechsel der gewohnten Lebenswelt mit sich bringt. Der Begriff ‚AussiedlerIn‘ stellt eine Wortschöpfung dar, die im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 19. Mai 1953 geschaffen wurde6. In diesem stellen AussiedlerInnen eine Unterkategorie der Vertriebenen dar. Es sind damit jene Personen mit deutscher Staats- oder Volksangehörigkeit gemeint, die vor dem Ende des 2. Weltkrieges ihren Wohnsitz jenseits der heutigen Ostgrenzen Deutschlands hatten und diesen als Folge des Krieges insbesondere durch Ausweisung oder Flucht verloren haben und die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete (u.a. Polen, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Ungarn oder Rumänien) nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen verlassen haben (vgl. BVFG § 1). Deutscher Volkszugehöriger wiederum ist, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“ (ebd., § 6). Auf dieser Basis hatten die AussiedlerInnen aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte in Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Politik einen Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft sowie auf umfangreiche sozialstaatliche Leistungen, wie Rückführungskosten, Sprachkurse, Vorbereitungs- und Umschulungskurse für die berufliche Eingliederung, günstige Darlehen für den Wohnungs- und Hausbau, die Übernahme in die gesetzliche Renten- und Unfallversicherung und weiteres (vgl. Blahusch 1992, 173). Während des Kalten Krieges erhielt diese Zuwanderung eine hohe politische Bedeutung. Die Aussiedlung wurden angesichts der politischen Situation als ideologisches Werkzeug betrachtet, um damit auf die Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückungspraxen in den Ostblockstaaten hinzuweisen (vgl. Ingenhorst 6 Das Wort ‚siedeln‘ geht etymologisch auf den Prozess des ‚An-siedelns‘, also ein Ansässig-Werden und Verorten, zurück. ‚Aussiedeln‘ meint im Gegenteil dazu jedoch den Prozess des „Herauslösens aus einer innegehabten Ansässigkeit“ (Nienaber 1995, 9).

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1997, 8) „und galt zu diesem Zeitpunkt noch uneingeschränkt als demographischer, wirtschaftlicher, sozialpolitischer und kultureller Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland“ (Haberl 1991, 25f). 1988 sprach der damalige Bundeskanzler Kohl von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gegenüber AussiedlerInnen und deklarierte die Aufnahme und Eingliederung dieser Gruppe zur „nationalen Aufgabe“ (Puskeppeleit 1996, 99). Er sagte: „Mein Wunsch ist, daß wir diese Landsleute mit offenen Armen empfangen“ (aus der Vorstellung des Programms zur Aussiedlerpolitik der Bundesregierung von Kohl zit. nach Blahusch 1992, 188). Dabei wird er sich zudem des ‚angenehmen Nebeneffekts‘ bewusst gewesen sein, mit AussiedlerInnen eine konservative Wählerschaft ins Land zu holen, denn bei ihnen „besteht traditionell eine starke Bindung an die Unionspartei“ (Worbs et al. 2013, 8). Zwischen 1950 und 1987 sind insgesamt 1,4 Millionen AussiedlerInnen in die Bundesrepublik eingewandert, von denen der größte Teil aus Polen stammte (62 Prozent), 15 Prozent kamen aus Rumänien und nur 8 Prozent aus der Sowjetunion (vgl. Herbert 2001, 275). In diesen Jahren wurden sie nicht als problematische Gruppe wahrgenommen, sondern galten vielmehr als besonders fleißig und arbeitsam – „als eine Art Musterbild des Deutschen, wie er früher gewesen zu sein schien“ (Thränhardt 1999, 232); und mit bis zu achtzehnmonatigen Sprachkursen und anderen Eingliederungshilfen sorgte der Bund für ihre möglichst stille und reibungslose Integration (vgl. ebd.). Spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre werden AussiedlerInnen jedoch zunehmend als schwierige Zuwanderungsgruppe betrachtet, unter ihnen besonders diejenigen aus der ehemaligen Sowjetunion. Zurückzuführen ist dies zum einen auf den starken zahlenmäßigen Anstieg (allein im Jahr 1990 sind knapp 400.000 Personen eingewandert) und zum anderen auf schlechtere individuelle Integrationsvoraussetzungen der AussiedlerInnen (vor allem geringe bis keine Sprachkenntnisse). Auch die veränderten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland, wie die mit dem Vereinigungsprozess einhergehenden sozialen und ökonomischen Umschichtungsprozesse, spielten eine Rolle (vgl. Tröster 2003, 31f). Die Bundesregierung reagierte auf die stark gestiegenen Aussiedlerzahlen mit Gesetzesänderungen, die zum einen Einsparungen von Maßnahmen betrafen und zum anderen den Zuzug reglementierten. Die veränderten Gesetze hatten zwar eine deutliche Verringerung der Einreisezahlen zur Folge, doch trotzdem ist die erfolgreiche Integration der Gruppe seit Mitte der 1990er-Jahre schwieriger geworden. „Niemand weiß so genau, wann der Wechsel der Generationen erfolgte, wann der Schnitt genau war – es muss irgendwann Mitte der 90er Jahre gewesen sein. Aber sicher ist, dass russlanddeutsche Kinder, die mit ihren Eltern vor dieser Zäsur kamen, viel weniger Probleme hatten

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als die, die danach kamen“ (Aden 2004, 212). Auch aus diesem Grund ist es noch immer bedeutsam, sich mit dieser Zuwanderergruppe zu befassen. Gesetzesänderungen Zum 1. Januar 1990 wurden mit dem ‚Eingliederungsanpassungsgesetz‘ Kürzungen der Integrationshilfen beschlossen, die das Ziel hatten, die vorhandenen Mittel an die erhöhte Inanspruchnahme von Eingliederungsleistungen anzupassen. Durch den Wunsch vieler AussiedlerInnen, sich in der Nähe von Familienangehörigen niederzulassen, waren einige Bundesländer (z. B. Niedersachsen) deutlich stärker von der Zuwanderung betroffen als andere. Daher wurde entschieden, dass die AussiedlerInnen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel (unter Berücksichtigung von Steueraufkommen und Bevölkerungszahl) auf die Bundesländer verteilt werden sollen und bei der Einreise für zwei Jahre ein vorläufiger Wohnsitz zugeteilt wird. Nur ein nachgewiesener Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz in einer anderen Gemeinde erlaubte einen Umzug ohne Verlust der Ansprüche. Da die AussiedlerInnen mit der Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, kann darüber gestritten werden, ob eine Wohnortzuweisung dieser offiziell egalitären Position entspricht. Zudem erinnert dies in einem negativen Sinne an die eingeschränkte Wohnortwahl in der Nachkriegszeit. Am 1. Juli 1990 bestimmte das ‚Aussiedler-Aufnahme-Gesetz‘, dass das Anerkennungsverfahren zur Aussiedlung nur noch vom Heimatwohnsitz aus betrieben werden darf. Zu vielen Neuerungen führte das ‚Kriegsfolgenbereinigungsgesetz‘ vom 1. Januar 1993. Zum einen wurden erneut die Hilfeleistungen beschränkt, sodass z.B. die Sprachkurse von zwölf auf sechs Monate reduziert und finanzielle Eingliederungshilfen deutlich herabgesenkt wurden (vgl. Bade 1997, 27). Zum anderen wurde die Aufnahmequote auf ca. 220.000 Personen jährlich nach oben limitiert (vgl. Boldt/Piirainen 1995, 28). Darüber hinaus mussten der Vertreibungsdruck in den Ländern Osteuropas und die eigene Volkszugehörigkeit von den Ausreisewilligen nun individuell nachgewiesen werden (vgl. Klötzel 1999, 178). Durch diesen Paragraphen wurde die subjektive Komponente der Identifikation mit der Familiengeschichte als Indiz wertlos. Relevant waren nur noch ‚objektive‘ Merkmale, wie die Sprache (vgl. Khuen-Belasi/Internationaler Bund 2003, 95). Es kam auch zu einer Umformulierung: Wer nun einreiste, wurde offiziell mit dem Begriff ‚SpätaussiedlerInnen‘ bezeichnet: „Spätaussiedler ist in der Regel ein deutscher Volkszugehöriger, der die Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Estland, Lettland oder Litauen nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von sechs Monaten im Geltungsbereich des Gesetzes seinen ständigen Aufenthalt genommen hat, wenn

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er seit dem 8. Mai 1945 oder nach seiner Vertreibung oder der Vertreibung eines Elternteils seit dem 31. März 1952 seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte“ (BVFG, § 4).

Das Datum wurde willkürlich gewählt und die Formulierung zog Kritik mit sich, da das Präfix ‚Spät‘ eine negative Konnotation enthält – im Sinne eines ‚zu spät Kommens‘. ‚Abkömmlinge‘ (Kinder), die bis zum 31.12.1992 geboren wurden und von einer Person abstammen, die die Voraussetzungen erfüllt, erhalten bis heute ebenfalls den Status ‚SpätaussiedlerIn‘ und damit auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Zudem erhalten auch nicht deutsche Ehepartner Status und Staatsangehörigkeit, wenn die Ehe zum Zeitpunkt der Aussiedlung mindestens seit drei Jahre bestanden hat. Ehepartner, die weniger als drei Jahre verheiratet sind, werden als Ausländer registriert und erhalten erst nach zweijährigem Bestand der Ehe in Deutschland ein eigenständiges Bleiberecht. Die Vergünstigungen ihrer deutschen Ehepartner erhalten sie jedoch nicht, bekommen also z.B. keinen Sprachkurs finanziert. So geht durch immer mehr Familien ein Riss zwischen deutsch und ausländisch, gefördert nicht gefördert, mit allen rechtlichen Konsequenzen (vgl. Khuen-Belasi/Internationaler Bund 2003, 95f). 1996 wurde die Wohnortbindung mit dem ‚Wohnungszuweisungsgesetz‘ auf drei Jahre erhöht. Ebenfalls in diesem Jahr kam es durch die Einführung eines Sprachtestes zu einer erneuten Verschärfung der Gesetze, „anscheinend verbunden mit der Hoffnung, daß insgesamt weniger Familien nach Deutschland kommen“ (Schmitt-Rodermund 1999, 57). Fortan musste der Hauptantragssteller im Herkunftsland seine Kenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. Dabei wurde jedoch darauf geachtet, dass es sich nicht um Deutschkenntnisse handelt, die in einem Sprachkurs erworben wurden, sondern um familial tradierte (erkennbar z.B. durch Dialekte) (vgl. Bergner 2007, 85). Wenn der Hauptantragssteller (z.B. die Großmutter) diesen Test bestanden hat, konnte die gesamte Familie, inkl. nicht deutscher Ehepartner, ausreisen. Etwa 30 Prozent der Antragstellenden bestehen den Test nicht, eine Möglichkeit zur Wiederholung gibt es nicht (vgl. Dietz/Roll 1998, 20). Die Einführung wurde mit dem Argument verteidigt, dass deutsche Sprachkenntnisse eine Voraussetzung für eine gelingende Integration seien. Obgleich dieser Aussage zugestimmt werden kann, stützt sie das Vorgehen nicht. Denn die familiär-tradierten deutschen Dialekte sind für Bundesdeutsche kaum mehr verständlich und zudem konnten darauf beliebig viele Familienmitglieder ohne eigene Sprachkenntnisse einreisen. Einer meiner Interviewpartner ist 1993 eingereist (Semjon), alle anderen 1997 bis 2003, sodass sie und ihre Familien von allen bisher angeführten Maßnahmen betroffen waren. In den letzten Jahren kam es zu großen Veränderungen in Bezug auf die nationale Zusammensetzung der einreisenden SpätaussiedlerInnen. Zum einen stieg

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der Anteil derjenigen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion exponentiell an: 1993 machten sie bereits 90 Prozent aus und 2005 99,6 Prozent (vgl. Bundesministerium des Innern 2005, 43). Zum anderen verringerte sich der Anteil der deutschstämmigen SpätaussiedlerInnen in den Familienverbänden von ca. 75 Prozent im Jahr 1993 auf etwa 21 Prozent im Jahr 2005 (vgl. Kiel 2009, 36). Aufgrund der stark zunehmenden Zahl von nicht deutschstämmigen Angehörigen wurde im Zuwanderungsgesetz von 2005 beschlossen, dass auch Ehegatten und Abkömmlinge ab vierzehn Jahren einen Nachweis über Grundkenntnisse der deutschen Sprache erbringen müssen. Bestehen sie diesen Test nicht, können sie zwar mit aussiedeln, jedoch nur im Rahmen des ausländerrechtlichen Familiennachzugs (vgl. Bundesministerium des Innern 2005, 41). Die rechtlichen Änderungen gingen erneut mit zahlreichen Kürzungen der Eingliederungshilfen einher (vgl. Kiel 2009, 34). Seit 1996 ist ein Rückgang der Zuwanderungszahlen zu verzeichnen; waren es in diesem Jahr noch mehr als 172.000 einreisende SpätaussiedlerInnen, fiel die Zahl 2000 erstmals unter die 100.000-Grenze (94.558) und sind 2011 nur noch 2092 Personen eingewandert (vgl. Worbs et al. 2013, 32f). Die Zahl der vom Herkunftsland aus gestellten Anträge pro Jahr übersteigt diese Zahl jedoch bis heute deutlich. Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2002 lebten zu diesem Zeitpunkt noch etwa 600.000 Deutsche in Russland. Wormsbecher (2006) geht davon aus, dass die Zahl sogar noch höher liegt, da nicht alle ihre deutsche Nationalität angeben würden und auch die Kinder aus bi-nationalen Verbindungen mitgezählt werden müssten. Ihm zufolge liege die Zahl der Deutschen und ihrer Familienmitglieder mindestens bei 1,5 Millionen. Der Rückgang der Einreisezahlen ist zum einen Folge des eingeführten Sprachtestes und der Kürzungen der Geldmittel, dürfte aber auch auf die wieder positiver eingeschätzten wirtschaftlichen Entwicklungen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zurückzuführen sein (vgl. Kirsch 2004, 36). Zudem hat Deutschland in den letzten Jahren durch vielfältige Unterstützung vor Ort versucht, die Menschen zum Bleiben in den ehemaligen Ländern der Sowjetunion zu bewegen (vgl. Kuschner 2000, 60). 2010 wurde die deutsche Minderheit in Russland z.B. mit 9,28 Mio. Euro aus Deutschland und 5,49 Mio. Euro aus Russland gefördert. Die Gelder gingen u.a. in Infrastrukturmaßnahmen, Wohnungsbau, die Finanzierung von Gemeinschaftsprojekten und Maßnahmen zum Erhalt der deutschen Sprache (vgl. Netzwerk Migration in Europa e.V. 2010). Auch wenn die Einreisezahlen von SpätaussiedlerInnen im Vergleich zu den 1990er- und frühen 2000er-Jahren heute deutlich niedriger liegen, bedeutet dies nicht, dass das Thema der Migration im Familienverbund obsolet geworden wäre oder es sich um ein zu vernachlässigendes Randphänomen handelt. Zum einen gibt es seit 2014 wieder einen deutlichen Anstieg der Zuzüge (vgl. bpb 2018, o.S.), der

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auf Änderungen des Bundesvertriebenengesetzes aus dem Herbst 2013 zurückgeht. Diese erleichtert die Einreise deutlich, sodass diese weiter anhalten wird (vgl. HNA 2014). Zum anderen existieren weitere Gruppen, für die familiale Migration eine Rolle spielt. Zu nennen sind etwa (hochqualifizierte) Fachkräfte, die sich beruflich (dauerhaft) in Deutschland niederlassen und „als Bedingung für ihre eigene Wanderung die Mitreise ihrer Familienangehörigen aushandeln können“ (vgl. Pries 2011, 29). Daneben kommen Migrationen im Familienverbund immer wieder auch im Kontext von Flucht vor, wie bei den Bürgerkriegsflüchtlingen, die in den 1990er-Jahren aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens nach Deutschland geflohen sind. Bedeutsam sind in diesem Kontext auch die aktuellen Flüchtlingsströme. 2015, so führen von Dewitz et al. (2016) beruhend auf Daten des Statistischen Bundesamtes und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus, lebten in Deutschland 200.259 ausländischen Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren mit einer Aufenthaltsdauer von unter einem Jahr (vgl. 4). Ein Teil davon ist in der Lebensphase der Adoleszenz im Familienverbund nach Deutschland gekommen. Gesellschaftliche Anerkennung Auf der juristischen Ebene ist die Frage nach der nationalen Identität der (Spät-)AussiedlerInnen als Deutsche klar definiert. Doch auch wenn sie einen deutschen Pass besitzen, entspricht die gesellschaftliche Anerkennung diesem Status nicht. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Wandlung der Zuwanderergruppe der (Spät-)AussiedlerInnen, kam es auch zu einer veränderten Wahrnehmung dieser durch autochthone Deutsche. Bereits zum Ende der 1980er-Jahre bildeten die AussiedlerInnen eine Migrantengruppen, die medial und sozial marginalisiert wurde (vgl. Fricke 1998, 40). „Obgleich sie rechtlich einen anderen Status als etwa die Arbeitsmigranten aus den 1960er und 70er Jahren sowie deren Nachkommen oder Flüchtlinge haben, werden [sie] im Aufnahmeland Bundesrepublik mehr oder weniger als Fremde angesehen und erwecken vielfach Misstrauen, Ängste, Ablehnung beziehungsweise erfahren Feindschaft“ (Blahusch 1992, 49f). Angesichts fehlender Deutschkenntnisse wurden „die gesetzlichen Behandlungsvorschriften für Aussiedler als unverständliche und ungerechtfertigte Privilegien empfunden“ (Herbert 2001, 277) und dies „auch von Gruppen der hier lebenden Ausländer“ (Mammey/Schiener 1998, 10). „Die Aussage ‚Ich komme aus Russland, aber wir sind eigentlich Deutsche‘ wird vermutlich auch von vielen Autochthonen kaum verstanden, ignoriert und anstelle dessen das negativ konnotierte Fremdbild ‚der Russe‘ aufrechterhalten“ (Rosenthal et al. 2011, 249). Ausdrücke

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wie ‚Neu-Kasachstan‘ oder ‚Klein-Sibirien‘ sind für Wohngebiete mit einem höheren Anteil von (Spät-)AussiedlerInnen im Umlauf, ebenso wie das Vorurteil, jeder der einen deutschen Schäferhund besitze, könne als (Spät-)AussiedlerInnen nach Deutschland migrieren (vgl. Kleespies 2006, 109). ‚Der Spiegel‘ titelte im Februar 1989: „Reden nix deutsch, kriegen aber alles“ (DER SPIEGEL 8/1989) und führte aus, dass 54 Prozent der Bürger (in Bayern sogar 72 Prozent) AussiedlerInnen für Wirtschaftsflüchtlinge hielten. ‚Die Zeit‘ beschreibt die Ressentiments der autochthonen Deutschen 1996 in einem Artikel mit der Überschrift „Für mich sind das keine Deutschen“. „Nur ein Drittel der Bevölkerung (38 Prozent) erkannte nach einer Allensbacher Umfrage im Jahre 1988 die Aussiedler als Deutsche an, kaum weniger (36 Prozent) bezeichnete sie als Ausländer, und der Rest legt sich nicht auf eine konkrete Zuordnung fest“ (Malchow et al. 1990, 72). In einer Befragung in Ostberlin Ende der 1990erJahre sagten 61 Prozent: „Sie hätten jetzt nicht nach Deutschland kommen sollen; sie sind ganz anders als Deutsche; man hat mit ihnen viele Probleme; sie kosten viel Geld.“ 18 Prozent meinten: „Sie sind immerhin besser als Türken. Außerdem können sie schwere Arbeiten verrichten.“ 12 Prozent empfanden es als positiv, dass ihre Kinder spätere Steuerzahler darstellen und 5 Prozent hielten es für „hervorragend, weil die Deutschen endlich in ihre historische Heimat zurückkehren können.“ 4 Prozent hatten keine Meinung (vgl. Kurilo 2010, 306f). (Spät-)AussiedlerInnen befinden sich dadurch in der spezifischen Situation, dass sie ihr ‚Deutschsein beweisen‘ müssen, obgleich – vor allem bei den ab den 1990er-Jahren migrierten – „biographisch und kulturell Fremdheit herrscht“ (Reitemeier 2007, 69). Die biographische Aufarbeitung sieht Reitemeier (ebd.) durch die Sorge gefährdet, dass das offene Zeigen von Leiden unter dem Fremdsein von der Aufnahmegesellschaft als Undankbarkeit interpretiert werden könnte, somit komme es zu einer „Identitätslage der verdeckten Fremdheit“ (70). Eine aktuelle Erhebung zeigt, dass sich Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion zu 55 Prozent weniger anerkannt fühlen als einheimische Deutsche, wohingegen es bei MigrantInnen aus Italien (ca. 28 Prozent) oder Spanien (20 Prozent) deutlich weniger sind. Sie sind es auch, die sich neben MigrantInnen mit türkischem Migrationshintergrund am wenigsten integriert fühlen und die im Vergleich zu allen anderen Gruppen die wenigsten deutschen Freunde besitzen und prozentual die größten Schwierigkeiten haben, solche zu finden (vgl. Bertelsmann Stiftung 2009, 49). In der Folge ist eine Tendenz zur Eigengruppenfavorisierung festzustellen (vgl. Frank 2011, 91; Gamper/Fenicia 2013, 250f).

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1.3 Einreisemodalitäten und Lebenssituation in Deutschland Das Aussiedlungsverfahren verlief bis 2005 (bis zu dieser Zeit sind alle meine Interviewpartner eingereist) konkret so, dass eine Person vom Herkunftsgebiet aus einen Antrag auf Aufnahme als SpätaussiedlerIn direkt beim Bundesverwaltungsamt (BVA) einreichen musste. Im Rahmen eines förmlichen Aufnahmeverfahrens wurde vom BVA geprüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme als SpätaussiedlerIn erfüllt sind. Wie oben beschrieben wurde, sind dafür der Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit sowie das Bestehen eines Sprachtests, der an verschiedenen Standorten in den Herkunftsgebieten durchgeführt wird, grundlegend. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit beträgt vier Jahre (vgl. Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, 180). Sind alle Voraussetzungen für die Anerkennung als SpätaussiedlerIn erfüllt, erteilt das BVA – nachdem es die Zustimmung eines Bundeslandes eingeholt hat – den Aufnahmebescheid. Der oder die AufnahmebewerberIn kann damit zu einem selbst gewählten Zeitpunkt nach Deutschland einreisen. Im Zuge der Migration können nur wenige persönliche Gegenstände mitgenommen werden. Die Ausreise muss selbst organisiert werden und führt zunächst nach Friedland, das als Außenstelle des BVAs die einzige Erstaufnahmeeinrichtung für SpätaussiedlerInnen in Deutschland ist. Dort werden der oder die Antragstellende und die Familienangehörigen registriert. Im anschließenden Bescheinigungsverfahren erwirbt der oder die Antragstellende mit der rechtlichen Feststellung der Eigenschaft ‚SpätaussiedlerIn‘ und gemäß § 7 Staatsangehörigkeitsgesetz die deutsche Staatsangehörigkeit. Es wird den SpätaussiedlerInnen empfohlen, im Zuge dessen ihren Vor- und eventuell auch Nachnamen beim Bundesverwaltungsamt dem deutschen Sprachgebrauch anpassen zu lassen. Dieser Schritt soll der Integration dienen und ist gebührenfrei. Die Namenserklärung kann nur einmal abgegeben werden. Es besteht keine Möglichkeit zur späteren Wiederholung (vgl. Bundesministerium des Innern 2015, 15). Übereilt und in der Hoffnung, den Kindern damit einen Gefallen zu tun, erfahren vor allem die Namen der Kindergeneration oftmals eine ‚Eindeutschung‘ (vgl. Süss 1995, 140). Dabei ist jedoch auch auf die psychischen Folgen hinzuweisen, wenn sie nicht nur ihre gewohnte Umgebung, ihre Freunde und Verwandten, sondern auch noch den Namen verlieren, mit dem sie schon fünf, zehn oder achtzehn Jahre gerufen wurden. Es gibt klare Vorgaben, durch welchen Namen der alte ersetzt wird, wobei es sich um möglichst ähnlich klingende Namen handelt, die jedoch häufig weder der russischen Bedeutung noch den aktuell in Deutschland gängigen Vornamen entsprechen; so wird z.B. aus Wladimir Waldemar und aus Jewgenij Eugen (vgl. Litwinow 2014). Dadurch sind die jungen Menschen wiederum gerade als (Spät-)AussiedlerIn erkennbar.

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An dem zugewiesenen neuen Wohnort leben die Eingereisten zunächst überwiegend in Übergangswohnheimen, die sich häufig in benachteiligten Stadtteilen oder am Stadtrand befinden. Dies führt zu einer räumlichen Trennung von der ansässigen Bevölkerung. In manchen Gemeinden wurden Übergangswohnheime in stillgelegten Kasernen eingerichtet, wodurch es zu einer starken Ballung kommt. „Der Aussiedleranteil in diesen Bezirken ist so hoch, dass kaum mehr von Integration gesprochen werden kann, sondern eine Gettoisierung vorprogrammiert ist“ (Greiner 2002, 59). Bade und Oltmer (1999) sprechen von „mehr oder minder geschlossene[n] Siedlungsdistrikte[n]“ (37). Obgleich dies lediglich als Überbrückung bis zum Bezug einer eigenen Wohnung gedacht ist, entwickelt es sich oftmals zu einem langfristigen Provisorium. Erst nach ein bis drei oder gar fünf Jahren gelingt den meisten SpätaussiedlerInnen der Umzug in eine (Sozial-)Wohnung (vgl. Dietz 1999, 185). In den Übergangswohnheimen steht pro Familie nur ein Zimmer zur Verfügung (ca. 4,5 Quadratmeter pro Person). Küche und sanitäre Einrichtungen müssen mit anderen Bewohnern geteilt werde. Diese Beengtheit stört nicht nur das Lernen (so findet in der ersten Zeit z.B. die Teilnahme an Sprachkursen oder Auffangklassen statt), sondern auch das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein (die MitbewohnerInnen sind zumeist selbst (Spät-)AussiedlerInnen oder Flüchtlinge) (vgl. Malchow et al. 1990, 70). Das beengte Leben kann sich auch auf die familialen Beziehungen auswirken, selbst wenn diese zuvor sehr innig waren, vor allem in der Phase der Adoleszenz, in der Intimsphäre und Abgrenzung bedeutender werden. Die Heranwachsenden haben keinen Freiraum für sich und keinen Platz, um sich mit Gleichaltrigen zurückzuziehen. „Nicht verwunderlich ist daher, dass die Kinder und Jugendlichen in ihrer Freizeit sich häufig im Freien, in den Treppenhäusern der Wohnheime oder anderen Plätzen wie Parkplätzen aufhalten“ (Greiner 2002, 59). Die räumlich separierte Wohnsituation führt häufig auch zu einer sozialen Segregation, denn durch diese haben die jungen SpätaussiedlerInnen fast ausschließlich soziale Kontakte zu anderen Allochthonen, obwohl der Wunsch nach mehr Kontakt zu Einheimischen durchaus besteht (vgl. Strobl/Kühnel 2000). Besonderheiten der Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen Zwischen 1950 und 2016 sind mehr als 2,38 Millionen (Spät-)AussiedlerInnen aus der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten nach Deutschland migriert, der größte Teil davon zwischen 1990 und 2000 (vgl. bpb 2018, o.S.). Hinzukommen weitere ca. 1,9 Millionen (Spät-)AussiedlerInnen, von denen die beiden größten Gruppen aus Polen (ca. 1,44 Mio.) und Rumänien (ca. 430.000) stammen. Diese sind jedoch vor allem vor 1990 eingewandert, nach dem Ende des ‚Kalten Krieges‘

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hat sich die Zuwanderung nach Herkunftsländern deutlich verändert (vgl. Worbs et al. 2013, 28). Mit einer Gesamtzahl von ca. 4,5 Millionen, stellen (Spät-)AussiedlerInnen die größte Migrantengruppe in Deutschland dar (differenziert man jedoch hinsichtlich der Herkunftsländer, ist die Gruppe der türkischen MigrantInnen größer). In den letzten Jahren sind die Zuzugszahlen rückläufig (vgl. ebd., 7). „Neben dem Wandel bei den Herkunftsländern hat sich innerhalb der zuwandernden Gruppe eine weitere Veränderung vollzogen: Der Anteil der Spätaussiedler in eigener Person (nach § 4 Abs. 1 oder 2 BVFG) betrug im Jahr 1993 78 %, im Jahr 2004 lag er bei nur noch 19 %“ (ebd., 30). Im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen, wie ArbeitsmigrantInnen, unterscheiden sie sich darin, dass die Auswanderung als endgültige angelegt ist und eine Option auf Rückkehr in die Heimat unüblich ist. Bei den früh Ausgesiedelten lag die Rückwanderungsquote unter 1 Prozent (vgl. Hallermann 1991, 113) und Worbs et al. (2013) gehen davon aus, dass auch aktuell keine starke Rückwanderung anzunehmen ist (vgl. 36), andere AutorInnen sprechen von einem neuen Trend der Remigration, vor allem aufgrund der empfundenen „Nichtanpassungsfähigkeit an den neuen sozialen Kontext“ (Kaiser/Schönhuth 2014, 249, z.B. auch Menzel/Engel 2014). Ein weiteres relevantes Spezifikum ist, dass es sich bei der Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen vorwiegend um eine familiale Wanderung handelt, die z.T. sogar drei Generationen umfasst (vgl. Wierling 2004, 197). Dies unterscheidet sie von den meisten anderen Migrierten, vor allem den ArbeitsmigrantInnen aus süd- und osteuropäischen Ländern, die überwiegend allein einreisten und ihre Partner und Kinder erst nach Jahren nachholten oder erst in Deutschland eine Familie gründeten. In der Folge stellen sie mit 78 Prozent im Vergleich zu allen anderen Gruppen den größten Anteil von selbstmigrierten Personen (vgl. Woellert et al. 2009, 17). Die Altersstruktur der eingewanderten (Spät-)AussiedlerInnen unterscheidet sich von der der autochthonen Bevölkerung. 1997, also etwa zu der Zeit, ab der meine Interviewpartner eingewandert sind, waren 36 Prozent der SpätaussiedlerInnen und ihrer Angehörigen unter 20 Jahre alt, bei der einheimischen Bevölkerung betrug der Wert ca. 20,8 Prozent (vgl. Fricke 1998, 31). 1993 betrug der Anteil der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren 25,6 Prozent (Vergleichswert der autochthonen Gruppe: 12 Prozent (vgl. InfoDienst Deutsche Aussiedler 1994, 14f). Da die Zuwanderungszahlen erst kurz davor ab dem Ende der 1980er-Jahre stark angestiegen sind, verdeutlicht dies auch, wie groß die Zahl der Quereinsteiger ins deutsche Schulsystem gewesen ist (vgl. Woellert et al. 2009, 18). „Aussiedlerfamilien sind den nichtgewanderten deutschen Familien keineswegs ähnlicher als die übrigen Familien ausländischer Herkunft, sie weisen viel-

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mehr eigene Spezifika auf“ (BMFSFJ 2000, 93). Bis heute ist „ihr soziales Zusammenleben stärker von klassischen Strukturen geprägt. So stellen Familien mit Kindern 43 Prozent aller Haushalte. Damit liegen die (Spät-)Aussiedler auch im Vergleich zu den anderen Migrantengruppen im oberen Bereich: Die Gruppe enthält anteilig doppelt so viele Familien wie die einheimischen Deutschen“ (Woellert et al. 2009, 18). Der Anteil an Einpersonenhaushalten ist verschwindend gering, die Zahl der Mehrgenerationen-Haushalte hingegen deutlich höher als bei autochthonen Familien (vgl. BMFSFJ 2000, 136). Junge (Spät-)AussiedlerInnen verlassen ihre Familie häufig erst für eine eigene Familiengründung und nicht für ein Leben als Single (vgl. Dietz/Roll 1998, 90). (Spät-)AussiedlerInnen beiderlei Geschlechts sind überdurchschnittlich häufig verheiratet. „Dies gilt sowohl im Vergleich zu Personen mit Migrationshintergrund als auch zu denen ohne“ (Worbs et al. 2013, 42). Bei den EhepartnerInnen handelt es sich überwiegend ebenfalls um (Spät-)AussiedleInnen oder Russischstämmige, wobei viele der Zugewanderten bereits gemeinsam mit diesen nach Deutschland gekommen sind (vgl. Woellert et al. 2009, 18). So sind nur 13,8 Prozent der männlichen (Spät-)Aussiedler mit einer deutschen Frau ohne Migrationshintergrund verheiratet (vgl. Statistisches Bundesamt 2012, 134). Zudem gehen sie durchschnittlich früher als autochthone Deutsche eine Ehe ein und bekommen in einem jüngeren Alter Kinder (vgl. Dietz/Roll 1998, 90). Dabei ist der Anteil von Mehr-Kind-Familien bei (Spät-)AussiedlerInnen, ebenso wie bei Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt, höher als in der einheimischen Bevölkerung (vgl. Worbs et al. 2013, 44). „Im Wesentlichen ähneln die Geburtenmuster damit den typischen Verhaltensweisen in den Herkunftsländern“ (Kreyenfeld/Krapf 2017, 118). In der Sowjetunion besuchten etwa 90 Prozent der noch nicht schulpflichtigen Kinder öffentliche Betreuungseinrichtungen, sodass es dort nahezu Vollerwerbstätigkeit beider Elternteile gab (vgl. Klaus et al. 2009, 17). Die Gleichstellung von Mann und Frau bezog sich vor allem auf die Erwerbstätigkeit und „ist somit nicht mit der westeuropäischen vergleichbar. Außer der Gleichstellung im Beruf herrschte in vielen Lebensbereichen ein patriarchalisches Familienbild, indem von den Frauen Unterordnung, Anpassung und Zurückhaltung erwartet wurden“ (Sekler 2008, 124). „Die Familie nimmt im sozialen Netzwerk von (Spät-)Aussiedlern eine zentrale Rolle ein“ (Worbs et al. 2013, 9). Frank (2011) kommt ausgehend von Netzwerkkonstellationen zu dem Ergebnis, dass (Spät-)AussiedlerInnen nach der Migration versuchten, „einen regen Kontakt mit allen Familienangehörigen aufrechtzuerhalten“ (90). „Zwischen den Generationen scheinen tendenziell stärkere Erwartungen an die Familienmitglieder und stärkere Verpflichtungsnormen als bei Personen ohne Migrationshintergrund zu bestehen“ (Worbs et al. 2013, 9). Doppelt

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bis dreifach so hoch befürworten sie z.B., dass Eltern auch ihren erwachsenen Kindern bei finanziellen Schwierigkeiten helfen sollten oder dass Kinder ihre Eltern im Alter zu sich nehmen sollten (vgl. BMFSFJ 2000, 96; Vogel 2012, 309). Frühzeitig müssen die Heranwachsenden Verantwortung in der Familie übernehmen, etwa indem sie auf Geschwister aufpassen oder bei der Erledigung von Hausarbeiten helfen. Die Erziehungsweise in (Spät-)Aussiedlerfamilien beschreibt Boll (1993) als konservativ-autoritär, wobei die obersten Erziehungsziele Gehorsam und Respekt vor den Eltern bzw. Älteren generell seien (vgl. 57). Dabei würden zur Durchsetzung auch körperliche Strafen eingesetzt (vgl. 60f): „Körperliche Züchtigung wird vielfach als Erziehungsmittel akzeptiert und angewandt“ (Boll 1992, 192). Des Weiteren kommen Frenzel und Heringer (2007) zu dem Schluss, dass „die Entwicklung von Unabhängigkeit beim Kind […] nicht gefördert“ (31) werde. Individualismus werde deutlich geringer geschätzt als in autochthon deutschen Familien. Es wird zu betrachten sein, wie dies in den Interviews beschrieben wird. Deutsche Sprache Der Blick in die Geschichte der (Spät-)AussiedlerInnen hat verdeutlicht, durch welche Umstände es zu der starken Abnahme der Deutschkenntnisse vor allem in der Eltern- und Kindergeneration gekommen ist. Deutsch war in den meisten Familien die Sprache der Großeltern (bzw. bei bi-nationalen Eltern eines Großelternpaares), die auch von diesen eher wenig bis gar nicht gesprochen wurde (vgl. Dietz 1999, 19). Eine Erhebung in Russland ergab 1994, dass nur noch 13 Prozent aller Deutschen dort die deutsche Sprache aktiv beherrschten (vgl. Archiv der Jugendkulturen 2003, 17). Bei den übergesiedelten Kindern und Jugendlichen lässt sich in den letzten Jahren eine Verschlechterung der ‚mitgebrachten‘ Deutschkenntnisse feststellen, da sie in einer nahezu homogenen russischen Umgebung aufgewachsen sind (vgl. Bindemann/Gailius 2003, 18). Irritierenderweise wurde die Dauer der finanzierten Sprachkurse parallel dazu verringert. In den 1970er- und 80er-Jahren hatten diese eine Dauer von zwölf bis achtzehn Monaten, bis Ende 1993 waren es acht Monate, darauf nur noch sechs Monate. Die mangelnden Sprachkenntnisse stellen ein Problem bei der Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt dar, weil auch für ungelernte Tätigkeiten oftmals eine grundlegende Kommunikationsfähigkeit vorhanden sein muss. Auch nach zwei bis fünf Jahren in Deutschland ist Russisch mit 45,1 Prozent die überwiegend gesprochene Sprache in den Familien, weitere 45,8 Prozent drücken sich wechselweise Deutsch und Russisch aus und nur 7,9 Prozent verwenden vorwiegend das Deutsche (vgl. Greiner 2002, 58). Besonders in den bi-nationalen

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Hintergrund

Familien hält sich das Russische langfristig als familiäre Umgangssprache (vgl. Dietz/Roll 2003, 14f). Das expandierende Angebot an russischen Medien (z.B. Fernsehprogramme via Satellit, Tageszeitungen oder Internetforen) wird rege genutzt. Chancen auf dem Arbeitsmarkt Schätzungen gehen davon aus, dass der Arbeitslosenanteil unter den AussiedlerInnen bei 30 Prozent liegt7 (vgl. Reich 2005, 155f). Ab 2000 eingereiste SpätaussiedlerInnen sind häufiger arbeitslos als Deutsche und Ausländer (vgl. Brück-Klingberg 2007, 4f). In der Folge haben Kinder aus (Spät-)Aussiedlerfamilien im Vergleich zu anderen Migrantengruppen eine höhere Wahrscheinlichkeit, von Geburt an in Armut zu leben (vgl. Cinar et al. 2013, 65). Bei den Migrierten der ersten Generation stellt es ein großes Hemmnis dar, dass die mitgebrachten Bildungs- und Berufsabschlüsse in Deutschland oftmals nicht anerkannt oder deutlich abgestuft werden (vgl. Wierling 2004, 208). Finden sie eine Arbeitsstelle, dann häufig in hohem Maße unter ihrer ursprünglichen beruflichen Qualifikation und überproportional in den untersten Einkommensbereichen (vgl. Janikowski 1999, 5f; 72ff). „Ein Vergleich der Qualifikation der Arbeitstätigkeit im Herkunftsland und in Deutschland zeigt, daß sowohl die Frauen als auch die Männer (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ihre berufliche Qualifikation verlieren. 69 % der Frauen und 44 % der Männer sind nach der dritten Untersuchungswelle von beruflichem Abstieg betroffen“ (ebd., 5). Mammey und Schiener (1998) pointieren: „Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland wird von Aussiedlern um den Preis des beruflichen Abstiegs erkauft“ (119). In den Statistiken des Bundesverwaltungsamtes und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge fehlen weitgehend Angaben zur Sozialstruktur bei der Einwanderung. Es wird jedoch geschätzt, dass allein im Zeitraum von 1991 bis 2007 rund 220.000 (Spät-)AussiedlerInnen mit abgeschlossener Hochschulausbildung nach Deutschland eingewandert sind (vgl. Maur 2007, 106). Auffällig ist, dass diese Gruppe – trotz eines zunehmenden Fachkräftemangels in Deutschland – noch schlechtere Chancen hat, in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu gelangen als (Spät-)AussiedlerInnen ohne akademische Ausbildung oder Ausländer mit Studienabschluss (vgl. ebd.). Wohingegen die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bei Ausländern und autochthonen Deutschen mit einem höheren Bildungsabschluss kontinuierlich sinkt, sind (Spät-)AussiedlerInnen mit (Fach-)Hochschulabschluss 7 Dies tauche allerdings nicht so auf, da sich ein großer Teil in Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Sprachkursen und Qualifikationsmaßnahmen befinde (vgl. Reich 2005, 155f).

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sogar stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als jene mit oder ohne Berufsausbildung (vgl. Brück-Klingberg 2007, 3f). Bei den ‚unter-Qualifikation-Beschäftigten‘ kann ein Gefühl der fehlenden Anerkennung und Zurücksetzung entstehen. In einer Studie von Janikowski (ebd.) zeigte sich, dass etwa drei Jahre nach der Aussiedlung ca. 60 Prozent der früheren ungelernten (Spät-)Aussiedlerinnen, und 50 Prozent Frauen der Qualifikationsgruppe Technikerinnen/Facharbeiterinnen eine Stelle gefunden hatten. Bei den männlichen Facharbeitern und Ungelernten waren nach ca. drei Jahre 85 Prozent erwerbstätig. Bei den Akademikern hingegen sind es nur ca. 50 Prozent. Übergreifend zeigt sich, dass Frauen stärker von Erwerbslosigkeit betroffen sind, obgleich sie in der (ehemaligen) Sowjetunion überwiegend selbstverständlich einer Berufstätigkeit nachgegangen sind (vgl. Westphal 2003, 129ff). Erwerbslosigkeit behindert die Chance, einen Einstieg in die neue Gesellschaft zu finden, führt zu einem geringeren Einkommen und psychosozialen Stressfaktoren. Kriminalitätsbelastung Vor allem in der (Medien-)Öffentlichkeit wird von einer hohen Kriminalitätsbelastung junger (Spät-)AussiedlerInnen ausgegangen. Eine überzogene mediale Berichterstattung zeichnet das Bild des gefährlichen – weil gewalttätigen und kriminellen – Jungen bzw. jungen Mannes mit (Spät-)Aussiedlerhintergrund, der sich nicht integrieren will, lieber unter seinesgleichen bleibt, nur Russisch spricht und Drogen- sowie Alkoholmissbrauch betreibt (vgl. Schäfer 2002, 12; Reich 2005, 14). Die Studienlage dazu ist jedoch lückenhaft und wenig aktuell. Eine bundesweite Statistik über die Kriminalitätsbelastung gibt es nicht, da die jährlich erscheinende ‚Polizeiliche Kriminalstatistik‘ Täter nach ihrer Staatsangehörigkeit erfasst und (Spät-)AussiedlerInnen daher nicht gesondert aufgeführt werden. Die vorliegenden Daten stammen stattdessen aus der Auswertung polizeilicher Statistiken einzelner Bundesländer und Kreise sowie aus Befragungen von SchülerInnen oder Einrichtungen. Die Ergebnisse weisen mehrheitlich eine Höherbelastung von jugendlichen (Spät-)AussiedlerInnen im Vergleich zu den autochthonen Deutschen aus, wobei die männlichen Jugendlichen deutlich überwiegen (vgl. z.B. Luff 2000; Baier/Pfeiffer 2007). Im Strafvollzug etwa sind männliche (Spät-)Aussiedlerjugendliche überrepräsentiert (vgl. Pfeiffer/Dworschak 1999). Ihr Anteil liegt (zum damaligen Zeitpunkt) mit durchschnittlich zehn Prozent etwa doppelt so hoch wie ihr geschätzter Anteil an der Bevölkerung in der Altersgruppe der 14bis unter 21-Jährigen (vgl. ebd.) Straffällig gewordene (Spät-)Aussiedlerjugendliche haben überwiegend Diebstahl- und Rohheitsdelikte begangen, darunter insbesondere Raub und

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Hintergrund

schwere Körperverletzung, und sind bei der Drogenkriminalität überrepräsentiert. Das abweichende Verhalten der jugendlichen männlichen (Spät-)Aussiedler zeichnet sich also durch schwerere Deliktformen aus. Es ist anzunehmen, dass ihr abweichendes Verhalten deshalb öfter polizeilich registriert und bestraft wird (vgl. Haug et al. 2008, 22). Insgesamt zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre (vgl. Luff 2000, 46). Für die 2000er-Jahre sprechen Haug et al. (2008) von einem Absinken der absoluten Zahl an tatverdächtigen (Spät-)AussiedlerInnen (vgl. 19). Eine z.T. kritisierte Erhebung in Hamburg (Müller et al. 2006) konnte hingegen keine signifikanten Unterschiede zu autochthonen deutschen Jugendlichen finden. Generell zeigen die Studien zudem, dass die Straffälligkeit niedriger liegt als etwa bei der Gruppe derer mit türkischer oder arabischer Staatsangehörigkeit. Die Vergleichbarkeit der Studien ist aufgrund von unterschiedlichen Erhebungszeiträumen, Altersstufen und Auswertungsmethoden in der Regel nicht gegeben (vgl. Haug et al. 2008, 22). Auch muss bedacht werden, dass es sich nicht bei allen (Spät-)AussiedlerInnen um Jugendliche aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion handelt. Für das Jahr 1997 hat eine bayerische Studie die Tatverdächtigen aufgeschlüsselt, wonach 45,1 Prozent in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden, 19,0 Prozent aus Rumänien sowie 18,1 Prozent aus Polen stammten (vgl. Luff 2000, 46). Sowohl die ‚KFN-Schülerbefragung‘ von 2005 (Baier/Pfeiffer 2007) als auch das IKG-Jugendpanel (Heitmeyer et al. 2002; 2005) sprechen davon, dass sich autochthone deutsche Jugendliche mit vergleichbaren Problemlagen in ähnlicher Weise gewalttätig verhalten wie jene mit (Spät-)Aussiedlerhintergrund. Da diese jedoch häufiger mit Problemlagen konfrontiert seien, würden auch mehr von ihnen bezüglich Gewalttätigkeit auffällig. Auch andere Autoren weisen besonders auf die soziale Randlage hin, wie auch auf migrationsspezifische strukturelle Benachteiligungsprozesse, „öffentliche und institutionelle Diskriminierung (erhöhte Anzeigen und härtere Verurteilungspraxis) und aus dem Herkunftsland mitgebrachte Verhaltensnormen (patriarchales Männlichkeitsbild, gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen) […] Keiner dieser Faktoren kann aber einen Alleinanspruch auf die Erklärung der Delinquenz von Aussiedlerjugendlichen erheben“ (Haug et al. 2008, 46). 1.4 Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen Die gelingende schulische und berufliche Integration der jungen (Spät-)Aussiedlergeneration ist von herausragender Bedeutung, da sie die Basis für die Teilnahme am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland legt und es ihnen ermöglicht, sich eine Zukunft aufbauen zu können (vgl. Reich 2005, 244). In einer

Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen

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fehlenden Schul-, Aus- und Weiterbildung liegt der Schlüssel für potentiell instabile Erwerbsbiographien (vgl. Dietz 1999, 166). Bildung bietet Lebenschancen und ist ein zentraler Faktor sozialer Stratifikation. Der Bildungsabschluss nimmt entscheidend Einfluss darauf, welcher Beruf ergriffen und welches Einkommen in der Folge erzielt werden kann. Wer über eine höhere Bildung verfügt, hat in der Regel in Aspekten wie Beschäftigungsbedingungen, Karrieremöglichkeiten, Prestige, Arbeitsplatzsicherheit, Rentenhöhe, Partnerwahl und Gesundheit einen Vorteil (vgl. Szydlik 2004, 14f). Das russische Schulsystem Vor der Einschulung besuchen die meisten Kinder in Russland Krippe und Kindergarten, die überwiegend bis 19 Uhr geöffnet haben (vgl. Ruttner 2002, 88). Dort erfolgt auch die Vorschulerziehung. In der Kindheit meiner Interviewpartner erfolgte die Einschulung üblicherweise mit sieben Jahren. Die Grundschulzeit betrug nur drei Jahre und darauffolgte (historisch bedingt) direkt der Sprung in die 5. Klasse (vgl. Sorel o.J.). Aktuell ist es so, dass ein geringer Teil der Kinder mit sechs Jahren eingeschult wird, deren Grundschulzeit dann vier Jahre dauert und der größere Teil weiterhin mit sieben Jahren die erste Klasse beginnt, dafür dann aber bereits nach drei Jahren in die 5. Klasse wechselt. Die Klassen 1 bis 4 werden als Anfangsstufe bezeichnet, die Klassen 5 bis 9 als Grundstufe und die fakultative 10. und 11. Klasse als Mittelstufe. Die überwiegende Zahl der SchülerInnen besucht gemeinsam von der 1. bis zur 9. bzw. 11. Klasse durchgängig eine allgemeinbildende Schule. Es kann aber auch auf ein Gymnasium und (meist erst ab der 10. Klasse) auf ein Lyzeum gewechselt werden. Diese Schulen bieten besondere (geisteswissenschaftliche oder naturwissenschaftliche) Schwerpunkte an und reglementieren den Zugang durch eine Aufnahmeprüfung und zumeist durch die Erhebung eines Schulgeldes (vgl. Wulff 2006, 88). Nach Unterrichtsende können die Kinder bis zum Abend in den Hort gehen oder noch anderweitig Musik- und Tanzschulen sowie Sportclubs besuchen, die günstiger sind als in Deutschland. Ab der 5. Klasse wird eine Fremdsprache unterrichtet, meistens Englisch. Einige Schulen bieten auch Deutsch oder Französisch an (Latein oder Spanisch sind nicht üblich). Allerdings bleibt es in der Regel bei dieser einen Fremdsprache, sodass den (Spät-)AussiedlerInnen, die in der Schule Deutsch gewählt haben und dann nach Deutschland migrieren, Englisch komplett fehlt. Im russischen Notensystem ist die ‚5’ die beste Note und die ‚2’ die schlechteste. Die Note ‚1’ wird nicht vergeben (vgl. Sorel o.J.). Es werden sehr oft Tests geschrieben, die mündliche Mitarbeit ist weniger bedeutsam für die Gesamtnote. Die Leistungen werden in das Hausaufgabenheft notiert und müssen

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Hintergrund

jede Woche von den Eltern unterschrieben werden, sodass es kaum möglich ist, schlechte Leistungen vor diesen zu verheimlichen. „Von den Lehrern wird erwartet, dass sie für Ordnung, Disziplin und für eine ‚reibungslose‘ Vermittlung des Unterrichtsstoffes sorgen. Der Lehrer bzw. die Lehrerin bestimmt, was und wie gelernt wird“ (Strobl/Kühnel 2000, 193). Der Unterricht ist weitgehend hierarchisch und kaum kooperativ strukturiert, sodass überwiegend Frontalunterricht stattfindet. Eigenverantwortung und kreatives Denken werden nicht gesondert gefördert (vgl. Kleespies 2006, 59f). Erst seit den 1990er-Jahren kommt es langsam zu mehr Bildungsvarianz, z.B. durch das Erscheinen unterschiedlicher Lehrbücher für ein Schulfach (vgl. Lanin 2001, 104). Es wird deutlich, dass zwischen dem Schulsystem der ehemaligen Sowjetunion und dem in Deutschland einige Unterschiede bestehen, die migrierten Jugendlichen den Wechsel erschweren können. Das Schulsystem war in der ehemaligen Sowjetunion bis etwa ins Jahr 1991 personell und materiell gut ausgestattet. Neben dem Auftrag der Wissensvermittlung gab es auch den politischen, die Kinder zu guten Sowjetbürgern zu formen. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und „die wirtschaftlichen Krisen in den Nachfolgestaaten wurde die Schule unverhältnismäßig stärker benachteiligt als andere staatliche Systeme“ (Herwartz-Emden/Westphal 2002, 4). Qualifiziertes „Personal erhielt kein Gehalt und blieb fort. Die Lehrer und Pädagogen die geblieben sind, arbeiten unter schwierigsten Bedingungen und für wenig oder kein Gehalt, um die Grundversorgung der Schüler sicherzustellen“ (ebd.). Meine Interviewpartner haben überwiegend diese schwierigere Zeit miterlebt. Einige haben auch schon zu Sowjetzeiten die Schule besucht und berichten z.B. von politischer Einflussnahme. Nach der 9. Klasse werden die Kenntnisse staatlich geprüft. Im Anschluss folgt je nach Leistung der Wechsel auf eine Berufsschule oder der weitere Schulbesuch für zwei Jahre. Am Ende der 11. Klasse finden erneut Prüfungen statt, durch deren Bestehen man den ‚vollständigen Mittelschulabschluss’ erwirbt. Dieser Abschluss ist in seiner Bedeutung mit dem deutschen Abitur vergleichbar (wird aber hier nur als Realschulabschluss anerkannt). Mit diesem Abschluss kann man an einem Institut (ähnlich einer Fachhochschule) oder einer Universität studieren. Zuvor muss allerdings eine Aufnahmeprüfung bestanden werden, die in der Regel sehr schwierig ist. Ein Studium in Russland dauert etwa vier bis fünf Jahre und ist ähnlich strukturiert wie der Schulunterricht (vgl. Sekler 2008, 190). Die Lage der (Spät-)AussiedlerInnen im deutschen Bildungssystem PISA und andere Schulstudien haben aufgezeigt, dass SchülerInnen mit Migrationshintergrund überproportional häufig an Hauptschulen und deutlich seltener an

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Gymnasien vertreten sind (vgl. Baumert et al. 2002, 195, siehe auch Gogolin/Nauck 2000; Geißler 2005; Gomolla/Radtke 2009). Für Jungen mit und ohne Migrationshintergrund wurde in diesem Zusammenhang zudem ein tendenziell schlechteres Abschneiden als für Mädchen beobachtet. „Die Söhne aus Migrantenfamilien bildungsferner Schichten bilden wiederum die Spitze unter den Verlierern im deutschen Bildungssystem“ (King 2009a, 32). Im Zuge der (Spät-)Aussiedlerzuwanderung sind allein von 1987 bis 2003 943.982 Minderjährige eingewandert (vgl. Söhn 2008, 404). Das konkrete Einreisealter wird als wichtige Determinante für den späteren Schulerfolg betrachtet. So geht z.B. Kristen (2003) davon aus, dass Migrantenkinder desto geringere Chancen auf eine höhere Schulbildung haben, je älter sie bei der Einreise gewesen sind (30f). Insbesondere die Zuwanderung im Kleinkindalter bietet größere zeitliche Spielräume zum Erwerb der deutschen Sprache, was sich positiv auf den schulischen Kompetenzerwerb auswirke (vgl. Baumert/Schümer 2001, 378). So wird bei 48 Prozent der Kinder aus Aussiedlerfamilien mit bis zu einem Jahr Kindergartenerfahrung ein Förderbedarf in Deutsch diagnostiziert, bei mehr als drei Jahren Kindergartenerfahrung hingegen sinkt der Wert auf 11 Prozent (vgl. Becker/Biedinger 2006, 74). Konkrete Zahlen zu (Spät-)AussiedlerInnen waren lange Zeit nicht verfügbar, da sie als deutsche Staatsbürger meist nicht gesondert in Statistiken erfasst werden. Und selbst wenn der Status in neueren Erhebungen einbezogen wird, ist es schwer, Aussagen zu treffen, weil dabei oftmals nicht zwischen den (Spät-)AussiedlerInnen aus Polen, Rumänien oder der ehemaligen Sowjetunion sowie dem Ausreisezeitpunkt und der Zugehörigkeit zur ersten, zweiten oder dritten Generation unterschieden wird. In einigen wenigen – oftmals wie in Hinblick auf Kriminalität regional begrenzten – Studien wurde der Status berücksichtigt. So zeigt eine Erhebung aus NRW, dass im Schuljahr 1996/97, kurz nach der großen Einwanderungswelle, zu einer Zeit also, in der viele als Seiteneinsteiger erst kurze Zeit das deutsche Schulsystem besuchten, (Spät-)AussiedlerInnen im Vergleich zu allen andren Migrantengruppen am schlechtesten abschnitten. Nur 7,1 Prozent besuchten zu dieser Zeit ein Gymnasium (vgl. Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen 2006, 164). Aktuell geben die wenigen Studien, denen Aussagen über die Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen aus (Spät-)Aussiedlerfamilien möglich sind, „Hinweise darauf, dass sie eine Zwischenposition zwischen den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund und den besonders benachteiligten türkischstämmigen Jugendlichen einnehmen“ (Eulenberger 2011, 154; vgl. auch Fuchs/Sixt 2008). So liegt der Anteil der Gymnasialempfehlung für SchülerInnen ohne Migrationshintergrund bei 49 Prozent, bei SchülerInnen mit türkischem Migrationshintergrund bei 20 Prozent und bei denen aus (Spät-)Aussiedlerfamilien mit 31

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Prozent zwischen den beiden Werten (vgl. Gresch/Becker 2010, 191). Dabei ist es jedoch entscheidend, zwischen dem Alter bei der Einreise zu unterscheiden. Problematisch wird vor allem die Lage der jungen (Spät-)AussiedlerInnen angesehen, die nach der Einreise nur noch kurze Zeit im Schulsystem oder in der Ausbildung in Betrieb oder Hochschule vor sich haben (vgl. Wolterhoff 1998, 43f). Ihre Schul- und Ausbildungsqualifikationen aus den Herkunftsländern werden in der Bundesrepublik zum Großteil nicht anerkannt und niedriger eingestuft (vgl. ebd.). Erschwerend kommt hinzu, dass den Heranwachsenden bei der Integration in das deutsche Bildungs- und Berufssystem eine „doppelte Anpassungsleistung“ (Dietz/Roll 1998, 53) abverlangt wird, zum einen die an die deutsche Sprache und zum anderen die an das System „(Hoch)Schul- und Berufsbildung“, das sich fundamental von dem in den postsowjetischen Herkunftsländern unterscheidet (vgl. ebd. und die Ausführungen oben). Als SeiteneinsteigerInnen ins Schulsystem müssen sie – zusätzlich zur Aneignung der deutschen Sprache – die im Herkunftsland nicht behandelten Lerninhalte und Sprachen nachholen und gleichzeitig beim Erlernen des aktuellen Unterrichtsstoffs mithalten (vgl. Söhn 2008, 411). Bei Kindern und Jugendlichen aus einem Land der ehemaligen Sowjetunion kommt mit dem lateinischen Alphabet zudem der Erwerb einer anderen Schriftform hinzu. Klekowski von Koppenfels (2008) äußert dazu pointiert: „too young to be able to choose to stay but too old to benefit from the socializing influence of the German educational system“ (113). Schwierig ist es zudem, sich in der Vielfalt der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zurechtzufinden und den eigenen Bildungsweg zu planen. Die Eltern können dabei selten beratend tätig sein, da auch sie sich erst mit den Institutionen und Möglichkeiten in Deutschland auseinandersetzen müssen (vgl. Kristen/Granato 2004, 127). Da es in Russland (wie oben erwähnt) keine Selektion nach der vierten Klasse gibt, ist den Eltern die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems demnach fremd. In vielen Städten und Gemeinden gab es, gerade zu den Einwandererhochzeiten, Förderklassen (oder auch Auffangklassen genannt) zur Vorbereitung auf den regulären Unterricht (vgl. Blahusch 1992, 175). Danach oder stattdessen wurden und werden die Heranwachsenden „häufig, ohne Beachtung ihrer mitgebrachten Zeugnisse, Ressourcen und eigener Wünsche, in Haupt- oder Berufsschulen untergebracht“ (Sekler 2008, 201), wobei Rückstufungen in Bezug auf das im Herkunftsland besuchte Schuljahr „relativ normal und üblich“ (ebd., 196) sind. Die Untersuchung von Segeritz et al. (2010), deren Datenbasis aus der nationalen Erweiterungsstichprobe von PISA 2003 stammt, unterteilt die zum Untersuchungszeitpunkt 15-jährigen (Spät-)AussiedlerInnen nach ihrem Alter bei der Zuwanderung. Bei denjenigen, die bereits in Deutschland geboren wurden, sprechen sie mit Bezug auf Glick und Hohmann-Mariott (2007) von der 2. Generation, bei denen, die vor dem sechsten Lebensjahr zugezogen sind, von der 1,5. Generation

Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen

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und bei denen, die danach eingewandert sind, von der 1. Generation. Zudem werden der sozioökonomische Hintergrund und das Bildungsniveau der Eltern in die Analysen einbezogen (vgl. 122). Eine Benachteiligung stellen sie vor allem für die Jugendlichen der 1. Generation fest. So liegt die Hauptschulquote bei ihnen mit etwa 37 Prozent mehr als doppelt so hoch wie für 15-Jährige ohne Migrationshintergrund. Im Gegensatz dazu sind sie beim Gymnasialbesuch deutlich unterrepräsentiert. Nur etwa 15 Prozent der Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Polen und aus anderen Staaten besuchen ein Gymnasium (vgl. ebd., 127). Für Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion unterscheidet sich die Bildungsbeteiligung in der 1. und 1,5. Generation kaum, in der 2. Generation stellt sich die Situation jedoch schon deutlich günstiger dar. Die Hauptschulquote sinkt in dieser Gruppe auf unter 10 Prozent, wohingegen annähernd 50 Prozent der SchülerInnen das Gymnasium besuchen (vgl. ebd., 129). Sekler (2008) hat aufgezeigt, dass Quer- und SeiteneinsteigerInnen im Alter von 15 und 16 Jahren, besondere Schwierigkeiten haben, ihre Bildungslaufbahn in Deutschland den eigenen Vorstellungen gemäß fortzusetzen (vgl. 201). Nach dieser Definition gehören alle meine Interviewpartner der 1. Generation an und dennoch sind sie, entgegen der Statistik, bildungserfolgreich. Die Umstände und Herausforderungen dessen gilt es genauer zu betrachten. Die Daten veranschaulichen, dass (Spät-)AussiedlerInnen, die selbst im Kindes- bzw. Jugendalter aus der ehemaligen Sowjetunion migriert sind, deutliche Nachteile im deutschen Schulsystem haben. Auch daher ist es besonders interessant, diese Gruppe genauer zu untersuchen. Von der ersten zur zweiten Generation der (Spät-)AussiedlerInnen steigt der Anteil der Abiturienten dann stark an. Dabei sind es auch in dieser Gruppe Mädchen und junge Frauen, die häufiger das Gymnasium besuchen und mit dem Abitur abschließen als Jungen bzw. junge Männer (vgl. Woellert et al. 2009, 34). (Spät-)AussiedlerInnen und Studium Dem negativen Bild dieser Zuwanderergruppe in Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie den aufgezeigten Schwierigkeiten zum Trotz, gibt es (Spät-)AussiedlerInnen (auch der oben definierten 1. Generation), die eine erfolgreiche Bildungskarriere in Schule und Hochschule absolvieren. Dabei sind jedoch mit einer guten Ausbildung im Herkunftsland nicht automatisch bessere Startchancen in Deutschland verbunden. So haben Dietz und Roll (1998) in ihrer Studie herausgearbeitet, dass nur jeder vierte derjenigen, die im Herkunftsland studiert haben, das Studium in Deutschland fortsetzen konnte; und dies auch erst, nachdem die Hochschulreife

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nachgeholt worden war (vgl. 68). Denn der Abschluss, der in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zum Hochschulstudium berechtigt (die ‚vollständige Mittelschule‘ nach der 11. Klasse), wird in Deutschland nicht als Abitur gewertet. (Spät-)AussiedlerInnen können hier nur studieren, wenn sie im Herkunftsland den Mittelschulabschluss erfolgreich absolviert und dort zudem vier Semester studiert haben oder in Deutschland das Abitur nachholen (vgl. ebd., 56). Dies geschieht zumeist an speziellen Studienkollegs, an denen SpätaussiedlerInnen, jüdische MigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion sowie Asylberechtigte und Flüchtlinge mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in einem sogenannten Sonderlehrgang innerhalb von zwei Jahren die allgemeine Hochschulreife absolvieren können. Voraussetzung ist eine erfolgreich abgelegte Abschlussprüfung der Mittelschule im Herkunftsland sowie das Bestehen einer Eingangsprüfung. Eine finanzielle Unterstützung kann über das Programm der Otto Benecke Stiftung e.V. erfolgen. Diese Stiftung übernimmt im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Kosten der Ausbildungsmaßnahmen für junge SpätaussiedlerInnen sowie junge ausländische Flüchtlinge zur Vorbereitung und Durchführung eines Hochschulstudiums, wenn nicht vorrangige Förderung (z.B. BAföG) zum Tragen kommt. Eingeschlossen sind Kurse zum Erlernen der deutschen Sprache sowie Kurse zum Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung. Bis zu 30 Monate können die Heranwachsenden Unterstützung beziehen (z.B. für Kurskosten, Fahrtkosten, Nachhilfeunterricht sowie Unterkunft und Grundbedarf, wenn sie nicht bei ihren Eltern leben), wobei es jedoch Limitierungen nach oben gibt. Aktuell beträgt der AkademikerInnenanteil unter den (Spät-)AussiedlerInnen über die verschiedenen Generationen hinweg 16 Prozent. Damit belegt die Gruppe in der Studie von Woellert et al. (2009) Rang sechs unter acht ausgewählten Migrantengruppen (vgl. 49).

2 Theoretischer Rahmen: Migration in der Adoleszenz

In diesem Kapitel wird der theoretische und konzeptionelle Rahmen für die eigene empirische Forschung dargestellt, die junge männliche Spätaussiedler betrachtet, die während der Adoleszenz nach Deutschland migriert sind. Dabei geht es um die Frage, was geschieht, wenn die beiden Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration zusammentreffen. Deshalb wird zunächst differenziert das zugrundeliegende Verständnis der Themen Adoleszenz (2.1) und Migration (2.2) präsentiert. Unter 2.3 werden dann ausführlich die Analogien zwischen den beiden Transformationsprozessen aufgeschlüsselt und davon ausgehend herausgearbeitet, welche besonderen Bedingungen eine Migration während der Adoleszenz begleiten. Da, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, die Aussiedlung nahezu ausschließlich mit der gesamten Familie geschieht und diese gerade in der Adoleszenz eine besondere Rolle spielt, wird zudem genauer auf die Folgen einer Migration im Familienverbund eingegangen. Der theoretische Rahmen schließt mit den Besonderheiten der männlichen Adoleszenz in der Migration, da Männer im Fokus der Untersuchung stehen. 2.1 Adoleszenz Das Wort Adoleszenz kommt vom lateinischen ‚adolescere‘ (heranwachsen) (Stowasser et al. 1994, 15) und meint den entwicklungsbedingten Transformationsprozess vom Kind zum Erwachsenen und die „Herausbildung eines erwachsenen, individuierten Lebensentwurfs“ (vgl. King 2000a, 42).8 Durchgängig und bewusst wird in dieser Arbeit der Begriff ‚Adoleszenz‘ statt ‚Jugend’ verwendet. Beide Termini finden vor allem in den Fächern Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Literaturwissenschaft und Jura Gebrauch, 8 Individuation oder Individuierung meint den Entwicklungsprozess eines Menschen hin zu einer selbstständigen Persönlichkeit, die über die Fähigkeiten der Eigenverantwortlichkeit, Reflexion und des autonomen Handelns verfügt (vgl. Soric 1996, 15). Individuation soll in diesem Zusammenhang nicht als abstrakter normativer Anspruch verstanden werden; vielmehr wird sie als „stets relational, d.h. in der Relationierung von Anforderungen, Ressourcen und Lösungen“ (King 2013, 46) betrachtet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_3

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wobei jeweils nach theoretischer Ausprägung der Fächertradition einer der beiden Begriffe bevorzugt verwendet wird (vgl. King 2013, 29). Auch wenn Adoleszenz und Jugend dabei nicht durchgehend einheitlich gebraucht werden, können deutliche Unterschiede der perspektivischen Ausrichtung benannt werden. Der Begriff Jugend findet sich vor allem in Forschungen, die diese Phase aus einem äußeren Blickwinkel als Statuspassage betrachten, während der die Heranwachsenden spezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben, die von der Erwachsenengeneration definiert werden (vgl. Günther 2009, 68). WissenschaftlerInnen, die von Adoleszenz sprechen, legen ihren Fokus hingegen zumeist auf eine innere Perspektive und betrachten die Potentiale und Herausforderungen dieses Entwicklungsprozesseses und dessen individuelle und strukturelle (familiale, gesellschaftliche, historische) Bedingungen. Dieser Begriff dominiert demnach dort, wo es gilt, „die Dimensionen des Psychischen in die soziologische Analyse einzubeziehen und die soziale Konstituiertheit des Psychischen zu analysieren“ (King 2013, 32).9 Natürlich sind zu allen Zeiten und unabhängig von sozialen Faktoren Menschen zunächst Kind gewesen und im Laufe der Jahre erwachsen geworden, was z.B. anhand von körperlichen Entwicklungen, das Volljährigwerden oder der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit definiert werden könnte. In Hinblick darauf, dass jeder vom Kind zum Erwachsenen wird und auch in den vergangenen Jahrhunderten geworden ist, könnte davon ausgegangen werden, dass also auch stets alle Menschen zwangsläufig eine Phase der Adoleszenz durchlaufen bzw. durchlaufen haben. Die vorliegende Arbeit folgt jedoch einer theoretischen Ausrichtung, die Adoleszenz nicht nur deskriptiv im Sinne eines konkreten Altersabschnitts oder Positionswechsels versteht, sondern als einen potentiellen „psychosozialen Möglichkeitsraum“ (Bosse 2000, 54f). Der Begriff der ‚Möglichkeit‘ soll zweierlei ausdrücken, zum einen das große (Veränderungs-)Potential, das zum anderen aber nur möglich und nicht gewährleistet ist. Ob und in welchem Maße Heranwachsende die Herausforderungen der Adoleszenz bewältigen und Lebensentwürfe transformieren können und welche Strategien ihnen hierfür zur Verfügung stehen, hängt dem Konzept gemäß von der sogenannten „Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums“ (ebd., 28) ab. Diese wird einerseits von geschlechts- und milieuspezifischen sowie soziostrukturellen Bedingungen bestimmt und anderer9 Ein weiterer Vorteil des Adoleszenz-Begriffes ist, dass er in Deutschland (bislang) eher in wissenschaftlichen Diskursen Verwendung findet. Das Wort Jugend hingegen hat einen festen Platz im Alltagssprachgebrauch, sodass mit diesem eine Vielzahl von undifferenzierten Annahmen und vorgeprägten Bildern verbunden ist. Auch wird der Begriff Jugend als „Kollektivsingular für jene soziale Gruppe genutzt, die kulturell mit dieser Passage in Verbindung gebracht wird“ (Rang 2001, 10, Herv. i. O.), wodurch er weniger eindeutig ist. Der Terminus Adoleszenz hingegen zeichnet sich positiv durch einen höheren Abstraktionsgrad und eine geringere Vorbelastetheit aus (vgl. King 2013, 38).

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seits durch die generative Haltung der Eltern und die Qualität der familialen Generationenbeziehungen in Wechselwirkung mit den Beziehungen zu Gleichaltrigen und signifikanten erwachsenen Anderen (vgl. Reich 2005, 136). All dies nimmt Einfluss darauf, wie und mit welchen Ressourcen oder Hemmnissen im Prozess adoleszenter Ablösung Erfahrungen der Herkunftsfamilie verarbeitet und generational tradierte, familien- oder milieuspezifische Sinn- und Praxisfiguren modifiziert werden können. Des Weiteren wird die Adoleszenz als „psychosoziales Moratorium“ (Erikson 2005) bezeichnet, wodurch der Prozesscharakter noch einmal unterstrichen wird: Es geht nicht um einen kulturell festgelegten Übergang wie beispielsweise durch einen Initiationsritus oder das Erreichen einer Statuspassage, sondern um eine (Zwischen-)Phase, in der „eigensinnig und eigenständig experimentiert werden kann“ (King 2013, 40). Denn das psychosoziale Moratorium bezeichnet darüber hinaus „das kulturelle Privileg, von einer Reihe von Verpflichtungen und Zwängen der Erwachsenengesellschaft phasenweise [noch] befreit“ (ebd., 109) zu sein. Es sind also zwei Dinge nötig: erstens einen Möglichkeitsraum, der im übertragenen Sinne ein räumliches Experimentierfeld darstellt und zweitens ein Moratorium, das den zeitlichen Aufschub symbolisiert. Ohne starre Regelungen und mit ausreichend Raum und Zeit sollen die Heranwachsenden die Möglichkeit haben, „einzelne Bereiche der Kultur für sich erobern, verwenden oder auch wieder verwerfen zu können“ (King/Schwab 2000, 213). Eine bedeutsame Rolle spielt dabei die Entwicklung von Größen- und Allmachtsphantasien, die „jenes euphorische, mitunter zur Selbstüberschätzung neigende Lebensgefühl“ (Gansel 2011, 34) meinen, das es den Heranwachsenden ermöglicht, „Überliefertes anzuzweifeln, sich mit etablierten Instanzen und gesellschaftlichen Strukturen anzulegen“ (ebd., 34f) sowie Utopien umsetzen zu wollen. Zugleich füllen diese „die emotionelle Leere zwischen einer Welt, die im Verschwinden ist, und einer anderen, die noch nicht fertig ist“ (Deutsch 1947, 8, zit.n. King 2013, 200). Erst dadurch können die mit der im Zuge der Pubertät verbundenen Entwicklungsprozesse überhaupt erst zur Adoleszenz als einer Chance zur Individuation werden (vgl. King 2013, 109). Am Ende der adoleszenten Auseinandersetzungen steht im positiven Fall die gelungene Herausbildung eines individuierten, tragfähig scheinenden Lebensentwurfs und einer generativen Haltung (vgl. Bosse 2000, 51),10 wofür die „Anerkennung

10 Es gibt die Kritik an diesem Ansatz, dass er normativ sei und eine Adoleszenz im westlichen Sinne beschreibe, die auf Heranwachsende mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht übertragbar sei. Dabei geht es primär „um kategoriale, nicht etwa um normative Festlegungen. Ob eine in diesem Sinne bezeichnete adoleszente Ablösung […] zu einem ‚besseren’, ‚gelungeneren’ oder gar ‚glücklicheren’ Leben führt, steht zunächst nicht im Vordergrund […]. Gleichwohl werden aus dieser Perspektive die Potenziale für Krisen und eingeschränkte Lebensentwürfe deutlich“ (Zölch et al. 2012, 20).

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der eigenen Gewordenheit und die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Begrenztheit“ (King 2002, 115) Voraussetzungen darstellen. Heranwachsende können „idealtypisch in dem Maße als erwachsen gelten, wie sie selbst schrittweise im […] psychosozialen Sinne ‚generativ‘ werden (King 2010a, 15). Dabei soll Generativität keineswegs allein im Sinne der Duden-Übersetzung als ‚Fortpflanzungs- und Zeugungskraft‘ (vgl. Duden online 2017) in biologistischer Verkürzung verstanden werden. Stattdessen wird in dieser Arbeit Bezug auf King (2013) genommen, die den Begriff der Generativität für die Adoleszenztheorie in Auseinandersetzung u.a. mit Eriksons subjekttheoretischen Überlegungen (1999) und den philosophischen Diskussionen Kosselecks (2000) ausformuliert hat. Generativität stelle demnach die Fähigkeit einer Person dar, „eine Position und Haltung psychischer und sozialer Wirkmächtigkeit, Fürsorgefähigkeit und Produktivität [einzunehmen], die sich auf die unterschiedlichsten Bereiche und Aktivitäten beziehen kann“ (King 2013, 48f); also auch, aber nicht nur auf Elternschaft im üblichen Sinne. Der lateinische Stamm des Wortes (‚generare‘) bedeutet (er)zeugen/hervorbringen/erschaffen (Stowasser et al. 1994, 223), es geht also um das Erschaffen von etwas Neuem, z.B. durch schöpferisches Handeln, entweder unmittelbar im Umgang mit konkreten Personen oder auch mittelbar „in der Bewahrung und/oder Schaffung materieller und immaterieller Güter […], die zum Nutzen der nachfolgenden Generation(en) gedacht sind“ (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2012, 28). Adoleszenz bewegt sich demnach in einer Dialektik von Individuation und Generativität. Eine allgemein anerkannte Altersangabe der Adoleszenz gibt es nicht. Die WHO etwa bezeichnet Heranwachsende von zehn bis 19 Jahren als adoleszent, bezieht also z.T. auch Kinder vor der Geschlechtsreifung mit ein. Die Shell-Jugendstudie hingegen betrachtet zwölf bis 25-Jährige (vgl. Shell Deutschland Holding 2010). Andere Forschungen weiten den Begriff auch auf Personen im dritten Lebensjahrzehnt aus. Dies wird damit begründet, dass sich unter den veränderten kulturellen Bedingungen in (post-)modernen Gesellschaften die Bildungs- und Ausbildungszeiten durchschnittlich verlängert hätten und junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren zwar eine politische und kulturelle Selbstständigkeit besäßen, aber überwiegend keine gesicherten Ressourcen für ihre Lebenssicherung zur Verfügung hätten (vgl. Gansel 2011, 31).11 11 Neben soziostrukturellen Begründungen dafür, auch junge Männer und Frauen im dritten Lebensjahrzehnt als adoleszent zu bezeichnen, weisen auch neurophysiologische Erkenntnisse in diese Richtung. Jüngere Forschungen haben gezeigt, dass sich die Gehirne von Heranwachsenden, anders als bisher vermutet, bis zum 25. Lebensjahr und möglicherweise noch darüber hinaus, weiter und z.T. dramatisch umstrukturieren (vgl. Konrad 2011, 124). Dabei könnte das neuronale Ungleichgewicht im Gehirn für spezifische Formen von adoleszentem Risikoverhalten mitverantwortlich sein (vgl. Gansel 2011, 45).

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2.1.1 Historische Entwicklung und soziale Bedingungen Jugend bzw. Adoleszenz ist „ein soziokulturelles Phänomen, das in seinen Erscheinungsformen historisch-gesellschaftlichen Dimensionen unterworfen ist“ (Griese 1987, 19). Die Phase der Adoleszenz in ihrer heutigen Form ist ein Produkt der europäischen Moderne. Im Zuge der Aufklärung (im 17./18. Jahrhundert) hat sich das Verständnis von Kindheit (und Jugend) grundlegend gewandelt. Charakteristisch ist ein Satz aus dem Erziehungsroman ‚Emile‘, der 1762 erschienen ist: „Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten“ (Rousseau 1998, 56). Rousseau sprach sich dafür aus, Kindheit (und Jugend) als eigenständige und bedeutsame Lebensphasen zu betrachten und forderte eine Erziehung, die einen Schon- bzw. Schutzraum für die freie Entfaltung der Persönlichkeit bietet. Solch ein Moratorium entwickelte sich im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert jedoch nicht für alle Heranwachsenden, sondern betraf nur eine sehr kleine Gruppe: junge Männer aus dem Bürgertum. Mädchen und junge Frauen traten hingegen „mehr oder weniger unvermittelt vom Status des Kindseins in denjenigen des Kindhabens“ (King 2000a, 46). Ein Moratorium für Frauen hat sich in den „westlichen Industriegesellschaften erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts hergestellt“ (ebd., 58). Ebenso gab es für die Angehörigen unterer Schichten keinen Raum für eine eigenständige Jugendphase. Als eigentliches ‚Jahrhundert der Jugend‘ kann erst das 20. Jahrhundert bezeichnet werden (vgl. Ecarius et al. 2011, 18). Vor allem in dessen zweiter Hälfte hat eine Universalisierung dieser Lebensphase stattgefunden, „sodass auch Jugendliche unterer Schichten, weibliche Jugendliche oder junge Heranwachsende ländlicher Regionen ein Bildungsmoratorium durchlaufen konnten“ (King 2013, 41). Es kann jedoch nicht von einer Standardisierung dieser Phase gesprochen werden, denn es gab und gibt große Unterschiede in Hinblick auf die Länge, die Freiräume und Möglichkeiten der Adoleszenzphase, die in Abhängigkeit von Kategorien sozialer Ungleichheit – wie Geschlecht, Schicht oder Migrationshintergrund – stehen. So wurde z.B. oben ausgeführt, dass Zeit- und Spielräume für adoleszente Entfaltungen wichtig sind, wie sie durch verlängerte (Aus-)Bildungszeiten potentiell gegeben sind. Idealtypisch könnte man sich einen jungen Menschen vorstellen, der bis in die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts hinein studiert. Im Gegensatz dazu gibt es junge Männer und Frauen, die die Schule nach der neunten Klasse – also etwa mit 15 Jahren – verlassen und im Anschluss in Ausbildung und Berufstätigkeit übergehen. In diesem Fall ist der äußere und zeitliche Raum für freie Entfaltung und Entwicklung ein anderer und stärker beschränkt. Drittens könnte man sich einen Heranwachsenden denken, dem es im Anschluss an einen (‚niedrigen‘) Schulabschluss oder dem Fehlen eines solchen nicht gelingt, in eine Erwerbstätigkeit überzugehen, sodass er zwischen beruflichen Maßnahmen und

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sozialer Unterstützung ‚festhängt‘. Dieser junge Mensch hat zwar mehr Zeit zur Verfügung als die anderen beiden, doch wird er diese aufgrund seiner sozial und finanziell prekären Situation kaum für schöpferische Entwicklungen nutzen können. Diese Beispiele betreffen die Bereiche Schicht und Bildung. Ebenso könnten für weitere soziale Ungleichheitskategorien Konstellationen erdacht werden oder auch die Wechselwirkungen und Verknüpfungen mehrerer Kategorien aus intersektionaler Perspektive in den Blick genommen werden (vgl. King et al. 2010). Bereits dieser kurze Abriss verdeutlicht, dass die Möglichkeit eines adoleszenten Moratoriums von Beginn an durch soziale Ungleichheiten mitbestimmt wurde und es weiterhin wird und Adoleszenz deshalb stets im Kontext historischer, ökonomischer und soziokultureller Bedingungen betrachtet werden muss. 2.1.2 Adoleszente Transformationen Schritte der Individuation finden nicht zum ersten Mal und nicht ausschließlich in der Adoleszenz statt. Ein Kind vollzieht in seiner Entwicklung erhebliche Abgrenzungsschritte von seinen Bezugspersonen, wie idealtypisch z.B. die Loslösung aus der engen Mutter-Kind-Dyade im zweiten Lebensjahr hin zu einem triadischen Verhältnis von Vater-Mutter-Kind (vgl. Abelin 1986). Der adoleszente Individuationsprozess ist jedoch von besonderer und einzigartiger Intensität. Die Suche nach Orientierung und Sinngebung ist stärker als in anderen Lebensphasen davor und danach (vgl. Hurrelmann 2004, 31). Dafür ist die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten Dezentrierung, Abstraktion und Distanzierung nötig, die erst im Jugendalter ausgereift ist (vgl. Piaget 1993). Durch die gewandelten kognitiven, psychischen und physischen Voraussetzungen und das steigende außerfamiliale Explorationsverhalten – besonders zur Gleichaltrigengruppe – können sich die Heranwachsenden in der Adoleszenz erstmals mit der Welt ihrer Kindheit, den familialen Erfahrungen, den bisher selbstverständlichen Lebensbedingungen und dem eigenen Gewordensein reflexiv auseinandersetzen (vgl. King 2007a, 37f). Nun sind sie potentiell in der Lage, die gesammelten Erfahrungen und Einstellungen aus unterschiedlichen und auch abstrakten Perspektiven zu betrachten, infrage zu stellen und infolgedessen auf neue Weise zusammenzufügen oder zu verändern. Dies ist auch eine Voraussetzung dafür, „von der Ordnung der Familie zur Ordnung der Kultur überzugehen“ (Erdheim 1998, 17), wie es in der Adoleszenz geschieht. „Es geht darum, die Herkunftsfamilie mit ihren Mythen, Werten und Einstellungen zu relativieren, sie als einzig sinngebende Instanz zu überwinden und sich im fremden System der Kultur zu orientieren und neu zu definieren“ (Gansel 2011, 32).

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Havighurst (1949) hat spezifische „Entwicklungsaufgaben“ für die Phase der Jugend bzw. Adoleszenz formuliert. Aus einer intergenerationalen Perspektive auf Adoleszenz ist dieses Konzept dahingehend kritisiert worden, dass es wie eine Art ‚Aufgabenkatalog‘ erscheint, dessen Abarbeitung die erwachsene Generation von der heranwachsenden erwartet und die zugleich als Voraussetzung für „den Zutritt in die weite Welt der Erwachsenen“ (Schmidt-Bernhardt 2008, 148) fungiert. Zu Unrecht weniger im Fokus liege, „welche im erweiterten Sinne generativen Voraussetzungen oder Leistungen der Erwachsenenkultur Jugend oder adoleszente Individuationsprozesse ermöglichen“ (King/Koller 2009, 14, Herv. i. O.). Die Kritik an dem sozialpsychologischen Konzept Havighursts kann geteilt werden, dennoch sollen die ‚Aufgaben‘ im Folgenden ausgeführt werden, ohne diese aber im oben genannten Sinne verstanden wissen zu wollen. Vielmehr sind diese als virulente Themen der Adoleszenz zu betrachten, deren ‚Bearbeitungspotenz‘ von der Chancenstruktur des psychosozialen Möglichkeitsraumes abhängt. In den folgenden und ähnlichen Formulierungen finden sich die Themen, die von Havighurst aufgezählt wurden, in sämtlichen Texten zur Adoleszenz, wenn auch häufig ohne Verweis auf ihre Ausgangsquelle (vgl. z.B. Günther 2009). In der Adoleszenz gelte es demnach,     

das bestehende Verhältnis zu den Eltern zu modifizieren und adoleszente Ablösungsprozesse zu vollziehen, den gewandelten Körper zu akzeptieren und die eigene Geschlechtlichkeit auszugestalten, tragfähige Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts aufzubauen und erste Liebesbeziehungen einzugehen, ein eigenes Wert- und Moralsystem zu entwickeln und den beruflichen Weg in Abwägung von Wunsch und Wirklichkeit zu planen und umzusetzen (vgl. Havighurst 1949; Remschmidt 1992, 141).

Den Kern der adoleszenten Auseinandersetzungen mit den genannten virulenten Themen bildet King (2013) zufolge die Beschäftigung mit Fragen nach der eigenen Identität: „Wer bin ich? Woher komme ich? Wer will ich sein?“ (101, Herv. i. O.). Des Weiteren gehe es aber auch um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein, also Fragen nach „Ursprung und Geschichte“, wie: „Wie bin ich geworden, was ich bin? Was werde ich selbst sein und hervorbringen?“ (ebd., 104, Herv. i. O.) und um das Infragestellen familialer Erwartungen, sozialer Rollen und gesellschaftlicher Vorstellungen: „Inwiefern will ich die Erwartungen meiner sozialen Umgebung erfüllen? Will ich die- oder derjenige sein, die oder den andere in mir zu sehen wünschen?“ (ebd., 103, Herv. i. O.).

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In seinem Stufenmodell zur psychosozialen Entwicklung hat Erikson zu Beginn der 1950er-Jahre den Dualismus zwischen Identität und Identitätsdiffusion als fünftes Stadium und damit zur zentralen Krise und Herausforderung des Jugendalters erklärt (vgl. Erikson 1999, 255f). Damit verbunden war die Annahme, dass die entwickelte Identität ein stabiles Fundament darstelle, das sich im Erwachsenenalter nicht mehr wesentlich verändere. Heute herrscht hingegen wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Identitätsbildung nicht mit einem bestimmten Alter abgeschlossen sei. Identität wird nicht als feststehendes Endresultat verstanden, sondern als ein sich lebenslang vollziehender Prozess in einem dialektischen Zusammenspiel von innen und außen (vgl. z.B. Streeck-Fischer 2005, 21). Keupp et al. (2006) definieren Identität für individualisierte, postmoderne Gesellschaften „als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient“ (60). King (2103) ergänzt, dass Identität die Kompetenz bezeichne, „in einem dynamischen Konfliktfeld zwischen Selbst und inneren oder äußeren Objekten immer wieder Formen von Kohärenz, Kontinuität und Konsistenz zu erreichen“ (102). Dabei gehe es nicht primär darum, „Ambivalenzen und Widersprüche aufzulösen, sondern diese in ein für eine Person akzeptables Spannungsverhältnis zu bringen“ (Keupp et al. 2006, 263). Denn Ambivalenzen sollen nicht nur als ‚Nicht-Lösung‘ verstanden werden, sondern prospektiv auch als Herausforderungen für die Weiterentwicklung von Identität und somit als ein fundamentaler Bestandteil gelungener Identitätsarbeit (vgl. ebd.). King (2011) warnt aber davor, einen Identitätsbegriff zugrunde zu legen, der beliebig viele Wahlmöglichkeiten für immer neue Zusammensetzungen und Veränderungen der Identität suggeriere, so wie es etwa die Termini ‚Bastelbiographie‘ oder ‚Patchworkidentität‘ nahelegten; das Verhältnis von „Determiniertheit und der Möglichkeit der Neuschöpfung“ (80) sei komplexer. So würden mit der Zeit individuell in jeder Biographie bestimmte Themen nachhaltig bedeutsam werden, die die Person mit offenen Fragen, Bürden oder Rätseln konfrontierten, „hinter denen sich oft familial Unbewältigtes und mitunter Traumatisierungen verbergen“ (ebd.). Ausgehend von diesem Konzept, auch und gerade mit den Anmerkungen von King, muss Identitätsforschung heute als Prozessforschung betrieben werden. Dennoch ist davon auszugehen, dass die intensivste Auseinandersetzung mit Fragen nach der eigenen Identität während der Adoleszenz stattfindet und „der Erwachsenenstatus erreicht ist, wenn die erörterten Themen, die bei der Identitätsbildung eine zentrale Rolle spielen, allmählich in den Hintergrund treten“ (Günther 2009, 76). „Wer bin ich? und wer will ich sein? sind […] zunächst einmal genuin adoleszente Fragen“ (King 2013, 102), da sie vorher, wie gezeigt, aufgrund der kognitiven Entwicklung noch nicht möglich sind und da es der Kern der Adoleszenz ist, sich reflexiv „mit der eigenen Person, den eigenen Bedürfnissen,

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Standpunkten und Fähigkeiten sowie den Erwartungen und Anforderungen der Umwelt“ (Günther 2009, 76) zu befassen. Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht Durch den körperlichen Wandel ab der Pubertät und die Geschlechtsreife, muss eine „Beschäftigung mit dem sich verändernden Körper und den damit verbundenen Bedeutungen“ (Günther 2009, 70) stattfinden. Die physischen Veränderungen müssen sukzessive in „ein neues Körperbild“ (Leuzinger-Bohleber/Mahler 1994, 23f) integriert und der herangewachsene Körper psychisch angeeignet werden. Dabei gilt es auch, den Verlust der kindlichen Welt zu verarbeiten und eine Wiederherstellung der „selbstverständliche[n], selbstgewisse[n] Verankerung im Körper-Selbst auf neuem Niveau“ (King 2013, 193f) zu erreichen. Die mit der Pubertät beginnende unwiderrufliche Entwicklung zum Mann oder zur Frau macht es erforderlich, sich mit dem eigenen Geschlecht auseinanderzusetzen und eine weibliche bzw. männliche Identität aufzubauen (vgl. Bosse 2000). In der Geschlechterforschung hat sich dabei eine Perspektive durchgesetzt, die „die Geschlechtsidentität als eine zu erwerbende oder zu entwerfende“ (King 2000, 92, Herv. i. O.) und weniger als eine vorausgesetzte betrachtet. Geschlecht wird als eine soziale und relationale Kategorie sowie als Resultat der Aneignung und Ausgestaltung von Geschlecht im Kontext biographischer Erfahrungen gesehen. Die Adoleszenz wird dabei als „heiße Phase der Produktion der Geschlechtlichkeit“ (King 2013, 81) verstanden, in der Veränderungen der Geschlechterbedeutungen zugleich am ehesten möglich sind (vgl. Günther 2009, 70). Denn in dieser Phase kann sich die Möglichkeit entwickeln, „konventionelle Bedeutungen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ psychisch zu dekonstruieren und auf psychosozialer Ebene zu transformieren“ (King 2000b, 92). Die Fragen nach der eigenen Identität (‚Wer bin ich? Wer will ich sein?‘) können also um die Frage: „In welchem Sinne will ich mich als ‚Frau‘ oder ‚Mann‘, als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ verstehen?“ (King 2013, 103, Herv. i. O.) erweitert werden. Das Potential zum kreativen Umgang mit diesen Fragen ist eingebettet in die familial vorherrschenden und gelebten Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit und den mit ihnen verbundenen Möglichkeiten oder Einschränkungen und wird zudem von den gesellschaftlich vorhandenen Spielräumen zur Veränderung bestehender Geschlechterentwürfe, medialen Konstruktionen und Gleichaltrigenidealen bestimmt (vgl. Zölch et al. 2012, 21). King (2013) weist darauf hin, dass Geschlechterbedeutungen oder Weiblichkeits- und Männlichkeits-Bilder auf verschiedenen Ebenen intergenerational vermittelt seien und die Auseinandersetzung mit dem eige-

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nen Geschlecht „auch diejenige mit der Generativität, mit Ursprung und Geschichte“ (103) beinhalte. In diesem Sinne bedingen sich die Generations- und Geschlechtsstrukturierungen der Adoleszenz wechselseitig (vgl. ebd., 137). Der psychosoziale Prozess der Geschlechtsaneignung ist mit Trennungs- und Individuationsthematiken verknüpft und für beide Geschlechter besteht die Anforderung, die „väterlichen und mütterlichen Identifizierungen“ (King 2012, 41, Herv. i. O.) zu integrieren. Für diesen Prozess sind die familialen Beziehungen im Allgemeinen, die Qualität der Paarbeziehung der Eltern sowie ihr Auftreten als generatives Paar von entscheidender Bedeutung. Die Eltern repräsentieren Lebensentwürfe, „die sie als Mann oder Frau und als Paar gemeinsam realisieren konnten oder wollten“ (King 2013, 125, Herv. i. O.) und sind damit ein relevanter Ausgangspunkt für die adoleszente Ausgestaltung ihrer Söhne und Töchter (vgl. ebd.). Darüber hinaus stellt der Vater (oder eine andere nahestehende männliche Bezugsperson) für männliche Adoleszente eine relevante Figur für die Transformation der primären kindlichen Bindungen dar, die zumeist stark an das mütterliche Liebes- und Identifikationsobjekt geknüpft sind (vgl. King 2013, 39; 144 mit Bezug auf Bosse 2000). Der Vater kann die neue – auch geschlechterbezogene – Selbstverortung des Sohnes durch eine fürsorgliche und konstruktiv-nahe Beziehung erleichtern. Zugleich kommt ihm eine große Bedeutung als „Repräsentant erwachsener Männlichkeit“ (Flaake 2005, 117) zu. Die Auseinandersetzung mit dem Vater und seinem Modell von Männlichkeit spielt eine zentrale Rolle und wirkt sich prägend auf die Identitätsbildung des Heranwachsenden aus (vgl. Zölch et al. 2012). Streeck-Fischer (2005) führt aus, dass es in dieser Phase zu einer Entwertung der Mutter käme, die dazu diene, „dem Abhängigkeitssog und der Gefahr der Widerverschlingung durch das mütterliche Objekt zu entgehen“ (32). Der Vater hingegen erscheine für Heranwachsende beiderlei Geschlechts als „Vorbild für Befreiung und Autonomie“ (ebd.) und der männliche Adoleszente erfahre durch die Verbindung zum insgeheim idealisierten Vater Schutz vor Entwertung. Häufig gelinge es den Heranwachsenden (wenn überhaupt) erst am Ende der Adoleszenz, sich mit den realistischen Bildern von Vater und Mutter auseinanderzusetzen und zu versöhnen und infolgedessen die Mutter aus der Entwertung und den Vater aus der Idealisierung zu entlassen (vgl. ebd., 33). 2.1.3 Ablösung und Generativität Die Biographie eines Menschen entwickelt sich in Kommunikations- und Interaktionsprozessen mit anderen. Dabei sind die familialen Beziehungen und die Familiengeschichte (im Kontext historisch-gesellschaftlicher Bedingungen) als Rahmung, Hintergrund und Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte in besonderem

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Maße wirksam (vgl. Böker/Zölch 2017a, 1). So stellt die Familie auch die wesentliche Ausgangsbasis der adoleszenten Entwicklungen dar, vor allem die in ihr gesammelten primären Beziehungserfahrungen sowie die vorherrschenden Deutungs-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, welche die Erfahrungs- und Orientierungsgrundlage des Aufwachsens eines Kindes legen (vgl. King 2013, 121). Familie kann als besondere Form der sozialen Kleingruppe begriffen werden, in der Angehörige aus mindestens zwei Generationen durch einen relativ dauerhaften Lebenszusammenhang verbunden sind, der wiederum in ein größeres Verwandtschaftsnetz eingebunden ist (vgl. Krüger-Portratz 2013, 15) und für die Kindergeneration einen erzieherischen und sozialisatorischen Kontext bildet (vgl. Ecarius 2002, 37; Hofer et al. 2002, 6). Die Herkunftsfamilie ist die erste und bedeutsamste Sozialisationsinstanz (vgl. Kreppner 2002) und beeinflusst durch ihre Zusammensetzung sowie die ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen die Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten des heranwachsenden Individuums. Somit werden in der Familie die ersten Weichen für den späteren „Entwicklungs(Lebens)verlauf“ (Grundmann 1992, 50) gelegt. Idealtypisch wurde darunter die ‚Normalfamilie‘ verstanden, bestehend aus einem verheirateten Elternpaar mit Kind(ern). Im Zuge der Pluralisierung der Lebens- und Familienformen seit den 1970er-Jahren und deren zunehmender gesellschaftlicher Anerkennung (vgl. Beck 1986), werden nun auch unverheiratete Paare mit Kind(ern), Alleinerziehende, Eltern mit adoptiertem/n Kind(ern), gleichgeschlechtliche Elternpaare oder Patchwork-Konstellationen als Kernfamilie bezeichnet.12 Bedeutsam kann es auch sein, den erweiterten familialen Kreis zu betrachten, also z.B. (Ur-)Großeltern, Onkel oder Cousinen. „Die Familie unterscheidet sich von anderen Kleingruppen durch die […] Mehrgenerationenperspektive und die damit implizierte existentielle Verbundenheit“ (Cierpka 2002, 151). Der Begriff ‚Generation‘ kann in unterschiedlichen Bedeutungsfacetten verwendet werden (vgl. Ohad et al. 2008). In Bezug auf die Generationenabfolge innerhalb von Familien- und Verwandtschaftssystemen (‚Lineage‘) umfasst eine Generation jeweils die Personen, die die gleichen Positionen und Rollen einnehmen (z.B. Großeltern, Eltern, Kinder) (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2012, 20f). Die Generationen einer Familie unterscheiden sich hinsichtlich des Alters und der Zugehörigkeit zu bestimmten Geburtsjahrgängen und ihre dadurch je spezifischen historischen Erfahrungen des Aufwach-

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In den meisten Ausführungen adoleszenter Theorien wird auch heute noch (stillschweigend) von der traditionellen Kleinfamilie ausgegangen, d.h. es ist stets die Rede von den beiden geschlechtlich unterschiedlichen und leiblichen Elternteilen und ihrem heranwachsenden Kind. Weiterführend wäre es, die Adoleszenztheorie hinsichtlich der pluralisierten Familienkonstellationen zu erweitern, was jedoch an anderer Stelle zu leisten ist.

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sens (z.B. ‚68er-Generation‘) (vgl. ebd., 20ff). Auch die „Generationenbeziehungen innerhalb der Familie unterliegen ihrerseits historischen Einflüssen und werden durch den je gegebenen soziokulturellen Hintergrund beeinflusst“ (ebd., 22f). So kann z.B. davon ausgegangen werden, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern der ‚Flakhelfergeneration’ (ca. 1926-1928 Geborene) in der Regel ein anderes war als das zwischen Eltern und Kindern der ‚Wendegeneration’ (geboren zu Beginn der 1970er-Jahre). Familien sind nicht statisch, sondern stellen ein dynamisches Gebilde mit wechselseitig aufeinander bezogenen Individuen dar. Zu Veränderungen der Familiendynamik kommt es durch besondere Ereignisse, wie beispielsweise die Geburt oder Einschulung eines Kindes, den Auszug oder Tod einer Person (vgl. Scheller 1989, 151). Ein ebensolches Ereignis stellt die Adoleszenz des Sohnes oder der Tochter dar. Das „adoleszente Ringen um Individuation bringt das jeweils eingespielte Gleichgewicht innerhalb einer Familie strukturell in eine Krise und erfordert die Herausbildung neuer kompetenter Bewältigungsformen, mit deren Hilfe sich die Familie als interaktionelle Einheit auf einem neuen Niveau organisiert und die Krise meistert“ (King 2013, 140).

In traditionalen Gesellschaften werden solche Veränderungen überwiegend institutionell oder rituell bewältigt. In modernisierten Gesellschaften (wie Deutschland) hingegen sind „auf psychischer und interaktioneller Ebene differenzierte Prozesse der Umgestaltungen, Abgrenzungen und Neukonstruktion der primären Bindungen notwendig“ (ebd., 121, Herv. i. O.). Dies macht deutlich, dass adoleszente Ablösung nicht als einseitige Entwicklungsaufgabe der Heranwachsenden verstanden werden darf, sondern als intergenerationales und insofern intersubjektives Geschehen betrachtet werden muss: Die Möglichkeiten für Ablösungsprozesse und daraus resultierende Eigenpositionierungen variieren dabei in Abhängigkeit der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und der elterlichen generativen Kompetenzen (vgl. King 2002; 2010a). Dabei ist die Ablösung von den Eltern nicht mit dem Auszug aus dem Elternhaus gleichzusetzen. „Die äußeren Faktoren alleine sagen noch nichts über den inneren Trennungsprozess“ (Streeck-Fischer 2005, 14) und können nicht anzeigen, inwieweit auch psychisch eine Lösung aus den familialen Verstrickungen stattgefunden hat (vgl. Erdheim 2015, 8). Ein frühes und abruptes Verlassen der elterlichen Wohnung muss nicht mit einer innerlich vollzogenen Umgestaltung der Beziehung einhergehen und andersherum wäre es möglich, dass ein Heranwachsender, der aus ökonomischen Gründen weiter im Elternhaus lebt, diesen Schritt bereits vollzogen hat. Ebenso meint Ablösung keine emotionale Distanzierung oder Auflösung der Beziehung zu den Eltern, wie ältere Ansätze der Ablöse- oder Konflikttheorien es formuliert haben (vgl. z.B. Freud 1958; Blos 1977). Auch eine geäußerte große Distanz zu den Eltern muss nicht für

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eine gelungene Ablösung sprechen. Im Gegenteil sind negative Gefühle, wie brennende Wut auf oder Enttäuschung über die Eltern, ein Zeichen für eine anhaltend starke Bindung, wenn auch in einem verstrickten und destruktiven Sinne. Die Beziehung bleibt selbst bei deren Abbruch prinzipiell unkündbar (vgl. Oevermann 2001, 88) – der Vater bleibt der Vater, egal wie sehr man ihn hasst – sodass eine Distanzierung auch immer nur bis zu einem gewissen Grad überhaupt realisiert werden kann.13 Hingegen sind Krisen an sich nicht automatisch mit misslungener Ablösung gleichzusetzen. Die Fähigkeit von Eltern und Kind, Krisen zuzulassen und durchzustehen, kann im Verlauf zu einer größeren Stabilität führen (vgl. King et al. 2011). Bei der adoleszenten Ablösung im hier gemeinten Sinne geht es demnach nicht um die Aufhebung von Bindung, sondern um die Transformation der bestehenden Beziehungen und des Generationenverhältnisses und das Erlangen einer Balance von Autonomie und Verbundenheit. Autonomie meint, dass „eine Person in den Formen ihrer Lebensäußerungen selbständig und unabhängig von anderen agiert oder sich begreift“ (Hofer/Pikowsky 2002, 247). Mit Verbundenheit ist dabei „ein stabiles Gefühl der psychischen Nähe und Zugehörigkeit“ (ebd., 246) gemeint. Die Umgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung hat eine Bearbeitung und Neukonstruktion familialer Erfahrungen zur Voraussetzung (vgl. King 2013, 124). Dabei sind Aspekte von Autonomie bedeutsam, aber gleichzeitig sollen Bezogenheit und Nähe bewahrt bleiben (vgl. Walper 2003).14 Stierlin (1989) nennt die Synthese dieser beiden Bestrebungen „bezogene Individuation“ (38). Herausforderungen für die Elterngeneration Komplementär zu den Anforderungen der Heranwachsenden gilt es auch, den Beitrag der Eltern im Prozess der adoleszenten Ablösung zu betrachten (vgl. King 2010a, 14). Die Erwachsenengeneration muss den Individuationsprozess der Adoleszenten zulassen und fördern (vgl. Schubert 2005). Von Bedeutung ist ihre Kompetenz, ein höheres Maß an Autonomie zuzugestehen (vgl. Hofer/Pikowsky 2002, 13 Daran ändert nicht einmal der Tod eines Elternteils etwas, denn auch nach dem physischen Ableben hört die psychische Auseinandersetzung mit Vater oder Mutter nicht auf, was sogar noch durch das Bewusstsein gesteigert werden kann, dass eine kritische Aussprache von Angesicht zu Angesicht nicht mehr möglich ist. 14 Auch wenn der Aspekt in dieser Arbeit nicht bearbeitet werden kann, sei eine Frage hierzu festgehalten: Wenn davon die Rede ist, dass eine (modifizierte) Nähe bewahrt bleiben soll, wird davon ausgegangen, dass diese bereits seit der Kindheit besteht. Was ist aber, wenn es sich um eine problematische Eltern-Kind-Beziehung handelt, in der eine sichere emotionale Basis nie entstehen konnte? Ist eine produktive Ablösung damit automatisch ausgeschlossen, da keine beibehaltene Bezogenheit realisiert werden kann? Oder kann sie, z.B. über signifikante Andere gelingen?

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244), die intergenerationalen Ambivalenzen zu ertragen und nicht störend oder gar abwertend und destruktiv in die Selbstfindungsprozesse der Kinder einzugreifen (vgl. King 2010a, 15); Neues muss gewährt werden. Der adoleszente Möglichkeitsraum darf von den Eltern nicht für sich selbst okkupiert und den Kindern enteignet werden, etwa indem die Eltern aufgrund des Fehlens eines eigenen adoleszenten Entwicklungsraumes, nun mit Neid auf die Freiheiten und Möglichkeiten des Kindes schauen und „sich selbst adoleszente Verhaltensmuster aneignen und ihre bisherige Lebensgestaltung infrage stellen“ (Streeck-Fischer 2005, 39). Relevant sind vor allem die Zeit- und Spielräume, die den Heranwachsenden „für die Erkundung der äußeren Welt wie für die ausgiebige Selbsterforschung“ (King 2013, 109) zugestanden werden. Fürsorge und Sorge für die nachwachsende Generation beinhalten, den Adoleszenten ihre Freiräume zu lassen und Abgrenzungen zu ermöglichen, aber zugleich „auch zur ,Verwendung‘ (im Sinne Winnicotts 1965) durch die adoleszenten Kinder zur Verfügung zu stehen“ (King 2013, 70) und „einen sicheren Hafen zu bieten, der Vertrauen und Kraft verleiht, den Gang hinaus in die Welt zu wagen“ (King 2010a, 15). Zum einen sollen die Eltern ihren Kindern in der Adoleszenz also ‚Reibungsfläche‘ bieten, zum anderen werden sie von diesen aber weiterhin als ‚sichere Basis‘ benötigt. Dies bedeutet, „die Heranwachsenden weder ihres Spielraums, noch ihres erwachsenen Gegenübers zu enteignen“ (ebd). Für diese generative Kompetenz der Eltern ist zentral, wie sich ihre eigene Adoleszenz gestaltet hat. Durch die Ablösung der Kinder werden Vater und Mutter an eigene Ablösungsthemen erinnert, was sie dazu zwingt, sich mit dem biographisch Vergangenem und den Wünschen, die sie einst an ihre Eltern gerichtet haben, auseinanderzusetzen und sich insgesamt neu zum eigenen adoleszenten Aufbruch zu positionieren (vgl. Schubert 2005, 17). Cirillo et al. (1998) zeigen, dass bei Eltern, die im Verlauf ihrer eigenen Adoleszenz nur eine prekäre Individuation vollziehen konnten (z.B. da sich ihre Trennung von der Kindheit aufgrund ökonomischer Gründe oder früher Elternschaft als drastischer Einschnitt vollzog), „die Übernahme einer generativen Haltung mit Beginn der Elternschaft“ (King 2013, 143) erschwert sei und die ‚Reaktivierung‘ der Ablösungsthematik durch die Adoleszenz der Kinder zu einer Krise führen könne. In einigen Fällen, so die Autoren weiter, würden die Eltern das „Kind zur Wiedergutmachung der in der eigenen Kindheit erlittenen Entbehrungen“ (Cirillo et al. 1998, 149. zit. nach King 2013, 143) benutzen. Ebenso kann der Heranwachsende mit Aufträgen der Eltern belegt werden, etwa so zu werden (z.B. bildungserfolgreich), wie sie es selbst gern geworden wären. Richter (1960) hat solche Verstrickungen als ‚Rollensubstitute‘ (des Ich-Ideals) bezeichnet, Stierlin (1975) spricht von ‚Delegationen‘. Indem die Eltern ihre „Kinder als eine Art Verlängerung ihrer selbst betrachten, befriedigen die Eltern

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ihre Bedürfnisse nach Identität und Identifizierung. Dies verhindert jedoch die Individuation und Bildung einer eigenen Identität bei den Kindern“ (Wardi 1997, 59; vgl. auch Mollenhauer et al. 1975, 133ff). Die Identitäts- und Lebensthemen der Eltern werden auch ‚indirekt wirksam‘, denn Adoleszente greifen diese „mit seismographischer Intuition“ (King 2013, 127) auf. Entweder als Erfüllung, „indem sie die Fäden unrealisierter Lebensprojekte der Eltern neu aufnehmen“, als Affirmation, „indem sie an bereits Geschaffenes oder Vorhandenes auf alte oder neue Weise anknüpfen“ (ebd.) oder als Negation, indem sie den Wunsch verfolgen, auf keinen Fall so zu werden oder das gleiche Schicksal zu erleiden, wie die Eltern. Problematisch ist es ebenfalls, wenn die Eltern nicht bereit sind, sich von ihrem Kind zu lösen bzw. zu akzeptieren, dass ihre Bedeutsamkeit für die Heranwachsenden sinkt, die zusammen verbrachte Zeit weniger wird und die gemeinsame Beziehung eine neue Form annimmt. „Die Loslösung des Jugendlichen von den Eltern bedeutet immer auch eine Loslösung der Eltern von ihrem jugendlichen Kind und mündet nicht selten in einer Familienkrise“ (Streeck-Fischer 2005, 14). Es gibt Konstellationen (z.B. Eltern, die keine oder kaum innige Bindungen zu anderen Menschen haben), in denen dies Vater und/oder Mutter besonders schwerfällt. Solche Eltern, so Stierlin (1975, 63) vermittelten ihrem Kind (zumeist verdeckt) den Eindruck, dass sie nur für es leben und auch nur durch es leben können. Dies könne bei dem Kind zu einer ‚Ausbruchsschuld‘ führen, die es verunmöglicht, die Eltern in Gedanken oder tatsächlich zu verlassen und „zu selbstzerstörerischem Verhalten oder heroischer Selbstaufopferung Anlaß gibt“ (ebd., 64). Der Eindruck des/der Adoleszenten, in welcher Situation er oder sie seine Eltern zurücklassen würde, bestimmt demnach mit darüber, wie leicht oder schwer ihm oder ihr die Ablösung fällt. Durch das Adoleszentwerden der Kinder wird die erwachsene Generation auch mit ihrer eigenen Begrenztheit konfrontiert, an Wünsche erinnert, die sie nicht verwirklicht haben und auf Lebensthemen gestoßen, die nicht in erhoffter Weise umgesetzt werden konnten (vgl. King 2013, 139). „‚Ablösung von den‘ heißt immer auch ‚Ablösung der‘ vorausgehenden Generationen, so dass die adoleszenten Generationenverhältnisse strukturell ambivalent sind“ (King 2010a, 13 mit Bezug auf Mannheim 1928, Herv. i. O.). „In modernisierten Gesellschaften trifft dies in besonderem Maße zu, insofern Adoleszente im Zuge des rascheren sozialen Wandels umso mehr den Bruch mit der Tradition markieren“ (King 2013, 139). Die Eltern müssen lernen, damit umzugehen, dass sie ihre eigene Weltsicht z.T. relativieren oder abschaffen, indem sie die adoleszenten Entwicklungen ihrer Kinder ermöglichen und befördern (vgl. King 2010a, 15). Verweigern die Eltern eine generative Haltung ist es unter Umständen möglich, dass ein signifikanter erwachsener Anderer dies als Ersatzfigur kompensiert und sich die Adoleszenz

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des Heranwachsenden quasi über diesen entfaltet. Diese Rolle könnte z.B. von Verwandten oder pädagogischen Bezugspersonen (wie LehrerInnen) eingenommen werden. „So bieten Lehrer oder Ausbilder beispielsweise neue Identifizierungsmöglichkeiten, aber auch Projektionsflächen aggressiver und libidinöser Übertragungen“ (Bosse/King 1998, 223). Die Wirkung bedeutsamer Anderer und ihr Potential für die Adoleszenz sind allerdings noch nicht hinreichend erforscht. Möglicherweise können auch LiebespartnerInnen diese Funktion übernehmen. Das Eingehen einer festen Partnerschaft wird z.T. als ein entscheidender Moment der Ablösung aus der Herkunftsfamilie betrachtet (vgl. Keupp 2006, 152) und Reich et al. (2008) sprechen davon, dass die Partnerwahl zur Chance werden könne, „das bisher ‚Unerledigte‘ an den Partner, die gemeinsame Beziehung, die Kinder oder die Schwiegerfamilien zu ‚delegieren‘“ (277). Die genauen Mechanismen und die Frage, ob dies für bis dahin Nicht-Abgelöste häufig eher als ein Schritt von einer ‚Unabgelöstheit‘ in die nächste zu sehen ist, warten noch auf Erforschung. Adoleszentes Anerkennungsvakuum Der Weg zur Individuation und der dazu nötigen Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit kann für Heranwachsende „idealtypisch als ein Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung“ (King 2010a, 14, Herv. i. O.) bezeichnet werden. Die mit der Ablösung verbundene psychische Herausforderung liege King (ebd.) zufolge beim ersten Schritt, der Trennung, „im Abschied von der Welt der Kindheit und den kindlichen Beziehungen“ (ebd., 14). Für die Umgestaltung sei die Fähigkeit von Bedeutung, „Aspekte des Bestehenden infrage stellen zu können und die damit verbundenen Ängste und möglichen Schuldgefühle auszuhalten“ (ebd.). Die adoleszente Ablösung münde schließlich im dritten Schritt, der Neuschöpfung, also der Potenz, „aus den vorhandenen Ressourcen das Vergangene und das Gegenwärtige zu einem neuen, flexiblen Lebensentwurf zu verknüpfen“ (ebd.). Das bedeutet „nicht zwangsläufig, etwas oder gar alles anders zu machen, es bedeutet vielmehr, den eigenen Lebensentwurf in einer Logik produktiven Eigensinns zu gestalten – anstatt vorwiegend defensiv eigene Potenziale unausgeschöpft zu lassen“ (King 2017, 16f). Es geht demnach um die Entwicklung von Wert- und Lebensvorstellungen, die von der Zustimmung der Eltern unabhängig sind (vgl. Streeck-Fischer 2005, 15). „Im günstigen Fall werden dabei eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen mit verallgemeinerten Idealvorstellungen verknüpft und zu beruflichen Zielen verdichtet“ (ebd., 16). Das Fassen von Zukunftsvorstellungen und Plänen für die berufliche Zukunft stellt ein entscheidendes Thema der Adoleszenz dar.

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Im Zuge des ersten Schrittes kommt es zum Einsturz des idealisierten Bildes, das aus Zeiten der Kindheit von den Eltern bestand sowie des infantilen Glaubens an die elterliche Omnipotenz (vgl. ebd., 18). Diese Entmachtung der Eltern kann das Selbstsystem der Heranwachsenden zum Wanken bringen und Ängste, Schuldgefühle, Trauer und Einsamkeitsempfindungen auslösen (vgl. ebd., 33; King 2006, 65). Sich von den idealen Elternbildern der Kindheit trennen zu können, verlangt eine Auseinandersetzung mit den realen Eltern, eine innere Distanznahme und reflexive Betrachtung (familialer Muster) in Hinblick darauf, ihre jeweiligen Stärken und Schwächen realistisch betrachten zu können „und sich potenziell irgendwann einmal mit ihnen und ihrer Unvollkommenheit aus[zu]söhnen“ (Streeck-Fischer 2005, 12). Damit Umgestaltung und Neuschöpfung möglich werden, müssen die Heranwachsenden „phasenweise diejenigen infrage stellen, auf die sie noch angewiesen sind“ (vgl. King 2010a, 14) und es aushalten, dass ihnen aufgrund ihrer Attacken auf das Bestehende die Akzeptanz, Zustimmung und Anerkennung vonseiten der Eltern zeitweilig verweigert wird, was King (2007) anschaulich als „Anerkennungsvakuum“ bezeichnet hat. Die Fähigkeit, auf konventionelle Formen der Anerkennung verzichten zu können, sei wichtig für die Individuation, denn Neues könne nur entstehen, wenn eingeschliffene Wege verlassen werden (vgl. King 2013, 105). Wischmann (2010) weist darauf hin, dass gewisse Rahmenbedingungen jedoch erfüllt sein müssen, damit das Anerkennungsvakuum produktiv wirksam sein kann. So sei es von entscheidender Bedeutung, dass es auf einer grundlegenden Anerkennung des Kindes in den intergenerationalen Beziehungen fußt (vgl. ebd., 288). Konstitutiv für eine positive Eltern-Kind-Beziehung ist die primäre emotionale Anerkennung des Kindes (vgl. Honneth 2003) in Form einer bedingungslosen affektiven Zugewandtheit, die nicht an andere Voraussetzungen wie z.B. Leistung geknüpft ist (vgl. Oevermann 1996, 113). Diese primäre emotionale Anerkennung ist in ihrer stützenden Funktion nicht ersetzbar und bleibt auch im Verlauf des Aufwachsens bedeutsam. Zwar könne, so Wischmann (2010), eine Verweigerung von Anerkennung Anlass für transformative Prozesse sein, doch nur dann, wenn der mit sich ringende Jugendliche nicht existentiell infrage gestellt werde (vgl. 92). Gehäufte Erfahrungen von Verkennung und Missachtung könnten dazu führen, dass sich der oder die Heranwachsende nicht mehr als handlungsfähig und wirkmächtig empfindet, wodurch der adoleszente Möglichkeitsraum erheblich eingeschränkt werde (vgl. ebd., 287). Kann das Anerkennungsvakuum nicht innerhalb der intergenerationalen Beziehungen bearbeitet werden, breche es eventuell an anderer Stelle destruktiv aus, etwa im Konflikt mit dem Gesetz (vgl. ebd.). Angesichts der Entmachtung der Eltern und des Anerkennungsvakuums werden kompensatorische Gleichaltrigenbeziehungen besonders wichtig (vgl. King 2009a) und können erwachsene signifikante Andere hilfreich wirken.

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Bedeutung der Gleichaltrigen „Freundschaften spielen während des ganzen Lebens eine wichtige Rolle“ (Reinders 2003, 1). Eine besondere Bedeutung kommt ihnen jedoch im Kindes- und Jugendalter zu, da sie sozialisatorische Aufgaben und Funktionen übernehmen, ein großes Lern- und Entwicklungspotential bergen (vgl. Rohlfs 2010, 61) und „als eine der Voraussetzungen für eine gute Entwicklung“ (Krappmann 2002, 269) betrachtet werden. Freunde können – wie auch die Familie – soziale und emotionale Unterstützung geben, Hilfe bieten und freudvolle Aktivitäten teilen, aber auch Anlass zu Konflikten, Ängsten oder Verletzungen geben (vgl. Reinders 2003, 1). Mädchen pflegen insbesondere dyadische Freundschaften, wohingegen Jungen häufiger in Freundschaftsgruppen zu finden sind (vgl. King 2013, 230). „Offenbar benötigen männliche Jugendliche häufiger geschlechtshomogene […] Strukturen, um die adoleszente Stabilisierung ertragen und Defizite im eigenen Bild der Männlichkeit zu kompensieren“ (King 2013, 267). Peergroups bzw. Gleichaltrigengruppen zeichnen sich durch Freiwilligkeit aus und setzen sich aus Heranwachsenden ähnlichen Alters zusammen, deren Mitglieder Interessen teilen und durch ein freundschaftliches und auf Gleichrangigkeit beruhendes Verhältnis verbunden sind (vgl. Kolip 1993, 74). Im Vergleich zur Eltern-Kind-Beziehung handelt es sich um eine „symmetrische Konstellationen mit gleichberechtigtem Zugang ohne [nennenswerte] Wissens- oder Erfahrungsvorsprünge einer der beiden Seiten“ (Reinders 2010, 127). Die Kontakte zu den Gleichaltrigen erfüllen entwicklungspsychologisch bedeutsame Funktionen und haben eine besondere Relevanz für den Selbstfindungsprozess der Adoleszenz (vgl. King 2013, 230). Das gemeinsame Wir-Gefühl der Gruppe sowie die in ihr gemachten Erfahrungen von „soziale[r] Anerkennung, Sicherheit und Solidarität“ (Hurrelmann 1999, 153) können zu einem „Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit“ (Streeck-Fischer 2005, 41) führen, das dabei hilft, besser mit den adoleszenten Unsicherheiten und Ängsten, etwa in Verbindung mit dem Anerkennungsvakuum, umzugehen. Zudem spielen Gleichaltrige (auch) bei der Verarbeitung von Differenzerfahrungen in adoleszenten Umgestaltungsprozessen eine besondere Rolle (vgl. Amling 2015). Adoleszente treffen sich in der Gleichaltrigengruppe weitgehend unter sich, wobei diese durch die nicht institutionalisierte Form „in mancher Hinsicht den sozialen Raum des adoleszenten Experiments par excellence“ (King 2013, 229, Herv. i. O.) repräsentiert. Ohne oder mit geringer Kontrolle durch Erwachsene, werden in der Peergroup – als einer Art „Übungsfeld“ (Streeck-Fischer 2005, 41) – soziale Spielregeln und Lebensstile erprobt, Handlungskompetenzen eingeübt sowie Normen und Orientierungen in Abgrenzung zur Erwachsenengeneration entwickelt (vgl. King 2013, 230; Streeck-Fischer 2005, 14). Youniss (1994) zeigt auf, dass Heranwachsende die Beziehung zu den Eltern und die zu Gleichaltrigen

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hinsichtlich der Konfliktbereiche, Arten der Konfliktlösung, Gesprächsthemen und Kommunikations- und Verhandlungsstrategien als deutlich different wahrnehmen (vgl. 111). Im positiven Fall können Gleichaltrigenerfahrungen zur Neuschöpfung beitragen, indem durch diese geläufige Beziehungsmuster, eingespielte familiale Selbstverständlichkeiten (vgl. King 2011, 82) und „Aspekte der eigenen Familienbiographie neu erlebt, betrachtet, reflektiert oder einfach besser ertragen werden“ (King 2013, 129). Umgekehrt fließen die familialen Erfahrungen in die Deutungen und Ausgestaltungen von Gruppenprozessen, Freundschaften und Liebesbeziehungen ein (vgl. ebd.). Durch den „Perspektivenwechsel zwischen inner- und außerfamilialen intraund intergenerationellen Beziehungserfahrungen und Kommunikationsschemata [wird] Neues und in diesem Sinne Individuation und Identitätsbildung ermöglicht“ (King 2013, 129, Herv. i. O.). Dies bedeutet jedoch nicht, „dass die Elternbeziehungen oder die soziale Herkunft dadurch bedeutungslos würden“ (ebd., 127). Vielmehr betont King mit Rückgriff auf Youniss (1994), dass weder Ansätze sinnvoll erscheinen, die „davon ausgehen, dass vorrangig die familialen Erfahrungen determinierend seien“ noch jene, „die die Selbstsozialisation in der Gleichaltrigengruppe in den Vordergrund stellen“ (ebd., 128). Stattdessen müsse es gerade darum gehen, die „adoleszente Triade“ (ebd., 122) von Familie, Adoleszenten und Peerbeziehungen zu betrachten und die Verbindungen und Wechselbeziehungen von Gleichaltrigen und familialen Beziehungen in den Fokus zu stellen. Sollte z.B. die elterliche Generativität gänzlich fehlen, so äußert King, können auch die Gleichaltrigenbeziehungen „nicht mehr kompensatorisch und innovativ wirken […], sondern (selbst-)destruktive Prozesse und Wiederholungszwänge verstärken“ (ebd., 145, Herv. i. O.). Zudem besteht die Möglichkeit, dass Heranwachsende keinen Anschluss an eine Peergroup und/oder einzelne FreundInnen finden. Zugehörigkeiten unterliegen nicht allein dem Entscheidungsspielraum des Individuums, sondern werden auch von außen verfügt und beeinflusst (vgl. Mecheril et al. 2003, 106; Schramkowski 2007, 79). Wer dazugehören und Mitglied sein darf, wird über soziale Differenzbildung anhand von bestimmten Zugehörigkeitsmerkmalen bestimmt (vgl. Messerschmidt 2005, 218). Chancen und Risiken von Adoleszenz Die Adoleszenz als eine Zeit der biopsychosozialen Umstrukturierung geht mit der Entwicklung neuer Fähigkeiten einher, es kommt aber auch zum Verlust des bisherigen inneren und äußeren Gleichgewichts. Aus dieser Perspektive stellt die Adoleszenz eine im entwicklungspsychologischen Sinne kritische und potentiell

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riskante Phase des Umbruchs dar (vgl. King 2013, 110). King (2013) geht davon aus, dass Individuation schon „unter günstigen Bedingungen […] einen in mancher Hinsicht schmerzlichen und von Trauer begleiteten Trennungsprozess“ (53) impliziere. Die kritische Herausforderung sei für diejenigen am größten, „die einerseits entwurzelt sind und deren Chancen andererseits marginal sind, sich neu zu verankern“ (53). Schneider et al. (2000) beschreiben die Adoleszenz als „Bruch“ und „durch den Modus der Katastrophe“ (63, zit. nach King 2013, 53) gekennzeichnet. Medizin und Psychotherapie sprechen von Adoleszenz als einer ‚vulnerablen Phase‘. In diesem Zusammenhang werden in der Literatur vielfältige Adoleszenzprobleme benannt, wie z.B. Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Essstörungen, Schulabbrüche, Delinquenz, Gewalthandlungen, leichtsinniges Gruppenverhalten oder Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken (vgl. z.B. Boers/Reinecke 2007; Deegener/Körner 2011; Hagen/Koletzko 2013). Diese Verhaltensweisen können in einer zeitlich begrenzten Phase auftreten, sie können sich aber auch verfestigen, übermächtig werden und eine produktive Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Adoleszenz verunmöglichen. Wohingegen Freud (1967) die Adoleszenz als eine Art Wiederholung früherer Kindheitserfahrungen verstanden hat, infolge derer der bereits eingeschlagene Weg fortgesetzt werde, sieht Erdheim (1982) in Anlehnung an Eissler (1958) in dieser Phase eine „zweite Chance“ der Individuation. Dies bedeutet nicht, dass die Erfahrungen der Kindheit rückgängig gemacht oder ausgelöscht werden, sondern dass sie unter bestimmten Bedingungen neu konstelliert bzw. revidiert werden können (vgl. Kaplan 1991, 387; King 2013, 133f). Wird die Adoleszenz durch eine kreativ-reflexive Auseinandersetzung mit den oben genannten virulenten Themen als „zweite Chance“ wirksam, können frühere lebensgeschichtliche Konflikte und Mangelerfahrungen – mitunter oder phasenweise krisenhaft – bearbeitet und schöpferisch transformiert werden und neue Wege und Lebensformen erprobt werden (vgl. Gansel 2011, 32). Dies bedeutet, „dass die Chancen der Individuation nicht ausschließlich an die primären Beziehungserfahrungen im engeren Sinne gebunden sind, sondern insbesondere auch an die Chancen ihrer Verarbeitung in der Adoleszenz“ (King 2013, 133). Kaplan (1991) hat dafür eine sehr anschauliche Formulierung gefunden: „Die Adoleszenz ist weder eine Wiederholung der Vergangenheit, noch eine bloße Zwischenstation zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie ist vielmehr ein Raum voller Geschichte und Möglichkeiten“ (Kaplan nach Schein 2008, o. S.). In einer positiven Konstellation kann durch das transformative und schöpferische Potential der Adoleszenz Neues entstehen (vgl. Koller 2007).15 Die Entfaltung dieses Potentials kann aber auch ausbleiben und stattdessen können gerade 15 Das Veränderungspotential der Adoleszenz wirkt nicht nur auf individueller Ebene, sondern beeinflusst ebenso gesellschaftliche Prozesse. Es geht nicht nur um die Ablösung der ‚alten Generation‘,

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durch diese Phase des Wandels Selbstwert- und Orientierungskrisen ausgelöst werden (vgl. Streeck-Fischer 1999, 13). Das Kapitel soll mit einem längeren Zitat Kings (2013) geschlossen werden, das verdeutlicht, dass es von der Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraumes abhängig ist, ob Adoleszenz zu Potential oder Risiko wird: „In einem allgemeinen Sinne hängt eine gelungene Konfliktbewältigung zum einen davon ab, ob die Jugendlichen über ausreichende psychische Ressourcen verfügen, vergleichbar dem Proviant auf einer langen Reise – und zum anderen davon, wieviel Hilfestellung sie von außen bekommen. Schließlich stellt sich die Frage, ob Jugendliche überhaupt die Möglichkeit erhalten, eine Reise anzutreten: eine Reise in die Zukunft, die zugleich eine Auseinandersetzung mit Ursprung und Geschichte beinhaltet“ (110).

2.2 Migration Das Wort Migration leitet sich vom lateinischen Verb ‚migrare‘ für auswandern ab (vgl. Stowasser et al. 1994, 316). Treibel (2008) definiert Migration als einen „auf Dauer angelegte[n] bzw. dauerhaft werdende[n] Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen“ (21). Findet die Wanderung innerhalb eines Gebietes statt, wird von Binnenwanderung gesprochen. Beim Überschreiten von Staatsgrenzen wird diese als Auswanderung (aus Perspektive des Herkunftslandes) bzw. als Einwanderung (aus Sicht des Aufnahmelandes) bezeichnet. Um solche grenzüberschreitenden Migrationen soll es im Folgenden gehen. 2017 leben in Deutschland etwa 19,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, von denen 51 Prozent die deutsche und 49 Prozent eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Etwa 2/3 davon (13,2 Mio.) verfügen über eigene Migrationserfahrungen, bei dem in Deutschland geborenem Drittel leitet sich der Migrationshintergrund aus dem Migrationsstatus mindestens eines Elternteils ab (vgl. Statistisches Bundesamt 2018). Bei der Altersgruppe der unter 25-Jährigen liegt der Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund bei 28,3 Prozent und damit deutlich höher als in der gesamten Bevölkerung. Dabei verfügt die Mehrzahl von diesen (75,7 Prozent) nicht über eigene Migrationserfahrungen (vgl. BMFSFJ 2013, 85). Von den unter 25-Jährigen mit eigener Zuwanderungsgeschichte sind

sondern auch um die Begründung einer ‚neuen Generation‘ (vgl. Mannheim 1928; King 2010a). Somit wohnt der Adoleszenz zudem ein entscheidender Faktor für gesellschaftliche Modernisierungsprozesse inne (vgl. Günther 2009, 79; Merkens 2012).

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45,9 Prozent vor dem Schuleintritt nach Deutschland gekommen, 19,9 Prozent befanden sich zu dem Zeitpunkt im Grundschulalter, 17,6 Prozent waren in dem Alter, „in dem der Besuch einer weiterführenden Schule ansteht“ (ebd., 86) und 16,4 Prozent schließlich waren bereits 16 Jahre und älter (vgl. ebd.).16 Bereits diese wenigen Angaben verdeutlichen, „dass ‚Migration’ […] sehr Unterschiedliches beinhalten kann – je nachdem, wer wann mit welchem Motiv aus welchem Land in welche Einwanderungsgesellschaft gewandert ist, und je nachdem, ob die Kinder der ‚ersten’, ‚zweiten’ oder folgenden Generation angehören“ (King/Koller 2009, 11). Die jüngere (sozial-)wissenschaftliche Betrachtung des Themas Migration richtet ihren Blick nicht allein auf den Akt der physischen Auswanderung als punktuelles Ereignis, sondern versteht diese als einen kontinuierlichen und andauernden „Umwandlungs- und Neubildungsprozess“ (vgl. Apitzsch 1999), der bereits mit dem Gedanken an und der Entscheidung für diese beginnt (vgl. Berger 2000, 7) und der die Migrierten oft ihr Leben lang beschäftigt (vgl. Grinberg/Grinberg 1990, 83; Kürsat-Ahlers 1992, 71; Han 2005, 215). Mehr noch, die Auseinandersetzung mit der Wanderung und ihren Folgen ist nicht nur genuin mit der migrierten Person verbunden, sondern wirkt sich auch auf die (im Aufnahmeland geborenen) Kinder und Kindeskinder aus17, denn Migration „überspannt und überdauert viele Generationen“ (Gogolin 2011, 186). Festzuhalten ist, dass MigrantInnen eine höchst heterogene Gruppe darstellen und in Migrantenfamilien ebenso wie in autochthonen ein großes Spektrum an Unterschiedlichkeiten besteht, dennoch ist davon auszugehen, dass das generationenüberdauernde Migrationsprojekt ein Charakteristikum darstellt, welches für das Verstehen der Lebenswege von Relevanz ist (vgl. ebd., 187). 2.2.1 Krisis-Erfahrungen im Kontext von Migration Im Lauf der Sozialisation im Sinn- und Sprachzusammenhang des Herkunftslandes, bilden Menschen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in Bezug auf 16

Von den unter 25-Jährigen stellen Kinder und Jugendliche, die selbst oder deren Eltern bzw. Großeltern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kommen, mit 10,5 Prozent die zweitgrößte Gruppe nach jenen mit türkischer Herkunft (14,1 Prozent) dar (vgl. BMFSFJ 2013, 86). 17 Diese können aufgrund ihres Migrationshintergrundes zum einen mit Erfahrungen von Diskriminierung oder sozialer Randständigkeit konfrontiert werden. Zum anderen – darauf haben Adoleszenzforschungen in den letzten Jahren hingewiesen – erzeugen die mit Migration verbundenen Trennungsund Umgestaltungsnotwendigkeiten, die zunächst die migrierten Eltern zu bewältigen haben, in den familialen Generationenbeziehungen spezifische Voraussetzungen für die Trennungs- und Umgestaltungsprozesse der adoleszenten Kinder (vgl. King/Schwab 2000, 211). In dieser Arbeit stehen jedoch jene Personen im Fokus, die selbst migriert sind, wie auch meine Interviewpartner.

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Gewissheiten und alltägliche Praxen aus. Durch das Hineinwachsen in eine Gesellschaft werden ihre Verhaltensweisen und die damit verundenen Grundannahmen verinnerlicht, wodurch ein nahezu intuitives Gespür dafür entsteht, was in einer gegebenen Situation richtig bzw. angebracht ist (vgl. Pollock et al. 2007). Schütz (1972) spricht davon, dass Menschen durch das Aufwachsen in einer bestimmten Gesellschaft ein Rezeptwissen mitbekämen, das als ‚Gebrauchsanweisung‘ sowohl für die Auslegung der umgebenden sozialen Welt als auch als Anweisungsschema in Bezug auf die Durchführung von Handlungen diene (vgl. ebd., 57f). Indem die grundlegenden Handlungsweisen durch dieses „Denken-wie-üblich“ (ebd., 58) quasi automatisiert abliefen, entstehe ein Gefühl der fraglosen Selbstverständlichkeit, das Sicherheit gebe, sodass kognitive und emotionale Kapazität für anderes bleibe (vgl. ebd., 66). Migration führt zu einem Wandel „der bisherigen individuellen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge“ (Günther 2009, 59), wodurch die Selbstverständlichkeit der erworbenen Wissens- und Orientierungssysteme einen Bruch erfährt. Typisierte Handlungsabläufe und alltägliche Kommunikationssituationen, die Einheimischen banal erscheinen mögen (z.B. wie die Verwendung einer Höflichkeitsfloskel), laufen in der Folge nicht mehr fraglos ab (vgl. Breckner 2009, 114, 409). Pollock et al. (2007) haben einen anschaulichen Vergleich für die Situation, in der Personen neu hinzukommen und die Selbstverständlichkeit (noch) nicht vorhanden ist, gefunden: „Es ist, als müssen wir immer noch den Fingersatz für die Läufe auf dem Klavier herausfinden, während andere um uns her ein Rachmaninow-Konzert spielen“ (55). Schütz (1972) bezeichnet den Einsturz des ‚Denkens-wie-üblich‘ als „Krisis“ (59). Die fehlende Kenntnis und Sicherheit muss im Aufnahmeland mittels sozialer Interaktionsprozesse in Auseinandersetzung mit dem dort gültigen sozialen Bezugssystem erlangt bzw. wiederhergestellt werden (vgl. Han 2005). An dem Konzept von Schütz, das hier nicht in aller Gänze ausgeführt werden kann, wird vor allem die Vorstellung einer grundlegenden Krisis beim Wechsel zwischen verschiedenen sozialen Ordnungen und Bezugssystemen kritisiert (vgl. z.B. Hummrich 2009), denn dieses beinhalte implizit die als veraltet angesehene Annahme von klar abgrenzbaren Kultur- und Zivilisationsmustern. In der Tat stellt der Gedanke, dass nur die Muster der Herkunftsgruppe fraglos erworben werden und diese einen besonderen Stellenwert einnehmen und behalten, einen normativen Bezugspunkt von Schütz dar, womit er den führenden Migrationstheoretikern seiner Zeit folgte. Und obwohl er Möglichkeiten zur Transformation von Orientierungsschemata sieht, betrachtet er die Krisis-Erfahrung als so tiefgreifend, dass er die Fremdheit in Hinblick auf einige Aspekte (wie die historisch-geteilte Vergangenheit der neuen Gruppe – „Gräber und Erinnerungen können weder übertragen noch erobert werden“ (Schütz 1972, 59)) zu einem gewissen Maße als nicht auflösbar bezeichnet. Auch wenn der Kritik daher grundsätzlich gefolgt werden

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kann, sollten die Überlegungen von Schütz für die Untersuchung aktueller Migrationsprozesse deswegen nicht gänzlich verworfen werden. Zu betrachten ist z.B., von welchem in welches Land die Migration erfolgt. Es gibt Länder, die sich in Sprache und Aufbau wenig unterscheiden (z.B. Deutschland und Österreich), sodass die Erschütterung weniger schwerwiegend ausfallen mag, doch sind auch große Differenzen denkbar. In biographischen Rekonstruktionen haben sich Beschreibungen von Krisis-Erfahrungen immer wieder gezeigt (z.B. Kirsch 2008; Breckner 2009). Achoteguí und Rohr (2014) sprechen davon, dass die physischen wie psychischen Anstrengungen in zahlreichen Fällen so überwältigend seien, „dass sie die Fähigkeit des Menschen, diese kräftezehrende Herausforderung zu bestehen, übersteigen“ (49). Es muss jedoch darauf verwiesen werden, dass mit der „Feststellung der Relevanz von Krisis-Situationen in Migrationsprozessen […] noch keine normative Bewertung (sind sie gut oder schlecht, leicht oder schwer), oder gar Aussagen über ihre langzeitlichen biographischen Konsequenzen verbunden“ (Breckner 2009, 410) sind. Mit dem Konzept der Krisis im hier verwendeten Sinne soll also nicht auf alte Annahmen rekurriert werden (z.B. Schrader et al. 1976; Barath 1978; Laijos 1991), die Migration als ‚Kulturkonflikt‘, ‚Modernitätsdefizit‘ oder ‚Anomalie‘ im Lebenslauf eines Menschen betrachten, „deren notwendige Folge die psychische Entwurzelung sein muss“ (Lutz 2000, 39). Auch grenzt sich der psychosoziale Krisis-Begriff von der oftmals rein negativen Konnotation im Alltagsverständnis ab. Vielmehr handelt es sich dabei um einen Wende- und Höhepunkt einer ‚gefährlichen‘ Entwicklung (vgl. Duden online 2017), dessen Ausgang nicht festgelegt ist und der prinzipiell einen produktiven oder destruktiven Verlauf einleiten oder abschließen kann (vgl. Schütze 1981). Die zeitliche Ausdehnung und die biographischen Nachwirkungen auf längere Sicht sind dabei offen. „Aus migrationsbezogenen Krisis-Erfahrungen können somit keine bestimmten krisenhaften biographischen Verläufe abgeleitet werden“ (Breckner 2009, 410). Qualitative Forschungen zu erwachsenen MigrantInnen haben aufgezeigt, dass die Migration nicht zum entscheidenden Wendepunkt der Biographie werden muss, „der das Leben gewissermaßen zweiteilt in ein Leben vor und ein qualitativ anderes nach der Emigration“ (Kirsch 2010, 15) und durch den der Blick auf das eigene Selbst und die Welt stark verändert wird (vgl. auch Breckner 2009). Es ist ebenso möglich, dass diese je nach ‚biographischer Ressourcenlage’ ungebrochen in das bisherige biographische Selbstkonzept integriert wird (vgl. Bartmann 2006). So rekonstruiert Lutz (1999) etwa für den Fall einer migrierten Frau, dass bei dieser nicht die Migration zum Wendepunkt und Bruch in ihrem Leben wird, der die bisherigen Lebensregeln und -strategien erschüttert, sondern der Vorruhestand (vgl. 169).

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Für die Bearbeitung einer Krisis sind neue Problemlösungsmethoden vonnöten, was an die Bildungstheorie anknüpfen lässt. Diese sieht in der Konfrontation mit einer Problemsituation, für deren Bewältigung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht ausreichen, einen Anlass zur Transformation der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses und betrachtet diese als Anstoß für Bildungsprozesse (vgl. Koller 2012, 15f). „Bildungsprozesse bestehen demzufolge also darin, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen neue Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen hervorbringen, die es ihnen erlauben, diesen Problemen besser als bisher gerecht zu werden“ (ebd., 16).

Ebenso ließe sich auf Oevermanns (1991) Theorie zur Entstehung des Neuen rekurrieren (die sich vor allem auf neue Interaktionsstrukturen bezieht), die die Option zu Transformationen dann sieht, wenn „angesichts neuartiger Bedingungen etablierte Entscheidungskriterien nicht mehr greifen“ (297). Migration wird in dieser Arbeit demnach als ein Lebensereignis verstanden, das einen Einschnitt in die Biographie eines Menschen darstellt, der sowohl Bewältigung erfordert als auch Entwicklungspotential enthält und chancenhaft genutzt werden kann (vgl. Frogner 1994). Anspruch dieser Arbeit ist, Migration in den biographischen Erzählungen nicht dichotom entweder als problematisches Ereignis (z.B. Maurenbrecher 1985; Kirkcaldy et al. 2005) oder als Innovation und ‚zivilisatorischen Vorteil‘ (vgl. Machleidt 2007, 15) zu deuten, noch anhand der Interviews lediglich zu prüfen, inwiefern die „mitgebrachten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster beibehalten oder die der Aufnahmegesellschaft übernommen werden“ (Günther 2009, 67). Vielmehr gilt es mit Blick auf die gesamte Lebensgeschichte, differenziert herauszuarbeiten, welche biographische Einbettung migrationsspezifischer Erfahrungszusammenhänge vorgenommen wird (vgl. Breckner 2009, 150). 2.2.2 Migrationsspezifische Transformationen Migration stellt einen Wandlungsprozess dar, in dem die Themen „Trennung und Umgestaltung“ (King/Schwab 2000, 211) dominieren. Selbst Migrierte wie auch deren Nachkommen müssen sich in einer für sie (z.T.) fremden Kultur18 neuorientieren und verankern (vgl. Apitzsch 1999). In Bezug auf diese Herausforderungen

18 Kultur wird in dieser Arbeit verstanden „als ein im Zuge der Sozialisation erlerntes und gesellschaftlich (re-)produziertes Orientierungssystem […], das gemeinsame Lebensweisen und Deutungsmuster

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kann analog zur Adoleszenz davon gesprochen werden, dass das Gelingen von einer Chancenstruktur, nämlich der des migrationsspezifischen Möglichkeitsraumes, abhängt. Diese wird auf der einen Seite durch die gesellschaftlichen „Strukturen sozialer Ungleichheitsverhältnisse“ (Riegel 2004, 72) geprägt, welche die Migrierten in der Aufnahmegesellschaft vorfinden. Darunter fallen etwa aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, die Bildungschancen sowie Erfahrungen von Missachtung oder Anerkennung (vgl. z.B. Diefenbach 2004; Hamburger/Badawia/Hummrich 2005). Auf der anderen Seite geschieht die Bewältigung der Migration in Abhängigkeit davon, welche Erfahrungen im Herkunftsland gemacht wurden, aufgrund welcher Motive diese erfolgte, wie sich deren Umsetzung gestaltet hat und welche Folgen diese im Aufnahmeland mit sich gebracht hat – sowie die je spezifische Verarbeitung dessen durch das Individuum (vgl. Zölch 2013a; Günther 2009, 81ff; 241f). Auch hier bestehen bestimmte Potentiale und Risiken. Als Folge der vielfältigen durch die Migration angestoßen Veränderungsprozesse, können die bestehenden Wahrnehmungs- und Handlungsmuster reflektiert und neu gestaltet werden. Dies kann aber vor allem dann zu einer Überforderung werden, die die individuelle Entwicklung hemmt, wenn das Umfeld nicht ausreichend unterstützend wirkt (vgl. Günther 2009, 63). Der Verarbeitungsprozess der Migration kann analog zum Ablösungsprozess der Adoleszenz ebenfalls als Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung beschrieben werden. Beispielsweise könnte die ‚Trennung‘ analog als Abschied von der Welt der Herkunftsgesellschaft und den Beziehungen vor der Migration (vgl. 2010a, 14) verstanden werden. Für die ‚Umgestaltung‘ wäre die Fähigkeit von Bedeutung, die Migrationsmotive sowie deren Verlauf „infrage stellen zu können und die damit verbundenen Ängste und möglichen Schuldgefühle auszuhalten“ (ebd.). Münden würden dies in der ‚Neuschöpfung‘, also der Potenz, „aus den vorhandenen Ressourcen das Vergangene [mit der Herkunftsgesellschaft verbundene] und das Gegenwärtige [mit der Ankunftsgesellschaft verbundene] zu einem neuen, flexiblen Lebensentwurf zu verknüpfen“ (ebd.), wie es inhaltlich exakt übernommen werden kann. einer Gruppe vereint, den Angehörigen Handlungsmuster und durch die Gruppenzugehörigkeit ein Gefühl von Sicherheit gibt“ (Schramkowski 2007, 58). Dabei ist Kultur nicht als homogene und nach außen klar abgrenzbare Einheit mit sich gleichenden Individuen anzusehen (vgl. z.B. Terkessidis 2010). Zum einen sind die einzelnen Individuen gleichzeitig auch Teil verschiedener (Sub-)Kulturen und zum anderen zeichnet Kultur sich nicht nur durch Kontinuität, sondern auch durch Dynamik aus. So beeinflusst das kulturelle Orientierungssystem die Lebensweise und Deutungsmuster seiner Mitglieder, welche diese überwiegend unbewusst reproduzieren, zugleich aber auch verändernd auf sie einwirken (vgl. Schramkowski 2007, 58). Kultur stellt demnach kein starres Objekt dar (vgl. Lipp 1994, 76), sondern ist als ein sich weiter entwickelnder Prozess zu verstehen (vgl. Gebhardt 2003, 224). Zudem muss darauf geachtet werden, soziostrukturelle Bedingungen nicht als kulturelle Phänomene fehlzudeuten (vgl. z.B. Bukow/Llaryora 1998).

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Im Folgenden sollen die Herausforderungen des Migrationsprozesses anhand von relevanten Themen etwas ausführlicher dargestellt werden: Eine große Rolle für die Art der Bewältigung des Migrationsprozesses spielen die vorausgegangenen Erfahrungen und Strukturen im Herkunftsland. So macht es einen Unterschied, ob jemand in einem dörflichen oder städtischen Umfeld aufgewachsen ist und welcher Art die gesellschaftlichen Verhältnisse z.B. in Hinblick auf das politische System oder die vorherrschenden Geschlechterbilder gewesen sind. Auch ist relevant, ob der/die Migrierte bereits im Herkunftsland Erfahrungen von Ausgrenzung und Zurückweisung gemacht hat, weil er oder sie z.B. einer ethnischen Minderheit angehört. Daneben sind die Schichtzugehörigkeit sowie Kapitalausstattung bedeutsam und auch individuelle Faktoren nehmen Einfluss auf den Verlauf der Migration, zu nennen sind z.B. die bisherigen biographischen Erfahrungen, das Alter, das Geschlecht, der Bildungsstand, individuelle Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale, wie Intro- oder Extrovertiertheit. Die Beweggründe, die zur Migrationsentscheidung geführt haben, sind vielfältig. Übergreifend kann zwischen freiwilliger und Zwangs-Migration unterschieden werden. Zur ersten Form gehören z.B. Arbeits-, Abenteuer-, Heiratsoder Qualifikations-Migration, zur zweiten etwa Flucht aus politischen, religiösen oder ökologischen Gründen, Vertreibung sowie Zwangs-Verheiratung oder -Prostitution (vgl. Lutz 2008, 566). Der freiwilligen Migration geht oftmals eine gewisse Unzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation und den beruflichen oder gesellschaftlichen Umständen voraus, sodass über Veränderungsmöglichkeiten nachgedacht wird. Dabei warnen Rohr und Jansen (2002) jedoch davor, zu übersehen, dass auch eine scheinbar freiwillige Migrationsentscheidung häufig aufgrund wirtschaftlicher Zwänge und/oder vor dem Hintergrund von Marginalisierung und Aussichtslosigkeit zustande kommt (vgl. 9). Die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Migration wird zumeist durch Informationen von außen angestoßen; etwa durch die vor allem in den 1960er-Jahren geschlossenen Anwerbeabkommen mit Ländern wie der Türkei oder Portugal, die den dort lebenden Menschen die Option eröffneten, (für eine gewisse Zeit) als ArbeitsmigrantInnen nach Deutschland auszuwandern oder indem es nach dem Zerfall der Sowjetunion für die Russlanddeutschen möglich wurde, offiziell als AussiedlerIn bzw. ab 1993 als SpätaussiedlerIn nach Deutschland auszureisen. Durch positive Erzählungen bereits Migrierter kann der Anreiz verstärkt werden. „Die Kettenmigration ist neben der Arbeitsmigration die vorherrschende Form der klassischen Immigration und zudem die quantitativ relevanteste“ (Janßen 2011, 289, H. i. O.). Für den Entscheidungsprozess für oder wider eine Auswanderung gibt es verschiedene Theorien (z.B. das Push-Pull-Modell, das Faktoren betrachtet, die aus dem Herkunftsland ‚wegdrücken‘, wie religiöse Verfolgung oder Krieg und im Gegenzug Faktoren im Einwanderungsland, die ‚anziehen‘, wie bessere Verdienstmöglichkeiten,

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vgl. Lee 1972); zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Migration dann wahrscheinlich wird, wenn die antizipierten Umstände nach der Migration positiver eingeschätzt werden als der aktuelle Zustand. Im Fall der (Spät-)AussiedlerInnen wurde die Entscheidung zur Migration oftmals durch die instabile politische und ökonomische Lage nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion maßgeblich beeinflusst (vgl. Greiner 2002, 48 und Kap. 1.1). Zum Teil richten sich die Hoffnungen im Kontext der Migration dabei nicht primär auf die eigene Person, sondern vor allem auf die Kinder und die nachfolgenden Generationen (vgl. Ingenhorst 1997, 159 ff). Zu bedenken ist hierbei auch die familiale Konstellation. Erfolgt die Migration gemeinsam als Familie? Oder migriert eine einzelne Person, um durch ein (höheres) Einkommen im Ausland die finanzielle Not der verbleibenden Familienmitglieder zu lindern? Möchte ein Heranwachsender allein aus eigener Motivation oder delegiert von der Familie als BildungsmigrantIn ins Ausland? Ist es das Ziel, durch die Migration die Lebensqualität der Familie zu verbessern oder liegt der (zumeist latente) Wunsch darin, dadurch Verstrickungen und Konflikten mit der Familie zu entgehen (vgl. z.B. Apitzsch 1990; Lutz 2000)? Überwiegend, auch wenn nur ein Mitglied auswandert, wird die Entscheidung zur Migration nicht alleine getroffen, sondern ist das Ergebnis von gemeinsamen Überlegungen im Familienverbund (vgl. Günther 2009, 62), wobei es auch Migrationen gibt, die trotz des Missfallens eines oder mehrerer Familienmitglieder stattfinden. Daher ist es wichtig miteinzubeziehen, wie sich die einzelnen Angehörigen zur Ausreise positioniert haben. In Hinblick auf die Migrationsentscheidung bestehen große Unterschiede zwischen erwachsenen und nicht erwachsenen MigrantInnen. „Eltern sind entweder freiwillige oder unfreiwillige Migranten, Kinder jedoch immer ‚Exilanten‘; sie können nicht entscheiden, ob sie gehen wollen oder nicht, und sie können auch nicht zurückkehren, wenn sie wollen“ (Grinberg/Grinberg 1990, 125). In der Migrationsforschung hat sich die Formulierung ‚erste Generation‘, für jene, die selbst gewandert sind und ‚zweite Generation‘, für jene, die im Einwanderungsland der Eltern geboren wurden, etabliert. Damit geht jedoch die Trennschärfe dafür verloren, dass es auch Kinder und Jugendliche gibt, die selbst migrieren. Wie bereits unter 1.4 dargestellt, haben z.B. Segeritz et al. (2010) darauf reagiert, indem sie zwischen der 1,5. Generation (Personen, die vor dem sechsten Lebensjahr zugezogen sind) und der 1. Generation für alle, die danach eingewandert sind, differenzieren (vgl. 122). Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Lebens- und Entwicklungsphasen von großer Bedeutung sind und bedacht werden müssen. Hinsichtlich der Herausforderungen weisen mehrere Studien darauf hin, dass sich Kinder, die vor dem Schuleintritt migrieren, häufig relativ reibungslos in die neue

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Umwelt einfinden können (vgl. z.B. Beiser et al. 1988), dennoch ist davon auszugehen, dass die Migration sich auch auf diese auswirkt, vor allem auf indirektem Weg, z.B. über die Emotionen der Eltern. Für ältere Kinder und Jugendliche sprechen Erhebungen häufiger von Schwierigkeiten, die zum einen auf das Zusammentreffen von Veränderungen durch die Migration und Veränderungen infolge des Heranwachsens zurückgeführt werden (siehe 2.3.1) und zum anderen auf die mangelnde Beteiligung an der Migrationsentscheidung. In Bezug auf eine Aussiedlung während der Adoleszenz urteilt Masumbuku (1994), dass sie in dieser Phase das „größte Problem“ (84) darstelle. Für die Gruppe der jungen (Spät-)AussiedlerInnen hat sich der Begriff der ‚mitgenommenen Generation‘ etabliert (z.B. Vogelgesang 2008), da häufig davon ausgegangen wird, dass die Kinder und Jugendlichen unfreiwillig und gegen ihren eigenen Willen migrieren mussten; Studien dazu kommen jedoch nicht zu eindeutigen Ergebnissen (z.B. Dietz/Roll 1998; Strobl/Kühnel 2000; Greiner 2002). Übergreifend besteht die Annahme, dass die innere Bereitschaft zur Migration den Verlauf der Integration in die Aufnahmegesellschaft maßgeblich mitbestimmt (vgl. Han 2005, 212). In diesem Zusammenhang weist Baros (2001) darauf hin, dass Jugendliche, die ungefragt in das Migrationsprojekt der Eltern einbezogen werden, damit nicht denselben Sinn wie diese verbinden würden (vgl. 280). In diesem Kontext kann auch nach Differenzen zwischen Geschwistern gefragt werden. Geschwister in Familien mit Migrationshintergrund wurden in Forschungen bisher eher implizit thematisiert, meist dann, wenn Erklärungen für Bildungserfolge oder -misserfolge der einzelnen Kinder gesucht werden (z.B. Nauck et al. 1998; Wallace 2007). In diesen Studien geht es nicht um die familialen Beziehungen und Konstellationen, sondern um Erschwernisse des Bildungserfolgs und praktische Unterstützungsmechanismen. Eine Betrachtung der Rolle der Geschwister darüber hinaus steht noch aus (vgl. Böker/Zölch 2016b, 213). Untersuchenswert wäre z.B., welchen Einfluss es auf die Geschwisterbeziehungen nimmt, wenn die Kinder bei der Einreise unterschiedlichen Alters sind und daher auf sich unterscheidende Bedingungen im Einreiseland treffen. Gemeint ist beispielsweise, dass sich ein Kind im Grundschulalter befindet und ein anderes im Jugendalter. Das jüngere Kind wird den Verlust der Freundschaftsbeziehungen vermutlich besser verkraften und es leichter haben, die Sprache zu erlernen. Die ‚typische‘ Rolle älterer Geschwister, Wissen über Ablauf und Inhalt des Bildungssystems weiterzugeben, kann vorerst nicht erfüllt werden. Eventuell kommt es sogar zu einem Wandel der Geschwisterrollen in Hinblick darauf. Welche Auswirkungen hat es, wenn es einem der Geschwister im Bildungssystem und darüber hinaus wesentlich leichter fällt, sich im neuen Land einzuleben? Denkbar ist des Weiteren, dass sich

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Geschwister in der Migrationssituation gegenseitig zur emotionalen Stütze werden. Denn – im Unterschied zu den Gleichaltrigen in ihrem Umfeld – teilen sie die Migrationserfahrungen und die Muttersprache. Ist die Entscheidung für die Migration getroffen, spielt die Ausgestaltung der Wanderung eine Rolle. Erfolgt diese als übereilte Flucht oder kann sie in Ruhe vorbereitet werden? Können gewisse Dinge bereits im Voraus vom Herkunftsland aus organisiert werden (z.B. die Suche nach Unterkunft und Arbeitsstätte)? Findet sie zum gewünschten Zeitpunkt statt oder ist sie abhängig von nicht steuerbarer Gewährung von außen? So mussten z.B. SpätaussiedlerInnen oftmals mehrere Jahre auf einen Bescheid zu ihrem Ausreiseantrag warten ohne abschätzen zu können, wann sich ihr Leben durch die Migration drastisch verändern wird und lebten daher stets mit der Ungewissheit, ob es sich noch ‚lohnt‘, gewisse Dinge im Herkunftsland anzugehen (wie z.B. eine Berufsausbildung). Auch der konkrete Migrationsakt ist bedeutsam. Ist die Ausreise beschwerlich oder angenehm, heimlich oder offen, schnell oder langwierig, teuer, günstig oder fremdfinanziert? Wer migriert, selbst wenn es im Familienverbund stattfindet, lässt Verwandte, Freunde und Bekannte im Herkunftsland zurück. Zudem umfasst der Verbund oftmals nur die Kernfamilie, was u.a. eine Trennung von der Großelterngeneration zur Folge hat. Dieser Verlust wirkt sich sowohl auf die Eltern- als auch auf die Kindergeneration aus. Zimmermann (2012) betont die Relevanz einer bewussten Abschiednahme für die Trauerarbeit in der Migration, „die als unerlässliche Bedingung für die innerpsychische Integration von Altem und Neuem gesehen werden muss“ (23). Es ist fraglich, ob Kinder und Heranwachsende Folgedimensionen der Migration vorab erfassen können und es ihnen möglich ist, ‚bewusst‘ Abschied zu nehmen. Der Umgang mit Trennung stellt demnach einen ganz zentralen Punkt von Migration dar. Dabei geht es nicht nur um die Trennung von besonderen Menschen, sondern um vielfältige Verluste: „der Sprache, der Kultur, des Landes, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, des sozialen Status“ (Achoteguí/Rohr 2014, 53). Zum einen kann der oder die Migrierte sich ohne die vertrauten Personen, Orte und Dinge einsam, isoliert, unvollständig und hilflos fühlen. Je nach Herkunftsland kann es sehr teuer sein, telefonisch in Kontakt zu treten und ein Wiedersehen kaum zu realisieren sein. Zum anderen kann das Verlassen von Familienangehörigen (eventuell gegen deren Rat oder Willen) zu Schuldgefühlen und Loyalitätskonflikten führen (vgl. Grinberg/Grinberg 1990). Wird der akute Trennungsschmerz aufgrund lebenspraktischer Anforderungen der Migration in den Hintergrund gerückt oder dieser abzuwehren versucht, kann die Trauer noch nach Jahren, „wenn sich die psychischen Abwehrkräfte erschöpft haben, zu psychosomatischen Reaktionen führen“ (Gerner 2011, 48). Grinberg und Grinberg (1990) bezeichnen dies als „übergangene Trauer“ (vgl. 106).

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Nach dem konkreten Akt der Migration kommt es zur Konfrontation mit den strukturellen Bedingungen im Aufnahmeland. Darunter fallen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, Unterstützungsleistungen (z.B. Sprachkurse, finanzielle Hilfen), arbeitsrechtliche Möglichkeiten, Bildungs- und Berufschancen sowie Erfahrungen von Anerkennung, Abwertung oder Diskriminierung (vgl. Diefenbach 2004; Hamburger/Badawia/Hummrich 2005). Oftmals geht mit der Migration für die erwachsenen MigrantInnen ein beruflicher Statusverlust einher. Migrierte Kinder und Jugendliche machen z.T. die Erfahrung, schulisch zurückgestuft zu werden. „Gefühle der sozialen Degradierung sind oft sehr tiefgehend und nehmen den Betroffenen, selbst wenn die materielle Lage erträglich sein sollte, jedes Vertrauen in eine eigenständige Lebensplanung“ (Oswald 2006, 212). Darüber hinaus ist die Arbeit einerseits Ort für soziale Kontakte und andererseits durch das erzielte Einkommen maßgeblich bedeutsam für den „Lebensstandard, Lebensstil, gesellschaftlichen Status und Selbstverständnis von Menschen“ (vgl. Kutsch/Wiswede 1986, 17ff). Mit einer Migration ist demnach die Herausforderung verbunden, Wege zu finden, die eigenen Kompetenzen sowie mitgebrachten Bildungs- und Berufstitel in Deutschland um- und einsetzen zu können, wobei Begrenzungen (z.B. in Bezug auf die Sprachfähigkeit) und Abwertungen von außen (z.B. Nichtanerkennung von Studienabschlüssen) einbezogen werden müssen, um realistische Zukunftsentwürfe zu entwickeln. Im Vergleich zu anderen Migrantengruppen wird die Lage der (Spät-)AussiedlerInnen für die erste Phase nach der Migration oftmals als besonders positiv und leicht beschrieben, da sie z.B. direkt nach der Einwanderung den deutschen Pass erhalten und zunächst in Sammelunterkünften untergebracht werden (vgl. BMFSFJ 2000, 129ff). Die behauptete größere Leichtigkeit gilt es anhand der empirischen Untersuchung zu hinterfragen. Mit dem Wechsel von einem Land in ein anderes ist zumeist auch ein Wechsel der Amtssprache – und somit die Konfrontation mit einer neuen Sprache – verbunden. Je nach Möglichkeit der Vorbereitung auf die Migration wird die neue Sprache gar nicht bis fließend beherrscht. Sind keine oder kaum Sprachkenntnisse vorhanden, führt dies zu einer Hilflosigkeit in der Lebensführung, z.B. im Umgang mit Verwaltung und offiziellen Stellen. Eigene Talente und Kompetenzen können nicht gezeigt werden, alltägliche Verrichtungen werden zur Herausforderung. Diese Rückversetzung in einen infantilen Zustand, in dem man ähnlich hilflos wie ein kleines Kind sukzessive die neue Sprache erlernen muss (und dies zumeist unter größeren Anstrengungen als es einem Kind mit der Muttersprache gelingt), kann das Selbstwertgefühl verletzen. Mit der Sprache als dem wichtigsten Kommunikationsmittel „tauschen Menschen gegenseitig ihre Erfahrungen, Erlebnisse, Erkenntnisse und Wissensbestände, d.h. ihre Bewusstseinsinhalte (…) und entwickeln ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl, das sie nicht nur miteinander verbindet, sondern ihnen auch soziale Sicherheit gibt“ (Han 2005, 219f). Ist dies nicht

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möglich, können Gefühle von Unsicherheit und Fremdheit verstärkt werden und es zu einer (selbstgewählten) Segregation der MigrantInnen führen (vgl. ebd., 229). Im Laufe der sprachlichen Sozialisation im Herkunftsland wird nicht nur die Lautbildung erlernt, sondern werden Worte und Formulierungen zudem mit je spezifischen Bedeutungen und Konnotationen verbunden. Da implizit stets ein spezifischer Sinnhorizont von Bedeutungen mitschwingt, sind einer reinen Übersetzung Grenzen gesetzt (vgl. ebd., 219). Die als junges Mädchen von Polen zunächst nach Kanada migrierte Autorin Eva Hoffman (1955) beschreibt dies literarisch so: „Aber das Problem besteht darin, daß das Bezeichnende vom Bezeichneten abgetrennt worden ist. Die Wörter, die ich jetzt lerne, stehen nicht auf die gleiche unangefochtene Art für Dinge wie die Wörter in meiner Muttersprache. „Fluß“ hatte im Polnischen einen lebendigen Klang, er war erfüllt vom Wesen einer Flußlandschaft, meiner Flüsse, von meinem Eintauchen in Flüsse. Auf englisch klingt „river“ kalt – es ist ein Wort ohne Aura. Es besitzt für mich keine Assoziationen, die sich angesammelt haben, und es hat nicht den leuchtenden Schleier zusätzlicher Bedeutungen. Es beschwört nichts“ (116).

In der neuen Sprache werden Worte zunächst als Gebilde erlernt, ohne mit den Assoziationen verbunden zu sein, die sie für Muttersprachler haben. Der Zugang zu Emotionalität, zu Phantasien und Symbolen muss in der neuen Landessprache erst erschlossen werden, was Kohte-Meyer (2006) als aufwändigen, anstrengenden und belastenden psychischen Prozess bezeichnet (vgl. 89). Dieses zunächst einmal ‚ausgeschlossen-Sein‘ von internen Bedeutungen kann zu Verständnisschwierigkeiten und Missverständnissen im Alltag führen. Andererseits wohnt einer neuen Sprache auch das bereichernde Potential inne, eine neue Weltsicht zu eröffnen (vgl. Humboldt 1947; siehe auch Kap. 5.6). Dabei ist auch zu betrachten, dass unterschiedlichen Fremdsprachen in Deutschland ein unterschiedliches Maß an Anerkennung zukommt. Gogolin (1994) weist darauf hin, dass Deutschland eine Gesellschaft darstellt, in der „die historisch überkommene Grundüberzeugung vorherrscht, allein Einsprachigkeit sei der Normalfall menschlicher Sprachigkeit“ (226). Ausgewählte Sprachen (z.B. Englisch oder Französisch) erhielten einen Teil von Legitimität zuerkannt, etwa durch die Aufnahme in den Kanon der Schulfremdsprachen, wodurch ihr ‚Marktwert‘ erhöht werde. Die Sprachen der größten Zuwanderergruppen in Deutschland, wie Türkisch, betreffe dies jedoch kaum. Ausgehend davon könne man diese als ‚illegitime Sprachen‘ „und die Praxis, sie alltäglich neben oder zusammen mit dem Deutschen zu gebrauchen, als illegitimen Sprachgebrauch“ (ebd.) bezeichnen. Die russische Sprache nimmt eine Position zwischen Sprachen wie Englisch oder Spanisch ein, die standardmäßig in den Schulen gelehrt werden und Sprachen

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wie Türkisch oder Serbisch, die von einer großen Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen werden, ohne dass sich dies in den Bildungsinstitutionen widerspiegelt. Die Erfahrungen in der Einwanderungsgesellschaft können eine Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen nötig machen, wenn sich diese (z.T. deutlich) von denen im Herkunftsland unterscheiden. Die „mit Weiblichkeit und Männlichkeit verbundenen Bilder, Normierungen und Praxen sowie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern [können] kulturell bzw. gesellschaftlich unterschiedlich ausgestaltet“ (Günther 2009, 62) sein. Für die Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen bestehen Unterschiede z.B. in Bezug auf die innerfamiliäre Rollenverteilung oder das Bild von Männlichkeit, das in den sowjetischen Nachfolgestaaten stärker von Härte geprägt ist (vgl. Kap. 1.3). „Die Bearbeitung dieser veränderten Geschlechterkultur scheint sich geschlechtsspezifisch unterschiedlich zu gestalten, ist jedoch vor allem abhängig vom jeweiligen Migrationskontext“ (Günther 2009, 62). Dies steht in Verbindung mit Fremdheitswahrnehmungen in Öffentlichkeit und Alltag. Wohingegen weibliche Migrantinnen oftmals als unterdrückt wahrgenommen und etwa in Hinblick auf die Übernahme von Aufgaben im Reinigungs-, Gesundheits- und Betreuungswesen eher willkommen sind, werden junge Männer mit Migrationshintergrund in Deutschland oftmals als Bedrohung (z.B. als Drogendealer, Gewalttäter, Machos) geschlechtsbezogenen stigmatisiert (vgl. Stecklina 2007). Dabei treffen die Etikettierungen nicht alle Migrantengruppen gleichermaßen. Besonders betroffen sind junge Männer mit einem Migrationshintergrund aus der Türkei sowie dem Nahen und Mittleren Osten sowie männliche Spätaussiedler (vgl. ebd., 74). Infolge der Migration geht es zentral auch um die Bewältigung von Fremdheitserfahrungen (vgl. Günther 2009, 84). Dabei nehmen diese zwei Richtungen an, die miteinander interagieren: Zum einen kann eine migierte Person das Aufnahmeland als fremd im Verhältnis zu seinen bisherigen Erfahrungen empfinden. Akhtar (2007) führt dafür ganz konkrete Beispiele an: die Speisen im Ankunftsland würden ‚seltsam‘ schmecken, es gebe andere politische Probleme (und Ordnungen), neue Lieder, eine fremde Sprache, visuell unbekannte Landschaften, farblose Feste, unbekannte Helden und eine Geschichte, „in der sich der Einwanderer nicht verwurzelt fühlt“ (27). Er benennt damit entscheidende Prägungen durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, die durch den Wechsel erschüttert würden sowie Faktoren, die die unterschiedlichen Sinne ansprechen und zugleich irritieren. Zum anderen kann der migrierten Person von den Autochthonen Fremdheit zugeschrieben werden, worauf im Folgenden ausführlich eingegangen wird.

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2.2.3 Zugehörigkeitskonstruktionen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen19 Zugehörigkeit stellt einen „zentralen Topos der Migrationsforschung“ (Dausien/Mecheril 2006, 155) dar. Mecheril (2003) hat das Konzept der ‚natio-ethnokulturellen Zugehörigkeit‘ eingebracht, das in Adjektivform sowohl die Begriffe Nation und Ethnizität als auch Kultur vereint, womit er zeigen möchte, dass diese zu einem „unentwirrbaren, diffusen Gebilde verflochten sind“ (Mecheril 2002, 109f), aufeinander verweisen und sich wechselseitig bestimmen würden (vgl. Mecheril 2003, 23). Zugehörigkeit werde dadurch beeinflusst, ob Menschen „sich selbst als symbolisches Mitglied des Kontextes erkennen und von bedeutsamen Anderen als Mitglied erkannt werden, [ob sie] in dem Kontext in einer ihnen gemäßen Weise habituell wirksam sein können“ (ebd., 28) und ob sie sich lebensgeschichtlich an das Aufnahmeland binden können und gebunden werden. Sind diese Punkte erfüllt, spricht Mecheril (2002) von einer ‚fraglosen‘ Zugehörigkeit, sind sie es nicht, von einer ‚prekären‘. Als fremd wird bezeichnet, was als vom Vertrauten abweichend, als ‚anders‘ wahrgenommen wird (vgl. Hahn 1997, 135). Dabei ist Fremdheit nicht objektiv und ‚an sich‘ mit einer Sache verbunden, sie ist keine Eigenschaft von Personen, sondern stellt eine Konstruktion dar, die in sozialen Interaktionen vorgenommen wird. Waldenfels (1997) erklärt mit Bezug auf Husserl, dass es ein Fremdes „überhaupt“ (23) ebenso wenig geben könne wie ein „Links überhaupt“ (ebd.). Fremdheit lasse sich immer nur in Hinblick auf das „jeweilige Hier und Jetzt“ (ebd.) sowie in Bezug auf etwas bestimmen, das nicht als fremd wahrgenommen wird (vgl. Messerschmidt 2005, 217). „Als fremd gilt das, was aus der jeweiligen kollektiven Eigenheitssphäre ausgeschlossen […] wird. Fremdheit bedeutet in diesem Sinne Nichtzugehörigkeit zu einem Wir“ (Waldenfels 1997, 22). Als ‚Prototyp‘ des Fremden in modernen Gesellschaften gilt der Migrant (vgl. Simmel 1908). Die Paradoxie des Migranten als Fremder besteht darin, dass er einerseits Element der Gruppe ist und zugleich nicht dazugehört (vgl. 685). Somit liegt ein besonderes Verhältnis von räumlicher Nähe und zugeschriebener Ferne vor. Als Fremdheitsmarker, also Merkmale aufgrund derer Personen von einem ‚Wir‘ exkludiert werden, fungieren sichtbare Zeichen des Migrationshintergrundes, die vom Normalitätsverständnis der Mehrheit abweichen, wie die Hautfarbe, die Sprache oder der Name. Die jeweiligen Eigenschaften stellen allerdings keine feste Größe dar, sondern sind immer abhängig vom sozialen Kontext und historisch wandelbar, wobei die Aushandlungsmacht bei der dominanten

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Für die folgenden Passagen wurden einige Formulierungen aus Zölch (2014) übernommen.

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Gruppe liegt (vgl. Messerschmidt 2005, 218). Dabei geht es nicht nur um die Konstatierung eines Unterschiedes, sondern auch um die „Bewertung dieses Unterschiedes“ (Stenger 1997, 160, Herv. i. O.). Das Verhältnis zwischen Etikettierenden und Etikettierten ist „nicht einfach reziprok in dem Sinne, daß zwei Gruppen einander fremd sind, sondern daß die Beteiligten sich darüber verständigt haben, wer ‚zu Hause‘ und wer ‚in der Fremde‘ ist“ (Hahn 1997, 142). „Insofern geht es im Fremdheitsdiskurs niemals nur um Fremdheit, sondern gleichzeitig um Ungleichheit“ (Messerschmidt 2005, 218). Um zu einem umfassenden und differenzierten Blick auf Fremdheit und Zugehörigkeit zu gelangen, muss daher stärker als etwa bei Simmel betrachtet werden, dass Konstruktionen von Fremdheit zumeist eine asymmetrische Machtbalance einschließen. Elias und Scotson (1990) etwa haben beschrieben, wie der Gruppenzusammenhalt der ‚Etablierten‘ und deren Zuschreibungen negativer Eigenschaften auf Neuhinzugekommene (die ‚Außenseiter‘) dazu beitragen, „dass einflussreiche Positionen vor allem für Angehörige der eigenen Gruppe reserviert bleiben“ (Schramkowski 2007, 94). Juhasz und Mey (2003) sprechen von verweigerter Zugehörigkeit, „wenn aufgrund fehlender Gruppenzugehörigkeit der Zugang zu sozialem Kapital und sozialer Anerkennung in Form von emotionaler Zuwendung, kognitiver Achtung und sozialer Wertschätzung vorenthalten wird“ (vgl. 304f). Und Geisen (2009) weist darauf hin, dass die Entscheidung über die Zugehörigkeit nicht nur die gesellschaftliche Verteilung von Ressourcen betreffe, sondern auch dazu führen könne, dass soziale Gruppen „zu kulturellen Zwangsgemeinschaften erstarren“ (43). Dies führe „zu einer sozialen und kulturellen Begrenzung der individuell-biografischen und gemeinschaftlichen Potenziale“ (ebd.). All dies betrifft oftmals auch Angehörige der so genannten zweiten oder dritten Generation, etwa die Nachkommen der ArbeitsmigrantInnen aus Ländern wie der Türkei oder Italien. Diese jungen Männer und Frauen sind in dem Land, in das die (Groß-)Eltern migriert sind, zur Welt gekommen, aufgewachsen und sozialisiert worden, beherrschen die deutsche Sprache zumeist perfekt, besitzen z.T. die einheimische Staatsangehörigkeit und haben zum Heimatland der (Groß-)Eltern oftmals nur noch einen touristischen Bezug (vgl. Neubauer 2001, 10). Somit sind sie keine Fremden im Sinne Simmels und dennoch werden auch sie vielfach von der Einwanderungsgesellschaft als fremd wahrgenommen, adressiert und diskriminiert. Im Gegensatz dazu wird die Fremdheit von Angehörigen anderer Nationen, wie Schweden, Dänemark oder England, die sich vielleicht wesentlich kürzer in Deutschland aufhalten und keinen deutschen Pass besitzen, unter Umständen nicht einmal registriert (vgl. ebd., 14f). „Eine Erklärung für dieses paradoxe Phänomen liefert die Tatsache, dass Fremdheit und Fremdwahrnehmung nicht einfach eine Folge der Andersheit sind, sondern als ein ‚Interpretament‘ derselben gesehen

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werden müssen“ (Neubauer 2001, 15). Das heißt, auch wenn jemand die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und somit ‚formell‘ Mitglied ist (vgl. Mecheril 2002, 110) – wie es bei (Spät-)AussiedlerInnen der Fall ist – kann dieser auf ‚informeller‘ Ebene dennoch als nichtzugehörig wahrgenommen und behandelt werden. Dies zeigt sich darin, dass eine Person in alltagsweltlichen Zusammenhängen aufgrund von Fremdheitsmarkern nicht selbstverständlich als Mitglied anerkannt wird (vgl. ebd.). Denn, so Mecheril (1994), „auch der deutsche Paß garantiert lange nicht die chancengleiche Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten“ (64). Und so hat auch Seklers (2008) Studie zu SpätaussiedlerInnen ergeben, dass diese sich den autochthonen Deutschen gegenüber nicht als gleichberechtigt erleben (vgl. 152). In Deutschland dominiert in Bezug auf gesellschaftliche Zugehörigkeiten eine binäre Ordnung im Sinne eines ‚Entweder-Oder-Verständnisses‘: „Personen sind also entweder deutsch und deshalb zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig oder türkisch oder russisch und somit in erster Linie ‚Ausländer‘, auch wenn der Einzelne sich mit beiden Ländern verbunden fühlt und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt“ (Schramkowski 2007, 79, Herv. i. O.).

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass für Menschen mit Migrationshintergrund eine eindeutige natio-ethno-kulturelle Selbstverortung zumeist nicht möglich ist und das „polare Denkschema Deutschland vs. Herkunftsland“ (Riegel 2004, 339) nicht der Lebenswelt und dem Selbstgefühl entspricht. Statt ‚entweder-oder‘ zeigen sich eher ‚sowohl-als-auch-Zugehörigkeiten‘. Für diese nennt Mecheril (1994) drei mögliche Konstellationen: die ‚doppelte Zugehörigkeit‘ (‚Ich bin deutsch und russisch’), die ‚changierende Zugehörigkeit‘ (‚Unter Russen bin ich Russe, unter Deutschen Deutscher’ oder ‚Unter Russen bin ich Deutscher, unter Deutschen Russe’) sowie die ‚partielle Zugehörigkeit‘ (‚Ich bin halb Russe und halb Deutscher’) (vgl. 78). Badawia (2002) spricht für bildungserfolgreiche MigrantInnen davon, dass sie sich einen ‚dritten Stuhl‘ schaffen würden, bei Otyakmaz (1995) sitzen die türkischen Migrantinnen ‚auf allen Stühlen‘, Atabay (1998) geht davon aus, dass Angehörige der zweiten Generation ihre kulturelle Identität in einer ‚Zwischenwelt‘ suchten und Sievers et al. (2010) sprechen über nationalstaatliche Rahmungen hinweg davon, dass die Heranwachsenden sich als ‚Europäer‘ verstünden. Diese Bilder entsprechen dem Gedanken der Hybridität (Bhabha 1990), der in den letzten Jahren Einzug in die Migrationsforschung gehalten hat (vgl. Fürstenau/Niedrig 2007, 260). Der ursprünglich aus der Biologie stammende Begriff erhielt durch Vertreter der postkolonialen Theorie eine neue Semantisierung und ist nun mit einer positiven Wertung von ‚Vermischung‘ konnotiert (vgl. Neubauer 2001, 120f). Hybridität meint, „dass ein Mensch sich zwei

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oder mehreren kulturellen Räumen gleichermaßen zugehörig fühlt“ (Foroutan/Schäfer 2009, 1), wodurch sich produktive Potentiale eröffnen könnten (vgl. Fürstenau/Niedrig 2007). Trotzdem ist es unverzichtbar, Hybridität auch unter dem Aspekt gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu betrachten. Neubauer (2011) weist darauf hin, dass es nicht eindeutig sei, „ob ein solches Oszillieren zwischen verschiedenen Gesellschaften und kulturellen Umfeldern als Bereicherung gesehen werden kann oder vielmehr Orientierungslosigkeit und Angst verursacht“ (125). Er hält den sozialen Status dabei für das entscheidende Stellglied. Ebenso kritisiert Žižek (1999) die rein euphemistische Betrachtung von Hybridität unter Ausschluss gesellschaftlicher Bedingungen: Es sei leicht, „die Hybridität des postmodernen Migrantensubjekts zu preisen, des ‚Nomaden’, der keine besonderen ethnischen Bindungen mehr hat, frei zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen flottiert usw. usf. Leider werden dabei zwei ganz verschiedene soziopolitische Ebenen verdichtet: einerseits der kosmopolitische Akademiker aus der Oberschicht oder der gehobenen Mittelklasse, der stets mit dem richtigen Visum ohne Probleme die Grenzen überquert, um seinen (finanziellen oder akademischen) Geschäften in unterschiedlichen Ländern nachzugehen und sich dabei der Differenzen erfreut; auf der anderen Seite der arme Arbeits(im)migrant, den Armut oder (ethnische, religiöse) Gewalt aus seiner Heimat vertrieben haben und für den die gelobte ‚Hybridität’ die sehr spürbare, traumatische Erfahrung bezeichnet, sich nie richtig niederlassen und seinen Status legalisieren zu können“ (155).

Auch an diesem Punkt sei auf die zwei Perspektiven auf Mitgliedschaft (formell – informell) von Mecheril verwiesen. Denn selbst wenn eine Person für sich das stimmige Selbstbild einer hybriden Mehrfachzugehörigkeit entwickelt hat, in dieser Mehrwertigkeit im gesellschaftlichen Alltag jedoch nicht anerkannt wird und weiterhin Missachtung erfährt – wie den strukturellen Ausschluss vom Besitz bestimmter Rechte oder die Herabwürdigung von individuellen und kollektiven Lebensweisen (vgl. Honneth 2003, 215ff) – wird er diese nur schwer leben können. Eine gelingende Selbstzuschreibung von Zugehörigkeit ist auf Anerkennung durch Andere angewiesen (vgl. Mecheril et al. 2003, 106; Schramkowski 2007, 79). Honneth (2003) geht sogar davon aus, dass die Anerkennung durch Andere der Selbstanerkennung vorgelagert sei und Selbstanerkennung sich daher letztlich nur in Strukturen der Anerkennung durch Andere entwickeln könne. Und auch empirische Studien weisen darauf hin, „dass nur diejenigen sich als Teil der Mehrheitsgesellschaft fühlen, die sich mit ihrer Mehrfachzugehörigkeit anerkannt fühlen“ (Schramkowski 2007, 316), was nur auf wenige zutreffe. Hinzukommt, dass viele MigrantInnen bereits im Herkunftsland Erfahrungen von Fremdzuschreibungen oder gar Ausgrenzung und Zurückweisung gemacht haben und machen. So

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berichten viele der AussiedlerInnen, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren nach Deutschland ausgewandert sind, dass sie in Polen oder der Sowjetunion als Deutsche wahrgenommen und ausgegrenzt worden seien und in Deutschland nun als Polen oder Russen von einer fraglosen Zugehörigkeit ausgeschlossen würden (vgl. Steiz 2011, 86). Diese doppelte Verkennung in beiden Ländern und die fehlende Anerkennung für das, als was man sich selbst empfindet, können die Situation zusätzlich erschweren. In diesem Zusammenhang wurde in letzter Zeit wiederholt das Konzept der lokalen Zugehörigkeit angeführt: „Unter lokalen Zugehörigkeiten verstehen wir eine Praxis, in der dem Anspruch darauf, dass das, was ich als Konsequenz meiner natio-ethno-kulturellen Positionierung bin, als akzeptabel angesehen und dass diesem Anspruch auf Zugehörigkeit an diesem konkreten Ort entsprochen wird“ (Mecheril/Hoffarth 2009, 254f).

Dieser konkrete Ort natio-ethno-kultureller Resonanz könne z.B. ein Fußballverein, eine Gang oder ein Stadtviertel sein. „Der ‚Ort‘ fungiert dabei als Ausweichstrategie einer eindeutigen national-gesellschaftlichen Positionierung, die ihnen verweigert wird, möglicherweise aber auch von den jungen Erwachsenen im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dominanen gesellschaftlichen Diskursen nicht gewünscht ist“ (Klein-Zimmer 2016, 297). Gerade für Heranwachsende kann es sehr wertvoll sein, in einem lokalen Kontext Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfahren. Allerdings findet ‚das Leben‘ immer auch außerhalb dieser begrenzten Räume statt. In den Medien, bei der Ausbildungsplatzsuche, auf Ämtern oder in der Bahn – überall dort stoßend die Heranwachsenden zumeist wieder auf die üblichen Stereotype, erfahren Missachtungen und bleiben von einer Teilhabe an gesellschaftlich machtvollen Positionen ausgeschlossen. Daher ist zu fragen, wie weitreichend der positive Effekt der lokalen Zugehörigkeit sein kann. Eine weitere Umgangsform kann die klare Zuordnung zu einer Ethnie sein. Entweder durch eine (Über-)Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft oder durch den Rückzug in die Community des Herkunftslandes. Beide Varianten können Halt und Orientierung geben, haben aber eine Tabuisierung anderer Anteile zur Folge (vgl. Grinberg/Grinberg, 1990), die destruktiv wirksam werden kann (vgl. Zölch 2010). Eine starke Assimilationsbewegung – besonders in der ersten Zeit nach der Migration – hat z.B. Schramkowski (2007) bei ihren InterviewpartnerInnen erlebt. Diese hätten oftmals über Jahre versucht, sich so anzupassen, dass ihre nichtdeutsche Zugehörigkeit nicht mehr zu erkennen ist. Da sie von der Mehrheitsgesellschaft aber dennoch nicht als vollkommen zugehörig betrachtet worden seien, hätten sie sich schließlich von dieser Strategie abgewandt (vgl. 271). Zurückweisungen erschweren das ‚Heimischwerden‘. Auch eine klare Bezugnahme auf den Herkunftskontext muss, so Treibel (1999), als wechselseitiger Prozess verstanden werden, der nicht von der ethnischen Herkunft als solcher

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abhänge (vgl. 203). Nachdem Heranwachsende mit Migrationshintergrund in eine marginalisierte Lage gebracht worden seien, könne Selbstethnisierung den Versuch darstellen, „das von der Mehrheitsgesellschaft beschädigte und bedrohte Selbstbewusstsein wiederherzustellen oder zu verteidigen“ (Yazıcı 2011, 181). Es ist festzuhalten, dass Selbst- und Fremdzuschreibungen stets als zwei Dimensionen von Zugehörigkeit betrachtet und unter Verhältnissen sozialer Ungleichheit sowie formalen und symbolischen Ein- und Ausgrenzungen analysiert werden müssen, durch die die subjektiven Handlungs- und Verortungsmöglichkeiten beeinflusst werden (vgl. Riegel/Geisen 2007, 12). 2.3 Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration Im Folgenden geht es darum, die theoretischen Erkenntnisse der beiden vorhergehenden Unterkapitel zusammenzuführen und um weitere Gedanken zu ergänzen. Dafür werden zunächst ausführlich die Analogien zwischen Adoleszenz und Migration beschrieben und die Spezifika adoleszenter Migration erklärt. Da (Spät-)AussiedlerInnen nahezu ausnahmslos im Familienverbund migrieren, wird es anschließend um die Folgen der Migration im Familienverbund gehen, wobei auch die besonderen Bedingungen im Kontext der Adoleszenz Erwähnung finden. Abschließend wird die Frage thematisiert, welche Besonderheiten männlicher Adoleszenz sich in der Migration zeigen. Dies ist deshalb relevant, da im empirischen Teil ausschließlich junge Männer untersucht werden. 2.3.1 Analogien zwischen Adoleszenz und Migration Machleidt (2007) bezeichnet Migration als Individuationsprozess und spricht hinsichtlich der Analogie zu den Entwicklungsleistungen der Adoleszenz von einer „kulturelle[n] Adoleszenz“ (17). Dies könne als „Metapher für die mentalen und sozialen Veränderungen bei der Migration verstanden werden“ (ebd., 18). Zugleich soll dadurch deutlich werden, dass Migration nicht schlicht einen Prozess des Dazulernens darstelle, sondern die Persönlichkeit als Ganzes durch diese einen Wandel vollziehe (vgl. ebd., 14ff). Sowohl bei Adoleszenz als auch bei Migration gehe es um den Übergang von einem ‚Drinnen‘ zu einem ‚Draußen‘. In der Adoleszenz werde das ‚Drinnen‘ der Familie verlassen und erfolge ‚draußen‘ die Aufnahme in die Gesellschaft. Bei der Migration erfolge ein Aufbruch aus dem ‚Drinnen‘ der vertrauten Ursprungsgesellschaft und ‚draußen‘ die Aufnahme in eine andere Kultur (vgl. ebd., 16ff). Die Trennung von den psychischen bzw. sozialen

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Räumen der Kindheit bzw. Heimat könne Schmerzen und Ängste auslösen. Andererseits erweitere sie den psychischen und sozialen Erfahrungshorizont des Individuums und ermögliche einen Zugewinn an Freiheitsgraden (vgl. ebd., 18). Kaum ein anderer Biographieabschnitt biete die Chance, „die eigene Vergangenheit und Zukunft aus einer neuen Individualdistanz bzw. einer kulturellen Neuorientierung heraus zu bewerten und frühere Sinnstiftungen und Bedeutungen zu revidieren“ (ebd., 20). Hilfreich dafür seien Freundschaftsbeziehungen außerhalb der Familie sowie neue Beziehungen in der Ankunftsgesellschaft (vgl. ebd., 19). Die daraus resultierende Entwicklung einer „bi- oder mehrkulturellen Identität“ (ebd., 15) auf einem höheren Integrations- und Individuationsniveau bezeichnet Machleidt als „zivilisatorischen Vorteil (…) für die soziale Teilhabe in einer zunehmend von Mehrkulturalität geprägten Welt“ (ebd., 15). Der „Neuanfang“ im Zuge der Migration könne als Chance genutzt werden, „das in der Kultur zu korrigieren, was in der Heimatkultur misslang“ (ebd., 22). Grundsätzlich kann den Ausführungen Machleidts gefolgt werden, jedoch mit zwei Einschränkungen: Zum einen nimmt er einen sehr privilegierten Blick auf Migration ein, indem er sich ausschließlich auf freiwillig Migrierende bezieht und den Einfluss struktureller Bedingungen im Aufnahmeland, wie berufliche Degradierung oder Missachtungserfahrungen, für den „Neuanfang“ nicht mitbedenkt. Zum anderen betrachtet Machleidt die beiden Prozesse in einer chronologischen Abfolge: erst die Adoleszenz, dann die Migration und bezieht sich demnach (ohne dies explizit zu thematisieren) nur auf Erwachsene, die irgendwann im Anschluss an ihre Adoleszenz migrieren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Migrationserfahrungen für Heranwachsende „von fundamental anderer Qualität sind als für Erwachsene“ (Kirsch 2010, 15). Was also ist, wenn Adoleszente in den Fokus gestellt werden und parallel zum Verlassen der Kindheit auch die Heimat zurückgelassen werden muss, also somit die beiden Transformationsprozesse – Adoleszenz und Migration – zusammentreffen? Migration ist die Bewegung von einem Ort an einen anderen, verbunden mit den unter 2.2 ausgeführten Transformationsanforderungen. Auch Adoleszenz kann als eine Bewegung verstanden werden – äußerlich wie innerlich – von einem Lebensabschnitt zum nächsten und ist ebenso mit zahlreichen Transformationsanforderungen verbunden (siehe 2.1). Beide Bewegungen führen vom Vertrauten in die Fremde und stellen den Menschen vor spezifische Herausforderungen. Das Zusammentreffen von adoleszenz- und migrationsspezifischen Herausforderungen wird von King und Schwab (2000) als „verdoppelte Transformationsanforderung“ (211) bezeichnet (an anderen Stellen auch als „doppelte Transformationsanforderung“, z.B. King 2005a, 58ff). Die adoleszente Krisensituation werde durch die migrationsbedingte Krisensituation verdoppelt und berge daher die Ge-

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fahr des Scheiterns. Die Autorinnen weisen aber auch auf die Möglichkeit der produktiven Bewältigung hin. Diese sei dann denkbar, wenn angemessene Zeit- und Spielräumen zur Verfügung stünden und das soziale Umfeld ausreichend Fürsorge, aber auch Zurückhaltung entgegenbringe (vgl. ebd., 211). Diese Perspektive wurde seitdem vielfach in qualitativen Arbeiten aufgegriffen (z.B. Günther 2009; Renken 2012). Der Begriff der ‚Verdopplung‘ hat aber auch Kritik erfahren, vor allem, da er als simple Addition (falsch) verstanden wurde (z.B. bei Ruhland 2009, 68). Ein so komplexes Zusammenspiel in einen Begriff zu bannen, ist ohne Bedeutungsreduktion kaum möglich. Dabei ist mit dem Konzept gerade nicht in einem einfachen Sinne gemeint, dass die Herausforderungen der Adoleszenz additiv um den Aspekt der Migration ergänzt werden oder umgekehrt. Stattdessen sollen die beiden Prozesse differenziert in Hinblick darauf betrachtet werden, wo sie sich gegenseitig verstärken, blockieren oder befruchten. Es soll, anders als der Begriff der Verdopplung eventuell impliziert, nicht die Quantität, sondern die Qualität in den Blick genommen werden. Auch Heranwachsende, die mit Migrationshintergrund bereits im Einwanderungsland der Eltern geboren wurden, sind von dieser verdoppelten Anforderung betroffen, denn ihre adoleszenten Auseinandersetzungen werden von den „Folgen der Migration für die Familie und die Art der Verarbeitung durch die Eltern“ (King/Koller 2009, 12) geprägt. Diese kommen über die Generationenbeziehungen und Familiendynamiken zum Ausdruck und bringen spezifische Voraussetzungen für die adoleszenten Entwicklungen der Kinder mit sich. Auch für jene, die nicht selbst migriert sind, spielen z.B. Fragen nach der eigenen natioethno-kulturellen Zugehörigkeit in Abhängigkeit von Fremd- und Selbstzuschreibungen eine Rolle (vgl. 2.2.2). In dieser Arbeit wird jedoch von der Annahme ausgegangen, dass für diejenigen, bei denen es zu einem zeitlichen Zusammentreffen der beiden Transformationsprozesse von Adoleszenz und Migration kommt, eine spezifische Konstellation besteht, die – im Verhältnis zu einer Adoleszenz ohne Migration oder einer Migration in einer anderen Phase als der Adoleszenz – einen Unterschied macht. Heranwachsende in der Migration müssen sich nicht nur mit adoleszenten Themen auseinandersetzen, sondern auch ganz unmittelbar mit den Folgen und Anforderungen von Migration. Beispielsweise haben die für selbst Migrierte bedeutsamen Herausforderungen, wie der Erwerb einer neuen Sprache, für bereits in Deutschland geborene Kinder mit Migrationshintergrund zumeist keine oder nur eine geringe Bedeutung (vgl. Schramkowski 2007, 199f). Beide Prozesse – Adoleszenz und Migration – sind von Trennungs- und Fremdheitserfahrungen sowie den Themen Abschied und Um- bzw. Neugestaltung geprägt (vgl. King 2005a, 65) und beiden sind ähnliche virulente Themen und Grundfragen inhärent. Günther (2009) geht davon aus, dass genuin adoleszente

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Themen „durch die Migration eine krisenhafte Verstärkung erfahren“ (244). Bei der Beschäftigung mit den zentralen Leitfragen der adoleszenten Entwicklung („Wer bin ich? Woher komme ich? Wer will ich sein?“ (King 2000a, 53, Herv. i. O.)) müssen der eigene Ursprung, die Familie, familiale Muster und die (Familien-)Geschichte (mit ihren Besonderheiten und Traditionen) neu angeeignet werden, um dann kritisch und reflexiv distanziert betrachtet werden zu können (vgl. King/Schwab 2000, 214). Auch im Kontext von Migration „muss die Gegenwart mit der Vergangenheit (in der alten Heimat) und der Zukunft (in der neuen Heimat) verbunden werden“ (Hauser 2012, 141). Diese Auseinandersetzung findet durch die Wanderung unter besonderen Bedingungen statt, da „die Bindungen an die eigene Geschichte und den eigenen Ursprung zunächst wie abgeschnitten erlebt werden und immer wieder neu hergestellt werden müssen“ (King/Schwab 2000, 214 mit Bezug auf Winnicott). In Kapitel 2.1 wurde Deutsch (1947) zitiert, die davon spricht, dass in der Phase der Adoleszenz „eine Leere zwischen einer Welt [bestehe], die im Verschwinden ist, und einer anderen, die noch nicht fertig ist“ (8, zit. n. King 2013, 200). Diese Metapher kann auch auf die Migrationssituation übertragen werden: Die Welt des Herkunftslandes ist „im Verschwinden“ und die des Aufnahmelandes „noch nicht fertig“ – in dem Sinne, dass es dauert, ehe man ‚angekommen‘ ist und sich neu verankert hat. Auch sind „Raum und Zeit […] als miteinander verschränkte Kategorien zu sehen. Die Vergangenheit der Familie ist nicht nur in einer anderen Zeit, sondern auch in anderen Orten mit anderen kulturellen und sozialen Ordnungen verankert“ (Gerner 2011, 65). Analog zu den virulenten Fragen der Adoleszenz könnte man für die Migration ergänzen: Wer bin ich im Verhältnis zum Ankunftsland und in Hinblick auf meine hier (anfangs) begrenzten Fähigkeiten? Aus welchem Herkunftskontext sowie welchen familialen und freundschaftlichen Beziehungen komme ich und was ist damit für mich verbunden? Welche realistischen Möglichkeiten bieten sich mir in der Zukunft und wo kann/soll diese stattfinden? Hinzukommt, dass das eigene Selbstbild durch die Migration (zumindest phasenweise) aufgrund plötzlich begrenzter Kompetenzen (z.B. fehlende Sprachkenntnisse) berührt wird und mögliche Abwertungserfahrungen beschränkend wirken. Die im Herkunftsland begonnene Bildungslaufbahn wird (z.T. abrupt) unterbrochen und eventuell vorhandene berufliche Pläne müssen neu entwickelt und unter Umständen sogar verworfen werden. Die Herausforderung der Adoleszenz, sich mit den eigenen Stärken und Schwächen realistisch auseinanderzusetzen und sich mit der eigenen Unvollkommenheit auszusöhnen, wird durch die Begrenzungen infolge der Migration erschwert. Mit der Migration ist u.a. dadurch, ebenso wie für die Adoleszenz, eine gewisse Entwurzelung oder Verunsicherung verbunden; und für beide Prozesse kann der Begriff der Krisis verwendet werden (in dem Verständnis, das in 2.2.1 dargelegt wurde). Heranwachsende in der Migration

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müssen sich in zweifacher Hinsicht neu verorten und verankern (vgl. Wischmann 2010, 40). Fraglich ist, inwieweit diese nach der Migration noch in der Lage sind, wie es Erdheim (1982) als typisch für die Adoleszenz beschreibt, „das Überlieferte in Zweifel zu ziehen, zu verunsichern und neue Perspektiven zu suchen“ (296) und gleichzeitig sich selbst „nicht zu verlieren und die Kontinuität zu wahren“ (ebd.). Zu klären ist auch, inwieweit Größen- und Allmachtsphantasien in diesem Kontext überhaupt möglich sind. Zahlreiche AutorInnen gehen gerade für die Migration in der Phase der Adoleszenz von besonderen Risiken aus (z.B. Grinberg/Grinberg 1990; Ahearn/Athey 1991; Akhtar 2007; Adam 2009). King und Schwab (2000) beschreiben anschaulich, dass das adoleszente „Sich-selbst-fremd-geworden-sein“ (215) durch die mit der Migration verbundenen Fremdheitserlebnisse zu einem „Sich-selbst-und-anderen-fremd-geworden-sein“ (ebd.) werden könne, in dessen Folge eine aneignende Selbstverankerung ebenso schwerfalle wie die souveräne Distanzierung von bestimmen kulturellen Normen. Adoleszente MigrantInnen „müssen sich erst einmal verankern, um sich wiederum lösen zu können“ (ebd.). Ohne Rückhalt von außen könne dies die notwendige Trauerarbeit verhindern und stattdessen zu Depressionen, Somatisierungen und hypochondrischen Ängsten führen (vgl. ebd., 216). Die individuelle Ausgestaltung des Spannungsfeldes hänge vor allem davon ab, „in welcher Weise Migrationserfahrungen in den adoleszenten Entwicklungsprozessen verarbeitet werden oder in welcher Weise adoleszente Entwicklungen durch die Migration gefördert oder gehemmt, verändert oder nicht verändert werden“ (ebd., 211). Die Auseinandersetzung und Bewältigung der Herausforderungen wird durch unterschiedliche Bedingungen beeinflusst, wobei vor allem sichere soziale Beziehungen als unterstützende Ausgangslage bedeutsam sind. Allen voran wird der Umgang durch die Qualität der familialen Beziehungen bestimmt (vgl. z.B. Delcroix 2001; Günther 2009; King 2009a), die unter 2.3.2 eingehend behandelt werden. Ressourcen der Familie und soziale Netzwerke erleichtern diesen ebenfalls (vgl. z.B. Nauck et al. 1997; Baros 2001; Delcroix 2001; King 2009a; Zölch et al. 2009). Für den Übergang des/der Adoleszenten von der Familie zur Gesellschaft ist es bedeutsam, dass außerhalb der Familie Möglichkeiten neuer Beziehungsformen geboten werden. Forschungen über intra- und interethnische Peergroups (Haug 2003; Nohl 2005; Scheibelhofer 2005; Reinders 2006) zeigen u.a. die Bedeutung von Freunden als „emotionale Stütze bei Fremdheitserfahrungen“ (Scheibelhofer 2005, 224). Wohingegen jüngere Kinder stark an die Beziehungen in der Familie gebunden sind, haben ältere Kinder im Herkunftsland sehr wahrscheinlich schon ein stärkeres Explorationsverhalten nach außen gezeigt, sodass für sie der Verlust von Freundschaftsbeziehungen durch die Migration gravierender ist. Das Alter spielt auch eine Rolle für den Zugang zu potentiellen neuen Freundschaften. Bei

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einer Migration im Kindergarten- oder Schulalter bestehen zwangsläufig Kontakte zu anderen Kindern, die eventuell zu Freundschaften führen können. Schwieriger gestalte sich die Situation Dietz und Roll (1998) zufolge für die nicht mehr schulpflichtigen 18- bis 25-Jährigen. Sie würden, ebenso wie die Elterngeneration, zunehmend in eine soziale Isolation geraten (vgl. 100). Den über 22-jährigen (Spät-)AussiedlerInnen falle der Aufbau neuer Freundschaften am schwersten; 39,5 Prozent sagten, dass sie in Deutschland keine engen Freundschaften besäßen (vgl. ebd., 104). Wenn überhaupt, überwiegten intraethnische Peergroups, die ihnen „Schutz und Sicherheit gegen eine als fremd empfundene Umwelt“ (vgl. 100) bieten würden. Die von Sekler (2008) untersuchten jungen Erwachsenen waren der Meinung, dass es „wahre Freundschaft“ (218) nur in der Eigengruppe geben könne. Der Rückzug in eine ethnische Community kann Halt geben und helfen, die Fremdheitserfahrungen zu bearbeiten. „Eine enge Anbindung an die ethnischen Gemeinschaften kann jedoch auch die Beziehungsgestaltung zur Aufnahmekultur beeinflussen“ (Günther 2009, 89). Bei adoleszenten MigrantInnen kommt es – im Gegensatz zu in Deutschland Geborenen mit Migrationshintergrund – zu einem kompletten Abbruch bestehender Freundschaftsbeziehungen in genau der Phase, in der diese so sehr benötigt werden (ausführlich unter 2.1.3) und das Knüpfen neuer Kontakte erweist sich oftmals als schwierig. In der Folge fehlt es häufig auch an Gleichaltrigenkontakten, die für das Vorantreiben der Ablösung der Heranwachsenden von ihren Eltern relevant sind und helfen, das phasenweise bestehende Anerkennungsvakuum auszuhalten (vgl. King 2006, 220). Hurrelmann (2004) beschreibt zudem, dass das Fehlen von Freundschaften im Jugendalter zu negativen Konsequenzen, wie depressiven Stimmungen, einem negativen Selbstbild oder einem geringeren Wohlbefinden führen könne (vgl. 129). Die MigrantInnen oftmals verwehrte volle gesellschaftliche Teilhabe sowie die Verweigerung sozialer Wertschätzung und Anerkennung können sich fatal auf das Erleben als handlungsfähiges und wirkmächtiges Subjekt auswirken (vgl. Honneth 1992). Der adoleszente Möglichkeitsraum wird durch wiederholte Erfahrungen von Verkennung und Missachtung (auch im Kontext von Migration) erheblich beschränkt (vgl. Wischmann 2010; vgl. auch 2.1.3). Günther (2009) kommt in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass Diskriminierungserfahrungen sowie Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozesse ein großes Hindernis bei der Bewältigung der Herausforderungen adoleszenter Migration bedeuten würden (vgl. 244). In der ‚öffentlichen Deutung‘ stehen bestimmte Gruppen im Mittelpunkt einer besonders problemzentrierten Sichtweise: „Männliche Jugendliche aus der Türkei, dem Kosovo oder Albanien sowie junge Spätaussiedler“ (Riegel/Geisen 2007, 15). Vor allem Angehörige dieser Gruppen sehen sich im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, in den Medien und alltäglichen Situationen in ver-

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stärkter Weise mit unterschiedlichen Facetten von Benachteiligung und Ausgrenzung konfrontiert. Diese „Alltäglichkeit der Thematisierung als Andere“ (ebd., 8) lässt die Auseinandersetzung mit der eigenen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit virulent werden, die in der Phase der Adoleszenz ihren Höhepunkt findet. Dabei stimmen die von außen vorgenommenen Zuschreibungen nur bedingt oder gar nicht mit den subjektiven Selbstverortungen der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund überein, was zu Widersprüchen und Spannungen zwischen Selbstund Fremdzuschreibungen führen kann (vgl. ebd.). Die Zuschreibung einer Außenseiterrolle (im Sinne von Elias/Scotson 1990) durch die „in der Adoleszenz immer wichtiger werdenden Instanzen wie Peergroup, Schule oder Öffentlichkeit“ (Zölch et al. 2009, 69), wirkt zudem auf die familialen Ablösungsprozesse zurück. Das für den adoleszenten Entwicklungsprozess notwendige Gefühl des Aufgehobenseins und der Sicherheit wird dadurch beeinträchtigt (vgl. King/Schwab 2000, 213). Sich in diesem Rahmen von der Familie abzulösen würde dazu führen, „die eigene Person verstärkt der allgemeinen gesellschaftlichen Ablehnung auszusetzen. Autonomie gegenüber den Eltern und ihrem sozialen Milieu zu erarbeiten, geht daher für junge Menschen aus eingewanderten Familien mit einer gewissen Ambivalenz und einem erhöhten Maß an sozialer Verwundbarkeit einher“ (Tietze 2006, 159).

Zahlreiche Untersuchungen sprechen davon, dass „unter Migrationsbedingungen zunächst kaum adoleszentes Bestreben um Autonomie zu erwarten“ sei20 (Ruhland 2009, 106, vgl. z.B. auch Herwartz-Emden 2000; Rohr 2001; Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2005; Nauck 2006; Gapp 2007). Andere WissenschaftlerInnen (z.B. Sauter 2000; Riegel 2004) weisen darauf hin, dass diese negativen Bedingungen auch ein Aufbegehren wecken könnten, das zur Entwicklung und Nutzung neuer Handlungsmuster führen könne. Wichtig ist es in diesem Kontext, die strukturellen Bedingungen und Entwicklungsspielräume vor und nach der Migration zu vergleichen. Im Verhältnis zum Land der Herkunft kann der gesellschaftlich etablierte Spielraum der Jugendphase im Einwanderungsland größer sein, sodass sich der adoleszente Möglichkeitsraum im Zuge der Migration potentiell erweitert. In diesem Falle kann die Migration zu einem Autonomiegewinn beitragen. Allerdings kann ein generell vorhandener Raum durch strukturelle Bedingungen wie soziale Ungleichheiten oder Diskriminierung trotzdem nicht von allen gleichermaßen genutzt werden. Zudem kann die „Forderung nach Eigenständigkeit, die modernisierte Gesellschaften von ihren Mitgliedern in hohem Maße verlangen“, zu Überforderung führen, „weil

20 Ergebnisse zu Geschlechterunterschieden für diesen Punkt werden unter 2.3.3 ausführlich vorgestellt.

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die individuelle Autonomie in ihrer Herkunftsgesellschaft eine deutlich geringere Rolle spielt“ (Günther 2009, 88f). Exkurs: Adoleszenz in Russland Es gibt kaum deutschsprachige Publikationen zum Thema ‚Adoleszenz in Russland‘ und in Russland selbst stellte die Jugendphase lange Zeit ein kaum beachtetes Forschungsthema dar (vgl. Kon 1991, 34). Die vorliegenden Texte kommen zu dem Ergebnis, dass der Raum der Adoleszenz in der ehemaligen Sowjetunion anders strukturiert ist, vor allem zeitlich wesentlich kürzer als in Deutschland (vgl. Herwartz-Emden/Westphal 2002, 14f). Da der Mittelschulabschluss bereits nach zehn Jahren ein Studium ermöglicht, kann dieses auch wesentlich früher abgeschlossen werden als in der Bundesrepublik. Rein zeitlich ist der Raum für adoleszente Entwicklungen (für deutsche Studierende) demnach größer. Noch früher in den Beruf starten jene, die die Schule schon nach acht Jahren verlassen und nicht studieren. In der Folge gibt es in Russland „eine Tradition früher Heirat“ (Nauck/Trommsdorff 2009, 6) und Familiengründung. Zinnecker (1991) schreibt, dass in Bezug auf Liebesbeziehungen weniger Erprobung und ein früheres Festlegen auf einen Partner zur Familiengründung stattfinde (vgl. 22). In den 1980er-Jahren lag das Erstgebärendenalter der Frauen bei knapp 23 Jahren (vgl. Klaus/Suckow/Soloveva 2009, 13), da es sich „überaus veränderungsresistent“ (ebd., 14) zeigt, ist es bis heute kaum gestiegen. Für die Länder der ehemaligen Sowjetunion sprechen mehrere WissenschaftlerInnen von einem eher transitorischen Übergang in den Erwachsenenstatus im Vergleich zu Deutschland, in dem das Moratorium überwiege (vgl. Hurrelmann 2004, 42f). Meine Interviewpartner sind zwischen 1978 und 1984 in Ländern der ehemaligen Sowjetunion geboren. Rosenthal und Stephan (2009) gehen davon aus, dass die vor 1984 Geborenen in ihrer Primärsozialisation noch Werte des Sozialismus als natürliches Weltbild mitbekommen hätten und z.T. noch in der sowjetischen Schule im Sinne des Sozialismus sozialisiert worden seien (vgl. 169). In ihren Interviews haben die AutorInnen die Erfahrung gemacht, dass bei diesen „Vergleiche zwischen der sowjetischen Gesellschaft und jener in Deutschland bzw. zwischen den Erlebnissen im sowjetischen und denen im bundesdeutschen Schulalltag ausgesprochen dominant“ (ebd.) seien. Die zunehmenden Transformationen in der Sowjetunion und der letztliche Zusammenbruch dieser haben zu „dem Verlust von weltanschaulichen Orientierungswerten für die Jugend“ (Kon 1991, 31) geführt sowie eine materiell schwierige Lage mit sich gebracht (vgl. Winzen 2001, 23). Die zu dieser Zeit Jugendlichen werden daher von sowjetischen SoziologInnen und PädagogInnen als ‚verlorene Generation‘ bezeichnet. Auch noch in den folgenden Jahren, in denen meine Interviewpartner in den Nachfolgestaaten adoleszent wurden oder geworden wären, hat sich „die soziale und wirtschaftliche Lage der Jugend […] spürbar verschlechtert […]. Insgesamt kann man sagen, daß die Situation instabil ist und unabdingbare Voraussetzungen für die Selbstbestimmung der Jugend nicht gewährleistet sind“ (Melent’eva 2001, 88, Herv. i. O.).

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Es kann daher vermutet werden, dass adoleszente MigrantInnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland eine größere soziale Sicherheit erleben und potentiell ein erweiterter adoleszenter Möglichkeitsraum besteht, der mehr Freiheiten dafür gewährt, „verschiedene Bereiche der Kultur zu erobern“ (Günther 2009, 88). Da die Adoleszenz in Kap. 2.1 als intergenerationales Geschehen präsentiert wurde, ist es jedoch bedeutsam, sich nicht nur auf den vermutlich vorhandenen Möglichkeitsraum zu beziehen, sondern auch individuell zu betrachten, welchen Raum die jeweiligen Familien ‚bereitstellen‘. Darüber hinaus ist es unverzichtbar, die gesellschaftlichen Bedinungen in ihren Auswirkungen individuell einzubeziehen.

Am Ende der Ausführungen zur Adoleszenz (vgl. 61) habe ich ein längeres Zitat Kings (2013) wiedergegeben, in dem sie die Adoleszenz mit einer Reise „in die Zukunft“ vergleicht, „die zugleich eine Auseinandersetzung mit Ursprung und Geschichte beinhaltet“ und deren Bewältigung davon abhänge, ob ausreichend „Proviant“, also „psychische Ressourcen“ zur Verfügung stünden und „wieviel Hilfestellung […] von außen“ (alles 110) komme. Migration kann für diejenigen, die selbst migrieren, ganz konkret als physische Reise betrachtet werden und darüber hinaus auch metaphorisch als psychische Reise verstanden werden. Die Metapher verdeutlicht die besondere Herausforderung adoleszenter Migration: Jemand, der sich bereits auf einer Reise befindet, muss sich von dort aus zeitgleich noch auf eine weitere Reise begeben. Dies kann zu Verzögerungen, Umwegen oder gar dem Abbruch der Reise führen, aber auch ganz neue Wegstrecken, Verbindungen und Erlebnisse hervorbringen. Das Zusammentreffen von adoleszenter und migrationsbedingter Krisensituation wirkt auf die Chancen- und Risikolage des Möglichkeitsraumes und beinhaltet sowohl die Gefahr des Scheiterns als auch das Potential zur produktiven Bewältigung. Der Verlauf ist als davon abhängig zu betrachten, ob – wie oben angeführt – „ausreichende psychische Ressourcen“ vorliegen bzw. ob diese auch noch für die hinzukommende Reise ausreichend sind und wie viel Hilfestellung sowohl von Familie als auch vom sozialen Netzwerk hinzukommt. Bedeutsam ist zudem, ob die gesellschaftlichen Bedingungen den Heranwachsenden die Möglichkeit bieten, die Reise überhaupt anzutreten. Darüber hinaus geht es auch bei der Reise der Migration ganz klar um „eine Auseinandersetzung mit Ursprung und Geschichte“, denn es gilt – wie oben beschrieben – die Gegenwart mit der Vergangenheit im Herkunftsland und der Zukunft im Einwanderungsland in Einklang zu bringen. Zusammenfassend kann visualisiert werden, dass Adoleszenz und Migration je eigene Herausforderungen mit sich bringen, die sich z.T. überschneiden und miteinander interagieren. Der Umgang mit dem Zusammentreffen der beiden Transformationsprozesse wird durch ein Zusammenspiel von familialen Beziehung und deren Dynamik, das zur Verfügung stehende soziale Netzwerk sowie die gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst, wie es Abbildung 1 zeigt.

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Abbildung 1:

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Zusammentreffen der Herausforderungen von Adoleszenz und Migration (eigene Darstellung)

2.3.2 Folgen der Migration im Familienverbund Für die Phase der Adoleszenz ist es – wie unter 2.1.3 ausgeführt – relevant, welche Zeit- und Spielräume den Heranwachsenden (auch) von den Eltern zugestanden werden, wobei es zum einen bedeutsam ist, dass die Eltern den Kindern (emotionalen) Freiraum lassen und zum anderen, dass sie dennoch „einen sicheren Hafen bieten“ (King 2010a, 15). Im Kontext von Migration kann sowohl das eine als auch das andere beschränkt werden. Durch die Migration im Familienverbund wird die ganze Familie mit dem Verlust ihres sozialen Umfelds und ihrer vertrauten Umgebung konfrontiert. Alle Familienmitglieder müssen sich im Einreiseland neu orientieren und verorten, wobei dies je nach Alter und Situation unterschiedliche Herausforderungen mit sich bringt. Dies kann dazu führen, dass die Eltern ihre Orientierung bietende und beratende Funktion den Kindern gegenüber (phasenweise) nicht mehr so wahrnehmen können wie im Herkunftsland (vgl. SchmittRodermund/Silbereisen 1996). Viele Eltern sind „sehr mit der eigenen Problematik und Fragen der Existenz beschäftigt“ (Kalifa-Schor 2002, 207) und von sozialer Entwertung auf verschiedenen Ebenen betroffen (vgl. ebd.). Die Eltern „als Menschen in einem tiefen persönlichen Umbruch“ (Kohte-Meyer 2006, 83), als

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schwach und hilflos zu erleben, kann die Kinder verunsichern. Zudem können Risse im bestehenden Bild von Vater und Mutter entstehen. In der Folge fallen die Eltern oftmals als grenzensetzende Instanzen sowie geeignete Rollenvorbilder weg (vgl. Zimmermann 2012, 66f).21 Dabei sind sichere Beziehungen und der Rückhalt durch die Familie gerade dann von besonderer Relevanz, wenn es um den Umgang mit psychosozialen Belastungen von außen, wie Diskriminierung, geht (vgl. Hamburger/Hummrich 2007, 120ff). Dabei ist es möglich, dass Vater und Mutter unterschiedlich (stark) reagieren, was ebenso wie unterschiedliche (berufliche) Anknüpfungsmöglichkeiten in Deutschland, zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse führen kann. Dies betrifft auch den sprachlichen Bereich. Da Kindern und Jugendlichen der Spracherwerb kognitiv zumeist leichter fällt (und sie durch das Bildungssystem stärker in Kontakt mit der deutschen Sprache kommen als die Eltern), können sie in die Lage geraten, die Kompetenzen der Eltern schon bald zu überflügeln und z.B. als Übersetzer agieren zu müssen. „Die narzisstische Kränkung, Eltern zu haben, die nicht richtig Deutsch sprechen und sich nicht frei in dieser Gesellschaft bewegen können, geht stark mit Schuldgefühlen einher, den Eltern nicht treu genug zu sein“ (Kalifa-Schor 2002, 207). Es kann zu einer familialen ‚Generationenumkehrung‘ kommen, mit der ein Macht- und Funktionsverlust der Eltern verbunden ist und bei der die Heranwachsenden in Teilen die Elternrolle übernehmen müssen. Vorausgesetzt die Kinder verfügen über ausreichend Ressourcen, könne dies Walter und Adam (2008) zufolge als selbstwertstärkend erlebt werden, indem es ihnen das Gefühl vermittelt, trotz Migration über wertvolle Kompetenzen zu verfügen (vgl. 231f). Zumeist stelle eine solche Parentifizierung jedoch eine Überforderung dar, die „mit Gefühlen der Verlassenheit und Hilflosigkeit“ (Zimmermann 2012, 67) einhergehe. Zum Teil verheimlichten die Kinder „ihre eigenen psychischen Belastungen und wollen (unbewusst) stattdessen stellvertretend für die Eltern deren Traumata verarbeiten“ (ebd.). Uslucan (2011) spricht davon, dass es in Bezug auf Transmissionen in Migrantenfamilien auch eine „bidirektionale“ Form derart geben könne, „dass Kinder auch ihren Eltern relevante Inhalte der ‚neuen‘ Kultur vermitteln, bei denen also Kinder ihre Eltern ‚sozialisieren‘, weil ihre sprachlichen und kognitiven Ressourcen größer sind“ (255). Die Migration einer Familie führt demnach nicht nur zu erheblichen Veränderungen in der Lebensführung, sondern auch in der jeweiligen Familiendynamik; Positionen und Machtverhältnisse können sich verschieben (vgl. Rosenthal et al. 2011, 206). Dies stellt einen Unterschied zu jenen Heranwachsenden dar, die im Einreiseland geboren werden, nachdem ihre Eltern dort bereits einige oder längere Zeit gelebt haben. Auch 21

Die Folgen des ‚entwerteten Vaters‘ für den Sohn werden in 2.3.3 behandelt.

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dort waren und sind Vater und Mutter von den Folgen der Migration betroffen und auch dort sprechen die Kinder vielleicht schon bald ein besseres Deutsch als ihre Eltern. Jedoch erleben sie die Orientierungsschwierigkeiten der Eltern und die Verschiebung der innerfamilialen Rollen nicht so unmittelbar mit wie jene, die in der Phase der Adoleszenz gemeinsam mit ihrer Familie migrieren und dies ‚hautnah‘ und bewusst spüren. Ebenso unterscheidet sich die Konstellation grundlegend, in der Heranwachsende elternunabhängig migrieren, denn wenn die Eltern im vertrauten Herkunftsland verbleiben, muss nur der adoleszente Migrant/die adoleszente Migrantin sich unmittelbar mit den Herausforderungen der Migration auseinandersetzen. Eine wichtige Frage ist daher, wie die Heranwachsenden damit umgehen, wenn die Eltern, deren Halt sie trotz zunehmender Autonomiebestrebungen noch immer brauchen, an Kompetenz verlieren. Zu klären ist auch, wie es sich auf die Auseinandersetzung mit den Eltern auswirkt, wenn diese sich zeitlich parallel verändern und die familialen Positionen und Kräfteverhältnisse sich verschieben. In Zusammenhang mit der familialen Dynamik sind auch Delegationen der Eltern an die Kinder zu betrachten. Der Begriff der Delegation oder des Auftrags stammt ursprünglich aus der systemischen Familienforschung und -therapie. Dabei wird akzentuiert, dass es bei Delegationen an das Kind vorrangig um die Befriedigung von Wünschen der Eltern oder eines Elternteils geht. Im Rahmen der Delegation richten diese (zumeist unbewusst) einen Auftrag an ihr Kind, „machen es zu ihrem Stellvertreter, zur Verlängerung ihres Selbst“ (Stierlin 1975, 66). Dieser Gedanke ist bereits in dem lateinischen Verb ‚delegare‘ enthalten, „das erstens aussenden und zweitens mit einer Mission betrauen bedeutet. Letzteres besagt, daß der Delegierte zwar fortgeschickt wird, aber dem Sender verpflichtet bleibt“ (Stierlin 1982, 24). Ohne damit umfassend an alle Implikationen von Stierlins theoretischer Ausrichtung oder empirischer Fundierung anzuschließen, kann der Begriff der ‚Delegation‘ insofern auf Konstellationen verweisen, bei denen die Lebenswege der Kinder die Themen und Unerreichtes der Eltern umsetzen sollen (vgl. Zölch et al. 2009; Koller et al. 2010). Einen ‚Klassiker‘ stellt die Weitergabe von Bildungsdelegationen dar. Diese wurden im Kontext von Migration als eng mit der je eigenen Migrationsgeschichte der Eltern verbunden rekonstruiert (z.B. Rottacker/Akdeniz 2000; King et al. 2011). Mit einer gemeinsamen Migration im Familienverbund wird oftmals das Ziel verbunden, den Kindern ein ‚besseres Leben‘ zu ermöglichen, was die Eltern ihren Kindern z.T. direkt vermitteln. Zu fragen ist dann, ob und vor allem wie diese Bildungsaspirationen von den Kindern aufgenommen werden und welche Bedeutung sie in Prozessen adoleszenter Umgestaltung und Ablösung erlangen. Darüber hinaus kann der Gedanke „für die Eltern erfolgreich sein zu müssen, bei den Kindern durch die Schicksale der Eltern selbst hervorgerufen werden“ (King 2009a, 34, Herv. i. O.), ohne dass diese eine

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Aufstiegsdelegation ausgesprochen oder sogar gehegt hätten, da „die Auseinandersetzung mit den Identitäts- und Lebensthemen der Eltern in den adoleszenten Such- oder Selbstfindungsprozessen eine bedeutende Rolle spielen“ (King 2013, 127). Des Weiteren wurde die Konstellation beschrieben, in der die Eltern die Kinder aufgrund der eigenen Migrationserfahrungen enger an sich binden und eine Loslösung nicht unterstützen können (vgl. z.B. King et al. 2011), wenn diese z.B. ihre eigenen Eltern im Herkunftsland zurücklassen mussten. Dabei sind nicht nur die Trennungserfahrungen an sich bedeutsam, sondern auch die oftmals nur mangelnde Verarbeitung dieser Erfahrungen im Kontext der Familie (vgl. z.B. Rohr 2001, 147; Tepecik 2011, 267). Dies kann bei den Kindern zu der bereits beschriebenen ‚Ausbruchsschuld‘ (vgl. 2.1.3) führen, die Einfluss auf die adoleszente Entwicklung nimmt. Im Kontext adoleszenter Migration kommt ergänzend zu all den anderen Themen, die der oder die Heranwachsende in Bezug auf die Eltern infrage stellen kann noch die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Beweggründen der Eltern hinzu, die Migration initiiert zu haben sowie mit der Frage, welchen Erfolg bzw. Misserfolg diese Entscheidung mit sich gebracht hat. Besteht allerdings ein familiales Tabu zu diesem Themenkomplex oder kann das Kind diesen aufgrund emotionaler Verstrickungen nicht hinterfragen, kann eine Beschäftigung mit der Entscheidung der Eltern verhindert werden. Gelingt es den Eltern jedoch, auch schmerzliche Seiten des Migrationsprozesses als solche anzuerkennen und über diese zu sprechen, so haben King und Koller (2015) herausgearbeitet, könne dies bei den Kindern eine kreative Bearbeitung der Migrationsgeschichte der Eltern sowie deren Integration in den eigenen Lebensentwurf ermöglichen und Potentiale eröffnen (vgl. 123; auch Sauter 2001). Es wird deutlich, dass auch die Bearbeitung des Zusammentreffens von Adoleszenz und Migration nicht nur die Kinder betrifft, sondern ebenso für die Eltern eine spezifische Herausforderung darstellt. Daher ist es unverzichtbar, stets die intergenerationalen Beziehungen zu beachten. 2.3.3 Besonderheiten männlicher Adoleszenz in der Migration Im Folgenden soll abschließend der Frage nachgegangen werden, wie sich Adoleszenz, Migration und Männlichkeit verknüpfen. Wie bereits ausgeführt, kommt es – angestoßen durch die Pubertät – im Zuge der Adoleszenz zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht, die eingebettet ist in familiale und gesellschaftliche Bedingungen ist. Im Kontext von Migration findet dieser Prozess „auf einer zusätzlichen Ebene statt, weil die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die mit dem jeweiligen Geschlecht verbundenen Bilder und sozialen Pra-

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xen kulturell unterschiedlich ausgestaltet sind“ (Günther 2009, 83). Der Heranwachsende muss für sich u.a. klären, wie Männlichkeit im Herkunfts- sowie im Ankunftsland besetzt ist, ob und wie sich die Muster im Zuge der Migration in der Familie gewandelt haben und welche Freiräume die Ankunftsgesellschaft sowie die Eltern zugestehen (vgl. Zölch 2013b, 62). Dies kann zu einer Erweiterung des individuellen Spektrums an Ausgestaltungsmöglichkeiten führen, aber auch eine sich problematisch auswirkende Verunsicherung der habituellen Sicherheit in Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse bewirken (vgl. Bohnsack 2002, 124). Im Umgang mit den adoleszenten Herausforderungen herrschen geschlechtsspezifische Unterschiede vor. Während heranwachsende Frauen eher dazu neigen, ihre Probleme zu internalisieren, begegnen junge Männer diesen stärker mit Externalisierungen, also „aggressivem, gewalttätigem oder abweichendem Verhalten“ (King 2010b, 97). Solches Risikohandeln kann sich z.B. in erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum, sozialen Regelübertretungen bis hin zu delinquenten Handlungen, riskantem Sexualverhalten oder aggressiven Interaktionen zeigen (vgl. Resch 2002, 64). So werden Jungen und junge Männer eher zu einem ‚Fall‘, mit dem sich Pädagogik und Öffentlichkeit auseinandersetzen (vgl. Wischmann 2010, 20). Unter Bedingungen von Marginalisierung – also angesichts sozialer Benachteiligung, Missachtungserfahrungen und einer geringen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalausstattung im Sinne Bourdieus (1992) – kann von männlichen Heranwachsenden der Körper bzw. das Geschlecht als eine Art ‚natürliches Kapital’ herangezogen werden, um damit ihrem eingeschränkten Möglichkeitsraum zu begegnen (vgl. Enzmann et al. 2003, 264; Juhasz/Mey 2003, 318ff). Da „Anerkennung und Aufstiegsmöglichkeiten auf anderen Wegen unerreichbar erscheinen“ (King 2013, 267f), setzen sie physische Stärke, Gewalthandlungen und Delinquenz als Ressource ein, womit sie zugleich auf überspitzte Männlichkeitsklischees rekurrieren (vgl. Weber 2007, 313). Gewalt bzw. Kriminalität im Allgemeinen ist dabei weniger als Ausdruck von Männlichkeit zu sehen, denn als Mittel, um Männlichkeit herzustellen (vgl. Spindler 2006, 83). Psychoanalytisch betrachtet kann aggressives und gewalttätiges Handeln auch als Abspaltung von hilflosen und beschämenden Teilen der eigenen Persönlichkeit verstanden werden, weshalb Yazıcı (2011) im Falle von männlicher Gewalt gleichzeitig von männlicher Bedürftigkeit und Zerbrechlichkeit spricht (vgl. 189f). Die Modellierung des Körpers, Gewalthandlungen und Delinquenz, die alle zu den externalisierenden Verhaltensweisen zu zählen sind, können den Versuch darstellen, als eine Art Bewältigungsstrategie, Missachtung in Anerkennung, „Ohnmacht in Macht, Ausschlusserfahrungen in Dominanz und Scham in Stolz zu verwandeln“ (King 2010b, 102). Diese finden in der Regel nicht in individueller Abgeschiedenheit, sondern in einem kollektiven Rahmen statt (vgl. Meuser 2005, 310). Dabei

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hat die (geschlechtshomogene) Peergroup für männliche Heranwachsende in Hinblick auf die Festigung der unsicheren (geschlechtlichen) Identität generell eine größere Bedeutung als für weibliche (vgl. King 2013, 261ff). Der ‚aggressiven Cliquenorientierung‘ bei männlichen Jugendlichen wird auch ein Anteil an den allgemein beobachteten schlechteren Schulleistungen zugesprochen (vgl. Baumert et al. 2001, 500). Für männliche Jugendliche aus Migrantenfamilien wird ein solches Verhalten oftmals mit dem ethnisch-kulturellen Hintergrund zu erklären versucht und erscheint Männlichkeit vor allem als negative Ressource und Ursache verschiedener Problematiken (vgl. Huxel 2008, 62). Sozialwissenschaftliche Forschungen haben jedoch deutlich gemacht, dass dieser als Erklärungsdimension nicht ausreicht. Daher muss eine differenziertere, intersektionale Blickrichtung eingenommen werden, bei der die Verschränkungen von Kategorien sozialer Ungleichheit (z.B. Geschlecht, soziale Herkunft oder Migrationshintergrund) zur Interpretation der Handlungsweisen miteinbezogen werden (vgl. King et al. 2010). In Hinblick auf die Position im sozialen Raum lässt sich sagen, dass Muster überhöhter und gewalttätiger Männlichkeit sich besonders ausgeprägt auch bei deutschen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Milieus zeigen (vgl. Böhnisch 2004, 167). 2008 wurde in der Sinus-Studie ein Modell von acht ‚Migranten-Milieus‘ vorgestellt, die jeweils mit ganz unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen verbunden seien. Die zentrale Aussage ist, dass „Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund […] mehr miteinander [verbindet] als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus“ (2). Geiling et al. (2011) haben die geschätzte Verteilung von MigrantInnen (Türkeistämmige und SpätaussiedlerInnen) auf vier unterschiedliche Milieus mit der der Einheimischen verglichen. Dem ‚oberen bürgerlichen Milieu‘ gehörten ca. 20 Prozent der Einheimischen, aber nur etwa 0-5 Prozent der Zugewanderten an, umgekehrt verhält es sich bei der untersten Kategorie, dem ‚unterprivilegierten Milieu‘, bei dem ca. 10 Prozent der Einheimischen ungefähr 30-35 Prozent der Zugewanderten gegenüberstünden (vgl. 269). Diese Untersuchungen öffnen den Blick dafür, Auffälligkeiten Jugendlicher mit Migrationshintergrund während der Pubertät nicht (nur) unter dem Aspekt ihrer ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit zu betrachten, sondern die soziale Lage und das Milieu stets mitzubedenken. Zudem sollte „der Blick auf Ethnisierungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Konstruktion von Männlichkeit“ (Huxel 2008, 63) geschärft werden. Auch in diesem Kontext ist der Einbezug der Familie und der intergenerationalen Dynamik unverzichtbar. Als ein wichtiges Bestimmungsmoment für transformative Adoleszenzverläufe hat Sauter (2000) die reflexive Auseinandersetzung mit den durch die Migration veränderten Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfen der Eltern herausgestellt. Für männliche Heranwachsende stelle in der

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Adoleszenz vor allem der Vater eine relevante Person dar, die deren Verlauf durch eine fürsorgliche und konstruktiv-nahe Beziehung erleichtern kann und dem zugleich eine große Bedeutung als „Repräsentant erwachsener Männlichkeit“ (Flaake 2005, 117) zukomme. Söhne setzten sich mit dem Vater und seinem Entwurf von Männlichkeit auseinander und fragen sich davon ausgehend, was für ein Mann sie selbst einmal werden möchten. Dabei sind „Ängste vor Selbstverlust zwangsläufig dort am größten, wo das innere Bild des Männlichen, wie es wesentlich auch aus dem Bild des Vaters entworfen wird, prekär oder unkonturiert ist“ (King 2013, 206). Wiederholt wurde in Forschungen zu Einwandererfamilien darauf hingewiesen, dass der Vater und der väterliche Beruf im Zuge der Migration häufig eine Entwertung erfahren und sich die Relationen der Geschlechter und die Eltern-Kind-Beziehungen verändern (vgl. z.B. Apitzsch 1990; Herwartz-Emden et al. 2000): „Der eingewanderte Mann bleibt nicht der Mann, der er vor der Einwanderung war“ (Herwartz-Emden et al. 2000, 38). Sich für eine Migration zu entscheiden, zeugt von Mut und Risikobereitschaft. Paradoxerweise ist es oft die Elterngeneration, die sich mobil und risikobereit gezeigt hat, in Deutschland dann aber ‚festsitzt‘, beruflich entwertet wird und in benachteiligten Stadtteilen lebt (vgl. King et al. 2013). In der Folge kann es zu einem von den Kindern wahrgenommenen Autoritäts- und Funktionsverlust des Vaters in der Familie kommen (vgl. Tepecik 2011, 287). Die Entwertung kann nicht nur beim Vater zu einer Krise der (traditionellen) Männlichkeit führen, sondern auch beim Sohn (vgl. King 2004a). Jungen männlichen Spätaussiedlern ‚attestieren‘ Studien eine im Vergleich zu Einheimischen starke Orientierung am väterlichen Autoritätsanspruch und einem traditionellen Rollenbild (vgl. Garnitz 2006, 80), sodass sie dieses besonders stark treffe. Aus Furcht vor dessen unterprivilegierten Arbeitsverhältnissen und der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung trotz z.T. großer Anstrengungen, kann das Bild des Vaters sogar zur Negativfolie werden, von dem der Sohn sich abgrenzen möchte, was zugleich die Suche nach anderen (männlichen) Vorbildern evoziert. Im Gegenzug werde, so Apitzsch (2003), die Stellung der Mutter in Migrationsfamilien strukturell gestärkt, da sie oftmals „neben dem Bereich der Familie auch den der Berufswelt“ (75) erobere. Die Frage, welche Konsequenzen dies für die Sozialisation der heranwachsenden Söhne hat, ist noch nicht umfassend beantwortet worden. Helsper et al. (1991) zeigen anhand von Fallbeispielen sozial auffälliger oder devianter männlicher Jugendlicher, dass der berufliche und/oder soziale Misserfolg des Vaters unter bestimmten Voraussetzungen auf die Söhne eine geradezu traumatisierende Wirkung haben könne. Verschiedene Studien haben sich mit den unterschiedlichen Umgangsweisen von Söhnen und Töchtern mit den Folgen von Migration befasst. Sauter (2000) stellt die These auf, dass es eine geschlechtsspezifische Ver-

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arbeitung der Enttäuschungen der ‚bedürftigen Väter‘ bei den Kindern gebe: Während Töchter die Väter zu entlasten versuchten, wendeten Söhne ihre Aggression nach außen und setzten damit für sich selbst negative Verläufe in Gang (vgl. 255). Die Opfer der Väter führten in Verbindung mit ihrer impliziten und expliziten Erwartung an die Söhne, den Aufstieg in der Folgegeneration zu vollziehen, oft zu einem massiven Druck. „Diesem kann – vor dem Hintergrund ungünstiger sozialer Rahmenbedingungen – auch mit Verweigerung ausgewichen werden oder mit eher unauffälliger Resignation und ‚Selbstelimination’ aus dem Bildungssystem“ (King 2007b, 144). Der Begriff ‚second-generation-revolt’ (Perlman/Waldinger 1997) bezeichnet dabei das revoltierende Verhalten junger Männer vor allem gegen die Anpassung der Elterngeneration, die es nicht vermocht hat, das marginalisierte Leben zu verlassen (vgl. King 2007b, 141). Sauter (2000) unterscheidet ausgehend von seiner Studie zwischen einem eher weiblichen und einem eher männlichen Ablösungsmuster. Als zentral für die Form der Ablösung betrachtet er die kreative Bearbeitung der Migrationsgeschichte der Eltern und deren Integration in den eigenen Lebensentwurf, die er in Anlehnung an Cohen (1992) als ‚Familienroman’ oder auch als ‚Familiennarration‘ bezeichnet (vgl. 244). Obgleich die jungen Frauen seiner Studie geringere außerfamiliäre Freiräume zur Verfügung hätten, besäßen sie einen größeren innerfamilialen Spielraum und schafften es, sich offen mit der elterlichen Migrationsgeschichte auseinanderzusetzen. Ihre ‚selbstreflexive Ablösung‘ zeige sich in der Fähigkeit, „sich selbst als Person in der Kontinuität und in der Diskontinuität zu der Kultur der Eltern zu positionieren, unabhängig davon zu werden, ohne die Herkunft von dieser Kultur zu leugnen“ (288). Auch Günther (2009) stellt übergreifend ein tendenziell größeres Transformationspotential der untersuchten weiblichen Bildungsmigrantinnen fest (vgl. 245). Die jungen Männer hingegen, so Sauter (2000), könnten die vorhandenen Freiräume außerhalb der Familie nicht für eine offene Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte nutzen. Er spricht hierbei von einer ‚aufgeschobenen Ablösung‘, bei der die Auseinandersetzung mit den Eltern vermieden bzw. auf später verschoben werde und keine reflexive Beschäftigung mit der Familiengeschichte der Migration stattfinde (zu ähnlichen Ergebnissen kommt international auch Delcroix 2001). Apitzsch (2003) spricht ausgehend von ihrer Untersuchung über italienische Jugendliche in Bezug auf weibliche Heranwachsende mit Migrationshintergrund von einer familienorientierten Prägung der Jugendphase und für die männlichen von einer Peergroup-Orientierung. Die männlichen Heranwachsenden seien „traditionellerweise von Pflichten und Verantwortungen für die Familienarbeit freigesetzt“ (72) und würden einen größeren Freiraum besitzen, sodass sie sich einfacher von der Familie lösen könnten, „ohne dass es dabei zu einem eklatanten Bruch mit der Familie kommen muss“ (ebd.). Dass es dennoch gerade die jungen Männer mit Migrationshintergrund sind, die in Deutschland in Bezug auf

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Bildung am schlechtesten abschneiden, erklärt sie damit, dass sie diesen Freiraum „unter den Bedingungen der Immigration meist nur in der Weise nutzen, dass sie sich in der Peergroup als Außenseiter profilieren“ (ebd., 73, vgl. auch Zölch et al. 2012). Für bildungserfolgreiche Frauen mit Migrationshintergrund (auch für (Spät-)Aussiedlerinnen) sprechen qualitative Studien davon, dass die Töchter hoch identifiziert mit den unerfüllten Lebensträumen der Mütter seien und erfolgreich sein möchten, um deren Wünschen zu entsprechen (Rohr 2001, 155; vgl. auch Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2004; Schmidt-Bernhardt 2008; Ruhland 2009). Dadurch würden eine „unabhängige, emanzipatorische Identitätsentwicklung“ und eine „normale Adoleszenz“ (Rohr 2001, 147) jedoch verunmöglicht. Für Söhne hingegen wurde die Bedeutung der Mütter bisher nicht gesondert betrachtet. Zölch et al. (2012) haben jedoch in ihren Fallrekonstruktionen auch bei den jungen Männern vielfach eine ausgeprägte Bindung an die Familie gefunden, etwa in dem Wunsch, durch Bildungserfolg die Aspirationen der Eltern zu erfüllen. Dabei hat es sich als „entsprechend bedeutsam erwiesen, die äußeren Freiräume nicht mit inneren Spielräumen für Ablösung gleichzusetzen, während komplementär Bindungen an die Familie in konstruktiven wie in hemmenden, unproduktiv ‚verstrickten’ Varianten vorliegen“ (36). Das Ergebnis, dass die Söhne im Kontext von Migration eine geringere Familienorientierung zeigten und es ihre Schwestern seien, die eng an die Eltern gebunden bleiben und die Wünsche der Eltern erfüllen möchten, ist für die Gruppe der männlichen Migranten nicht ausdifferenziert genug. Stellt man nur junge Männer in den Fokus und vergleicht deren Umgangsweisen mit Adoleszenz und Migration, lassen sich gewiss (feine) Unterschiede finden, die z.B. von den je individuellen familialen Beziehungen abhängen könnten (Anknüpfungspotential dafür bieten z.B. Zölch et al. 2012; Böker/Zölch 2016b). Es stellt sich daher die Frage, ob sich der mehrfach betonte unterschiedliche Umgang der Geschlechter tatsächlich immer zeigt. Oder kann es auch bei den jungen Männern eine (starke) Familienorientierung und den Wunsch geben, die Träume der entwerteten Eltern zu erfüllen? Zumindest dann, wenn es keine Schwester gibt, die diese ‚Rolle‘ übernimmt? Auf welche Weise findet die Auseinandersetzung mit dem Thema Männlichkeit und der Figur des Vaters statt? Und spielt – neben der nachvollziehbaren besonderen Relevanz des Vaters – für die Söhne auch die veränderte Position der Mutter infolge der Migration eine Rolle? Für Kinder und Jugendliche, die selbst migriert sind, ist es in diesem Kontext eminent wichtig, die Beziehungen vor und nach der Migration in den Blick zu nehmen und zu vergleichen. Werden bestehende ‚Rollen‘ durch die Migration verstärkt oder kommt es zu einem Wandel der innerfamilialen ‚Positionen‘?

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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Männlichkeitsentwürfe der Heranwachsenden weder einfach auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Tradition noch auf eine einheitliche Sozialisation der Geschlechterrollen zurückzuführen sind. Ihre biographische Bedeutung und ihre lebenspraktische Funktion erhellen sich erst über die Analyse der Kategorien sozialer Ungleichheit und der intergenerationalen Dynamik (vgl. Zölch et al. 2012, 37).

3 Forschungsstand: (Spät-)AussiedlerInnen im Kontext von Adoleszenz und Migration

In diesem Kapitel erfolgt zunächst ein Allgemeiner Überblick zur Forschungslage in Bezug auf (Spät-)AussiedlerInnen (3.1). Dabei wird ausgeführt, welche Publikationen zu Kindern und Jugendlichen aus (Spät-)Aussiedler-Familien vorliegen. Des Weiteren werden jene Studien, die das Thema (Spät-)AussiedlerInnen und Zugehörigkeit behandeln, einer detaillierteren Darstellung unterzogen. Zum einen, da im Theorieteil dargelegt wurde, dass dies ein bedeutsamer Aspekt im Kontext von Migration und bei (Spät-)AussiedlerInnen im Speziellen ist und zum anderen, weil diese Perspektive einen der Schwerpunkte der bisherigen (Spät-)Aussiedlerforschung bildet. Unter 3.2 werden darauf zentrale empirische Untersuchungen vorgestellt, die Adoleszenz und Migration aus biographischer Perspektive betrachten. Da die Forschungslage zu (Spät-)Aussiedlerinnen in diesem Kontext sehr dünn ist (und für männliche (Spät-)Aussiedler gar nicht besteht), werden zuvor Studien im Kontext von Adoleszenz und Migration zu anderen Migrantengruppen präsentiert. Dabei wird deutlich, dass Untersuchungen zu adoleszenten MigrantInnen sehr rar sind und vor allem die Betrachtung der gemeinsamen Migration Adoleszenter mit ihren Eltern ein Desiderat darstellt. 3.1 Allgemeiner Überblick zur Forschungslage in Bezug auf (Spät-)AussiedlerInnen Nach einzelnen Veröffentlichungen zu AussiedlerInnen in den 1970er- und 80erJahren (die sich vor allem auf AussiedlerInnen aus Polen und Rumänien beziehen, z.B. Bundeszentrale für politische Bildung 1978), fand diese Gruppe mit dem Anstieg der Einreisezahlen zu Beginn der 1990er-Jahre eine vermehrte wissenschaftliche Betrachtung in unterschiedlichen Forschungsdisziplinen. Einen bedeutenden Anteil an den Veröffentlichungen zu (Spät-)AussiedlerInnen22 machen geschichtswissenschaftliche Arbeiten aus, die sich vor allem mit 22 Die vor 1993 erschienenen Veröffentlichungen beziehen sich auf AussiedlerInnen, die danach publizierten überwiegend auf AussiedlerInnen und SpätaussiedlerInnen sowie vereinzelt ausschließlich auf SpätaussiedlerInnen – daher wird im Folgenden der Begriff (Spät-)AussiedlerInnen verwendet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_4

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der Siedlungsgeschichte der deutschen Einwanderer, den Lebensverhältnissen vor und nach den Deportationen und den Ausreiseentwicklungen befassen (u.a. Pinkus/Fleischhauer 1987; Fleischhauer 1991; Eisfeld 1992; Bade 1993; Eisfeld/Herdt 1996; Brandes 1997; Hilkes/Stricker 1997; Barbašina et al. 1999; Kurilo 2010). In der Sprach- und Literaturwissenschaft werden mehrheitlich die Umstände der sprachlichen Anpassung bzw. Integration der (Spät-)AussiedlerInnen nach der Migration untersucht (u.a. Baur/Meder 1992; Boldt/Piirainen 1995; Biehl 1996; Haug 2005; Zwengel/Peter 2009). Zahlenmäßig am größten ist die Auseinandersetzung mit dieser Migrantengruppe in den Sozialwissenschaften (u.a. Malchow et al. 1990; Nienaber 1995; Ingenhorst 1997; Bade/Oltmer 1999; Silbereisen et al. 1999; Meng 2001; Roll 2003; Ipsen-Peitzmeier/Kaiser 2006; Reitemeier 2006). Bis vor wenigen Jahren lag der Schwerpunkt der (zumeist theoretisch oder quantitativ angelegten) sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen auf der Akkulturation bzw. Integration erwachsener AussiedlerInnen (u.a. Boll 1993; Hilkes 1996; Mammey/Schiener 1998; Bauer et al. 1999; Thränhardt 1999; HerwartzEmden/Westphal 2002; Tröster 2003; Savoskul 2006; Metz 2016). Im Fokus stehen dabei oftmals Probleme im Kontext der Migration, z.B. die schwierige berufliche Eingliederung (u.a. Janikowski 1999; Silbereisen et al. 1999; Konietzka/Kreyenfeld 2001; Frik 2009) oder psychische Auffälligkeiten (u.a. Branik 1982; Collatz/Heise 2002; Sosnovskaya 2008). In vielen der Texte wird versucht, Erklärungsansätze für auftretende Integrationsschwierigkeiten zu finden und davon ausgehend, soziale und/oder politische Maßnahmen abzuleiten. Eher ein Randthema stellt bisher die Betrachtung der familialen Beziehungen dieser Gruppe dar, obgleich diese fast ausschließlich im Familienverbund migriert. Die wenigen vorliegenden Studien (u.a. Wilkiewicz 1989; Herwartz-Emden 1997; Hänze/Lantermann 1999; Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2004; Griese 2006) betonen durchweg, dass die familialen Bindungen eine bedeutsame Ressource darstellen. Da die Migration von (Spät-)AussiedlerInnen explizit mit Deutschland verbunden ist, gibt es kaum fremdsprachige Literatur zu dem Thema (Ausnahmen stellen Klekowski von Koppelfels 2008; Kabachnik et al. 2010; Kurske 2011 dar). Neben den wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus verschiedenen Disziplinen gibt es das Genre der sogenannten Erlebnisliteratur. In dieser geben (Spät-) AussiedlerInnen selbst Einblicke in ihre biographischen Erfahrungen (vor allem zu den Deportationen und der Folgezeit) (u.a. Steenberg 1989; Hildebrandt 1990; Cammann 1991; Müthel 2013).

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Kinder und Jugendliche aus (Spät-)AussiedlerInnen-Familien Die explizite wissenschaftliche Beschäftigung mit (Spät-)AussiedlerInnen im Kindes- und Jugendalter setzte nach einigen frühen Einzelarbeiten (u.a. Kossolapow 1987; Süss 1995) erst Ende der 1990er-Jahre infolge der zunehmend öffentlich wahrgenommenen Integrationsprobleme dieser Gruppe ein. Wie auch in Bezug auf die erwachsenen (Spät-)AussiedlerInnen hat die Mehrzahl der Studien das Anliegen, (überwiegend anhand von größeren Stichproben) ein Bild dieser Zuwanderergruppe und ihrer Schwierigkeiten zu zeichnen. Die Sichtweise ist eher problemzentriert und defizitorientiert und es wird der Versuch unternommen, Bedingungen für eine erfolgreiche Integration bzw. Akkulturation zu erarbeiten (u.a. Dietz/Roll 1998; Pannes 1998; Dietz 1999; Strobl/Kühnel 2000; Holzmüller 2002; Roll 2003; Aden 2004; Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2004; Alt 2006; Vogelgesang 2008; Hermann/Öhlschläger 2013). Einschlägig ist in diesem Bereich die Erhebung von Dietz und Roll (1998), die eine Reihe von Risikofaktoren für die zu Beginn der 1990er-Jahre eingereisten jungen (Spät-)AussiedlerInnen aufzeigt, wie die geringen „deutsche[n] Sprachkenntnisse, das Leben in abgelegenen Wohnsiedlungen oder in Übergangswohnheimen sowie die wachsende ökonomische und soziale Marginalisierung der Aussiedlergruppe“ (147). Allerdings gelingt es der Studie, die unterschiedliche bedeutsame Bereiche anreißt (z.B. die ethnische Identität oder die Lebensgestaltung zwischen Familie und Eigenständigkeit), aufgrund ihrer methodischen Anlage nicht, diese detailliert aufzuzeigen. Zum Thema Migration ist übergreifend kritisch anzumerken, dass die bisherige Literatur überwiegend die Lebenssituation der jungen (Spät-)AussiedlerInnen nach der Migration beschreibt und damit die Lebensbedingungen im Herkunftsland und die damit verbundenen Wechselwirkungen vernachlässigt. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Sekler (2008) dar, die sich vor allem auf quantitative Daten stützt, illustrierend aber auch qualitative Ergebnisse nutzt. Als bedeutsame Faktoren vor der Migration für eine erfolgreiche Integration in Deutschland führt sie das Alter der Jugendlichen zum Zeitpunkt des Umzugs, das Vorliegen von Gewalterfahrung, die Stabilität oder Labilität der Familiengemeinschaft, den Bildungsstand der Eltern sowie die Herkunft aus einer dörflichen Struktur oder einer Großstadt an (171). Die Ergebnisse der Arbeit sind interessant und z.T. in die deskriptive Darstellung der Gruppe in Kapitel 1 eingeflossen. Die Analysen der qualitativen Daten verbleiben jedoch auf einer manifesten Ebene. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Arbeiten, die abweichendes Verhalten von (Spät-)AussiedlerInnen und dies zumeist quantitativ thematisieren (u.a. Walter/Grübl 1999; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalität 2002; Babka von Gostomski 2003; Enzmann et al. 2003; Schmitt-Rodermund/Silbereisen 2003;

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Kleespies 2006, Landespräventionsrat NRW 2006; Zinn-Thomas 2006). Die Studien erklären dieses Verhalten zum einen anomietheoretisch als Folge der gesellschaftlichen Bedingungen, durch die die (Spät-)AussiedlerInnen sich nicht integrieren könnten und stattdessen eine Lösung der Probleme in delinquentem Verhalten sähen. Zum anderen werden Konflikte, die auf kultureller Entwurzelung und sozialer Desorientierung basierten, als Ursache für das Verhalten und Zurückgreifen auf Verhaltensmuster und Konfliktlösungsstrategien aus dem Herkunftsland benannt (vgl. Reich 2005, 16f). Eine andere Forschungslinie widmet sich der Darstellung der Situation in Schule und Ausbildung bzw. an Stellen des Übergangs (u.a. Fricke 1998; Kestermann 1998; Wolterhoff 1998; Langenfeld 2001; Maier 2003; Fuchs/Sixt 2008; Söhn 2008; Gresch/Becker 2010; Segeritz et al. 2010; Eulenberger 2011). Allerdings handelt es sich bei diesen Veröffentlichungen durchweg um Arbeiten, die (eigen- oder fremderhobene) quantitative Daten betrachten und bewerten und eher Kinder und Jugendliche im Blick haben, deren schulisch-beruflicher Weg weniger erfolgreich verläuft. Wohingegen für andere Migrantengruppen bereits seit den frühen 2000er-Jahren qualitative Studien vorliegen, die sich individuellen Bildungsverläufen widmen (u.a. Pott 2002; Ofner 2003), sind für die Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen erst kürzlich drei solcher Arbeiten erschienen (SchmidtBernhardt 2008; Ruhland 2009; Schmitz 2013), auf die noch genauer eingegangen werden wird. Daneben liegen ‚populärwissenschaftliche‘ Publikationen vor, die z.T. praxisnahe Informationen vermitteln und zum anderen durch abgedruckte Interviewausschnitte einen persönlichen Einblick in das (Er-)Leben der jungen Generation geben (u.a. Archiv der Jugendkulturen 2003; Bayerischer Jugendring 2003; Khuen-Belasi/Internationaler Bund 2003; Wierling 2004; Kusnezowa 2005; Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland e.V. 2007). Studien zu (Spät-)AussiedlerInnen und Zugehörigkeit Lange Zeit wurden Heranwachsende in der Migration mit vereinfachenden (Konflikt-)Modellen und homogenisierenden Identifizierungen des Anderen als ‚zwischen zwei Stühlen‘ konstruiert (vgl. Geisen 2007, 56). Seit den 1990er-Jahren sind zunächst international, dann auch national qualitative Studien entstanden, die dieses Konzept hinterfragt haben (u.a. Bhabha 1990; Hall 1994; Otyakmaz 1995; Mecheril 1997, 2003; Atabay 1998; Badawia 2002; Pott 2002; Riegel 2004; Mannitz 2006; Fürstenau/Niedrig 2007). Dabei wurden neue Bilder und Konzepte

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entwickelt, wie die des ‚Third Space’ (Bhabha 1990)‚ des ‚Zwischenraums’ (Atabay 1998), des ‚Dritten Stuhls‘ (Badawia 2002), der ‚natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeit‘ (Mecheril 2003) oder der ‚hybriden Identität‘ (Hall 1994; Fürstenau/Niedrig 2007), „mit denen versucht wurde, die Pluralität der Versuche kultureller Neupositionierungen von jugendlichen MigrantInnen jenseits dominanter sozial-kultureller Zuschreibungsprozesse adäquat zu beschreiben“ (Geisen 2007, 56). Gemeinsam ist den Arbeiten ein starker Fokus auf die gesellschaftlichen Bedingungen. Die Frage nach der Zugehörigkeit zielt dabei meist nicht nur auf nationale Zuordnungen ab, sondern auf die „soziale Anerkennung, Wertschätzung und [...] soziale und emotionale Einbindung“ (Riegel 2004, 353). Trotzdem der Einfluss von Ausgrenzung und Diskriminierung als sehr stark betrachtet wird, wenden die Studien sich bewusst von einer defizitorientierten Perspektive ab und betonen die Wirkmächtigkeit und Fähigkeit der Heranwachsenden, Neues zu schaffen. Da es in den Studien um Heranwachsende, um Transformationen und die Entstehung des Neuen geht, ist es allerdings verwunderlich, dass sie zumeist keinen deutlichen Adoleszenzbezug aufweisen und die familialen Beziehungen sowie intergenerationalen Verwobenheiten eine untergeordnete bis gar keine Rolle spielen. Ab den 1980er-Jahren gingen einzelne Studien der Frage nach, was die ‚Kultur‘ der AussiedlerInnen ausmacht und ob sich diese nach der Migration in Deutschland wandelt (z.B. Malchow et al. 1990; Boll 1993). Es wird dargestellt, dass sich diese in Russland stets als Deutsche empfunden hätten und mit dem Wunsch nach Deutschland gekommen seien, als ‚Deutsche unter Deutschen‘ zu leben – wo sie dann jedoch mit dem Fremdbild ‚Russe‘ konfrontiert worden seien. Grundlage der ersten Untersuchungen stellt überwiegend die heutige (Ur-)Großelterngeneration dar, also jene, die selbst noch die Deportationen und deren Folgen erlebt haben und zudem jene AussiedlerInnen, die schon früh nach Deutschland migriert sind. Die Millionen (Spät-)AussiedlerInnen, die in den 1990er- und 2000er-Jahren nach Deutschland kamen, unterscheiden sich signifikant von diesen (siehe Kapitel 1), dennoch hat sich das oben beschriebene Bild in der wissenschaftlichen Betrachtung z.T. bis heute gehalten (vgl. z.B. Kusnezowa 2005; IDA 2006; Schmidt-Bernhardt 2008; Kiel 2009). Darüber hinaus sind in den letzten Jahren einige Arbeiten entstanden, die Typologien der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskonstruktionen von (Spät-)AussiedlerInnen präsentieren (u.a. Reitemeier 2006; 2007; Savoskul 2006; Kiel 2009; Kurilo 2010; 2015). Kiel (2009) untersucht anhand von fünf Familien, bei denen sie jeweils drei Generationen (Großeltern-, Eltern- und Kindergeneration) in die Forschung einbezogen hat, ob sich das Zugehörigkeitsgefühl durch die Migration wandelt und wie sich dies auf die „Integrationsbereitschaft“ (67) auswirkt. Hintergrund ist der Gedanke, innerfamiliale Tradierungslinien zu betrachten und zu eruieren, wie die

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Frage nach der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit innerhalb der Familie wahrgenommen und von den einzelnen Generationen bearbeitet wird (vgl. 15). Allerdings bleibt es bei diesem vielversprechenden Design, da die Autorin die Vermittlungslinien und Differenzen zwischen den Generationen nicht diskutiert und sie überwiegend nicht einmal explizit benennt. Für das Thema „Deutsch-Sein“ (87) in Russland zum Beispiel, wird fast ausschließlich die Großelterngeneration herangezogen und nicht verglichen, ob bei der jüngsten Generation vor der Migration eventuell ein anderes Selbstbild vorlag. Hervorzuheben ist, dass Kiel eine große Menge an Forschungsmaterial erhoben hat (Gruppendiskussionen, teilstandardisierte Interviews und Tischgespräche). Es wurden Familien interviewt, die zum Zeitpunkt der Erhebung (2003/04) maximal 15 Jahre in Deutschland lebten und damit zu der Gruppe gehören, die statistisch mehr Schwierigkeiten aufweist. Zudem war es ihr wichtig, dass die Kindergeneration sich in der „Orientierungsphase der Adoleszenz befinde[t], also zwischen zehn und zwanzig Jahren“ (74) ist. Diese Aussage steht im Methodenteil, die Autorin erläutert jedoch nicht, warum diese Phase bedeutsam sein könnte. Zudem findet das Thema Adoleszenz weder in den theoretischen Ausführungen noch in den Auswertungen Berücksichtigung, was gerade in Bezug auf die Drei-Generationen-Konstellation Potential verschenkt. Die Auswertung erfolgte mit der Dokumentarischen Methode und als Ergebnis werden fünf Typen präsentiert. Für die Angehörigen von vier der Typen („Nicht richtige Deutsche“, „Deutsche mit Makel“, „Deutsche mit russischem Glanz“, „Die wahren Deutschen“) gibt Kiel an, dass diese sich vor der Ausreise als Deutsche wahrgenommen hätten und durch die Konfrontation mit der bundesdeutschen Gesellschaft und Kultur, die sie als sehr unterschiedlich empfinden würden, in ihrer ethnisch-kulturellen Orientierung erschüttert worden seien. Auch der Typologie fehlt es an einer Differenzierung zwischen den Generationen. Ausgehend von den Ausführungen im ersten Kapitel dieser Arbeit ist nicht davon auszugehen, dass auch die Enkelgeneration sich vor der Migration als ausnahmslos ‚deutsch‘ definiert hat. Anders wird die Situation nur für den Typus „Die sowjetischen Leute“ beschrieben, die sich in Russland als Angehörige der sowjetischen Kultur definiert hätten (vgl. 159). Vermutlich bezieht sich dieser Typus auf die „gemischte“ (75) Familie ihres Samples, wie sie es formuliert. Obgleich Kiel in der Beschreibung der Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen deutlich macht, dass der Großteil der in den letzten 15 Jahren migrierten Familien bi-nationale Elternpaare aufweist (vgl. 36), ist unter den vorgestellten Portraits nur eine solche Familie.23 23

Mehrere der angeführten Studien weisen auf die Besonderheit der jungen (Spät-)AussiedlerInnen aus bi-nationalen Familien hin. Obgleich diese mittlerweile den größten Teil ausmachen, liegt keine dezidierte Betrachtung zu dieser Gruppe vor. Ebenso ist es in Bezug auf Kinder und Jugendliche aus einer Verbindung von einem autochthonen und einem ausländischen Elternteil. Obgleich dies 2016

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Dabei handelt es sich zudem um eine, in der nur ein Großvater ‚deutschstämmig‘ ist und der Familie zur Ausreise verholfen hat. Es macht sicherlich einen Unterschied, ob es einen russlanddeutschen Großvater gibt, oder ob dies Mutter oder Vater (mit der jeweiligen Herkunftsfamilie) betrifft. In der Folge arbeitet die Autorin große Unterschiede zu den anderen russlanddeutschen Familien heraus. „Da die russischen und russlanddeutsch-russischen Familienmitglieder nicht mit der Vorstellung nach Deutschland kamen, aufgrund ihres ‚Deutsch-Seins‘ einen Anspruch auf die Zugehörigkeit zur bundesdeutschen Gesellschaft und Kultur zu besitzen“ (181), müssten sie sich nach der Einreise auch nicht mit ihrer eigenen ethnisch-kulturellen Orientierung auseinandersetzen. Diese Aussage ist nicht nur generell problematisch in ihrer normativen Sichtweise auf einen (vorhandenen oder nicht vorhandenen) ‚Anspruch auf Zugehörigkeit und Kultur‘, sondern scheint auch darüber hinaus verkürzt. Wenn ein Heranwachsender migriert, bei dem nur, wie sie es sagt, der Großvater ‚deutschstämmig‘ ist, gibt es dennoch vermutlich familiengeschichtliche Bezüge, wie Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit oder einen deutschen Nachnamen (vgl. Kurilo 2010, 314f). Spätestens durch die Ausreise, den Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit und die Auseinandersetzung mit den Einheimischen wird die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit vermutlich virulent, selbst wenn diese bis dahin fraglos war. Es ist davon auszugehen, dass auch eine migrierte Person mit einem ganz anderen Hintergrund, z.B. aus Chile, sich allein durch die Tatsache, von nun an dauerhaft in Deutschland zu leben, mit der Frage der Zugehörigkeit befassen wird und auch dann „einen Anspruch auf die Zugehörigkeit zur bundesdeutschen Gesellschaft und Kultur“ (181) besitzt, insoweit sie es wünscht. In den Ergebnissen von Savoskul (2006) nimmt der Bildungshintergrund eine bedeutsame Rolle ein. Anhand von Tiefeninterviews und teilnehmenden Beobachtungen hat sie drei Typen ethnischer Selbstidentifizierung herausgearbeitet: die Identifizierung als „Deutsche bzw. Deutscher“, als „Russlanddeutsche bzw. Russlanddeutscher“ und als „Russaki“ (vgl. 211). Die Angehörigen des ersten Typus seien zumeist hochgebildet und bereits in den 1950er- bis frühen 1980er-Jahren etwa jedes achte in Deutschland geborene Kind betraf (vgl. Verband binationaler Familien und Partnerschaften 2018), liegen bisher nur wenige Arbeiten dazu vor (Battaglia 2000; Kaffrell-Lindahl 2005; Massingue 2005). Dies irritiert zum einen aufgrund der erheblichen Größe der Gruppe und zum anderen in Hinblick auf ihre spezifische Situation, denn Fragen der Zugehörigkeit zeigen sich hier in gesteigerter Form. Die Tochter türkischer Einwanderer etwa muss sich damit auseinandersetzen, wie es ist, als Kind türkischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen. Hat diese jedoch ein autochthones und ein türkisches Elternteil, kommt eine weitere Komponente hinzu, denn wie bei Rosenthal et al. (2011) deutlich wird, ist solch eine Konstellation in Hinblick auf die Familiengeschichte und Loyalitätsbindungen in besonderer Weise aufgeladen. Im Rahmen der vorliegenden Studie kann dieses Desiderat nicht aufgelöst werden. Die Relevanz der Bi-nationalität wird jedoch bei der Auswertung bewusst gehalten.

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nach Deutschland gekommen. Sie fühlten sich als Deutsche und vollständig integriert und würden sich bewusst von (Spät-)AussiedlerInnen abgrenzen, die nach 1988 migriert sind. Auch dem zweiten Typus gehörten vor allem Personen mit Hochschulabschluss an, die bereits im Herkunftsland eher in multikulturellen Großstädten gelebt hätten. In Deutschland sei es zunächst ihr größtes Ziel, die Sprache zu erlernen oder die Sprachkenntnisse zu verbessern und eine gute Arbeit zu finden. In Bezug auf Zugehörigkeit würden sie sich als Bürger zweier Welten definieren (vgl. 213). Die Angehörigen des dritten Typus, dem die meisten angehörten, könnten sich hingegen weder als russisch noch als deutsch definieren. Sie kämen eher aus ländlichen Regionen und besäßen mittlere Abschlüsse/Berufe und hätten in Deutschland eine berufliche Abwertung erfahren. Sie fühlten sich in Deutschland von der einheimischen Bevölkerung nicht als Deutsche akzeptiert und würden „in Deutschland […] zu ‚Russaki‘ gemacht“ (215). Daher blieben sie unter sich, eine „Integration in die deutsche Gesellschaft findet bei den Russlanddeutschen des dritten Typs nicht statt“ (217). Lässt man den ersten Typus der sehr früh Eingereisten außen vor, ist es laut Savoskul vor allem der soziale und Bildungs-Hintergrund, der die eigene Zugehörigkeitskonstruktion ausmacht. Allerdings deutet sich auch ein gesellschaftlicher Einfluss an, wenn sie sagt, dass die Angehörigen des dritten Typus durch die deutsche Gesellschaft zu ‚Russaki’ gemacht würden. Auf diesen Punkt geht sie jedoch nicht weiter ein. Dies greift zu kurz und verdeutlicht, dass das Thema der Zugehörigkeit nur mit Blick auf das Wechselspiel von Selbst- und Fremdzuschreibung angemessen betrachtet werden kann. Greuel (2009) hat Ethnozentrismus bei (Spät-)Aussiedlerjugendlichen im Alter von 17 bis 21 Jahren anhand von Leitfadeninterviews untersucht und drei Typen entwickelt. Typus 2 („Integrative Ethnozentriker“) und 3 („Separatistische Ethnozentriker“) ähneln den oben genannten inhaltlich sehr. Am stärksten fällt Typus 1 („Assimilative Ethnozentriker“) auf, den Savoskul nur bei sehr frühen Einwanderern der heutigen Großelterngeneration gefunden hat. Ohne sagen zu wollen, dass dieser bei Jugendlichen generell völlig ausgeschlossen ist, können bei Greuel methodische Gründe für das Auffinden vermutet werden. So wurde dieser Typus ausgehend von einem Fall konzipiert, dem 18-jährigen Jegor, der zurzeit des Interviews erst seit zwei Jahren in Deutschland lebte und dem Greuel so konkrete Fragen stellte, wie: „Als was fühlst du dich hier, als Deutscher oder als Russe oder als Aussiedler oder was anderes?“ Jegors Antwort: „Als Deutscher, fast ganz. Als normaler Mensch. Ist gutes Land, alles normal. Bin gekommen und habe Chance zu lernen, zu studieren“ (258). Greuel entzieht diesem Zitat auf manifester Ebene die Aussage, dass Jegor sich als Deutscher empfinde (schon das „fast“ lässt er unberücksichtigt) und nimmt weder eine Analyse der latenten Sinnebene vor noch bezieht er in seine Überlegungen mögliche Ausdrucksschwierigkeiten oder

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das Problem der sozialen Erwünschtheit mit ein. Denn gerade in der ersten Zeit nach der Einreise steht die Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen aufgrund ihrer besonderen Geschichte unter einem erhöhten Beweisdruck, ihre Identität als Deutsche herausstellen zu müssen (vgl. Reitemeier 2007, 69). An dieser Stelle zeigt sich, dass zu konkrete Fragen in Hinblick auf das Thema Zugehörigkeit zu verfälschten Antworten führen können und daher vermieden werden sollten sowie, dass es nicht genügen kann, Aussagen auf der manifesten Ebene zu erfassen. Schmitz (2013, auch 2015) verfolgt das Anliegen, die „multiplen Identitätsund transnationalen Netzwerkstrukturen [von (Spät-)AussiedlerInnen] sowie ihre Verortung zwischen zwei Kulturen und ihr Heimatverständnis in gesamter Breite zu erfassen“ (89) (zu Netzwerkanalysen siehe auch Gamper/Fenicia 2013). Dafür hat sie 20 Angehörige der sogenannten 1,5. Generation interviewt, die als Kinder oder Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion migriert sind und inzwischen bildungserfolgreich und zwischen 22 und 35 Jahre alt sind. Durch die Migration eines Teils im Jugendalter und das aktuelle Alter, ist ihre Untersuchungsgruppe der hier vorliegenden ähnlich und die Studie daher von besonderem Interesse. Allerdings geht Schmitz in keiner Weise theoretisch auf die adoleszenten Entwicklungen ein. Kriterium für die Wahl der InterviewpartnerInnen war, dass sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, aber bereits über transnationale Erfahrungen mit Russland verfügen, wobei die Autorin diese nicht genau definiert und offenbar ein mehrwöchiger Aufenthalt, z.B. für einen Kurs, ausreicht. Als Erhebungsmethode hat sie das episodische Interview gewählt, wobei sie den besonderen Vorteil herausstellt, dass der Interviewer durch bestimmte Fragen „zum richtigen Zeitpunkt“ (98) zur Erzählung auffordern könne. Bereits an dieser Stelle ist zu vermuten, dass die Auswertungen auf der manifesten Ebene verbleiben werden und so hat sie denn auch die Interviews z.T. via Skype geführt, eher grob transkribiert (Wiederholungen wurden z.B. weggelassen, vgl. 100) und mithilfe der Grounded Theory kategorisierend ausgewertet. Um die Rolle der transnationalen sozialen Netzwerke zu erfassen, wurde mit einigen der InterviewpartnerInnen zusätzlich ein computergestütztes egozentriertes Netzwerkbild erstellt (vgl. 97), was eine passende Ergänzung darstellt. Im Folgenden stellt Schmitz drei transnationale Typen vor: Typus 1, der ‚mobile Bildungserfolgreiche‘, strebe nicht nach einer bestimmten Heimat, sondern versuche seinen Platz sowohl in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft zu finden (vgl. 250). Die zeitlich begrenzte Rückkehr in das Herkunftsland sei hauptsächlich ausbildungs- und karriereorientiert motiviert und diene dem Ziel, die „Potenziale des Herkunfts- und Aufnahmelandes auszuschöpfen“ (251). Der ‚transnationale Herkunftssucher‘ sei mit seiner (russischen) Herkunftsgesellschaft und -kultur stark emotional verbunden. Dennoch bezeichne er sich als „Mischung“

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(253) und könne seine Heimat nicht an einem speziellen Ort festmachen. Bei ihm seien die transnationalen Bewegungen weniger von Karriereaspekten geleitet, sondern „vor allem durch den symbolischen Aspekt seiner Identitäts- und Herkunftsambivalenz motiviert“ (ebd.). Dabei seien es vor allem „die jungen, bildungserfolgreichen (Spät-)Aussiedler aus bi-nationalen Familien, die oft auf Herkunfts- und Identitätssuche sind, wenn sie temporär nach Russland zurückkehren“ (121). Der dritte Typus, der ‚transnationale Aufsteiger‘, sehe im Herkunftsland bessere strukturelle Rahmenbedingungen für einen Aufstieg und weise eine stärkere Orientierung an diese auf (vgl. 253f). Allerdings ist dieser Typus derart knapp beschrieben, dass sich die Einzelheiten kaum erschließen. So bleibt z.B. die Frage offen, ob bei dem Gedanken an einen Aufstieg im Herkunftsland der pragmatische Ursprung (bessere Chancen) oder die angedeutete Sehnsucht nach der ‚Heimat‘ überwiegt bzw. wie sich diese gegenseitig beeinflussen. Zusammenfassend hält Schmitz am Ende fest, dass die InterviewpartnerInnen eine ‚hybride Identität‘ entwickelten, „die eine Positionierung jenseits der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft in einem ‚dritten Raum‘“ (264) im Sinne des ‚Third Space‘ von Bhabha (1990) ermögliche. Es gebe „kein Verlangen nach Heimat, sondern sie bevorzugen vielmehr Freiheit statt Heimat und fühlen sich somit in multiplen Orten und Gesellschaften beheimatet“ (266). Das ‚Leben mit zwei Kulturen statt zwischen den Kulturen’ werde von den InterviewpartnerInnen als Bereicherung, Zugewinn und Vorteil wahrgenommen (vgl. 182). Diese generalisierend positiven Aussagen zu allen InterviewpartnerInnen irritieren zum einen angesichts der drei unterschiedlichen Typen (vor allem Typus 2, bei dem eine Suche nach der Herkunft beschrieben wird) und zum anderen in Hinblick auf abgedruckte Interviewausschnitte, die sowohl manifest als auch latent erkennen lassen, dass die Einschätzungen so uneingeschränkt positiv nicht sind. Interessant wäre eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Frage gewesen, ob in der Tat „kein Verlangen nach Heimat“ (266) herausgearbeitet werden kann oder ob dieses (auch aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen) nicht erfüllt werden konnte und daher ein neues Konzept, das Schmitz Transnationalität nennt, gefunden und angenommen wurde bzw. werden musste. So fehlen auch Aussagen darüber, wovon die Zugehörigkeitskonstruktionen beeinflusst werden. Und obgleich es sich bei den InterviewpartnerInnen um Heranwachsende handelt, spielen in der Arbeit weder die Adoleszenz noch die familialen Beziehungen eine Rolle. Des Weiteren wird der Tatsache, dass sowohl Frauen als auch Männer einbezogen wurden, nicht durch eine gesonderte Betrachtung Rechnung getragen. Ein stärkerer Einbezug der gesellschaftlichen Bedingungen erfolgt bei Schramkowski (2007), die problemzentrierte Interviews mit je acht jungen Männern und Frauen mit türkischem und Aussiedler-Hintergrund geführt hat. Bei die-

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sen 19- bis 26-Jährigen handelt es sich um Heranwachsende, „deren Integrationsverläufe von Experten des Forschungsfeldes als positiv bewertet werden“ (17), „da sie unter anderem erfolgreich am Bildungssystem und/oder am Arbeitsmarkt partizipieren und die deutsche Sprache sehr gut bzw. perfekt beherrschen“ (18). Mithilfe einer Grounded-Theory-Analyse hat sie versucht, die subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen der jungen Menschen zu rekonstruieren (vgl. 17) und kommt zu dem Schluss, dass die subjektive Sichtweise sich nicht an diesen formalen äußeren Faktoren von Integration orientiert. Angesichts der Erfahrung von Benachteiligung und Vorurteilen und „infolge des Vorbehalts der Anerkennung ihrer Zugehörigkeit als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder“ (373) fühlten sich die jungen Männer und Frauen mehrheitlich weder integriert noch zugehörig. Nur die drei InterviewpartnerInnen hätten ein Gefühl uneingeschränkter Integration, die sich „mit ihrer Mehrfachzugehörigkeit als gleichberechtigte Person angenommen fühlen, kaum alltagsrassistische Erfahrungen machen und insofern ihren selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft finden konnten“ (305). Als eine Reaktionsweise auf die verweigerte gesellschaftliche Zugehörigkeit führt Schramkowski eine bewusste Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und Betonung der Zugehörigkeit zum Herkunftskontext an, die sie als ‚segregativ-reethnisierende’ Tendenz bezeichnet (vgl. 269f). Eine Besonderheit der Arbeit ist, dass zum einen junge Menschen mit türkischem Migrationshintergrund interviewt wurden, die bereits in Deutschland geboren sind (bzw. ist eine Person als Baby ‚eingewandert‘) und zum anderen (Spät-)AussiedlerInnen, die alle selbst migriert sind, z.T. sogar während der Adoleszenz. Als Besonderheit der Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen arbeitet Schramkowski denn auch die kürzere Aufenthaltsdauer heraus. In der ersten Zeit würden sie zunächst nicht erwarten, ganz anerkannt zu werden und anfangs alltagspraktische Fragen – wie das Erlenen der Sprache – im Vordergrund stehen, die für die hier geborenen Männer und Frauen mit türkischem Migrationshintergrund nicht von Bedeutung seien (vgl. 319ff). Obgleich Schramkowski die subjektive Sichtweise in den Mittelpunkt rückt, bleibt sie hierbei auf der Ebene der äußeren Faktoren (z.B. Sprachkompetenz) und geht nicht auf individuelle und familiale Bezüge ein. Das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration findet keine Betrachtung. Dies ist vor allem dadurch zu erklären, dass nicht die einzelnen Biographien im Mittelpunkt stehen, sondern mit Kategorien gearbeitet wird, die den Einzelfällen übergeordnet sind. Die klare Herausstellung der besonderen Relevanz der gesellschaftlichen Anerkennung für das Selbstbild und mögliche Folgen alltagsrassistischer Erfahrungen sind eine wichtige Ergänzung zu den vorherigen Studien. Deutlich wird jedoch erneut, dass allein eine Perspektive, die die individuellen Biographien ausführlich betrachtet, das subjektive Erleben rekonstruieren kann.

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Eine andere Herangehensweise wählen Rosenthal et al. (2011; auch Rosenthal/Stephan 2009; Rosenthal 2010), die drei Generationen von (Spät-) AussiedlerInnen in den Blick genommen haben. Auf bisher einzigartige Weise stellen sie dar, „welche Bedeutung die Kollektiv- und Familiengeschichten dieser Familien in der Gegenwart haben und inwiefern sich der familiale Umgang damit auf das heutige Leben ihrer Angehörigen auswirkt“ (2011, 22). Die Enkelgeneration24 ist zum Erhebungszeitpunkt zwischen 20 und 35 Jahre alt und kurz vor oder nach 1989 mit ihren Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert. Auf Grundlage von biographisch-narrativen Interviews, Familiengesprächen, historischem Quellenstudium und teilnehmenden Beobachtungen arbeiten sie heraus, dass in den Familien aufgrund der wechselnden historischen Verhältnisse Umschreibungsprozesse der Familien- und Lebensgeschichten entsprechend der jeweiligen dominanten kollektiven Diskurse stattgefunden hätten und weisen auf die intergenerationalen Folgen dessen hin. Für die Angehörigen der Enkelgeneration sei es sehr belastend, wenn die von den Eltern und Großeltern eingenommene „Gegenwartsperspektive auf die Vergangenheit und die momentane Situation nicht den eigenen Erinnerungen an die Vergangenheit und nicht den eigenen Zugehörigkeitskonstruktionen entspricht, die eben nicht zwingend eindeutig deutsch sind oder waren“ (ebd.). Die eigene ethnische Zugehörigkeit habe sich in den Interviews mit den Angehörigen der Enkelgeneration (die größtenteils aus bi- oder multinationale Familien stammen) als relevantes und ambivalentes Thema erwiesen, das „mit vielen Unsicherheiten in ihrem Lebensalltag verbunden [sei], in dem sie sich immer wieder mit ihren kollektiven Zugehörigkeiten positionieren bzw. dieselben interaktiv aushandeln müssen“ (ebd., 169). In der Folge komme es entweder zu einer starken Anpassung an die deutsche Dominanzgesellschaft oder zum Rückzug „in so genannte ethnische (meist ‚russische‘) Gegenwelten“ (ebd.). Ihre Ergebnisse sprächen dafür, dass solche ‚ethnischen Gegenwelten‘ aufgrund der schwierigen Bedingungen im Aufnahmeland und dem „unsicheren Erleben der eigenen Zugehörigkeit und der Zugehörigkeit der Eltern und Großeltern“ (ebd.) entstehen würden. Sie betonen, dass die Heranwachsenden auch zur ethnisch nichtdeutschen Familienseite eine ‚Loyalitätsbindung‘ verspürten, „die durch eine eindeutig deutsche Selbstdefinition der eigenen ethnischen Zugehörigkeit verletzt werden würde“ (ebd., Herv. i. O.). Sehr aufschlussreich ist der Vergleich zu Angehörigen der Enkelgeneration aus Familien, die nicht ausgereist sind und weiterhin in Kasachstan leben, denn diese würden weit weniger unter unsicheren Zugehörigkeitsgefühlen und Loyalitätsproblemen gegenüber ihren nichtdeutschen Verwandten leiden (vgl. Rosenthal et al. 24 Die Generation, die bisher als Kindergeneration bezeichnet wurde, wird bei Rosenthal et al. als Enkelgeneration benannt. Folgelogisch wird die Elterngeneration zur Kindergeneration und die Großelterngeneration zur Elterngeneration.

Studien mit Fokus auf Adoleszenz und Migration

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2011, 20). Dies hebt die Bedeutung der Migration für die Auseinandersetzung mit dem Thema der Zugehörigkeit hervor. Die Studie von Rosenthal et al. verdeutlicht aus soziologischer Perspektive den besonderen Gewinn der Betrachtung der intergenerationalen Beziehungen im Kontext von Migration. Weiter zeigt sie, dass es unumgänglich ist, sowohl die Erlebnisse und Bedingungen im Herkunftsland in die Rekonstruktion einzubeziehen als auch die in der Aufnahmegesellschaft. Die ausführlichen Darstellungen der historischen Generationen können für die Fallrekonstruktionen als wertvolles Hintergrundmaterial herangezogen werden. In Bezug auf die Enkelgeneration weisen die Texte jedoch Lücken auf. Der Blick auf die intergenrationalen Beziehungen erfolgt soziologisch, sodass das Thema Adoleszenz sowie einige der unter 2.2 und 2.3 ausgeführten Aspekte zwischen Eltern und Kindern keine Betrachtung finden. Zudem erscheinen die beiden vorgestellten Umgangsweisen der Heranwachsenden mit der Frage nach der eigenen ethnischen Zugehörigkeit weder den differenzierten Ausführungen angemessen noch umfassend. Das Forschungsfeld überblickend kann zudem festgehalten werden, dass über die Generationenbeziehungen in (Spät-)Aussiedlerfamilien bisher wenig bekannt ist (vgl. auch Vogel 2012, 297) und vor allem aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ein Desiderat besteht. 3.2 Studien mit Fokus auf Adoleszenz und Migration In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Perspektive der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung auf Kinder und Jugendliche gewandelt. In den 1970erund 80er-Jahren dominierte eine defizitorientierte Sichtweise, die die kulturelle Andersheit und (vermeintlich) daraus resultierenden Integrationsprobleme und psychosozialen Belastungen in den Mittelpunkt rückte (u.a. Bayer et al. 1975; von Klitzing 1983; Poustka 1984; Morten 1988). Migration und das Aufwachsen in einer Familie mit Migrationshintergrund wurden als erschwerende biographische Ausgangsbedingungen betrachtet. Verbunden damit war die Annahme eines grundlegenden Konfliktes zwischen „der als traditionell vorgestellten Herkunftskultur der Eltern und […] der als modern vorgestellten Kultur des Aufnahmelandes“ (Geisen 2007, 30). Dies drückte sich in Bildern wie dem des Lebens ‚zwischen Tradition und Moderne‘ oder ‚zwischen zwei Kulturen‘ aus. Ab Mitte der 1980er-Jahre wurde diese Perspektive zunehmend kritisch diskutiert und statt des Defizits eher die Differenz betrachtet (zusammenfassend: Allemann-Ghionda 2006). „Sprache und Kultur wurden als positive, die MigrantInnen selbst und die Gesellschaft gleichermaßen bereichernde Faktoren angesehen“ (Geisen 2007, 33), wobei jedoch durch Begriffe wie ‚Multikulturalität‘ deutlich

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wird, dass bestehende kulturelle Grenzziehungen nicht grundsätzlich infrage gestellt wurden (vgl. ebd.). Zum Ende der 1990er-Jahre fand das biographische Paradigma Einzug in die Forschung zu Kindern und Jugendlichen in der Migration. Methodisch zeigt sich dies in einer starken Zunahme von Arbeiten, die einzelne Lebensgeschichten zum Gegenstand haben und diese rekonstruktiv erschließen (statt der zuvor größtenteils quantitativen Erhebungen oder größeren qualitativen Studien, deren Ergebnisse auf der manifesten Ebene verblieben). „In dieser jüngsten Phase der Forschung über jugendliche MigrantInnen geht es nicht mehr primär um die Frage nach Defizit oder Differenz. Vielmehr geht es um eine differenzierte Analyse von Lebenswelten und Sozialisationsprozessen jugendlicher MigrantInnen“ (ebd., 38). Im Zuge dessen ist eine wachsende Zahl an Veröffentlichungen zu konstatieren, in denen die Biographien so genannter bildungserfolgreicher junger (überwiegend weiblicher) Menschen mit Migrationshintergrund (vor allem der zweiten Generation) betrachtet werden (u.a. Pott 2002; Ofner 2003; Mannitz 2006; Raiser 2007; Schmidt-Bernhardt 2008; Günther 2009; Hummrich 2009; Ruhland 2009; King et al. 2011; Lokschin 2011; Tepecik 2011; El-Mafaalani 2012; Schittenhelm 2012; Bär 2016). Diese Arbeiten rücken die Lebenswege der jungen Frauen und Männer in den Mittelpunkt, die sie als aktive Gestalter ihrer biographischen Entwicklung betrachten und untersuchen, welche besonderen Herausforderungen mit dem Bildungsweg im Kontext von Migration verbunden sind und ebenso, welche Potentiale diesem innewohnen, z.B. in Hinblick auf Individuation. Übergreifendes Ergebnis aller Studien ist die hohe Bedeutung der Familie für die Lebens- und Bildungswege der Kinder. Manche Arbeiten nehmen einen eher äußeren Blick ein und führen z.B. aus, wie diese als (emotionale) Ressource dienen können. Andere wählen eine Innenperspektive und analysieren, wie die elterlichen Migrations- und Trennungserfahrungen die Beziehung zu den Kindern beeinflussen, etwa in Bezug auf eine Delegation des Bildungserfolgs oder die Schwierigkeit, angesichts eigener Verlusterfahrungen adoleszente Ablösung zuzulassen (z.B. King et al. 2011). Von einer Perspektive, die Konflikte mit Eltern oder Institutionen schlicht als Folge kultureller Unterschiede deutet, wird durchgängig Abstand genommen. Stattdessen werden diese in Bezug auf die Eltern als Konflikte des Aufstiegs oder der Ablösung und in Bezug auf die Bildungsinstitutionen vor allem als Folge von Ausgrenzung, Diskriminierung und Ethnisierung betrachtet. Geht es um Heranwachsende in der Migration, überwiegen in Deutschland Arbeiten zu jungen Männern und Frauen mit türkischem Migrationshintergrund (u.a. Dewran 1989; Leenen/Grosch 1990; Nohl 1996; Tertilt 1996; Atabay 1998; Polat 1998; Nökel 2001; Pott 2002; Gültekin 2003; Ofner 2003; King et al. 2011; Tepecik 2011; El-Mafaalani 2012; Zölch et al. 2012). Diese Zentrierung wird zum

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einen damit begründet, dass es sich bei diesen um die größte Zuwanderergruppe handelt und zum anderen mit Feststellungen wie dem geringen Bildungserfolg, der nach besonderem pädagogischen Handlungsbedarf verlange. Zudem widmen sich die meisten Studien Heranwachsenden der zweiten Generation. Auch dies ist vor allem bei Arbeiten zu Kindern und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund zu beobachten, aber auch darüber hinaus, z.B. in Bezug auf einen griechischen (z.B. Baros 2001; Raiser 2007) oder italienischen Hintergrund (z.B. Apitzsch 1999). Dieser Umstand lässt sich damit erklären, dass die Mehrzahl aller Kinder und Jugendlichen in der Migration bereits in Deutschland geboren bzw. im Säuglings- oder Kleinkindalter eingewandert ist. Ein Mangel in diesem Bereich lässt sich auch generell für Forschungen zu männlichen Adoleszenten mit Migrationshintergrund konstatieren. Vor allem in den biographisch angelegten Arbeiten zeigt sich seit den späten 1990er-Jahren eine deutliche Dominanz jener zu Mädchen und jungen Frauen (z.B. Rohr 2001; Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2005; Gerner 2011; Renken 2012; Bülbül-Emanet 2015). Studien, welche auch oder ausschließlich junge Männer mit Migrationshintergrund in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen, sind u.a. Sauter 2000; Baros 2001; Delcroix 2001; Badawia 2002; Pott 2002; Apitzsch 2003; Juhasz/Mey 2003; King 2005a, 2009; Günther 2009; King et al. 2011; Zölch et al. 2012. Diese betrachten je verschiedene Migrantengruppen (keine (Spät-)AussiedlerInnen) und Angehörige unterschiedlicher Generationen (erste, zweite und dritte), sodass die Erkenntnisse nicht schlicht übernommen werden können. Obgleich in all diesen Arbeiten das Augenmerk auf Heranwachsende gelegt ist und somit typische adoleszente Entwicklungsdynamiken (zwangsläufig) eine Rolle spielen, wird überwiegend nicht explizit adoleszenztheoretisch auf diese eingegangen. Gewiss ist es legitim, Heranwachsende aus Migrantenfamilien zu untersuchen, ohne gesondert auf die Spezifität der Lebensphase Adoleszenz einzugehen. Allerdings hat sich gezeigt, dass dies nur dort stimmig gelingt, wo anders gelagerte theoretische Bezüge fundiert und klar den Fokus bilden, wie es etwa bei Pott (2002) sowie Juhasz und Mey (2003) der Fall ist.25 Problematisch ist es dort, wo Adoleszenzbezüge „stellenweise als Hintergrund erwähnt und offensichtlich zum Teil auch mitgedacht [werden], jedoch nicht aufschlussreich differenziert in der unmittelbaren Konvergenz mit migrationsspezifischen Thematiken gesehen sowie dargelegt“ (Ruhland 2009, 127) werden. So wird z.T. zwar der Adoleszenzbegriff verwendet, aber theoretisch nicht angemessen auf diesen eingegangen. Dabei ist zumeist von 25 Pott (2002) untersucht die Aufwärtsmobilität von jungen Frauen und Männern der zweiten türkischen Migrantengeneration in Deutschland in Hinblick auf die Bedeutung der soziologischen Konzepte von Ethnizität und Raum. Juhasz und Mey (2003) betrachten anhand der Biographien von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund in der Schweiz, auf welche Weise kapital- und figurationsbedingte Ungleichheitsdimensionen strukturierend auf ihre Lebenssituation einwirken.

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einem synonymen Gebrauch zum Terminus Jugend auszugehen, der eine psychosoziale Sichtweise proklamiert, ohne diese einzulösen. Lokschin (2011) etwa untersucht Kontingentflüchtlinge und erwähnt an zentralen Stellen der Arbeit wiederholt, dass es bedeutsam sei, dass diese während der Adoleszenz migriert seien. Sie geht jedoch weder im Theorieteil ausführlicher auf diesen Hintergrund ein noch betrachtet sie die besondere Bedeutung dieser Lebensphase (im Kontext von Migration) in ihrer Auswertung. Solch ein Vorgehen kann den Fällen zum einen nicht gerecht werden und impliziert zum anderen die Gefahr, dass bestimmte adoleszenztypische Auffälligkeiten allein als Folgen der Migration deklariert werden. Adoleszenz und Migration in Studien zu anderen Migrantengruppen Selbst wenn die Migration der Eltern auch für die bereits in Deutschland geborenen Kinder (in der Adoleszenz) bedeutsam ist, stellen Heranwachsende, die bewusste eigene Migrationserfahrungen haben, eine ganz besondere Untersuchungsgruppe dar, vor allem durch das unmittelbare Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration (siehe 2.3). Trotz dessen ist für die Gruppe der adoleszenten Mi grantInnen bisher eine deutliche Forschungslücke auszumachen. Pionierarbeit in diesem Bereich haben King und Schwab (2000) sowie Günther (2009) geleistet. Im Folgenden stehen die wenigen Studien im Mittelpunkt, die Anknüpfungspunkte für die Entfaltung einer Perspektive bieten, die die Unmittelbarkeit von Adoleszenz und Migration (auch für männliche Biographien) betrachtet. Das Konzept der ‚verdoppelten Transformationsanforderung‘ von Adoleszenz und Migration stammt von King (u.a. 2005) und wurde bereits unter 2.3 dargelegt. Um Redundanzen zu vermeiden, sei an dieser Stelle lediglich auf ihre empirischen Arbeiten verwiesen, in denen Fallgeschichten von (überwiegend männlichen) Adoleszenten mit Migrationshintergrund in Bezug auf unterschiedliche Gesichtspunkte dargestellt werden und abstrahierende Typusbeschreibungen erfolgen; etwa in Hinblick auf die Frage, welche Wechselwirkungen zwischen adoleszenten Ablösungsprozessen und Bildungswegen im Kontext von Migration zu finden sind (z.B. King 2005a; 2009a; 2009b; 2010b; King/Koller 2009; Zölch et al. 2009; King et al. 2011) oder welche Männlichkeitsentwürfe und adoleszenten Ablösungsmuster bei jungen Männern aus Migrantenfamilien vorliegen (King 2005a; Zölch et al. 2012). Allerdings widmet sich nur ein Text einem Heranwachsenden, der in der Adoleszenz unter den besonderen Bedingungen von Flucht migriert ist (King/Schwab 2000; vgl. zum Thema adoleszente Flucht auch Adam 2009; Zimmermann 2012). Der Beitrag enthält zunächst eine anspruchsvolle theoretische

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Verknüpfung von Adoleszenz und Migration als ‚verdoppelte Transformationsanforderung‘ (King/Schwab 2000, 211). Dabei arbeiten die Autorinnen drei Merkmale der Adoleszenz von (asylsuchenden) Flüchtlingen heraus: „1. Das strukturell konflikthafte Verhältnis zwischen der Kultur des Aufnahmelandes als potentiellem adoleszentem Entwicklungsspielraum und den jugendlichen Flüchtlingen, 2. Die zugespitzte Spannung von Bindungssuche einerseits und Explorations- und Ablösungswünschen andererseits bei adoleszenten Flüchtlingen, 3. Die Verdoppelung des Fremdheits- und Verlusterlebens bei adoleszenten Flüchtlingen durch die Fremdheit der eigenen adoleszenten, psychophysischen Veränderungen zum einen und die Fremdheit der äußeren Realität zum andern“ (ebd., 212).

Den theoretischen Ausführungen schließt sich das ausführliche Fallbeispiel des 18-jährigen Antons an, der als unbegleiteter Flüchtling mit 15 Jahren nach Deutschland migriert ist. Seine Eltern sind bereits gestorben als er vier Jahre alt war. Die Tatsache, dass er nicht nur ein unbegleiteter Flüchtling ist, sondern auch Waise, stellt eine sehr besondere Situation dar, die mit Fällen, in denen ein Heranwachsender gemeinsam mit seinen Eltern migriert, nicht uneingeschränkt vergleichbar ist. Die Analyse stützt sich nicht auf ein Interview, sondern auf die Protokolle der Betreuerin. King und Schwab führen aus, dass die „konflikthaften und verstörenden Momente von Antons Adoleszenz in der Fremde massiv verstärkt“ (ebd., 227) würden. Sein Möglichkeitsraum sei „durch Brüche und geringe Spielräume für das in der Adoleszenz notwendige Explorieren und Experimentieren“ (ebd.) sowie die Angst, abgeschoben zu werden, begrenzt. Die ebenso präzisen wie tiefgehenden Analysen in dieser wie in anderen Publikationen Kings machen den Gewinn ihrer Perspektive deutlich, die Adoleszenz und Migration in ihren Wechselwirkungen betrachtet und den Biographien in besonderem Maße gerecht wird. Hervorzuheben ist der starke Einbezug der intergenerationalen Beziehungen und der gesellschaftlichen Bedingungen als zentrale Faktoren des Möglichkeitsraumes. Dies stellt eine deutliche Erweiterung zu den genannten Studien und eine geeignete Anschlussstelle für meine Untersuchung dar. Als einzige Einbuße ist zu nennen, dass die Falldarstellungen und Typologien Kings im Kontext von Migration bisher nur in Aufsatzform vorliegen (s.o.) und daher natürlicherweise vom Umfang her begrenzt sind. Ausführliche Portraits und methodische Beschreibungen finden sich bei Günther (2009), die in ihrer Dissertation direkt an das Adoleszenz-Konzept von King anknüpft und am Beispiel guineischer BildungsmigrantInnen das „Zusammenspiel der adoleszenten mit der migrationsspezifischen Auseinandersetzung im Hinblick auf die Ermöglichung oder Verhinderung von Wandlungsprozessen untersucht“

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(241). Zentrale Frage der Studie ist, wie „sich die Bearbeitung verdoppelter Transformationserfahrung auf die Lebensentwürfe adoleszenter MigrantInnen“ (ebd., 90) auswirkt. Im Theorieteil geht sie sehr fundiert auf die Bedingungen von Adoleszenz und Migration sowie ihr Zusammenwirken als ‚verdoppelte Herausforderung‘ ein. Die InterviewpartnerInnen sind in einem Alter von mindestens 20 Jahren eltern- bzw. familienunabhängig für ein Studium nach Deutschland migriert. Hauptergebnis der ethnohermeneutischen Interpretationen ist, dass Prozesse der inneren Ablösung „maßgeblich von der Qualität der familialen Ressourcen bestimmt werden, auf die die Jugendlichen zurückgreifen können[, wobei insbesondere] die innerfamilial gewährten Spielräume für adoleszentes Probehandeln, verlässliche und streitbare Bezugspersonen sowie die seitens der Familie gewährte Autonomie“ (ebd., 245f) als bedeutsam hervorgehoben werden. Eine weitere besondere Erkenntnis ist, „dass es sich bei den Themen, die die adoleszenten MigrantInnen bearbeiten, um genuine Adoleszenzthemen handelt, die durch die Migration eine krisenhafte Verstärkung erfahren, weil die Migration eine Neubearbeitung der individuellen Themen herausfordert und der jeweiligen Konstellation entsprechend den Individuierungsprozess vorantreiben oder blockieren kann“ (ebd., 244).

Die jeweilige Ausgestaltung ergebe sich aus dem Zusammenspiel der biographisch erworbenen inneren Ressourcen mit den äußeren Verhältnissen der Migrationssituation, wobei es bedeutsam sei, die „Qualität des adoleszenten Möglichkeitsraum[es] vor und nach der Migration (ebd., 239f) zu vergleichen. In Hinblick darauf hat Günther drei Entwicklungsmuster adoleszenter Migration herausgearbeitet: die ‚Offensive Neuschöpfung’, die ‚Defensive Anpassung’ und die ‚Kompromisshafte Transformation’. Bei dem Muster ‚Offensive Neuschöpfung’ erfahre die schöpferische Bearbeitung adoleszenzspezifischer Themen gerade durch die Migration eine deutliche Erweiterung und Vertiefung. Schwierigkeiten infolge der – eigenmotivierten – Migration würden kreativ überwunden. „Insgesamt trägt die Migration bei diesem Typus wesentlich zum Individuierungsprozess und damit zur Neuschöpfung von Lebensentwürfen bei“ (ebd., 231). Im Gegensatz dazu finde bei dem Muster ‚Defensive Anpassung’ ein Experimentieren mit alternativen Entwürfen kaum statt. Die charakteristische „vorsichtige Zurückhaltung und Anpassung an von außen vorgegebene Regeln und Normen“ (ebd.) werde durch die Migration noch verstärkt. Die – überwiegend fremdbestimmte – Migration „bewirkt eine grundlegende Verunsicherung und stellt eine Überforderung dar, der durch enge Anbindung an vertraute Bezugspersonen begegnet wird“ (ebd.). Beim letzten Muster, der ‚Kompromisshaften Transformation’, werde die Bearbeitung adoleszenzspezifischer Themen „durch anhaltende

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Konflikte mit der Herkunftsfamilie blockiert. Diese Konflikte verhindern das Ausschöpfen vorhandener adoleszenter Entwicklungsspielräume und potenzieren sich durch die Migration“ (ebd.). Die Angehörigen dieses Musters fühlten sich „hinund hergerissen zwischen der Bindung an ihre Herkunftsfamilie und -kultur, ihren inneren Autonomiebestrebungen und den äußeren Autonomieangeboten der Aufnahmekultur“ (ebd., 232). Übergreifend stellt Günther zum einen fest, dass die weiblichen Bildungsmigrantinnen ein tendenziell größeres Transformationspotential aufweisen (vgl. ebd., 245). Zum anderen wurde der Umgang mit Diskriminierungserfahrungen, Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozessen als größtes Hindernis für die Bewältigung der Herausforderungen adoleszenter Migration herausgearbeitet (vgl. ebd., 244), wobei die Angehörigen der drei Muster unterschiedlich damit umgingen. Die Adoleszenten des Musters ‚Offensive Neuschöpfung’ könnten die Einschränkungen durch ihre psychosozialen Fähigkeiten kompensieren, wohingegen sich diese auf die Identitätsentwicklungen der Jugendlichen des Musters ‚Kompromisshafte Transformation’ begrenzend und für die des Musters ‚Defensive Anpassung’ blockierend auswirkten (vgl. ebd., 248f). Die Studie von Günther überzeugt in ihrer Anlage und methodischen Durchführung und liefert gehaltvolle Ergebnisse in Hinblick auf das Zusammenwirken von Adoleszenz und Migration, an die in dieser Arbeit angeknüpft werden kann. Im Unterschied zum hier gewählten Fokus sind ihre InterviewpartnerInnen jedoch erst ab einem Alter von 20 Jahren im Zuge des Studiums migriert und tragen (überwiegend) die Verantwortung für die Entscheidung dazu. Die größte Differenz liegt darin, dass sie alle elternunabhängig als Einzelpersonen – also ohne ihre Familien – migriert sind, worin ein Unterschied für die Dynamik von Adoleszenz und Migration vermutet werden kann. Zwar hat auch Günther die Bedeutsamkeit familialer Beziehungen herausgearbeitet, doch ist davon auszugehen, dass es Auswirkungen hat, wenn die Eltern nicht tausende Kilometer entfernt sind, sondern z.B. unmittelbar ein Zimmer in einem Wohnheim mit dem Adoleszenten teilen und die gesamte Familie parallel von Veränderungsprozessen der Migration betroffen ist. Die Betrachtung der familialen Migration von Adoleszenten stellt demnach ein spezifisches Forschungsfeld und Desiderat dar. Dies hängt vermutlich auch damit zusammen, dass mit Blick auf alle Einwanderer nach Deutschland, Migrationen im Familienverbund mit heranwachsenden Kindern einen eher geringen Anteil ausmachen (vgl. Pries 2011, 29).26 Für diese Forschungperspektive stellen (Spät-)AussiedlerInnen aufgrund ihrer Zusammensetzung die Erhebungsgruppe ‚par excellence‘ dar. 26 In den USA, Kanada oder Australien ist dieser Migrationstypus hingegen von größerer Bedeutung. „Hier ist der Anteil mitreisender Familienangehöriger fast genauso groß wie der Anteil von Arbeitsmigranten selbst“ (Pries 2011, 29).

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Renken (2012) hat für ihre Studie denselben Titel gewählt wie Günther drei Jahre zuvor, „Adoleszenz und Migration“, bleibt in der Qualität und Komplexität der Betrachtung jedoch hinter dieser zurück, weshalb sie hier nur kurz erwähnt sei. Ihr Ziel war es, am Beispiel junger Frauen mit iranischem Migrationshintergrund herauszuarbeiten, wie identitätsbildende Merkmale in der Migration gewonnen werden und welche „Konflikte und […] daraus resultierenden Handlungsstrategien der jungen Frauen erreicht werden“ (14). Basis der Arbeit sind 14 biographische Interviews mit jungen Frauen, die als Kinder oder Jugendliche in den 1980er-Jahren mit ihren Eltern aus dem Iran nach Deutschland migriert sind und heute zwischen 20 bis ca. 35 Jahre alt sind. Bei der Migration waren die Interviewpartnerinnen zwischen drei und fünfzehn Jahren alt, was eine große Spanne darstellt; überwiegend unter zehn Jahren. Davon wertet die Autorin zwei Interviews mithilfe der Narrationsanalyse und der Tiefenhermeneutik aus (vgl. ebd., 14). Die beiden ausgeführten Fälle waren bei der Migration fünf und sieben Jahre alt, wodurch keine adoleszente Migration vorliegt. Besonders betrachtet Renken die Mutter- sowie Vater-Tochter-Beziehung, Mädchenfreundschaften, sexuelle Aufklärung und die erste Menstruation, die Entwicklung der Herkunftssprache, den Umgang mit Glauben und Religion sowie die Auseinandersetzung mit den Themen Beruf, Mutterschaft und Familie. Die „Anforderungen in und zwischen zwei Kulturen“ während der Adoleszenz, bezeichnet die Autorin als „geballte […] Kombination“ und „verzweifelte[n] Zustand“, der „nach besonderen Lösungsstrategien und Handlungskompetenzen verlangt“ (ebd., 207). Zentrales Ergebnis ihrer Studie ist, dass die jungen Frauen dafür „eigene Wege der Bewältigung adoleszenter Herausforderungen“ finden müssten, „die vorher in der Form nicht da gewesen sind“ (ebd., 208, Herv. i. O.). Dies stellt sie als einen bewussten Weg dar, der „große kreative Potenziale [berge], die die Entstehung von Neuem ermöglichen“ (ebd., 209, Herv. i. O.). Der (bedeutsame) Schritt von der Verzweiflung zur Hervorbringung von Neuem wird in der Arbeit jedoch nicht näher ausgeführt. Bär (2016) hat in ihrer Dissertation ebenfalls (Eigen-)Migration und Adoleszenz betrachtet. Dafür hat sie narrative Interviews mit fünf Jugendlichen geführt, die zwischen zehn und 16 Jahre alt waren, als sie nach Deutschland migriert sind und zur Zeit des Interviews 15 bis 21 Jahre alt sind, und damit noch in einer frühen Phase der Adoleszenz. Zu ihrem Sample zählen dabei drei spezifische Gruppen: Jugendliche, die im Rahmen der Familienzusammenführung nachgeholt wurden; Jugendliche, die von ihren Eltern für einen Bildungsaufstieg alleine in die BRD geschickt wurden sowie Flüchtlingsjugendliche, die mit einem Teil ihrer Familie geflüchtet sind (vgl. 26f). AussiedlerInnen hat Bär bewusst ausgenommen, da sie davon ausgeht, dass für diese „vergleichsweise privilegierte Einwanderungs- und

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Aufenthaltsrechte gelten“ (25) würden. Zweieinhalb Jahre nach dem ersten Interview hat sie jeweils ein weiteres geführt, um die Entwicklung nachvollziehen zu können (vgl. 173). Pro Migrationsgruppe stellt sie einen Fall ausführlich vor, wobei die Interpretationen mithilfe der Methode des Szenischen Verstehens erfolgt sind. Übergreifendes Ziel der Arbeit war es, „sowohl die schulischen und sozialen Integrationsmöglichkeiten für neu zugewanderte Jugendliche als auch ihre psychosoziale Entwicklung in der Adoelszenz zu analysieren und hieraus Implikationen für die schulische Praxis abzuleiten“ (23). Vor allem die schulischen Rahmenbedingungen für neu zugewanderte Jugendliche werden ausführlich theoretisch dargestellt und die aus den Ergebnissen abgeleiteten Hinweise für die Praxis und Lehrerbildung sind sehr gelungen. In Bezug auf den Aspekt ‚Adoleszenz und Identitätsentwicklung unter Migrationsbedingungen‘ hat sie vor allem die Folgen elterlicher Delgationen und unbewusster Aufträge an ihre Kinder betrachtet. Diese wirkten zwar „einerseits als Antrieb, die elterlichen Erwartungen zu erfüllen, und sichern damit schulischen Erfolg“ (296), doch andererseits verhinderten „der starke Druck und die Bindung an das elterliche Aufstiegsprojekt einen größeren Experimentierraum in der adoleszenten Entwicklung“ (ebd.). Angesichts dessen, dass ihre InterviewpartnerInnen alle bildungserfolgreich sind, stellt sie die Hypothese auf, dass es sich bei den „schulischen Erfolgen um eine Abwehrstrategie für die erlittenen Schmerzen und für die Trauer um die Verluste handelt, die zunächst im Dienste des Ichs und seiner (vorübergehenden) Stabilisierung und Stärkung steht“ (297). Heranwachsende, die mit ihren Eltern migriert sind, betrachtet Kirsch (2010) in ihrer Dissertation, die in der historischen Sozialisations- bzw. Biographieforschung angesiedelt ist. Anhand von Menschen, die Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus im Kindes- bzw. Jugendalter mit ihren Eltern aufgrund von rassistischer Verfolgung und/oder aus politischen Gründen verlassen mussten, untersucht sie, wie und welche Habitus der Krisenbewältigung sich angesichts der erzwungenen Emigration entwickeln und welche biographische und identitätsbezogene Relevanz diesen zukommt (vgl. 210). Dafür hat sie bereits vorliegende narrative Interviews mit ehemaligen Kindern sowie einen autobiographischen Text objektiv-hermeneutisch ausgewertet und drei Typen herausgearbeitet. Es wird allerdings deutlich, dass es sich um eine historische und keine erziehungswissenschaftliche Studie handelt, sodass die Autorin kaum die adoleszenten Entwicklungen einbezieht und nicht auf die Ablösung von den Eltern eingeht, was sich auch durch das Fehlen von Adoleszenztheorien zeigt. Baros (2001) Studie hat die familialen Beziehungen in (griechischen) Migrantenfamilien mit adoleszent gewordenen Kindern im Fokus. Darin untersucht er, „inwieweit Migration und die damit verbundenen Schwierigkeiten Auswirkungen auf das Beziehungsgefüge in griechischen Familien haben und wie die

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Problemsituationen und Konflikte in der Familie bearbeitet werden“ (299). In den betrachteten Familien sind die Eltern migriert und gehören die Kinder, die zwischen zwölf und 21 Jahren alt sind, der zweiten Generation an.27 Dabei geht Baros von einem Migrationsverständnis aus, dass die „Gesamtheit des Migrationsprozesses als Generationenerfahrung in der Familie“ (ebd., 162) versteht. In der Arbeit werden sechs Familienfallstudien dargestellt, die auf partnerzentrierten Gesprächen und teilnehmenden Beobachtungen basieren, die Baros mit der Methode der Sozialpsychologischen Rekonstruktion analysiert hat. Diese zeigen innerfamiliale Konfliktfelder auf, die er als nicht „rein migrationsspezifisch anzusehen“ (ebd., 284) beschreibt, die sich „unter der Migrationssituation aber noch verstärken“ (ebd.). Die drei drängendsten Konfliktfelder seien die „Rückkehr-VerbleibFrage“ (ebd., 284), die Einschränkung jugendlicher Selbstbestimmungsmöglichkeiten durch die Eltern (vgl. ebd., 285) sowie eine „kulturelle Distanz“ (ebd., 286) zwischen Eltern und den adoleszent gewordenen Kindern. Dabei zeigt er auf, dass die Konflikte oftmals Folge einer unterschiedlichen „Wahrnehmung und Bewältigung der Migrationswirklichkeit“ (ebd., 300) durch Eltern und Kinder seien und diese Schwierigkeiten damit hätten, „die (migrationsbedingte) Entfremdungsproblematik und die damit verbundenen subjektiven Bewältigungsstrategien der anderen Seite nachvollziehen zu können“ (ebd.). Konflikte würden von den Eltern als etwas Destruktives empfunden und daher vermieden, was eine Bearbeitung verhindere. Diese werde auch dadurch erschwert, dass es generell an einem Dialog zwischen den Generationen fehle (vgl. ebd., 289ff). Die Adoleszenten würden das Verhalten der Eltern als Kontrolle wahrnehmen, wohingegen die Eltern die Autonomiebestrebungen ihrer Kinder „als emotionalen Bruch interpretieren“ (ebd., 283). Die Lücke wird nicht aufgehoben. Baros kommt das große Verdienst zugute, dass er bereits zu einem frühen Zeitpunkt ein intergenerationales Design eingesetzt hat, wodurch er die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Eltern und Kindern herausarbeiten konnte. Das Thema Adoleszenz stand nicht im Fokus seiner Untersuchung, doch in Hinblick auf einzelne Aspekte, wie die Autonomiebestrebungen, liefert er Erkenntnisse dazu. Allerdings betrachtet er die Adoleszenz nicht in einem umfassenden Sinne und hat, anders als es hier geschehen soll, Familien untersucht, in denen die Eltern migriert sind und die Kinder der zweiten Generation angehören. Abschließend ist noch wichtig zu betonen, dass die meisten der hier angeführten Studien zu Adoleszenz und Migration es ablehnen, Konflikte zwischen Eltern und Heranwachsenden kulturalistisch oder (nur) als Folge der Migrationssituation zu erklären. Ihr Ziel ist es, nicht ein Musterbild einer Adoleszenz unter Migrationsbedingungen zu formulieren, sondern die Biographien in ihrer Gänze 27 Zwei Familien waren vorübergehend (eine für vier, eine für zwei Jahre) nach Griechenland zurückgekehrt.

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zu rekonstruieren – mit Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen und die intergenerationalen Beziehungen – und die sich zeigenden Wechselwirkungen und Konstellationen in ihrer Vielfalt differenziert aufzuzeigen. Dem möchte ich mich anschließen. Adoleszenz und Migration in Studien zu (Spät-)Aussiedlerinnen Im Kontext des biographischen Paradigmas sind seit den 2000er-Jahren zahlreiche Studien entstanden, die die Adoleszenz junger Frauen und Männer mit Migrationshintergrund betrachten (vgl. King/Koller 2009). Auch hier setzte die Erforschung junger (Spät-)AussiedlerInnen wieder mit deutlicher Verspätung ein und stellt trotz der zahlreich vorliegenden Arbeiten zu dieser Gruppe, bis heute ein marginal behandeltes Themenfeld dar. Lediglich die Dissertationen von SchmidtBernhardt (2008) und Ruhland (2009) beziehen adoleszente Entwicklungsprozesse in ihre Überlegungen ein. Beide Arbeiten untersuchen jedoch nur Frauen und lassen in Bezug auf den theoretischen Rahmen zur Adoleszenz und den gefolgerten Ergebnissen noch Fragen offen. Ruhland (2009) betrachtet in ihrer Studie Lebensgeschichten von studierenden (Spät-)Aussiedlerinnen im Kontext von Migration, Adoleszenz und Bildungserfolg. In ihren theoretischen Ausführungen geht sie davon aus, dass „das Adoleszenzkonzept, wie es für einheimische Jugendliche Verwendung erfährt“ für die jungen Frauen aufgrund der Migrationserfahrungen und dem „familial bzw. kulturell anders geprägte[n] Herkunftskontext“ „nur bedingt zu gebrauchen ist“. Sie hätten sich „zunächst und primär“ mit den „migrationsbedingte[n] Veränderungsund Anpassungsnotwendigkeiten sowie daraus resultierende[n] Schwierigkeiten“ (alles: 67) auseinanderzusetzen, wodurch einer Individuation als solcher wenig Relevanz zukomme. Obgleich Ruhland von solch starken Auswirkungen der Migrationserfahrungen ausgeht, thematisiert sie die Migration nicht gesondert und zeichnet kein detailliertes Bild der antizipierten Herausforderungen, die eine Adoleszenz verunmöglichen sollen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Frage, wie den jungen Frauen der Bildungserfolg gelingen konnte. Um dies beantworten zu können, hat sie narrative Interviews mit weiblichen Heranwachsenden geführt, die im Alter von acht bis zehn Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland ausgesiedelt sind und hat diese „orientiert“ (ebd., 173) am Verfahren der Fallrekonstruktion nach Rosenthal ausgewertet. Den Falldarstellungen räumt sie viel Platz ein, wobei eine Lebensgeschichte als ‚Ankerfall‘ ausführlich präsentiert und im Folgenden mit zwei weiteren Fällen verglichen wird. Allerdings stammen zwei der Frauen aus Polen und

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nur eine aus der ehemaligen Sowjetunion, ohne dass diese Unterschiedlichkeit gesondert betrachtet würde. Der Blick in die abgedruckten Sequenzen zeigt, dass die Autorin in den Rekonstruktionen oftmals eher auf der manifesten Ebene verbleibt und keinen erkennbaren Vergleich der erzählten und erlebten Lebensgeschichte vornimmt. Irritierend ist, dass Ruhland für die Zeit nach der Einreise vor allem auf die Schulgeschichte eingeht und das Thema Adoleszenz bereits in dem Kapitel vor dem Studium genauer betrachtet wird, als sei diese mit Studienbeginn abgeschlossen. Explizit lehnt es die Autorin ab, in den Bildungsaspirationen der Eltern ein Moment von Delegation oder Druck zu sehen. Dabei beschreibt sie eindrücklich, dass die Aussiedlung für die Eltern „erhebliche Brüche und Einschnitte, Erschütterungen und schwerwiegende Erfahrungen“ (ebd., 434) mit sich gebracht habe und sie nachträglich eine „Re-Legitimation“ bräuchten, um „die Aussiedlung noch und zumindest auf diesem Weg als sinnvoll und richtig für sich abschließen und damit Frieden finden zu können“ (ebd.) – und diese sei der Erfolg der Töchter. Ruhland betrachtet den Wunsch der Töchter, den Leistungserwartungen der Eltern entsprechen zu wollen, rein positiv als die entscheidende Motivation und den Grund für den Schulerfolg der jungen Frauen (vgl. ebd., 445). Dabei verwundert, dass sie das schulische Vorankommen trotz dieser Ausgangslage als „genuin eigenständige Angelegenheit“ (ebd., 432) der Heranwachsenden bezeichnet. Mithilfe der Empirie bestätigt Ruhland im Folgenden überwiegend die Thesen, die sie bereits im Voraus aufgestellt hat. Im Kontext von Migration habe die Adoleszenz keinen „experimentellen Charakter“ (ebd., 431) annehmen können, da die „migrationsbedingten Notwendigkeiten von Transformation und Erfahrungsverarbeitung [die] adoleszenten Umstellungsprozesse“ (ebd.) weitreichend überlagert hätten. In der Folge sei es den Mädchen „schlichtweg weder um Ablösung und Neufindung noch um Neugestaltung im Elternbezug, sondern primär um die Konstanz in der Verbundenheit“ (ebd., 432) gegangen. Die Schlussfolgerung, dass der Wunsch nach Ablösung nicht bestand, weil diese nicht stattgefunden hat, greift zu kurz. So zeigt sich in einzelnen Sequenzen wie auch in Ruhlands Ausführungen, dass die jungen Frauen den elterlichen Erwartungen widersprechende Bedürfnisse und Meinungen besaßen, diese jedoch aufgrund der Bedeutsamkeit des familialen Zusammenhalts nicht durchgesetzt wurden (vgl. z.B. ebd., 403). Dies direkt an den Bedingungen der Migration festzumachen, die sie zudem kaum erläutert und im Kontext von Migration automatisch von einem Ausbleiben der adoleszenten Ablösung auszugehen, erscheint gleichsam normativ und dem komplexen Geschehen nicht angemessen. Stattdessen müssten die familialen, gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen stärker berücksichtigt werden und die

Studien mit Fokus auf Adoleszenz und Migration

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migrationsspezifischen Erfahrungen dezidiert in ihren Auswirkungen auf die intergenerationalen Beziehungen und im Zusammenspiel mit adoleszenten Entwicklungsprozessen untersucht werden. Schmidt-Bernhardt (2008) geht in ihrer Arbeit den adoleszenten Identitätsbildungsprozessen junger bildungserfolgreicher Spätaussiedlerinnen nach. Dazu stellt sie sechs Portraits von 18- bis 20-jährigen Gymnasiastinnen und Studentinnen vor, die im Alter zwischen acht und elf Jahren – also wie bei Ruhland kurz vor der Adoleszenz – mit ihren Familien als Spätaussiedlerinnen nach Deutschland gekommen sind. Die Auswertung erfolgte mithilfe der Tiefenhermeneutik ergänzt durch Elemente der Narrationsanalyse und des Empathischen Verstehens. Dabei nehmen die subjektiven Empfindungen der Autorin sowohl in den Auswertungen als auch in den Ausführungen des theoretischen Teils einen großen Raum ein, wobei es wiederholt dazu kommt, dass Schmidt-Bernhardt die Grenze der Methoden überschreitet und Eigenes vereinnahmend auf die jungen Frauen projiziert (vgl. auch Ruhland 2009, 137); ein Beispiel: „Ich suchte und fand die Nähe zu den Jugendlichen, und ich spürte, dass für mich die Nähe zur Jugend zu finden auch heißt, die Nähe zu mir selbst zu finden. Eigene Entwicklungen, eigene Chancen, auch verpasste Chancen, wurden mir bewusst und motivierten mich, die Jugendlichen auf ihrem Weg intensiver zu begleiten“ (SchmidtBernhardt 2008, 18).

Eine ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit den zentralen Themen Adoleszenz und Migration findet nicht statt. Im Ergebnisteil präsentiert Schmidt-Bernhardt sechs detailreiche Portraits. Im Fallvergleich werden unterschiedliche Aspekte eher deskriptiv und unsystematisch aneinandergereiht. Eine deutliche Beantwortung der Fragestellung bleibt aus, was auch daran liegt, dass sie diese zuvor nicht explizit formuliert hat. In allen Interviews sei es um die gleichen Aspekte gegangen, was die Autorin selbst als verwunderlich anmerkt, nämlich den starken schulischen Fleiß, die Familienorientierung, den Schutz der Mutter sowie die Thematisierung der neidgeprägten Rivalität zwischen den jungen Frauen und einheimischen Deutschen (vgl. ebd., 401). Eine methodische Reflexion dieses Umstandes nimmt Schmidt-Bernhardt nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass sich die Tatsache, dass vier der Mädchen, die sehr enge Freundinnen sind, jeweils zu zweit interviewt worden sind, ausgewirkt hat. Dabei ist es zum einen denkbar, dass die jungen Frauen sich ähneln und darin die Qualität ihrer intimen Freundschaft liegt. Zum anderen findet in einer solchen Interviewkonstellation eine andere Dynamik statt. Es kommt unter guten Freundinnen in solch einer Gesprächssituation vermutlich weniger zu Widerspruch, auch kann die eigene Lebensgeschichte nicht so einen großen Raum einnehmen,

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Forschungsstand

wie in einem biographisch-narrativen Einzelinterview. All dies kann eine Ähnlichkeit der Themen befördern und lässt zudem die je individuellen Bedingungen in den Hintergrund treten. Minimale Kontraste liefert denn auch vor allem der Fall der Spätaussiedlerin Lydia, die alleine interviewt wurde. Diese spezifische Konstellation hätte einer reflexiven Betrachtung bedurft. Generell fällt auf, dass Schmidt-Bernhardt oftmals an dem manifesten Inhalt der Erzählungen orientiert bleibt und so gewisse Thematiken gleich erscheinen, obwohl bei einer Interpretation des latenten Sinngehalts vermutlich differente dahinterliegende Strukturen hätten erarbeitet werden können. In Bezug auf die Familie stellt Schmidt-Bernhardt – wie Ruhland – heraus, dass diese für die Interviewpartnerinnen eine protektive Ressource darstelle, wobei es aber eine Spaltung zwischen Vater und Mutter gebe. Den „geschlechtstypisch positiven Bildungsverlauf“ (ebd., 410) der jungen Frauen begründet sie mit der Mutter als kulturellem Kapital und wichtigste Ressource für den Bildungserfolg (vgl. ebd.): „Die Töchter sind bestrebt, den Wünschen der Mütter zu entsprechen. Den an sie delegierten Auftrag nehmen sie uneingeschränkt an. Sie beziehen sich ganz explizit auf die Mutter als den Motor ihrer Leistungsorientierung. Keine von ihnen möchte die Mutter kränken, keine von ihnen sie enttäuschen, keine von ihnen einen Weg einschlagen, der der Mutter missfallen würde“ (ebd., 411).

Den Bereich der Bildung bezeichnet sie als den Raum, in dem die jungen Frauen „von den Eltern losgelöste […] Erfahrungen“ (ebd., 421) machen könnten, „in dem sie über die Eltern hinauswachsen, in dem sie sich in das Spannungsfeld von Ablösung auf dem Boden einer gleichzeitigen Anerkennung“ (ebd.) durch die Mütter begeben. Angesichts der zuvor beschriebenen Delegationen und ausgeprägten Wünsche der Töchter, diesen zu entsprechen, scheint dies zu kurz zu greifen. Zwar machen die jungen Frauen in der Schule Erfahrungen, die von den Eltern losgelöst sind (z.B. durch die Unterrichtssprache, Lerninhalte, Peers), wird der Bildungserfolg jedoch stellvertretend angestrebt, ist darin keine Ablösung erkennbar. Schmidt-Bernhardt merkt zwar als einen Verarbeitungsmodus an, dass aus dem hohen Erwartungsdruck der Eltern Aggressionen entstehen können, die statt gegen diese, gegen die Schule gerichtet würden (vgl. ebd., 433), aber es bleibt die Auseinandersetzung damit aus, was dies für die familialen Beziehungen und die adoleszenten Ablösungsprozesse bedeutet. Interessant ist die Feststellung, dass in jeder Familie immer nur ein Kind ihres Samples im Bildungssystem einen erfolgreichen Weg gehe. Eine einheitliche Position in der Geschwisterreihe habe sich dabei nicht gezeigt (vgl. ebd., 414). Schmidt-Bernhardt begründet dies damit, dass nur je ein Kind die nötige Flexibilität und Kreativität für die „Gestaltung der Zwischenwelten entwickelt“ (ebd.,

Studien mit Fokus auf Adoleszenz und Migration

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414) habe und nur an ein Kind jeweils die Aufgabe übergehe, den Erfolg des Migrationsprojektes zu verantworten. Obwohl sie einen anregenden Verweis auf Wardi (1997) macht, die davon ausgeht, dass die von den Eltern ungelösten Konflikte von einem Kind übernommen würden und die Geschwister dadurch emotional frei seien und sich von den Eltern lösen könnten (vgl. 71), geht SchmidtBernhardt nicht auf mögliche Zusammenhänge mit dem Thema der adoleszenten Ablösung ein. Stattdessen betont sie die positiven Aspekte „der besonderen Flexibilität im Umgang mit den Bedingungen der Aufnahmegesellschaften, in dem außerordentlichen Bildungserfolg und in einer ehrgeizigen Konzeption der Lebensentwürfe“ (Schmidt-Bernhardt 2008, 415). Auch Schmidt-Bernhardt bezieht sich sowohl im theoretischen als auch im empirischen Teil nur knapp auf die verdoppelte Herausforderung von Adoleszenz und Migration. Das Thema der Zugehörigkeit spielt bei ihr so gut wie keine Rolle; ebenso wie bei Ruhland. Lediglich knapp gibt sie an, dass durch die kreative „Verbindung der beiden Welten […] eine dritte neue Welt“ (ebd., 453) entstehen könne. Als förderlich dafür hätten sich Übergangsobjekte (wie ein russisches Schulheft) und Übergangsräume (wie der Russischunterricht in der deutschen Oberstufe) erwiesen. Was genau sie jedoch mit der ‚dritten neuen Welt’ meint, welche Funktion diese hat und in welchem Zusammenhang sie mit Adoleszenz und Migration steht, bleibt offen. Es ist deutlich geworden, dass für (Spät-)Aussiedlerinnen bisher keine Studie vorliegt, die das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration adäquat untersucht. Die untersuchten Frauen haben eigene Migrationserfahrungen, jedoch fand diese im Grundschulalter und somit vor Beginn der Adoleszenz statt. Dadurch liegen sie quasi zwischen den Angehörigen der zweiten Generation und jenen, die als Heranwachsende in der Phase der Adoleszenz migriert sind. Letzte stellen – wie gezeigt wurde – übergreifend eine kaum beachtete Gruppe dar. In Bezug auf männliche (Spät-)Aussiedler im Speziellen ist die Forschungslage als desolat zu bezeichnen. In den beiden qualitativen Arbeiten (Selensky 2004; Reich 2005), die sich speziell mit männlichen Heranwachenden befassen, bilden die Integrationsprobleme und vor allem das abweichende Verhalten den Untersuchungsschwerpunkt. Auch die wenigen anderen vorliegenden Studien zu Jungen und jungen Männern aus (Spät-)Aussiedlerfamilien, betrachten diese stets in Hinblick auf problematisches Verhalten (z.B. Babka von Gostomski 2003). Es gibt keine Untersuchung, die – analog zu den oben genannten von Ruhland und Schmidt-Bernhardt – bildungserfolgreiche männliche (Spät-)Aussiedler zum Gegenstand hat oder die adoleszenten Entwicklungsprozesse von jungen Männern in den Blick nimmt.

4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Präzisierung der Fragestellung

Im Folgenden wird der erste Teil der Arbeit noch einmal zusammengefasst und davon ausgehend die Fragestellung für den folgenden empirischen Teil präzisiert. (Spät-)AussiedlerInnen (Kapitel 1) Mit rund 2,4 Millionen eingewanderten Personen stellen die (Spät-)AussiedlerInnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland dar (vgl. Worbs et al. 2013, 28) und sind bereits dadurch eine bedeutsame Untersuchungsgruppe. Obgleich (Spät-)AussiedlerInnen einen privilegierten Status insofern besitzen, als dass sie juristisch als Deutsche gelten, werden sie gesellschaftlich marginalisiert und haben mit anderen MigrantInnen vergleichbare (Integrations-)Schwierigkeiten (vgl. Dietz/Roll 1998, 18). So sprechen vor allem die Angehörigen der Kinder- und Elterngeneration bei der Einreise überwiegend kein Deutsch mehr, ist die Wohnsituation anfangs und z.T. über Jahre durch soziale Segregation geprägt, werden mitgebrachte Berufs- und Bildungsabschlüsse nicht gleichwertig anerkannt und herabgestuft oder fällt es den Heranwachsenden schwer, Freundschaften mit Autochthonen aufzubauen, auch wenn sie es sich wünschen – um nur ein paar der Herausforderungen zu nennen. Hinzukommt, dass sie sich im Vergleich zu anderen Migrantengruppen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit ihrer ‚natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit‘ (vgl. Mecheril 2003) mit einer außergewöhnlich vielschichtigen Konstellation von Selbst- und Fremdzuschreibungen konfrontiert sehen, die ihren Ursprung im 18. Jahrhundert mit der Auswanderung ‚deutscher‘ Siedler nach Russland hat (vgl. Schmitt-Rodermund 1999, 51ff). In Bezug auf ihre russische Umwelt nahmen sie sich als Fremde wahr und isolierten sich fast vollständig. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu ersten Repressalien gegen die deutschen Siedler, die während des Zweiten Weltkriegs in Deportationen aufgrund der nationalen Zugehörigkeit ihren Höhepunkt fanden. Im Anschluss kam es zu einer zunehmenden Assimilation an das sowjetische/russische Umfeld. So stieg die Zahl bi-nationaler Eheschließungen seit den 1950er-Jahren stark an und ging die Verwendung der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_5

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deutschen Muttersprache in den Familien zurück. Im Zuge der politischen und ökonomischen Umstrukturierung der späten 1980er-Jahre wurde unter Gorbatschow die Ausreise nach Deutschland erleichtert. Zu einem weiteren Anstieg der Aussiedlungszahlen trugen darauf der Zusammenbruch der Sowjetunion und dessen Folgen bei. Die Kinder und Jugendlichen wachsen überwiegend in bi-nationalen Familien auf, in deren Alltag zumeist nur der ‚russische‘ Part gelebt wird, wissen aber dennoch (z.T.) um die deutsche Familienvergangenheit und die schrecklichen (Verfolgungs-)Erlebnisse der deutschen Großelternseite. Mit der Aussiedlung erhält diese Seite auf einmal erhöhte Relevanz, wohingegen sie in Deutschland vermittelt bekommen, dass sie trotz des Passes keinesfalls gleichwertige Deutsche, sondern ‚Russen‘ seien. Diese Vielschichtigkeit der natio-ethnokulturellen Zugehörigkeitskonstruktionen ist charakteristisch für die Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen und – vorgreifend angemerkt – besonders im Kontext der Adoleszenz, ein wichtiger Untersuchungsaspekt. Eine weitere Besonderheit im Vergleich zu den meisten anderen Migrantengruppen stellt die Tatsache dar, dass (Spät-)AussiedlerInnen nahezu ausnahmslos im Familienverbund nach Deutschland einwandern, der z.T. sogar drei Generationen umfasst (vgl. Wierling 2004, 197). Im Kontext der Adoleszenz, die ein intergenerationales Geschehen darstellt, erscheint es bedeutsam und vielversprechend, diese Konstellation näher zu betrachten. Allein von 1987 bis 2003 sind 943.982 Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert (vgl. Söhn 2008, 404). Dabei wird das Einreisealter als wichtige Determinante für den späteren Schulerfolg betrachtet. Die ausgeführten Daten veranschaulichen, dass sich (Spät-)AussiedlerInnen, die im Kindes- bzw. Jugendalter aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion migriert sind, im deutschen Bildungssystem mit besonderen Herausforderungen und Benachteiligungen konfrontiert sehen. Adoleszenz (Kapitel 2.1) In dieser Arbeit, so wurde im zweiten Kapitel dargelegt, wird unter Adoleszenz der Transformationsprozess eines Menschen von der Kindheit zum Erwachsensein (King 2000, 42) verstanden. Durch die gewandelten kognitiven, psychischen und physischen Voraussetzungen im Zuge der Pubertät und das in der Jugend steigende außerfamiliale Explorationsverhalten, wird eine auf veränderte Weise stattfindende Auseinandersetzung mit der Welt der Kindheit, den familialen Erfahrungen, den bisher selbstverständlichen Lebensbedingungen und dem eigenen Gewordensein möglich (vgl. King 2007, 37f). Zentrale Fragen sind: „Wer bin

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ich? Woher komme ich? Wer will ich sein?“ (King 2013, 101, Herv. i. O.). In diesem Kontext gilt es, das bestehende Verhältnis zu den Eltern zu modifizieren und adoleszente Ablösungsprozesse zu vollziehen, die eigene Geschlechtlichkeit auszugestalten und vor allem, einen individuierten Lebensentwurf herauszubilden und eine generative Haltung einnehmen zu können. Die Adoleszenz als „Zeit des Umbruchs“ (Streeck-Fischer 1999, 13) bietet Raum für Abschied und Neugestaltung, wobei dieser Prozess von besonderen Ressourcen und Risiken bestimmt ist. Wird sie durch eine kreativ-reflexive Auseinandersetzung mit den oben genannten Themen als „zweite Chance“ (Erdheim 1982) wirksam, können lebensgeschichtliche Krisen und Mangelerfahrungen umgestaltet und bewältigt werden. Ob und in welchem Maße dieses stattfindet, hängt von der „Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraumes“ (King 2013, 28) ab, die neben geschlechts- und milieuspezifischen sowie sozial-strukturellen Bedingungen ganz wesentlich von der generativen Haltung der Eltern sowie der Qualität der familialen Beziehungen – in Wechselwirkung mit den Beziehungen zu Gleichaltrigen und signifikanten erwachsenen Anderen – bestimmt wird (vgl. Reich 2005, 136). Der Begriff des ‚Möglichkeitsraumes‘ verdeutlicht dabei, dass es potentiell möglich, aber nicht gewährleistet ist. Ein zentraler Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist daher, die Adoleszenz als intergenerationalen Prozess zu betrachten, wie z.B. King (bspw. 2010) es vorgeschlagen hat, bei dem für eine produktive Gestaltung beide Seiten – die Heranwachsenden und ihre Eltern – Veränderungen in den Generationenbeziehungen zulassen müssen. Bei der adoleszenten Ablösung im hier gemeinten Sinne geht es nicht um die Aufhebung von Bindung, sondern um die Transformation der bestehenden Beziehungen und das Erlangen einer Balance von Autonomie und Verbundenheit. Der Ablösungsprozess in der Adoleszenz wurde rekurrierend auf King (ebd.) als Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung (vgl. 14) definiert. Im ersten Schritt geht es um den „Abschied von der Welt der Kindheit und den kindlichen Beziehungen“ (ebd.). Im zweiten darum, „Aspekte des Bestehenden infrage stellen zu können und die damit verbundenen Ängste und möglichen Schuldgefühle auszuhalten“ (ebd.). Dabei kommt es zu einem „Anerkennungsvakuum“ (King 2007), da der Heranwachsende auf die Zustimmung und Anerkennung von Seiten der Eltern phasenweise verzichten muss. Kompensatorisch spielen Größen- und Allmachtsphantasien zeitweise eine Rolle. Die adoleszente Ablösung mündet schließlich im dritten Schritt, der Neuschöpfung, also der Potenz, „aus den vorhandenen Ressourcen das Vergangene und das Gegenwärtige zu einem neuen, flexiblen Lebensentwurf zu verknüpfen“ (King 2010a, 14). Dabei muss die Erwachsenengeneration den Individuationsprozess der Adoleszenten zulassen und fördern (vgl. Schubert 2005). Von Bedeutung sind vor allem die Zeit-

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und Spielräume, die den Adoleszenten „für die Erkundung der äußeren Welt wie für die ausgiebige Selbsterforschung“ (King 2013, 109) zugestanden werden. Migration (Kapitel 2.2) Migration stellt einen „Umwandlungs- und Neubildungsprozess“ (vgl. Apitzsch 1999) dar, der Migrierte oft ihr Leben lang beschäftigt und zu einem Wandel der bisherigen individuellen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge führt (vgl. Günther 2009, 59). Dadurch erfährt die Selbstverständlichkeit der erworbenen Wissens- und Orientierungssysteme einen Bruch. Den Einsturz des ‚Denkenswie-üblich‘ hat Schütz (1972) als „Krisis“ (59) bezeichnet. Die fehlende Kenntnis und Sicherheit müssen im Aufnahmeland mittels sozialer Interaktionsprozesse in Auseinandersetzung mit dem dort gültigen sozialen Bezugssystem erlangt bzw. wiederhergestellt werden (vgl. Han 2005). Das Konzept der Krisis, auf dem diese Arbeit fußt, folgt jedoch keiner normativen Bewertung; vielmehr wird Migration als ein Lebensereignis verstanden, das einen Einschnitt in die Biographie eines Menschen darstellt, der sowohl Bewältigung erfordert als auch Entwicklungspotential enthält und unter Umständen chancenhaft genutzt werden kann. In Bezug auf die Herausforderungen kann analog davon gesprochen werden, dass das Gelingen von einer, nämlich der Chancenstruktur des migrationsspezifischen Möglichkeitsraumes, abhängt. Diese wird auf der einen Seite durch die gesellschaftlichen „Strukturen sozialer Ungleichheitsverhältnisse“ (Riegel 2004, 72) geprägt, welche die MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft vorfinden. Darunter fallen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, Bildungschancen sowie Erfahrungen von Missachtung oder Anerkennung (vgl. z.B. Diefenbach 2004; Hamburger et al. 2005). Auf der anderen Seite geschieht die Bewältigung der Migration in Abhängigkeit davon, welche Erfahrungen im Herkunftsland gemacht wurden, aufgrund welcher Motive diese erfolgte, wie sich deren Umsetzung gestaltet hat, welche Folgen diese mit sich gebracht hat – und der je individuellen Verarbeitung dessen. Migration erfordert es auch, Wege zu finden, die eigenen Kompetenzen sowie mitgebrachten Bildungs- und Berufstitel in Deutschland um- und einsetzen zu können, wobei Begrenzungen (z.B. in Bezug auf die Sprachfähigkeit) und Abwertungen von außen (z.B. Nichtanerkennung von Studienabschlüssen) einbezogen werden müssen, um realistische Zukunftsentwürfe entwickeln zu können. Zentrale Themen sind zudem der Umgang mit Trennungen, die Bewältigung von Fremdheitserfahrungen sowie die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeitskonstruktionen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Zugehörigkeit stellt einen „zentralen Topos der Migrationsforschung“ (Dausien/Mecheril 2006, 155)

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dar, wobei Mecheril (2003) das Konzept der ‚natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit‘ entwickelt hat, dem diese Arbeit folgt. Als Fremdheitsmarker, also Merkmale aufgrund derer Personen von einem ‚Wir‘ exkludiert werden, fungieren sichtbare Zeichen des Migrationshintergrundes. Dabei geht es nicht nur um die Konstatierung eines Merkmals, sondern um die „Operationen der Etikettierenden“ (Hahn 1994, 140), die wertend sind. Auch wenn eine Person die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und somit ‚formell‘ Mitglied ist (vgl. Mecheril 2002, 110) – wie es bei (Spät-)AussiedlerInnen der Fall ist – kann diese auf ‚informeller‘ Ebene dennoch als nichtzugehörig wahrgenommen und im Alltag behandelt werden. Das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration (Kapitel 2.3) In Kapitel 2.3 wurde aufgezeigt, dass das zeitliche Zusammentreffen der beiden Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration eine spezifische Konstellation entstehen lässt. Heranwachsende in der Migration müssen sich nicht nur mit adoleszenten Themen auseinandersetzen, sondern auch ganz unmittelbar mit den Folgen und Anforderungen der Migration, die sich in vielen Punkten ähneln. Beispielsweise sind beide Prozesse von Trennungs- und Fremdheitserfahrungen sowie den Themen Abschied und Um- bzw. Neugestaltung geprägt (vgl. King 2005a, 65). Das Zusammentreffen von adoleszenter und migrationsbedingter Krisensituation wirkt auf die Chancen- und Risikolage des Möglichkeitsraumes und beinhaltet sowohl die Gefahr des Scheiterns als auch die Möglichkeit der produktiven Bewältigung. Als relevante Größen können wie für die Migration und die Adoleszenz im Einzelnen, die familialen Beziehungen, das soziale Netzwerk sowie die gesellschaftlichen Bedingungen benannt werden. Dabei ist es auch wichtig, die Entwicklungsspielräume vor und nach der Migration zu vergleichen. Der für Heranwachsende aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion grob angestellte Vergleich zeigt, dass diese in Deutschland eine größere soziale Sicherheit erleben und potentiell ein erweiterter adoleszenter Möglichkeitsraum besteht, der jedoch durch die (sozial-strukturellen) Umstände und (psychischen) Folgen der Migration konterkariert werden kann. So kommt es z.B. genau in der Phase zu einem Abbruch bestehender Freundschaftsbeziehungen, in der diese besonders benötigt werden. In der Folge fehlt es im Ankunftsland häufig an Gleichaltrigenkontakten, die für das Vorantreiben der Ablösung der Heranwachsenden von ihren Eltern relevant sind. Es wurde ausgeführt, dass die Migration im Familienverbund eine besondere Konstellation insofern darstellt, als die ganze Familie zeitgleich mit dem Verlust

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des Vertrauten konfrontiert wird und sich im Einreiseland neu orientieren und verorten muss, was je nach Alter und aktueller (Lebens-)Situation unterschiedliche Herausforderungen mit sich bringt. In der Folge kann es zu einer familialen ‚Generationenumkehrung‘ kommen, mit der ein Macht- und Funktionsverlust der Eltern verbunden ist und bei der die Heranwachsenden in Teilen die Elternrolle übernehmen müssen. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass auch die Bearbeitung des Zusammentreffens von Adoleszenz und Migration ein intergenerationales Geschehen darstellt und auch für die Eltern eine spezifische Herausforderung bedeutet. Zum einen müssen diese sich selbst erst noch im Ankunftsland verorten und können wohlmöglich (phasenweise) nicht Halt gebend wirken. Zum anderen haben sie aufgrund der eigenen Migrationserfahrungen und damit verbundenen Trennungen eventuell weniger Kapazität, die Ablösung des Kindes zuzulassen (vgl. z.B. King et al. 2011). In diesem Kontext sind auch Bildungsaspirationen und -delegationen zu nennen, bei denen sich die Frage stellt, wie diese von den Kindern aufgenommen werden und welche Bedeutung sie in Prozessen adoleszenter Umgestaltung und Ablösung erlangen. Damit interagiert, inwiefern die Heranwachsenden nach der Migration noch in der Lage sind, wie es Erdheim (1982) als typisch für die Adoleszenz beschreibt, „das Überlieferte in Zweifel zu ziehen, zu verunsichern und neue Perspektiven zu suchen“ (296) und gleichzeitig sich selbst „nicht zu verlieren und die Kontinuität zu wahren“ (ebd.). Im Umgang mit den adoleszenten Herausforderungen herrschen geschlechtsspezifische Unterschiede vor. Junge Männer neigen eher dazu, Probleme mit aggressivem oder abweichendem Verhalten zu externalisieren (King 2010b, 97). Besonders der Vater stellt für sie eine relevante Person dar, deren Beziehung und Vorbild bedeutsam ist. In Bezug auf junge männliche Spätaussiedler sprechen Studien im Vergleich zu Einheimischen von einer starken Orientierung am väterlichen Autoritätsanspruch und einem traditionellen Rollenbild (vgl. Garnitz 2006, 80). Die ‚Bedürftigkeit‘ des Vaters infolge der Migration werde, so Sauter (2000) geschlechtsspezifisch verarbeitet: wohingegen die Töchter die Väter zu entlasten versuchten, wendeten Söhne ihre Aggressionen nach außen und setzten damit für sich selbst negative Verläufe in Gang (vgl. 255). Apitzsch (2003) spricht davon, dass bei weiblichen Heranwachsenden mit Migrationshintergrund eine familienorientierte Prägung vorliege und bei den männlichen eine Peergroup-Orientierung (vgl. 72). Zum besseren Verständnis soll Abbildung 2 das Zusammentreffen von adoleszenz- und migrationsspezifischen Herausforderungen visualisieren sowie die übergeordnete Frage, welche Folgen dieses mit sich bringt.

Zusammenfassung

Abbildung 2:

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Folgen des Zusammentreffens der Transformationsprozesse (eigene Darstellung)

Forschungsstand (Kapitel 3) Im dritten Kapitel wurde aufgezeigt, dass zwar ein breiter Forschungsstand zur Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen existiert, dieser jedoch bestimmte Bereiche fokussiert – wie den historischen Hintergrund oder das Thema Integration – und an anderen Stellen Lücken aufweist. Einen auch für diese Arbeit bedeutsamen Schwerpunkt stellt die Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Zugehörigkeit dar. Gerade in den letzten Jahren sind einige Veröffentlichungen entstanden, die Typologien der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskonstruktionen von (Spät-)AussiedlerInnen präsentieren. Dabei hat sich zum einen das Problem gezeigt, dass die Differenzen zwischen den Einwanderergenerationen z.T. nicht angemessen einbezogen wurden und zum anderen oftmals sehr direkte Fragen gestellt wurden, denen sich latente Zugehörig-

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keitskonstruktionen entziehen. Vor allem die Defizite dieser Studien haben gezeigt, dass das Thema der Zugehörigkeit nur mit Blick auf das Wechselspiel von Selbst- und Fremdzuschreibungen angemessen betrachtet werden kann und es eine wertvolle Ergänzung darstellt, die intergenerationalen Beziehungen im Kontext von Migration zu betrachten (wie bei Rosenthal et al. 2011). Mehrere Arbeiten weisen auf die Besonderheit der jungen (Spät-)AussiedlerInnen aus bi-nationalen Familien hin. Obgleich diese mittlerweile den größten Teil ausmachen, liegt keine dezidierte Untersuchung zu dieser Gruppe vor. In Bezug auf Kinder und Jugendliche dominieren quantitative Arbeiten mit einer normativ-problemzentrierten Perspektive, z.B. auf den Aspekt abweichendes Verhalten. Obgleich im Zuge des biographischen Paradigmas seit den 2000er-Jahren zahlreiche Studien zur Adoleszenz junger Männer und Frauen mit Migrationshintergrund entstanden sind, bleibt die Behandlung dieses Themenfeldes für (Spät-)AussiedlerInnen prekär. Lediglich die Dissertationen von Schmidt-Bernhardt (2008) und Ruhland (2009) beziehen adoleszente Entwicklungsprozesse in ihre Überlegungen ein. Beide Arbeiten untersuchen jedoch nur (bildungserfolgreiche) Frauen und lassen in Bezug auf den theoretischen Rahmen zur Adoleszenz und den gefolgerten Ergebnissen noch Fragen offen. Junge männliche (Spät-)Aussiedler wurden bisher fast ausschließlich defizitorientiert betrachtet. Es liegt keine Untersuchung vor, die die Biographien von bildungserfolgreichen männlichen (Spät-)Aussiedler zum Gegenstand hat. Insgesamt stellen Studien, die die adoleszenten Entwicklungsprozesse junger Männer in der Migration differenziert rekonstruieren, eine Minderheit dar. Ausgehend von diesem Desiderat betrachtet die vorliegende Arbeit junge Männer. Im zweiten Kapitel wurden die Besonderheiten adoleszenter Migration theoretisch herausgearbeitet. In der empirischen Forschung dominiert ganz eindeutig die Betrachtung von Kindern und Jugendlichen der zweiten und dritten Generation. Schmidt-Bernhardt und Ruhland reklamieren zwar für sich, die Unmittelbarkeit adoleszenter Migration zu betrachten, haben in ihren Samples allerdings fast ausschließlich junge Frauen, die im Grundschulalter migriert sind und damit nach keiner offiziellen Definition adoleszent waren. Anders ist es in den konzeptionell fundierten Arbeiten von King und Schwab (2000) und Günther (2009). King und Schwab setzen sich mit der Verschränkung von Adoleszenz und Migration in der Lebensgeschichte eines adoleszenten Flüchtlings auseinander, wohingegen Günther diese für BildungsmigrantInnen aus Guinea in den Blick nimmt. Die ebenso präzisen wie tiefgehenden Analysen machen den Gewinn einer Perspektive deutlich, die Adoleszenz und Migration in ihren Wechselwirkungen betrachtet. Dabei haben sich die familialen Beziehungen und die gesellschaftlichen Bedingungen als bedeutsam erwiesen. Beide Arbeiten stellen eine geeignete Anschlussstelle dar.

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Allerdings sind die Untersuchten sowohl bei King und Schwab als auch bei Günther ohne ihre Familien nach Deutschland migriert. Auch wenn die Eltern, z.B. durch die Delegation von Bildungserfolg, selbst ohne personelle Anwesenheit bedeutsam für die Entwicklung der Heranwachsenden sind, stellt die Betrachtung der familialen Migration von Adoleszenten ein ganz spezielles Forschungsfeld und Desiderat dar. (Spät-)AussiedlerInnen sind durch die oben benannten Besonderheiten (Kapitel 1) die ‚Erhebungsgruppe par excellence‘ für diese Thematik. Es ist deutlich geworden, dass der Blick auf Heranwachsende, die selbst mit ihren Familien migriert sind und somit ein Zusammentreffen der Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration erleben, eine wichtige Perspektivenerweiterung darstellt, die bislang empirisch noch nicht vorgenommen wurde. Weiter haben die Ausführungen gezeigt, dass für männliche (Spät-)Aussiedler keine Studie vorliegt, die das Thema der adoleszenten Migration auf zufriedenstellende Weise untersucht. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Überwindung der Desiderate leisten. Präzisierung der Fragestellung In der Einleitung wurde folgende Hauptfragestellung als erkenntnisleitend formuliert: ‚Welchen Einfluss hat das Zusammentreffen der Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration auf den adoleszenten Entwicklungsprozess von männlichen Spätaussiedlern?‘ Ausgehend von dem im ersten Kapitel skizzierten (historischen und sozialen) Hintergrund der Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen, den unter Kapitel 2 ausgeführten adoleszenz- und migrationstheoretischen Ansätzen sowie ihrer Verknüpfung und den im dritten Kapitel vorgestellten Erkenntnissen und Desideraten des Forschungsstandes, lassen sich vielschichtige Unterfragen festhalten. Diese sollen weder konkret an die Interviewpartner gerichtet werden noch in den Ergebnissen Stück für Stück abgearbeitet werden. Vielmehr dienen sie als Festschreibung relevanter Aspekte des Forschungsthemas, die für die Auswahl der Erhebungs- und Auswertungsmethode sowie der Interviewpartner bedeutsam waren und in Kapitel 7 bei den theoretischen Verallgemeinerungen als Hintergrundfolie dienen werden.    

Auf welche Weise wirken die Migrationserfahrungen auf die adoleszenten Auseinandersetzungen und die Ablösung der jungen Männer von ihren Eltern? Welche Besonderheiten bestehen bei einer Migration im Familienverbund? Wie ist der Möglichkeitsraum vor und nach der Migration beschaffen? Welchen Einfluss hat das Alter bei der Einreise?

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Zusammenfassung Welche Herausforderungen zeigen sich infolge der Migration und wie wirken sich diese auf den biographischen Verlauf aus? Ob und wie kann der ‚Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung’ gelingen, wenn die Migration genau während der Adoleszenz stattfindet? Welche Folgen hat es für die adoleszenten Auseinandersetzungen mit den Eltern, wenn diese zeitlich parallel die Herausforderungen der Migration zu bewältigen haben und sich eventuell familiale Positionen und Kräfteverhältnisse verschieben? Können die Eltern angesichts der Erlebnisse und möglicher Verluste im Kontext der Migration den Söhnen gegenüber eine generative – Ablösung gewährende – Haltung einnehmen? Auf welche Weise findet die Auseinandersetzung mit dem Thema Männlichkeit und der Figur des Vaters statt? Und spielt auch die (eventuell) veränderte Position der Mutter infolge der Migration für die Söhne eine Rolle? Gibt es bedeutsame Andere, die unterstützend wirksam werden? Welche Erfahrungen machen die jungen Männer in der Ankunftsgesellschaft? Erleben sie Diskriminierung o.ä.? Wie wirkt es sich auf das Treten von der Familie in die Gesellschaft aus, wenn diese einen z.T. nicht anerkennt und ausschließt? Welche Zugehörigkeitskonstruktionen nehmen die jungen Männer vor und wie interagieren diese mit Fremdzuschreibungen? Welche Rolle spielt der formal erfolgreiche Bildungsweg in den Lebensgeschichten? Besteht eine familiale Delegation des Bildungserfolgs? Wie wirkt sich diese aus?

Aufgrund der vielfältigen Einflüsse kann – selbst bei ähnlicher Ausgangslage – nicht generalisierend ein spezifischer Adoleszenzverlauf in Zusammenhang mit der Migration prognostiziert werden. Stattdessen ist ein differenzierter Blick notwendig, der in der Adoleszenz auftauchende Schwierigkeiten nicht unhinterfragt auf die Migration zurückführt, aber auch nicht Konflikte, die ihren Ursprung im Kontext von Migration haben, allein als Adoleszenzprobleme deutet. Um herauszufinden, auf welche Weise dies geschieht, muss der Möglichkeitsraum, der sich aus familialen, gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen konstituiert, berücksichtigt werden. Des Weiteren gilt es, die migrationsspezifischen Erfahrungen dezidiert in ihren Auswirkungen auf die intergenerationalen Beziehungen und im Zusammenwirken mit adoleszenten Entwicklungsprozessen zu rekonstruieren. Zudem ist es unverzichtbar, nicht nur einen Moment zu betrachten, sondern den Verlauf über einen längeren Zeitraum (Jahre) sowohl vor als auch nach der

Zusammenfassung

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Migration einzubeziehen, da Adoleszenz und Migration beide einen Transformationsprozess darstellen. Dies macht eine biographisch-rekonstruktive Forschung nötig, die das individuelle Erleben und die subjektiven Verarbeitungsmöglichkeiten der jungen Männer herausarbeitet. Der von diesen Überlegungen abgeleitete konkrete Forschungsprozess wird im folgenden Kapitel ausgeführt.

5 Forschungsprozess

In diesem Kapitel erfolgt ein dezidierter Einblick in den Forschungsprozess, um den Verlauf der Erkenntnisgewinnung transparent und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. Steinke 1999, 207). Durch die Darstellung der Methodologie und die konkrete methodische Vorgehensweise wird der Forderung nach Explikation, die besonders an qualitative Forschungen gestellt wird, nachgekommen (vgl. z.B. Lamnek 1995). Zunächst erfolgt eine Begründung der Verortung der Arbeit im interpretativen Paradigma sowie der biographieanalytischen Herangehensweise (5.1). Anschließend werden die Erhebungsmethode des biographisch-narrativen Interviews und das genaue Vorgehen bei der Datenerhebung ausführlich erläutert (5.2). Präzise wird im Weiteren dargestellt, wie sich die Auswahl der Interviewpartner entwickelt hat und wie sich das Sample letztlich zusammensetzt (5.3). Es folgen Ausführungen zur wechselseitigen Konstitution von Erleben, Erinnern und Erzählen (5.4), da diese eine wichtige Grundlage der verwendeten Auswertungsmethode der biographischen Fallrekonstruktion (5.5) darstellt, die im Folgenden in extenso vorgestellt wird. Abschließend erfolgt eine detaillierte Reflexive Betrachtung der Forschungssituation (5.6). 5.1 Verortung in der Biographieforschung Im Fokus des Forschungsinteresses steht das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration in den Lebensgeschichten von Spätaussiedlern. Bei beiden Themen – Adoleszenz und Migration – spielen Transformationsprozesse, Entwicklungsverläufe und Interaktionsprozesse eine große Rolle, die sich sowohl quantitativen Methoden als auch einer direkten Befragung entziehen. Zugänglich werden diese nur über den Weg der Interpretation, weshalb die vorliegende Untersuchung in der Tradition interpretativer Sozialforschung steht. Soziale Wirklichkeit wird im Sinne des „interpretativen Paradigmas“ (Hoffmann-Riem 1980) nicht als objektive Gegebenheit verstanden, sondern als gesellschaftliche Konstruktion, „die auf dem Wege sprachlich vermittelter Interaktionen ständig neu hervorgebracht“ (Koller 1999, 163) wird (siehe auch Berger/Luckmann 1969). Der Zugang zur Wirklichkeit kann daher nicht über ein deduktiv-nomologisches Vorgehen (also © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_6

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Forschungsprozess

mittels messen und erklären) geschehen, sondern ist nur durch die Interpretation von Äußerungen (rekonstruieren und verstehen) zu erschließen (Koller 2008, 183ff). Solche Äußerungen konstituieren sich durch Interaktion und Kommunikation und bringen sich als Text zur Darstellung, wobei der Textbegriff weit gefasst ist, und z.B. Interviews, Videoaufnahmen oder Beobachtungsprotokolle einbezieht (vgl. Rosenthal 2005, 19). Solche Texte werden in der qualitativen Sozialforschung mit dem Anliegen untersucht, den subjektiv gemeinten Sinn nachzuvollziehen und den latenten Sinn zu rekonstruieren (vgl. ebd.). Dabei sind bestimmte Prinzipien interpretativer Verfahren konstitutiv:       

Prinzip der Offenheit im Forschungsprozess und bei der Erhebung (Aufhebung der Phasentrennung von Datenerhebung und -auswertung) Offene Forschungsfrage mit Möglichkeit zur Modifikation Keine Hypothesenbildung vorab, sondern Generierung von Hypothesen und Theorien anhand des empirischen Materials28 Entwicklung der Stichprobe während des Forschungsprozesses (Theoretical Sampling) Offenheit bei der Erhebung (z.B. in Hinblick auf die Instrumente) Prinzip der Kommunikation Orientierung am Relevanzsystem der Untersuchungspersonen (vgl. Hoffmann-Riem 1994, 29ff; Rosenthal 2005, 15ff; Flick 2006)

Die qualitative Sozialforschung umfasst unterschiedliche Ansätze, einer davon ist die biographieanalytische Herangehensweise, die vor allem in der Erziehungswissenschaft und Soziologie verfolgt wird. Das Wort Biographie29 kommt vom altgriechischen βιογραφία (Lebensbeschreibung) und wird als mündliche oder schriftliche Präsentation des Lebensweges eines Menschen verstanden. In der Biographie sind der äußere Lebenslauf, die gesellschaftlich-strukturellen und historischen Rahmenbedingungen und die jeweilige lebensgeschichtliche Verarbeitung durch das Subjekt miteinander verwoben (vgl. Tepecik 2011, 49). „Mittels der erzählten Lebensgeschichte wird es möglich, die Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft sowie die gegenwärtige Signifikanz kollektiver und 28 Der Verzicht auf Hypothesen ist nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht auf theoretisches Wissen (vgl. Bohnsack 2005, 69). Die im 2. Kapitel ausgeführten Theorien sind bedeutsam, indem sie das Erkenntnisinteresse schärfen und mit den Ergebnissen in Verbindung gebracht werden. Sie sollen aber nicht zu Hypothesen führen, die es lediglich zu überprüfen gilt und bleiben bei der Interpretation des empirischen Materials zunächst ausgeklammert. Das Ziel rekonstruktiver Forschung ist es nämlich nicht, „das vorgefundene Material lediglich subsumtionslogisch bereits vorhandenen Kategorien zuzuordnen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, 44), sondern offen zu sein und neue Erkenntnisse zu generieren. 29 Die Begriffe ‚Lebensgeschichte‘ und ‚Biographie‘ werden in dieser Arbeit synonym verwendet.

Erhebungsmethode: Biographisch-narratives Interview

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besonders familialer Vergangenheiten aufzuzeigen“ (Rosenthal 2005, 61). Insofern ermöglicht sie es, „auf empirischer Ebene die Schnittstelle von gesellschaftlich-strukturellen Zusammenhängen und subjektiven Verarbeitungen zu untersuchen“ (von Felden 2002, 271). Dieser Blickwinkel wurde gewählt, weil es sich sowohl bei Adoleszenz als auch bei Migration, wie im dritten Kapitel herausgearbeitet, „nicht um punktuelle, in sich klar strukturierte Ereignisse mit jeweils spezifischen Folgen“ (Breckner 2009, 121) handelt, sondern um zeitlich ausgedehnte Prozesse, die lebensgeschichtlich eingebettet sind und in ihrer Komplexität und in ihren Auswirkungen nur verständlich werden, wenn sie in ihrer Prozesshaftigkeit betrachtet werden. Ohne Betrachtung der biographischen Dimension wäre die unterschiedliche Bedeutung und Ausgestaltung von Migrationserfahrungen und adoleszenten Transformationen trotz ähnlicher Ausgangskonstellation, nicht zu verstehen (vgl. ebd.). Durch die biographieanalytische Herangehensweise wird zudem der Gefahr entgangen, die Lebensgeschichten von MigrantInnen vorab auf ihre Migrationserfahrungen zu reduzieren. 5.2 Erhebungsmethode: Biographisch-narratives Interview Als Erhebungsmethode wurde das ‚biographisch-narrative Interview‘ (nach Schütze 1983) gewählt, da es die bisher offenste Form zur Erzeugung biographischer Repräsentationen darstellt und damit den Implikationen des Interpretativen Paradigmas in besonderem Maße gerecht wird. Es handelt sich dabei um eine Erhebungsmethode der qualitativen Sozialforschung, deren Ziel es ist, in einer längeren Erzählung von eigen Erlebtem, „subjektive Bedeutungsstrukturen“ (vgl. Hoffmann-Riem 1994, 59) erschließbar zu machen, die einer systematischen Anfrage gegenüber vermutlich verdeckt blieben. Entwickelt wurde das narrative Interview in den 1970er-Jahren von Fritz Schütze, der der ‚Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen‘ angehörte und entscheidend von den gemeinsamen Methodendiskussionen um den symbolischen Interaktionismus, die Phänomenologie oder die Ethnomethodologie angeregt wurde. Erstmalig eingesetzt wurde diese Interviewform in einer Interaktionsfeldstudie zur Erforschung kommunaler Machtstrukturen (vgl. Schütze 1976). Rasch hat das narrative Interview sich als beliebtes und bewährtes Erhebungsinstrument in der Biographieforschung etabliert, da es ihm wie keinem zweiten gelingt, „Aspekte sozialer Wirklichkeit in lebensgeschichtlicher Perspektive“ (Apitzsch et al. 2006, 48) zu erfassen. Im Vergleich zu anderen Verfahren entspricht es in herausragender Weise den in der qualitativen Forschung relevanten ‚Prinzipien der Offenheit und Kommunikation‘. Dem ersten, indem die Strukturierung des Gegenstandes

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Forschungsprozess

durch das Forschungssubjekt geschieht, auf Hypothesenbildung im Vorhinein verzichtet wird und die Zirkularität sowie Flexibilität des Forschungsprozesses gewährleistet sind – und dem zweiten Prinzip, da die menschliche Fähigkeit des Erzählens in einem Kommunikationsprozess genutzt wird, welcher der alltäglichen Kommunikation möglichst nahekommt und die interviewte Person ihre Sicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit in eigener Regie darstellen kann (vgl. Hoffmann-Riem 1994, 29ff). Das narrative Interview eignet sich für Fragestellungen, die auf die Rekonstruktion von persönlichen Erfahrungen und sozialen Prozessen zielen. Untersuchungsgegenstand muss ein Prozessgeschehen sein, an dem der Erzähler/die Erzählerin handelnd oder erleidend beteiligt war (vgl. Küsters 2006, 40). Dies trifft auf die untersuchten Lebensgeschichten von Spätaussiedlern zu. Ein besonderer Vorteil des narrativen Interviews ist es, dass es nicht (etwa durch vorformulierte Fragen) an Normalitätsvorstellungen orientiert ist. Stattdessen wird der „Individualität biographischer Konstruktionen durch die Interviewten weitgehend Rechnung getragen [und es können] auch – aus der Sicht der Forschenden – ‚unordentliche‘, ,ungewöhnliche‘ oder kulturell ,fremde‘ Formen der Selbstdarstellung zugelassen bzw. ,entdeckt‘ werden“ (Dausien/Mecheril 2006, 158). Dies macht das narrative Interview zu einer relevanten und viel genutzten Erhebungsmethode in der Migrationsforschung. Ablauf Vor Beginn des Interviews ist es wichtig, durch etwas ‚Smalltalk‘ eine angenehme Erzählsituation herzustellen, die es der interviewten Person ermöglicht, sich zu öffnen, in einen Erzählfluss zu kommen und die auch dazu ermutigt, schwierige Erlebnisse zu thematisieren (vgl. Hermanns 1984, 424). Zudem soll die Interviewmethode erläutert werden. Dabei ist es wichtig, deutlich zu machen, dass es sich nicht um ein ‚typisches Frage-Antwort-Schema‘ handelt, wie es den meisten z.B. aus Zeitungen geläufig ist, sondern ausführliche Erzählungen erwünscht sind und dabei alles von Interesse ist, was der Person selbst als relevant erscheint. ‚Vorabinformationen‘ über das Forschungsthema sollen hingegen nur wenige gegeben werden, um zu verhindern, dass bestimmte Aussagen und Themen nur deshalb erfolgen, um den (vermeintlichen) Wünschen des Interviewers/der Interviewerin gerecht zu werden. Zudem soll ein vorheriges ‚Zurechtlegen‘ einer Erzählung verhindert werden. Das narrative Interview gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil beginnt mit einer erzählgenerierenden Frage des Interviewers/der Interviewerin, die eine „autobiographische Anfangserzählung“ (Schütze 1983, 285) der interviewten Person

Erhebungsmethode: Biographisch-narratives Interview

143

einleiten soll. Diese Erzählaufforderung kann zeitlich und thematisch ganz offen formuliert werden und um die gesamte Lebensgeschichte bitten oder z.B. eine bestimmte Phase der Biographie in den Mittelpunkt rücken. In den Interviews für diese Arbeit wurde nach der gesamten Biographie gefragt, da Adoleszenz und Migration als Prozesse betrachtet werden, die lebensgeschichtlich eingebettet sind und mehr beinhalten als nur eine bestimmte Phase (etwa den konkreten Akt der Aussiedlung). Erst mit dem Blick auf das Ganze wird deutlich, welche Bedeutung z.B. das Gefühl von Fremdheit bereits in der Kindheit hatte, welche Wandlungen es gab, etc. Als Erzählaufforderung wurde gewählt: „Ich interessiere mich für die Lebenswege von Spätaussiedlern und ich würde dich bitten, dass du mir mal deine Geschichte erzählst, alles, was du wichtig findest.“30

Um gleiche Voraussetzungen zu schaffen, sollte die Frage möglichst allen InterviewpartnerInnen gegenüber in derselben Weise formuliert werden. Bei der folgenden Eingangserzählung soll die Erzählperson bis zu einer selbst gesetzten „Koda“, etwa durch die Worte: „Das war’s“, nicht unterbrochen werden (vgl. ebd.). Nachdem der Interviewpartner/die Interviewpartnerin diese Erzählphase beendet hat, folgt der zweite Teil, die Nachfragephase. In dieser wird das bisher Dargestellte durch erzählimmanente Nachfragen der Chronologie der Erzählung folgend vertieft. Dies gibt die Möglichkeit, Stellen mangelnder Plausibilität oder der Raffung, die das Verstehen erschweren und eventuell aus dem Versuch entstanden sind, etwas auszuklammern, noch einmal erzählen und verdeutlichen zu lassen (vgl. ebd.). In dieser Phase sollen keine Meinungs- oder Begründungsfragen gestellt werden, vielmehr sollen die Fragen in diesem Teil so offen formuliert werden, dass weiterhin ein möglichst hoher und uneingeschränkter Erzählfluss ermöglicht wird. Rosenthal et al. (2006) unterscheiden fünf Grundtypen narrativen Nachfragens, die an verschiedene Erzählstrukturen anknüpfen. So könne u.a. eine Lebensphase, eine Erzählung zu einem vorgebrachten Argument oder eine zuvor erwähnte Situation angesteuert werden, indem man diese paraphrasiert und dann um weitere Erzählungen bittet (vgl., 23). Im dritten Teil des Interviews, dem exmanenten Frageteil, wird das ‚Prinzip der Erzählung‘ aufgehoben. Der Interviewer/die Interviewerin kann nun auch Themen ansprechen, die von dem Biographen/der Biographin bisher nicht erwähnt wurden, die aber aus der Forschungsperspektive als relevant erscheinen. In der vorliegenden Arbeit war das z.B. die Frage, ob der Interviewte in die Entscheidung um die Aussiedlung miteinbezogen wurde oder welche Ziele und Hoffnungen die 30 Eine ausführliche Analyse der Eingangsfrage wird unter 5.1.3 dargestellt. Sollte es bei einzelnen Fällen zu Abweichungen in der Formulierung gekommen sein, wurden diese Tatsache und die möglichen Folgen in die jeweilige Analyse einbezogen.

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Forschungsprozess

Eltern mit dieser verbunden haben. Dieser Frageteil kann auch dazu genutzt werden, den Interviewpartner/die Interviewpartnerin zu „abstrahierenden Beschreibung von Zuständen, immer wiederkehrenden Abläufen und systematischen Zusammenhängen“ (Schütze 1983, 285) aufzufordern. Dadurch wird die Erklärungsund Abstraktionsfähigkeit des Biographen/der Biographin als ExpertIn und TheoretikerIn seiner/ihrer selbst genutzt (vgl. ebd.). Über das gesamte Interview hinweg ist es die Aufgabe des Interviewers/der Interviewerin, aufmerksam und interessiert zuzuhören sowie die interviewte Person durch verbale Äußerungen (wie „mh“) oder nonverbale Gesten (wie Kopfnicken) bei der Verbalisierung zu unterstützen (vgl. Rosenthal 1995, 197). Küsters (2009) fasst dieses Vorgehen in der Formulierung „erzählanregend schweigen“ (58) anschaulich zusammen. Die Erzählung des eigenen Lebens mit z.T. belastenden Erlebnissen kann für den Biographen/die Biographin sehr aufwühlend sein. Enden sollte das Interview daher mit einer ‚positiven‘ Frage, die dem ‚Herauserzählen‘ dient und dabei hilft, wieder in einen unbelasteten Alltag zu gelangen. Ich habe als letztes immer nach den Wünschen für die Zukunft gefragt. In dem nicht eingetretenen Fall, dass einer der Interviewpartner darauf von Ängsten und Sorgen berichtet hätte, wäre die Frage nach dem bisher schönsten Erlebnis gefolgt. Nach einem Dank an den Interviewpartner stoppte ich darauf die digitale Aufnahme und habe im Anschluss noch relevante Sozialdaten notiert, falls diese nicht bereits im Interview genannt wurden (z.B. Geburtsdaten und Bildungsverläufe des Interviewten, seiner Eltern und Geschwister). Im Anschluss unterhielten wir uns noch etwas in lockerer Atmosphäre über das Interview und andere Themen, um von der Interviewsituation wieder in den Alltag überzuführen. Transkription Die Interviews wurden mit einem digitalen Diktiergerät aufgenommen und anschließend alle zeitnah wortwörtlich von mir transkribiert.31 Die Transkription der gesamten Interviews ist eine zeitaufwendige Angelegenheit, dennoch habe ich mich bewusst dafür entschieden, da bei einer Vorauswahl von Interviews oder gar Segmenten Fälle oder Themen verloren gehen können, die sich bei einer genaueren Analyse als relevant herausstellen (vgl. Rosenthal 1987, 149). Die Transkription kann als erster Interpretationsschritt verstanden werden. Daher ist es bedeutsam, Form und Inhalt eines Gesprächs möglichst genau in einen Text ‚zu übersetzen‘. Dies habe ich durch eine exakte Abschrift zu erfüllen versucht; das heißt, ich bin der „hörbaren Gestalt ohne Rücksicht auf die Regeln der 31 Ein Interview wurde in Teilen von einer studentischen Hilfskraft transkribiert und anschließend noch einmal von mir überarbeitet.

Die Interviewpartner

145

Schriftsprache“ (ebd., 148) gefolgt. So wurden z.B. grammatikalische Fehler nicht geglättet. Zudem wurden Pausen, besondere Betonungen sowie lautes, gedehntes oder schnelles Sprechen gekennzeichnet, da davon auszugehen ist, dass die Art des Sprechens ebenfalls deutungswert ist und als Interpretationshilfe genutzt werden kann und sollte. Aus eben diesem Grund sind auch nonverbale Äußerungen (wie Lachen) sowohl der Interviewten als auch der Interviewerin transkribiert worden: Transkriptionssystem nein betont/ laut nein gedehnt nein schnell *nein* leise neiAbbruch eines Wortes (.) kurze Pause (3) Länge längerer Pausen in Sekunden (?) unverständlich /lacht auf/ Gestik, Mimik, nonverbale Äußerungen des Sprechenden Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wurden Groß- und Kleinschreibung der Orthographie gemäß genutzt sowie Satzzeichen verwendet, deren Setzung von der hörbaren Gestalt geleitet wurde (z.B. Stimme geht nach unten = Punkt). Gemäß der Zusicherung der Anonymität wurden für die Darstellung der Fälle alle Angaben, die zur Identifikation der Person führen könnten, wie Namen von Personen oder Orten, maskiert. 5.3 Die Interviewpartner Die Darlegung des theoretischen Rahmens hat die Bedeutsamkeit der Betrachtung der spezifischen Transformationsanforderung von Adoleszenz und Migration aufgezeigt. Dabei ist deutlich geworden, dass SpätaussiedlerInnen – auch im Vergleich zu anderen Migrantengruppen – mit einer besonders komplexen Konstellation von Selbst- und Fremdzuschreibungen konfrontiert sind. Der Blick auf den Forschungsstand hat erhebliche Lücken aufgewiesen. Eine qualitative Betrachtung (bildungserfolgreicher) männlicher Spätaussiedler stellt ebenso ein Desiderat dar, wie die Verknüpfung der Themen Adoleszenz und Migration für diese Gruppe.

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Forschungsprozess

Ausgehend von dem zuvor Beschriebenen haben sich folgende Kriterien für die Auswahl der Interviewpartner als bedeutsam und vielversprechend herausgestellt: Es sollen junge Männer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion betrachtet werden, die 







erstens gemeinsam mit ihrer Familie ab dem Ende der 1990er-Jahre als SpätaussiedlerInnen nach Deutschland eingereist sind, wodurch sie zur Gruppe der als ‚schwer zu integrieren‘ angesehenen jungen Generation gehören (vgl. Thränhardt 1999, 232f). als zweites Kriterium soll hinzutreten, dass sie in der Phase der Adoleszenz nach Deutschland migriert sind und sich aktuell noch in dieser befinden, weil in dieser die migrationsspezifischen Anforderungen mit besonderen Entwicklungsschritten einhergehen. Da in dieser Arbeit vor allem die adoleszenten Ablösungen und potentiellen Transformationen der Adoleszenz im Fokus stehen, wurden Interviewpartner gesucht, die Mitte/Ende 20 Jahre alt sind. drittens aus bi-nationalen Familien stammen, also ein ‚deutsches‘ und ein ‚russisches‘ Elternteil haben. Zum einen betrifft dies statistisch gesehen die Mehrheit der seit den 1990er-Jahren eingewanderten Kinder und Jugendlichen und zum anderen erfährt die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit dadurch eine stärkere Vielschichtigkeit. letztens bildungserfolgreich sind32, was angesichts der aufgezeigten Schwierigkeiten eine besondere Leistung darstellt. Bildungserfolgreich ist in dieser Arbeit mit dem aktuellen Besuch einer Hochschule gefasst, da dieser das Streben nach dem höchsten formalen Bildungsabschluss in Deutschland bedeutet. Auch dies erfordert ein höheres Alter der Interviewpartner, weil die meisten SpätaussiedlerInnen, die als Jugendliche migriert sind, erst mit zeitlicher Verzögerung ein Studium beginnen können.

32 Es handelt sich dabei um eine formale Klassifizierung, die sich zwangsläufig „an institutionellen Bewertungsmaßstäben orientiert“ (Schwendowius 2015, 93). Allerdings möchte ich mich der eben zitierten Autorin anschließen, die darauf hinweist, dass die Zuschreibung ‚bildungserfolgreich‘ zwar eine eindeutige Aufwärtsbewegung suggeriert, sich der Prozess zu diesem „formalen (Zwischen-)Ergebnis“ (ebd.) jedoch keineswegs immer so gestalten muss, sondern auch phasenweise von Scheitern oder Nichtgelingen geprägt sein kann, was hinter dem Begriff verborgen bleibt. „Das Potential qualitativrekonstruktiver Forschungszugänge in der Bildungsforschung kann jedoch gerade darin gesehen werden, Bildungsprozesse in ihrer jeweiligen Komplexität und Widersprüchlichkeit zu rekonstruieren“ (ebd.). Vorausgreifend kann gesagt werden, dass dies auch in der vorliegenden Arbeit geschieht.

Die Interviewpartner

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Zugang und Sample Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte mithilfe der aus der Grounded Theory stammenden Methode des Theoretical Samplings (Glaser/Strauss 1967). „Zentrales Merkmal ist der Verzicht auf einen vorab bestimmten Auswahlplan zugunsten einer schrittweisen Entwicklung des Samples“ (Strübing 2003, 154). Ziel qualitativer Forschung ist es nicht, eine verteilungsmäßige Repräsentativität zu schaffen, sondern eine ‚theoretische‘, d.h., die Stichprobe soll „ein Abbild der theoretisch relevanten Kategorien darstellen“ (Hermanns 1992, 116). Um Zugang zu studierenden Interviewpartnern zu bekommen, habe ich ein Inserat auf einer Internetseite für Studierende aufgegeben und zudem Gesuche an deutschen Universitäten aufgehängt. Über diesen Weg habe ich acht Interviewpartner gefunden. Zusätzlich bin ich mit einer Institution in Kontakt getreten, die studierende SpätaussiedlerInnen fördert. Die Mitarbeiterinnen konnten mir drei Kontakte vermitteln. Insgesamt habe ich im Rahmen der Dissertation mit elf jungen Männern Interviews geführt.33 Gemäß dem Prinzip der Offenheit im Forschungsprozess und bei der Erhebung (Aufhebung der Phasentrennung von Datenerhebung und -auswertung), habe ich die Interviews sukzessive zwischen 2008 und 2012 erhoben. Das heißt, ich habe zunächst recht offen nach den oben genannten Kriterien mit jedem, der sich gemeldet hat, ein Interview geführt. Nach ersten Auswertungen erfolgte die Auswahl „unter dem Einfluss der aus dem Material heraus generierten empirischen Einsichten und Konzepte“ (Tepecik 2011, 73). Als ein relevanter Faktor hat sich z.B. das Alter bei der Migration gezeigt, sodass ich gezielter nach den nächsten Gesprächspartnern gesucht habe. Die Interviews hatten eine Länge von 1,5 bis 3,5 Stunden und wurden je an einem Ort geführt, den der Interviewpartner ausgewählt hat (in einem ein Raum an der Uni, in einem Café oder in der Wohnung des Befragten). Von den elf Interviews musste ich zwei ausschließen. Bei einem Interviewpartner hat sich in der Erzählung gezeigt, dass er zwar Aussiedler ist, aber von Polen nach Deutschland migriert ist. Da sich die Geschichte der Deutschstämmigen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen sowie auch deren Eingliederung in Deutschland stark unterscheiden, konnte dieses Interview nicht genutzt werden. Ebenso ein anderes, bei dem sich im Gespräch herausstellte, dass die 33 Darüber hinaus habe ich vier Interviews mit jungen Männern aus der ehemaligen Sowjetunion geführt, die in Deutschland formal wenig erfolgreich sind. Auch diese wurden transkribiert und jeweils in einer Interpretationsgruppe ‚aninterpretiert‘. Aufgrund sehr großer struktureller Unterschiede haben sich die Interviews jedoch nicht für einen Vergleich mit den in der Arbeit verwendeten Interviews geeignet. Sie konnten aber dazu beitragen, den Blick für das Feld zu erweitern. Zusätzlich habe ich ein Experteninterview mit einem Mitarbeiter einer Einrichtung geführt, die der Integration jugendlicher (Spät-)AussiedlerInnen dient. Dies hat mein Verständnis für die spezifischen Bedingungen der Migration als SpätaussiedlerIn erweitert.

148

Forschungsprozess

Migration im Säuglingsalter stattgefunden hat, wodurch Adoleszenz und Migration nicht unmittelbar zusammentrafen und die Vergleichbarkeit mit den anderen Interviewpartnern nicht gegeben ist. Die verbliebenen neun Interviews wurden alle in die Untersuchung einbezogen. Deskription der Interviewpartner Die Interviewpartner (siehe Tabelle 1) sind zwischen 1978 und 1984 geboren und waren zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 24 und 31 Jahren alt. Alle haben bis zum Zeitpunkt des Interviews mindestens ein paar Jahre in Deutschland gelebt, sodass sie bereits verschiedene Erfahrungen gesammelt und Sprachkompetenzen erlangt haben. Bei der Einreise aus Russland, Kasachstan oder der Ukraine waren sie zwischen 13 und 24 Jahren alt. Gemäß dem breiten Altersverständis von Adoleszenz, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, werden alle Interviewpartner als adoleszent betrachtet. Die recht große Spanne erlaubt es zudem möglicherweise, Unterschiede zwischen verschiedenen Altersphasen bei der Einreise zu entdecken. So hat Sekler (2008) darauf hingewiesen, dass das Erreichen des 15. Lebensjahres zum Zeitpunkt der Migration die „kritische Altersstufe“ (234) für eine gelingende Integration darstelle. Da der Schulabschluss, der in Russland (und den Nachbarstaaten) zu einem Studium berechtigt, bereits mit etwa 17 Jahren erworben wird, haben vier der jungen Männer bereits im Herkunftsland ein Studium begonnen. Dies kann in Deutschland allerdings nicht unmittelbar fortgesetzt werden. Erst der Mittelschulabschluss und vier erfolgreich absolvierte Semester werden als gleichwertig zum Abitur betrachtet und erlauben es, zu studieren. Die Studienfächer der Interviewpartner in Deutschland sind vielfältig und stellten kein Auswahlkriterium dar. Alle Interviewpartner sind mit ihrer vollständigen Herkunftsfamilie ausgereist, sprich mit Vater, Mutter und – wenn vorhanden – Geschwistern. In einigen Fällen sind zudem die Großeltern bzw. ein Großelternteil migriert. Etwa die Hälfte der jungen Männer lebt zum Interviewzeitpunkt in einer Beziehung oder Ehe. Dabei handelt es sich in allen Fällen um Partnerinnen, die ebenfalls russischsprachig und selbst als Spätaussiedlerinnen migriert sind.

Die Interviewpartner

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Tabelle 1: Einbezogene Interviewpartner in der Reihenfolge der Erhebung Name

Aktuelles Alter

Jahr der Migration

Alter bei Migration

Herkunftsland

Schon Studium?

Sergej

25 Jahre

2001

18 Jahre

Kasachstan

Ja

Pjotr

29 Jahre

2002

24 Jahre

Russland

Ja

Maxim

28 Jahre

2002

23 Jahre

Ukraine

Ja

Anton

25 Jahre

1997

14 Jahre

Russland

Nein

Fjodor

24 Jahre

2000

17 Jahre

Kasachstan

Nein

Jurij

25 Jahre

2002

19 Jahre

Kasachstan

Ja

Jevgenij

24 Jahre

1997

14 Jahre

Russland

Nein

Vadim

24 Jahre

2001

17 Jahre

Kasachstan

Nein

Semjon

31 Jahre

1993

13 Jahre

Russland

Nein

Quelle: eigene Darstellung

150

Forschungsprozess

5.4 Wechselseitige Konstitution von Erleben, Erinnern und Erzählen Was wird in den narrativen Passagen eines biographischen Interviews dargeboten, wenn von Erlebnissen erzählt wird, die z.T. schon Jahre zurückliegen? Können Erlebnisse genauso erzählt werden, wie sie sich ereignet haben? Kann es ein ‚objektives‘ Geschehen überhaupt geben? Und welche Rolle spielt die Erinnerung als Bindeglied zwischen Erleben und Erzählen? Ziel des narrativen Interviews ist es vor allem, ausgeprägte Erzählungen hervorzubringen. Schütze (1984) zufolge komme es in diesen – wenn sich die interviewte Person auf den Erinnerungsfluss einlässt und eine geschichtenreiche Stegreiferzählung erfolgt – zu einer Homologie zwischen narrativer Erfahrungsrekapitulation und der Struktur des erinnerten lebensgeschichtlichen Erfahrungsstroms (vgl. 78). Schütze geht also davon aus, dass „solche Erzählungen ein mehr oder minder getreues Abbild der tatsächlichen Erfahrungen darstellen“ (Kokemohr/Koller 1996, 92). Obgleich das narrative Interview als Erhebungsmethode in unterschiedlichen Disziplinen sehr beliebt ist und häufig eingesetzt wird, erfährt die für die Auswertung nach Schütze zentrale ‚Homologiethese‘ überwiegend Ablehnung (vgl. z.B. Bude 1985). Im Fokus der Kritik steht der Gedanke, dass „Erzählungen kein unmittelbares Abbild der vergangenen Erfahrungen liefern“ (Kokemohr/Koller 1996, 93), sondern eine interaktive (Re-)Konstruktion darstellen, in der die „Erfahrungen immer schon in einer spezifisch geordneten, strukturierten oder figurierten Art und Weise“ (ebd.) präsentiert werden, etwa durch die temporale Abfolge. Welzer (2000) geht so weit, dass er Erzählungen als ‚Artefakte‘ versteht, die nichts über die Erfahrungsrealität aussagten. Stattdessen würden Biographien ausschließlich etwas über die gegenwärtigen Strategien des Erzählers verraten, „geprägt insbesondere durch die Interaktionssituation während der Erzählung“ (Apitzsch 2006, 38) – also eine aktuelle Konstruktionsleistung darstellen. Rosenthal (1995) lehnt eine solch konstruktivistische Perspektive auf Biographien ab und spricht stattdessen ausgehend von gestalttheoretischen und phänomenologischen Überlegungen von einer jeweils wechselseitigen Konstitution von Ereignissen und Erlebnissen, von Erlebnissen und Erinnerungen sowie von Erinnerungen und Erzählungen; eine Homologie zwischen dem Erleben und der Erzählung weist auch sie zurück (vgl. 21): „Die erzählte Lebensgeschichte konstituiert sich wechselseitig aus dem sich dem Bewußtsein in der Erlebnissituation Darbietenden (Wahrnehmungsnoema) und dem Akt der Wahrnehmung (Noesis), aus den aus dem Gedächtnis vorstellig werdenden und gestalthaft sedimentierten Erlebnissen (Erinnerungsnoemata) und dem Akt der Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens“ (ebd., 20).

Wechselseitige Konstitution von Erleben, Erinnern und Erzählen

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Nur nach den vermeintlich tatsächlichen Ereignissen zu forschen, ohne den konstitutiven Anteil der in der Interviewsituation erzählten Lebensgeschichte mit zu bedenken, würde dem Fall ebenso wenig gerecht, wie die ausschließliche Betrachtung der Deutungsmuster in der Gegenwart der Erzählung, „ohne danach zu fragen, welche Erfahrungen diese Deutungsmuster konstituiert haben“ (Juhasz/Mey 2003, 113). Die wechselseitige Konstitution von Erleben, Erinnern und Erzählen gestaltet sich wie folgt: „Ereignisse sind nicht wahrnehmbar, wie sie sind, sondern nur im Wie ihrer Darbietung“ (Rosenthal 1995, 21), was als Erleben bezeichnet wird. Damit wird „die Suche nach Ereignissen unabhängig davon, wie sie von den darin verstrickten Handelnden erlebt werden […] sinnlos“ (Breckner 2009, 135). Mit Bezug auf den Phänomenologen Husserl macht Rosenthal deutlich, dass beim Erinnern von Erlebtem nicht etwas Konstantes aus dem Gedächtnis abgerufen wird, sondern es sich dabei um einen reproduktiven Vorgang handelt, „bei dem das Vergangene entsprechend der Gegenwart der Erinnerungssituation und der antizipierten Zukunft einer ständigen Modifikation unterliegt“ (Rosenthal 1995, 70). Anschaulich ist das Bild, dass das Erinnern nicht mit einem Tonbandgerät vergleichbar sei, das einmal Aufgenommenes zu jedem beliebigen Zeitpunkt auf dieselbe Art und Weise wieder abspielen kann. Stattdessen erfahre das auf dem Band Vorhandene durch neue Erlebnisse leichte Veränderungen (vgl. ebd., 70f). Im Prozess des biographischen Erzählens werden dann die Erinnerungen an das Erleben wachgerufen. Dabei können sich die Erlebnisse in der Gegenwart der Erzählung jedoch nicht darbieten, „wie sie erlebt wurden, sondern nur im Wie ihrer Darbietung“ (ebd., 21). „Die zum Zeitpunkt des Interviews eingenommene Perspektive auf den Verlauf des Lebens (also die Gegenwartsperspektive) hat sich jedoch auf der Basis des Erlebten sowie der daran anschließenden Erinnerungs- und Interpretationsprozesse entwickelt“ (Köttig 2004, 75).

Es gilt zu bedenken, dass der Anteil von Erinnerungen beim Prozess des Erzählens von selbst erlebten Erlebnissen sehr variieren kann. „Nicht jede Erzählung eines selbst erlebten Erlebnisses beruht auf einem Erinnerungsvorgang während des Erzählens“ (Rosenthal 2010, 199). So können vielfach dargebotene und damit längst zur Anekdote gewordene Geschichten erzählt werden, ohne sich dabei auf einen Erinnerungsprozess einlassen zu müssen oder in der Gegenwart des Erzählens auch Fremderzählungen, die nicht auf dem subjektiven Erinnern fußen, hinzugefügt werden (vgl. ebd., 200). Zugleich erfährt auch die Erinnerung durch den Akt des Erzählens eine Konstituierung, denn durch das ‚in-Worte-Fassen‘ von Erinnerungen, erhalten diese eine neue Färbung (vgl. Juhasz/Mey 2003, 113). Des Weiteren unterscheidet sich die Erinnerung von der Erzählung dadurch, dass erste

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Forschungsprozess

„vage, widersprüchlich oder undurchsichtig sein kann“ (ebd.), zweite aber Anforderungen genügen muss, „die in einer Interaktion normalerweise an eine Erzählung gestellt werden“ (ebd.). Dies kann dazu führen, dass nicht all das erzählt wird, was in der Situation des Erzählens erinnert wird. Es zeigt sich, dass die ‚Übersetzung‘ einer Erinnerung in sprachliche Form zu beträchtlichen Differenzen führt (vgl. Rosenthal 2010, 201) und daher sowohl eine Homologie von Erleben und Erzählen als auch von Erinnern und Erzählen abzulehnen ist. Das ausgeführte Verhältnis von Erleben, Erinnern und Erzählen stellt den methodologischen Hintergrund der Unterscheidung von erzählter und erlebter Lebensgeschichte dar, die zentral für die ‚biographische Fallrekonstruktion‘ ist. Der Begriff der ‚Übersetzung‘ und deren angenommener Differenz hat bei mir die Frage aufgeworfen, was dies für die ‚Übersetzung’ von Erinnerungen aus der Kindheit bedeutet. In der Kindheit ist der individuelle Sprachrahmen ein anderer; bestimmte Worte und grammatikalische Konstruktionen fehlen noch und die Welt wird kognitiv anders und weniger komplex erfasst. Unabhängig von Veränderungen im Lebensverlauf, würde man dieselbe Situation aufgrund von sprachlicher und geistiger Weiterentwicklung Jahre später anders in der Erinnerung abspeichern (vgl. dazu auch Humboldts (1988) Gedanke von Sprache als dem „bildende[n] Organ des Gedankens“ (426)). Eine Studie von Simcock und Hayne (2012) kommt zu dem Ergebnis, dass sprachliche Beschreibungen sozusagen in der Zeit eingefroren werden, was sie zu der Annahme bringt, dass die Erinnerungen nicht in Wörter übersetzt werden können, die zum Zeitpunkt als diese entstanden sind, noch nicht vorhanden waren. Was bedeutet dies für narrative Interviews? Wie kann als Kind Erlebtes erinnert und erzählt werden? Tritt auch bei Erwachsenen bei der Erzählung über Kindheitserlebnisse ein eher kindlicher Wortschatz zutage? Oder werden die Erlebnisse in der Erzählung in eine ‚erwachsene Sprache‘ übersetzt? Falls ja, was bedeutet das dann für die Wiedergabe (vor allem von Emotionen)? Was geht dadurch verloren, was wird deutlich verändert? Eine ähnliche Konstellation findet sich in Hinblick auf fremdsprachliche ‚Übersetzungen‘. Sapir und Whorf, Anhänger des Prinzips der ‚Sprachlichen Relativität‘, haben die These aufgestellt, dass gewisse Gedanken nur in bestimmten Sprachen formulier- und verstehbar seien, da sich die gedanklichen Kategorien unterscheiden würden, über die Sprecher unterschiedlicher Sprachen jeweils verfügen (vgl. Whorf 2008 [1963]).34 Diese Annahme wurde kontrovers diskutiert und wird von der heutigen Sprachwissenschaft in ihrer Entschiedenheit abgelehnt.

34 So sagt Pjotr z.B. bei einer Erzählung über die Schulzeit im Herkunftsland: „für mich is es sehr schwer zu erzählen, weil ich habe niemals so erzählt auf Deutsch und mit Wörter, ich habe Probleme mit Wörter. (.)“ (Z.173ff).

Auswertungsmethode: Biographische Fallrekonstruktion

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Dennoch kommt es in narrativen Interviews mit migrierten Personen zu ‚Übersetzungen‘ von einer in eine andere Sprache und zwar sowohl, wenn das Interview in der Muttersprache geführt wird als auch, wenn die Erhebung in der Sprache des Einwanderungslandes stattfindet. So müssen die Erfahrungen, „die in die Narrativität der Muttersprache eingebettet sind“ (Breckner 2009, 151) ins Deutsche ‚übertragen‘ werden, wenn das Interview in dieser Sprache stattfindet. Umgekehrt müssen „diejenigen Erfahrungen, die in die Welt und Sprache des Aufenthaltslandes eingebettet sind, in die Muttersprache übertragen werden“ (ebd.), auch wenn diese je nach Aufenthaltsdauer eventuell weniger sind. Ich halte dies für ein sehr spannendes Feld, das viele Forschungen im interkulturellen Bereich betrifft und bislang bei weitem nicht umfassend theoretisch wie praktisch untersucht worden ist. Forschungsbedarf sehe ich ebenso für die Frage nach der ‚Übersetzung‘ von Kindheitserlebnissen. Beides kann jedoch nicht im Rahmen dieser Arbeit und nicht von einer Vertreterin der Erziehungswissenschaft geleistet werden. Die vorausgegangenen Überlegungen haben mich allerdings in Hinblick auf die Auswertung solcher Stellen in den Erzählungen sensibilisiert. 5.5 Auswertungsmethode: Biographische Fallrekonstruktion Die Auswertung der Interviews erfolgte mithilfe der ‚biographischen Fallrekonstruktion‘ nach Gabriele Rosenthal (1995), die speziell für die Analyse biographisch-narrativer Interviews entwickelt wurde. Das Verfahren verbindet die Narrationsanalyse (Schütze 1983) mit der Objektiven Hermeneutik (Oevermann et al. 1979) und der Thematischen Feldanalyse (Fischer 1982 in Anlehnung an Gurwitsch 1974) und stellt zugleich eine Modifizierung und Erweiterung dieser Methoden dar. Zentraler Grundgedanke Rosenthals (1995) ist, dass die ‚erlebte‘ und ‚erzählte‘ Lebensgeschichte in einem sich wechselseitig konstituierenden Verhältnis stehen (vgl. 20 und 5.4).35 Um dieser Wechselseitigkeit gerecht zu werden, wird zunächst in unterschiedlichen Auswertungsschritten sowohl der Gestaltungsprozess der ‚erzählten‘ als auch der der ‚erlebten‘ Lebensgeschichte herausgearbeitet. Im Anschluss werden die jeweiligen Ergebnisse kontrastiert. Dies ermöglicht es, die Bedeutung der Selbstrepräsentation in der Gegenwart herauszuarbeiten und zudem, sich der Bedeutung anzunähern, die diese Erlebnisse im Verlauf des Lebens für die betreffende Person hatten (vgl. Rosenthal 2008, 174).

35 Es ist zu vermuten, dass die z.T. geäußerte Kritik an der Teilung in ‚erlebte‘ und ‚erzählte‘ Lebensgeschichte auf dem Missverständnis beruht, die ‚erlebte‘ Lebensgeschichte wolle die objektiv wahren Geschehnisse abbilden. Dass Rosenthal von einer solchen Gleichheit jedoch keinesfalls ausgeht, wurde unter 5.4 erläutert.

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Forschungsprozess

Dem Datenmaterial wird im Verlauf der Auswertung grundsätzlich nicht mit festgelegten Kategorien begegnet, da dies dem ‚Prinzip der Offenheit‘ widersprechen würde. Rosenthal verpflichtet sich zudem dem ‚Prinzip der Sequenzialität‘, womit in Bezug auf die Methode gemeint ist, dass sich sowohl die Handlungs- als auch die Darstellungsabläufe von ‚erlebter‘ und ‚erzählter‘ Lebensgeschichte prozesshaft entwickeln, also durch den jeweiligen sequenziellen Verlauf erzeugt werden (vgl. Rosenthal 1995, 213). Für die rekonstruktive Auswertung folgt daraus, dass keine im Voraus definierten Kategorien an den Text herangetragen und Textteile unter diesen subsumiert werden, sondern „die Bedeutung einzelner Passagen aus dem Gesamtzusammenhang des Interviews erschlossen wird“ (Rosenthal 2008, 173). Dies geschieht mit Hilfe des abduktiven Schlussfolgerungsverfahrens nach Peirce (1980). Bei diesem werden zunächst von einem empirischen Phänomen ausgehend Hypothesen aufgestellt, wobei es von Bedeutung ist, dass alle zu dem Zeitpunkt denkbaren Lesarten Erwähnungen finden. Ausgehend von diesen werden Folgehypothesen zur kontextuell und situativ möglichen Weiterführung der Äußerung oder Handlung deduziert, die darauf im Sinne des induktiven Schließens am konkreten Material geprüft werden. Im Verlauf dieser Analyse lassen sich so manche Hypothesen falsifizieren oder modifizieren, andere wiederum belegen. Am Ende bleibt eine Lesart übrig, die als wahrscheinlichste gelten kann (vgl. Rosenthal 1995, 212ff). Die biographische Fallrekonstruktion gliedert sich in folgende Schritte: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Analyse der biographischen Daten Text- und thematische Feldanalyse (erzähltes Leben) Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben) Feinanalyse einzelner Textstellen Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte Theoretische Verallgemeinerung (vgl. Rosenthal 2008, 174, auch Rosenthal 1995, 208ff)

Die Analyseschritte 1 bis 5 gelten der Rekonstruktion der Fallstruktur einzelner Fälle, unabhängig von der Forschungsfrage. Erst im Zuge der theoretischen Verallgemeinerung wird diese in die Betrachtung der Ergebnisse einbezogen. Im Folgenden werden die einzelnen Schritte kurz vorgestellt, um zu verdeutlichen, auf welchen methodischen Vorgaben das Vorgehen der Arbeit fußt.

Auswertungsmethode: Biographische Fallrekonstruktion

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1) Analyse der biographischen Daten Bei diesem Schritt werden zunächst – der Tradition der Objektiven Hermeneutik folgend – die biographischen Daten, die kaum an die Interpretation des Erzählers gebunden sind (wie Geburt, Ausbildung, Umzüge oder Heirat) in ihrer chronologischen Abfolge im Lebenslauf auf Grundlage des abduktiven Schließens analysiert (vgl. Rosenthal 1995, 216f). Dies geschieht zum einen über eine chronologisch angeordnete Tabelle, in die alle Daten jeweils mit Jahreszahl und Alter der interviewten Person aufgenommen werden und zum anderen über ein Genogramm der Familie, also der graphischen Darstellung von mindestens drei Generationen und den familiengeschichtlich relevantesten Daten (vgl. Rosenthal 2005, 198, zur Analyse auch Hildenbrand 2005, 32f). Die Daten werden aus dem transkribierten Interview entnommen; zusätzlich sollen auch andere zur Verfügung stehende Quellen genutzt werden (z.B. Archivmaterial oder Interviews mit anderen Familienmitgliedern). Die einzelnen biographischen Daten werden sowohl unabhängig vom Wissen über die folgenden als auch unter Ausblendung des Wissens über die Selbstpräsentation und Erzählung des/der Interviewten ausgelegt. In chronologischer Abfolge wird für jedes Ereignis der Kontext rekonstruiert, mit dem das Subjekt konfrontiert war. Es werden verschiedene Hypothesen in Bezug darauf gebildet, welche Bedeutung dieses Ereignis für die Person gehabt haben könnte. Entsprechend dem abduktiven Vorgehen werden dazu gedankenexperimentell „Handlungsprobleme, die daraus resultieren sowie die Alternativen, die das Subjekt in dieser Situation hat“ (Rosenthal 1987, 157) entworfen und Folgehypothesen erdacht. Rosenthal betont, dass nicht von einer frühen Determination des Weges ausgegangen werden soll, sondern stets auch potentielle Veränderungen zu entwerfen sind (vgl. Rosenthal 2008, 176). Weiter fordert Rosenthal, die jeweiligen Daten auch in Hinblick auf die Lebensphase zu betrachten, in der sie sich ereignet haben und dazu sozialisationstheoretisches bzw. entwicklungspsychologisches Wissen in die Betrachtung einfließen zu lassen (vgl. ebd., 175). Dies ist nicht in einem normativen Sinne gemeint, sondern soll den Blick dafür öffnen, welche unterschiedlichen Folgen Ereignisse in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen haben können. So macht es z.B. einen Unterschied, ob ein Mensch als Säugling, Jugendlicher oder im Rentenalter migriert. Karakayali (2010) merkt an, dass bei diesem Schritt „Normalitätserwartungen“ zum Tragen kämen, die stets „an historische, regionale und gesellschaftliche Kontexte gebunden“ seien und fragt, „unter welchen Bedingungen dieser Analyseschritt überhaupt sinnvoll bei der Analyse von Biographien von MigrantInnen vollzogen werden kann und wie der/die ForscherIn der Gefahr entgeht, den Analyserahmen durch die eigene beschränkte Perspektive zu verengen“ (87f). Da-

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rauf ist zu entgegnen, dass die beschränkte Perspektive des Forschers/der Forscherin in Hinblick auf zahlreiche Kontexte auch unabhängig von Migration auftritt (Bsp.: eine Frau analysiert ein Interview mit einem Mann, ein ‚Stadtkind‘ untersucht die Biographie einer Person, die auf dem Land aufgewachsen ist, …). Eine Möglichkeit, der eigenen Seinsgebundenheit (nach Mannheim, vgl. Jung 2007) entgegenzuwirken ist, das Material zusätzlich in Forschungsgruppen zu besprechen (siehe auch 5.6). Eine weitere Möglichkeit führt Rosenthal selbst an, in dem sie angibt, dass auch historische bzw. gesellschaftspolitische Daten, die für den betrachteten Fall bedeutsam sein könnten, in die Liste der Daten aufgenommen und die vorliegenden biographischen Daten in den jeweiligen historischen Kontext eingeordnet werden sollen (vgl. Rosenthal 2008, 175).36 In Bezug auf SpätaussiedlerInnen gibt es zahlreiche historische und politische Daten bzw. Ereignisse, die relevant für die Einzelfälle sein können, wie der Beginn und die Folgen der Perestroika, der Zusammenbruch der Sowjetunion oder die Gesetzesänderungen zur (Spät-)AussiedlerInnenaufnahme. Auch können Informationen zu genannten Orten gesammelt werden, was sind z.B. die Besonderheiten einer südsibirischen Industriestadt? Bukow und Spindler (2006) fordern einen „weltgesellschaftlichen ökonomischen und sozio-kulturellen Referenzrahmen“ (33), um Migrantenbiographien angemessen analysieren zu können. Dabei handelt es sich um ein umfangreiches Unterfangen, dennoch habe ich versucht, die nötigen Kontextdaten aus Publikationen unterschiedlicher Disziplinen (Geschichte, Politik, Soziologie, Geographie) so ausführlich wie möglich herauszuarbeiten und würde erneut entgegnen, dass die Problematik nicht allein auf die Erforschung von MigrantInnenbiographien beschränkt ist, sondern immer eine Rolle spielt, z.B. wenn ich als junge Forscherin die Biographie einer Frau untersuche, die in den 1940er-Jahren in Deutschland geboren worden ist. Zustimmen möchte ich Karakayali (2010), dass ein produktiver Umgang mit der Problematik an manchen Stellen so aussehen muss, „offene Fragen als solche bestehen zu lassen und nicht ‚über sie hinweg‘ zu interpretieren“ (88). Ein Gewinn biographischer Forschung und speziell der biographischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal ist es, die Interrelationen zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufzeigen zu können. In diesem Sinne sollten die Ausführungen mich für die spezifischen Bedingungen (so36 Man kann hierbei auch an Bourdieus (1990) Äußerung denken, dass der Versuch „ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt […] beinahe genauso absurd [ist] wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen, also die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen den verschiedenen Stationen“ (80). Diese verweist auf die Bedeutsamkeit der strukturellen Bedingungen des Aufwachsens, der Platzierung im sozialen Raum, quasi den ‚objektiven Möglichkeitsraum‘ einer Person.

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wohl Begrenzungen als auch Möglichkeiten) sensibilisieren und als Hintergrundfolie für die Fallrekonstruktionen dienen. Es ist jedoch unverzichtbar, auf die Gefahr der Subsumtion hinzuweisen. Über je mehr Wissen man über die Geschichte und die soziostrukturellen Bedingungen verfügt, desto mehr muss man aufpassen, die Informationen aus den einzelnen Interviews nicht zu schnell unter die Erkenntnisse „zu subsumieren und dabei die fallspezifischen Besonderheiten zu übersehen. Es gilt also einerseits, das für das Fallverstehen nötige historische Wissen zu erwerben und sich andererseits auf die Besonderheiten des Falles einzulassen“ (Rosenthal 2005, 55). So bin ich bei der Auswertung konkreter Sequenzen immer zuerst am Text geblieben und habe erst im Folgenden Kontextwissen einbezogen. „Ergebnis der Analyse biographischer Daten sind Hypothesen über mögliche Handlungsstrukturen und ihre Veränderung, über biographische Wendepunkte und herausgehobene Lebensphasen, so wie sie sich in der Abfolge von Ereignissen in ihrem zeit-, gesellschafts-, milieu-, familien- und entwicklungsspezifischen Kontext darstellen“ (Breckner 2009, 186).

Dieser erste Auswertungsschritt stellt keine umfassende Analyse des Falles dar, denn eine solche ist ohne die Selbstaussagen der Interviewten nicht möglich (vgl. Rosenthal 2008, 176). Des Weiteren erfolgt er nicht mit dem Ziel, Fehlerquellen auszuräumen, sondern soll erste Hypothesen liefern und als ‚Hintergrundfolie‘ für die Rekonstruktion der Fallgeschichte dienen, bei der die Ergebnisse mit den Erzählungen des Interviewpartners/der Interviewpartnerin zu den jeweiligen biographischen Daten kontrastiert werden, wie auch für die thematische Feld- und Textanalyse, in der geprüft wird, welche Daten erzählerisch dargestellt werden sowie in welcher Reihenfolge dies geschieht (vgl. Rosenthal 1995, 217). 2) Text- und thematische Feldanalyse (erzähltes Leben) Ziel dieses Analyseschrittes ist die Herausarbeitung der Gegenwartsperspektive, also die Frage, welche Mechanismen die Auswahl und Ausgestaltung sowie die temporale und thematische Verknüpfung der biographischen Selbstpräsentation steuern (vgl. Rosenthal 1995, 218). Im Unterschied zum dritten Schritt, der Rekonstruktion der Fallgeschichte, gilt das Interesse nicht dem Erleben eines Ereignisses zum damaligen Zeitpunkt, stattdessen geht es darum, zu klären, warum sich der Interviewpartner/die Interviewpartnerin „– ob nun bewusst intendiert oder latent gesteuert – so und nicht anders darstellt“ (Rosenthal 2008, 183). Beginnt die interviewte Person die Erzählung beispielsweise mit einer knappen Argumentation zur Ausreise in einem Alter von 16 Jahren, geht es bei diesem Schritt nicht darum, zu analysieren, wie sie diese

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biographisch einschneidende Erfahrung damals erlebt hat, sondern um die Frage, warum sie die Erzählung genau mit diesem Erlebnis beginnt, warum sie dafür die Textsorte der Argumentation wählt, warum die Sequenz so knapp ausfällt und welches Thema in welchem thematischen Feld repräsentiert wird (vgl. Rosenthal 1995, 219). Hintergrund ist ein gestalttheoretischer Ansatz, der die ‚Thematische Feldanalyse‘ von Gurwitsch (1974) mit den Vorschlägen Fischers (1982) für die Analyse von Lebensgeschichten verknüpft. Rosenthal (2010) geht davon aus, „dass die erzählte Lebensgeschichte nicht aus einer unverbundenen Ansammlung einzelner Teile besteht, sondern dass die einzelnen Sequenzen in irgendeiner spezifischen Weise miteinander in Beziehung stehen“ (210). Die Abfolge und Verknüpfungen der Themen werde durch latent wirksame Mechanismen gesteuert, sodass ein übergeordnetes ‚thematisches Feld‘ bestimmt werden könne, in dem die Lebensgeschichte präsentiert wird (vgl. Rosenthal 1995, 50ff). Dabei bestehe eine dialektische Beziehung zwischen Thema und thematischem Feld: „Das Feld bestimmt das Thema und das Thema das Feld“ (Rosenthal 2010, 210f). Die Bedeutung der einzelnen Teile kann nur durch die Gesamtgestalt erschlossen werden, wobei die temporale Abfolge in der Selbstpräsentation einbezogen werden muss. Daher wird in der Eingangspräsentation Sequenz für Sequenz analysiert, welche Themen angesprochen und in welches thematische Feld diese eingebettet werden. Dazu wird das Interview sequenziert, das heißt in Analyseeinheiten gegliedert, wobei das methodische Vorgehen Schützes (1983) zunutze gemacht wird. Die Sequenzierung kann entlang von Wechseln (des Themas, des/der Sprechenden oder der Textsorte) vorgenommen werden. Die drei Textsorten, die sowohl in prototypischer Form als auch in Mischformen auftreten, sind Erzählung, Beschreibung und Argumentation (vgl. Goblirsch 2010, 107). Die drei Textsorten Erzählungen geben singuläre Ereignisabfolgen wieder, die in einer Beziehung zeitlicher oder kausaler Abfolge zueinander stehen. Es ist jene Form der Erlebniswiedergabe, die am besten dazu geeignet ist, „eigene Erfahrungen als Ergebnis und Prozess anderen so mitzuteilen“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2003, 457), dass sie diese nachvollziehen und verstehen können. Dramatisch-episodische Erzählungen stellen als ‚Erzählungen im engeren Sinne‘ die „Vollform der linguistischen Kategorie“ (vgl. Lucius-Hoehne/Deppermann 2002, 146) dar. In narrativen Interviews tauchen aber auch und z.T. überwiegend Unterkategorien der Erzählung auf, wie der Bericht, der einen niedrigen Indexikalitätsgrad besitzt und Ereignisketten in geraffter Form „ohne Herausarbeitung von Situationen” (Kallmeyer/Schütze 1977, 187) darbietet. Im Unterschied zu Erzählungen werden in Beschreibungen statische Strukturen oder Merkmalszuschreibungen dargestellt, der Vorgangscharakter ist „eingefroren“ (vgl. ebd., 201). Ihre Funktion ist es, „den Ereignisraum des Geschehens auszugestalten

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und sprachlich die interessierenden Aspekte der ‚Welt‘ des Erzählers zu konstruieren und zu charakterisieren“ (Lucius-Hoehne/Deppermann 2002, 160), dies können z.B. Personen oder Orte sein. Argumentationen sind theoriehaltige Textelemente, die zum einen als Evaluationen innerhalb von Erzählsequenzen auftreten und zum anderen auch als eigenständige Form vorzufinden sind. Sie bieten einen Zugang zu den komplexen Deutungsmustern des/ der Erzählenden. Durch Argumentationen können Orientierungen, Vorstellungen oder Weltdeutungen bekundet und Ereignisse erklärt werden. Sie können auch als moralische Rechtfertigung oder Entschuldigung dienen (vgl. ebd., 168).

Es wird davon ausgegangen, dass es nicht zufällig ist, welcher Inhalt in welcher Textform präsentiert wird, sondern ein Zusammenhang mit dem Erleben sowie der Verarbeitung und Bewertung dessen besteht. Daher ist es unverzichtbar, die jeweilige Textsorte als Interpretationskriterium einzubeziehen. Nach der Einteilung werden die einzelnen Sequenzen in ihrer zeitlichen Abfolge analysiert (vgl. Rosenthal 1995, 219). Anders als bei der Narrationsanalyse von Schütze werden bei diesem Schritt auch die nicht-narrativen Passagen in die Auswertung miteinbezogen. „Bei jedem Textsegment geht es um die inhärenten Verweisungen auf mögliche thematische Felder und um den Entwurf von anschlussfähigen weiteren Segmenten. Im Fortgang der Analyse zeigt sich, welche thematischen Felder nicht entwickelt, nur angedeutet oder vermieden werden. Es wird deutlich, welche Themen nicht thematisiert werden, obwohl sie ko-präsent sind – und zwar unabhängig von den Selbstdeutungen der Biographin“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2003, 465).

Um dies herauszufinden, hat Rosenthal Fragen formuliert, die an den Text gestellt werden sollen: „1. Weshalb wird dieser Inhalt an dieser Stelle eingeführt? 2. Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Textsorte präsentiert? 3. Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Ausführlichkeit oder Kürze dargestellt? 4. Was könnte das Thema dieses Inhalts sein bzw. 5. Was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt? 6. Welche Lebensbereiche und welche Lebensphasen werden angesprochen und welche nicht? 7. Über welche Lebensbereiche und Lebensphasen erfahren wir erst im Nachfrageteil und weshalb wurden diese nicht während der Haupterzählung eingeführt?“ (Rosenthal 2008, 187)

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Auch die Beziehung zwischen InterviewerIn und ErzählerIn soll als ein möglicher Einflussfaktor betrachtet werden. Zu fragen wäre hier, ob oder inwieweit die präsentierten Themen und Darstellungsformen dem Interaktionsprozess geschuldet sind (vgl. ebd., 185). Da es um die Gestaltung der Selbstpräsentation des/der Interviewten geht, wird die thematische Feldanalyse vor allem für die Stegreiferzählung durchgeführt; auch für den Nachfrageteil kann jedoch geprüft werden, ob und wie neue Themen oder wichtige Aspekte eingeführt werden. 3) Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben) Hierbei gilt es, sich der Perspektive der Vergangenheit anzunähern, also der biographischen Bedeutung, die ein Erlebnis zum Zeitpunkt des Geschehens hatte. Ziel ist es, die Genese der Gestalt der erlebten Lebensgeschichte zu rekonstruieren, also die funktionale Bedeutsamkeit zu erschließen, die ein Erlebnis für die Gesamtgestalt der erlebten Lebensgeschichte hat (vgl. Rosenthal 1995, 220). Bleibt man bei dem oben genannten Beispiel, so geht es bei diesem Schritt nun darum, zu analysieren, wie die interviewte Person es erlebt haben könnte, in einem Alter von 16 Jahren auszureisen. Dafür wird die temporale Abfolge der Erlebnisse aus dem gesamten Interviewtranskript (also auch aus den beiden Nachfrageteilen) rekonstruiert und werden die „Erzählungen und Selbstdeutungen“ (ebd., 220) des Interviewpartners/der Interviewpartnerin mit den im ersten Auswertungsschritt erfassten biographischen Daten kontrastiert. Anhand der Form der Darstellung eines Erlebnisses im Kontext vorhergehender und nachfolgender Ereignisse wird die mögliche Bedeutung rekonstruiert (vgl. Breckner 2009, 189). Dafür beziehe ich sowohl den Inhalt (das Was) als auch die Form (das Wie) der Erzählung ein (vgl. King/Koller 2015, 114). Auch wenn die Erläuterungen zu diesem Schritt bei Rosenthal recht knapp ausfallen, ist zu betonen, dass dieser in der Umsetzung den umfangreichsten Teil der biographischen Fallrekonstruktion ausmacht und zusammen mit der Text- und thematischen Feldanalyse das Kernstück dieser Methode darstellt. 4) Feinanalyse einzelner Textstellen Die Feinanalyse orientiert sich am Vorgehen der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 1983). Mit dem Ziel, die latenten Sinnstrukturen des Textes zu entschlüsseln, können auffällige Sequenzen im Zuge des zweiten und dritten Auswer-

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tungsschrittes jederzeit einer detaillierten Analyse unterzogen werden. Ausgewählt werden jene Textstellen, die durch ihre äußere Form besonders hervorstechen (z.B. durch parasprachliche Auffälligkeiten wie Versprecher oder lange Pausen) oder deren Bedeutung nicht erschlossen werden konnte (vgl. Rosenthal 2008, 193). Eine Feinanalyse kann auch dem Zweck dienen, die in den vorangegangenen Schritten produzierten Hypothesen zu prüfen (vgl. ebd.). Im Sinne der Offenheit werden dabei aber die bisherigen Annahmen zurückgestellt und mithilfe des abduktiven und sequenziellen Verfahrens jeweils alle möglichen Hypothesen und Folgehypothesen entworfen und anschließend verifiziert, modifiziert oder falsifiziert. Dies lässt die Option der Entdeckung von bisher ungeklärten Mechanismen und Regeln der Fallstruktur offen. Die Feinanalyse muss nicht erst chronologisch nach Schritt 2 und 3 durchgeführt werden, sondern kann bei Bedarf jederzeit vollzogen werden. 5) Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte Im letzten Auswertungsschritt für den jeweiligen Einzelfall werden in Form einer Gesamtpräsentation die Ebenen der erzählten und erlebten Lebensgeschichte miteinander verglichen und damit Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Gegenwarts- und Vergangenheitsperspektive aufgezeigt (vgl. Rosenthal 2008, 195). Die Kontrastierung beinhaltet jedoch mehr als die Herausstellung von Unterschieden zwischen beiden Ebenen. Zum einen soll erklärt werden, welche biographischen Erfahrungen und daraus entwickelten Handlungsstrukturen zu der gefundenen Präsentation der Lebensgeschichte in der Gegenwart geführt haben (vgl. ebd.) und zum anderen „wie die gegenwärtige Perspektive die Formung und Umformung vergangener Erlebnisse mitbestimmt“ (Breckner 2009, 190). Ziel der Kontrastierung ist die Generierung der Fallstruktur des jeweiligen Einzelfalles, die Auskunft darüber gibt, wie dieser „– ganz unabhängig von thematisch besonders interessierenden Aspekten – in einer allgemein zu beschreibenden Handlungs-, Erlebens- und Deutungslogik strukturiert ist“ (ebd., 191). 6) Theoretische Verallgemeinerung Erst im Anschluss an die ausführlichen Rekonstruktionen der Einzelfälle wird die Forschungsfrage in den Analyseprozess einbezogen und „quasi wie eine Folie“ (Wesselmann 2009, 92) über den Fall gelegt. „D.h. erst jetzt wird danach gefragt, welche lebensgeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen für das Forschungsthema relevant sind und welche Gesetzmäßigkeit eventuell daraus ableitbar ist“

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(Köttig 2004, 78). Grundlegender Gedanke dieser theoretischen Verallgemeinerung ist, dass „jeder einzelne Fall immer sowohl Allgemeines (Teil der sozialen Wirklichkeit) als auch Besonderes (individuelle Transformationen) enthält“ (Schulze 2010, 578). Eine Form der theoretischen Verallgemeinerung stellt die Konstruktion einer Typologie dar. Rosenthal (1995) schlägt vor, einen Typus bezogen auf das Forschungsthema anhand des Einzelfalls zu entwickeln (vgl. 210), der „im Sinne unterschiedlicher Erscheinungsformen eines Phänomens/des Forschungsthemas zu verstehen“ (Köttig 2004, 78) ist. Schwendowius (2015) weist in Bezug auf die Typenbildung auf die Gefahr hin, „zu einer Stereotypisierung von Personengruppen beizutragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Einzelfälle zu Repräsentanten eines Typus gemacht werden und personalisierende Typenbezeichnungen gewählt werden“ (412). Zugleich würde durch eine Typisierung der Einzelfälle „eine Kohärenz der jeweiligen Biographie suggeriert, die etwa fließende Übergänge zwischen verschiedenen Prozessstrukturen oder die zeitgleiche Bedeutung widersprüchlicher biographischer Prozesse überdeckt“ (ebd.). Sowohl zahlreiche Arbeiten, die mit der biographischen Fallrekonstruktion arbeiten als auch solche, die den Einzelfällen mithilfe anderer Auswertungsmethoden begegnen, wählen den Weg, die einzelnen Fälle im Kontext der Fragestellung miteinander zu kontrastieren. Ziel der maximalen und minimalen Vergleiche zwischen den verschiedenen Fällen (vgl. Schütze 1983, 287f) ist es, „übergreifende Aspekte der biographischen Verläufe und Prozesse sichtbar zu machen, die sich im Fallvergleich als relevant für die Gestaltung der untersuchten Biographiekonstruktionen erwiesen haben“ (Schwendowius 2015, 413). Der Kritik Schwendowius (ebd., 412f) an der Herausarbeitung einer Typologie folgend, werde ich die Verallgemeinerung in der eben genannten Form vornehmen. Dabei fließen neben den drei ausführlich dargestellten Einzelfallrekonstruktionen auch die sechs weiteren Fälle mit ein. Diese wurden von mir ebenfalls im Sinne der biographischen Fallrekonstruktion ausgewertet, jedoch in einer weniger extensiven Form (siehe Globalanalysen bei Rosenthal 2005, 94). Zusätzlich sind auch diese Interviews im Rahmen von Kolloquien besprochen worden. Die Verallgemeinerung erfolgt dabei auf zwei Ebenen. Zum einen ließen sich infolge der fallübergreifenden Betrachtung drei Konstellationen zum Zusammenhang von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen herausarbeiten (siehe 7.1) und zum anderen erfolgt eine ausführliche theoretisierende Darstellung der übergreifenden zentralen Ergebnisse (siehe 7.2).

Reflexive Betrachtung der Forschungssituation

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5.6 Reflexive Betrachtung der Forschungssituation Objektivität ist eine der drei ‚klassischen Gütekriterien‘ quantitativer Forschung. Damit ist gemeint, dass individuelle Einflüsse des/der Forschenden auf den Forschungsgegenstand eliminiert werden sollen, weil diese als Störfaktor betrachtet werden (vgl. Steinke 1999, 118). Eine solche Trennung zwischen Subjekt und Objekt ist in qualitativen Untersuchungen nicht möglich und wird dort auch nicht angestrebt. Stattdessen wird der/die Forschende als Bestandteil des Forschungsprozesses angesehen (vgl. ebd., 231) und Subjektivität nicht nur zugelassen, sondern zu einer eigenen Erkenntnisquelle erklärt (vgl. Günther/Kerschgens 2016, 12). Dies sollte allerdings „methodisch reflektiert erfolgen“ (Steinke 1999, 231), was Steinke mit Bezug auf Legewie (1987) als ‚reflektierte Subjektivität‘ bezeichnet (vgl. ebd. 118). Um dieser Forderung gerecht zu werden, erfolgt eine ausführliche reflexive Betrachtung der Forschungssituation. Nähe und Fremdheit in der Interviewsituation Auch wenn es das Ziel des narrativen Interviews ist, dass die Erzählperson in einen ausführlichen Erzählfluss gerät und der Interviewer/die Interviewerin sich zurückhält, stellt ein Interview immer einen „Kommunikations- und Interaktionsprozess“ (Helfferich 2011, 119) dar, in dem InterviewerIn und Erzählperson wechselseitig aufeinander reagieren. Beide nehmen sich zum einen in Bezug auf ihre Rollen im Interview und zum anderen bezogen auf ihren persönlichen Hintergrund wahr (vgl. ebd., 132). Mit Blick auf Bourdieu (1997) wird meist die Asymmetrie in Hinblick auf die Rollenverteilung in der Interviewsituation betont, da es der Interviewer/die Interviewerin ist, der/die das ‚Spiel‘ beginnt, die ‚Spielregeln‘ festlegt und über die Verwendung der Ergebnisse entscheidet. Verstärkt werde dies zudem durch den wissenschaftlichen Hintergrund des Interviewers/der Interviewerin und die damit möglicherweise verbundene elaborierte Sprachwahl sowie in vielen Fällen eine Unterscheidung hinsichtlich der Position im sozialen Raum und der Kapitalausstattung (vgl. Friebertshäuser 2009, 238). Sicherlich ist es so, dass der Interviewer/die Interviewerin mit einem größeren Wissen über die Situation in das Interview geht. Im Gegensatz zum Interviewpartner/zur Interviewpartnerin weiß er/sie, wie das Gespräch ablaufen soll und hat meist schon mehrere solcher Situationen erlebt. Der Interviewpartner/die Interviewpartnerin ist oftmals, trotz vorheriger Ankündigung, zunächst verwundert über die Bitte, von seinem/ihrem ganzen Leben zu erzählen und hat vielleicht die Sorge, den Ansprüchen des Interviewers/der

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Interviewerin nicht gerecht zu werden. Doch auch wenn bereits zahlreiche Interviews durchgeführt wurden, geht auch der Interviewer/die Interviewerin immer wieder gespannt, eventuell aufgeregt, in das nächste Gespräch. Fragen wie: ‚Wer wird mich erwarten? Wie wird das Gespräch verlaufen? Wird das Gegenüber ins Erzählen kommen?‘ beschäftigen (zumindest mich) vor jedem Interview. Und gerade wenn man sich in der Wohnung des/der Befragten oder an entlegenen Orten trifft, können auch Ängste hinzukommen. Zudem besitzt auch der/die Interviewte eine gewisse Macht, denn der Forscher/die Forscherin ist auf gelungene Interviews angewiesen. Die Person könnte die Erzählaufforderung ablehnen, einzelne Nachfragen verweigern oder im Anschluss die Einwilligung zur Nutzung der Daten zurückziehen. Außerdem bekommt auch der auf den ersten Blick gebende Part, der/die Interviewte, für seine Erzählung etwas zurück und zwar eine intensive Aufmerksamkeit. Im Alltag gibt es kaum Situationen, in denen eine Person einseitig so lange von sich sprechen kann und ihm/ihr dabei durchweg aufmerksam zugehört wird. Nach den meisten Gesprächen hörte ich dementsprechend Aussagen darüber, wie gut es getan habe, einmal die eigene Geschichte erzählen zu können. Für den zweiten oben genannten Punkt, den persönlichen Hintergrund, spielt der Grad an Nähe oder Fremdheit zwischen den beiden Personen eine entscheidende Rolle. Helfferich (2011) beschreibt, dass unter Nähe in einem kognitiven Sinne, gemeinsam geteilte Erfahrungs-, Wissens- und Deutungshintergründe zu zählen seien (vgl. 120). Aus einer kognitiven Nähe könne auch eine emotionale entstehen, also auf Vertrautheit Vertrauen folgen, da der/die Interviewte annehme, dass ein Interviewer/eine Interviewerin mit demselben Hintergrund ihn/sie besonders gut verstehen könne. Devereux (1984) nennt als mögliche Einflussfaktoren u.a. Geschlecht, Alter, historisches Umfeld, Zugehörigkeit oder die berufliche Position. Ausgehend von diesem Gedanken sind Forschungen entstanden, in denen auf eine besondere Gleichheit zwischen ForscherInnen und Beforschten geachtet wurde (z.B. Frauen interviewen Frauen). Bourdieu versteht die Herstellung einer möglichst herrschaftsfreien Forschungsbeziehung mittels weitgehender Angleichung zwischen ForscherInnen und Beforschten als eine Form von Reflexivität, verbunden mit der Annahme, dass die Beforschten ihre Sichtweisen dann besonders unverfälscht zum Ausdruck bringen könnten (vgl. King 2004b, 58f). King (ebd.) zeigt jedoch eindrücklich auf, dass dieses Vorgehen „nicht nur diametral den methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundprinzipien hermeneutischer Sozialforschung“ (60) widerspricht, sondern auch Erkenntnissen ethnographischer Forschungen, die verdeutlicht haben, dass es unverzichtbar ist, „das scheinbar Vertraute als Fremdes zu betrachten, es geradezu reflexiv zu ‚befremden‘“ (ebd.). Und Wohlrab-Sahr (1993) hat für die Frauenforschung pointiert kritisch darauf hingewiesen, dass der Versuch der „Konstruktion vorgängiger Gemeinsamkeit in der Forschungsbeziehung“ (129) meist mit Entdifferenzierung und

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dem Verschwimmen von Grenzen zwischen Forscherin und Gegenstand verbunden sei, was der wissenschaftlichen Erkenntnis im Wege stünde. Besonders bei der Auswertung spielt dann eine gewisse ‚Fremdheitshaltung‘ sogar eine große Rolle. Gerade die Annahme von Gemeinsamkeiten kann dazu führen, vorschnell Deutungen in den Text hineinzulegen, statt vielfältige Möglichkeiten aus dem Interview zu gewinnen. Und unabhängig davon, dass es kaum gelingen dürfte, zwei Personen zusammenzubringen, die sich in allen für die Untersuchung relevanten Punkten gleichen, kann auch bei kognitiver Nähe die emotionale Verbundenheit fehlen. Ebenso ist es denkbar, dass eine vertrauensvolle Kommunikation und eine emotional nahe Atmosphäre mit einer Person entstehen kann, die sehr unterschiedlich ist, „nur muss die emotionale Nähe dabei anders als über den Verweis auf einen gemeinsamen Hintergrund hergestellt werden“ (Helfferich 2011, 120). Kahn und Cannell (1967) weisen auf die Relevanz hin, dass der Interviewer/die Interviewerin das Gefühl vermittelt, dass er/sie interessiert ist und verstehen kann (112). Durch eine von Wertschätzung und Freundlichkeit geprägte E-Mail-Unterhaltung im Voraus und die Smalltalk-Situation direkt vor dem Interview, habe ich versucht, eine angenehme Atmosphäre und ausreichend Nähe für ein offenes Interview herzustellen. Ich habe mich ganz auf die Interviewerzählungen eingelassen und – vor allem durch Interjektionen wie ‚mh‘ – versucht, dem Interviewpartner zu zeigen, dass ich ihm interessiert und aufmerksam zuhöre. Als Fazit kann gezogen werden, dass sowohl die größere Nähe als auch die größere Distanz in Bezug auf ein forschungsrelevantes Detail gewisse Vor- und Nachteile mit sich bringen kann. Wichtig ist es, Unterschiede oder Gemeinsamkeiten nicht für bedeutungslos zu erklären, sondern stattdessen den Hintergrund des Interviewers/der Interviewerin (in Relation zu dem Interviewpartner/der Interviewpartnerin) zu reflektieren und in die Deutung der Interaktionsdynamik einzubeziehen (vgl. z.B. Helfferich 2011, 123). Ich möchte dies speziell für meine Forschung reflektieren: Nah bin ich meinen Interviewpartnern, die alle um 1980 herum geboren sind, in Hinblick auf das Alter; zudem leben wir alle aktuell in Deutschland, besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit und gehören dem universitären Kontext an. Darüber hinaus kann es zahlreiche Punkte geben, in denen ich einzelnen nah war, wie den sozialen Hintergrund oder persönliche Interessen, die zu einem Teil über Äußerlichkeiten ersichtlich sind und zu einem anderen unbewusst bleiben. Zentrale Punkte, in denen wir uns unterscheiden bzw. fremd sind, stellen das Geschlecht, das Aufwachsen in einem Land der ehemaligen Sowjetunion mit Russisch als Muttersprache, die Migration sowie mögliche (Diskriminierungs-)Erfahrungen als Spätaussiedler in Deutschland dar. Im Gegensatz dazu bin ich als einheimische Deutsche in ihrem Einwanderungsland aufgewachsen. Im Folgenden möchte ich etwas genauer auf die Differenzen eingehen. „Dies löst mithin das Problem nicht,

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dass es eigene normative Bindungen gibt, jedoch ist die Reflexion die Voraussetzung für die Entfaltung einer wissenschaftlichen Professionalität“ (Hummrich 2015, 103). Geschlecht Eine Differenz zwischen meinen Interviewpartnern und mir stellt der Faktor Geschlecht dar. Zu den Auswirkungen unterschiedlicher Geschlechter auf die Interviewsituation gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse, da für aussagekräftige Ergebnisse zweimal mit einer Person ein narratives Interview geführt werden müsste, einmal mit einem Mann, einmal mit einer Frau als InterviewerIn, wobei beim zweitem Mal bereits durch die Wiederholung geschlechtsunabhängige Unterschiede entstehen würden. Scholz (2003) hat versucht, der Frage nachzugehen, welche Auswirkungen die Dynamik des Doing Gender auf die Durchführung und Auswertung narrativer Interviews hat. Sie geht davon aus, dass die Interviewpartner im Gespräch inhaltlich, grammatikalisch und interaktiv Geschlecht bzw. Männlichkeit herstellen würden. Bei der Interviewkonstellation ‚männlicher Interviewer und männlicher Biograph‘ komme es einerseits zu einer männlichen Gemeinschaft zwischen beiden (rekurrieren auf (unterstellte) gleiche männliche Erfahrungen), aber andererseits auch zur Herstellung von Differenz (vor allem entlang des beruflichen/sozialen Status) (vgl. ebd., 148f). Für die zweigeschlechtliche Konstellation ‚weibliche Interviewerin und männlicher Biograph‘ arbeitet sie heraus, dass kaum Bezüge zum Geschlecht der Interviewerin vorgenommen würden. Sie werde vor allem in ihrer Rolle als Forscherin wahrgenommen, befände sich aber durch die „symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit (…) qua Geschlechtszugehörigkeit gegenüber ihrem männlichen Interviewpartner in einer hierarchischen Konstellation“ (ebd., 156). Den männlichen Interviewern seien in der Studie längere Erzählungen präsentiert worden, was Scholz mit Rückgriff auf Bourdieu begründet. Frauen werde weniger erzählt, da ihre Anerkennung weniger wert sei, da sie in der modernen symbolischen Geschlechterordnung nicht als gleich, sondern als das unterlegene Geschlecht gelten würden (vgl. ebd., 158). Ich halte diese Ergebnisse über die Länge der Interviews für fragwürdig und kann sie aus meiner Erfahrung als wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem DFG-Projekt „Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien“ (vgl. King et al. 2011) nicht bestätigen. Dennoch habe ich in der Interaktion die Herstellung von Geschlechtsunterschieden bemerkt, z.B. haben die meisten der interviewten Männer Höflichkeitsformen angewandt, etwa indem sie mir die Tür aufgehalten haben.

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Im Gegensatz zur Aussage von Scholz, dass vermeintlich ‚männliche Erfahrungen‘ überwiegend nur den männlichen Interviewern erzählt würden, habe ich mehrfach Erzählungen über Alkoholkonsum und Schlägereien oder über die Vorzüge besonderer Automarken erhalten. Maxim z.B. hat mir seine Narben aus Schlägereien gezeigt. Gut möglich, dass diese mir ‚anders‘ dargestellt wurden als sie eventuell einem männlichen Interviewer präsentiert worden wären (etwa mehr im Sinne eines Beeindruckens, denn zur Herstellung von Gemeinsamkeit), aber sie wurden doch immerhin angesprochen. Das Verdienst von Scholz ist es jedoch, für diese Thematik zu sensibilisieren. In den Auswertungen habe ich an auffälligen Stellen daher auch die Folie des Geschlechts in die Interpretation einbezogen. Migration Für das Thema Migration gibt es eine spezifische Debatte um die Frage von Nähe und Distanz in Hinblick auf die Zugehörigkeit des Forschers/der Forscherin und des/der Interviewten. Die VertreterInnen der ‚Insider-Doktrin‘ beziehen sich auf das Motto: ‚One must be one in order to understand one’ (Merton 1972, 24). Je nach Entschiedenheit gehen sie entweder von einem „monopolistischen Zugang zum gemeinsam geteilten Wissen“ (King/Subow 2013, 153) bei den Insidern aus oder aber zumindest von einem privilegierten Zugang. Baros (2009), der Interviews mit Angehörigen der gleichen Ethnizität geführt hat, schildert seine Erfahrung, dass die InterviewpartnerInnen das ‚ethnisch Gleiche’ identifizierten und verbindende Kulturstandards voraussetzten, was er als „Fraternisierungseffekt“ (166, Herv. i. O.) bezeichnet. Es entstehe „ein ‚Wir-Gefühl’, in Folge dessen kulturelle Selbstverortungen und Stereotypen leichter begründet bzw. rechtfertigt werden können“ (ebd.). AnhängerInnen der ‚Outsider-Doktrin‘ hingegen betonen, dass die Nicht-Zugehörigkeit dem Forscher/der Forscherin die notwendige Objektivität verschaffe, legitime Aussagen treffen und Neues entdecken zu können (vgl. King/Subow 2013, 153). Zudem ist „die Trennungslinie zwischen dem Insiderund Outsider-Status fließend“ (ebd., 154). So kann eine Person zwar der gleichen natio-ethno-kulturellen Gruppe angehören, aber sich sozial so sehr von den Erforschten unterscheiden, dass ein Interviewer/eine Interviewerin, der oder die autochthon, aber in einem ähnlichen Milieu aufgewachsen ist, eher ein ‚Insider‘ wäre. Beide Positionen werden kontrovers diskutiert und keine der beiden kann aufgrund der Komplexität der Thematik abschließend favorisiert werden. Deutlich wird jedoch, dass derselbe Herkunftskontext nicht eindeutig als notwendig vorausgesetzt werden kann, weshalb ich es als möglich erachtet habe, Interviews mit jungen Männern mit Spätaussiedlerhintergrund zu führen, auch wenn ich diesen nicht teile. Wichtig ist es jedoch, meine Rolle als bundesdeutsche Wissenschaft-

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lerin für die Erhebung und Auswertung zu reflektieren, denn diese Forschungskonstellationen bedarf „eines kritischen Bewusstseins über die eigene privilegierte gesellschaftliche Position sowohl im Umgang mit den Interviewpartner[I]nnen, als auch in der Interviewauswertung und bei der Dokumentation der Ergebnisse“ (Riegel 2004, 158). In der Eingangsfrage wurden die Themen Migration/Zugehörigkeit durch die Verwendung des Begriffs ‚Spätaussiedler‘ eingebracht. Diese ‚Anrufung‘ von einer einheimischen Forscherin kann Einfluss auf die Erzählung nehmen (vgl. Rose 2012, zur ausführlichen Interpretation der Eingangsfrage siehe 6.1.3). So stehen SpätaussiedlerInnen aufgrund des Ausreiseverfahrens sowie der Wahrnehmung in Deutschland unter dem Druck, ihr Deutschsein zu betonen. Dies könnte sich im Interview wiederholen. Zudem handelt es sich dabei um einen formalen Begriff, mit dem sich die meisten selbst nicht bezeichnen. Der Vorsatz „Spät“ lässt zudem die Assoziation aufkommen, sie seien zu spät nach Deutschland gekommen; etwa zu spät, um noch willkommen zu sein. Da die eigene Betitelungspraxis jedoch zu unterschiedlich ist, habe ich mich trotzdem dazu entschieden, den offiziellen Begriff zu verwenden. „Wiederholung alienierender Zuschreibungen durch qualitative Forschung“ (Mecheril et al. 2003, 93) sind vermutlich unvermeidbar, wenn ‚Andere‘ erforscht werden sollen. Einen Ausgleich stellt es jedoch dar, wenn man den InterviewpartnerInnen die Möglichkeit gibt, sich „als Subjekte zur Geltung zu bringen“ (Mecheril 1999, 255), was durch die Offenheit des narrativen Interviews gegeben ist. In einem solchen können eigene formale und inhaltliche Relevanzsetzungen vorgenommen werden und das Thema Migration/Zugehörigkeit kann selbst entfaltet werden. Bei der Auswertung muss die Frage einbezogen werden, warum diese Themen so ausführlich (oder nicht) behandelt werden. Ist dies ein bedeutsames Thema für den Interviewten an sich, oder weil er täglich von Fremdzuschreibungen betroffen ist, oder weil er der Interviewerin gerecht werden möchte? Für die Auswertung ist es essentiell, darauf haben kritische Migrationsforschungen hingewiesen, die Krisen und Probleme des Interviewpartners/der Interviewpartnerin nicht automatisch als Folge des Migrationshintergrundes zu deuten. Dafür ist eine möglichst große Unvoreingenommenheit und ein breites Kontextwissen bedeutsam. Herwartz-Emden (1995) empfiehlt deshalb, muttersprachliche ‚Experten‘ an der Auswertung zu beteiligen. An dieser Stelle schließt sich für mich der Kreis zur Insider-Outsider-Debatte. Als produktiven Umgang damit sehe ich eine (in diesem Fall nach ethnisch-kultureller Zugehörigkeit) gemischte Interpretationsgruppe. Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, Interviews und Interpretationsansätze in einer solchen diskutieren zu können.

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Sprache In diesem Kontext ist auch zu bedenken, dass keiner der Interviewpartner mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist. In allen Familien wurde Russisch gesprochen und war Deutsch die Sprache, die sie nur ab und an bei den Großeltern hörten und höchstens einige Redewendungen und Begriffe davon in den eigenen Sprachgebrauch übernommen haben. Die überwiegende Mehrheit des Samples hat Deutsch aber zumindest eine Zeit lang in der Schule gelernt und alle haben nach der Migration in Deutschland mehrere Sprachkurse besucht. Die kürzeste Aufenthaltsdauer bis zum Zeitpunkt des Interviews hat Pjotr mit vier Jahren, durchschnittlich sind sie die jungen Männer ca. sieben Jahre in Deutschland. Da aber alle Interviewpartner seit mehreren Jahren in Deutschland leben und mit dieser Sprache z.B. ihren Alltag an der Universität bestreiten, Klausuren und Hausarbeiten schreiben, halte ich es für legitim, dass die Interviews auf Deutsch geführt wurden. Die digitalen Aufnahmen weisen in allen Fällen einen hörbaren Akzent der Sprecher auf und bei mehreren zeigen sich leichte bis stärkere Ausdrucksschwierigkeiten in der deutschen Sprache, dennoch sind insgesamt flüssige Texte entstanden. In einigen Fällen wurden russische Ausdrücke von den Interviewpartnern gebraucht oder gefragt, wie ein bestimmtes Wort auf Deutsch heiße, was ich an manchen Stellen beantworten konnte. Zum Teil handelt es sich um sehr spezifische Begriffe, sodass nachvollziehbar ist, dass diese auf Deutsch nicht ausgedrückt werden konnten. Doch auch in diesen Fällen und vor allem bei gebräuchlichen Begriffen, wurden die Ausdrucksschwierigkeiten in die Interpretation miteinbezogen. So zeigt sich z.B. bei Vadim, dass ihm alltägliche Begriffe fast ausschließlich dann nicht zur Verfügung standen, wenn er von seiner russischen Mutter sprach, die sich in Deutschland nicht wohlfühlt. Übergreifend zeigt sich, dass auch jene, deren Sprachkenntnisse Schwächen aufzeigen, an manchen Stellen im Interview sehr flüssig und problemlos sprechen, an anderen jedoch vermehrt Ausdrucksschwierigkeiten auftreten. Hierfür bietet sich der intertextuelle Vergleich als geeignetes Mittel, um die Stellen angemessen in den Blick zu nehmen. Sowohl in Hinblick auf den Vertrauensaufbau zu den Gesprächspartnern, die Interviewdurchführung sowie die Auswertung der Transkripte hat es sich daher als Vorteil erwiesen, dass ich über russische Sprachkenntnisse verfüge. So konnte ich auch während der Interpretationen zunächst irritierende Sprachkonstruktionen als ‚Übersetzungen‘ aus dem Russischen erklären. An einer Stelle, die mir sprachlich auffällig erschien (Verwendung des Wortes „adaptieren“ bei Vadim, siehe Seite 208), die ich aber mit meinen Kenntnissen nicht deuten konnte, habe ich eine Muttersprachlerin als Expertin hinzugezogen.

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Bedeutsamkeit der Interaktion in der Interviewsituation King (2004b) weist mit Blick auf die Ansätze der soziologischen Hermeneutik darauf hin, dass eine systematische Rekonstruktion der Art und Weise vorzunehmen sei, wie der/die Beforschte die Forschungssituation gedeutet und ausgestaltet hat. Dies stelle dann (neben anderem) „ein wesentliches Datum der Fallstruktur“ (51) dar. Der Interviewtext wird als interaktive Konstruktion von InterviewerIn und ErzählerIn verstanden und sei stets als „Fall in der Forschung“ (ebd., Herv. i. O.) zu reflektieren, „anstatt der Fiktion des von der Forschung unberührten Falls anzuhängen“ (ebd.). In diesem Sinne stelle das „fallspezifische Muster der Verarbeitung und Ausgestaltung der Forschungssituation und Forschungsbeziehung“ (ebd., 67, Herv. i. O.) einen wesentlichen Aspekt der Rekonstruktion der Fallstruktur dar. Apitzsch et al. (2006) betonen darüber hinaus, dass Biographien nicht ‚an sich‘ existierten, sondern „nur als sprachlich artikulierte Geschichten“ (49). Dies ist bedeutsam für den Blick auf den Untersuchungsgegenstand. In der Auswertung kann es folglich nicht darum gehen, den ‚tatsächlichen‘ Lebensverlauf der realen Personen Vadim oder Anton ganz und gar ergründen zu wollen, sondern darum, ihre Biographie, so wie sie sich in textlicher Form – als Fall in der Forschung – darstellt und wie sie sich in einer bestimmten Interaktionssituation hergestellt hat, zu betrachten. Es reicht nicht aus, nur die Fallstruktur zu rekonstruieren, sondern es muss durchgehend auch die Forschungssituation reflektiert werden, wobei beide Ebenen miteinander verschränkt sind. Zu fragen wäre z.B., welche Anliegen der Interviewpartner mit der Teilnahme verbunden hat oder auf welche Weise sich die formalen und inhaltlichen Aspekte von Handlungen und Äußerungen verbinden (vgl. King 2004b, 67). Wichtig ist es generell auch, die Aussagen der InterviewpartnerInnen nicht ausschließlich als „Ausdruck ihrer Subjektivität“ (Deppermann 2014, 137) zu deuten, sondern ebenso die Eingangsfrage sowie die Nachfragen des Interviewers/der Interviewerin einzubeziehen. Diese „müssen sowohl als faktisch steuernder, ermöglichender wie restringierender, bedeutungsschaffender Rahmen“ (ebd.) für die Äußerungen der InterviewpartnerInnen im sequenziellen Zusammenhang betrachtet werden. Interviewprotokoll Um dies besser umsetzen zu können, habe ich, dem Vorgehen der Ethnohermeneutik folgend, direkt im Anschluss an das jeweilige Interview, ein Protokoll zur Analyse der Forschungssituation angefertigt (vgl. Bosse 1994). In diesem findet sich erstens eine Beschreibung der Rahmenbedingungen (Interviewort, Störungen,

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etc.). Zweitens geht es um die Interaktionen zwischen Interviewpartner und Interviewerin; Leitfragen waren u.a.: Wie verlief die Begrüßung? Wie ist der Interviewpartner aufgetreten? Wie ist das Gespräch verlaufen? (vgl. z.B. Froschauer/Lueger 2003). Drittens wurden alle Auffälligkeiten, Irritationen und Gefühlslagen im Sinne eines Affektprotokolls festgehalten. Es geht hierbei um die subjektive Wahrnehmung des Interviewpartners. Wie verlief die Interaktion? Welche Gefühle und Annahmen habe ich ihm gegenüber? Wie habe ich mich gefühlt? Solch ein Interviewprotokoll sensibilisiert, denn der Eindruck, den man in der Situation vom Gegenüber hatte, wird sich vermutlich auch in der Auswertungsphase einstellen und kann dann unbewusst die Analyse beeinflussen. Daher sollte dieser notiert und damit bewusst greifbar gemacht werden (vgl. Rosenthal 1987, 131). Wenn möglich, wurden die Interviewprotokolle zudem als weitere Erkenntnisquelle für die Interpretationen genutzt. In diesem Rahmen gilt es auch, so genannte ‚Störungen‘ im Devereux’schen Sinne (1984) in den Interaktionen zwischen InterviewerInnen und InterviewpartnerInnen nicht als Negativum zu übergehen oder zu verstecken, sondern diese als grundlegendes Erkenntnismittel in die Auswertung einzubeziehen (vgl. King 2008a, 20). Dies können ebenso ungewollte Abweichungen von der Forschungsmethode durch den Interviewer/die Interviewerin sein (z.B. nicht-narrative Nachfragen, spontanes Bekunden von eigenen Gefühlen oder Meinungen, …) als auch Auffälligkeiten durch den Interviewpartner/die Interviewpartnerin (wie Verweigerungsverhalten oder Unzuverlässigkeit). „Fehler werden insofern ‚Erkenntnismittel‘, als unterstellt wird, dass die Interviewenden an dieser Stelle aus einem bestimmten, zu rekonstruierenden Grund diesen Fehler begangen haben. Der Fehler sagt also auch etwas aus über die Dynamik der Passage, in der er vorkommt“ (Helfferich 2011, 158). So habe ich beispielsweise bewusst darauf verzichtet, die Frage, welcher Gruppe die Interviewpartner sich eher zugehörig fühlen, in meine exmanenten Nachfragen aufzunehmen. Damit war das Ansinnen verbunden, die gesamtgesellschaftliche Forderung nach einer eindeutigen Zuordnung nicht zu reproduzieren. Als Semjon sich im Interview allerdings ausführlich mit dem Thema Zugehörigkeit auseinandersetzt, ist mir die Frage ‚herausgerutscht‘. Statt darüber hinwegzugehen, habe ich diesen ‚Fehler‘ in die Interpretation miteinbezogen (vgl. 369). Rosenthal weist zudem darauf hin, dass auch Interviews, die nach äußeren Kriterien als nicht gelungen wahrgenommen werden, in die Analyse aufgenommen werden sollten, denn würde man ausschließlich die ‚gelungenen‘ Interviews betrachten, „beschränkt man sich m.E. auch auf einen bestimmten Typus von Informanten“ (Rosenthal 1987, 400). Das Interview mit Anton könnte als ‚misslungen‘ interpretiert werden, da es nicht zu einer ausführlichen Eingangserzählung gekommen ist. Dennoch habe ich mich entschieden, dieses Interview zu einem der

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Kernfälle zu machen, denn auf die immanenten und exmanenten Nachfragen erfolgten Narrationen, die für die Fragestellung relevante Aspekte enthalten. Die Spezifik der Eingangspräsentation habe ich jedoch im Sinne der Reflexivität ausführlich in der Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte analysiert.

6 Biographische Fallrekonstruktionen

In diesem Kapitel erfolgt die Darstellung von drei biographischen Fallrekonstruktionen sowie drei Kurzportraits. Ein Gütekriterium qualitativer Forschung ist die „intersubjektive Überprüfbarkeit der gewonnenen empirischen Erkenntnisse“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 401, Herv. a. O. weggelassen). Um dies zu ermöglichen, werde ich an einem Fall den Auswertungsprozess extensiv nachzeichnen. Die Wahl von Vadims Interview (6.1) für die erste ausführliche biographische Fallrekonstruktion erfolgte aus dem Grund, dass es eines der längsten ist und die Themen Adoleszenz und Migration sehr viel Raum einnehmen. Da die Rekonstruktion bestätigt hat, dass das Interview sehr gehaltvoll ist, habe ich mich entschieden, an diesem den Verlauf der Interpretationsschritte aufzuzeigen. Nach einer Zusammenfassung der relevantesten Lebensdaten, die einen Überblick über den Fall geben sollen, wird die Interviewsituation dargestellt. Es folgt ein Einblick in die Interpretation der Biographischen Daten (Schritt 1) des Falles. Im Folgenden wird die Eingangserzählung der Thematischen Text- und Feldanalyse (Schritt 2) unterzogen. Die sehr intensive Auswertung der Eingangssequenz gibt dabei beispielhaft auch einen Einblick in die Feinanalyse einzelner Textstellen (Schritt 4), die auch an anderen Stellen vorgenommen wurde, dort aber ergebnisorientiert eingeflossen ist. Die Rekonstruktion der Fallgeschichte (Schritt 3) wird darauf chronologisch dargestellt und nimmt den größten Raum der Darstellung ein37. Die Fallrekonstruktion schließt mit der Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte (Schritt 5). Als zweites folgt die Fallrekonstruktion des Interviews mit Anton (6.2). Die Auswahl dieses Falles folgte dem Prinzip des maximalen Kontrastes. Das bedeutet, dass ich nach einem Fall gesucht habe, der in Bezug auf zentrale Aspekte entgegengesetzt zum ersten Fall zu sein scheint. An dieser Stelle soll noch nicht vorweggenommen werden, welche das sind – die Begründung erfolgt zu Beginn der Darstellung. Als minimaler Kontrast dazu wurde dann der Fall Semjon für die dritte Fallrekonstruktion herangezogen (6.3). Anders als für den Fall Vadim, an dem exemplarisch in besonderer Ausführlichkeit die Schritte der Fallrekonstruktion nach Rosenthal aufgezeigt werden, erfolgt die Präsentation der Fälle Anton 37 Aufgrund der Limitation des Raumes werden jedoch weder im Allgemeinen noch dort alle Interpretationsmöglichkeiten aufgefächert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_7

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Biographische Fallrekonstruktionen

und Semjon in kürzeren Falldarstellungen. Dennoch findet keine „Subsumption unter vorab ausgewählten theoretischen Kategorien“ (Allert 1998, 20) statt, sondern wird dem Auswertungsprozess insofern Rechnung getragen, als dass jeweils die Kontaktaufnahme und die Interviewsituation, die biographische Selbstpräsentation und die Rekonstruktion der Fallgeschichte dargestellt und abschließend kontrastiert und zusammengefasst werden. Diese Strukturierung gewährt weiterhin einen (chronologischen) Einblick in den Forschungs- und Auswertungsprozess. Alle Rekonstruktionen enthalten eine Vielzahl an wörtlich zitierten Interviewpassagen, die zum einen der Nachvollziehbarkeit der Analysen dienen und zum anderen Einblick in die Erzählweise der Interviewten geben sollen. Um die Spezifika der einzelnen Fälle noch stärker herausarbeiten und die Vielfalt des Gesamtsamples aufzeigen zu können, wurden drei weitere Fälle ausgewählt, deren biographische Rekonstruktionen am Ende des Kapitels in Form von kontrastiven Kurzportraits vorgestellt werden (6.4). 6.1 Fallrekonstruktion Vadim38: „Hier ist man gar nichts dann und da, da erinnert man sich noch an mir“39 Vadim wurde 1984 als Sohn eines Deutschen und einer Russin im sowjetischen Kasachstan geboren. Die Familie hatte bereits den 1978 geborenen Sohn Andrej, mit großem Abstand folgte 1990 Alexander. Nach einer Wartezeit von sieben Jahren reiste die Familie 2001 nach Deutschland aus. Vadim gelang es, zuvor noch seine Mittelschule abzuschließen, die in der ehemaligen Sowjetunion zum Studium berechtigte. Da dieser Abschluss in Deutschland jedoch nicht als Abitur anerkannt wird, musste er dieses nach Sprachkursen auf einem Studienkolleg nachholen, wo er eine Klasse wiederholen musste. Das darauf begonnene Informatikstudium brach er nach einem Jahr wieder ab. Zur Zeit des Interviews studiert der 24-Jährige seit zwei Semestern Medieninformatik an einer Fachhochschule. Seit etwa einem Jahr ist er mit Galija verheiratet, die ebenfalls aus der ehemaligen Sowjetunion stammt und Spätaussiedlerin ist. Die Geburt des ersten gemeinsamen Kindes steht kurz bevor.

38 Alle Namen und persönlichen Daten wurden anonymisiert. Aus Gründen der Forschungsethik wurden darüber hinaus kleine Details, wie z.B. das Studienfach, durch einen gleichwertigen Begriff ersetzt, um Rückschlüsse auf konkrete Personen zu verhindern. 39 Das Transkriptionssystem befindet sich auf Seite 145.

Fallrekonstruktion Vadim

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6.1.1 Interviewsituation Die Beschreibung der Interviewsituation dient zwei Zwecken. Zum einen soll der Leser einen Einblick in den Kontext des Interviews und dadurch einen guten Einstieg in die Auswertung erhalten. Zum anderen sollen Auffälligkeiten festgehalten werden, die als offene Fragen für die kommenden Auswertungsschritte formuliert werden können. Vadim hatte sich auf ein Interviewgesuch von mir per E-Mail gemeldet. Die E-Mails sind freundlich formuliert, so schrieb er z.B. in der ersten E-Mail, dass er sich freue, wenn er mir bei meiner Doktorarbeit helfen könne. Ich schlug ihm verschiedene Orte vor, an denen wir das Interview führen könnten (z.B. an der Uni, bei ihm zuhause, in einem Café) und er bat mich, ein Café auszuwählen. So trafen wir uns Mitte Oktober 2008 in einem zentral in der Innenstadt gelegenem Café. Vadim wartete bereits davor auf mich und wir begrüßten uns freundlich. Meine Aussage, dass ich ihn gerne auf ein Getränk einladen möchte, verunsicherte ihn etwas, er sagte, dass er dies nicht gewohnt sei und bestellte einen schlichten Kaffee. Wir wählten einen Tisch in der ruhigeren, oberen Etage, wobei er mir den Platz auf der gepolsterten Bank überließ und sich auf den gegenüberstehenden Stuhl setzte. Obwohl es sich um einen öffentlichen Ort handelte, hielten sich die Hintergrundgeräusche sehr in Grenzen. Vadim fragte mich, wie ich auf das Thema Spätaussiedler gekommen sei. Ich erklärte dies mit meinem Interesse für Russland und diese Gruppe, von der zumeist eher negativ berichtet werde. Er begann darauf sogleich zu erzählen, dass er ein Studienkolleg besucht habe und dort alle Schüler eine spannende Lebensgeschichte hätten. Sein Lehrer habe gesagt, dass man daraus ein Buch machen könnte. Vadim ergänzte, dass er das gerne tun würde, aber sein Deutsch dafür noch nicht gut genug sei. Als ich ihm erklärte, dass es sich um eine Interviewform handele, bei der er so viel erzählen solle, wie er könne und wolle, sagte er: ‚Oh, da kann ich viel erzählen‘40, was bei mir die Hoffnung auf ausführliche Narrationen weckte. Während des Interviews war deutlich zu spüren, dass er Freude am Erzählen hatte. Etwas peinlich berührt wirkte er jedoch, wenn ihm ein Wort nicht einfiel, dann wandte er teils ‚geniert‘ den Kopf von mir ab. Dies führte mehrfach dazu, dass ich das Bedürfnis hatte, ein deutsches oder russisches Wort einzustreuen, das er gemeint haben könnte. Nach dem Interview dankte ich ihm für das interessante und ausführliche Gespräch und erfasste noch die soziodemographischen Daten. Dabei bot er mir an, 40 Es wurde nur das Interview aufgezeichnet, sodass es sich hierbei nicht um exakte Zitate handelt, sondern um sogleich nach dem Interview notierte erinnerte Formulierungen, die dadurch sehr nah am Gesagten sind. Um den Unterschied zu verdeutlichen, werden hierfür einfache Anführungszeichen verwendet.

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Biographische Fallrekonstruktionen

dass ich jederzeit auch noch per E-Mail Nachfragen stellen könnte. Darauf unterhielten wir uns noch etwas. Er erzählte zum Beispiel, dass seine Frau und er mit dem Kind Russisch sprechen und ihm ‚etwas von der eigenen Geschichte weitergeben‘ wollen. Als ich ihm die kleine Aufwandsentschädigung gab, betonte er, dass ihn diese nicht zur Teilnahme am Interview motiviert hätte, sondern er das Thema sehr spannend finde und sonst ‚keiner zuhören wolle‘. Es habe ihm viel Freude gemacht, zu erzählen. Da er bereits vor dem Interview vom Aufschreiben gesprochen hat, sagte ich, dass er seine Geschichte später einmal aufschreiben könne. Er bejahte dies und meinte, dass man auch einen Film daraus machen könne, denn ‚es klingt doch nach Hollywood, so wie Schindlers Liste‘. Das recht lange Nachgespräch wurde durch einen Anruf seiner Frau unterbrochen, der er mitteilte, dass er bald komme. Wir verabschiedeten uns dann sehr freundlich. Als ich später den von ihm erwähnten Blog im Internet entdeckte, sah ich, dass er dort in russischer Sprache über das Gespräch geschrieben hat. Als auffällig aus diesen Notizen kann festgehalten werden, dass Vadim mehrmals von dem Wunsch, seine Geschichte zu erzählen und diese auch aufzuschreiben gesprochen hat und diese als hollywoodmäßig (wie „Schindlers Liste“) bezeichnete. In diesem Film wird dargestellt, wie der Industrielle Oskar Schindler im Zweiten Weltkrieg etwa 1200 Juden vor dem Tod im Vernichtungslager Auschwitz bewahrt, indem er sie in seinen Rüstungsbetrieben beschäftigt. Daneben werden in vielen dramatischen Szenen Gräueltaten im Lager gezeigt. Zu fragen ist, worin Vadim die Parallelen zu seiner Lebensgeschichte sieht. Ein Anknüpfungspunkt bietet die Verfolgungsgeschichte seiner Urgroßeltern väterlicherseits, die in einem sibirischen Lager interniert waren, in dem mehrere ihrer Kinder starben. Allerdings, so zeigen die folgenden Schritte, verliert Vadim darüber im Interview nur wenige Zeilen. Zu fragen ist daher, ob er auch seine eigene Lebensgeschichte als ähnlich dramatisch erlebt und wenn ja, warum. Der Vergleich mit einem Oscar prämierten Film würde in diesem Fall eine besondere Art der Deutung der eigenen Geschichte darstellen. Meine subjektiven Notizen nach dem Interview zeigen, dass es ihm in der Tat gelungen ist, mich mit seiner Geschichte zu faszinieren und ich ihm über drei Stunden gerne zugehört habe. Dass dies bedeutsam für ihn war, zeigt auch sein Blogeintrag, in dem er in blumigen Worten meine – von ihm ebenso wahrgenommene – Begeisterung für seine Erzählung schildert. Generell stellt das Schreiben eines Blogs eine Art der Selbstdarstellung dar. Es kann die Hypothese formuliert werden, dass es für Vadim von besonderer Bedeutung ist, seine Geschichte erzählen zu können und für diese Wertschätzung bzw. Anerkennung zu erhalten. Dazu passt auch, dass er betont, es sei ihm nicht um die Aufwandsentschädigung gegangen, sondern darum, von seinem Leben berichten zu können, was sonst ‚keiner hören wolle‘. Auffällig ist auch, wie sehr es ihm offenbar zu schaffen macht, wenn ihm ein Wort nicht einfällt. Eventuell stört dies

Fallrekonstruktion Vadim

177

seinen Wunsch und Selbstanspruch nach Perfektion. Als offene Frage kann für die folgenden Auswertungsschritte festgehalten werden, ob dieses auffällige Bedürfnis nach Gehört- und Wertgeschätztwerden auch aus dem Interview rekonstruiert werden kann und wenn ja, welche Gründe dafür gefunden werden können. Lassen sich auch Zusammenhänge mit den Themen Adoleszenz und Migration finden? 6.1.2 Analyse der biographischen Daten Anhand der Daten, die ich im Interview und im Nachgespräch (Erhebung soziodemographischer Daten) erfahren habe, habe ich ein Genogramm der Familie (siehe Abbildung 3) sowie eine Liste mit biographischen Daten in ihrer chronologischen Abfolge im Lebenslauf erstellt (siehe Tabelle 2). Ebenso wurden, wie es der Auswertungsschritt vorsieht, historische bzw. gesellschaftspolitische Daten eingeflochten, die für den Fall relevant sein könnten (vgl. Rosenthal 2010, 205). Diese sind in der Tabelle kursiv gesetzt, um sie unterscheiden zu können. Darauf habe ich zunächst Auffälligkeiten aus dem Genogramm herausgearbeitet41 und anschließend für die einzelnen biographischen Daten sequenziell Hypothesen und Folgehypothesen entworfen. Gemäß dem Ablauf der Methode fließen diese Erkenntnisse in die beiden kommenden Auswertungsschritte ein. In der Text- und thematischen Feldanalyse wird geprüft, welche Daten erzählerisch dargestellt werden und welche nicht sowie in welcher Reihenfolge dies geschieht. Und in der Rekonstruktion der Fallgeschichte dient die Analyse als ‚Hintergrundfolie‘, sodass die Ergebnisse mit den Erzählungen zu den jeweiligen biographischen Daten kontrastiert werden können (vgl. Rosenthal 1995, 217). Vermutlich um Redundanzen zu vermeiden, wird dieser Auswertungsschritt in nahezu allen Arbeiten, die mit der biographischen Fallrekonstruktion arbeiten, nicht separat dargestellt. Aus eben diesem Grund möchte ich das Vorgehen an dieser Stelle nur exemplarisch zeigen. Ich konzentriere mich dabei auf die Daten aus dem Jahr 1999, in dem die Migration unmittelbar bevorsteht und sich Vadim zugleich in der Phase der frühen Adoleszenz befindet, da diese im Besonderen das thematische Interesse der Arbeit treffen.

41 Es ist keine extensive Genogrammanalyse im Sinne von Hildenbrand (2005) erfolgt, da diese als eigenständige Analysemethode den Rahmen gesprengt hätte. Stattdessen wurden Auffälligkeiten festgehalten und einige Daten in die biographischen Daten übernommen und dort ausführlicher betrachtet. Darüber hinaus soll das Genogramm dem Leser als kompakte Veranschaulichung der familialen Konstellation dienen.

178

Abbildung 3:

Biographische Fallrekonstruktionen

Genogramm Vadim (eigene Darstellung)

Fallrekonstruktion Vadim

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Tabelle 2: Liste der biographischen Daten Datum

Alter

Familiengeschichte

noch nicht geboren

1984

0

1985

1

ab 1987

3

1989

5

Ereignis Vorfahren väterlicherseits migrieren im 18. Jahrhundert von Schwaben ins Russische Reich und leben dort in einer deutschen Kolonie Die Urgroßeltern werden 1941 nach Sibirien deportiert, wo sie in einem Straflager arbeiten müssen. Von ihren acht Kindern überleben nur drei 1957 wird Vadims Vater in einem Dorf in Sibirien geboren Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre migriert die Familie nach Kasachstan Vadims Vater macht den Mittelschulabschluss (‚russisches Abitur‘) und zieht dann ohne seine Eltern in eine große Stadt in Kasachstan Dort beginnt er ein Studium, das er nach einem Semester wieder abbricht und qualifiziert sich anschließend als Beamter im Strafvollzug In der Stadt lernt er Vadims Mutter kennen, eine Russin, die 1958 in Kasachstan geboren wurde Die Mutter ist neun Jahre zur Schule gegangen, hat eine Lehre zur Krankenschwester gemacht und wird später über Weiterqualifizierung als Erzieherin tätig Die Eltern heiraten und 1978 wird ihr erster Sohn Andrej geboren Sie leben in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem typisch sowjetischen Wohnblock Vadim wird in einer kleinen Stadt in Kasachstan geboren Vadim kommt in den Kindergarten Umzug in eine Zwei-Zimmer-Wohnung Perestroika beginnt Der Vater wechselt vom Beruf als Beamter im Strafvollzug zu einer Anstellung als Arbeiter (und verdient dort das Dreifache) Infolge der Umwälzungen im Ostblock wird die Ausreise für Russlanddeutsche erheblich erleichtert. In der Folge beginnt eine Massenauswanderung nach Deutschland. In Kasachstan wird Kasachisch Russisch als Amtssprache gleichgestellt

180

Biographische Fallrekonstruktionen

1990

6

1991

7

ab 1992

8/9

1994

10

1995

11

1998

14

1999

15

2000

16

2001

17

Der Anteil der Kasachen übersteigt erstmals den der Russen (39,7 % zu 37,8 %), kasachisch-nationalistische Bestrebungen nehmen zu Drei der vier Geschwister des Vaters beginnen, Ausreiseanträge nach Deutschland zu stellen Vadims jüngerer Bruder (Alexander) wird geboren Vadim wird (wie üblich) mit sieben Jahren eingeschult, er ist (auch in den Folgejahren) ein guter Schüler Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärt sich das Land am 16. Dezember 1991 als Republik Kasachstan unabhängig. In der Folge kommt es zu massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten (wie Inflation und Arbeitslosigkeit) Vadims Vater macht sich als Kaufmann selbstständig Später macht sich auch die Mutter mit eigenen Geschäften selbstständig Ab 1994 reisen insgesamt drei der vier Geschwister des Vaters mit ihren Familien nach Deutschland aus Vadims Familie stellt einen Ausreiseantrag Der ältere Bruder Andrej macht seinen Mittelschulabschluss und beginnt eine Lehre im technischen Bereich Andrej heiratet und zieht aus der Zwei-Zimmer-Wohnung aus Die Familie bekommt die Nachricht, dass sie nach Deutschland ausreisen kann, aber zuvor noch einige Papiere besorgt werden müssen – mit diesen gibt es jedoch Probleme Vadim ist Mitglied der Musicalkompanie an seiner Schule. Aufgrund seiner Erfolge wird er in eine private Musicalgruppe aufgenommen, die für Geld bei Firmen und Geburtstagen auftritt Vadim zeigt jugendkulturelle Verhaltensweisen (Liebesbeziehungen, Alkohol, Drogen) Mit Beginn der zehnten Klasse werden die Noten schlechter Vadim kommt mit Natascha zusammen, die ebenfalls ein deutsches und ein russisches Elternteil hat Im Sommer macht Vadim den Mittelschulabschluss (‚russisches Abitur‘)

Fallrekonstruktion Vadim

2002

18

2003

19

2004

20

181

Zwei Wochen danach reist die Familie aus (Mutter, Vater, die drei Söhne und die russische Frau des älteren Bruders) Vadims Mutter lässt ihre Schwester und ihre Mutter zurück Mehrere Tage verbringen sie in der Aufnahmestelle in Friedland, darauf bekommen sie eine Sozialwohnung in einer mittelgroßen Stadt zugewiesen, in der ihre Verwandten bereits seit ein paar Jahren leben Im September beginnt Vadim einen 10-monatigen Integrationssprachkurs Auch die anderen Familienmitglieder machen Sprachkurse, der jüngere Bruder Alexander kommt auf eine Realschule Neben dem Kurs jobbt Vadim auf 400-Euro-Basis Seine Freundin Natascha siedelt mit ihrer Familie nach Deutschland aus. Vadim fährt ca. alle zwei Monate zu ihrem neuen Wohnort Ab September folgt ein viermonatiger Kurs bei der Otto Benecke Stiftung42, zu dem Vadim pendeln muss Natascha trennt sich von Vadim Im Sommer beginnt er mit dem Studienkolleg Vadim zieht ohne seine Familie in eine Großstadt und lebt dort in einem Studentenwohnheim Er bekommt BAföG Der ältere Bruder Andrej wird Vater VadimsVater bekommt eine Anstellung als Krankenpfleger Die Mutter fängt als Servicekraft in einer Einrichtung an (hilft in der Küche und putzt) Vadim leidet ebenso wie seine Mutter an depressiven Verstimmungen, der Vater und der jüngere Bruder haben Allergien entwickelt Vadim muss das erste Jahr des Studienkollegs wiederholen Der ältere Bruder Andrej findet eine Anstellung über eine Zeitarbeitsfirma

42 Die Otto Benecke Stiftung bietet in Deutschland an verschiedenen Standorten Sprachkurse an, sodass auf eine Anonymisierung des Namens verzichtet wird.

182

Biographische Fallrekonstruktionen

Vadim kommt mit der 23-jährigen Galija zusammen (diese ist im Jahr 2000 mit ihrer Familie als Spätaussiedlerin von Russland nach Deutschland migriert) Vadim macht Urlaub in seiner Geburtsstadt in Kasachstan 2005 21 Er zieht mit Galija zusammen, die in der Großstadt ein Studium beginnt Vadim schließt das Studienkolleg mit dem Abitur ab Er bewirbt sich für das Studium der Medieninformatik an einer Fachhochschule in der Großstadt und wird ab2006 22 gelehnt Er beginnt, Informatik an der Universität zu studieren Vadim zieht mit Galija in eine größere Wohnung um Nach dem Sommerssemester bricht er das Informatikstudium ab Vadim und Galija heiraten Er fängt an, auf Russisch einen Blog im Internet zu schreiben 2007 23 Vadim bewirbt sich im Wintersemester wieder für das Studium der Medieninformatik an der Fachhochschule und wird erneut abgelehnt Durch einen Widerspruch kann er doch mit dem Studium beginnen Galija wird schwanger und bricht ihr Studium ab 2008 24 Mitte Oktober findet das Interview statt Anfang des nächsten Jahres wird ihr Kind geboren Quelle: eigene Darstellung Exemplarische Analyse

1999

15 Jahre

Die Familie bekommt die Nachricht, dass sie nach Deutschland ausreisen kann, aber zuvor noch einige Papiere besorgt werden müssen – mit diesen gibt es jedoch Probleme

1999 erfährt Vadim im Alter von 15 Jahren, dass seine Familie und er nach Deutschland ausreisen können, sich der Zeitpunkt dafür jedoch noch etwas hinziehen wird, da zunächst Papiere besorgt werden müssen, was sich als schwierig gestaltet. Vadim weiß somit, dass sie Kasachstan demnächst verlassen werden und

Fallrekonstruktion Vadim

183

er seine Freunde, einige Verwandte (wie Oma und Onkel) und die gewohnte Umgebung zurücklassen muss. Zugleich weiß er aber nicht, wann genau dies stattfinden wird. Somit befindet er sich in einer Art Schwebezustand, den er nicht aktiv steuern kann. Eine Option angesichts dieser Konstellation wäre, dass Vadim ablehnend auf die möglich werdende Ausreise reagiert. Als Folgehypothese kann formuliert werden, dass es zu Konflikten mit den Eltern oder auffälligen Verhaltensweisen kommen könnte. In diesem Zusammenhang könnte er z.B. die Schule vernachlässigen (auch mit dem Gedanken, dass er eh in Kürze nicht mehr da sein wird und der Einsatz sich nicht mehr lohnt. Daraufhin würden sich die Noten verschlechtern.) Die gegensätzliche Reaktion wäre, dass er mit Vorfreude auf die nach vier Jahren endlich in Aussicht gestellte Ausreise reagiert. Dies würde sich z.B. durch vorbereitende Maßnahmen, wie dem Erlernen der deutschen Sprache, zeigen. Zu fragen ist jedoch, wie lange diese Vorfreude aufrechterhalten werden kann, falls sich der Zeitpunkt der Migration noch stark verzögern sollte. In beiden Fällen kann der beschriebene Schwebezustand als belastend empfunden werden. Mit 15 Jahren befindet Vadim sich in einem Alter, in dem Freundschaftsbeziehungen für gewöhnlich hohe Relevanz besitzen. Durch das Wissen, die Peers bald verlassen zu müssen, könnte er den Kontakt bereits zu diesem Zeitpunkt reduzieren oder abbrechen, um die Trennung zu erleichtern oder da die Vorfreude auf die Migration so stark ist, dass er das alte Leben ‚hinter sich lassen möchte‘. Ebenso wäre eine gegenteilige Art des Umgangs mit der Situation denkbar, nämlich eine Intensivierung der Beziehungen, im Sinne eines ‚Auskostens‘ so lange es noch geht oder aber auch als Zeichen der Rebellion gegen die geplante Migration.

1999

15 Jahre

Vadim ist Mitglied der Musicalkompanie an seiner Schule. Aufgrund seiner Erfolge wird er in eine private Musicalgruppe aufgenommen, die für Geld bei Firmen und Geburtstagen auftritt Vadim zeigt jugendkulturelle Verhaltensweisen (Lieesbeziehungen, Alkohol, Drogen) Mit Beginn der zehnten Klasse werden die Noten schlechter

Eben zu der Zeit, in der Vadim von der bevorstehenden Migration erfährt, wird sein schauspielerisches Talent in besonderem Maße anerkannt und honoriert. Vadim erhält die Möglichkeit, einer professionellen Musicalgruppe beizutreten, die sogar Geld für ihre Auftritte erhält. Er nutzt die Gelegenheit, obgleich er nicht

184

Biographische Fallrekonstruktionen

wissen kann, wie lange er noch in Kasachstan verbleibt. Es findet also keine Abkehr von sozialen Beziehungen in Kasachstan statt, Vadim verortet sich im Gegenteil sogar noch stärker. Eine mögliche Folge kann sein, dass ihm die Möglichkeit des Auslebens seiner Leidenschaft dazu bringt, nicht ausreisen zu wollen. Auffällig ist des Weiteren, dass er genau in dem Jahr, in dem er von der nahenden Ausreise erfährt, jugendtypische Verhaltensweisen zeigt. Dabei ist er mit 15 Jahren noch recht jung, wenn es um den Konsum von Alkohol und Haschisch geht. Eine Folgehypothese von oben aufgreifend ist es möglich, dass Vadim das Leben in Kasachstan nun noch einmal voll auskosten will. Die starke Peer-Orientierung könnte aber auch für eine Abkehr von der Familie und ihren Migrationsplänen stehen und eine Art Rebellion gegen diese bedeuten. Folglich ist denkbar, dass die Noten deswegen schlechter werden, weil ihn sein Freizeitverhalten vom Lernen abhält. Dies wäre auch dann möglich, wenn dieses Verhalten rein alterstypisch auftritt und kein Zusammenhang mit der Migration bestünde. Weiter wäre vorstellbar, dass Vadim es angesichts der nahenden Ausreise nicht mehr für lohnend erachtet, sich in Kasachstan schulisch zu engagieren. Offen bleibt zu diesem Zeitpunkt, ob ein und wenn welcher Zusammenhang zwischen der nahenden Migration und den für die Frühadoleszenz typischen Verhaltensweisen besteht. Treffen diese ‚zufällig‘ zeitlich zusammen oder ist das auffällige Verhalten als Folge des Wissens um die Migration und eventuell auch als eine Art Ablehnung bzw. Rebellion zu deuten? Diese offenen Fragen werden in den folgenden Schritten weiterverfolgt. In der Text- und thematischen Feldanalyse wird betrachtet, an welcher Stelle, in welchem Zusammenhang und auf welche Weise Vadim von dieser Phase berichtet. In der Rekonstruktion der Fallgeschichte werden die Daten dann mit den dazugehörigen Erzählungen kontrastiert. 6.1.3 Text- und thematische Feldanalyse Bei diesem Analyseschritt geht es um die Herausarbeitung der Gegenwartsperspektive (‚erzählte Lebensgeschichte‘) und die Frage, welche Mechanismen dabei die Auswahl und Ausgestaltung sowie die temporale und thematische Verknüpfung der biographischen Selbstpräsentation steuern (vgl. Rosenthal 1995, 218). Dabei wird sowohl einbezogen, wie der Erzähler sich bewusst darstellen will, aber auch, wie die Erzählung latent gesteuert wird. Nachdem Vadim mit seiner Selbstpräsentation begonnen hat, kommt er nach vierzig Zeilen in Erzählschwierigkeiten, aus denen er sich durch die Nachfrage befreit, an welchen Stellen er ins Detail gehen solle. Die Interviewerin begegnet dieser gänzlich offen („Überall, wo du möchtest“, Zeile 42), worauf er etwa 50

Fallrekonstruktion Vadim

185

Minuten weiterspricht. Anhand der ersten Zeilen bis zu dieser Zwischenaushandlung wird das Vorgehen extensiv aufgezeigt, um das Verfahren nachvollziehbar zu machen43. Der Intervieweinstieg ist dabei für eine ausführliche Darstellung besonders geeignet, da angenommen wird, dass die Sinnstruktur einer Biographie dort bereits im Ansatz enthalten ist (vgl. Schlüter 2008, 213). Die Analyse der folgenden 50-minütigen Selbstpräsentation wird aufgrund des Umfangs in geraffter Form nachgezeichnet. Vorausgegangen ist die Sequenzierung der gesamten Haupterzählung anhand der unter 5.5 beschriebenen Kriterien. Feinanalyse der Eingangsfrage44 Zu Beginn soll die Eingangsfrage der Interviewerin betrachtet werden, um deutlich zu machen, was durch diese transportiert wird und wie Vadims Erzählung davon beeinflusst werden könnte. „I: Ja, also ich interessier mich für die, für die Lebenswege von Spätaussiedlern [mh] und ich würd dich bitten, dass du mir mal deine Geschichte erzählst, [mh] alles, was du wichtig findest“ (Zeile45 1-3)

Der Frage geht ein „Ja, also“46 voraus, das eine Abgrenzung zum zuvor geführten Smalltalk und den Auftakt für das Interview darstellen oder ebenso wie das wiederholte „für die“ Ausdruck einer kleinen Unsicherheit am Anfang sein kann. Inhaltlich spricht die Interviewerin von einem Interesse für Lebenswege von Spätaussiedlern. Damit macht sie deutlich, dass dieser Hintergrund entscheidend für die Fallauswahl ist. Vadim wurde aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Spätaussiedler für die Forschung ausgewählt. ‚Spätaussiedler‘ stellt einen spezifischen Status dar, der durch die Ausreise in Kraft tritt. In den ehemaligen Ländern der Sowjetunion werden sie nicht mit diesem Begriff bezeichnet, sondern z.B. als Deutsche, Deutsche aus Russland oder Russlanddeutsche. Dadurch wird 43 Um der Lesbarkeit Willen wird auch hierfür eine leicht verkürzte Variante gewählt, sodass nicht alle denkbaren Lesarten und Folgehypothesen dargestellt werden. Die von mir zuvor vollständig durchgeführte Analyse berücksichtigt diese zwar, würde aber keinen gut lesbaren Fließtext ergeben (vgl. auch Breckner 2009, 222). 44 Dies gibt auch einen exemplarischen Einblick in den Auswertungsschritt 4, die Feinanalyse einzelner Textstellen, der zu jeder Zeit sowohl in Schritt 2 als auch 3 für bedeutsam erscheinende Sequenzen vorgenommen werden kann. 45 Im Kommenden wird auf das Wort ‚Zeile‘ verzichtet. Alle Angaben hinter Zitaten, die lediglich eine Zahl enthalten, beziehen sich auf die Zeile im Interviewtranskript. 46 Hier und auch im Folgenden werden die konkreten Zeilen nicht angegeben, wenn die zitierten Stellen aus einer Passage stammen, die zuvor gesamt wörtlich wiedergegeben und belegt wurde. Einzelne Stellen hingegen, die unabhängig davon zitiert werden, sind durch Zeilenangaben ausgewiesen.

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Biographische Fallrekonstruktionen

deutlich, dass es nur um diejenigen geht, die nach Deutschland migriert sind, wodurch das Thema Migration eine besondere Bedeutung erhält. Die männliche Form lässt vermuten, dass es speziell um Männer geht. Das Wort Lebensweg ist recht offengehalten. Es geht um das ganze Leben, nicht nur um einen Aspekt, wie die Kindheit. Das Bild des Weges lässt an Bewegung denken, etwas das voranschreitet, das aber nicht gradlinig verlaufen muss, denn auf Wegen gibt es Abzweigungen, manchmal sind es zwei Wege, zwischen denen man wählen kann oder muss. Durch die Pluralformulierungen kommt zum Ausdruck, dass sich die Interviewerin nicht nur für ihn als Individuum, sondern für die Gruppe der Spätaussiedler interessiert. Bei der Mehrzahl des Wortes Lebensweg schwingt zudem mit, dass es ganz unterschiedliche Ausgestaltungen geben kann. Nach der allgemein gehaltenen Formulierung spricht sie den Interviewpartner noch einmal direkter an: „würd dich bitten, dass du mir mal deine Geschichte erzählst“. Als Bitte wird formuliert, dass er ‚seine‘ Geschichte erzählen möge. Das Wort Geschichte in Abgrenzung zum Lebensweg lässt noch stärker den Gedanken der Narration hervortreten. Das Wort kann die Assoziation hervorrufen, dass ein Anfang, eine Entwicklung und ein Ende konstitutiv sind. Vadim wird exemplarisch für die Gruppe der Spätaussiedler angesprochen, der aus der großen Menge an Lebenswegen nun seine spezifische Geschichte erzählen möge; seine Geschichte (Singular) exemplarisch für Lebenswege von Spätaussiedlern (Plural). In diesem Teil des Satzes tritt viermal ein Personalpronomen in der 2. Person Singular auf („dich“, „du“, „deine“, „du“), was unterstreicht, dass es nun speziell um ihn und seine Sichtweise geht. Auch wenn der Erzählstimulus keinen konkreten Anfangs- oder Endpunkt vorgibt, könnte die Erwähnung des Interesses an Spätaussiedlern als thematische Eingrenzung wirken. Der Fokus auf diese Gruppe wurde aber bereits im Voraus deutlich, da speziell nach Spätaussiedlern gesucht wurde und hätte vermutlich auch dann Einfluss genommen, wenn der Begriff nicht noch einmal explizit in der Eingangsfrage genannt worden wäre. Durch die Formulierungen „deine Geschichte“ und „was dir wichtig ist“ wird die mögliche Begrenzung hingegen etwas aufgeweicht, da die konkrete Wahl des zu Erzählenden dem Interviewpartner zugesprochen wird. Er wird zum Entscheider ernannt, der nach seinen Relevanzkriterien vorgehen soll. Die höfliche Formulierung „würd dich bitten“ kann die Zumutung, solch eine große Geschichte erzählen zu sollen, als weniger bedrängend erscheinen lassen (ebenso das eher umgangssprachliche „mal“) und die Option eröffnen, dies auch abzulehnen. Darüber hinaus fällt auf, dass die Interviewerin den Interviewpartner duzt. Dies könnte auf eine Vertrautheit, eine Ähnlichkeit (im Status und/oder Alter) oder

Fallrekonstruktion Vadim

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auch auf ein Machtgefälle hindeuten (als Angehörige des akademischen Mittelbaus duzt sie den Studenten, der sie wiederum siezt). Durch die wiederholten Bestätigungen Vadims in Form von „mh“ ist bereits die Eingangsfrage interaktiv. Er lässt erkennen, dass er zuhört, aufnimmt und die Frage verstanden hat. Dennoch bleibt offen, wie er auf diese reagieren wird. Obgleich die Eingangsfrage nur knapp drei Zeilen umfasst, werden – wie gezeigt – unterschiedliche Botschaften vermittelt, sodass der Interviewpartner verschiedenste Einstiegsmöglichkeiten hat, die im Folgenden gedankenexperimentell entworfen werden: 1. 2.

3.

4.

5.

6.

Vadim könnte die Bitte, zu erzählen, ablehnen. Es könnte eine Rückfrage erfolgen, die sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen könnte, wie den Ablauf des Interviews (‚Kannst du nicht konkrete Fragen stellen?‘), zum Interesse der Interviewerin (‚Findest du wirklich alles interessant, was ich zu erzählen hätte?‘) oder zum Einstiegspunkt (‚Wo soll ich genau anfangen?‘). Im Folgenden käme es zu einem Aushandlungsprozess zwischen Interviewerin und Interviewtem. Vadim könnte – eventuell nach einem kurzen Moment des Innehaltens – die Rederolle übernehmen und zu erzählen beginnen. Dabei könnte er vor allem den letztgenannten Aspekt aufnehmen und mit einem (beliebigen) Ereignis oder Thema aus seinem Leben beginnen, das für ihn besonders „wichtig“ ist. Wählt er ein Ereignis, wird vermutlich eine Erzählung folgen, bei einem Thema könnte es zu einer Argumentation kommen. Eine weitere Variante wäre, dass Vadim bei seiner Geburt beginnt oder dem Zeitpunkt seiner ersten Erinnerung und von da an (chronologisch) seine „Geschichte“ erzählt. Je nach eigener Relevanzsetzung könnten die Themen ‚Spätaussiedler‘ und ‚Migration‘ dabei mehr oder weniger stark ausgebaut werden. Im Extremfall könnte er seinen Lebensweg so erzählen, dass das Spätaussiedlersein kaum Erwähnung findet. Wenn es zu einer solch ausführlichen Eingangserzählung kommt, wird diese vermutlich in der Textsorte der Erzählung formuliert. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er bereits zu Beginn des Interviews besonderen Bezug auf den Status des Spätaussiedlers nimmt und daher mit der Auswanderung oder deren Planung beginnt, durch die dieser Status (erst) besondere Relevanz erhalten hat. In Hinblick darauf könnte Vadim auch noch früher beginnen und zwar mit der Geschichte seiner Familie und die historische Entwicklung von der Einwanderung nach Russland bis zur Auswanderung nach Deutschland aufzeigen. Dann würde er aber vermutlich nicht den Begriff Spätaussiedler verwenden, sondern von Deutsch oder Russlanddeutsch sprechen. Beide Punkte

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7.

8. 9.

Biographische Fallrekonstruktionen könnten entweder dadurch motiviert sein, dass er dem der Interviewerin unterstellten Interesse gemäß antworten möchte oder dass diese Zugehörigkeit für ihn (und seine Familie) tatsächlich von großer Bedeutung ist. Angesichts gesellschaftlicher Diskurse zum Thema ‚Spätaussiedler‘, die oftmals die Legitimation der Einreise infrage stellen, könnte Vadim Rechtfertigungen dafür anführen, warum er in Deutschland ‚sein darf‘. Dies würde vermutlich in der Textsorte der Argumentation erfolgen. Sollte er sich vor allem als Exempel angesprochen fühlen, könnte er Verbindungen zu der Geschichte der Spätaussiedler im Allgemeinen herstellen und explizit als Vertreter der Gruppe sprechen, eventuell sogar im Plural. Bezogen auf die maskuline Formulierung (und eventuell angesichts einer weiblichen Interviewerin) könnte Vadim seine Männlichkeit in der Erzählung besonders herausstellen.

Der Einstieg – Eine Selbstverortung, die sogleich brüchig wird 1. Sequenz „V: Naja, ich fang schon mal äh mit meiner Ur-, Ur-, wie wir so, [mh] /betont:/ ich bin ein Deutscher. [mh] Äh, ich bin halb Deutscher, halb Russe. Meine Mutter is- ist Russin und Vater ist deutsch. [mh] Und komplett deutsch, wie ich sag, weil er, die beide Eltern waren deutsch. [mh]“ (4-7)

Vadim beginnt ohne Rückfragen und kündigt einen Einstieg mit seiner Familiengeschichte an. Er beginnt nicht, wie es häufig in biographischen Interviews der Fall ist, mit einer zeitlichen Einordnung, etwa über das Geburtsjahr. Die Sequenz steht in der Textsorte der Beschreibung, das heißt, dass er zunächst einen Zustand darstellt. Das „schon mal“ könnte dafürstehen, dass er zunächst bei der Vorgeschichte anfangen und dann zu sich kommen möchte, was der Einstiegsvariante 6 entsprechen würde. Dabei führt er das Wort „Ur-, Ur-“ auch nach zwei Ansätzen nicht zu Ende. Es könnte sich auf eine konkrete Person, wie die URoma, auf eine größere Gruppe, wie die URahnen oder eventuell auch einen Umstand, die URsache (wobei dann die grammatikalische Konstruktion fehlerhaft wäre), beziehen und die Funktion haben, historisch zu erklären, warum er heute als Spätaussiedler in Deutschland lebt: nämlich infolge der Aussiedlung seiner Vorfahren nach Russland. Nach dem Abbruch geht er jedoch zu dem Personalpronomen „wir“ über, wodurch ein Bezug von der Geschichte zur heutigen Familie hergestellt werden könnte, doch auch das bricht er ab und benennt zunächst seine Zugehörigkeit: „/betont:/ ich bin ein Deutscher“ Vadim nimmt hier, unterstützt durch die Art der Aussprache, eine deutliche Definition seiner Zugehörigkeit vor. Dabei bezieht er

Fallrekonstruktion Vadim

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sich sprachlich auf einen Status, ein Sosein und geht an dieser Stelle nicht so sehr auf ein Empfinden von Zugehörigkeit ein (‚ich bin‘ – statt z.B. ‚ich fühle mich als‘). Das eingeführte ‚Ich‘ wird als erstes mit einer bestimmten Eigenschaft charakterisiert. Dabei verwendet er nicht das Wort Spätaussiedler, sondern bezeichnet sich als Deutschen. Er positioniert sich damit in einer Weise, die der Ausreise als Bedingung zugrunde liegt, denn um Spätaussiedler werden zu können, muss man ‚deutsch‘ oder zumindest ‚halb-deutsch‘ sein. Wenn es (nur) darum ginge, seinen Status als Spätaussiedler zu belegen und/oder zu rechtfertigen, wie These 7 es erläutert, hätte die Angabe zur deutschen Abstammung ausgereicht, es folgt jedoch eine Einschränkung oder nähere Bestimmung: „Äh, ich bin halb Deutscher, halb Russe. Meine Mutter is- ist Russin und Vater ist deutsch. [mh] Und komplett deutsch, wie ich sag, weil er, die beide Eltern waren deutsch. [mh]“ Statt von den Ur-Ahnen spricht er nun von seinen Eltern. Dennoch bleibt das Thema der genealogischen Herkunft bedeutsam, denn er verknüpft seine Zugehörigkeit nicht mit einem Pass oder Land, sondern mit der ethnischen Zugehörigkeit von Mutter und Vater, die auf ihn je zu einem Teil übergegangen sei. Im Gegensatz zu seinem Vater, der durch zwei deutsche Elternteile „komplett deutsch“ sei, sei er es nur „halb“. Er bindet die Zugehörigkeit an das Abstammungsprinzip. Offenbar gibt es dabei ‚Abstufungen‘ des Deutschseins, wobei noch nicht deutlich wird, inwieweit oder worauf sich dies auswirkt. Zugleich findet eine Differenzierung statt: Seine Eltern unterscheiden sich durch ihre verschiedenen Zugehörigkeiten und er wiederum unterscheidet sich von ihnen, da er nach dieser Definition jeweils nur halb die Zugehörigkeit von Mutter und Vater teilt. Vadim will sich zu Beginn klar verorten, die Setzung „ich bin ein Deutscher“ wird jedoch schon im Folgesatz wieder beschränkt. Dass er die russische Seite erwähnt, obgleich diese in Hinblick auf den offiziellen Status des Spätaussiedlers keinen Einfluss hat, lässt vermuten, dass (auch) diese Zugehörigkeit Relevanz für ihn besitzt. Vadim benennt seine Zugehörigkeit in Abhängigkeit von der Abstammung, wobei der begründende Charakter auffällt. Es stellt sich nun die Frage, warum Vadim seine Selbstpräsentation mit diesen Sätzen, mit diesem Inhalt und in dieser Textsorte beginnt. Im Folgenden werden Lesarten aufgestellt und je Folgehypothesen über einen möglichen Anschluss formuliert, die im Weiteren mit dem tatsächlichen Verlauf kontrastiert werden. 1.

Vadim könnte mit dieser Selbstdefinition beginnen, um der Interviewerin zu signalisieren, dass er zu jenen Spätaussiedlern gehört, die sie sucht. Wenn dies das einzige Anliegen dieser beschreibenden Sequenz wäre, könnte darauf die narrative Ausführung ‚seiner‘ Geschichte folgen.

190 2.

3.

4.

5.

Biographische Fallrekonstruktionen Der Einstieg könnte auch darüber hinaus dem Interviewkontext und der Anrufung durch die Interviewerin geschuldet sein: Vadim könnte über das Thema der Zugehörigkeit sprechen, da er annimmt, dass diesem das zentrale Interesse der Interviewerin gilt. Wenn es sein Hauptanliegen ist, diesem vermuteten Interesse gerecht zu werden, würden auch die folgenden Sequenzen seine Zugehörigkeit und sein Leben als ‚Halb-Deutscher‘ in Deutschland und/oder Kasachstan zum Thema haben. Der gewählte Einstieg kann einem Rechtfertigungscharakter in Hinblick auf gesellschaftliche Diskurse entspringen: Ich darf hier sein, weil ich Deutscher bin (zumindest ‚halb‘). Angesichts des latent mitschwingenden Begründungscharakters der Sequenz, könnte diese den Auftakt einer Argumentation dazu bilden, warum er und seine Familie nach Deutschland migriert sind. Nach der Klärung könnte Vadim ebenfalls zu ‚seiner‘ Geschichte übergehen. Das relevante Thema der Sequenz könnte Zugehörigkeit sein. Im Kontext unterschiedlicher Zugehörigkeiten steht für Vadim die Frage ‚Wer bin ich?‘ im Zentrum, wobei deutlich wird, dass die Bestimmung dessen nicht eindimensional möglich ist. Dieser Aspekt könnte sich auch mit der Frage ‚Wohin gehöre ich?‘ verbinden. Stellt die Zugehörigkeit das Thema dar, das Vadim aktuell besonders beschäftigt (oder auch schon immer beschäftigt hat), könnte er seine gesamte Lebensgeschichte unter der Überschrift ‚ich bin halb Deutscher, halb Russe‘ oder aber auch ‚der Wandel meiner Zugehörigkeit‘ erzählen. In diesem Falle kann die Folgehypothese formuliert werden, dass er immer wieder auf seine (ethnische) Zugehörigkeit zu sprechen kommen wird. Denkbar ist allerdings auch, dass der Einstieg der gegenwärtigen Situation geschuldet ist. Für die Einreise nach Deutschland spielt die deutsche Zugehörigkeit die entscheidende Rolle. In der Sowjetunion der 1980er und dem Kasachstan der 1990er-Jahre hingegen war die andere ‚Seite‘, die russische, wesentlich entscheidender und bewusster (siehe Kap. 1). Dafür sprechen auch ganz klar die biographischen Daten des Falles Vadim. Die Ausreise und Ausreisebedingungen aber bringen die Notwendigkeit hervor, sich als deutsch zu positionieren, obwohl man sich mindestens noch einer zweiten kollektiven Gruppierung zugehörig fühlt bzw. sich bisher vor allem oder nur als Teil dieser verstanden hat. Wenn diese Perspektive im Mittelpunkt steht, könnte dies zu einer Selbstpräsentation führen, in der ‚Umschreibungen der Vergangenheit‘ (vgl. Rosenthal 2010, 202) vorgenommen werden und z.B. die Relevanz der russischen ‚Anteile‘ in Kindheit und Jugend verdeckt werden. Vermutlich wird dann auch nur die väterliche (deutsche) Seite weiter erzählerisch ausgebaut.

Fallrekonstruktion Vadim

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6.

Wäre dieser Einstieg hingegen durch die „Vergangenheitsperspektive“ (ebd., 208) bestimmt, wären der deutsche Vater und die eigene Mehrfachzugehörigkeit schon das lebensbestimmende Thema in Kasachstan gewesen. In dem Fall würde er im Folgenden ausführen, wie dies sein Aufwachsen bestimmt hat. Trifft diese Hypothese zu, sind weitere Textpassagen zu diesem Thema zu erwarten. 7. Geht es Vadim darum, zunächst die Familiengeschichte im historischen Kontext darzustellen, damit seine Geschichte später besser verständlich ist, würden weitere Ausführungen zu den Eltern oder Großeltern anschließen. 8. Wenn das Thema Migration im Mittelpunkt steht, könnte Vadim sich mit seiner Betonung des Deutschseins von anderen Migranten abgrenzen wollen. Dann würde er auch im weiteren Verlauf immer wieder bemüht sein, sich von den ihm – seiner Annahme nach – zugeschriebenen Fremdbildern sowie von anderen Migrantengruppen abzuheben. 9. Das zugrundeliegende Thema könnten auch die Unterschiede zwischen dem Deutsch- und Russischsein sein. In diesem Falle würde Vadim nun herausstellen, was die jeweilige Seite ausmacht, wofür er vermutlich die Textsorte der Beschreibung wählen würde. 10. Zentrales Thema der Sequenz könnten auch die Eltern sein, vor allem in Hinblick auf ihre unterschiedlichen Zugehörigkeiten. In den nächsten Zeilen würde dann vermutlich eine detailliertere Vorstellung von Mutter und Vater erfolgen. 11. Als letzte Lesart sei genannt, dass das Thema Andersartigkeit im Mittelpunkt der Sequenz stehen könnte. Zum einen in Bezug zur autochthonen (duzenden) Interviewerin. Mit der deutlichen Setzung ‚ich bin deutsch‘ könnte der Wunsch verbunden sein, sich als ‚gleich‘ zu präsentieren, was jedoch wieder eingeschränkt werden muss. Im Weiteren könnten sich erneut Auffälligkeiten in der Interaktion und Bezugnahme zeigen. Die Andersartigkeit könnte sich auch auf die Eltern beziehen, denn im Gegensatz zu ihm seien sie jeweils „komplett“ russisch oder deutsch. Dann würden diese Differenzen im Folgenden vermutlich argumentativ oder beschreibend ausgeführt. 2. Sequenz „Und äh, ja meine Vorfahren kamen aus, ich glaube aus äm (.) süddeutsche Stadt, [aha] diese Umgebung. Weil äh mh die Sprache, die mein Vater spricht [lacht leise auf] und mein Opa, es ist ja so saxonisch oder wie heißt man äm nochmal? Beziehungsweise Schwabisch, [mh] Schwabisch, ja. Und äh es is schon mal ganz ähnlich“ (7-10)

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In der folgenden Beschreibung baut Vadim die deutsche Familienvergangenheit aus. Dabei spricht er zunächst allgemein von seinen Vorfahren, geht dann aber (zunächst?) nur auf die väterliche Linie ein. Die russische Familienvergangenheit und Zugehörigkeit der Mutter stehen völlig im Hintergrund. Es ist denkbar, dass in den folgenden Sequenzen dann die Geschichte der mütterlichen Linie folgt, an dieser Stelle kann aber festgehalten werden, dass er sich entschieden hat, mit der deutschen Vergangenheit seines Vaters zu beginnen, wobei noch offen ist, ob dies auch eine spezifische Relevanzsetzung bzw. Priorisierung (etwa in Zusammenhang mit Zugehörigkeit, Männlichkeit oder emotionaler Verbundenheit) umfasst. Dabei basiert der Ausbau der deutschen Vergangenheit auf Ungewissheiten. Zweimal verwendet Vadim die Unsicherheit einschließende Formulierung „ich glaube“. Auch hat er Schwierigkeiten, die „Sprache“ des Vaters genau zu benennen. Es wird nicht unmittelbar verständlich, was er mit dem Wort saxonisch meint. Dies könnte sich auf die englische Übersetzung für das Wort ‚sächsisch‘ beziehen. Durch den folgenden Satz ist anzunehmen, dass er dieses Wort nicht gemeint hat, sondern nach dem Wort ‚schwäbisch‘ gesucht hat. Ebenfalls uneindeutig ist, worauf er sich mit dem Adjektiv „ähnlich“ bezieht. Denkbar ist, dass er aussagen möchte, dass der Dialekt der väterlichen Seite der deutschen Sprache ähnlich ist, wodurch er erneut die Zugehörigkeit bestärkt. Indem er Fakten anführt (Sprache, Herkunftsregion) möchte er seine deutschen Wurzeln untermauern, diese bleiben jedoch vage. 3. Sequenz „Und die sind nach Deutschland gekommen äh, ich glaube im achtzehnte Jahrhundert [mh] äm und dann so eine Kommune gegründet und da waren alle deutsch. [mh]“ (1012)

Knapp und schemenhaft gibt Vadim allgemeine Eckpunkte russlanddeutscher Historie an, die so auch in offiziellen Texten zur Geschichte dieser Gruppe zu finden sind (z.B. Ingenhorst 1997; Schmitt-Rodermund 1999). Er will seine Familie damit in den allgemeinen historischen Kontext einbetten und deutlich machen, dass es sich um eine abgeschlossene deutsche Gemeinschaft gehandelt habe. Es geht nicht um die Vorfahren als konkrete Personen, daher erfolgen auch keine persönlichen Formulierungen. Besonders auffällig ist der Versprecher in Zeile 10. Er sagt, zudem betont, „Deutschland“, inhaltlich muss aber Russland gemeint sein. Dies verdeutlicht die Relevanz des Landes. Es kommt quasi zu einer Vermischung der Ausreise der Vorfahren und seiner Einreise nach Deutschland. Der Versprecher verdeutlicht noch einmal, dass die zum aktuellen Zeitpunkt entscheidenden

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Faktoren der Selbstpräsentation das Deutschsein und die ‚Rückkehr‘ sind. Im Mittelpunkt beider Sequenzen steht die Familiengeschichte (Lesart 7), doch auch die anderen können noch nicht ausgeschlossen werden. 4. Sequenz „Und vor dem Krieg äh, (.) äh, naja hat der Stalin damals so gemacht, [mh] dass die äm (.) potentielle Deutsche, die äm hier in Russland wohnen, mussen [mh] nach Sibirien. [mh] Weil äh schon mal der dachte, dass äh die auch zum äh Faschisten dann [mh] zu schließen und dann wird das ganz eng. Und die mussten dann äh nach Sibirien [mh] äh und naja, nicht in besten Bedingungen. [ja] Die wurden, naja, wie äh, ich, ich sag ja nicht wie Sklaven, sondern äh die waren äm (.) /schnalzt/ ja Vertriebene, nicht vertrieben, naja, wie im Knast [mh] geworfen. Also, und die Eltern haben gearbeitet und die Waffen gemacht und so [mh] und die Kleinen, (.) die waren auf der Straße. [mh] Und die konnten kein Russisch, [ja] weil die al-alle Deutsch sprachen. Und äm, (.) dann äh, naja, die sind ja aus acht äh Kindern drei überleben, [oh Gott] eine davon ist mein Opa. [mh]“ (12-22)

Thema dieser Sequenz ist das Leiden der Deutschen rund um die Deportationen zu Beginn der 1940er-Jahre. Es hat ein großer Sprung von der Auswanderung und den deutschen Kommunen ins 20. Jahrhundert stattgefunden. Damit bedient Vadim sich eines typischen Erzählmusters russlanddeutscher Kollektivgeschichte (vgl. Rosenthal/Stephan 2009, 170). Bis auf den letzten Satz handelt es sich um eine allgemeine Wiedergabe der historischen Begebenheiten in Berichtsform. Da es um Ereignisse geht, die er nicht selbst erlebt hat, ist es nicht verwunderlich, dass er diese Form wählt anstatt detaillierter szenischer Erzählungen. Dass ihm von diesen Ereignissen bereits vor der Ausreise erzählt wurde, kann aufgrund der Formulierung „hier in Russland“ angenommen werden. Es kann jedoch nicht gesagt werden, ob es seit jeher Thema in der Familie war oder erst im Zuge der Aussiedlungspläne dazu gemacht wurde. Die Sequenz verdeutlicht, dass die deutsche Zugehörigkeit zum Grund für Verfolgung und Leiden wurde. Erneut wird auch die Sprache thematisiert. Angesichts der Dramatik erscheint seine Erzählweise zunächst wenig emotional. Auffällig ist jedoch z.B., dass er einmal ins Präsens wechselt („dann wird das ganz eng“) und sich die Dramatik der Geschehnisse auch in der Interaktion wiederfindet, so kommentiert die Interviewerin dies nicht nur, wie es im Interview sonst zu finden ist, mit „mh“, „ah“ oder „ja“, sondern mit dem Ausruf „oh Gott“, der Entsetzen und Mitgefühl ausdrückt. Durch das Ende erhält die Sequenz auch noch eine neue Nuance. Angesichts der schrecklichen Umstände lässt die Tatsache, dass mehr Kinder der Großeltern starben als überlebten, eines von den überlebenden aber sein Großvater war, die

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Geburt Vadims als etwas Besonderes erscheinen. Denkbar ist, dass er sich im Folgenden in der Tradition des ‚Überlebenderseins‘ darstellt, mit der eventuell ein spezifischer familialer Auftrag verbunden ist. Möglich ist aber auch, „dass das Thema sich auf einen wenig relevanten Präsentationsstrang der Lebensgeschichte bezieht und im Folgenden fallen gelassen wird“ (Breckner 2009, 223). Weiterhin nicht erwähnt wird die russische Familiengeschichte. Der Großvater und/oder Vater seiner Mutter hat/haben sehr wahrscheinlich auf russischer Seite im ‚großen vaterländischen Krieg‘, wie der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion/Russland genannt wird (siehe 1.1), gegen Deutschland gekämpft. Indem die Mutter, ihre Geschichte und russische Zugehörigkeit nun über mehrere Zeilen keine Erwähnung mehr fanden, werden die Lesarten 9 und 10 zunehmend unwahrscheinlicher. 5. Sequenz „Und dann äh in sechziger oder in sechziger/Anfang schon mal siebziger sind die äh nach Deu-, nach Kasachstan gezogen [mh] und da äh gab‘s Arbeit und was weiß ich noch mal. Das war der Sowjetunion, [mh] alle Wege waren schon mal offen“ (22-24)

Vadim fährt chronologisch mit der Familiengeschichte väterlicherseits fort, macht aber erneut einen großen temporalen Sprung, diesmal von den Deportationen und dem Kindesalter des Opas zu einer Zeit etwa 30 Jahren später. Er bleibt im Stil des Berichts, wobei er nur sehr knappe Informationen vermittelt, die zudem mit Unsicherheit behaftet sind. Er benennt keine konkreten Personen („die“), kann kein genaues Jahr nennen („in sechziger oder in sechziger/Anfang schon mal siebziger“) und hat erneut einen Versprecher, wenn es darum geht, das Land zu betiteln („nach Deu-, nach Kasachstan“). Konkret sagt Vadim aus, dass irgendwer etwa zu Beginn der 1970er-Jahre nach Kasachstan gezogen ist, da es dort Arbeit und eventuell noch mehr Anziehendes („und was weiß ich noch mal“) gegeben habe. Vadim stellt dies in den größeren Rahmen, dass die Wege offen gewesen seien, da die Sowjetunion bestanden habe (und Kasachstan ein Teil dieser gewesen ist). Konfrontiert mit den geschichtlichen Fakten ist dies nicht der eigentliche Grund. Die Sowjetunion und somit der Verbund vieler Länder bestand bereits 1922. Allerdings war die Bewegungsfreiheit der Russlanddeutschen eingeschränkt, für sie waren erst ab 1955 „alle Wege“ offen. Es zeigt sich an dieser Stelle eine gewisse Unsicherheit über die genauen Hintergründe der Kollektivund Familiengeschichte. Für eine Interviewerin ohne Hintergrundwissen wäre das Gesagte kaum verständlich. Sie könnte sich mit der Erklärung zufriedengeben oder nachfragen. Das Präsentationsinteresse Vadims in dieser Sequenz ist zu erklären, wie die Familie von Sibirien nach Kasachstan gekommen ist. Dabei macht

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er deutlich, dass es sich dabei nicht um eine erneut unfreiwillige Deportation gehandelt habe, sondern um eine selbst gewählte Migration, u.a. motiviert durch die Aussicht auf Arbeit. 6. Sequenz „Und äh, da ist äh auch mein Vater meine Mutter kennengelernt [mh] und da bin ich auch geboren. In kleine Stadt, heißt A-Stadt und das ist ja A-Gebiet, das ist ja äh Himmelsrichtung A des Kasachstans. [mh]“ (24-26)

Erneut wird eine große Zeitspanne ausgelassen und werden nur sehr knappe Informationen in der Textsorte des Berichts vermittelt. Der Weg nach Kasachstan erweist sich nun auch dadurch als bedeutsam, dass sein Vater dort die Mutter kennengelernt habe, die nun erstmals wieder auftritt. Offenbar stecken hinter dem „die“ der letzten Sequenz mindestens der Opa und der Vater. Dabei ist die Familie des Vaters die bewegliche und die Mutter, die (in dieser Darstellung) als losgelöst von einer eigenen Herkunftsfamilie erscheint, der wartende/empfangende Part (obgleich auch ihre Familie eine Binnenmigration in der Sowjetunion vollzogen hat, wie den biographischen Daten zu entnehmen ist). Der Vater ist derjenige, der die Mutter kennenlernt und der Aktive, was auf ein bestimmtes Bild von Männlichkeit deuten kann. Die Eltern werden rein über den Ort und ihre Bewegungen präsentiert, persönliche Eigenschaften und Hintergründe bleiben ungenannt. Dadurch lässt sich die Lesart 10 endgültig ausschließen. Es ist eine Darstellung in Minimalform. Vom Kennenlernen der Eltern kommt Vadim direkt zu seiner Geburt. Allein die Stadt wird durch die Größenbestimmung, ihren Namen, ihre Gebietszugehörigkeit und ihre Lage im Land Kasachstan näher bestimmt. Die ‚größer werdende‘ Beschreibung (von der Größe zur Lage im Land) kann dazu dienen, dass die bundesdeutsche Interviewerin sich in etwa vorstellen kann, von welchem Gebiet er spricht. Dennoch bleibt diese Mehrfachumschreibung im Kontext anderer sehr knapp gehaltener Daten auffällig. Als These kann formuliert werden, dass angesichts einer Familie, die über Jahrhunderte mehrfach freiwillig oder unfreiwillig die Orte gewechselt hat, der Ort, an dem er geboren wurde und die ersten siebzehn Jahre aufgewachsen ist, das einzig Sichere und Feststehende ist, an das er sich nun in der Erzählung ‚festhält‘. Es wirkt als seien die vorausgegangenen Sequenzen die Einleitung zu seiner Geburt gewesen. Die Geschichte musste genauso ablaufen, damit er an diesem Ort als Kind eines Deutschen und einer Russin zur Welt kommen konnte. Die Tatsache, dass die Eltern bereits fünf Jahre zuvor ihren ersten Sohn bekommen haben, wird ausgelassen. Es geht um seine Geburt und daher nur um die Personen der Familie, die für diese unerlässlich waren. Vadim bietet eine majestätische Betrachtung seiner Geburt. Es gab Widrigkeiten

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und Irrfahrten, die dann in seiner Geburt (zunächst) aufzugehen scheinen. Dies ist vor allem deshalb auffällig, da er erst als zweites Kind in die Familie geboren wird, was er an dieser Stelle weder erwähnt noch erahnen lässt. Lesart 8, dass es darum geht, sich von anderen Migranten abzugrenzen, erscheint immer weniger plausibel, doch bereits in den vergangenen Sequenzen war das Thema Migration enthalten und in dieser wird es zentral. Daher stelle ich als 12. Lesart auf, dass es um das Thema Kontinuität von Migration in der Familie geht. Es werden die verschiedenen Wanderungsbewegungen der Familie (väterlicherseits) ausgeführt, die zunächst an einem genau bestimmten Ort in Kasachstan enden, an dem er geboren wird. Als fortlaufend in dieser Kontinuität könnte nun auch die Aussiedlung nach Deutschland präsentiert werden. 7. Sequenz „Und da bin ich ja mit äh siebzehn Jahren gelebt [mh] und gleich nach meinem Abschluss, äh da ist, da haben wir Mittelschule, [mh] das sind elf Jahren, [mh] wird hier als Realschule anerkannt [/wissend:/ mh] und äh das is schon mal ganz ähnlich, sag ich ja so. [mh] Obwohl wir vielleicht äh, (.) ja, wir haben eine gute Schule, sagt man, [mh] ich weiß nicht, wie ich das vergleichen kann und äh, (.) naja, es is ja, (.) gan-, es is ganz klar. [lacht auf] Also ich bin ja nach der elfte Klasse gleich nach Deutschland gekommen, [mh] in drei Wochen sind wir ausgereist. [mh]“ (27-33)

Vadim springt nun tatsächlich von seiner Geburt zur Migration. In dieser Sequenz gibt es einen Aussagesatz, der durch eine beschreibende Hintergrundkonstruktion über den Schulabschluss unterbrochen wird. Die Aussage ist: Ich habe siebzehn Jahre in Kasachstan gelebt und bin direkt drei Wochen nach dem Erreichen des Mittelschulabschlusses nach Deutschland migriert. Für die bundesdeutsche Interviewerin erklärt er den Abschluss genauer. Er definiert die Dauer bis zu diesem und vergleicht, wie dieser in Deutschland gewertet wird (Realschulabschluss). Er erklärt, welche Qualifikation er nach deutschem Maßstab mitbrachte, betrachtet es also aus der Perspektive des Migrierten. Allerdings konnte man in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion damit bereits ein Studium beginnen, was er nicht explizit sagt, was aber in dem Einschub „Obwohl […] wir haben eine gute Schule“ stecken könnte. Augenfällig ist, dass Vadim der Erklärung zum Schulabschluss vier Zeilen widmet, im Gegensatz dazu aber von seiner Geburt direkt zu einem Alter von siebzehn Jahren und dem Beenden der Schule springt. Seine Kindheit, sein Leben mit der Familie oder die Zeit in der Schule fehlen. Aus den biographischen Daten geht z.B. hervor, dass Vadim in der Jugend sehr erfolgreich in Musicals gespielt hat und eine feste Partnerin hatte. Alles Dinge, die für einen Heranwachsenden vermutlich von großer Bedeutung sind und dennoch oder gerade deswegen bleiben

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sie an dieser Stelle ausgespart. Sein Leben in Kasachstan gehört offenbar nicht zu Vadims Präsentationsinteresse. Die in den biographischen Daten genannten jugendkulturellen Verhaltensweisen oder auch seine Musicalleidenschaft, bleiben ungenannt. Es kann die Vermutung aufgestellt werden, dass dies nicht zufällig geschieht, sondern Gefühle unausgesprochen bleiben, die die glatte Chronologie und die Selbstverständlichkeit des Ablaufs (im Rahmen der Kollektiv- und Familiengeschichte) stören könnten. Vadim präsentiert sich als jemand, der im Kontext von Wanderungen geboren wird, um einen Abschluss zu machen und auszureisen. Dabei treten keine Akteure (die Eltern) auf, die die Ausreise initiiert haben und es wird auch nicht erklärt, warum sie überhaupt migrieren wollten. Im Kontext der anderen Sequenzen erscheint dies wie eine zwangsläufige Folge der Familiengeschichte (Aussiedlung der Ur-Ahnen und Verfolgung), wobei im Gegensatz zu den vorherigen Darstellungen, Hintergrundinformationen zu den Ausreisebedingungen nicht gegeben werden. Durch diese Form der Darstellung, quasi als ‚natürliche Folge‘ oder ‚göttliche Fügung‘, ist die (nicht genannte) Entscheidung kaum angreifbar. Und dies sowohl für den Zuhörer als auch für Vadim selbst. Durch die Abwendung der Verantwortung (von den Eltern), können auch negative Gefühle zur Ausreise verdeckt werden. Zudem fällt auf, dass Vadim in Bezug auf Kasachstan dreimal das Personalpronomen ‚wir‘ benutzt (im Sinne von: bei uns ist das so und hier in Deutschland ist es anders). Dies wiederum zeigt die persönliche Verortung, die der Relevanzsetzung im Interview widerspricht. 8. Sequenz „Obwohl wir schon mal äh, (.) wir haben sieben Jahre gewartet, bis wir [mh] nach Deutschland kommen, also die Unterlagen mussten fertig gemacht werden. Und, naja, jedes Jahr, äh bei jedem Abschluss, in neunten Klasse sag ich ja mal „Tschüss“ [lacht auf] zu meinem Kumpel, [mh] dann komme ich sowieso wieder. /lacht auf/ Und, naja, ich hab doch Mittelschule geschafft und das ist auch gut so, [mh] weil ich äh hier eine Realschule anerkannt hatte und nur Abitur machen sollte. [mh]“ (33-38)

Vadim erklärt, dass die Ausreise eigentlich schon früher hätte stattfinden sollen und nicht von ihnen gesteuert werden konnte. Er führt nicht aus, warum es sieben Jahre gedauert, bis die Unterlagen ‚fertig gemacht‘ waren und wer dafür verantwortlich war (z.B. die Behörden oder die Eltern). Er geht noch einmal sieben Jahre zurück, jedoch nur im Kontext der Ausreisepläne, als sei er geboren, um den Ausreiseantrag zu stellen. Zum ersten Mal tritt auch eine kleine narrative Szene auf, in der er mithilfe von wörtlicher Rede im Präsens deutlich macht, dass er sich ab der neunten Klasse jedes Mal zum Schuljahresende von seinen Freunden verabschiedet habe und dann doch immer wiedergekommen sei, wobei eine gewisse

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Ironie in der Erzählweise steckt. Es geht um eine Komplikation, in der „die für die Dramaturgie der Darstellung wesentlichen Stellen“ oft „mit Hilfe des szenischen Präsens ausgeschmückt“ (Goblirsch 2010, 104, Herv. i. O.) werden. Dies unterstreicht die Bedeutsamkeit der Szene, obgleich die Formulierung „jedes Jahr“ eigentlich ein Hinweis für eine Beschreibung ist. Vadim spricht nicht darüber, wie es war, dieses Warten auszuhalten, wie es sich anfühlte, wenn man in der Jugend nie genau weiß, wann man seine „Kumpel“ verlassen muss und wie es ist, wenn man dann doch immer wieder zurückkommt. Wird man verlacht? Oder sind die Freunde und auch er froh, noch länger beisammen sein zu können? Die Ironie könnte diese Gefühle überdecken oder aus der Distanz von jemandem gesprochen werden, der schließlich doch in Deutschland angekommen ist. Aus heutiger Perspektive stellt Vadim den Umstand des Wartens evaluativ positiv dar, da er dadurch einen Abschluss erreichen konnte, der hier als Realschulabschluss anerkannt wird und dann „nur Abitur machen sollte“. Ob es sich dabei um eine nachträgliche Umdeutung handelt, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Dabei erklärt er nicht, von wem der Zwang, der in dem Modaladverb ‚sollen‘ steckt, ausging. Es könnte z.B. ein ‚Auftrag‘ der Eltern dahinterliegen oder eine Notwendigkeit bezeichnen, um in Deutschland anschließen zu können. Vadim erscheint in dieser Sequenz nicht als aktiv handelndes Subjekt, sondern als jemand, der reagiert und an den ein Auftrag gegeben wird. Hervorstechend ist, dass Vadim auch hier die Umstände der Aussiedlung nicht ausführt. Welche Gründe gab es dafür? Wie wurde sie beschlossen? War er überhaupt dafür? Es werden Fakten angegeben, aber nicht die damit verbundenen Gefühle. In der Affektlosigkeit der Darstellung erscheinen die alte Heimat und die Umstände der Migration merkwürdig leer. Es verhärtet sich der Eindruck, dass in seiner Präsentation für die Darstellung des damaligen Empfindens kein Platz ist. Bisher gab es keine detaillierten Narrationen, sondern nur knappe Berichte und Beschreibungen. Mit Siebenmeilenstiefeln springt Vadim von der Einreise der Vorfahren zur Deportation, dem Umzug nach Kasachstan, seiner Geburt und schließlich zur Ausreise nach Deutschland. Wohingegen er für die Migration nach Kasachstan einen Grund benennt (Arbeit), führt er für die Ausreise nach Deutschland keine Motive an; als ob diese keiner Begründung bedürfe. Er stellt es als den natürlichen Verlauf einer Biographie dar, die von mindestens einem deutschen Elternteil in der Sowjetunion/Kasachstan geprägt ist. Durch die Art der Präsentation soll dieser Ablauf als ‚logisch‘ und nicht hinterfragbar erscheinen. Es kann daher die These aufgestellt werden, dass all jenes nicht erzählt werden kann, was mit dieser Gegenwartsperspektive nicht übereinstimmt. Also etwa die stattgefundenen starken Anpassungsbewegungen der gesamten Familie an das russisch-sowjetische Umfeld (so zeigen die biographischen Daten, dass der deutsche Vater für eine

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sowjetische Behörde tätig war und fast ausschließlich Russisch sprach oder auch, dass Vadim sozial stark in Peer- und Paarbeziehungen eingebunden war). 9. Sequenz „Und ich hat hier, hier in der gemacht, in der A-Straße da ist [mh] äh, (2) die, wie heißt die noch mal? Ich hab doch [Studienkolleg] Studienkolleg, ja genau“ (38-40)

Darauf wechselt Vadim nach Deutschland, was durch das „hier“ und vor allem die Nennung des deutschen Straßennamens deutlich wird (denn das Lokaladverb „hier“ hat er auch schon in Hinblick auf Russland verwendet). Die Verbindung von Kasachstan und Deutschland ist die Bildung. In Kasachstan hat er einen bestimmten Abschluss erreicht, an den er in Deutschland habe anknüpfen können. Der Abschied von Kasachstan, die Migration an sich und die erste Zeit in Deutschland bleiben ungenannt. Verdeckt wird dadurch auch, dass zwischen der Ausreise und dem Beginn des Studienkollegs immerhin zwei Jahre lagen, wie die biographischen Daten zeigen. Die Zeit dazwischen sowie Vadims Gefühle und Erfahrungen werden erneut nicht thematisiert, was an die These oben anknüpfen kann. Auffällig ist zudem, dass Vadim der Begriff „Studienkolleg“ nicht einfällt, obgleich er es drei Jahre besucht hat. Darin könnte sich auf Textebene ausdrücken, dass der ‚Sprung‘ nach Deutschland, der durch seine Darstellung als ‚klein‘ und reibungslos erscheint – wie vermutet – so einfach nicht gewesen ist. Dass diese Sequenz von Unsicherheit geprägt ist zeigt sich auch darin, dass die Interviewerin helfend eingreift, indem sie die Institution nennt, die er besucht hat (die sie anhand der genannten Straße identifizieren konnte). 10. Sequenz „Also, (2) was soll ich? Äh, das war ganz kurz. Wo soll ich in die Details gehen, äm mehr?“ (40-41)

Es kommt zum Bruch, Vadims Selbstpräsentation zerfällt inhaltlich und formal. Er gibt an, nun „ganz kurz“ erzählt zu haben, wobei das Objekt fehlt. Was hat er seiner Meinung nach erzählt? Seine Lebensgeschichte oder einen bestimmten Teilaspekt? Beim Blick auf die Daten fällt auf, dass Vadim die chronologische Erzählung nicht bis zur Jetztzeit des Interviews (Oktober 2008) fortgeführt hat. Er endet mit dem Studienkolleg, das er 2003 begonnen hat, wobei er nicht einmal exakt sagt, dass er dieses auch abgeschlossen hat. Dass Vadim auf diesem eine Klasse wiederholen musste und sich die erste Zeit für die einzelnen Familienmitglieder und ihn auch sonst als schwer erwiesen hat, wie die biographischen Daten aufzeigen, lässt sich nicht erahnen; ebenso wenig die Tatsache, dass er über einen

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steinigen Weg mittlerweile das erwünschte Studium der Medieninformatik beginnen konnte, geheiratet hat und in Kürze Vater wird. Hat Vadim bereits zu seinem Leben in Kasachstan nur sehr wenig berichtet, so macht er es in Deutschland nun gar nicht zum Teil seiner Selbstpräsentation. Die Unsicherheit, die sich bereits in der Sequenz zuvor gezeigt hat, führt an dieser Stelle dazu, dass ein Weitersprechen unmöglich wird. Vadim, der bisher chronologisch vorgegangen ist, gelingt es nicht, seine Lebensgeschichte bis zur aktuellen Interviewsituation darzustellen. Die Diffusität der Präsentation der Erlebnisse deutet auf eine noch zu verarbeitende Vergangenheit hin. Dass er die Haupterzählung mit dem Studienkolleg schließt, verweist darauf, dass es sich um ein prägnantes und vermutlich problembelastetes Datum handelt. Darauf deutet auch die Fragen an die Interviewerin hin, die zum einen etwas wirr klingen und zum anderen dazu dienen, das gerade erzählte Thema zu beenden. Lesarten 8, 9, 10 und 11 wurden nicht etabliert; 1, 2 und 3 sind angesichts der hervorgebrachten Erzählung nicht weitreichend genug und das Thema Zugehörigkeit (4) hat sich nicht als das zentrale durchgesetzt. Die Familiengeschichte steht über viele Sequenzen im Vordergrund, doch nicht nur als Erklärung für seine Geschichte (7), sondern stärker im Sinne der Lesart 12, um die Kontinuität von Migrationen hervorzuheben und damit auch die Aussiedlung zu plausibilisieren. Offen ist noch die Frage, ob die Perspektive der gegenwärtigen Situation überwiegt (5) oder die der Vergangenheit (6). In Hinblick darauf, dass die russische Zugehörigkeit bereits in der ersten Sequenz quasi das ‚Deutschsein‘ stört, nicht über die Mutter und ihre Geschichte gesprochen wird und vor allem angesichts der Tatsache, dass Vadims Empfindungen unausgesprochen bleiben und der als reibungslos dargestellte Sprung schließlich zum Bruch führt, wird deutlich, dass Lesart 5 in die Erzählung hineinspielt. Dabei geht es jedoch über eine ‚Umschreibung der Vergangenheit‘ insofern hinaus, als dass nicht nur versucht wird, die deutschen ‚Anteile‘ unverhältnismäßig stark herauszustellen, sondern darüber hinaus auch das Leben in Kasachstan an sich in der Eingangspräsentation nicht ausgeführt wird und die Bedingungen der Ausreise verdeckt werden. Das thematische Feld, in dem Vadim seine Lebensgeschichte in diesen ersten zehn Sequenzen präsentiert, kann daher wie folgt formuliert werden: ‚Unsere Migration war die unweigerliche Folge der Familiengeschichte‘. Um dies zu veranschaulichen, benennt er seine ethnische Zugehörigkeit, verdeutlicht die kollektivgeschichtlichen Hintergründe und familialen Wanderungsbewegungen, nennt seine Geburt und schließlich die Aussiedlung, wobei als Konstante von Kasachstan nach Deutschland die Bildung herangezogen wird. Vadim versucht, dies mit Angaben zu untermauern, sodass es für die bundesdeutsche Interviewerin/Öffentlichkeit plausibel erscheint. Vor allem der Bruch am

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Ende macht aber deutlich, dass dies nur mit Mühe möglich ist und dass diese Mühe nicht (nur) einem Legitimationsdruck (Lesart 3) gerecht werden muss, sondern auch der eigenen biographischen Kohärenz. Vadim muss nicht nur anderen verdeutlichen, dass dieser Weg so stattfinden musste und gut so ist, sondern auch sich selbst. Seine Lebensgeschichte geht auf im Kontext der Familiengeschichte. Der Verlauf wird bereits durch die Ur-Ahnen angelegt, bedeutet für Vadim aber einen Bruch, den er auf der manifesten Ebene emotional nicht ausfüllt, der sich latent aber auf Textebene durch die Erzählschwierigkeiten zeigt. Für den folgenden Teil und die Rekonstruktion der Lebensgeschichte bleibt die Frage, was genau abgewehrt wird. Vorwürfe an die die Eltern aufgrund ihrer Entscheidung zur Migration? (Denn nur, weil die Familiengeschichte die Möglichkeit zur Aussiedlung bietet, hätte diese nicht genutzt werden müssen, auch wenn das hier im Text als Variante gar nicht erst erscheint). Und/oder Trauer über den Verlust des Lebens in Kasachstan? (Sodass er dieses in der Selbstpräsentation nicht darstellen kann). Als Gegensatz zu dieser Figur des Alternativlosen scheint eine adoleszente ‚Größenphantasie‘ auf, vor allem in der Darstellung seiner Geburt, in der er als der erste und einzige Sohn und Inhalt der Eltern präsentiert wird, was er jedoch nicht ist. Versteht man die Aussage, er „sollte“ Abitur machen als einen ‚Auftrag‘ der Eltern, so findet sich darin auch eine Anerkennung seines intellektuellen Potentials. Die eigene ‚Erhöhung‘ könnte eine Art Kompensation oder Bewältigung des zwangsläufigen Bruchs darstellen. Dies könnte auch die Stelle erklären, an der es zum Abbruch kommt, denn auf dem Studienkolleg ist er sitzengeblieben und konnte den Hoffnungen/Wünschen vorübergehend nicht gerecht werden. Im Anschluss wird die Analyse der nun folgenden weiteren 50 Minuten selbstgestalteter Eingangserzählung, die ich in 39 Sequenzen unterteilt habe, ergebnisorientiert präsentiert. Anhand dieser gilt es, die bisherigen Annahmen zu prüfen, eventuell zu modifizieren und zu erweitern. Waren diese ersten beiden Minuten nur der Auftakt und erfolgt nun nach der Rückfrage an die Interviewerin ‚seine‘ Geschichte? Oder bleibt die Grundstruktur trotz der nun ausführlicheren Erzählung gleich? Tun sich neue thematische Felder auf? Auf die Frage Vadims, wo er ins Detail gehen solle, entgegnet die Interviewerin: „Überall, wo du möchtest, [ja?] also ich interessiere mich für alles. /lacht auf/“ (42). Damit verweigert sie es, ihm konkrete Stellen vorzugeben. Stattdessen gibt sie den Hinweis, dass er dort genauer werden solle, wo er möchte und überlässt es somit seiner eigenen Relevanzsetzung. Sein „ja?“ mit Frageintonation drückt aus, dass Vadim nicht ganz sicher ist, ob er wirklich „überall“ weitererzählen dürfe. Die Interviewerin bekräftigt dies noch einmal mit der Aussage, dass sie sich für alles interessiere. Dies kann überfordernd wirken, wenn Vadim sich an ihren Vorgaben und Wünschen orientieren möchte oder tatsächlich nicht genau

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weiß, wo und wie er weitererzählen solle. Es kann aber auch einen großen Raum an Möglichkeiten aufspannen. Die Eingangsfrage hat zwar auch nach dem Lebensweg gefragt, doch durch die Nennung von bestimmten Begriffen (Spätaussiedler, … s.o.) bestand eine mögliche Eingrenzung, die nun wegfällt. Ohne zu zögern nimmt Vadim die von der Interviewerin übergebene Wahlmacht an und es folgt eine ca. 50-minütige Selbstpräsentation, ohne längere Pausen. Dies spricht dafür, dass er zwar an der konkreten Stelle zuvor aus bestimmten Gründen nicht weitersprechen konnte, aber generell mit der Bitte zu erzählen, nicht überfordert ist. Vadim setzt mit: „Okay, dann ich erzähl ein bisschen über Familie. [mh]“ (43) in Sequenz 12 einen Auftakt, der an eine Regiebemerkung erinnert und ausdrückt, dass er nach der schwierigen Stelle zum Bildungsweg nun über ein anderes Thema sprechen möchte. Er wählt dafür keine Zeit oder Phase, sondern ein Feld, das kontinuierlich, also vor und nach der Ausreise bestand und besteht und zu dem im Allgemeinen viel erzählt werden kann. Es ist daher offen, an welcher konkreten Stelle er nun einsteigen wird. In der folgenden Sequenz definiert er die Familie als aus fünf Personen bestehend, was bedeutet, dass er von der Kernfamilie spricht und die Ur-Ahnen nun nicht mehr Thema sind. In der Textsorte der Beschreibung nennt er im Folgenden die Namen dieser fünf und führt für die Eltern noch einmal ihre Nationalitäten und für die Brüder und sich das Alter an. Die Aufzählung der Namen stellt etwas Grundlegendes dar, an dem er sich ‚festhalten‘ und nach dem vorherigen Abbruch wieder Sicherheit im Erzählen gewinnen kann. Auffällig ist, dass er sehr unpersönlich bleibt. Er charakterisiert die Personen nicht über Eigenheiten o.ä., sondern durch formale Fakten. Durch die explizite Nennung der unterschiedlichen Nationalitäten der Eltern knüpft er an den vorherigen Teil an. Eingebettet in diese Sequenz liegt eine längere Hintergrundkonstruktion zum Nachnamen der Familie, der aufgrund der deutschen Herkunft bei den russischen Behörden zu Problemen geführt habe, sodass der Vater und seine vier Geschwister je unterschiedliche Schreibweisen im Pass stehen gehabt hätten. Auch an dieser Stelle nimmt er also wieder Bezug zum Thema der deutschen Zugehörigkeit und macht deutlich, dass diese auch Schwierigkeiten bereitet hat. Differenzen sind auch der übergreifende Inhalt der folgenden Sequenzen. In Bezug auf verschiedene Themen stellt Vadim Unterschiede zwischen Kasachstan/Russland bzw. der Sowjetunion und Deutschland dar und geht dabei auch auf das jeweilige Unverständnis ein. So habe der Vater in den 1980er-Jahren den Beruf als Oberkommissar aufgegeben, um in einer Fabrik zu arbeiten, da er dort dreimal so viel verdient habe. Die deutschen Behörden hätten dies jedoch nicht verstehen können und daher den beruflichen/politischen Status des Vaters intensiv überprüft, was mit zu der langen Wartezeit auf die Ausreise geführt habe. Thema sind die genseitigen Verstehensschwierigkeiten. In Kasachstan führt der deutsche Nachname zu Missverständnissen, in Deutschland der berufliche Weg des Vaters

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in der Sowjetunion. Die bi-nationale Verbindung der Eltern, die gleich zu Beginn des Interviews eine ‚glatte‘ Präsentation stört, wird auch hier als Auslöser für Komplikationen angeführt. Vadim spricht nicht davon, wie die Familie sich gefühlt hat, da sie solange warten musste. Nach drei Sequenzen zu seinen schulischen Leistungen in Kasachstan erwähnt Vadim in Sequenz 25 davon ausgehend, dass er sportlich gewesen sei und bezieht dieses Thema dann in einer längeren Passage auf die Familie. Er beschreibt die Sportlichkeit als verbindende Familieneigenschaft im Herkunftsland und erklärt, wer welchen Sport betrieben habe. Im Folgenden stellt Vadim den Sport in einen politischen Zusammenhang, denn in der Sowjetunion „musste“ (176) man Sport treiben. Das, was die Familie ausmacht und verbindet bzw. ausgemacht und verbunden hat, stellt Vadim demnach in Abhängigkeit vom politischen System und dem Land des Aufwachsens dar. Dadurch wird die Verbindung zugleich weniger intim, denn sie ist nicht aus der Familie erwachsen, sondern durch das System vorgegeben worden. Nach weiteren Sequenzen zum Thema Sport und dem Einfluss von Ordnung auf schulische Leistungen beendet Vadim den Einschub zur Familie, ohne wirklich viel von dieser gesprochen zu haben. Die Familie wird lediglich im Kontext der Felder ‚Zugehörigkeit‘, ‚Verstehensschwierigkeiten‘ und ‚Sport im sowjetischen System‘ dargestellt, Erzählungen über gemeinsame Erlebnisse fehlen. Man bekommt kein Bild von der Familie und kein Bild von Vadims Kindheit und Jugend in Kasachstan. Offenbar hat der Teil zur Familie im Anschluss an die schwierige Interviewsituation die Funktion, sich wieder heraus zu erzählen und an Sicherheit zu gewinnen. Im Folgenden versucht Vadim noch einmal, den Weg bis zur Gegenwart zu schildern. Die Verknüpfung der Sequenzen geschieht erneut über die Stationen des Bildungswegs. In Sequenz 30 springt Vadim wieder zum Moment der Einreise nach der elften Klasse, von der er bereits im ersten Teil kurz gesprochen hat und stellt die nächsten Sequenzen chronologisch bis zur heutigen universitären Situation dar, was ihm zuvor nicht gelungen ist. Dabei führt Vadim die Migration und die ersten Wochen danach ausschließlich als Aufzählung von Orten an, die nur über ihre zeitliche Dauer näher definiert werden: „nach der elften Klasse sind wir nach Deutschland gekommen dann, [mh] mit dem Bus. Haben mehrere Tage gedauert. Und hier schon mal äm nach dem Friedland äh sind wir nach B-Stadt dann umgezogen, [mh] in vier Tagen nach B-Stadt gefahren. Da waren wir auch so ein paar Tage, bis wir hier eine Sozialwohnung bekommen haben“ (224ff)

Weder das Abschiednehmen in Kasachstan, die Gedanken an das neue Land noch die Empfindungen nach der Ankunft werden ausgeführt. Es erfolgt keine detaillierte Erzählung, keine Darstellung von konkreten Erlebnissen oder Gefühlen.

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Zwar nennt Vadim nun die Migration als konkreten Akt, doch bleibt sie genauso unausgeführt wie im ersten Teil. Offenbar gehört die ausführliche Darstellung dieser und seiner Empfindungen weiterhin nicht zu seinem Präsentationsinteresse. Darauf beschreibt er den Aufbau des Sprachkurses, den er im Anschluss besucht hat. An dieser Stelle spricht er zum ersten Mal von Schwierigkeiten und Gefühlen: „Und zehn, (.) zehn Monaten hab ich das gemacht, hab mich nicht äh so richtig in den Schwung gebracht, ehrlich gesagt […] Und äh, es war so eine Zeit, ich kam ja nicht richtig in Schwung. Konn-, ich wollte nicht die äh (.) Grammatik lernen oder. [mh]“ (239ff)

Vadim argumentiert, dass er nach der Migration im Sprachkurs nicht in Schwung gekommen sei47. Diese Redewendung stärkt erneut die These, dass Vadim die Migration damals so einfach wie dargestellt, doch nicht empfunden hat. In der Gegenwartssituation geht er aber erneut nicht darauf ein. Und so bricht er diese Ausführungen kurz darauf mitten im Satz ab und formuliert apodiktisch: „ich mach chronologisch lieber“ (248f). Offenbar möchte er dies (noch) nicht näher thematisieren und versucht sich, über die Chronologie herauszuziehen bzw. diese als Haltgeber zu verwenden. Im Folgenden benennt Vadim chronologisch und jeweils mit Monatsangaben versehen weitere Stationen. Dabei spricht er auch konkret von schwierigen Situationen, wie der Tatsache, dass er im Studienkolleg das erste Jahr wiederholen musste oder den Abbruch des ersten Studiengangs und den Weg zum aktuellen Studium über einen eingelegten Widerspruch. In der nächsten Sequenz zählt er erneut sehr knapp die Stationen bis zum aktuellen Studium der Medieninformatik auf und begründet die Wahl des Faches, wobei er Bezug auf das Leben in Kasachstan nimmt. Er habe dort in Musicals gespielt, da er sich aufgrund der Sprachschwierigkeiten nicht getraut habe, dies in Deutschland fortzuführen, aber weiterhin kreativ tätig sein wollte, habe er Medieninformatik als Ausgleich gewählt. Vadim begründet die Wahl des Studienfaches nachvollziehbar, er spricht jedoch nicht genauer über die vermutlich positiven (Musical-)Erfahrungen in Kasachstan und den Verlust dieser Leidenschaft in Deutschland. Hier gibt es Begrenzungen (und Probleme) für ihn, die er zuvor nicht hatte. Losgelöst von Emotionen beschreibt er in der nächsten Sequenz die Inhalte des Studiums. Dabei zeigt die Darstellung wieder das Muster, dass auf eine Sequenz, die Gefühle andeutet, die wei-

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Ausführliche Interpretationen zu dieser und weiteren Stellen erfolgen im Zuge des nächsten Auswertungsschrittes, bei dem einige der hier zitierten Sequenzen noch einmal eingehender aus der Perspektive der Vergangenheit betrachtet werden.

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ter ausgeführt werden könnten, ein Wechsel zur sachlichen Präsentation von Fakten und Abläufen erfolgt. Dies legt nahe, dass Vadim sich mit seiner Bildungsbiographie präsentieren will, ohne dabei zu sehr auf Gefühle einzugehen. Nach der Darstellung des Verlaufs bis in die Jetztzeit, nimmt Vadim in Sequenz 38 eine Art Metaebene ein und spricht allgemein über den Prozess des ‚Einlebens‘ in Deutschland. Dabei benennt er die zwei großen Probleme, die es seiner Meinung nach für Ausländer bzw. Russen in Deutschland gebe: Die Sprache und die großen Unterschiede zum russischen Bildungssystem. Er charakterisiert die unterschiedlichen ‚Systeme‘ wie folgt: in Deutschland heiße es „selbst lernen“ (297f) und in Kasachstan „uns wird gegeben“ (299). Die betont gesprochenen Formulierungen markieren den Unterschied zwischen ‚selbst machen‘ und ‚von anderen bekommen‘ und erwecken den Eindruck, als habe man in Kasachstan überhaupt nicht lernen müssen, da man die Bildung einfach „gegeben“ bekommen habe; ein Ausdruck mit einem nahezu biblischen Anklang. Auffällig sind zudem das Pronomen und Tempus, so spricht Vadim in Bezug auf Kasachstan in der WirForm und im Präsens, was eine anhaltend große Nähe anzeigt. Zugleich zählt er sich mit seinen Formulierungen zur Gruppe der Ausländer bzw. Russen, was einen Gegensatz zum anfangs formulierten „ich bin halb Deutscher, halb Russe“ markiert. Offenbar gibt es für ihn neben dem zunächst vertretenen Abstammungsprinzip noch andere Facetten, durch die Zugehörigkeit bestimmt wird. Im Folgenden erklärt Vadim, dass es ihm schwerfalle, selbstständig zu lernen bzw. das Lernen überhaupt zu organisieren. Er träume von einem Professor, der ihm genau vorgibt, was er wann machen solle, was er dann auch tun würde. Optionen, selbst Verantwortung zu übernehmen, sieht er nicht. Am Ende kehrt er noch einmal zum Plural zurück: „Aber und deswegen ist das ja auch Problem für uns. [mh] Weil wir, es wird, /jedes Wort betont:/ es wurde uns immer gesagt, was wir machen müssen. [mh]“ (321ff). Die Sequenz steht in der Textform der Argumentation, was die Hypothese nahelegt, dass es sich um ein schwieriges Thema handelt, das einen gewissen Rechtfertigungsdruck auf Vadim ausübt. So ist es denn auch Vadims Ziel, zu erklären, warum er in Deutschland schulische und universitäre Schwierigkeiten hat, was seinem Selbstbild (Größenphantasien) widerspricht. Versteht man die Aussage, er „sollte“ (38) Abitur machen als einen ‚Auftrag‘ der Eltern, so findet sich darin eine Anerkennung seines intellektuellen Potentials. Die eigene ‚Erhöhung‘ könnte eine Art Kompensation oder Bewältigung des zwangsläufigen Bruchs darstellen. Dies könnte auch die Stelle erklären, an der es zum Abbruch gekommen ist, denn auf dem Studienkolleg ist er sitzengeblieben und konnte den Hoffnungen/Wünschen vorübergehend nicht gerecht werden. Dabei macht Vadim deutlich, dass es sich bei den Schwierigkeiten im deutschen Bildungssystem nicht um ein individuelles Problem handelt, wie einen Mangel an Intelligenz, sondern um ein kollektives. Die Tatsache des fehlenden

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Schwungs und der laut Vadims Darstellung daraus resultierende Misserfolg, werden externalisiert. Es liegt nicht an ihm persönlich, sondern daran, dass er anders schulisch sozialisiert wurde und es in Deutschland wiederum anders gemacht wird. Dabei lässt er die Systemunterschiede als kaum überbrückbar erscheinen. Nicht ganz deutlich wird, ob er vor allem herausheben will, dass er es nicht kann, weil es in Kasachstan anders war, oder weil es in Deutschland anders gemacht wird. Der Text lässt jedoch eine Sympathie für das (post-)sowjetische Schulsystem erkennen, das er unreflektiert positiv darstellt, wohingegen er Kritik am deutschen Schul- und Hochschulsystem übt. Zentral ist in jedem Fall die Betonung der Unterschiedlichkeit, die seiner Schilderung nach zu Problemen führt. Ausgespart bleiben Vadims Gefühle, die Reaktion der Eltern und mögliche Konsequenzen. Offen bleibt auch, ob er jemanden hatte, der ihm geholfen hat bzw. der ihm heute hilft. Möglicherweise drückt die Sehnsucht nach dem ‚Gegebenbekommen‘ und dem alten (Schul-)System eine Sehnsucht nach dem ‚Alten‘ (also der Zeit vor der Migration) im Allgemein aus, die er jedoch nicht konkret benennen kann. Die folgende Argumentation soll die grundliegende Schwierigkeit noch einmal untermauern, wobei Vadim vom Bildungs- zum politischen System wechselt. Er spricht in generalisierender Form davon, dass es die „Mentalität“ (327) der „russische Menschen“ (325) sei, zu „gehorchen“ (324). Seit hunderten von Jahren würden sie stets ‚zu jemandem gehören‘, was sie gut fänden, wobei er Zar, Monarch und Präsident in einem Atemzug nennt. Die Art seiner Formulierungen lassen keine Kritik oder Distanzierung von den Aussagen erkennen. Durch die Nennung des (umstrittenen) Begriffes ‚Mentalität‘, vertritt er das Konzept, dass Gruppen/Nationen aufgrund ihrer Sozialisation bestimmte Denk- und Verhaltensmuster gemeinsam sind. Offenbar möchte er damit das Argument stärken, dass es grundlegende Unterschiede zwischen dem Russischen und dem Deutschen gebe, die bei ihm zu Schwierigkeiten im deutschen Bildungssystem (und eventuell darüber hinaus) führen. In der folgenden Sequenz nimmt er einen Vergleich ‚seiner Generation‘ – womit er diejenigen meint, die in Kasachstan die Schule besucht haben – mit der seines jüngeren Bruders vor. Er verortet sich und seinen Bruder jeweils als Teil einer größeren Gruppe, deren Zugehörigkeit durch einen spezifischen geteilten Erfahrungsraum bestimmt werde. In diesem Fall spricht er von den Folgen für die Zugehörigkeit: Sein Bruder sei „schon mal mehr Deutscher, als äh Russe“ (344f), was er nicht direkt begründet. Seine Ausführungen lassen darauf schließen, dass er es mit dessen längerer Sozialisation in Deutschland (und an deutschen Schulen) und besseren Sprachkenntnissen begründet. Da der jüngere Bruder aber, wie den biographischen Daten entnommen werden kann, wesentlich schlechter im deutschen Bildungssystem abschneidet als Vadim, muss es an dieser Stelle um mehr bzw. anderes gehen, als Bildungsschwierigkeiten zu rechtfertigen. Die Zuord-

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nungen „Deutscher“ und „Russe“ betreffen die Zugehörigkeitskonstruktionen, die er offenbar von den Sozialisationserfahrungen und Orten des Aufwachsens mitbestimmt sieht. Differenzierter als am Anfang des Interviews, an dem er allein auf die Nationalitäten der Eltern rekurrierte (quasi die ‚offizielle Logik‘), bezieht er nun verschiedene Faktoren mit ein. Vadim stellt eine dichotome Zugehörigkeitskonstruktion (Deutsch oder Russisch) dar, bei der es Zwischenstadien gibt (mehr oder weniger). Seine Ausführungen lassen darauf schließen, dass er es mit der Sozialisation in Deutschland (und den deutschen Schulen) und besseren Sprachkenntnissen begründet. Damit weicht er nun von der zuvor gegebenen Definition der Zugehörigkeit über die Eltern ab. An dieser Stelle vertritt Vadim die Meinung, dass die Zugehörigkeit nicht durch die Abstammung oder den Pass entschieden werde, sondern durch die Sozialisation und das Aufwachsen in einem Land, wobei entscheidend ist, welche Lebensjahre man dort verbringt. Am Ende der 41. Sequenz führt Vadim unvermittelt an, vor einem Jahr geheiratet zu haben. Es bleibt ein reines Datum. Bisher hat er nicht von der Frau gesprochen und er gibt an dieser Stelle keine weiteren Informationen, etwa wo und wie sie sich kennengelernt haben. Stattdessen resümiert er: „Und tja, [lacht auf] und dann, ich bin ja glücklich und ich glaube, es. Ich, ich, ich versuch, mich hier zu adaptieren schon mal [mh] und es geht ja schon mal voran. [mh]“ (360ff). Diese positive Kehrtwende kommt an dieser Stelle sehr überraschend und wirkt gerade im Kontext der vorangegangenen Sequenzen wenig überzeugend. Es erscheint wie der Versuch, der Erzählung ein positives Ende zu geben. Doch dieser Satz bleibt nicht die Coda, stattdessen brechen sich die Probleme wieder Bahn. So spricht Vadim in Sequenz 42 direkt im Anschluss erneut von einem schwierigen „Punkt“ (362): „Es, es gab so ein Punkt, wo ich dachte, ich krieg es ja nie hin [ja] und jetzt zum Beispiel, äh (.) wo sind fast, (.) fast, ja, mehr als sieben Jahre sind schon vergangen und ich glaube noch nach drei Jahren bin ich ja schon mal ganz gut integriert. [mh] Aber man braucht ja Zeit, [mh] man braucht seine Zeit und äh, (.) mh wenn man richtig, (2) wenn man richtig schnell sich adaptieren will, dann muss man die Umgebung voll auf Deutsch konzentrieren. [mh] Also, dass man deutsche Freunde kriegt oder mehr Deutsch redet“ (361ff)

Er berichtet von einem Tiefpunkt, den er als überwunden darstellt. In drei Jahren, glaube er, „schon mal ganz gut integriert“ zu sein. Auffällig ist, dass Vadim neben der gebräuchlicheren Formulierung ‚integrieren‘ mehrfach im Interview (und einmal in der Sequenz oben) das Wort ‚adaptieren‘ verwendet, das im Deutschen eher als Fachwort gebräuchlich ist. Dies könnte zum einen dafürsprechen, dass er sich intensiv und auch wissenschaftlich mit dem Thema befasst hat. Dabei wäre ‚adaptieren‘ im Sinne Berrys (1990) stärker als integrieren und würde bedeuten, dass

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„das Verhalten in der Annahme eines Lebensstiles (z.B. dem einer dominanten Mehrheitskultur) mündet“ (Zick 2010, 38). Dies widerspricht den vehementen Aussagen, dass er dies aufgrund von Sozialisation und Mentalität gar nicht könne. Zum anderen könnte er an das sehr ähnlich klingende russische Verb für ‚sich integrieren bzw. anpassen‘ anknüpfen – адаптироваться (adaptirawatcja), das dort im Kontext sehr häufig gebraucht wird. Auffällig wäre dann, dass eine Anlehnung an ein russisches Wort stattfindet, wenn es darum geht, sich in Deutschland integrieren zu wollen. In jedem Fall möchte er sich als jemand präsentieren, der sich um Integration/Adaption bemüht, ohne dass er ausführt, warum genau er dies tun möchte oder was er darunter versteht. Auch die hinzugefügten Faktoren – Sprache und deutsche Freunde – funktionierten nicht, wie er im Folgenden erklärt, denn er komme im Studium automatisch immer nur mit russischen Kommilitonen zusammen und habe keine deutschen Freunde. Zu fragen ist auch, wie er auf die Dauer von drei Jahren kommt. Wenn er in der Regelstudienzeit bliebe, wäre er dann ein paar Monate aus dem Studium raus und hätte eventuell seinen ersten Job. Ist Integration für ihn demnach mit beruflichem Erfolg (allein) gleichzusetzen, den er erringen möchte? Mit der nächsten Sequenz findet wieder der Wechsel zwischen der Behauptung, dass alles gut sei und der Darstellung von Problemen statt. Es entsteht der Eindruck, dass sich die schwierigen Aspekte immer wieder in die Erzählung drängen. Vadim beschreibt, dass sämtliche Familienmitglieder infolge der Migration physische und psychische Auffälligkeiten entwickelt hätten (wie z.B. Allergien). Mit starken Ausdrucksschwierigkeiten erklärt er, dass es sicher einen Zusammenhang mit der Migration gebe, wie z.B. die unterschiedlichen Klimata. Dies impliziert das archaische Bild, dass ‚seine Gruppe‘ nicht für das Leben in Deutschland gemacht sei und eigentlich nicht hierhergehöre bzw. durch die Anwesenheit krank werde. Er kann es nicht so deutlich sagen. Eigentlich nur Probleme, weil wir gar nicht hierhin gehören. Damit widerspricht er erneut den Zugehörigkeitsaussagen zu Beginn des Interviews. Der Vater erscheint nicht mehr „komplett deutsch“ (6) und er nicht „halb“ (5), sondern alle russisch. Die folgenden vier Sequenzen wechseln erneut zwischen der Darstellung von Schwierigkeiten und der Darstellung der Adaptionsversuche. In der 48. Sequenz spricht er davon, auch heute im Studium immer wieder Selbstzweifel zu haben, aber dann durch kleine Erfolge motiviert zu werden. Er habe zwar keine Spitzennoten, aber besser abgeschnitten als mancher Autochthone und so evaluiert er: „Also ist schon mal gute Ergebnis und dann mach ich mir irgendwie so ruhig: [lacht auf, mh] /lacht auf:/ Ja, du bist ja, es ist ganz normal, du schaffst es. So, joa, das ist so. [mh]“ (463f). Mit dem Versuch der Selbstmotivation schließt Vadim seine Erzählung mit der Hoffnung auf einen positiven Fortgang. Die Interviewerin kommentiert diese Coda überschwänglich mit: „Ja, vielen Dank, [mh] es ist super

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spannend, was du alles erzählt hast“ (467). Damit zollt sie dem Interviewten Anerkennung für seine Erzählung. Statt eine Nachfrage abzuwarten, blickt Vadim noch einmal zurück und meint, dass er viel erzählt habe und er es auch aufschreiben wolle. Er charakterisiert sich als „kreativ“ (470) – in Kasachstan habe er Gedichte und Tagebuch geschrieben – und er würde gerne ein Buch daraus machen, da es „spannend“ (474) sei. Darauf bietet er der Interviewerin erneut an, Fragen zu stellen, damit er noch in die Details gehen könne. Hier finden sich wieder Aussagen, die auch vor und nach dem eigentlichen Interview von Vadim geäußert wurden. Er charakterisiert sich als jemand, der etwas Bedeutsames zu erzählen hat, das auch über das Interview hinaus (Buch) von Interesse sein könnte. Wie die Formulierung der Interviewerin zeigt, ist es Vadim gelungen, dass sie ihm genau das widerspiegelt. Vadims Selbstpräsentation in den ersten zwei Minuten des Interviews war in das thematische Feld ‚Unsere Migration war die unweigerliche Folge der Familiengeschichte‘ gebettet. Im nun dargestellten Teil nach dem Abbruch hat sich das Thema etwas gewandelt. Es geht kaum noch um die Familie, sondern stattdessen um die Folgen der Migration. Diese werden fast ausschließlich für den Bereich der Bildung dargestellt. Vadims Präsentation erfolgt in dem thematischen Feld: ‚Ich versuche, mich zu integrieren, aber durch mein Aufwachsen im sowjetischrussischen Kasachstan fällt es mir schwer‘. Den fehlenden Schwung erklärt er damit, dass sein Aufwachsen im russisch-sowjetisch geprägten Kasachstan seine gewünschte Integration erschwere, da sich z.B. das Schulsystem dort stark unterscheide. Das Leben in Institutionen, vor allem in Hinblick auf die Unterschiedlichkeit ist auch das einzige, das er in diesem Teil der Eingangserzählung zu seiner Kindheit und Jugend berichtet. Die Migration wird auch hier an keiner Stelle explizit infrage gestellt, doch werden die sich im ersten Abschnitt vor allem latent durch die Form zeigenden Schwierigkeiten, hier nun benannt. Diese lassen erkennen, warum Vadim, wie zuvor formuliert, im Rahmen der dargestellten biographischen Kohärenz nicht nur anderen verdeutlichen muss, dass dieser Weg so stattfinden musste und gut so ist, sondern auch sich selbst. Es entsteht ein Widerspruch. Vadim charakterisiert die Ausreise als unweigerliche Folge der deutschen Familiengeschichte und stellt die Familie in Deutschland jedoch als ‚russisch geprägte‘ Familie dar, was zu Problemen führte. Insgesamt dominieren die Textsorten Bericht und Argumentation. Vor allem das Nicht-Erzählen über seine Kindheit und Jugend in Kasachstan ist auffällig. Das Leben vor der Migration wird nur in Hinblick auf das (Bildungs-)System dargestellt. Somit werden auch die exemplarisch ausgeführten biographischen Daten zur frühen Adoleszenz nicht thematisiert. An dieser Stelle kann daher nur die

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Frage festgehalten werden, warum diese Phase nicht Teil seines Präsentationsinteresses ist. Im Folgenden bleibt daher zu klären, warum das persönliche Erleben in Kasachstan aus der Selbstpräsentation ausgeschlossen wurde. Ist dieses für Vadim weniger relevant oder lässt er es aus, da es belastend ist oder sein Präsentationsinteresse stören würde? 6.1.4 Rekonstruktion der Fallgeschichte Bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte geht es darum, sich der Perspektive der Vergangenheit anzunähern, also der biographischen Bedeutung, die ein Erlebnis zum Zeitpunkt des Geschehens gehabt haben könnte. Ziel ist es, die Genese der Gestalt der erlebten Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Dies meint, dass die funktionale Bedeutsamkeit, die ein Erlebnis für die Gesamtgestalt der erlebten Lebensgeschichte hat, erschlossen werden soll. Dieser Schritt betrachtet die Lebensgeschichte in chronologischer Reihenfolge und wird auf das gesamte Interview angewendet und bezieht sowohl Erzählungen als auch Selbstdeutungen ein (vgl. Rosenthal 1995, 220). Die Ergebnisse des ersten Auswertungsschrittes (Analyse der biographischen Daten und des Genogramms) sind in die Ausarbeitung eingeflossen. Ebenso habe ich an mehreren Interviewsequenzen Feinanalysen durchgeführt, deren Ergebnisse wiederholt im Text aufscheinen. Als Hintergrund – die Familiengeschichte Ich beginne mit einer kurzen Darstellung der Familienkonstellation im gesellschaftlich-historischen Kontext und beschreibe die Ausgangskonstellation, in die Vadim 1984 hineingeboren wurde, in ihren potentiellen Dynamiken und Auswirkungen auf dessen Leben. Vadims Vorfahren väterlicherseits sind im 18. Jahrhundert aus dem süddeutschen Raum in das Russische Reich ausgewandert, wo sie in einer deutschen Kolonie lebten. Die Familiengeschichte spiegelt idealtypisch die Entwicklung der deutschen Siedler im Russischen Reich und der Sowjetunion wider, wie sie auch in Kapitel 1 geschildert wurde. Seine Urgroßeltern hatten acht Kinder und lebten ein abgeschiedenes Leben von der russischen Umwelt, was sich z.B. durch den alleinigen Gebrauch der deutschen Sprache zeigt. Typisch ist auch die hohe Kinderzahl von bis zu zehn Kindern (vgl. Schnepp 2002, 80). Aufgrund des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion und der folgenden Kollektivverurteilung wurde die Familie 1941 nach Sibirien deportiert, wo die Erwachsenen in einem Straflager Waffen herstellen mussten. Von ihren acht Kindern überlebten

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nur drei, darunter Vadims Großvater. Der dramatische Tod der fünf Kinder dürfte besonders prägend auf die Familiengeschichte gewirkt haben. In Zusammenhang mit den extrem schweren und unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen im Lager, ist zu fragen, wie sich diese schrecklichen Verluste auf die Beziehung der Urgroßeltern zu den drei überlebenden Kindern ausgewirkt haben. Angesichts der Tatsache, dass mehr Kinder in der Verbannung starben als überlebten, wäre denkbar, dass sie mit einem ‚Mythos des Überlebens‘ belegt wurden und an sie der Auftrag gerichtet wurde, für die Familie (und stellvertretend für die Geschwister) zu leben und die Familie durch eigene Kinder wieder zu vergrößern. Angesichts der großen Verluste (es muss auch bedacht werden, dass die Kinder ihre Geschwister verloren haben) können die Beziehungen sehr eng gewesen sein und ein Entfernen von der Familie verunmöglicht haben. Die Strafarbeit endete 1948, ab 1956 durften die Deportierten die Sondersiedlungen verlassen, jedoch nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren. Diese Option wurde von einer überwältigenden Mehrheit genutzt. Sie wollten zum einen den Ort des Schreckens verlassen und zum anderen unter milderen klimatischen Bedingungen leben (vgl. Kapitel 1). Auffällig ist daher, dass Vadims Vorfahren am Ort der Verbannung geblieben sind. 1957 wurde Vadims Vater dort, in einem Dorf nahe einer Großstadt in Sibirien, geboren. Insgesamt hat er vier Geschwister, die Geburtenreihenfolge ist nicht bekannt. Vadims Großvater hatte mit fünf also ebenfalls eine recht hohe Kinderzahl und obgleich nach dem Krieg eine zunehmende Assimilation an das russische Umfeld zu beobachten war, sprach die Familie untereinander weiterhin ausschließlich Deutsch, was für die Bedeutsamkeit der Fortführung russlanddeutscher Traditionen spricht. Mit dem Geburtsjahr 1957, das genau nach dem Jahr der rechtlichen Rehabilitierung der Russlanddeutschen liegt, repräsentiert Vadims Vater eine Generation des Neuanfangs. Damit könnte die Hoffnung verbunden gewesen sein, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu können und dem Kind eine leichtere Zukunft zu schaffen. So trägt er mit ‚Jurij‘ auch einen russischen Vornamen. Damit kann ein starker Leistungsund Anpassungsdruck verbunden gewesen sein. Die Beibehaltung der deutschen Sprache im Privaten könnte in diesem Fall schlicht als Folge dessen gesehen werden, dass die Großeltern die russische Sprache nicht gut genug beherrschten. Es ist jedoch auch denkbar, dass an die Kinder der Auftrag herangetragen wurde, die Vergangenheit der Familie zu bewahren. Erst Ende der 1960er/Anfang der 1970er-Jahre migrierte die Familie nach Kasachstan. Als Grund werden die besseren beruflichen Chancen genannt. Zu der großen Zahl von Binnenmigranten nach Kasachstan kam es vor allem dadurch, dass dieses durch sein (im Vergleich zu Sibirien) mildes Klima und gute Chancen auf einen Arbeitsplatz als attraktiv empfunden wurde (vgl. Eisfeld 1992, 148). Die Familie entfernte sich nun doch von dem Ort der Deportation. Der ungewöhnlich

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späte Zeitpunkt für den Umzug könnte damit zusammenhängen, dass der Tod der Großeltern abgewartet wurde. Die zurückgelegte Entfernung ist für die Sowjetunion als gering zu bezeichnen. Kasachstan grenzt an Südsibirien, in dem die Familie bisher lebte. Sie gingen also, legten aber eine eher kurze Strecke zurück. Vadims Vater ist zu diesem Zeitpunkt etwa zwischen zwölf und 14 Jahre alt gewesen, sodass die Migration in der Phase der Pubertät und frühen Adoleszenz stattgefunden hat. Auch wenn die Sprache und das politische System am neuen Ort gleichblieben, ist auch mit einer Binnenmigration der Verlust der gewohnten Umgebung und des sozialen Umfelds in solch einer wichtigen Entwicklungsphase verbunden. In Kasachstan machte Vadims Vater Jurij einen Mittelschulabschluss (‚russisches Abitur‘) und zog darauf ohne seine Eltern in eine kleine Stadt in Kasachstan, um zu studieren. Es zeigt sich ein Aufstiegsstreben, indem Jurij den höchsten Schulabschluss erlangte und seine Familie sehr jung für ein Studium verließ. Es ist nicht bekannt, ob dies auf Wunsch und mit dem Segen der Eltern geschehen ist oder gegen diesen. In jedem Fall zeigt sich nach dem engen Zusammenhalt nun das Muster des Verlassens. Nach zwei Semestern brach er das Studium ab und begann eine Ausbildung im Justizvollzug, wo er in eine hohe Position gelangte. Durch den Bildungserfolg grenzte er sich von der vorherigen Generation ab. Zudem zeigte er eine deutliche Annäherung an den Staat, denn solche staatsnahen Positionen konnte nur besetzen, wer in ideologischer Hinsicht als zuverlässig eingeschätzt wurde (vgl. Rosenthal et al. 2011, 46f). Der zunächst Fremde wurde zum Teil des Systems. Zu seinem sozialen Aufstieg trug zudem die Ehe mit Vadims Mutter bei, einer Russin, die er in der kleinen Stadt kennenlernte (zu Zeiten der Sowjetunion trug eine Ehe mit einer russischen Frau im Vergleich zu einer Verbindung mit einer deutschen oder kasachischen Frau zur Statusaufbesserung bei). Jurijs erfolgreiche Berufslaufbahn wie auch seine Partnerwahl weisen auf eine Integration in die sowjetisch-russische Gesellschaft hin, die zu dieser Zeit viele Russlanddeutsche gerade dieser Generation in der Sowjetunion vollzogen haben (vgl. Rosenthal/Stephan 2009, 167). Rosenthal (2010) hat dies als „Versuch der Reparatur der psychisch belastenden und durch ein soziales Stigma belasteten Familienvergangenheit interpretiert“ (215), der in ihrem Sample „in vielen Fällen auch mit einer Verleugnung oder Ablehnung der durch die familiale Abstammung vermittelten ethnischen Zugehörigkeit einherging“ (ebd.). Durch die räumliche Entfernung, den Bildungserfolg, die staatsnahe Position, mit der z.B. die ausschließliche Verwendung der russischen Sprache verbunden war, und die Ehe mit einer russischen Frau, fand eine Abgrenzung von der Elterngeneration statt. Offen ist jedoch, ob gerade dies der Auftrag war (anpassen; es besser haben; nicht mehr diskriminiert werden) oder ob dies als eine Form der Abgrenzung von der Familie geschah, die weiterhin russlanddeutsche Wurzeln bewahrte.

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Vadims Mutter Irina wurde 1958 in Kasachstan geboren und hat eine Schwester. Leider liegen zur Familiengeschichte der Mutter nur wenige Daten vor. Sehr wahrscheinlich haben ihre Großväter im zweiten Weltkrieg auf russischer Seite gekämpft. Im Interview wird nicht deutlich, wann und warum ihre Familie nach Kasachstan gezogen ist; ungewöhnlich war es aber nicht. Kasachstan hat seit 1936 den Status einer Sowjetrepublik. Durch die so genannte agrarpolitische ‚Neulandkampagne‘ zogen ab 1954 etwa eine Million Russen nach Kasachstan, was von Seiten des Staates finanziell unterstützt wurde (vgl. Benner 1996, 199). In den 1970er-Jahren lebten mit ca. 42 % sogar mehr Russen als Kasachen (ca. 32 %) in diesem Vielvölkerstaat (vgl. Harris 1993, 5). Bis zur Unabhängigkeit 1991 war Russisch in Kasachstan die Amtssprache und diente als Voraussetzung für Erfolg in allen öffentlichen Bereichen (vgl. Benner 1996, 199). Auch in der Familie der Mutter liegen somit Migrationserfahrungen vor. Ihre Eltern haben etwas gewagt, vermutlich um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Sie haben nur zwei Kinder (typisch für sowjetische Familien zu der Zeit) und keinen hohen Bildungshintergrund. Die Mutter besuchte die Schule für die Pflichtzeit von neun Jahren und machte im Anschluss eine Lehre zur Krankenschwester. Über Weiterqualifizierung wurde sie später jedoch als Erzierherin tätig, was eine gewisse Flexibilität zeigt. Die Tatsache, dass sie eine Beziehung zu einem Mann mit deutschem Hintergrund eingegangen ist, spricht für eine Offenheit und Unabhängigkeit im Denken, denn diese genossen nicht das gleiche Ansehen wie Russen in Kasachstan. Vadims Eltern haben geheiratet, als sie kaum 18 und 21 Jahre alt waren und bekamen 1978 ihren ersten Sohn Andrej. Ein junges Heiratsalter war statistisch typisch für die Sowjetunion. 1980 lag das durchschnittliche Alter bei der Hochzeit bei 22,4 Jahren (vgl. Grünheid 2006, 20), welches die beiden jedoch noch unterschritten haben. Nachdem der Vater seine Herkunftsfamilie jung verlassen hat, zeigt sich nun eine frühe Bindung und Gründung einer eigenen Familie; möglicherweise auch als Kompensation. Durch das junge Alter muss sich zumindest der Vater (aufgrund des längeren Schulbesuchs und dem abgebrochenen Studium) zu diesem Zeitpunkt noch in der Ausbildung befunden haben, womit möglicherweise eine finanzielle Herausforderung verbunden war. Als besonders bedeutsam von dieser Ausgangskonstellation der Familie ist die bi-nationale Verbindung der Eltern festzuhalten, die sehr unterschiedliche Familienhintergründe mit sich bringt. Für den Vater fällt die Aufstiegsorientierung und Anpassungsfähigkeit auf. Für beide Elternteile sind zudem die eigenen (Binnen-)Migrationserfahrungen (beim Vater in der Phase der frühen Adoleszenz) zu nennen.

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Kindheit Vadim wird48 1984 als zweites Kind in die Familie geboren. Bis zu seiner Geburt ist die recht lange Zeit von sechs Jahren vergangen, in der die Eltern eventuell versucht haben, sich beruflich zu etablieren und finanziell zu festigen. Zu viert leben sie in einer etwa 30 Quadratmeter großen Ein-Zimmer-Wohnung in einem typisch sowjetischen Wohnblock. Diese Wohnbedingungen sind üblich, aber dennoch als beengt zu bezeichnen. Über den Betrieb des Vaters erhält die Familie 1985, als Vadim neun Monate alt ist, eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Vadim beschreibt, dass diese im Vergleich zur alten Wohnung so viel Platz bietet, dass er dort rasch laufen lernt: „Wie letztens mir meine Mutter erzählt hat, es war so leer [mh] und dann bin ich einfach gegangen“ (493f). Obgleich auch zwei Zimmer für vier Personen objektiv betrachtet wenig Raum bedeuten, erlebt die Familie dies im Vergleich zu den alten Wohnverhältnissen als großen Zugewinn, sodass es sogar zu einer Art Mythenbildung kommt. Denn dass ein Kind etwa zum ersten Geburtstag laufen lernt, ist natürlich und wäre auch durch die beengteren Wohnverhältnisse vermutlich nicht verhindert worden. Mit einem Jahr kommt Vadim in eine Kindertagesstätte, weil auch die Mutter wieder zu arbeiten beginnt. Dies entspricht dem institutionell vorgezeichneten Weg, den die meisten Kinder in der Sowjetunion gegangen sind. Dennoch stellt es einen großen Einschnitt dar; zumal Vadim dort von morgens bis abends (achtzehn Uhr) betreut wird. Dies bedeutet neben der entwicklungspsychologisch betrachtet frühen Trennung von den Eltern, dass die Familie in der Woche kaum Zeit miteinander verbringen kann. „Ähm und äh (.) ich hab als ich Kind war, ich hab die, äh (.) diese Kinderstätten besucht. [mh] Und bei uns war es so, dass wir, ich äh wurde von Mutter und Vater morgens abgeführt, /lacht auf/ [lacht auf] sag ich so, weil ich das nicht wollte, ich wollte schlafen, [lacht auf] weil ich immer so schlafsü-süchtig war“ (502ff)

Zwar wird sich Vadim nicht mehr an seine Gedanken mit einem Jahr zurückerinnern können, doch stellt er die Krippen-/Kindergartenzeit im Nachhinein als Störung dar. Auffällig ist hierbei vor allem die Formulierung, er sei von den Eltern „abgeführt“ worden. Dieses Verb wird üblicherweise im Kontext von polizeilichen Festnahmen verwendet. Dadurch entsteht das Bild eines kleinen Kindes, das 48

Um dem Leser das Hineinversetzen in die Situation zu vereinfachen, erfolgt jeweils ab der Geburt der Interviewpartner die Darstellung im Präsens. Zudem habe ich mich aus Gründen der besseren Lesbarkeit dagegen entschieden, durchgehend konjunktivische Formulierungen zu verwenden. Beides ist nicht damit gleichzusetzen, dass ich behaupten möchte, dass ‚wirklich‘ alles ‚genauso‘ geschehen ist (siehe auch 5.4).

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wie ein Verbrecher von Polizisten gewaltsam (evtl. mit Handschellen) in den Kindergarten abgeführt wird. Verstärkt wird dieses Bild noch durch den Beruf des Vaters als Oberkommissar. Als Begründung führt Vadim an, dass er lieber länger habe schlafen wollen, die Formulierung macht jedoch denkbar, dass eine noch größere Abwehr damit verbunden ist. Generell beschreibt sich Vadim – im Vergleich zu den beiden Brüdern – als ruhiges Kind, das „nicht zu sehen“ (710f) ist, da es sich in der Wohnung stets allein mit seinen (wenigen) Spielsachen oder Alltagsgegenständen beschäftigt. Dies beruht vermutlich auch auf Berichten der Eltern. Im Verhältnis zu den beiden Brüdern haben sie ihn offenbar als ‚pflegeleicht‘ empfunden. Dadurch wird er zu einem angenehmen Kind, das jedoch in die Gefahr gerät, dadurch nicht ausreichend wahrgenommen zu werden. Die Beziehung zu dem – zu diesem Zeitpunkt vorhandenen – älteren Bruder bleibt in der Erzählung interaktionslos. Es gibt in der Präsentation für die Kindheit keine Darbietung von gemeinsamen Erlebnissen mit dem Bruder. Eventuell ist die gemeinsame Zeit auch durch die institutionellen Einrichtungen Kindergarten und Schule stark limitiert. Die Geschwister des Vaters stellen Ausreiseanträge 1987 beginnt die Perestroika, also die politische und ökonomische Umstrukturierung der Sowjetunion. In dieser unruhigen Zeit hört der Vater im Justizvollzug auf und wird Arbeiter in einer Fabrik. Obgleich dies in Hinblick auf seine Qualifikation einen Abstieg darstellt, ist es gesellschaftlich betrachtet nicht unbedingt als solcher zu werten, da Arbeiter hoch angesehen waren und oftmals sogar besser bezahlt wurden als Akademiker (vgl. Kuebart 2002, 26ff). Der Stellenwechsel bringt für Vadims Vater in der Tat einen großen finanziellen Gewinn mit sich, denn er verdient nun das Dreifache. Er beweist sich als flexibel und finanziell betrachtet erfolgreich. Eventuell spürt der Vater auch den politischen Stimmungswechsel und bevorzugt eine Tätigkeit außerhalb des Staatsdienstes, was ihn als strategisch denkend charakterisieren würde. Infolge der Umwälzungen im Ostblock wird die Ausreise für Russlanddeutsche erheblich erleichtert, sodass eine Massenauswanderung nach Deutschland beginnt (allein von 1988 bis 1992 wandern mehr als eine Million Menschen aus). Zudem finden große Veränderungen in Kasachstan statt. So wird die kasachische Sprache der russischen als Amtssprache gleichgestellt. Der Anteil der Kasachen übersteigt erstmals den der Russen (39,7 % zu 37,8 %) und kasachisch-nationalistische Bestrebungen nehmen zu. Die kasachische Sprache und Zugehörigkeit entscheiden zunehmend über Arbeitsplatzchancen und den Zugang zu Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen (vgl. Benner 1996, 96ff). Dies kann bei

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Vadims Eltern, die beide keine Kasachen sind, zu Sorgen geführt haben. Vadim selbst berichtet für die Kindheit nicht von negativen Erfahrungen. Direkt mit Beginn der erleichterten Ausreisebedingungen, stellen drei der vier Geschwister des Vaters Ausreiseanträge nach Deutschland. Vadims Eltern haben beide direkte oder indirekte Migrationserfahrungen und könnten nun ebenfalls einen neuen Aufbruch angehen, doch sie stellen keinen Antrag. Zu fragen ist, wie es zu dem Unterschied zwischen den Geschwistern kommt. Eventuell besinnen sich die anderen zurück auf ihre deutschen Wurzeln, die von den Eltern vertreten wurden, die für Vadims Vater weniger bedeutsam sind (z.B. durch seine Ehe mit einer Russin). Dies wäre erneut als eine Abkehr von der eigenen Familie und Geschichte zu werten. Er ist derjenige, der sich äußerlich früh von der Familie gelöst hat und nun durch das ‚Bleibenwollen‘ erneut unterscheidet. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass er Rücksicht auf seine Frau nimmt. Da sie Russin ist, müsste sie das Land ohne ihre Herkunftsfamilie verlassen, was sie eventuell nicht möchte. Möglich ist auch, dass für die Geschwister finanzielle Motive im Fokus standen, Vadims Eltern aber mit ihrer monetären Situation in Kasachstan zufrieden sind. Erziehungsmethoden und Beziehung zu den Eltern 1990 wird Vadims jüngerer Bruder Alexander geboren. Erneut liegt ein Abstand von sechs Jahren zwischen dem bisher jüngsten und dem neuen Kind. In einer Zeit, in der viele gehen, wirkt die Geburt eines weiteren Kindes wie eine Bekräftigung der Anwesenheit. Von da an ist Vadim nicht mehr der Jüngste in der Familie, sondern in der Position des Mittleren, mit großen Altersabstände in beide Richtungen. Vadim berichtet, dass er und sein älterer Bruder gegenüber dem jüngeren auch eine ‚Lehrerfunktion‘ eingenommen und ihm vieles beigebracht hätten, wie Kampfsport. Insgesamt werden die Geschwister in seiner Erzählung aber nur am Rande erwähnt. 1991 wird Vadim (wie üblich) mit sieben Jahren eingeschult und erweist sich rasch als guter Schüler. Die Mutter wacht streng über seine Leistungen und Hausaufgaben. Zum Beispiel muss er seitenweise Märchen abschreiben, um seine Handschrift zu verbessern. Dies macht deutlich, dass es der Mutter wichtig ist, dass er ein guter Schüler ist. Dies versucht sie auch mit Strafen zu fördern bzw. zu fordern. Vadim lebt daher in dem Bewusstsein, auch deswegen gut sein zu müssen, um einer Bestrafung zu entgehen und eventuell in der Sorge, den Anforderungen nicht zu genügen. Insgesamt sind die Erziehungsmethoden der Mutter als problematisch zu bezeichnen, denn sie habe ein „bisschen Gewalt“ (59) angewendet.

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Mildert Vadim die Gewalt an dieser Stelle durch das abschwächende „bisschen“ ab, wird er wenig später deutlicher: „Und ja, naja, erzogen wurden wir von Mutter. Haben wir schon mal, ah, ich kenne ein paar Sachen, wo ich schon mal richtig /leicht lachend:/ gekriegt haben. Und äh, ich weiß nicht, ich, wo ich gerade zurückschaue, ich denke, das war (.) ganz in Ordnung. [mh] Aber ich sag ja nicht, dass ich das gleiche machen werde [mh] mit eigenen Kindern, weil ich schon mal selbst als Mensch mehr sensibler bin. [mh] […] Und wo man auf Popo mal manchmal klopft, es muss sein, aber naja, (.) nicht wie wir das äh [mh] für jede Kleinigkeit, oder so. [mh] So, es muss mal auch geredet werden. [mh]“ (91ff)

Vadim ist ambivalent in seiner Darstellung. Zum einen will er das Verhalten der Mutter rechtfertigen und zum anderen deutlich machen, dass er es anders machen würde.49 Er kann die Methoden der Mutter nicht explizit kritisieren, dennoch wird durch die Formulierungen, dass er sensibler sei, dass es nicht „für jede Kleinigkeit“ eine Strafe geben dürfe und „auch geredet“ werden müsse, ganz deutlich, welcher Art die Strafen waren und dass er dies nicht gutheißt. Sprachlich auffällig sind das leichte Lachen, das an der eingesetzten Stelle unpassend erscheint und als Versuch einer Bagatellisierung interpretiert werden kann sowie die Pausen, die im Interview sonst kaum zu finden sind. Die grammatikalisch negativ geformte Aussage „ich sag ja nicht, dass ich das gleiche machen werde“, stellt eine schwammige Konstruktion der Ablehnung dar. Die klare positive Konstruktion: ‚Ich werde nicht das gleiche machen‘, kann er nicht formulieren. Es ist schwer, Angaben dazu zu finden, inwieweit körperliche Strafen ein verbreitetes Erziehungsmittel in Russland zu dieser Zeit darstellten. „Laut einer Studie des russischen Instituts für Soziologie vom Jahr 2010 schlagen etwa 50 Prozent der erwachsenen Russen ihre Kinder. Für sie handelt es sich um eine ‚Erziehungsmaßnahme‘. Dabei geht es nicht um spontane Ohrfeigen, sondern um körperliche Strafen“ (vgl. Ryklina 2012). Es ist gut denkbar, dass die Zahl mehr als 15 Jahre zuvor noch höher lag. Doch auch wenn körperliche Gewalthandlungen somit einen großen Teil der Kinder und Jugendlichen in Russland betroffen haben und betreffen, schmälert dies die negativen Auswirkungen im Einzelfall nicht. Der Vater hingegen sei nicht streng gewesen: „Und wenn man fragt, mit wem willst du leben? Sag ich: /mit flötender Kinderstimme:/ Mit Vater, [lacht auf] weil er so lieb ist, [mh] oder weil er äh, weil er nichts Schlechtes gemacht hat. [mh]“ (104ff). An dieser Stelle verwundert die hypothetische Frage, bei welchem Elternteil er lieber leben möchte, die sich de facto nur dann stellt, wenn die Eltern 49 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Vadims Frau zum Zeitpunkt des Interviews schwanger ist und er sich deshalb eventuell (gemeinsam mit ihr) damit auseinandergesetzt hat, welche Erziehungsmethoden er/sie favorisiert/favorisieren.

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sich trennen, was Vadims Eltern nicht getan haben. Denkbar wäre, dass diese Option einmal im Raum stand, wofür sich jedoch keine Anhaltspunkte finden lassen. Es kann sich auch um ein reines Gedankenspiel Vadims handeln, das jedoch vor allem dann wahrscheinlich wird, wenn das Verhalten der Mutter als besonders belastend erlebt wird – sodass er imaginiert, beim ‚lieben‘ Vater zu leben bzw. bei ihm ‚in Sicherheit zu sein‘. Prägnant ist, dass Vadim bei der Aussage sprachlich in eine Kinderstimme fällt, was sonst an keiner Stelle im Interview geschieht und eine besondere Nähe zum damaligen Geschehen aufscheinen lässt. Dazu tragen auch die Präsensformulierungen bei. Die Aussage, dass der Vater „nichts Schlechtes“ gemacht habe, impliziert einen Gegensatz zur Mutter, die solches getan hat. Es gibt im Interview keine Erzählung, die für die Zeit in Kasachstan eine innige Bindung zur Mutter erahnen lässt. Insgesamt drückt sich eine größere Nähe zum Vater aus. Wohingegen Interaktionen mit der Mutter sich nur auf die Schule und Strafen beziehen, stellt Vadim in Bezug auf den Vater gemeinsame Tätigkeiten dar. So hätten sie eine Datscha mit Keller gehabt, in dem sie z.B. Kartoffeln gelagert hätten. Er erzählt, wie sie diese im Winter mit einem Schlitten holen: „Dahin wurde ich [auf einem Schlitten, JZ] gefahren [lacht auf] von meinem Vater und nachhause sind wir mit Kartoffeln oder was weiß ich was, mit Kompotten oder mit Säcken, ja? [mh] Dann war es voll und dann musste ich ja nebenbei [mh] so laufen. Und das hat mir so riesig Spaß gemacht. Es war wie, (.) wir waren einfach zu zweit so [mh] und es war die Kommunikation schon mal zwischen Vater und Kind. Wir waren nicht nur zu zweit, zum Beispiel mein Bruder war auch dabei und wir haben Spaß gemacht so. Winter, hatten viel Schnee [mh] *und es war toll*“ (741ff)

In seiner Erinnerung hat er die Situation alleine mit dem Vater abgespeichert, der ebenfalls anwesende Bruder wird ausgeklammert. Auch wenn es sich vor allem um eine praktische Tätigkeit handelt, wird diese Situation äußerst positiv geschildert. Dies lässt vermuten, dass es in der Freizeit eher wenige innige Momente mit dem Vater gibt, was an dem Mangel an gemeinsamer Zeit liegen kann. Auffällig ist auch die Verknüpfung mit der Natur und die besondere Hervorhebung des Schnees. Stolz spricht Vadim von seinem Vater in Bezug auf seine sportlichen Fähigkeiten. So habe dieser den Titel Master Sporta (мастер спорта = Meister des Sports) erhalten. Dabei handelt es sich um einen Ehrentitel, der in der Sowjetunion an sehr erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler verliehen wurde. Indem er auch sich selbst als sportlich beschreibt, stellt er eine Nähe zum Vater her. So habe er sechs Tage die Woche Sport getrieben und dabei vieles ausprobiert, etwa Boxen oder nach der Unabhängigkeit Kasachstans den immer wichtiger werdenden Fußball. Den Erfolg des Vaters konnte er allerdings nicht wiederholen. Ebenso würdigt er auch die Fähigkeiten der Mutter, die im sportlichen Bereich „alles

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konnte“ (171). Insgesamt stellt er die Sportlichkeit als verbindende Familieneigenschaft heraus: „wir sind auch diese sportliche Familie“ (ebd.). Allerdings erklärt er im Weiteren, dass man in der Sowjetunion Sport habe machen müssen. Somit erscheint die (einzige) Gemeinsamkeit als ‚staatlich verordnet‘. Vadim berichtet, dass Gefühle in der Familie „nicht so offen“ (1331) gezeigt würden. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass es in der Kindheit kaum positive gemeinsame Erlebnisse gegeben hat und Geborgenheit und Zuwendung eher wenig stattgefunden haben. Berufliche Erfolge der Eltern und dann der Ausreiseantrag Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion erklärt sich Vadims Herkunftsland am 16. Dezember 1991 als Republik Kasachstan unabhängig. Der abrupte und unorganisierte Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft führt zu einer unerwartet tiefen und langanhaltenden Rezession und in der Folge u.a. zu Inflation und erhöhter Arbeitslosigkeit (vgl. Albrecht 2006, 59). Durch die Zunahme nationalistischer Bestrebungen und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten erfahren etliche Deutsche und Russen einen Prozess des sozialen Abstiegs. Sie verlieren ihren etablierten Status und müssen sich vor erneuter ethnischer Diskriminierung fürchten. „Insbesondere Angehörige der mittleren Generation [gemeint ist die Elterngeneration, JZ] entschieden sich in dieser Zeit, das Visum für die Auswanderung in die Bundesrepublik zu beantragen, anstatt erneut eine Rolle als soziale Außenseiter zu akzeptieren“ (Rosenthal et al. 2011, 47). Ganz anders reagieren jedoch Vadims Eltern. Sein Vater nutzt die Einführung der Marktwirtschaft und macht sich unmittelbar 1992 als Kaufmann im Bereich Bau selbstständig, womit er „gut Geld verdient“ (783). Damit beweist er Pioniergeist und Mut, auch, da er in diesem Bereich bislang weder Erfahrungen noch Vorbildung hat. Erneut wagt er einen beruflichen Neuanfang, nutzt die Umstände für sich und gestaltet aktiv seinen Werdegang. Indem er ohne zu zögern in den Kapitalismus übergeht, zeigt sich erneut die angenommene große Anpassungsbereitschaft. Dabei ist er sehr erfolgreich und bekleidet eine Position, in der er „mehr so mit Kugelschreiber“ (1250) arbeitet und alles andere den Angestellten überlässt. „Er hat nur die Objekten gefunden und die Vertrage, Verträge geschlossen. Also es war, es lief ganz gut“ (1251f). Durch alle politischen Wirren hindurch zeigt sich beim Vater ein kontinuierlicher finanzieller Aufstieg. Dabei scheint ihn – im Gegensatz zum allgemeinen Klima in der neugegründeten Republik Kasachstan – sein deutscher Hintergrund in keiner Weise zu behindern. Somit trägt er dazu bei, dass die Nachkommen der Überlebenden erfolgreich sind, jedoch verbunden mit einer starken Abkehr von der deutschen Familiengeschichte.

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Nach dem Erfolg des Vaters macht sich auch die Mutter mit eigenen Geschäften selbstständig. Sie ist für den Einkauf zuständig, wofür sie in den Süden Kasachstans fährt und günstig Waren kauft, um diese dann teurer wieder zu verkaufen. Für den direkten Verkauf hat sie Angestellte. Auch diese Selbstständigkeit läuft „ganz erfolgreich“ (1249). Die Mutter, die zuvor selbst als Angestellte in pflegenden Ausbildungsberufen tätig war, wird nun auch zur eigenständigen Gestalterin. Entgegen dem allgemeinen Trend können Vadims Eltern den Umschwung auf eindrucksvolle Weise für sich nutzen und sich erfolgreich als selbstständige Unternehmer etablieren und das, obgleich beide in dem Bereich, in dem sie tätig werden, keine Vorkenntnisse haben. Dabei gelingt es ihnen sogar, in die privilegierte Position zu gelangen, nur noch für die Organisation zuständig zu sein und für das Alltagsgeschäft Angestellte zu haben. Vadim erlebt mit, wie der Mut der Eltern zu Erfolgen führt und bleibt im Gegensatz zu anderen von den negativen Folgen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschont. Die Eltern schaffen es, die Familie vor den äußerlichen Unruhen zu bewahren. Umso mehr verwundert das nächste biographische Datum. Ab dem Jahr 1994 können die drei Geschwister des Vaters, die bereits Ausreiseanträge gestellt haben, mit ihren Familien nach Deutschland übersiedeln. Vadims Onkel und Tanten reisen Stück für Stück mit ihren Familien aus. Möglicherweise wird dies nicht hautnah spürbar, da die Verwandten nicht in derselben Stadt leben, dennoch wird dies zu Gesprächen in der Familie und vermutlich zu Gefühlen des Verlusts beim Vater und eventuell auch bei Vadim geführt haben. Noch im selben Jahr stellen seine Eltern ebenfalls einen Ausreiseantrag. Vadim betont mehrfach im Interview, dass seine Eltern erfolgreich waren und sich das auch finanziell auszahlte, sodass ein gutes Leben in Kasachstan mit neuer Wohnung und Auto möglich gewesen wäre: „hätten wir viel, viel so uns gekauft. Aber uns hat, wurden wir, haben wir das Geld gespart für [ja] Reise nach Deutschland“ (787ff). Indem die Eltern Entbehrungen in Kauf nehmen, wird deutlich, dass mit der Ausreise der Gedanke verknüpft ist, dass sie sich lohnen würde. Jahre zuvor, als die Geschwister die Anträge gestellt haben, war auch die Situation von Vadims Familie noch unsicher, 1994 ist sie jedoch gefestigt. Es drängt sich daher die Frage nach den Motiven für den Ausreisewunsch auf, wofür sich unterschiedliche Hypothesen formulieren lassen. Zunächst stand die Ausreise der Geschwister durch den Antrag nur im Raum, dann wird sie von den Familienmitgliedern jedoch konkret umgesetzt. Nachdem der Vater lange Zeit eine Art Randposition in der Familie eingenommen hat, könnte die tatsächliche Trennung den Wunsch nach einem Zusammenkommen ausgelöst haben. Die Ausreisezahlen steigen zu dieser Zeit (auch über die eigene Familie hinaus) rasant. Rosenthal et al. beschreiben, dass diese steigenden Zahlen ausreisender Deutscher aus den postsowjetischen Staaten die soziale Außenseiterposition der dort verbliebenen Deutschen erhöht habe, sodass sich auch für diese „eine

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Ausreise nach Deutschland als Option regelrecht aufdrängte“ (Rosenthal et al. 2011, 48). Betrachtet man den Weg des Vaters, so fällt insbesondere auf, dass sowohl seine erfolgreiche Berufslaufbahn als auch seine Partnerwahl deutlich auf eine erfolgreiche Integration in die sowjetische bzw. russische/kasachische Gesellschaft hinweisen – mit dem Antrag findet jedoch eine Abkehr davon statt. Vadim zufolge hätten die migrierten Verwandten den in Kasachstan Verbliebenen „nur Gutes“ (1232) von Deutschland erzählt und dies „als Märchenland“ (ebd.) dargestellt. Eventuell denken die Eltern, dass sie durch die Migration in den Westen einen weiteren finanziellen Aufstieg erreichen und ihre Position noch weiter verbessern können. Vadim gegenüber hätten sie jedoch argumentiert: „Wir hatten gefahren nach Deutschland nur wegen euch. [mh] Dass ihr etwas erreicht“ (1217f). Allerdings war der älteste Sohn zu dieser Zeit schon 16 Jahre alt und es war bekannt, dass durch die Bearbeitung der Anträge bis zur Ausreise noch ein paar Jahre vergehen werden, sodass sich dieser in der Zwischenzeit in Kasachstan beruflich gebunden haben wird. So beendet er im folgenden Jahr die Schule und beginnt eine Lehre zum Mechaniker. Dies könnte dazu führen, dass er bis zum positiven Bescheid gar nicht (mehr) migrieren möchte oder zumindest ungünstig aus einer Situation herausgerissen wird. Und Vadim wird bis zur Ausreise das (zumindest frühe) Jugendalter erreicht haben. Er sagt nicht, ob er in die Entscheidung einbezogen wurde oder wann er von dieser erfuhr. Auch kommentiert er an keiner Stelle, wie er diese bewertet (hat). Für einen Zehnjährigen ist dies vermutlich sehr abstrakt, doch durch die ausreisenden Verwandten muss ihm bewusst gewesen sein, dass es bei ihnen bald genauso sein könnte. Über die kommenden Jahre bis 1998 spricht Vadim nicht. Es gibt keine Hinweise darauf, dass in dieser Zeit etwas geschehen ist, was tabuisiert wird. Wahrscheinlicher ist, dass in diesen Jahren zwischen Kindheit und Jugend nichts geschehen ist, das er im Rahmen des Interviews für relevant hält. Das nächste Datum ist die Heirat seines älteren Bruders Andrej, in deren Folge dieser aus der ZweiZimmer-Wohnung auszieht, in der sie fortan zu viert leben. Das Verhalten des älteren Bruders ist typisch für russlanddeutsche Familien, in denen die Kinder traditionell zu Hause leben, bis sie heiraten (vgl. Schnepp 2002). Er geht von der Familie über in die Ehe. Wie die eigenen Eltern heiratet er jung und zudem, wie der Vater, eine russische Frau. All dies verstärkt die Bindung an Kasachstan und wirft die Frage auf, was er im Falle der Ausreise tun wird. Nach dem Auszug fehlt der Bruder in Vadims Darstellung. Allerdings führt er ihn als Vorbild für Kurswahlen in der Schule an. Wie sich diese Änderung auf das Familiengefüge ausgewirkt hat, ist daher schwer zu sagen. Eventuell ist der Wandel nicht so stark, da der Bruder in der Stadt bleibt und weiterhin Kontakte stattfinden.

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Vadim, der Kluge – Position unter den Geschwistern Andrej hat die Mittelschule mit mittelmäßigen Noten abgeschlossen und fängt daher anschließend kein Studium, sondern eine Lehre an. Für Vadim haben die Eltern den Wunsch, dass er als erster ein Studium abschließen solle. An mehreren Stellen macht Vadim deutlich, dass seine Eltern ihn – im Vergleich zu den Geschwistern – stets als den klügsten gesehen hätten: „Mutter sagt so: /leicht lachend:/ Oh, du bist ein, unser Kluger“ (1328), „Und sie dachte, dass ich schon mal, mit solche Kopf muss man schon mal was anfangen. [mh]“ (1288f): „Ja, das war schon irgendwie eingeplant, weil ich, wenn man uns drei vergleicht, Jungs, [mh] bin ich, war ich immer der klügste. [mh] So. Ich war schon mal gut in der Schule. Mein Bruder hat so mittelmäßig abgeschlossen, so mit Dreier [mh] und ja, der kleine ist jetzt auch nicht so der Favorit. [lacht auf] Und ich war immer so, der, (.) ich weiß nicht, ich war so, (.) ich hatte Vertrauen von meinen Eltern [mh] und naja, ich war klug, ich weiß nicht so, so fanden die mich“ (1283ff)

Die Betonung seiner Intelligenz, deren Sichtbarkeit von Anfang an, das in ihn und seine Fähigkeiten gesetzte Vertrauen und die ‚Besonderung‘ unter den Brüdern, stellt eine Form der Anerkennung dar, die Vadim mit Stolz erfüllt und stärkt. Zugleich gewinnt man den Eindruck, dass dies aber auch der einzige Weg für ihn ist, in der Familie gesehen zu werden, woran auch der Wunsch anknüpfen kann, diesem Bild, das zum Selbstbild wird, gerecht zu werden. Anerkennung erhält er von den Eltern offenbar nur für seine schulischen Leistungen. Die hohen Bildungsaspirationen der Eltern können auch belastend sein. Vadim berichtet davon, dass seine Mutter Druck gemacht und u.a. seine Hausaufgaben streng kontrolliert habe, dennoch sind seine Schulerzählungen geprägt von Leichtigkeit. Offenbar fiel es ihm kognitiv nicht schwer, gute Leistungen zu erbringen. Und da er durchgehend gute Ergebnisse zeigt, hätten die Eltern ihm etwa ab der siebten Klasse mehr Freiheiten gelassen. Auch könnte die Hervorhebung und positive Differenzierung von den Brüdern zu Neid und Unstimmigkeiten zwischen diesen führen. Dies erwähnt er jedoch nicht. Die Zwischenzeit 1999 – Vadim ist inzwischen 15 Jahre alt – erhält die Familie die Nachricht, dass sie nach Deutschland ausreisen kann, aber zuvor noch einige Papiere eingereicht werden müssen. Vadim denkt zunächst, dass die Ausreise nun unmittelbar bevorsteht:

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„Und, naja, jedes Jahr, äh bei jedem Abschluss, in neunten Klasse sag ich ja mal ‚Tschüss‘ [lacht auf] zu meinem Kumpel“ (34f)

Da die Ausreise konkret wird, verabschiedet Vadim sich nach dem Ende der neunten Klasse vor den Ferien von seinen Freunden. Dabei stellt er den Vorgang salopp als „Tschüss“-Sagen dar, was wenig emotional klingt. Die Sequenz wird jedoch von dem Wissen der Gegenwart beeinflusst, denn dies wiederholte sich in der Folge bei jedem Jahresabschluss, da es bis zur Ausreise noch zwei Jahre dauern sollte. Dass er zunächst erwartete, bald auszureisen, zeigt sich auch in seinem schulischen Wahlverhalten. Für die neunte Klasse hat Vadim, wie zuvor sein Bruder Andrej einen Mechanikkurs gewählt, der an einem Schultag pro Woche an einer Berufsschule unterrichtet wird. Wenn er diesen auch die beiden letzten Schuljahre noch besuchen würde, hätte er die Chance, dort den Führerschein zu erwerben. „So und äh, ich dachte, dass wir schon mal weg wären und dann brauche ich diese Führerschein sowieso nicht [ja] und mache was ganz anderes“ (599ff). Da die pragmatische Entscheidung (noch zwei Jahre, dann Führerschein) hinfällig zu sein scheint, wählt Vadim stattdessen für die zehnte Klasse einen künstlerischen Kurs. Dies verdeutlicht, dass Vadim in der aktuellen Situation jederzeit damit rechnet, seine vertraute Heimat zu verlassen. Mit dem gewählten Kurs bedient er eigene Interessen, denn Vadim hat schon früh Freude an kreativen Tätigkeiten. Die Aussicht, dass ohnehin bald alles anders werde, erlaubt somit auch den Spielraum, gewohnte Wege zu verlassen. Zu fragen ist aber auch, welche Gefühle es in ihm ausgelöst hat, nicht genau zu wissen, wann er ausreisen wird und stets im Hinterkopf zu haben, dass bald alles ganz anders werden wird. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit ab Antragsstellung betrug etwa vier Jahre (vgl. Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, 180), Vadims Familie wartet zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits seit fünf Jahren und es wird noch länger dauern, da es mit der Beschaffung der Papiere Probleme gibt. Dies habe daran gelegen, dass der deutsche Nachname der Familie in den Urkunden des Großvaters und des Vaters je unterschiedlich geschrieben worden sei (einmal mit zwei E und einmal nur mit einem): „Und dann dachten die: Ey, [lacht auf] du bist gar nicht so Kind deines Vaters. Dann musste mein Vater schon mal äh im Gericht das nachzuweisen und es dauerte noch zwei Jahre“ (608ff). Die Zeitspanne kann im Nachhinein benannt werden, in der Situation des aktuellen Erlebens jedoch, weiß die Familie nicht, wie lange die Prüfung der Unterlagen noch dauern wird und geht vermutlich nicht davon aus, dass aufgrund solch einer kleinen Unstimmigkeit der lange Zeitraum von zwei Jahren vergehen wird. Ein weiteres Problem sei gewesen, dass der Vater in den 1980er-Jahren im Justizvollzug gearbeitet hat und dann in eine Fabrik gewechselt ist: „Das wurde alles äh überprüft, äh naja, Vater ist ja aus dem Justizvollzug, /leicht lachend:/ vielleicht ist er Spion“ (73f)

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„Und äh die haben ja nicht gleich verstanden, warum er von Beamter zu einem [mh] ganz normalen Arbeiter [gewechselt ist, JZ]“ (78f). Schon bevor die Familie nach Deutschland migriert, erfahren sie von den Behörden dort Skepsis und Unverständnis. Der beflügelte „Star“ Über eben diese Zeit, das Alter von 15 und 16 Jahren, erzählt Vadim – anders als in der Eingangserzählung – auf meine Nachfragen hin sehr ausführlich. So berichtet er, dass er Mitglied der Musicalgruppe seiner Schule gewesen sei, die bei verschiedenen Wettbewerben Preise gewonnen habe. Dies erfüllt ihn mit Freude und Stolz: „/stolzer Unterton:/ Wir waren zweimal Champ bei uns [mh]“ (683f). An der Formulierung fällt vor allem die betont coole Abkürzung des Wortes ‚Champion‘ auf. Dieses charakterisiert üblicherweise den Sieger eines Wettkampfes, wodurch der Sieg eine besondere Konnotation erhält. Ein Regisseur, der eine außerschulische Gruppe mit talentierten jungen Menschen gründen will, die für Geld bei Firmen und Geburtstagen (auch in Nachbarstädten) auftritt, wird bei dem Wettbewerb auf Vadim aufmerksam. Ebenfalls mit Stolz in der Stimme erzählt er, wie er ausgesucht wird „/leicht stolz:/ und damit auch Geld verdient ein bisschen“ (693). Vadim hat große Freude am Musicalspielen, es ist seine Leidenschaft, die losgelöst ist von den Interessen der anderen Familienmitglieder. Es stellt stattdessen einen Raum dar, den er mit Gleichaltrigen teilt. Er verfolgt damit etwas Eigenes und Künstlerisches. Er kann sich ausprobieren, die Rollen wechseln und für seine Darstellung Anerkennung erhalten, wodurch genuin adoleszente Bedürfnisse angesprochen werden. Zu dieser Zeit beginnt er auch, sich für Mädchen zu interessieren bzw. seien die „Mädels mehr auf mich aufmerksam“ (801) geworden, wie er verschmitzt erzählt. „Weil ich schon mal damals im Musical war und ich, es war irgendwie so ein Gefühl also, ob schon mal, ich war schon mal ein bisschen da, ich will nicht ja nicht übertreiben, aber ich war ein bisschen so wie ein Star. [mh] Ich war gut in Sport, [mh] bei jedem Sport äh Sport äh zum Beispiel Fußball haben wir zwischen den Schulen auch gespielt und da war ich immer dabei, war einer der Besten war ich. [mh] Und ich, ich fühlte mich beflügelt [lacht auf]“ (802ff)

Vadim stellt dar, dass er aufgrund seiner Erfolge im Musicalspielen und Sport sehr beliebt bei den Mädchen sei. Die Erfolge und die Anerkennung von außen führen dazu, dass er sich wie ein „Star“ fühlt. Vadim braucht mehrere Anläufe um das Wort „Star“ auszusprechen und versucht mit dem Hinweis „ich will nicht ja nicht

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übertreiben“ den Aspekt der Angeberei zu nehmen, dem jedoch die betonte Aussprache des Wortes wieder entgegenwirkt. Zudem weist gerade der Einschub besonders auf das Kommende hin. Es wirkt, als wolle er retrospektiv nicht als Angeber auf die Interviewerin wirken, obgleich er überzeugt davon ist, dass er damals ein Star gewesen ist. Dieser Begriff bezeichnet üblicherweise eine prominente Persönlichkeit, die auf einem bestimmten Gebiet außergewöhnliches Talent zeigt, wodurch ein öffentliches/mediales Interesse für diese entsteht.50 Stars werden verehrt und bewundert, vor allem von Jugendlichen. Die eigene Erhöhung kann als Ausdruck damaliger adoleszenter Größenphantasien verstanden werden. Von einer retrospektiven Übertreibung ist nicht auszugehen, da es zahlreiche Belegerzählungen gibt und diese Form der Eigendarstellung nicht Teil von Vadims Präsentationsinteresse in der selbstgestalteten Eingangserzählung ist (siehe 6.1.3). Die Tatsache, dass er in die semiprofessionelle Gruppe aufgenommen wurde, spricht in der Tat für sein Talent und wenn er stets bei den Fußballmeisterschaften zwischen den Schulen mitspielte, werden auch diese Fähigkeiten gut gewesen sein. Die „Mädels“ erscheinen wie Groupies, die die Nähe des aufstrebenden ‚Stars‘ suchen. Vadim gehört damals selbst zur Gruppe der Heranwachsenden, durch seine Erfolge hebt er sich jedoch von dieser Gruppe ab und nimmt eine besondere Rolle ein. All dies hat ihn „beflügelt“. Beflügeln meint, dass er Antrieb erhält, angespornt wird; die Anerkennung der anderen regt ihn an. Dies – das sei bereits an dieser Stelle kurz angemerkt – steht dem ‚fehlenden Schwung‘, von dem er für Deutschland mehrfach spricht, diametral entgegen. In der Folge geht er rasch wechselnde Beziehungen zu Mädchen ein: „Und bei den äh, (.) in der zehnten Klasse noch mal dann, das war diese Sachen, dass ich schon mal, ich hab schon mal Freundin und eine und dann andere. [lacht] Ich war, ich war nicht so fest gebunden und äh, ich war immer so ein/zwei Wochen da und ein/zwei Wochen da. Und äh, naja, weil ich so berühmt in der Schule war. [lacht] Und bei jedem Valentinstag hat ich so ein Stapel /deutet es mit der Hand an/ [lacht auf] und es hat mir so gefreut“ (863ff)

Die damalige Freude und der Stolz werden noch in der Erzählsituation hör- und spürbar. An keiner anderen Stelle im Interview spricht er mit solch einer Euphorie, wie sie vor allem der Tonaufnahme zu entnehmen ist, aber auch in der Transkription zum Ausdruck kommt. Auffällig ist, dass all diese positiven Szenen zur Jugend in Kasachstan erst im Nachfrageteil auftreten. Die Analyse der Eingangserzählung unter 6.1.3 hat im Gegensatz gezeigt, dass er diese Erlebnisse ausgespart

50 Interessant ist in diesem Kontext auch, dass Vadim im Nachgespräch den Gedanken äußert, seine Lebensgeschichte könnte verfilmt werden.

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hat. Eine Begründung für diese Tatsache wird in der Kontrastierung zu geben versucht. Auch in der Sequenz oben zeigt sich genuin adoleszentes Verhalten. Vadim erprobt Liebesbeziehungen. Der häufige Wechsel der Partnerinnen kann Teil des üblichen adoleszenten Probehandelns sein, aber auch durch das Selbstbild gesteigert sein, das er durch die anderen vermittelt bekommt. Vadim genießt die Anerkennung und ‚Liebe‘ der Mädchen. Partnerinnen und Freunde erhalten hohe Bedeutung, was einen weiteren Schritt heraus aus der Familie bedeutet. Die Eltern lassen es zu. Seine Position hilft ihm aber nicht nur in Bezug auf Erfolge bei jungen Frauen, sondern auch im Schulischen: „Oder ich hab geschummelt, bei Biologie hab ich ja gesagt: /nonchalant:/ Oh, Entschuldigung, wir müssen jetzt schon mal repetieren und zu unseren Aufträgen wir hatten diese, wissen Sie doch, Musical. [lacht auf] /Lehrer nachahmend:/ Ach ja, ja, machen Sie überhaupt keine Sorgen, können Sie weg. Und wir hatten überhaupt keine [Probe, JZ], /leicht lachend:/ ich wollte einfach nachhause“ (808ff)

Er ist in einer Position, in der er sich in der Schule offenbar fast alles erlauben kann. Und seine Nachhilfelehrerin für das Fach Russische Literatur bringt er dazu, statt ihm Aufsätze über den Roman „Krieg und Frieden“ zu verfassen: „hab ich einfach gesagt: /wie ein liebes Kind:/ Könnten Sie mir schreiben? Und dann hat sie mir geschrieben und ich hab das abgegeben, abgeschrieben und abgegeben“ (854ff). Als Begründung gibt er an, dass es ihm zu viel Lesestoff gewesen sei: „es sind ja vier solche Dinger. [ja] Ich hab niemals geschafft, [lacht] ich hab nur Ausschnitte daraus gelesen“, 850ff. Vadim stellt sich (auch in der sprachlichen Darstellung im Interview) in diesen beiden Szenen als ‚nonchalanter Schlawiner‘ dar, der seine Position geschickt und erfolgreich einsetzt und z.T. durch kleine Tricksereien, immer das bekommt, was er will. In all den Erzählsequenzen stellt er die damalige Situation sprachlich wieder her. Durch die Art der Darstellung, die offen und mit Charme sein Vorgehen wiedergibt und die positive Selbsteinschätzung nur zögerlich benennt, wirkt er nicht arrogant, sondern inszeniert sich auch gegenüber der Interviewerin mit Nonchalance. Vadim hat einen großen Freundeskreis um sich herum und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er aufgrund seiner Abstammung Anerkennungsprobleme hat; er erscheint vielmehr als fraglos zugehörig. Zusammen mit seinen (männlichen) Freunden raucht er heimlich Zigaretten und Hasch und trinkt auch hochprozentigen Alkohol, den sie sich von Älteren kaufen lassen, denn: „es war doch cool“ (821). Das Adjektiv ‚cool‘ verwendet er in diesen Zeilen dreimal (im ganzen Abschnitt sogar fünfmal). Außerdem hören sie zusammen Rap-Musik und Vadim rappt auch selbst. Gelegentlich beweisen sie sich auch bei Schlägereien. All dies stellt ein (männlich geprägtes) jugendkulturelles Verhalten dar. Zu dieser Zeit,

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etwa mit Beginn der zehnten Klasse, lassen Vadims schulische Leistungen nach, was er wie folgt begründet: „Und das fanden wir irgendwie cool und es war so eine Zeit, wo man auch in der Schule, ich weiß nicht, wie jetzt, ich glaube es ist jetzt auch wie ich sehe, wo man schlecht ist, dann heißt es: Der ist cool. [mh] Es ist cool-schlecht so. [ja] Äh, und zwar diese Geschichte, als auch bei uns Rap gut ankam und ich war so einer auch, einer aus diesen, na? Und es war schon mal, wow, ich musste schon mal schlecht sein, ehrlich gesagt. [lacht auf] Wenn ich schon mal Sechser kriege, dann sag ich: /stolz:/ Ah! [lacht]“ (830ff)

Es kann nicht geklärt werden, ob seine Leistungen nachgelassen haben, weil Vadim aufgrund seines Freizeitverhaltens weniger Mühe investiert hat und/oder ob er es – wie er es darstellt – bewusst hat schleifen lassen, um einem bestimmten Image gerecht zu werden. In den Bereichen Musical und Sport glänzt er und gehört zudem zu den ‚Coolen‘ im Freundeskreis. Zum ‚Coolsein‘ gehören auch Regelund Grenzverletzungen, die ein Kennzeichen der adoleszenten Autonomieentfaltung sind. Dies bringt ihm die Liebe der Mädchen und die Zuneigung der Freunde ein. Zugleich kann Vadim es sich dadurch aber auch erlauben, schlechter zu werden und sich damit von den Erwartungen der Erwachsenen zu distanzieren und die Kritik der Eltern zu riskieren. Denn indem er sich den neuen Raum des Coolen und Stars erschlossen hat und dafür Anerkennung und Respekt aus dem Freundeskreis erhält, ist er weniger auf die Anerkennung für seinen Bildungsweg angewiesen. Die Gleichaltrigengruppe bietet Ressourcen, um sich intergenerational abgrenzen zu können (vgl. Wischmann 2010, 39). Es lassen sich im Text keine Anhaltspunkte dafür finden, dass die drohende Ausreise das Hauptmotiv für die Art der Ausgestaltung seiner frühen Adoleszenz ist. Möglich, dass er den Gedanken die ganze Zeit über im Hinterkopf hat, es wirkt jedoch, als würde er ihn im Alltag verdrängen und ganz im Hier und Jetzt leben und genießen. Vadim verortet sich vollkommen bei den Peers, obwohl eine mögliche Ausreise im Raum steht. Die Eltern lassen ihn gewähren und bieten somit Raum für adoleszentes Probehandeln. Sie weisen aber auch Grenzen auf, z.B. beim Konsum von Drogen oder schlechter werdenden Noten. Aufgrund der Zunahme Vadims körperlichen Fähigkeiten, setzt die Mutter nun keine Gewalt als Erziehungsmittel mehr ein. Dafür bekommt er jeweils Hausarrest, als er einmal sehr betrunken nachhause kommt und ein anderes Mal, als er beim Rauchen erwischt wird. Dies ist eine harte Strafe für ihn, denn dadurch wird seine Teilnahme an einem wichtigen Musicalauftritt in einer Nachbarstadt gefährdet. Nachdem er zwei Wochen darum fürchten muss, lassen die Eltern ihn doch mitfahren, da sein Fehlen sonst die ganze Aufführung zerstören würde, doch „das war die Strafe meines Lebens“ (928). Die Eltern geben

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demnach Freiräume, weisen aber an Punkten, die ihnen wichtig sind, auch Grenzen auf. In Bezug auf die Noten warnt die Mutter: „Pass auf“ (131), worauf er antwortet: „Jawohl, mach ich schon mal besser“ (ebd.), was er dann auch tut. Es gelingt Vadim, den elterlichen Freiraum für sich zu nutzen, ohne dadurch seinen schulischen Erfolg ernsthaft in Gefahr zu bringen. Die ‚ganz wilde‘ Phase lebt er nur kurz, wie im Schnelldurchlauf und benimmt sich wesentlich vernünftiger, nachdem er im Jahr 2000 eine feste Beziehung mit Natscha eingeht. Diese hat ebenfalls ein deutsches und ein russisches Elternteil und auch ihre Familie plant die Ausreise. Als feste Partnerin wählt er demnach ein Mädchen, das ihm in Bezug auf diese äußerlichen Faktoren gleicht und ihn dadurch vermutlich auch emotional besonders gut verstehen kann. Auch sie steht vor der Situation, bald nach Deutschland migrieren zu müssen. Beide lassen sich auf etwas Festes ein, obwohl sie wissen, dass sie irgendwann gehen müssen. Seine Eltern mögen das Mädchen, denn mit ihr an der Seite baue er „nicht so viel Scheiß“ (972). In der Tat führt die Liebesbeziehung dazu, dass er das grenzüberschreitende Verhalten größtenteils einstellt. Statt sich wahllos zu betrinken etwa, treffen sie sich nun bei Freunden, trinken gemütlich ein Bier, spielen Karten oder gehen in die Sauna, „wir hatten keinen Spaß mehr, uns zu betrinken“ (973f). Auffällig ist jedoch, dass Vadim Natascha „nicht ganz treu [ist], /lacht schelmisch/ weil ich doch so diese Ruf hatte. [mh]“ (1144f). Dieser ist anhaltend von hoher Relevanz für ihn. Zukunftspläne für Kasachstan In der elften und letzten Klasse stehen für Vadim in fünf Fächern Examen an. Er erhält in den Prüfungen gute bis sehr gute Noten. Obwohl seine Leistungen zwischenzeitlich schlechter waren, schließt er die Schule nun sehr gut ab. Dies wird ihn vermutlich gefreut und auch stolz gemacht haben. Parallel zum Ende der Schulzeit befasst er sich mit Zukunftsplänen für Kasachstan: „Und sie [die Mutter, JZ] dachte, dass ich Arzt werden soll […] und dann Mutter hat gesagt: Guck mal, das ist eine der Möglichkeiten. [mh] Und ich dachte: Wieso nicht? [mh] Interessiert mich, ich war für alles damals offen und (.) da zum Beispiel konnte ich fast alles machen. Ich war irgendwie, ich war nicht immer auf etwas gerichtet, ich konnte alles im Prinzip machen, [ja] es hat mir alles Spaß gemacht“ (1289ff)

Vadim lebt in dem Gefühl, dass seine Eltern ihn für klug halten und ihm auch ein anspruchsvolles Studium zutrauen. Die Mutter favorisiert mit Medizin ein besonders prestigeträchtiges Studienfach. Vadim bezieht die Ratschläge und Wünsche in seine Pläne mit ein. Sie erscheinen ihm jedoch nicht als Vorgabe, sondern als

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eine Wahlmöglichkeit. Vadim ist vielseitig interessiert und traut sich dieses Studienfach durchaus zu. Viermal nutzt er das Wort „alles“, wenn er von seinen Studienmöglichkeiten spricht. Er hat Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten, welches durch die Familie und seine Noten genährt wird. Daneben hat er aber auch noch ganz eigene Gedanken: „Oder ich würde damals direkt etwas für mich machen und würde nach C-Stadt in Russland oder D-Stadt in Russland fahren und äh ich wollte damals Schauspieler werden, [mh] weil ich schon mal mit Musical gemacht habe“ (676ff)

Als weitere Option benennt er, seine Leidenschaft der Schauspielerei zum Beruf zu machen. Als Vorbild nennt er den Gründer seiner Musicaltruppe, der ebenfalls zum Studieren nach Russland gegangen sei. „Und das fand ich sehr cool und dachte /locker:/ Das mache ich mir auch“ (698f). Er denkt an ein Studium in Russland, da das öffentliche Bildungs- und Hochschulsystem im Zuge der Selbstständigkeit Kasachstans massive finanzielle Schwierigkeiten erlitten hat, die zu einer Verschlechterung der Bildungssituation geführt haben (vgl. Albrecht 2006, 73). Durch die nationalistischen Strömungen in Kasachstan kam es zudem zu einer Benachteiligung von Russen und Deutschen. „Es wird ja, jeder versucht da zu sagen, dass du ja nicht Kasache bin, bist und nicht zuhause eigentlich. [mh] Und deswegen versuchen wir nach Russland zu fahren“ (650f). Dies ist der einzige Kontext, in dem er eine Benachteiligung anspricht. Er nennt zwei Städte, die direkt an der Grenze gelegen sind und daher sehr beliebt seien. Auch seine Cousine und ein Freund würden dort studieren. Sein Plan macht deutlich, dass eine (Binnen-)Migration in jungen Jahren (wie beim Vater) für ihn eine denkbare Option darstellt. Vadim hat Vertrauen in seine Fähigkeiten, das er auch von anderen bestätigt bekommt. Daher traut er sich viele verschiedene Studienrichtungen zu. Konkret stehen zwei zur Auswahl, entweder das Fach Medizin, zu dem seine Mutter ihm rät oder ein Schauspiel-/Regiestudium, das ihn persönlich sehr reizt. Er erzählt nicht, wie die Eltern bzw. die Mutter zu seinem Wunsch stehen und ob es zu Diskussionen über die anstehende Wahl gekommen ist. In jedem Fall sind die Fächer und Motivationen dahinter doch recht unterschiedlich, sodass es zumindest für Vadim persönlich nicht leicht gewesen sein wird, sich zu entscheiden. Die Wahl wird ihm jedoch abgenommen, indem die Familie kurz vor Ende seiner Schulzeit erfährt, dass sie ausreisen kann. Durch die Migration muss die Entscheidung nicht getroffen werden.

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Die Ausreise Im Sommer 2001, zwei Wochen nach dem Vadim den Mittelschulabschluss erreicht hat, reist die Familie aus. Er wird schon in der Prüfungsphase gewusst haben, dass die Ausreise unmittelbar bevorsteht. Eventuell wird der Termin extra so gelegt, dass er die Prüfungen gerade noch abschließen kann, denn die Familie hat bereits in Erfahrung gebracht, dass der Abschluss wichtig ist, damit er seinen Bildungsweg in Deutschland fortsetzen kann. Zugleich ist ihnen bewusst, dass der Mittelschulabschluss, mit dem er in Kasachstan (oder Russland) ein Studium beginnen könnte, nicht gleichwertig anerkannt wird. Vadim muss sich also anstrengen und weiß zugleich, dass er nach der Migration trotzdem nicht unmittelbar studieren kann. Die Migration fällt zum einen mit dem Erfolg des Abschlusses und dem bevorstehenden Statuswechsel vom Schüler zum Studenten im Herkunftsland zusammen und zum anderen mit seinem starken Eingebundensein in den Peerkontext und die damit verbundene Anerkennung. Zudem hat die adoleszente Ablösung von den Eltern begonnen und er eigene Erfahrungen außerhalb der Familie gesammelt und Zukunftsentwürfe gemacht. Er hat eine feste Partnerin und daneben zahlreiche Verehrerinnen. Vadim migriert quasi auf ‚dem Höhepunkt‘ seines bisherigen Lebens. Dies stellt eine schwierige Konstellation dar. Es ist anzunehmen, dass sich die Beziehungen in Kasachstan durch das Verlassen der Schule als dem Ort, an dem er Anerkennung erfährt und das Eintreten in den größeren und anonymeren Rahmen der Universität, verändert hätten. Sehr wahrscheinlich hätte Vadim seinen Status als ‚Star‘ nicht an die Universität (eventuell sogar im benachbarten Russland) ‚mitnehmen‘ können. Eventuell hätte es mit den Eltern zuvor Diskussionen darüber gegeben, welchen Studiengang er wählt. Doch da die Migration bevorsteht, braucht er sich mit diesen Gedanken nicht zu befassen. So verlässt er Kasachstan mit dem Gefühl, ein Mensch zu sein, der unter seinen Freunden besondere Anerkennung genießt. Vadim reist mit seinen Eltern, dem jüngeren und dem älteren Bruder sowie dessen Frau aus. Wohingegen sein Bruder seine Frau mitnehmen kann, muss Vadim seine Freundin zurücklassen. Die Beziehung dauert schon mehr als ein Jahr. Auch wenn Vadim sich als nicht ganz treu beschrieben hat, besitzt diese durch die Länge eine besondere Bedeutung und der Abschied wird ihm sicher schwerfallen und ungerecht vorkommen. Abschied muss er zudem auch noch von seiner russischen Oma und seiner Tante nehmen. Die Familie, die in Kasachstan ohnehin sehr klein war, wird weiter dezimiert. Er erlebt, wie seine Mutter der Abschied von ihrer Mutter und ihrer Schwester sehr schmerzt. Die Eltern vermuten aufgrund von Erzählungen durch Verwandte, die bereits in Deutschland leben, dass sich für sie selbst aufgrund des Alters nicht mehr viele Chancen auftun, es für die Kinder aber besser werde:

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„Sie haben immer gesagt: Wir hatten gefahren nach Deutschland nur wegen euch. [mh] Dass ihr etwas erreicht. [mh] Sie wussten gleich, weil hier schon mal die Onkels und Tanten gewohnt haben, weil sie früher gekommen sind, die haben gesagt: Hier ist gar nichts, ich meine für die Alte. Weil naja, die sind ja gekommen, mein Vater Zweitausendeins, der ist, meine Mutter und mein Vater waren beide über vierzig Jahre alt“ (1217ff)

Vadim berichtet an keiner Stelle im Interview, wie er zu der Ausreise gestanden ist. Er sagt weder, dass er sich darüber gefreut habe – noch, dass er traurig gewesen sei. Betrachtet man jedoch seine soziale Positionierung vor der Migration, so zeigt sich die große Wahrscheinlichkeit, dass negative Gefühle überwiegen. Zugleich ist es für ihn kaum möglich, die Ausreise abzulehnen, da die Eltern diese beschlossen haben und äußern, dass sie nur für die Kinder migrieren würden und dafür bereit sind, eigenes Leid auf sich zu nehmen. Das stellt eine Drucksituation für ihn dar. Eventuell geht Vadim aber auch davon aus, dass es so wird, wie die Eltern es sagen und freut sich auf den neuen Möglichkeitsraum. Die Schaukel ohne Schwung Die Fahrt nach Deutschland dauert mit dem Bus fünf Tage. Eine lange, beschwerliche Zeit des Abschiednehmens und der Ungewissheit. In Deutschland verbringen sie zunächst drei Tage im Aufnahmelanger Friedland. Dies ist im Verhältnis zu anderen Familien eine sehr kurze Zeit. Dennoch beinhaltet es die Erfahrung, zunächst in ein Lager zu kommen. Der Vater muss sich dort noch einmal eingehenden Gesprächen unterziehen, in denen geprüft wird, „ob der nicht ein Spion ist“ (90). Diese Unterstellung mag für die Familie belastend und eventuell mit Ängsten verbunden sein. Darauf bekommen sie eine Sozialwohnung in einer mittelgroßen Stadt zugewiesen, in der ihre Verwandten bereits seit ein paar Jahren leben. Bereits kurz nach der Ankunft beginnt Vadim im September einen 10-monatigen Integrationssprachkurs. Auch die anderen Familienmitglieder machen Sprachkurse. Nur der jüngere Bruder Alexander kommt direkt auf eine Realschule. Wohingegen die Eltern in Kasachstan erfolgreiche Geschäftsleute waren, befinden sich Eltern und Söhne nun in der gleichen Position als ‚Schüler‘; dies ändert die Familiendynamik. „Und zehn, (.) zehn Monaten hab ich das gemacht, hab mich nicht äh so richtig in den Schwung gebracht, ehrlich gesagt […]. So alles anders, es sind ja Leute, die ich noch nicht äh nicht, oder meine Verwandte, die ich ja schon mal äh sieben, ja, zehn Jahren [mh] nicht gesehen haben, weil die schon mal in Neunziger hierhergekommen sind [mh] und ich bin mit in Zweitausendeins. Und äh, es war so eine Zeit, ich kam ja nicht

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Biographische Fallrekonstruktionen richtig in Schwung. Konn-, ich wollte nicht die äh (.) Grammatik lernen oder. [mh] Und bis jetzt irgendwie klappt es bei mir ein bisschen äh mit der Artikel und äh (.) richtigen Akkusativ, Dativ, [lacht auf] das ist schon mal, es war schon mal schwer und ist ja noch mal schwer. Obwohl ich dann ein, zwei Jahre, ich sag ja drei Jahre, weil ich einmal nach dem-, ich mach chronologisch lieber. /lacht auf/ [mh]“ (239ff)

Nach der Ausreise wird er auf die Familie und Verwandte zurückgeworfen, die z.T. in derselben Stadt leben, zu denen er aber kaum noch einen Bezug hat, da er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat. Vadim argumentiert, dass er nach der Migration im Sprachkurs nicht „richtig in Schwung“ gekommen sei, eine Formulierung, die er in den folgenden Sequenzen noch dreimal verwenden wird. Diese Redewendung lässt an eine Schaukel denken, die immer in Bewegung war und plötzlich angehalten wurde. Sie muss nun mühsam wieder ins Schwingen gebracht werden, was jedoch zunächst nicht gelingt. Es fehlt an Dynamik und Antrieb, sodass von einer Krise (infolge der Migration) gesprochen werden kann. Einmal formuliert Vadim in aktiver Form, dass er sich nicht habe in Schwung bringen können. Ebenso gibt er aktiv an, dass er die Grammatik nicht lernen wollte, das zuvor begonnene „Konn-“ das vermutlich zu ‚konnte‘ werden sollte, bricht er ab. Durch diese Formulierungen weist er die Schuld an diesem Umstand nicht allein den äußeren Umständen zu, sondern macht sich zum aktiven Part, der nicht kann bzw. nicht will. Dies spricht dafür, dass die Ausreise für ihn keinen erhofften Neuanfang, kein spannendes neues Leben darstellt, sondern eine gewisse Abwehr besteht. Für eine problematische Situation spricht auch das Ende der Sequenz: „ich mach chronologisch lieber“. Offenbar möchte er dies (noch) nicht näher thematisieren und versucht, sich über die Chronologie herauszuziehen bzw. diese als Haltgeber zu verwenden. Vadim hat offenbar niemanden, der ihn emotional oder praktisch unterstützt. In Kasachstan besaß er die Fähigkeit, „Zuwendung und Hilfsbereitschaft bei anderen zu mobilisieren und damit Ressourcen für seine eigenen Entwicklungen zu schaffen“ (Zimmermann 2012, 226). In Deutschland ist ihm dies nicht möglich. Die Eltern, die sich selber einfinden müssen, können ihm keinen Halt geben und auch nicht beim Erlernen der Sprache behilflich sein: „aber nicht so, dass man mit eigenen Eltern zuhause redet, weil es wird ein /verlegend lachend:/ nicht so gutes Deutsch. [mh] Äm, oder ich lerne von meinem Vater mehr schwabisch /lacht auf/ [mh] oder von meiner Mutter, was weiß ich. /lacht auf/ [lacht auf]“ (367ff)

Normalerweise lernt man von den Eltern die Sprache, die man im täglichen Leben verwendet. Durch die Migration jedoch fallen die Eltern als Vermittler der neuen Sprache aus. Die Mutter spricht überhaupt kein Deutsch und der Vater nur ein wenig, wobei dieses einen schwäbischen Einschlag hat und nicht dem entspricht,

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das heute gesprochen wird. Die muttersprachlichen Fähigkeiten der Eltern werden in Deutschland wertlos und in Bezug auf das benötigte Hochdeutsch können sie für ihn keine Hilfe darstellen. Die Art der Darstellung wirkt, als seien ihm die geringen Sprachkenntnisse der Eltern unangenehm. Das leichte Lachen wäre dann nicht als Freude oder sich lustig machen zu verstehen, sondern als Ausdruck eines unsicheren Überspielens. Stattdessen versucht Vadim es mit unkonventionellen, autodidaktischen Methoden, schaut z.B. mit einem Wörterbuch in der Hand deutschsprachige Talkshows oder Kindersendungen an. Wiedersehen mit Natascha und Trennung Auf die Frage, wie die Zeit der Trennung von der Freundin gewesen ist, erklärt er: „Ah, das war Katastrophe für mich. [ja] Wir haben Briefe geschrieben, die war auch so halb-deutsch. [mh] Die musste auch nach Deutschland, ich wusste es auch, sie auch. Aber ich weiß nicht wann, wann würden die kommen oder wann kriegen die diese Erlaubnis. Und äm die ganze erste Jahr haben wir telefoniert, aber nicht so viel, weil ich ja kein Einkommen hatte, [mh] um das zu finanzieren. Für Eltern war es auch bisschen zu teuer, nach Kasachstan zu telefonieren. [mh] Hab versucht, diese Karten in russischen Märkten [mh] zu kaufen dann kannte, konnte man eineinhalb Stunde reden oder was weiß ich. Und dann hab ich auch Briefe geschickt, aber manche Briefe, die aus Deutschland kamen, waren äh aufgemacht [mh] und manche kamen ja nicht zu (.) [ja] ihr“ (1084ff)

Bereits der erste Satz lässt die inzwischen sieben Jahre zurückliegenden Gefühle deutlich werden. Die geliebte Person über ein Jahr nur ab und an telefonisch sprechen zu können und das gerade in einer Situation, die für ihn sehr aufwühlend und belastend ist, ist spürbar schwer für ihn. Die literarisch anmutende Formulierung „wann, wann würden sie kommen“ lässt an den Titelhelden eines Theaterstückes denken, der sehnsüchtig auf die Geliebte wartet. Vadim empfindet es als „Katastrophe“, also als ein schweres Unglück. Der Postweg dauert zudem lange oder ist gar nicht erfolgreich. Auffällig ist auch die Formulierung, dass auch die Freundin bald nach Deutschland „musste“. Durch das ‚auch‘, bezieht er sich implizit mit ein und das Verb ‚müssen‘, das er in Bezug auf sich selbst nicht aussprechen konnte, macht den Zwang und die fehlende eigene Entscheidung somit auch für seinen Fall deutlich. Im Anschluss an eine kurze Pause nach dem Sprachkurs im Juni 2002 beginnt Vadim ab September einen viermonatigen Kurs bei der Otto Benecke Stiftung, der als Vorbereitung auf das Studienkolleg dient. Auf dem Studienkolleg können Spätaussiedler u.a. innerhalb von zwei Jahren das Abitur ablegen (vgl. Kap. 1.4).

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Vadim hält also an dem Wunsch des Studierens fest, wodurch der geplante Bildungsweg einen Kontinuitätsstrang vor und nach der Migration darstellt. Allerdings muss er dafür in Deutschland einen weiten Weg zurücklegen, was als deprimierend empfunden werden kann. Dies auch ganz praktisch, denn der nächstgelegene Standort für den Kurs ist eine Großstadt, zu der er jeden Tag eine Stunde pendeln muss. Nebenbei geht er einem Job auf 400-Euro-Basis nach. Das Geld, das er dort verdient, muss er komplett an seine Eltern abgeben. Dafür erhält er von ihnen Geld, wenn er etwas braucht, z.B. ein Teil für den PC. Zu dieser Zeit siedelt auch seine Freundin Natascha mit ihrer Familie in eine andere Stadt in Deutschland aus. Vadim möchte gerne viel Zeit mit ihr verbringen, kann aber nur sehr selten zu ihr fahren, da diese recht weit von seinem Wohnort entfernt liegt. „Aber wo ich wegwollte, ich musste äh von Montag bis Freitag arbeiten [mh] und wo ich wegwollte, musste jemand für mich arbeiten und da waren die Eltern. [ja] Und manchmal konnten die das nicht oder wollten nicht, dass ich irgendwie Prioritäten setze, [mh] wo ich nicht das wusste. Mein Vater war der Meinung, dass zuerst die Arbeit muss, [mh] dann schon mal Freizeit. [ja] Also und äh Freitag, Samstag und Sonntag ist es ja nicht viel Zeit nach Stadt B zu reisen, [mh] weil es, es kostet auch [mh] und es dauert sieben Stunden nur hierher. Es ist ja, ich konnte ja nicht mit ICE fahren, [ja] weil’s noch teurer war und ich hab das mit viel Umsteigen, diese Wochenendeticket gemacht. [ja]“ (1123ff)

In der ohnehin schwierigen Anfangszeit bedeutet die Freundin für Vadim Halt und Freude. Die Eltern ermöglichen ihm jedoch kaum, sie zu sehen; er kann nur einmal in zwei Monaten zu ihr fahren. Offenbar ist es seinen Eltern bzw. dem Vater sehr wichtig, dass er dem Nebenjob nachkommt. Den Wunsch, seine Freundin, die sie in Kasachstan sehr geschätzt haben, sehen zu können, halten sie offenbar für weniger wichtig („Prioritäten setze[n]“, „Freizeit“). Vadim nimmt viel auf sich, um Zeit mit ihr verbringen zu können, fährt jeweils sieben Stunden hin und zurück an einem Wochenende. Warum sie nicht im Wechsel zu ihm fährt, wird nicht ausgeführt. Wohingegen die Mutter in Kasachstan als ‚Erzieherin‘ auftrat, ist es nun der Vater, der die Regeln festsetzt, was für einen innerfamilialen Wandel infolge der Migration spricht. Eventuell ist die Mutter in Deutschland bisher weniger gefestigt als der Vater, sodass er an Entscheidungsmacht gewonnen hat. Bereits 2003, nur wenige Monate später, beendet Natascha die Beziehung: „und dann ging‘s schief, weil ich nicht da und da konnte“ (1108). Mehrfach wiederholt Vadim, dass er im Gegensatz zu der Zeit in Kasachstan, in Deutschland absolut treu gewesen sei. Die Frage, ob sie es auch gewesen ist, streift er wiederholt und es ist zu vermuten, dass er dies bezweifelt:

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„Sie hat, glaub ich, jemanden da getroffen, [mh] der immer dabei war [mh] und vielleicht hat sie sich verstanden dann, ja. [mh] (.) Und haben wir uns getrennt so. [mh] War nicht natürlich beidseitig, ich wär lieber so doch geblieben“ (1107f)

Als Begründung für die Trennung gibt er an, dass Natascha jemanden an ihrer Seite wollte, der immer bei ihr sein kann. Dies konnte er nur sehr selten, wofür auch seine Eltern mitverantwortlich waren. Er klagt diese jedoch nicht dafür an. Das große Glück, dass seine Freundin bereits ein Jahr nach ihm nach Deutschland ausreist, kann er nicht nutzen. Er spricht im Interviews quantitativ betrachtet sehr lange über diese Zeit und merkt mit melancholischem Einschlag an, dass es Paare gebe, „die treffen sich und bleiben dann für immer“ (1151), was bei ihm nicht so gewesen sei. Es entsteht der Eindruck, dass er dies bis heute – obwohl er inzwischen mit einer anderen Frau verheiratet ist – noch nicht ganz überwunden hat. Dies kann daran liegen, dass es nicht nur um Natascha als Person geht, sondern die Situation im Kontext der Migration besonders aufgeladen ist. Ihre Liebe war etwas Verbindendes von Kasachstan nach Deutschland, das nicht gehalten werden konnte. So spricht Vadim neben dem seltenen Sehen in Deutschland, auch mehrmals von dem Jahr der Trennung, das geschadet habe. Auffällig ist die Formulierung: „ich wär lieber so doch geblieben“, da ihr das Objekt fehlt. Im sequenziellen Zusammenhang ist anzunehmen, dass er damit den Wunsch, die Beziehung fortzuführen, ausdrücken will. Dann hätte es aber heißen können: ‚ich wär lieber so doch mit ihr zusammen geblieben‘. Gerade durch das Fehlen wird aber noch ein größerer Zusammenhang denkbar: ‚ich wäre lieber so doch in Kasachstan geblieben‘ (und damit auch in der Beziehung mit Natascha). Und weiter: ‚Dort war ich der Star, der trotz Untreue nicht von Natascha verlassen wurde, hier ersetzt sie mich durch jemand anderen‘. Erwähnenswert ist des Weiteren die Verwendung des Konjunktivs II (wär). Dieser wird auch ‚Irrealis‘ genannt, weil er unmögliche bzw. zumindest unwahrscheinliche Bedingungen benennt (vgl. Duden 2016, 547). Durch seine Formulierung macht Vadim demnach die Unmöglichkeit des Bleibens deutlich. Die Beziehung und die Migration sind sehr eng verknüpft. Diese stellt ein Band von Kasachstan nach Deutschland dar, das zunächst sehr belastet wird und nach kurzer Zeit schließlich zerreißt. Angesichts des Verlassenseins in Deutschland, wirkt das Verlassenwerden durch die Freundin besonders negativ. Die von ihr ausgehende Trennung stellt zusätzlich ein Gefühl fehlender Anerkennung dar. Die Beziehung ist infolge der Migration und ihren Umständen gescheitert. In Bezug auf diese kann er den Bleibewunsch äußern, in Bezug auf Kasachstan nicht. Daneben führt Vadim noch einen weiteren möglichen Grund dafür an, dass Natascha ihn verlassen hat: „Oder es ist, es war schon ein Problem, dass die Eltern mehr Macht über mich hatten. [mh] Und naja, manche Menschen finden es nicht gut, dass er eine Muttersöhnchen

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Biographische Fallrekonstruktionen ist oder was weiß ich. Aber ich konnte ja nicht, weil ich abhängig war und das hat mich auch geärgert. Ich war abhängig, weil ich brauchte Geld und das alles, was ich verdiente, hab ich meinem Vater gegeben. [mh] Und nur wenn ich was brauche, dann hab ich ihm gesagt, dann hat er mir Geld gegeben. Also es war ganz normal, also ich, ich fand es gut [mh] oder ich fand es richtig, ich dachte, das sei, das sollte so sein. [mh]“ (1108ff)

Vadim spricht davon, dass die Eltern „Macht“ über ihn hatten. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre alt. In Kasachstan könnte er studieren und auch in Deutschland gilt er als volljährig. „Macht“ ist ein starkes Wort, das den Einfluss seiner Eltern auf sein Verhalten und Denken ausdrückt. Auffällig ist das Wörtchen „mehr“, das hier entweder als Adverb oder als Komparativ von ‚viel‘ auf ein höheres Ausmaß hinweist. Beiden Varianten ist ein Vergleich inhärent, der jedoch nicht ausgeführt wird. Im Kontext ist ‚mehr Macht als vor der Migration‘ wahrscheinlich. Vadim ist finanziell abhängig und dadurch den beschriebenen Vorschriften und Einschränkungen der Eltern unterworfen. Zum einen sagt er, dass er nicht kritisch darüber nachdenke, zum anderen, dass ihn die Abhängigkeit ärgere. Ohne konkrete Personen zu benennen, macht er deutlich, dass Natascha ihm vorwirft, ein „Muttersöhnchen“ zu sein. Eventuell kann er es nicht konkret benennen, da es ihm unangenehm ist. So genannt zu werden, stellt für einen erwachsenen Mann eine Kränkung und eine Herabsetzung der freien Handlungsmacht dar. Jedoch widerspricht er der Zuschreibung nicht, sondern nimmt sie offenbar an, indem er lediglich versucht, diese Position zu rechtfertigen. Den Begriff des ‚Muttersöhnchens‘ gibt es im gleichen Wortsinn auch im Russischen. In der Sequenz entsteht eher der Eindruck, er sei ein ‚Vatersöhnchen‘, an fast allen anderen Stellen spricht er jedoch vor allem von der Mutter, wodurch angenommen werden kann, dass es sich auf beide Elternteile bezieht. Der Begriff des Muttersöhnchens wird nahezu ausschließlich negativ genutzt, um eine große Abhängigkeit zur Mutter noch im Erwachsenenalter zu benennen (vgl. Kaiser 2014). Üblicherweise entwickelt sich diese jedoch aus einer engen Symbiose zwischen Mutter und Kind, die bereits in der Kindheit besteht und sich im Folgenden entwicklungshemmend auf die schrittweise Ablösung auswirkt, indem die intensive emotionale Nähe diese nicht zulässt (vgl. ebd.). Auffällig ist, dass dies bei Vadim eher nicht der Fall war. Für die Kindheit wird, wie dargestellt, keine besonders enge emotionale Bindung zu den Eltern bzw. vor allem zur Mutter beschrieben und in Kasachstan haben diese ihm Raum zu ersten Ablösungsschritten gelassen. Offenbar kam es also durch die Migration zu einem Wandel in der Beziehung, der aus dem ‚coolen Vadim‘ ein „Muttersöhnchen“ gemacht hat.

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Schwieriges erstes Jahr im Studienkolleg 2003, mit 19 Jahren, macht Vadim die Deutsch-Eingangsprüfung für das Studienkolleg und besteht diese beim ersten Mal. Somit kann er im Sommer in der Großstadt mit dem Weg zum Abitur beginnen. Um mehr Zeit fürs Lernen zu haben, möchte er in ein Studentenwohnheim der Großstadt ziehen und somit die zwei Pendelstunden pro Tag einsparen. Die Eltern (vor allem die Mutter) sind allerdings dagegen, sodass dies zu Diskussionen führt. Zwar will sie, dass Vadim erfolgreich ist, hat aber auch den Wunsch, ihn nahe bei sich zu haben, womit sie ihm wiederum im Weg steht. Es ist anzunehmen, dass es bei dem Verhalten der Mutter einen Zusammenhang mit der Migration gibt. Da die Trennung von ihrer Herkunftsfamilie sehr belastend für sie ist, kann sie die von ihrem Sohn nun nicht zulassen. Der Vater reagiert anders, indem er an seinen eigenen Weg zurückdenkt: „Vater ist ja so gelassen, er ist so ruhig, ist okay. Der sagt ja: In deiner Zeit, in deinem Alter war ich schon mal weg von zuhause. Der ist schon mal nach […] zehnte abgehauen in der Uni“ (1386ff). Vadims Vater hat seine Herkunftsfamilie sehr jung für sein Studium verlassen. Dadurch hat er die Migration nach Deutschland weniger stark als Trennung von dieser erlebt als seine Frau. Angesichts des geringeren Verlustes und dem Blick auf seinen eigenen Verlauf, gesteht er seinem Sohn das gleiche Recht zu. Eventuell führt die Uneinigkeit in dieser Frage auch zu Streitigkeiten zwischen den Eltern. Für Vadim geht es jedoch um mehr, als nur um die Zeitersparnis. Vermutlich durch die Erfahrung, die er bei der Trennung von Natascha gemacht hat, möchte er ein Stück Unabhängigkeit wiedererringen und der ‚neuen Macht‘ der Eltern entfliehen. So sagt er: „ich wollte schon mal irgendwie los oder Selbstständigkeit wollte ich, [mh] weil ich schon mal ganz schön groß war. Es hat mir schon mal auch ein bisschen (.) äh, sagen wir mal, ich fühlte, ich fühlte, dass ich schon mal abhängig bin, bin von meine Eltern [mh] und von ihren Entscheidungen. [ja] Und es wurde schon mal Zeit. [mh]“ (1359ff)

Vadim nutzt den Wechsel zum Kolleg als Chance, sich räumlich von den Eltern zu lösen und dadurch ein Stück „Selbstständigkeit“ (wieder)erlangen zu können, wie er betont ausspricht. Gegen den Willen der Mutter zieht er schließlich in ein Studentenwohnheim der Großstadt. Mit dem Umzug sind Autonomiegewinne verbunden und zum ersten Mal ist er für seine Lebensführung selbst verantwortlich. Den Lebensunterhalt finanziert er mit BAföG. Vadim scheut weder die emotionale (allein in einem noch fremden Land) noch die ökonomische Herausforderung (Lebensunterhalt finanzieren). Dadurch beweist er Mut und Organisationstalent. Der Bildungsweg, der von den Eltern erwünscht wird, dient somit als Möglichkeit zur Flucht von den Eltern. Allerdings ist es für ihn kein einfaches Leben in der Großstadt:

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Biographische Fallrekonstruktionen „Ich hatte so ein Punkt, wo, (.) wo ich äh mich nicht irgendwie zum Kommunikation öffnen konnte, [mh] obwohl ich schon mal gut verstanden habe. Und es war, ich glaube, als ich mit Studienkolleg angefangen hab. [mh] Und diese erstes Jahr, es war schon mal schwer. […] Aber ich hatte so, ich konnte nicht so in Schwung, [mh] ich hab die Wörter immer verwechselt und äh (.) manchmal, wenn ein Wort aus war und dann konnte ich gar nichts sagen, dann dachte ich nur: Wie heißt das? Wie heißt das? […] Und ja, das war so ein Moment, wo ich schon mal depressiv wurde [mh] und dachte: Was mach ich hier? Äh, ich muss ja los oder was weiß ich [mh]“ (439ff)

Vadim ist in seiner mangelnden Ausdrucksfähigkeit im Deutschen wie gefangen. Er versteht die Sprache nach den Sprachkursen zwar schon recht gut, kann aber noch nicht flüssig sprechen. Die Darstellung in wörtlicher Rede macht deutlich, dass es ihn nahezu panisch macht, wenn ihm ein Wort nicht einfällt („dann konnte ich gar nichts sagen, dann dachte ich nur: Wie heißt das? Wie heißt das?“), sodass er sich kaum traut, mit anderen auf Deutsch zu sprechen. Dies führt wiederum dazu, dass er kaum Kontakte knüpfen kann. Und obwohl er zwei Sprachen (Russisch und Kasachisch) bereits fließend spricht, erfährt er nun einen Zustand der Sprachlosigkeit. Dabei ist gerade für ihn, der geschauspielert hat, Sprache von besonderer Bedeutung. Vadim hat keine Peergroup oder enge soziale Kontakte. Infolgedessen kann er die gewonnene Freiheit durch den Auszug bei den Eltern kaum für sich nutzen. Das erste Jahr im Studienkolleg läuft für ihn nicht erfolgreich. Vadim begründet dies mit dem ‚fehlenden Schwung‘, den er sich auch dadurch erklärt, dass die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem kasachischen Unterrichtssystem sehr groß seien (siehe 6.1.3), wobei er das deutsche kritisiert. Aus seiner Schulzeit in Kasachstan kennt er es z.B., dass in einem Vierteljahr sehr viele Noten verteilt würden (z.B. auch für Hausaufgaben). Im Studienkolleg hingegen gebe es nur je zwei Klausuren pro Halbjahr, die benotet werden: „Und ich zum Beispiel bin mehr gut in der Unterricht als dann äh schon mal in Klausuren. [mh] Weil in Klausuren ist man ein bisschen ner-nervös. [ja] […] Und deswegen fand ich ein bisschen so, das, das kann doch nicht angehen. [lacht auf] Man sieht das doch, dass äh Mensch ist so gut ist, aber nur nervös oder. Naja, aber es wird nach Klausuren bewertet [ja]“ (304ff)

Vadim stellt dar, dass er sich ungerecht behandelt und bewertet fühlt. Auf seine Nervosität wird keine Rücksicht genommen und er wird nicht als das (an)erkannt, was er eigentlich sei, nämlich: „so gut“. Obgleich er die Schwierigkeiten eher externalisiert, führt dies dazu, dass er denkt, dass er „dumm“ (453) sei. Dies stellt ein unangenehmes und belastendes Gefühl dar. Vadim erlebt die Differenzen im Schulsystem als soziokulturellen Bruch mit dem Vertrauten (vgl. Schwendowius

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2015, 295). Mit seinen mitgebrachten und idealisierten Erfahrungen fühlt er sich an der deutschen Schule nur begrenzt handlungsfähig. Im Rahmen der sowjetischrussischen Schulkultur, die durch Hierarchie, klare Regeln und Disziplin gekennzeichnet war, waren seine Handlungsstrategien passend, in Deutschland sind sie es nicht. Dies stellt eine Form von Fremdheitserfahrung dar. Da er seine mangelhaften Leistungen in zwei der Pflichtfächer nicht ausgleichen kann, muss Vadim das Unterrichtsjahr wiederholen. Zu scheitern ist für Vadim eine neue Erfahrung. Selbst als er zu Beginn der zehnten Klasse in Kasachstan weniger Einsatz gezeigt hat, sind seine Leistungen nur ein wenig schlechter geworden. Die Fremd- und Selbstzuschreibung als kluger und erfolgreicher Schüler wird daher tief erschüttert. Das Scheitern führt zu Entwertungs- und Schamgefühlen. Die Situation ist ohnehin schwer für Vadim und er von Selbstzweifeln geplagt. Diese werden noch durch die Eltern verstärkt, indem sie ihm in der Folge starke Vorhaltungen machen. Sie sind „pessimistisch natürlich“ (1364) und stellen die Vermutung auf, dass dies nicht passiert wäre, wenn er noch bei ihnen wohnen würde. Bisher wurde er immer als der ‚kluge Sohn‘ betrachtet und gestärkt, nun werden seine Fähigkeiten angezweifelt. Zudem wird seine Entscheidung für den Umzug als ein Auslöser betrachtet. Eventuell schleicht sich das Gefühl ein, dass dieser ein Fehler war und er lieber auf die Eltern hätte hören sollen, die ihm als Folge des Auszugs einen negativen Verlauf prophezeit haben. Dies könnte als Beschneidung der eigenen Entscheidungskompetenz erlebt werden. Vadim war es gewohnt, dass ihm alles zufliegt und er ohne große Anstrengungen Erfolge erzielt. An die Stelle der Bestätigung sind nun eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit und infolgedessen Selbstzweifel und psychische Niedergeschlagenheit getreten. So entsteht bei Vadim, der sich 20-jährig noch in der vulnerablen Phase der Adoleszenz befindet, eine Depression, wie er sagt (eventuell handelt es sich auch um eine depressive Episode). Depressionen können „als Reaktion auf den Verlust eines emotional bedeutsamen Objekts oder einer persönlichen Fähigkeit oder Eigenschaft“ (Boszormenyi-Nagy/Spark 1993, 316) auftreten, wie es bei Vadim infolge der Migration der Fall ist. King (2006) bringt zudem den Gedanken ein, dass eine Depression in der Adoleszenz als „Ausdruck der Schwierigkeit, sich aus der Abhängigkeit von der Anerkennung bedeutsamer Anderer zu lösen und einen eigenen Weg finden zu können“ (214) zu betrachten ist. Auch dieser intergenerationale Aspekt lässt sich bei Vadim wiederfinden. Im Zuge dieser Erfahrungen stellt er das Leben in Deutschland infrage: „Was mach ich hier? Äh, ich muss ja los oder was weiß ich“ (450f). Diese Frage impliziert Aussagen wie: ‚Ich gehöre hier nicht hin‘ oder ‚Ich möchte wieder zurück‘, die er jedoch nicht konkret ausspricht. Es erfolgt keine Anklage der Eltern, die dafür verantwortlich sind, dass er „hier“ ist. Der mögliche Grund dafür wird später noch ausgeführt. Sein Misserfolg stellt nach der Trennung von Natascha einen

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weiteren Tiefpunkt dar. In Kasachstan war er glücklich liiert und ein guter Schüler, der mit seinem Abschluss bereits hätte studieren können. Hier weiß er, dass er es nicht einmal darf, falls er erneut sitzen bleiben sollte, denn das Jahr kann nur einmal wiederholt werden. Die Aussicht, dass er das Kolleg ansonsten ohne Abschluss verlassen müsste, stellt einen zusätzlichen Druck dar. Die Nonchalance und die Begeisterung für sich selbst, die in den Passagen zur Schulzeit in Kasachstan auftreten, fehlen in diesen Sequenzen völlig. Inhaltlich wie auch auf der Ebene der sprachlichen Darstellung unterscheiden sich die Stellen maximal. In Kasachstan war die Schule für Vadim ein Raum der Anerkennung und Erfolge, sowohl von Lehrer- als auch von Mitschülerseite. In Deutschland erlebt er die Schule hingegen als Ort des Scheiterns und Verkannt-Werdens. Vadim reflektiert nicht, dass der Anfang in einem neuen Land zwangsläufig schwierig ist. „Mit der Erfahrung einer solchen sozialen Entwertung geht auch ein Verlust an persönlicher Selbstschätzung einher, es wird die Chance genommen, sich selbst als ein in seinen charakteristischen Eigenschaften und Fähigkeiten geschätztes Wesen verstehen zu können“ (Wischmann 2010, 60). Wenn von außen keine Bestätigung kommt, fühlt Vadim sich dumm. Er kann in Deutschland nicht so sein, wie er möchte und wie er war bzw. im Inneren noch ist, aber es im neuen Umfeld nicht umsetzen kann. Der Vadim vor der Migration wird von ihm als ein anderer dargestellt, als der nach der Migration, sodass man es auf die Formel: Vadimvor ≠ Vadimnach bringen kann. Dies lässt den Wunsch nach einer Rückkehr zum alten Ich aufflackern. Da dies nicht geht, sind neue Entwürfe nötig, die er noch nicht entwickeln kann, da die Sicht auf das, was nicht mehr möglich ist, dominiert. Gesundheitliche Folgen der Migration Für die gesamte Familie verläuft die Migration nicht so erfolgreich, wie gedacht. Vadims älterer Bruder findet nach längerer Suche nur eine Anstellung bei einer Zeitarbeitsfirma, mit der er künftig auch sein erstes Kind ernähren muss und der jüngere Bruder bleibt in der Schule sitzen. Vadims Eltern erfahren in Deutschland eine berufliche Entwertung. Der Vater wollte in Deutschland am liebsten eine Ausbildung zum Physiotherapeuten machen, doch er erhielt dazu keine Gelegenheit. 2004 findet er schließlich eine Anstellung als Krankenpfleger. Eine Tätigkeit, die körperlich anstrengend ist, ihm aber Freude bereitet. „Und ja Mutter, (.) da ist immer schwieriger, weil sie ja mit Deutsch zuerst nicht gut kann. Und mit Arbeit in Kasachstan letzte Jahren war sie nicht mehr bei dem Kindergarten, [mh] da hat sie sich auch selbstständig gemacht und sie hatte ein paar Maga5151

Dies sind die ersten zwei Silben des russischen Wortes für Geschäft: магазин (magasin).

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ein paar Geschäften geführt. [mh] Und äh, sie hatte eigene Verkäufer, sie hat nur die Sachen besorgt. […] Und sie hat das so ganz erfolgreich gemacht. […] Und hier dann musste meine Mutter schon mehr als äh, äh Boden wischen [ja] und das war irgendwie Qualifikationsverlust. [mh] Und es war schwer auch körperlich dann. Ja, zuerst nicht, aber jetzt die letzten Male ist ein bisschen schwer geworden, weil sie ist, ich weiß nicht, sie hat Probleme mit Rücken dann“ (1239ff)

Vadim beschreibt den beruflichen Abstieg der Mutter von der erfolgreichen Ladenbesitzerin zur Reinigungskraft. Besonders auffällig ist, dass er an dieser Stelle mit „Maga-“ zunächst das russische Wort für Geschäft (магазин – magasin) auszusprechen beginnt. Zwar zeigen sich im Gesamttext sprachliche Schwierigkeiten, aber die Verwendung russischer Wörter für alltägliche Begriffe geschieht immer nur dann, wenn er von seiner russischen Mutter spricht. Diese Auffälligkeit kann als Zeichen der Verbundenheit interpretiert werden. Interessant ist, dass er auch in Bezug auf die Mutter von Depressionen spricht und sich in dieser Passage noch weitere Parallelen finden lassen: „Und wenn man sich (.) integriert, dann ist schon mal äh, (.) dass man, /atmet ein/ (2) dass ist sehr schwe-schwer für, ich weiß nicht, ich weiß es schon, aber wie soll man das sagen soll, (4) psy-psychisch ist schon mal [mh] anstrengend. Und ich weiß, dass ich selbst mh ein paar Mal, ich hatte schon mal Depressionen [mh] oder so was. Meine Mutter auch äh, (2) ja wollte nachhause, [mh] kam nicht so gut zurecht“ (382ff)

Vadim spricht erneut von seinen vermeintlichen Depressionen und den psychischen Anstrengungen der Integration (was durch die hörbare Anstrengung beim Erzählen noch verstärkt wird). Zudem sagt er, dass die Mutter „auch“ nachhause wollte, was eine potentiell weitere Person einschließt, die vermutlich er ist. Wobei er es für sich selbst im gesamten Interview nie ganz klar aussprechen kann, erklärt er es für die Mutter ausführlich: „Und hier war es doch diese, ja, Mutter hatte De- mh ja Depressionen, [mh] wo man mit Sprache nicht gut kann, wo man äm, sie hatte da zwar eine Schwester in Kasachstan und Mutter, [mh] die ist alt [ja] und die hatte schon mal Sehnsucht und das Ganze. […] Und dann hat sie auch viel geweint und da so Auseinandersetzungen. (.) Aber irgendwie jetzt ist es, mein Vater hat immer gesagt und sie wollte das nicht verstehen, weil der hatte gesagt, es ist lieber so, es ist viel, du kannst den mehr geben, wenn du hier bleibst. [mh] Du kannst ja eine Post schicken, du kannst irgendwie Süßigkeiten, Geld kannst du ihnen schicken, [mh] du kannst ihnen helfen, mehr helfen als du da bist. [ja] Und die meinte: Ich wär lieber da [mh] und bringe gar nichts, obwohl, ob ich ja hier bin und bringe Geld. Wofür brauchen sie das, wenn ich nicht da bin?“ (1177ff)

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Es wird deutlich, wie sehr die Mutter unter der Trennung von ihrer Familie leidet. Vadim erlebt, wie seine einst starke Mutter weint und mit dem Vater Auseinandersetzungen darüber hat, dass sie eigentlich zurück nach Kasachstan möchte. Wie ist es, die Mutter so zu erleben? Kann sie den Kindern parallel noch Halt geben? Wenn die Mutter sich in Deutschland nicht wohlfühlt, kann er sich dann hier wohlfühlen? Und was ist, wenn sie wirklich geht? Zudem zeigt sich eine veränderte Familienkonstellation infolge der Migration. In Kasachstan waren beide Elternteile selbstständig und erfolgreich. Der Vater hat auch Aufgaben im Haushalt übernommen und die Mutter hatte die Oberhand über die schulischen Aktivitäten und die Erziehung der Söhne. Nun gerät die Mutter in eine geschwächte Position. Sie kann beruflich nicht anknüpfen und wird damit finanziell abhängig von ihrem Ehemann. Zudem hat sie durch ihre großen Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache keine Kontakte nach außen. Dem Vater fällt dies, eventuell aufbauend auf seine mitgebrachten Kenntnisse, leichter. Er hat zudem die ‚Ortsbestimmungsmacht‘, indem er die Rückkehrwünsche der Mutter ablehnt. 2004 remigriert eine Cousine Vadims mit ihrer Familie, die bereit seit mehreren Jahren in Deutschland gelebt hat: „Aber wie ich schon mal sehe, äh meine Cousine ist nach Russland ausgewandert, [mh] nachdem sie mehr als, ich glaube, der ist mehr als neun Jahre hier gelebt hat, [mh] gut verdient hat, hat in Großstadt A gearbeitet und dann hat sie entschieden, dass sie doch nach Russland kommen soll [mh] und ist nach Russland gekommen. […] Und äh, (2) das Problem war, dass äh, manche Kinder, die gekommen nach Deutschland und dann kriegen die irgendwelche Probleme mit Gesundheit. [mh] Es äh, es ist ja, es sind ja viel Regen, es regnet hier, /deutliche Schwierigkeiten, das richtige Wort herauszubekommen:/ hi-hier viel und da ist es ganz andere, (.) na, (2) [Klima?] Klima, Klima. /lacht verlegen auf/ Und äh, es ist mehr so äh feu-feuchter ist es hier. [mh] Und ich hab schon mal gesehen, es ist mehr Allergie, ich weiß nicht warum. [mh] Ich bin selbst nicht Allergiker, aber mein Vater war nie Allergiker, [mh] jetzt hat er Allergie und auf etwas, was er isst, dann bekommt er irgendwelche dicke was weiß ich. Mein Bruder ist allergisch gegen äh, Pollenallergie hat er [mh] und dann kommt er nicht aus dem Hause. Und äh, naja, mein, bei meiner Cousine hatte die, ihr Sohn hat Lungenkrankheit gekriegt [mh] und als die nach Russland ausgewandert sind, war alles weg. [mh] Ich weiß nicht warum, es, es, es hätte schon mal miteinander was, vielleicht ist es äh, (.) ich weiß nicht, (2) ich bin kein Wissenschaftler, [lacht auf] aber es gibt vielleicht was, [mh] was äh. (2) Und äh, naja“ (388ff)

Auch andere nahe Familienmitglieder zeigen in Deutschland Krankheiten und Überreaktionen des Immunsystems. So hätten sein Vater und der jüngere Bruder Allergien entwickelt. Der jüngere Bruder reagiert wie der Vater, er wie die Mutter. Vadim beschreibt die Erkrankungen und argumentiert mit deutlichen Ausdrucksschwierigkeiten, dass er von einem Zusammenhang mit der Migration ausgeht.

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Dass alle Familienmitglieder in Deutschland plötzlich irgendwelche Beschwerden entwickeln, mag ein unheimliches Gefühl darstellen. Vadims Versuch, sich dies ‚wissenschaftlich‘ zu erklären, kann entweder so gedeutet werden, dass er das deutsche Klima verantwortlich macht, für das sie nicht geschaffen seien und/oder die Migration, denn nach deren Umkehrung gesundet das Kind der Cousine wieder. Beide Erklärungen enthalten im Kern den Gedanken, dass sie nicht nach Deutschland gehören. Wie kann man an einem Ort heimisch werden, wenn das Gefühl besteht, nicht an diesen zu gehören? „Wir wollen es nur für euch“ „Und sonst hatten sie keine Ziele, ehrlich gesagt. Sie haben, sie haben immer, sie haben immer wieder gesagt: Wir wollen es nur für euch. Und enttäuscht uns nicht, dass ihr. [mh] Wir wollen, dass ihr ganz normale Zukunft habt. Und wie es aussah in Kasachstan hatten wir kein, keine vernünftige, sag ich so. [mh] Es war so mh, man wusste nicht. [ja] Und hier ist irgendwo, wo man sagte, dass hier mehr Sicherheit gibt [mh] […] Und ja, vielleicht, vielleicht, wenn wir dageblieben hätten, dann würde da vielleicht sehr gut laufen beim Vater, [mh] bei seine Firma, oder bei Mutter und dann könnten wir auch aufsteigen. Jetzt weiß man es nicht [mh] und ja, ehrlich gesagt, ich bin gar nicht so enttäuscht, ich bin nicht enttäuscht, [lacht auf] ich finde es gut so“ (1255ff)

Diese Passage folgt im Interview auf die Geschäfte-Szene mit der Mutter (s.o.). Von der Herabstufung und den Schmerzen der Mutter kommt Vadim zum Appell der Eltern an die Söhne, der durch die betonte Aussprache noch unterstrichen wird. Die Ausreise, die für die Eltern leidvolle Konsequenzen mit sich brachte, sei nur für die Söhne geschehen, woraus für diese die Verpflichtung entsteht, deren Erwartungen nicht zu enttäuschen. Dies geschieht nicht nur unterschwellig, sondern wird von den Eltern als eine Art Befehl formuliert. Die Eltern haben hohe Aspirationen, können ihren Söhnen in Deutschland bei der Umsetzung jedoch keine Hilfe sein. Somit bestehen hohe Erwartungen bei fehlender Unterstützung, was keine einfache Situation darstellt. Am Ende der Sequenz äußert Vadim die Möglichkeit, dass sie in Kasachstan auch hätten erfolgreich sein können, streift den Gedanken jedoch schnell wieder als ungewiss ab und gibt stattdessen an, dass er „gar nicht so enttäuscht“ sei. Das beinhaltet nicht nur, dass er zumindest zu einem Teil doch enttäuscht ist, sondern greift auch die Formulierung der Eltern auf („enttäuscht uns nicht“ – ‚eigentlich bin ich enttäuscht von eurer Entscheidung’). Er kann dies jedoch angesichts des Leids der Mutter und der Zuschreibung mit den Brüdern die Migrationsursache zu sein, nicht aussprechen und deckt den Gedanken mit dem normalisierenden „ich finde es gut so“ rasch zu. An anderer Stelle gibt er über ein

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mögliches Studium in Russland an: „vielleicht doch hätte es geklappt“ (695), was die gleiche Auffälligkeit enthält. Dies stellt eine Wiederholung der Eingangserzählung dar, in der Vadim die Entscheidung zur Migration als unweigerliche Folge der Familiengeschichte präsentiert, wodurch die Entscheidungsmacht der Eltern nicht thematisiert werden muss. Dass er dies nicht offen reflektieren und benennen kann, hängt mit der familialen Konstellation zusammen. Da die Eltern, vor allem die Mutter, für die Migration viel aufgegeben haben und seitdem unter Entbehrungen leiden, kann Vadim die Migration nicht deutlich infrage stellen. Stattdessen spricht er davon, sich anpassen zu wollen, um dadurch schnell erfolgreich sein und den Wunsch der Eltern erfüllen zu können. Er rekurriert damit zugleich auf bestimmte gesellschaftlich geforderte Verhaltensweisen von Integration, die landläufig als bedeutsam für einen Bildungserfolg angesehen werden. An anderen Stellen wird deutlich, dass speziell an ihn von den drei Brüdern die Aspiration gerichtet wird, erfolgreich ein Studium zu absolvieren, da er sich bereits in Kasachstan als der klügste Sohn herausgestellt habe. „Sie irgendwie, sie denken, dass ich dafür [für den Bildungserfolg, JZ] gemacht wurde [mh] oder weiß ich nicht. Es ist, mh, ich muss das machen [mh] oder ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber das ist, wofür ich, wofür sie mich äh, (.) nicht wofür sie mich gemacht haben, /lacht auf/ [lacht auf] das ist nicht so gesagt, ich meine, das ist das Richtige, was ich eigentlich verdiene. [mh] Und die sind stolz, ja. Die sind stolz und […] manchmal Mutter sagt so: /leicht lachend:/ Oh, du bist ein, unser Kluger. [lacht auf]“ (1322ff)

Vadim möchte bewusst vermutlich sagen, dass die Eltern ihn für den klügsten Sohn halten und daher der Meinung sind, dass er es verdiene, bildungserfolgreich zu sein. Eventuell aus Bescheidenheit hat er Schwierigkeiten, dies so klar zu äußern. Durch seine Formulierungen drückt sich jedoch auch aus, dass er von seinen Eltern mit diesem Auftrag belegt wird. Gerade durch die Aussage, dass es nicht das sei, wofür sie ihn gemacht hätten, wird die Aufmerksamkeit auf die Aussage gezogen und diese unterstrichen. Man gewinnt den Eindruck einer instrumentellen Sicht – er wurde für einen bestimmten Zweck gemacht und hat nun auch keine anderen Optionen. Vadim wurde nicht gemacht, um glücklich zu sein, sondern um Erfolg zu erzielen. Dies führt zum einen dazu, dass sich der Druck für ihn erhöht. Zum anderen ist damit aber auch eine Wertschätzung verbunden, die er in Deutschland in den Bildungsinstitutionen nicht erfährt; die Eltern sind „stolz“ auf ihn. Und auch wenn er seine (Sprach-)Fähigkeiten als beschränkt empfindet, übersteigen seine Kompetenzen die der anderen Familienmitglieder, sodass er in vielerlei Situationen als Helfer und ‚Experte‘ fungiert:

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„Dann rufen sie so an, wenn irgendwelche Verwandten und ich bin jetzt, in der Familie, wenn jemand einen Brief schreiben will [ja] und soll und es soll ein ganz normales Brief, Kündigung, das muss man schon können, ja? [mh] Wer macht? /lachend:/ Vadim. [lacht auf] Ja, schreib mir den Brief, das und das, die Daten schreib ich dann einfach rein die Kundennummer oder, dann mach ich ja immer. Für Bruder, für äh Mutter, Vater, das mache ich, die ganze Schreibsachen mach ich und die ganzen Techniksachen. [mh] Die äh welche Fernseher man kaufen muss, was für ein Computer, was für ein das und das, das mach ich alles, [ja] das ist schon mal, ja. Und ich, wenn ich nach, wenn ich zum Eltern komme, dann: Ah, Vadim ist da, ich brauche das, das, das. [lacht auf] So viel Fragen dann auf einmal. Also man fühlt sich irgendwie, dass man, ja, man braucht mich, /lacht/ [mh] das ist gut. [ja] (3)“ (1422ff)

Zentral in dieser Passage sind die Aussagen: „man braucht mich“ und „das mache ich“. Vadim erscheint hier überraschend aktiv, anpackend und selbstbewusst. Es stellt für ihn eine positive Erfahrung dar, in Deutschland gebraucht zu werden und hilfreich zu sein. Durch die besondere Nähe zur Mutter wird auch die Beziehung zu den Geschwistern beeinflusst. Die Erzählungen über die Beziehung zum älteren Bruder brechen mit dessen Auszug 1998 ab. Im Gegensatz zu der Zeit in Kasachstan, nimmt der jüngere Bruder nun quantitativ betrachtet einen größeren Raum ein. Dieser war bei der Migration zehn Jahre alt, musste in Deutschland wiederholt eine Klasse noch einmal machen und besucht nun die neunte Jahrgangsstufe. Vadim spricht über den etwa sieben Jahre jüngeren Alexander weniger aus der horizontalen Warte des Bruders aus, denn vertikal als pädagogischer Betrachter. Er führt an, dass die schlechten Leistungen des Bruders an der in Deutschland sich eingeschlichenen Nachlässigkeit der Eltern in Bezug auf die Erziehung liegen könnten. So habe für ihn selbst die Schule stets vor dem Sport stehen müssen, seinem Bruder hingegen sei der Fußball das wichtigste und die Eltern ließen es – anders als bei ihm früher – durchgehen. Vadim berichtet, wie er den Bruder anspreche: „Ich frag ihn auch: Denkst du, dass du cool bist, wenn du so nachsitzt? [mh] Ist es für dich nicht peinlich? Und dann versteht er schon mal, er sagt: ‚Ja, es ist mir überhaupt, es ist mir sehr peinlich.‘ Und ja, dann mach mal was draus“ (837ff). Es wird deutlich, dass es ein Gefälle gibt und die Beziehung nicht ganz egalitär ist, stattdessen übernimmt Vadim z.T. den Elternpart. Als Unterthema schwingt auch die Ungleichbehandlung der Brüder mit. Auf dem jüngeren lastet (eventuell auch als Folge der Migration) weniger Druck, was Vadim vielleicht gerne den Eltern vorwerfen würde, es aber stellvertretend an den Bruder weitergibt. Zudem grenzt Vadim sich in allen Erzählungen stark von seinem jüngeren Bruder ab, z.B. in Hinblick auf die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit:

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Biographische Fallrekonstruktionen „Zum Beispiel meine Generation, [mh] wir zum Beispiel, die wir da gelernt haben, mein Bruder ist jetzt schon mal fast bisschen anders, der ist schon mal, der ist jetzt, wie ich sehe, schon mal mehr Deutscher, als äh Russe oder so. [mh]“ (342ff)

Vadim erklärt es sich selbst als einen ‚Generationenunterschied‘: Er verortet sich und seinen Bruder jeweils als Teil einer größeren Gruppe, deren Zugehörigkeit durch einen spezifischen geteilten Erfahrungsraum (in seinem Fall durch den Besuch der Schule in Kasachstan und folglich auch dem längeren Aufwachsen dort) bestimmt werde. In der Folge wird eine innige Beziehung zwischen den Brüdern gestört. Teilweise klingt es, als würde Vadim ein Stück weit Neid auf den Bruder empfinden, z.B. wenn er davon erzählt, dass dieser –im Gegensatz zu ihm – keine Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache habe und stattdessen „Russisch mit Akzent“ (1004) spreche. Dabei ist der Bruder ‚trotzdem‘ wesentlich unerfolgreicher als er und der Ausgang seines schulischen Weges ist ungewiss. Ein ‚beflügelnder‘ Urlaub in Kasachstan 2005 macht Vadim einen zweiwöchigen Urlaub in seiner kasachischen Geburtsstadt. Es ist seine erste Wiederkehr in die Heimat nach vier Jahren in Deutschland. Auch darüber erzählt er nur im Nachfrageteil und knüpft erzählchronologisch an die Zeit vor der Migration an, in der er „berühmt in der Schule war“ (867) und zum Valentinstag stets einen großen Stapel von Briefen erhalten habe. Die Analyse hat gezeigt, dass es sich um eine „Schlüsselerzählung“, also um eine der Szenen im Interview handelt, „in denen gesamtbiografisch bedeutsame Ereignisse oder Erfahrungen wiedergegeben […] werden“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 135). „Und bei jedem Valentinstag hat ich so ein Stapel [lacht auf] und es hat mir so gefreut. Und naja, man kriegt diese (.) und vielleicht war es auch schwer hier, [mh] weil man hier keiner war und da-. Hier ist man gar nichts dann und da, da erinnert man sich noch an mir. [mh] Und wenn ich mit äh meine Kumpels rede oder ich war in Zweitausendfünf da, [mh] zwei Wochen und ich ging auf der Straße und wurde anerkannt auch als äh es sind ja diejenige, die damals im achten Klasse waren, die sind ja jetzt schon mal in elften oder haben sie sogar die Schule vorbei [ja] und dann kennen die mich noch und es macht so rich-. Ich dachte ich komme nach Kasachstan und ich, ich weiß nicht, [ja] ich, ich war mir nicht sicher. Also das ist auch eine Geschichte, wo ich, ich hatte Angst nachhause zu gehen. [mh] Ich hatte Angst, dass ich ja nicht anerkannt werde, dass ich ja von meinen Freunden gescheut werde, dass die mich nicht verstehen. Dass ich vielleicht /abgehackt:/ (.) nicht selbst, (.) ich, dass ich mich geändert habe und merk das nicht. [mh] Und (.) ich hatte Angst, ehrlich gesagt, als ich nach- nachhause flieg, ich hatte so ein Schiss. [mh] Und nicht vorm Fliegen, /leicht

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lachend:/ weil ich erste Mal geflogen habe, [lacht auf] aber ich hatte /ernst:/ richtig Angst. [mh] Und äh, (.) aber es ist nach, /fröhlich:/ gleich nach dem Eintritt ist, alles war weg [lacht auf] und ich hab meine Freunde getroffen, wir sind fast ja als ob wir uns noch nie getrennt haben. […] Und diese Reise […] nach Kasachstan hat mich sehr beflügelt, [mh] /leicht lachend:/ ich wollte nicht äh zurück, [ja] weil ich mein, nicht nur, nicht, weil ich nicht nach Deutschland, sondern ich wollte nicht, weil es so gut war. [mh] Weil es doch alles da, weil es doch alles gut geklappt hat [mh]“ (867ff)

Der geplante Urlaub, vier Jahre nach der Migration, ist für Vadim im Voraus mit ernsthafter Angst verbunden. In diesem Kontext kann er seine Sorgen („Schiss“, „Angst“, „richtig Angst“) aussprechen. Statt sich einfach auf das Wiedersehen zu freuen, hat er Angst, dass sich an seinem Status als beliebter Schüler und Freund etwas geändert haben könnte. Zudem fürchtet er, sich in einer Art und Weise verändert zu haben, dass die Freunde ihn nicht mehr verstehen, anerkennen und mögen. Veränderungen werden an dieser Stelle als etwas Negatives dargestellt, das nicht stattfinden soll. Hervorstechend ist die besondere Sprechweise. Vadim rekurriert vermutlich auf Änderungen hin zum ‚Deutschen‘. Dabei bezieht er nicht mit ein, dass seine Freunde sich (auch ohne Migration) in der Zwischenzeit gewandelt haben könnten. Er zeichnet ein eingefrorenes Bild des Verlassenen (vgl. Ålund 2003, 38) – als hätte man einen Film angehalten, der nun genau an der Stelle weitergeht. Nur der Bewegung liegt in seiner Darstellung nach die ‚Gefahr des Wandels‘ inne. Offenbar wäre es ihm am liebsten, wenn auch er ‚eingefroren‘ worden wäre. Es ist für Vadim von besonderer Relevanz, die Anerkennung der Freunde, aber auch die von Schülerinnen und Schülern zu erhalten, die Klassen unter ihm waren. Dabei benutzt er das Wort „anerkennen“ auch in dem Satz: „ich ging auf der Straße und wurde anerkannt“, bei dem eigentlich das Wort ‚erkennen‘ passender erscheint. Dies unterstreicht die Bedeutsamkeit. Es geht für ihn nicht nur darum, dass sie ihn wiedererkennen, sondern es geht um eine Anerkennung im Sinne eines bedingungslosen Zugehörig-Seins sowie um eine Anerkennung, die würdigt, respektiert und achtet. Soziale Anerkennung, also als Person wahrgenommen und bestätigt zu werden, ist bedeutsam für die Entwicklung und Bewahrung des Selbstwertgefühls eines Menschen sowie die „Individuierung in der Adoleszenz, die wiederum Bildungsprozesse ermöglicht“ (Wischmann 2010, 17). In Deutschland fehlt es Vadim an Anerkennung, so sagt er: „Hier ist man gar nichts dann und da, da erinnert man sich noch an mir.“ Für Deutschland („Hier“) bezeichnet er sich mit verabsolutierenden Worten als „gar nichts“. Die ungewöhnliche Formulierung für einen Menschen enthält durch das Adverb gar noch eine Steigerung des Wortes nichts. Vadim fühlt sich in Deutschland demnach als überhaupt nicht vorhanden (für andere), als einen Menschen ohne jegliche Bedeutung. Dass er dabei das Pronomen „man“ statt ‚ich‘ verwendet kann daher rühren, dass

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‚die Vernichtung‘ seiner Person dadurch etwas abgeschwächt wird. Für Kasachstan („da“) hingegen betont er das Ich in dem „mir“ (auch wenn er dabei den Dativ statt des Akkusativs verwendet). Dort würden die anderen sogar dann an ihn denken, wenn er nicht da ist. Der Satz enthält einen diametralen Gegensatz: Obwohl er in Deutschland ist, ist er für andere nicht vorhanden und obwohl er nicht in Kasachstan ist, ist er in den Gedanken der anderen stets präsent. Die Sorge zu Beginn der Reise ist demnach dadurch begründet gewesen, auch in Kasachstan keine Anerkennung mehr zu erhalten und ‚gar nichts‘ zu sein, denn dann würde er quasi ganz zum Nichts, was kaum zu ertragen wäre. King und Schwab (2000) zufolge, seien „depressiven Symptome, das Gefühl und die Angst, ‚nichts zu sein‘ […] häufig anzutreffende Symptome von Migranten“ (221). Das übergeordnete biographische Lebensthema Vadims ist die Suche nach Anerkennung. Beginnend in der Kindheit und gesteigert durch die Folgen der Migration. In der Schulzeit und bis zur Migration fühlte er sich „beflügelt“ (806) und „wie ein Star“ (804), da er gut im Sport war, in die Musicaltruppe aufgenommen wurde und viel Aufmerksamkeit von seinen Schulkameraden sowie Mädchen erhielt. In Deutschland fehlen die Erfolge im Bildungssystem und das soziale Netz. Die fehlende Bestätigung lässt ihn an sich zweifeln, sodass er die Metapher des fehlenden Schwungs benutzt. „Und diese Reise nach […] Kasachstan hat mich sehr beflügelt, [mh] /leicht lachend:/ ich wollte nicht äh zurück, [ja] weil ich mein, nicht nur, nicht, weil ich nicht nach Deutschland, sondern ich wollte nicht, weil es so gut war. [mh] Weil es doch alles da, weil es doch alles gut geklappt hat [mh]“ (893ff)

Die Rückkehr in die Heimat (die er oben zweifach mit „nachhause“ bezeichnet, was eine starke Nähe ausdrückt) führt wiederum zu einem Beflügeln. Beflügeln meint, dass man Antrieb erhält, angespornt wird (vgl. Duden online 2017). Das Gefühl, fraglos dazuzugehören und als die Person gesehen zu werden, als die er sich fühlt, ist sehr angenehm für ihn. Die Anerkennung der anderen regt ihn an. Je mehr er in Deutschland das Gefühl erhält, ein Außenseiter zu sein, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Herkunftsland, in dem er sich zugehörig fühlte. Daher will er im Grunde gar nicht mehr zurück nach Deutschland, was den Wunsch nach der Aufhebung der Migration ausdrückt, den er aber auch an dieser Stelle nicht direkt äußern kann. Insgesamt zeigt die Analyse – an dieser und anderen Stellen – Vadims Sehnsucht nach Kasachstan, das er auf seinem persönlichen Höhepunkt verlassen hat. Latent schwingt an mehreren Stellen der Gedanke mit, dass es für ihn (und die Familie) besser (oder zumindest nicht schlechter) gewesen wäre, in Kasachstan zu bleiben. Er kann dies jedoch nicht deutlich artikulieren. Dies liegt darin begründet, dass die Eltern angeben, die Migration nur für ihre Söhne gemacht zu haben und dafür selbst viel aufgegeben haben und seitdem unter

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Entbehrungen leiden. Auch in solch einer Situation sind Konstellationen denkbar, in denen der/oder die adoleszente Heranwachsende die Eltern offen dafür kritisiert. Vadim kann dies aufgrund der Familiendynamik jedoch nicht. Aufgrund dieser Konstellation kann er es auch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, die Migration durch eine Rückkehr aufzulösen. Zudem hat der Vater bereits der Mutter trotz ihres Leids ‚verboten‘, in die Heimat zu remigrieren. Vadim findet eine Partnerin – die Eltern lehnen sie ab Bereits 2004 (im Jahr vor der Reise) ist Vadim mit Galija zusammengekommen, die er beim Kurs der Otto Benecke Stiftung kennengelernt hat. Sie ist vier Jahre älter als er und 2000 mit ihrer Familie als Spätaussiedlerin von Russland nach Deutschland migriert. In der Wahl der Partnerin unterscheidet er sich demnach von seinem Vater. Dieser wählte eine russische Frau in Kasachstan, was – wie oben ausgeführt wurde – sowohl für einen sozialen Aufstieg als auch für die Integration in die sowjetisch-russische Gesellschaft spricht. Vadim hingegen wählt eine Partnerin, die ihm ähnlich ist und sich von der Mehrheitsgesellschaft durch den Migrationshintergrund unterscheidet. Galija teilt die Erfahrung des Aufwachsens in einem (post-)sowjetischen Land, die russische Sprache und die Migration im Familienverbund während der Jugendzeit. Da ihre Lebenswege sich insgesamt sehr ähnlich sind, kann Galija ihn und seine Situation wahrscheinlich gut verstehen. Es ist gut denkbar, dass dies und die russische Sprachfähigkeit für Vadim entscheidende Auswahlkriterien der Partnerwahl sind. So können sie zusammen Russisch sprechen, wodurch Vadim sich und seine Gefühle besser ausdrücken kann. Anstatt der Integration per Partnerwahl wie beim Vater damals, zeigt sich bei Vadim durch diese eher ein Rückzug. Dabei muss angemerkt werden, dass er bereits mit Natascha, die später ebenfalls als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam, eine Partnerin gewählt hatte, die ihm ähnelte, sodass er – im Gegensatz zum älteren Bruder – seit jeher der Wahlstrategie seines Vaters nicht nachkommt. Obgleich Vadim und Galija viel gemeinsam haben, bestehen Unterschiede in der Art des Umgangs miteinander innerhalb der Familie: „Und ich glaube, bei jeder Familie ist ganz anders. [mh] Bei meiner Frau ist zum Beispiel, die sind ja immer, die waren immer so [mh] (.) eng miteinander und wenn jemand Probleme hat, dann helfen die ihm und es wird mehr geredet [mh] und es ist ganz anders. [ja] Und es hängt schon mal von, von Familie ab, wie es da drinnen ist. [mh]“ (1410ff)

Im Vergleich mit Galijas Familienleben kann Vadim bewusst formulieren, was bei ihm gefehlt hat und fehlt. Durch sie erfährt er, wie schön es ist, wenn innerhalb

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der Familie mehr Kommunikation und Unterstützung stattfindet. Er lernt dadurch neue Umgangsmuster kennen und bekommt von seiner Freundin starke Unterstützung. Sie ist es, die ihm während der Zeit auf dem Studienkolleg wiederholt sagt, dass er klug sei und es schaffen werde. Er kann ihr dies zwar kaum glauben, doch tut ihm diese Bestätigung von außen gut und ist von Relevanz für das Herauskommen aus der depressiven Phase. Eventuell übernimmt die Freundin, die drei Jahre älter ist als er, mütterliche Anteile der Fürsorge, die zuvor gefehlt haben. Die Wahl der Partnerin hat für Vadim (wie für den Vater) somit auch positive Folgen, jedoch auf einer anderen – emotionalen – Ebene. Galija stärkt ihn gegenüber seinen Eltern, indem sie ihn ermutigt, sich eine eigene Meinung zu bilden („Du musst auch eigene Meinung haben“, 1420) und die Eltern auch mal kritisch zu betrachten. Über die Freundin wird somit die Ablösung befördert. Nach Reich et al. (2008) wohnt einer Beziehung das Potential inne, als ‚dritte Chance‘, „das bisher ‚Unerledigte‘ an den Partner, die gemeinsame Beziehung, die Kinder oder die Schwiegerfamilien zu ‚delegieren‘“ (277). Vadims Partnerin wird zur entscheidenden Kraft der kritischen Auseinandersetzung mit den Eltern. Vadim sagt, dass er von ihr „gelernt“ (1416) und sie ihm „die Augen geöffnet“ (ebd.) habe: „dass das eigentlich nicht die richtige Lösung ist, was du immer gemacht hast. Dass du musst doch, du musst nicht Schiss vor deinem Vater haben, ich hatte schon mal ein bisschen, [mh] du musst ihm auch sagen, dass er nicht, dass es nicht die richtige Entscheidung ist. [mh]“ (1416f)

Seine Freundin bestärkt ihn darin, eine eigene Meinung zu haben und den Eltern ohne Angst zu widersprechen oder ihnen Fehler aufzuzeigen. Nun bemerke er erstmals, „dass meine Eltern nicht die Engel sind. Dass sie haben ihre Macken da [mh] und dass sie doch manchmal, dass ich doch ihnen selbst sagen soll, dass die Scheiße gebaut haben und das geht aber nicht. [mh]“ (1398ff). Vadim sieht dies nun bewusster, kann mit seinen Eltern jedoch nicht über ihre Beziehung sprechen. Galija wirkt wie ein Motor, der das Ringen um Ablösung antreibt, die Mutter hingegen wirkt bremsend. 2005, Vadim ist nun 21 Jahre, beginnt Galija in der Großstadt ein Studium der Soziologie, sodass sie sich dort eine Wohnung suchen muss. Da die Beziehung sehr schnell ernst geworden ist und sie eine gemeinsame Zukunft planen, beschließen sie, gemeinsam eine Wohnung zu nehmen. Vadims Eltern finden weder die Freundin noch den Plan des Zusammenziehens gut: „Die wollten nicht meine Freundin irgendwie, besonders Mutter fand sie irgendwie nicht gut“ (1379f). Nachdem die Beziehung zu Natascha gescheitert war, lebte Vadim allein. Nun hat er wieder eine Freundin, mit der er ernsthafte Zukunftspläne verfolgt und glücklich ist. Wohingegen die Eltern die Beziehung zu Natascha in Kasachstan gutgeheißen und unterstützt haben, lehnen sie diese nun ab. Dabei zeigt die Analyse, dass es

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dabei weniger um Galija als Person geht als um die Beziehung an sich. Die Mutter „wollte mich nicht verlieren“ (1381). Angesichts der Verluste durch die Migration möchte sie ihren Sohn Vadim nicht loslassen, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Dabei stützt sie sich ganz besonders auf diesen mittleren Sohn. Der älteste, Andrej, lebt die ganze Zeit über in Deutschland mit seiner Frau bereits sein eigenes Leben und hat seit einem Jahr auch ein Kind. Und der jüngere, Alexander, ist der Mutter zwar räumlich am nächsten, kann aber durch sein jugendliches Alter und seine jugendkulturellen Verhaltensweisen und Interessen keine (emotionale) Stütze für sie darstellen. Für Vadim ist dies eine ungünstige Konstellation, denn er hat das Gefühl, zwischen der Mutter und der Freundin zu stehen. Er möchte mit der Freundin leben und er möchte sich von den Eltern bzw. der Mutter ablösen, doch sie macht es ihm nicht leicht: „die Eltern zum Beispiel, das war schon mal nicht nur, dass ich ausziehe, zuerst war es, dass ich ausziehe, dann war es schon mal, /leicht lachend:/ dass ich eine feste Freundin habe. [mh] (.) Da ist schon mal, dass ich, Mutter liebt uns zu sehr [mh] und wir sind immer für sie kleine, [ja] kleine Jungs. Und da musste ich schon mal zeigen, dass ich ja nicht so klein bin und es hat so lange gedauert eigentlich. […] Und es ist alles so in einem Topf, [mh] diese Ausreise, dann das und dies und man gewöhnt sich nur zu einem und dann ist noch andere passiert [mh] und es ist sehr viel, sogar für meine Mutter nur. Vater ist ja so gelassen, er ist so ruhig, ist okay. Der sagt ja: In deiner Zeit, in deinem Alter war ich schon mal weg von zuhause. Der ist schon mal nach neunten Klasse oder zehnte abgehauen in der Uni. […] Und ich so, dann musste ich schon mal zeigen, dass ich-. Aber wegen Mutter, die hat mir viel Sorgen gemacht, [mh] zu viel Sorgen. [mh] (.) *Jetzt ist sie schon mal (.) traurig*. [mh] (2)“ (1374ff)

In dieser Textstelle erklärt Vadim auf manifester Ebene, wie er sich gegen das Verhalten der Eltern durchgesetzt hat. In einer Interpretationsgruppe wurde diese Sequenz daher auf den ersten Blick als Zeichen für Vadims gelungene Ablösung gedeutet. Mithilfe der Feinanalyse ließen sich jedoch – genau gegenteilig – auf latenter Ebene Elemente einer fortwährenden Gebundenheit herausarbeiten. Im Folgenden wird ein geraffter Einblick in die Analyse gegeben. „Die Eltern zum Beispiel, das war schon mal nicht nur, dass ich ausziehe, zuerst war es, dass ich ausziehe, dann war es schon mal, /leicht lachend:/ dass ich eine feste Freundin habe. [mh]“

Vadim führt zwei Situationen an, in denen die Eltern eine andere Meinung hatten als er. Sie wollten nicht, dass er für das Studium auszieht und es gefiel ihnen nicht, dass er eine feste Freundin hat. Dabei handelt es sich, anders als man aufgrund der Satzkonstruktion zunächst denkt, um voneinander getrennte Geschehnisse, wie der Blick in die biographischen Daten zeigt: Der Auszug ins Studentenwohnheim

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fand 2003 statt, die Beziehung mit Galija begann 2004 und das Zusammenziehen mit ihr folgte dann im Jahr 2005. Beiden Themen ist gemeinsam, dass sie um die Aspekte ‚Erwachsenwerden‘ und ‚adoleszente Ablösung‘ kreisen. Zu fragen ist, was für das „das“ zu Beginn der Sequenz eingesetzt werden könnte – ‚das Problem‘? In Bezug auf das Ausziehen ist die Vermischung der Tempi auffällig. So steht „das war“ im Präteritum, „ausziehe“ hingegen im Präsens. Bei zweitem handelt es sich um eine Zeitform, „mit der ein Geschehen oder Sein aus der Sicht des Sprechers als gegenwärtig charakterisiert wird“ (Duden online 2017). Konkret befindet Vadim sich durch diese Formulierung also noch im Prozess des Ausziehens, als wäre er gerade dabei, den Umzugswagen zu beladen. Da dem nicht so ist, erscheint er gefangen in der Auszugsbewegung und gerade dadurch nicht ausgezogen. Das Wort Auszug im Kontext der Eltern spricht für den ersten Auszug. Denn würde er einfach nur von einem Wechsel des Wohnortes sprechen, wäre Umzug die passendere Formulierung. Dieser erste Auszug ist mit der jugendlichen Ablösung aus dem sozialen Gefüge Familie und somit mit einem Gewinn an Autonomie verbunden, in der Erzählweise ist der Prozess des ‚Autonomwerdens‘ jedoch fern ab davon, abgeschlossen zu sein. Der zweite Punkt, der die Eltern in irgendeiner Weise betrifft, ist die Existenz seiner „festen Freundin“. Vadims leichtes Lachen kann als ein Überspielen von Unsicherheit interpretiert werden, da es ihm etwas unangenehm ist. Mit dem Status „Freundin“ begibt er sich ganz in die damalige Situation zurück, denn heute sind sie verheiratet. Eine feste Freundin zu haben, hat mit erwachsen und zum Mann werden zu tun. „(.) Da ist schon mal, dass ich, Mutter liebt uns zu sehr [mh] und wir sind immer für sie kleine, [ja] kleine Jungs. Und da musste ich schon mal zeigen, dass ich ja nicht so klein bin und es hat so lange gedauert eigentlich.“

Es folgt eine Pause. Die Tatsache, dass diese im Interview insgesamt sehr selten zu finden sind, spricht dafür, dass es schwierig für Vadim ist, darüber zu sprechen, was auch der Abbruch des folgenden Satzes verdeutlicht. Auch im Weiteren zeichnet sich die Rede durch Brüche aus. Der zweite Satz, der ihn als aktiv Handelnden betrifft, wird nicht zu Ende geführt, was ihn schwächt. Stattdessen folgt ‚das Problem‘, das das eigene Handeln beeinflusst: „Mutter liebt uns zu sehr“. Auffällig ist zunächst, dass das Possessivpronomen fehlt, Vadim also nicht meine oder unsere Mutter sagt. Dadurch wirkt es zum einen distanziert, aber auch verabsolutierend, „Mutter“ wird verwendet wie ‚Gott‘, der ebenfalls keiner Beigabe bedarf. Dies würde wiederum eine Erhöhung darstellen und zugleich ihre ‚Allmacht‘ betonen. Die Mutter würde „uns zu sehr“ lieben, wobei die Intensität durch die Betonung sprachlich noch verstärkt wird. Im weiteren Verlauf des Satzes wird deutlich, dass

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er damit sich und seine Brüder meint. Was ist ein Zuviel an Liebe? Es stellt einen Widerspruch zu der landläufigen Meinung dar, dass Liebe nur positiv sei, von dem es nie genug geben könnte. Auffällig ist, dass in den Erzählungen zur Kindheit und Jugend in Kasachstan keine (zu starke) Liebe spürbar war und Vadim auch für Deutschland nicht von konkreten innigen Situationen mit der Mutter spricht. Vermutlich ist eine einschränkende Bezugnahme gemeint. Die Mutter hält ihre Kinder klein, überbehütet sie und will verhindern, ihnen Freiräume zu gewähren. So lehnt sie den Auszug ab, weil sie fürchtet, dass ihr Sohn ihr dadurch abhandenkommt und will sie die feste Freundin nicht, da diese eine neue enge Bezugsperson in seinem Leben darstellt, durch die sie – in gewissem Sinne – z.T. ersetzt wird. Dabei geht es weniger um eine Liebe zu den Kindern als den Wunsch der Mutter für sich selbst, diese nicht zu verlieren. Dass es einen Unterschied zur reinen Liebe gibt, spürt Vadim wohl auch selbst und gebraucht daher diese Formulierung. Das Adverb „immer“ verdeutlicht die Statik, es gibt keine Ausnahme, es wird nichts ermöglicht. Der zweimalige Gebrauch des Wortes klein, macht daraus ein ‚sehr klein‘. Und das Wort „Jungs“ ist meist ohnehin für Kinder gebräuchlich. Das Einengende wird deutlich, vor allem, wenn man bedenkt, dass Vadim zu dem Zeitpunkt bereits 21 Jahre alt ist (und die anderen „Jungs“ bzw. seine Brüder 27 und 15 Jahre). Obgleich zumindest die älteren beiden Söhne bereits formal erwachsen sind, betont die Mutter dadurch die Hierarchie und hält die Generationen auf Abstand. Vadim und seine Freundin ziehen bereits mit dem Gedanken an eine eigene Familiengründung zusammen. Dennoch wird er von seiner Mutter fortwährend als kleiner Junge betrachtet. Das Verb „musste“ kann auf zweierlei hinweisen. Zum einen auf Vadims Bedürfnis, dies zu tun; an dem seine Freundin eventuell einen Anteil hat. Zum anderen steht seine Formulierung für eine Beweispflicht, er muss es zeigen, weil die Mutter es nicht glaubt/wahrnehmen will. Auch schwingt die Möglichkeit mit, dass Vadim es sich selbst zeigen muss. Er wählt eine aktive Formulierung. Das Wort ‚zeigen‘ wird oft im Zusammenhang mit einem pädagogischen Lehrverhältnis verwendet. Die Eltern ‚zeigen‘ dem Kind, wie etwas funktioniert. „da“ steht für die Ablehnung der Freundin, wie im Folgenden deutlich wird. Nun ist es Vadim, der den vermeintlich Großen etwas erklären muss, was eine Verkehrung der Rollen darstellt. Zudem enthält die Sequenz ein Moment von Männlichkeit. Der kleine Junge ist zum Mann geworden, denn er hat eine Freundin (und denkt über eigene Kinder nach). Mit der Formulierung „nicht so klein“ bleibt er aber beim Begriff der Mutter und der dazugehörigen Metaphorik (klein sein). Vadim prägt keinen neuen, eigenen Begriff, sagt z.B. nicht, dass er erwachsen sei. „nicht so klein“ impliziert, dass er doch klein ist, eben nur nicht ganz so klein, wie die Mutter annimmt. Er will es auflösen, doch durch seine kindliche Formulierung reproduziert er es. Was ist „es“? Das Zeigen? Das Verstehen der Mutter? In jedem

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Fall ist es ein Prozess, der „so lange“ dauert. Dabei bleibt die genaue Zeit diffus. Das Wort „eigentlich“ stellt eine Relativierung und Abschwächung dar. Wie ist es ‚uneigentlich‘? Der Prozess wird zwar als abgeschlossen präsentiert, dies überzeugt jedoch nicht. Eventuell ist Vadim nicht sicher, ob die Mutter ihn wirklich verstanden hat. In jedem Fall widersetzt er sich der Mutter, indem er die Freundin behält (dies zeigt sich, wenn man den Rahmen der chronologischen Darstellung kurz verlässt, auch an anderer Stelle deutlich: „Die wollten nicht meine Freundin irgendwie, besonders Mutter fand sie irgendwie nicht gut oder. [mh] Hab ich gesagt: Mir ist egal. Und sie müssen damit leben und Schluss. [lacht auf] Ja. (.)“, 1379ff). „[…] Und es ist alles so in einem Topf, [mh] diese Ausreise, dann das und dies und man gewöhnt sich nur zu einem und dann ist noch andere passiert [mh] und es ist sehr viel, sogar für meine Mutter nur. Vater ist ja so gelassen, er ist so ruhig, ist okay. Der sagt ja: In deiner Zeit, in deinem Alter war ich schon mal weg von zuhause. Der ist schon mal nach neunten Klasse oder zehnte abgehauen in der Uni. […] Und ich so, dann musste ich schon mal zeigen, dass ich. Aber wegen Mutter, die hat mir viel Sorgen gemacht, [mh] zu viel Sorgen. [mh] (.) *Jetzt ist sie schon mal (.) traurig*. [mh] (2)“

Vadim stellt nun einen Bezug zur Migration her. Dabei verwendet er ein anschauliches Bild: die Ausreise und weitere Dinge, die passieren und an die man sich gewöhnen müsse, befänden sich als herausfordernde Mischung „in einem Topf“, wobei die konkreten Herausforderungen jedoch im „das und dies“ und dem „einem und […] andere“ verdeckt bleiben. Vadim nimmt eine Unterscheidung zwischen seinen Eltern vor. Für seine Mutter sei dies anstrengend, sein Vater hingegen sei gelassener. Er nutzt den ‚Topf-Vergleich‘, um damit die Reaktionen der Eltern zu erklären. Da der Vater dem vollen Topf gelassen gegenüberstehe, könne er auch Vadims Situation ruhig betrachten und beim Vergleich mit seinem eigenen Lebensweg als völlig in Ordnung hinnehmen. Er lässt die intergenerationale Wiederholung zu. Für die Mutter ist der Topf im Zusammenhang mit der Migration jedoch bereits kurz vor dem Überlaufen, sodass dies eine Erklärung dafür darstellt, dass sie nicht auch noch die Neuerung ertragen könne, dass Vadim sie verlässt. Darüber hinaus kann der Topf mit seinem herausfordernden Inhalt auch Vadim selbst entgegenbrodeln und z.B. das Zusammentreffen adoleszenter und migrationsbedingter Anforderungen meinen. Es gelingt Vadim, die Beziehung zur Freundin gegen den Willen der Mutter aufrechtzuerhalten, aber er kann sich nicht ganz von der Mutter freimachen. Dies wird auf der inhaltlichen sowie auf der formalen Textebene deutlich, da er erneut einen Satz zum Zeigen nicht erfolgreich zu Ende führen. Die Mutter habe ihm viele Sorgen gemacht. Eine wohllautende Formulierung wäre: ‚Sie hat sich viele

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Sorgen um mich gemacht‘, doch Vadim drückt quasi das Gegenteil aus: die Mutter gibt ihm Grund zur Sorge, wobei die Formulierung ‚sie hat gemacht‘ ihren aktiven Anteil stärker herausstellt, als wenn er gesagt hätte: ‚ich habe mir Sorgen um sie gemacht‘. Dadurch gewinnt man den Eindruck, die Mutter wolle, dass er (und zwar speziell er und nicht z.B. einer seiner Brüder) sich um sie sorgt. Dabei handelt es sich insofern um eine Verkehrung des Generationenverhältnisses, als meist die Eltern sich um die Kinder sorgen. Die Mutter wird zum Kind, das Vadim nicht nur „viel“, sondern „zu viel Sorgen“ bereitet. Dadurch entsteht eine paradoxe Situation, denn die Mutter nimmt zum einen eine Infantilisierung des erwachsenen Mannes vor (‚immer kleine Jungs‘) und besteht dadurch darauf, der älteren Generation anzugehören, wohingegen sie die Rollen verkehrt, wenn sie Vadim – gleich einem Kinde – Sorgen bereitet. Für Vadim ist der Leidensdruck der unglücklichen Mutter belastend. Dies zeigt sich an dieser Stelle durch den leise und von Pausen gerahmten letzten Satz der Sequenz. Die Mutter sei traurig: erstens, weil er ausgezogen ist und zweitens auch noch eine feste Freundin hat bzw. heute (denn es steht „Jetzt“) sogar mit dieser verheiratet ist. Aufgrund der emotionalen Befindlichkeit seiner Mutter, die er eindeutig als Folge der Migration charakterisiert, wird Vadim daran gehindert, sich vollends von ihr und ihren Erwartungen zu lösen. Wohingegen ihm in Kasachstan viele Freiheiten (auch in Liebesbeziehungen) zugestanden wurden, engt die Mutter ihn in Deutschland (emotional) ein und zeigt sich wenig generativ. In diesem Kontext kann Vadim innerlich nicht ganz aus der engen Bindung ‚ausziehen‘, wodurch sich die Auffälligkeiten der Passage erklären lassen. Dies wird im Gesamtinterview auch dadurch deutlich, dass er erst im letzten Drittel der Erzählung erwähnt, dass er inzwischen verheiratet sei und seine Frau insgesamt nur wenig Raum im Interview einnimmt. Vadim erscheint auch in den Erzählungen ab dem Zeitpunkt, an dem er sie kennengelernt hat, oftmals mehr als Sohn seiner Mutter denn als Mann seiner Frau. Dazu passt auch die irritierende Tatsache, dass er erst etwa zwei Minuten vor Schluss des knapp dreistündigen Interviews berichtet, dass er in Kürze selbst Vater werde. All dies steht zudem im auffälligen Gegensatz dazu, dass die emotionale Beziehung zwischen Mutter und Sohn in Kasachstan eher gering ausgeprägt war, sodass der Einfluss der Migration deutlich wird. Dabei handelt es sich jedoch um eine eher eigennützige „Liebe“ der Mutter, die den Sohn eher einschränkt statt stützt. Abschluss des Kollegs 2006 – mit inzwischen 22 Jahren – schließt Vadim das Studienkolleg mit der Abiturnote 2,7 ab. Dies geschafft zu haben, gibt ihm das Gefühl, „ja doch nicht so

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dumm“ (453) zu sein. Es wird erneut deutlich, wie bedeutsam die äußere Bestätigung für ihn ist. Das Erreichte lässt ihn stolz auf sich sein und die Selbstzweifel, deren Intensität durch die zweimalige Formulierung des Dummseins hervortritt, kleiner werden. Doch auch in Bezug auf das geplante Studium bleiben Unsicherheiten bestehen: „Es ist schon mal nicht die Geschichte, wo ich in Kasachstan alles konnte, [ja] im Prinzip alles auswählen konnte, ich würde alles, würde alles schaffen, ich hatte so ein Gefühl von mir auch. Und hier: Ne. [mh] Ich musste schon mal gezielt was auswählen“ (1309ff)

Vadim empfindet Deutschland als Einschränkung seiner Bildungs- und Berufsmöglichkeiten. Für Kasachstan spricht er viermal davon, dass er „alles“ hätte erfolgreich studieren können, wohingegen er in Deutschland eine ganz gezielte Auswahl treffen müsse. Auffällig ist jedoch, dass er auch an dieser Stelle keine Alternative zum Studium in Erwägung zieht. Mit seinem guten Abschluss in Kasachstan haben sich ihm unterschiedliche Optionen geboten. Nun sei Medizin z.B. bereits aufgrund seiner Abschlussnote ausgeschlossen. Doch nicht aus nur formalen Gründen ist einiges nicht mehr möglich, Vadim schätzt nun auch seine Fähigkeiten als zu gering ein. Das Gefühl, alles schaffen zu können, besteht in Deutschland nicht. Er fühlt sich in seinen Fähigkeiten und Kompetenzen beschnitten. Nun ist unmöglich, was die Mutter für ihn wollte, aber auch das, was er favorisierte – Regie/Schauspiel – da er seine Sprachfähigkeiten als zu schlecht empfindet. Auch als Hobby schließt er es aus: „ich wollte hier weiterspielen, aber dann, /leicht lachend:/ weiß nicht, ich hab mich geschämt oder ist so, dass ich halt nicht die Sprache gut beherrsche. Dann dachte ich, das wird zu schwierig“ (283f)

Aufgrund Vadims Interesse für Technik und da etwas Kreativität enthalten ist, bewirbt er sich für das Studium der Medieninformatik an einer Fachhochschule in der Großstadt – und wird abgelehnt. Dies muss eine große Enttäuschung darstellen. Er hat seine Ansprüche bereits heruntergeschraubt und wird dennoch abgewiesen. Um überhaupt ein Studium zu beginnen, fängt er an, Informatik zu studieren, für das der benötigte NC jenseits der Note 3 liegt. Privat zieht er mit Galija in eine größere Wohnung in einen ruhigeren Stadtteil. Damit ist bereits der Plan verbunden, bald zu heiraten und in nicht allzu langer Zeit auch Kinder zu bekommen. Die Hochzeit erfolgt im Jahr darauf, 2007. Im Interview erwähnt Vadim dies nur sehr knapp: „Ja, wir sind auch schon lange miteinander und schon mal zusammengewohnt und ja nur (.) ja, vor einem Jahr haben

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wir uns geheiratet und ja“ (1137ff). Er erzählt keine Einzelheiten oder Besonderheiten. Vadim ist mit 23 Jahren recht jung und beide befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch am Anfang ihres Studiums. Mit der Ehe kann der Wunsch verbunden sein, die Beziehung ganz offiziell zu bekräftigen und die Einwände der Eltern zu zerstreuen. In diesem Sinne kann die Hochzeit auch als Ablösungsversuch von den Eltern verstanden werden. Durch die Heirat sei er für seine Eltern nun „schon mal nicht Kleiner, [mh] ich bin ja schon mal Großer und Großer-Kleiner. [lacht]“ (1405f). Vadim kreiert eine eigene Wortschöpfung, die sich durch Gegensätze auszeichnet. Dabei spricht er wie ein Kind über sich und bleibt erneut bei dem Wort klein, wenn auch in einer abgeschwächten Variante. Er kann dem Kleinsein nicht vollends entfliehen. Zugleich kann mit der Ehe auch der Wunsch verbunden sein, die Frau, die ihm guttut, an sich zu binden. Mit dem jungen Heiratsalter folgen sie darüber hinaus der ‚russischen‘ Statistik und dem elterlichen Vorbild, denn diese waren bei ihrer Eheschließung sogar noch jünger und (zumindest der Vater) auch noch nicht fertig mit der Ausbildung. Das notgedrungen begonnene Studium entspricht nicht Vadims Vorstellungen. Daher bricht er dieses nach zwei Semestern ab. Diesen Abbruch empfindet er nicht so verletzend wie das Sitzenbleiben im Studienkolleg, denn er ist selbst gewählt. Vadims Wunsch ist es nach wie vor, Medieninformatik zu studieren und so bewirbt er sich zum Wintersemester erneut für das Studium an der Fachhochschule. Als er wieder abgelehnt wird, lässt er sich vom AStA beraten. Dort erhält er die Information, dass er Widerspruch einlegen könne, was funktioniert. So beginnt er im Oktober 2007 schließlich doch mit dem gewünschten Fach. Erstmals ist Vadim aktiv geworden und wird mit einem Sieg belohnt. Es muss ein sehr befriedigendes Gefühl für ihn sein, sein Wunschstudium doch noch belegen zu können. Dabei kann er sich sogar einige Scheine aus dem abgebrochenen Studium anrechnen lassen. Der Inhalt des neuen Studiums bereitet ihm in der Tat Freude, jedoch ist es nicht leicht für ihn. Oft stellt Vadim sich die Frage, ob er es jemals schaffen werde. Als er eine Klausur nachschreiben muss, werden die Selbstzweifel wieder groß, obwohl er sogar von Autochthonen weiß, die z.T. mehrere Arbeiten nachschreiben müssen. Für seine Schwierigkeiten an der Uni macht er „Probleme mit der Sprache“ (407) und ungewohnte Lernmethoden verantwortlich. In Kasachstan sei immer gesagt worden, „was wir machen müssen“ (311), was er als angenehmer empfunden habe. Nun könne er „sich nicht umstellen“ und „nicht zwingen“ (317). Das Lernen an Universitäten zeichnet sich durch einen hohen Grad an Selbstorganisation aus, was für viele Studierende eine Herausforderung darstellt, mit der sie erst umzugehen lernen müssen (vgl. Schwendowius 2015, 482). Dies ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal für deutsche Hochschulen. Auch in Kasachstan/Russland wird an Universitäten vermutlich eine höhere Eigenverantwortlichkeit gefordert

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als zuvor an den Schulen. Vadim hat dort jedoch keine Universität besucht und kann daher nur Vergleiche zu seiner Schulzeit ziehen. Dieses Thema behandelt er ausführlich im Interview. Er äußert einen Mangel an Handlungsstrategien aufgrund der Differenzen in den Bildungssystemen. Manchmal verstehe er Dinge nicht richtig, „dann bin ich ja völlig konfus [ja]“ (410) und selbst etwas zu formulieren „versuch irgendwel-welche Quatsch zu formulieren [lacht auf] und dann gelingt es mir gar nix. [mh]“ (410f). „Und äh, die Problemen, die Probleme sind ja doch die Sprache, [mh] es ist ja so. Sprache und äh es gibt diese Tick ist noch dageblieben, wo ich mich nicht überwinden kann. [mh] Ich weiß nicht, ich bin, es sind ja zwei Menschen mit mir jetzt. Und wenn ich auf Russisch, zwischen russische Freunden bin ich mehr aktiver [mh] und in der Uni bin ich mehr passiver, [mh] weil ich mich, /schnalzt/ ich hab mal mehr Angst, dass ich ja nicht richtig was sage [ja] und dass ich doch äh-. Und wenn die Antwort kommt, dann denk ich: Da war ich doch richtig. [mh] Aber manchmal ist es doch nicht richtig und es ist ja diese, ich versuch mich ein bisschen zurück, ich bin zurück-zurück-, jetzt zurückhaltender [ja] in der Uni zum Beispiel. [mh] Und ich glaube, es stört mich, [mh] es stört mir und ich glaube, ich muss mehr offener sein. [mh] Und äh jetzt versuch ich, das mir beizubringen. Es ja, es gelingt ja ein bisschen so mehr und mehr. Und ja, es ist mehr besser geworden“ (1440ff)

Vadim verwendet das Wort „Tick“ im umgangssprachlichen Sinne, womit eine „lächerliche oder befremdend wirkende Eigenheit, Angewohnheit, sonderbare Einbildung“ (Duden online 2017) einer Person gemeint ist. Er empfindet es als ungünstige Angewohnheit, dass er sich nicht überwinden kann, auch im Kontext der deutschen Sprache aktiv und mutig zu sein. Es handelt sich dabei um einen „Tick“, den er seiner Beschreibung nach erst durch die Erfahrungen in Deutschland erworben hat und den er nun nicht mehr ganz loswird. Die „zwei Menschen“ erinnern an die zwei Seelen, die ach! in der Brust von Goethes Faust schlagen. Vadim verwendet jedoch nicht nur den Begriff der zwei widersprüchlichen Seelen, sondern den zweier „Menschen“, was ein noch stärkeres Bild darstellt. Der eine Mensch sei ‚aktiv-selbstbewusster‘; der andere ‚passiv-ängstlich‘. Die beiden Beschreibungen stellen eine Dichotomie dar. Diese Dichotomie ist in Folge der Migration entstanden. In Kasachstan war ihm nur die eine Seele zu eigen (bzw. eine noch stärker ausgeprägte Variante davon) und es stört ihn selbst, dass er in Deutschland nicht so sein kann, wie er war und sich seinem Selbstbild gemäß eigentlich empfindet. Es ist Vadims Wunsch, sich weiterzuentwickeln und künftig „offener“ zu sein. Er beschreibt es wie einen Lernprozess: „Und äh jetzt versuch ich, das mir beizubringen.“ Dies zeigt auch die folgende Passage:

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„Ich versuche auch, mit Deutschen zu reden52 [mh] oder dass ich mich irgendwie, [mh] ich mein, ich kann ja nicht immer sich zurückzuziehen, zurückziehen, ich muss ja doch mehr in die Mitte gehen, weil ich so ein Typ bin. Und ich kann ja auch nicht so zugucken, wie das alles passiert, [lacht auf] ich muss ja dabei, dabei sein. Und äh das muss ich mir noch beibringen [mh] mehr und mehr und mehr“ (1455ff)

Im Gegensatz zum oben erwähnten „Tick“ des einen Teils von Vadim, möchte er sich auch in Deutschland seinem eigentlichen „Typ“ des anderen Teils entsprechend geben können. Statt sich zurückzuziehen, wie er es seit der Migration getan hat, will er künftig „mehr in die Mitte gehen“, weil es seiner eigentlich offenen Persönlichkeit entspreche. „in die Mitte gehen“ kann interpretiert werden als der Wunsch, der Randständigkeit zu entkommen und zentral am Geschehen teilzuhaben. Es kann auch verstanden werden als das Ziel, wie früher im Mittelpunkt zu stehen, denn als Jugendlicher in Kasachstan stand Vadim im Zentrum der Aufmerksamkeit und Anerkennung, vor allem durch die Freunde. Allerdings wurde er damals auch durch seine Nonchalance zum „Star“ (804), für Deutschland wird das Erreichen der Mitte zu einer Kraftprobe, die er angestrengt verfolgt. Er plant es ähnlich wie das Erlernen einer neuen Fertigkeit. Vadim hat den Eindruck, nur durch Anpassung in die Mitte gelangen zu können, die einstige Leichtigkeit fehlt: „wenn man richtig, (2) wenn man richtig schnell sich adaptieren will, dann muss man die Umgebung voll auf Deutsch konzentrieren. [mh] Also, dass man deutsche Freunde kriegt oder mehr Deutsch redet“ (365ff)

Als wichtig empfindet Vadim es, ein deutsches Umfeld zu haben, wobei an verschiedenen Stellen deutlich wird, dass er gerade dieses nicht hat. Er habe keine deutschen Freunde und auch im Studium komme er immer automatisch mit „Russen“ (373) zusammen: „Aber (.) zum Freunden sag ich ja so, dass wir irgendwie, ich hab ni-, ich hab das so viel analysiert und versucht, selbst zu verstehen, warum das so ist, aber /jedes Wort betont:/ ich bin immer in Umgebung von Russen. [mh] Und es ist immer so, [lacht auf] ich weiß nicht warum. […] es ist so, [lacht auf] dass wenn ich zu meine Vorlesung komme, dann s-s-setzen wir uns alle drei oder vier zusammen und dann reden wir Russisch, ist schon mal-. Ja, oder in, wenn Gruppenarbeit ist, dann machen wir auch [mh] zusammen. Und ich weiß nicht, warum das so ist, aber weil, (2) vielleicht versuchen wir uns zu unterstützen. [mh] Es ist schon mal eine Unterstützung“ (370ff)

52 Eventuell ist dies auch eine Motivation für die Teilnahme am Interview gewesen, in dem er auf Deutsch mit einer (dem Namen nach) autochthonen deutschen Interviewerin reden muss/kann.

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Vadim bewegt sich in seinem Alltag fast ausschließlich in „Umgebung von Russen“. Es fällt auf, dass er statt des Wortes (Spät-)Aussiedler von Russen spricht. Dies deutet darauf hin, dass es nicht primär um den Status und die damit verbundenen Besonderheiten geht, sondern um die gemeinsame Sprache und Sozialisation in Russland. Er stellt es so dar, dass es automatisch passiere und von ihm nicht steuerbar sei. Zugleich werden die russischen Kommilitonen aber auch zu einer wertvollen (emotionalen) Unterstützung. Vadim geht jedoch davon aus, für ein erfolgreiches Studium, das auch den Wunsch der Eltern darstellt, vor allem deutsche Freunde zu brauchen. Obgleich er die russischen Freunde als Unterstützung erfährt, spricht er von einer nötigen Adaption an das deutsche Umfeld. Russischer Blog 2008 beginnt Vadim, auf einer russischen Internet-Blogseite einen Blog zu schreiben. Auf Russisch erzählt er darauf Dinge aus seinem Leben, die er „interessant“ (1516) findet. Darüber hinaus gibt er auf dem Blog auch Tipps für Menschen, die ebenfalls nach Deutschland migrieren wollen: „Und ich versuch da nicht nur Alltägliches zu erzählen, aber ich versuch da, was zu erzählen, was man von hier erfahren sollte, nicht so, dass man nach Deutschland kommt und nicht versteht, gar nichts versteht [mh] und dass man nicht äh (.) die Wahrheit kennt. Das man nicht nach äh Märchen reist, [ja] das man muss sich klar im Kopf sein, [mh] was man machen muss oder was man haben muss. Oder manche Kleinigkeit, die man mitnehmen muss oder dass man nicht die solche Säcke mitschleppen muss, wie wir das gemacht haben. Wir haben so viel mitgenommen, mitgebracht. Meine Mutter hat irgendwelche Geschirr mitgebracht [mh] und was weiß ich, das braucht man gar nicht“ (1507ff)

In Deutschland sind Vadims Fähigkeiten und Optionen eingeschränkt, dafür ist er aber nun Experte für das Übersiedeln von Kasachstan/Russland nach Deutschland. Dieses Wissen möchte er an andere weitergeben und ihnen damit helfen. Durch Formulierungen wie „die Wahrheit“ oder „nicht nach äh Märchen“ wird deutlich, dass es ihn und seiner Familie so ergangen ist und sich das Leben in Deutschland für sie eben nicht als so uneingeschränkt positiv und märchenhaft herausgestellt hat. Somit dient das Schreiben auf einer zweiten Ebene auch der Reflektion und eventuell Verarbeitung eigener Erfahrungen. Welch hohe Bedeutung das Schreiben dieses ‚öffentlichen Tagebuchs’ für ihn hat, wird auch dadurch deutlich, dass er dies auf meine Frage: „Das war meine letzte Frage, möchtest du noch irgendwas hinzufügen?“ (1502) unbedingt noch erwähnen möchte. Ich stelle diese Frage standardmäßig am Ende jedes Interviews

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und nur in den allerseltensten Fällen nutzen die Interviewpartner diese Gelegenheit. Die Analysen dieser Passagen haben gezeigt, dass es sich dabei stets um etwas handelt, das für die interviewten Personen von besonderer Relevanz ist. Wie in den Hintergrundinformationen angeführt, schreibt Vadim im Blog auch über das Interview. Der Blog ist eine Form der Selbstdarstellung und kennzeichnet ihn als jemanden, der etwas mitteilen möchte. Er erzählte mir auch, dass er gerne „eines Tages“ (472) ein Buch über sein Leben schreiben würde, da es „schon mal spannend“ (473f) sei und im Nachgespräch erwähnt er einen möglichen Film. Der Blog kann als eine niedrigschwellige Vorstufe betrachtet werden. Gleichzeitig sagte Vadim nach dem Interview, dass im Alltag keiner seine Geschichte hören wolle. Im Internet findet er hingegen eine Zielgruppe, die sich speziell für seine Beiträge interessiert: „Ich glaube, es [der Blog, JZ] wird schon mal gut gehen. [mh] Es, es finden auch, man-manche finden es auch sehr interessant, [mh] die da sind. Manchen interessiert es nicht, weil es nicht ihre Sache ist, aber manchen ist es doch. Weil die auch, es gibt Junge, die ah eine wohnt in Finnland, eine Russin, eine in Amerika, USA, eine in Kanada. Es sind doch Seelen, die verwandt sind. [mh]“ (1520ff)

Das interaktive Internet des 21. Jahrhunderts bietet ganz neue transnationale Austauschräume. So wird sein Blog nicht nur von Deutschen in Kasachstan gelesen, sondern von russischsprachigen in verschiedenen Ländern; sogar außerhalb Europas. Hat Vadim vor Ort in Deutschland oftmals das Gefühl, nicht ausreichend anerkannt zu werden, bietet sich ihm durch das Internet, quasi als einem ‚nichtOrt‘53, eine globale Bühne und das ‚weltweite‘ Interesse von russischsprachigen Menschen freut ihn. Das Schreiben des Blogs und die folgenden Diskussionen in der Online-Community stellen für Vadim neben der sozialen Anerkennung auch eine Vergewisserung seiner ‚russischen‘ Zugehörigkeit dar. Neben dem täglichen Gefühl, ‚anders zu sein‘ und nur schwer mit autochthonen Deutschen in Kontakt zu kommen, hat Vadim auch Erfahrungen mit Diskriminierung und Fremdenhass gemacht. In einer ostdeutschen Stadt wurden er und seine russischsprachigen Freunde von ‚Rechten‘ angegriffen: „wir wurden so zuerst mit Wörtern angegriffen [mh] und dann (.) angegriffen, [oh] aber es ist alles gut gegangen. Und äh, äh, die haben mehr, ich sag so, äh, (.) wir haben gesiegt. /lacht auf/“ (1022). Er stellt dieses Erlebnis zwar betont locker dar, doch versetzt man sich in die Situation, so stellt es nicht nur eine angstmachende physische Bedrohung dar, sondern auch eine Aberkennung des Status als Deutscher. Wie soll man sich zuhause fühlen, wenn man aufgrund einer zugeschriebenen Nicht-Zugehörigkeit angegriffen wird? 53

Ich verwende das Wort nicht im Sinne von Augé (2014).

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Vadim inszeniert sich im Blog nicht ausschließlich als ‚Russe in einem fremden Deutschland‘, sondern veröffentlicht z.B. auch selbstgemachte Bilder von Orten der Großstadt, in der er lebt. Er sagt im Interview deutlich, dass er die Großstadt liebe und sie allen zeigen wolle. Die Kunst war bereits in Kasachstan eines seiner Hobbys. Zum einen zeigt er Sehenswertes von der Stadt und zum anderen sein künstlerisches Talent. Vadim und Galija gründen eine Familie – die aktuelle Situation Im Anschluss an die Hochzeit beginnen Vadim und seine Frau konkret mit der Familienplanung. 2008 wird Galija schwanger. Mit dem Wunsch nach einem Kind zeigt sich bei Vadim der Wunsch nach generativer Sorge im klassischen Sinne. Nach dem Interview hat er mir erzählt, dass sie nicht länger mit dem ersten Kind hätten warten wollen, da Galija schon älter sei als er und es in Kasachstan/Russland üblich sei, Kinder zu bekommen, bevor die Frau 30 Jahre alt ist. Die beiden befolgen somit eine Verhaltensweise, die in ihren Herkunftsländern typisch ist und die sie eventuell als üblich oder ‚normal‘ betrachten. Sie tun dies, obgleich sie sich beide noch im Studium befinden und somit noch keine gesicherten Verhältnisse vorweisen können. Das internalisierte Ablaufmuster steht somit über dem in Deutschland eher vertretenem Muster, zunächst eine sichere finanzielle Grundlage zu schaffen. Obwohl Vadim um die Herausforderung weiß, problematisiert er es nicht, als Student Vater zu werden. Im Gegenteil gibt er an, daraus eine Motivation zu ziehen: „Ja, es ist unser erstes und ich weiß, dass es schwierig wird [mh] mit dem Studieren dann, aber ich glaub, ich pack das. [mh] Es wird mir mehr Kraft geben. [lacht auf] Jetzt weiß ich, wofür ich das mache. [ja] Ja, und ich mach das, wie meine Eltern gesagt haben, nicht für mich, sondern für meine Kinder. /lacht auf/ [lacht auf] So ist es“ (1495ff)

Vadim hofft, durch sein Kind Kraft zu bekommen. Dies impliziert, dass er diese benötigt, was dem Bild entspricht, das die bisherige Interpretation gezeichnet hat. Zudem kommt es zu einer Verschiebung, wohingegen Vadims Eltern angeben, für ihre Kinder migriert zu sein, gibt er nun den erhofften Erfolg des Migrationsprojektes seinerseits an die nächste Generation weiter. Dies entlastet ihn von dem Druck, er selbst müsse es in Deutschland als viel besser erleben als in Kasachstan, was er – wie gezeigt – nicht kann. Dies kann von Vadim als Erleichterung erlebt werden, für die Tochter eventuell jedoch zur Bürde werden. Trotzdem hat er mit seiner Frau besprochen, so sagte er im Nachgespräch, dass sie mit dem Kind Russisch sprechen und ihm ‚etwas von der eigenen Geschichte weitergeben‘ wollen.

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Dies zeigt erneut seine starke Verbundenheit zur russischen Sprache und seiner Herkunft. Boszormenyi-Nagy und Spark (1993) sehen die eigene Elternschaft zudem als „achtbarste und logistische Form, sich von den Verpflichtungen gegenüber den Eltern zu befreien […]. Wird der junge Erwachsene selbst ein Vater, eine Mutter, so erwirkt er eine Entschuldigung dafür, daß er den Verpflichtungen gegenüber seinem Kind statt gegenüber seinen Eltern nachkommt“ (155). Möglich, dass (unbewusst) auch dieser Aspekt in die Entscheidung hineingespielt hat. Zukunftspläne – ein russischer Radiosender (auch) für die Mutter Nach seinen Zukunftsplänen befragt, gibt Vadim an, sich zu wünschen, sein Bachelor-Studium abzuschließen und im Anschluss eine Arbeit zu finden, um von der Wohnung in ein Haus ziehen zu können. Ein Haus steht für Sesshaftigkeit. Für ihn gehört es zur Idealvorstellung eines Familienlebens dazu, das er als sehr wichtig bewertet. Er möchte seiner Familie etwas bieten und in Zukunft ein gutes Leben führen können. Er hat auch schon eine Idee, was er gerne beruflich machen möchte: „Ich würde gerne dann, ich stelle mir vor, dass ich doch bei irgendwelchem Sender [mh] arbeiten werde. Und ich hab eine, (2) weiß nicht, [lacht auf] ich will ähm, ich hab eine Gedanke und es ist mein Traum irgendwie, [mh] ich würd einen Radiosender gründen. [mh] Ich hab mir gedacht, es sind ja viele Ausländer hier, [mh] aber gibt‘s keine Radiosender für Ausländer, sag ich so. [stimmt, mh] Und äh es gibt Zeitungen [mh] und ich würde gern vielleicht doch was beibringen. Weil äh es ist ja so ich, ich saß einmal und hab die Radio so gewechselt im Auto und dachte: Es gibt ja keinen russischen Radio. [mh] Und zum Beispiel meine Mutter hört kein Radio im Auto [mh] oder zuhause, weil sie das nicht versteht. Äh, versteht doch, aber nicht alles oder nicht richtig und der Musikgeschmack ist ganz anders. [mh]“ (1475ff)

Einen russischsprachigen Radiosender zu gründen, sei sein „Traum“. Vadim betont, dass seine Mutter kein Radio hören könne, weil sie nichts verstehe und einen anderen Musikgeschmack habe. Sein Berufswunsch ist demnach stark mit der Mutter verbunden. Er möchte ihr ein ‚Stück russische Kultur‘ nach Deutschland holen, wodurch er sie vielleicht etwas glücklicher machen könnte und weiterhin der ‚Star‘ der Familie bliebe. Die enge Verknüpfung seiner Zukunftspläne mit dem Leid der Mutter stellt erneut die starke Verwobenheit mit ihr dar. Doch der Wunsch enthält auch andere Anteile, so handelt es sich um einen Beruf aus dem kreativen Bereich, der ihm seit jeher liegt und an seine Kompetenzen, wie die rus-

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sische Sprache, anknüpft. Muttersprachliche Medien werden in Deutschland zwiespältig wahrgenommen. Es sei „gerade für die erste Migrantengeneration, die häufig immer noch mit Sprachproblemen zu kämpfen hat, von großer Bedeutung, Informationen und Unterhaltung mittels der Muttersprache wahrnehmen zu können. Andererseits kann diese Entwicklung aber auch eine mediale Ghettoisierung verursachen“ (Weber-Menges 2008, 21) „Ethnomedien“ (ebd., 15) können aber auch einen Rückzugsort bedeuten, der Schutz bietet (vgl. Scheibelhofer 2005, 220). Wie der Blog im Internet stellt auch der Radiosender eine Art ‚nicht-Ort‘ dar, einen Ort jenseits von Deutschland und Russland/Kasachstan, an dem Gleichgesinnte zusammenkommen können. Für Vadim scheint es eine Umgangsweise mit seinen Erfahrungen dazustellen, sich in solchen ‚nicht-Orten‘ in seiner Muttersprache mitzuteilen, auszutauschen, anderen Informationen zu geben und dadurch auch Anerkennung zu erfahren. Da er an dem realen Ort Deutschland nicht ganz anzukommen scheint und eine Rückkehr aufgrund der familialen Konstellation ausgeschlossen ist, hat er sich eine Zwischenebene gesucht. Dies stellt einen durchaus kreativen Umgang mit der Situation dar. 6.1.5 Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte In diesem abschließenden Einzelfall-Auswertungsschritt werden die Ebenen der erzählten und erlebten Lebensgeschichte miteinander verglichen und dabei zum einen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Gegenwarts- und Vergangenheitsperspektive aufgezeigt (vgl. Rosenthal 2008, 195) und zum anderen herausgearbeitet, welche biographischen Erfahrungen die Selbstpräsentation hervorgebracht haben und wie die aktuelle Perspektive Einfluss auf die Formung vergangener Erlebnisse nimmt (vgl. Breckner 2009, 190). Dies geschieht in Form einer Gesamtpräsentation des Falles und seiner Fallstruktur. Dieser Schritt wird noch unabhängig von der konkreten Fragestellung der Arbeit durchgeführt, dennoch nehmen die Themen Adoleszenz und Migration in allen drei Darstellungen einen recht großen Raum ein, da sich diese als zentrale Aspekte der jeweiligen Lebensgeschichten erwiesen haben. In Vadims selbststrukturierter Eingangserzählung, die etwa 50 Minuten umfasst, dominieren die Textsorten Bericht, Beschreibung und Argumentation. Er präsentiert seine Lebensgeschichte zunächst in dem thematischen Feld: ‚Unsere Migration war die unweigerliche Folge der Familiengeschichte‘. Dafür benennt er seine ethnische Zugehörigkeit, verdeutlicht die kollektivgeschichtlichen Hintergründe und familialen Wanderungsbewegungen, nennt seine Geburt und schließlich die Aussiedlung. Die Text- und thematische Feldanalyse hat gezeigt, dass es dabei um mehr geht, als zu Beginn des Interviews sein Dasein als Spätaussiedler

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in Deutschland zu erklären oder zu legitimieren: es dient darüber hinaus auch der Herstellung eigener biographischer Kohärenz. Vadim muss nicht nur anderen deutlich machen, warum dieser Weg so stattgefunden hat und gut so ist, sondern auch sich selbst. Denn die Migration bedeutet für Vadim einen Bruch, der sich auf Textebene zunächst latent durch Erzählschwierigkeiten zeigt. Im weiteren Verlauf der Selbstpräsentation benennt Vadim dann auch konkret einige der Herausforderungen im Zuge der Migration. Übergreifend möchte er sich als jemand präsentieren, der sich um Integration/Adaption in Deutschland bemüht: ‚Ich versuche, mich zu integrieren, aber durch mein Aufwachsen im sowjetisch-russischen Kasachstan fällt es mir schwer‘, ist das thematische Feld, in dem der weitere Verlauf der Eingangserzählung steht. Schwer sei es z.B. dadurch, dass er anders schulisch sozialisiert worden sei und es in Deutschland wiederum anders gemacht werde. So ist es denn auch Vadims Ziel, zu erklären, warum er in Deutschland schulische und universitäre Schwierigkeiten hat und zu verdeutlichen, dass es sich dabei nicht um ein individuelles Problem handelt, wie einen Mangel an Intelligenz, sondern um ein kollektives. Das Leben in Institutionen, vor allem in Hinblick auf deren Unterschiedlichkeiten, ist zudem das einzige, über das er in den ersten 50 Minuten von seiner Kindheit und Jugend berichtet. Es stellt sich die Frage, warum Vadim in der Selbstpräsentation nicht über sein persönliches Erleben in Kasachstan spricht, was durch die Kontrastierung mit der erzählten Lebensgeschichte des insgesamt dreistündigen Interviews erhellt werden soll. Vadim besucht ab einem Alter von einem Jahr für viele Stunden am Tag eine Kindertagesstätte, was – neben der frühen Trennung von den Eltern – bedeutet, dass die Familie in der Woche kaum Zeit miteinander verbringen kann. Die wenigen Gelegenheiten füllen sie überwiegend mit Sport aus. Insgesamt zeigen sich keine innigen familialen Beziehungen. Dabei ist Vadims Verhältnis zum Vater in der Kindheit und Jugend besser als das zur Mutter, da diese Gewalt als Erziehungsmittel einsetzt; die Beziehung zu den Geschwistern bleibt inhaltlich unausgefüllt. Im Verhältnis zu den beiden Brüdern empfinden die Eltern Vadim als ‚pflegeleicht‘, was auch dazu führt, dass er weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Anerkennung erhält er dafür, dass er – erneut im Vergleich zu den Geschwistern – als das klügste Kind betrachtet wird. Dies erfüllt Vadim mit Stolz. Zugleich gewinnt man den Eindruck, dass dies der einzige Weg für ihn sei, in der Familie gesehen zu werden, womit auch sein Wunsch verknüpft zu sein scheint, diesem Bild gerecht zu werden. Im Verlauf der Jugendjahre findet ein Wandel statt, der sich auffällig auch in der Art der Narration zeigt. Im Nachfrageteil, in dem ich Vadim z.B. konkret um Erzählungen zu dieser Zeit bitte, entsteht auf einmal ein ganz anderes Bild als in

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der erzählten Lebensgeschichte der Eingangspräsentation (s.o.). Vadim führt Details aus und zeichnet Szenen nach. Die Narrationen zur Jugendzeit heben sich dabei sprachlich durch ihre Lebhaftigkeit und die vielen positiven Adjektive deutlich vom Rest der Rede ab. Inhaltlich zeigt sich, dass Vadim zu dieser Zeit stark in Peerbeziehungen eingebunden ist und aufgrund von Erfolgen in Sport und Schauspielerei einen besonderen Status der Anerkennung im Freundeskreis und in der Schule genießt. Nach wechselnden Beziehungen führt er über längere Zeit eine feste Partnerschaft und hat zusätzlich Verehrerinnen, ist ein guter Schüler, dem es immer wieder gelingt, unliebsamen Aufgaben zu entgehen und ist Teil einer semiprofessionellen Musicalgruppe, mit der er auf Tourneen durchs Umland fährt und bezahlte Auftritte absolviert. Durch all das fühlt er sich „beflügelt“ (894) und wie ein „Star“ (804). Die Eltern schreiten zwar auch immer wieder erzieherisch ein, etwa als sie erfahren, dass er Haschisch konsumiert, doch da Vadim ihren Bildungsaspirationen gerecht wird, lassen sie ihm auch Raum für adoleszentes Probehandeln. Vadim nutzt den elterlichen Freiraum für sich, ohne dadurch seinen schulischen Erfolg ernstlich in Gefahr zu bringen. Zugleich kann er es sich aber auch erlauben, sich von den Erwartungen der Eltern zu distanzieren und ihre Kritik zu riskieren, da er nun weniger auf die Anerkennung für seinen Bildungsweg (‚unser Kluger‘) angewiesen ist, weil er sich unter den Peers den neuen Raum des ‚Coolen‘ und ‚Stars‘ erschlossen hat und dafür Anerkennung und Respekt erhält. Anerkennung zu erhalten, ist für Vadim von besonderer Relevanz und der Wunsch danach als sein übergeordnetes biographisches Thema zu bezeichnen. Kurz vor der Migration erreicht er den Mittelschulabschluss und hat bereits (Zukunfts-) Pläne für ein Studium in Russland entwickelt. Durch die Auffächerung der erlebten Lebensgeschichte für die Jugendjahre in Kasachstan wird deutlich, dass es nicht nur die Andersartigkeit des Schulsystems ist, die es Vadim in Deutschland schwer macht – wie er es in der Eingangserzählung zu präsentieren versucht – sondern auch seine vormalige soziale Integration. Die Analyse der erzählten Lebensgeschichte zeigt, dass die Migration für Vadim quasi ‚auf dem Höhepunkt‘ seines bisherigen Lebens stattfindet. Die Aussiedlung fällt zum einen mit seinem starken Eingebundensein in den Peerkontext und die damit verbundene Anerkennung und zum anderen mit dem Erfolg des Schulabschlusses und dem bevorstehenden Statuswechsel vom Schüler zum Studenten zusammen. So kann Vadim, wenn er seinen Wunsch ausführt, sich in Deutschland anpassen zu wollen, nicht im gleichen Zuge über sein positives Erleben in Kasachstan sprechen. Die Fallrekonstruktion gibt demnach eine Antwort auf die nach der Feldanalyse gestellte Frage nach dem Grund dafür, dass Vadim seine Kindheit und Jugend unabhängig vom schulischen Weg in Kasachstan zunächst nicht thematisiert. Das persönliche Erleben wurde demnach nicht ausge-

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schlossen, weil es für ihn wenig Relevanz besitzt, sondern weil sein positives Eingebundensein (und das der Familie) einen deutlichen Widerspruch zur Präsentation des Integrationswunsches und der dargestellten ‚Unweigerlichkeit‘ darstellt. Vadim kann dies inhaltlich nicht in Einklang bringen und daher nur getrennt erzählen, wodurch das Interview zweigeteilt erscheint. Zudem stimmt auch die Familiengeschichte nicht mit der zuvor gegebenen Selbstpräsentation einer quasi schon immer unweigerlich feststehenden Migration überein. So erzählt Vadim im Nachfrageteil von starken Anpassungsbewegungen der Familie an das russischsowjetische Umfeld, etwa durch die berufliche Tätigkeit des Vaters für eine sowjetische Behörde. Dies kann auch erklären, warum die Text- und thematische Feldanalyse zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ‚das Deutschsein‘ bereits in der ersten Sequenz durch die russische Zugehörigkeit ‚gestört‘ wird. Die Migration zeigt sich bei Vadim biographisch und auf Textebene als starker Bruch, der seine Lebensbedingungen komplett verändert. In diesem Punkt stimmen die Ergebnisse der Rekonstruktion der erzählten sowie die der erlebten Lebensgeschichte überein, wenn auch in Hinblick auf unterschiedliche Aspekte. Im Zuge der Migration muss Vadim nahe Verwandte, wie seine Oma, seine Musicalgruppe, seine Freunde und seine Partnerin verlassen, was er als „Katastrophe“ (1084) bezeichnet und wird auf die Familie zurückgeworfen, von der er sich z.T. schon gelöst hat. Die begonnene adoleszente Entwicklung wird durch die Aussiedlung jäh unterbrochen. In der ersten Zeit nach der Migration intensiviert sich die Beziehung zu den Eltern, sie erhalten mehr „Macht“ (1109) über ihn und schränken seinen Bewegungsraum ein. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass er von seiner damaligen Freundin, die nach einiger Zeit ebenfalls als Spätaussiedlerin nach Deutschland kommt, verlassen wird. Dies stellt eine äußert kränkende und verletzende Situation für Vadim dar, was sich auch durch den großen Raum ausdrückt, den diese Passage im Interview erhält. Die gescheiterte Beziehung wird emotionaler und ausführlicher thematisiert als seine Ehe. Vom ‚Höhepunkt‘ kann die Bewegung für Vadim zunächst nur abfallend verlaufen. Der Schritt vom ‚Beflügelt-Sein‘ in Kasachstan zum ‚nicht-in-SchwungKommen‘ in Deutschland lässt die krisisartigen Herausforderungen der Migration deutlich werden. Vadim kann viele seiner mitgebrachten Kompetenzen nicht mehr nutzen. Erfahrungen von Verlust und Begrenzung macht er vor allem in Hinblick auf seine sprachliche Ausdrucksfähigkeit und in Bezug auf das zuvor leichte Erringen von Erfolgen und außerfamilialer Anerkennung. Obgleich er in der Selbstpräsentation zu erklären versucht, dass seine Schwierigkeiten durch die Unterschiedlichkeit der Systeme begründet sind und ein kollektives Problem nahezu aller Migranten (aus der ehemaligen Sowjetunion) darstellen, zeigt die Analyse der erlebten Lebensgeschichte, dass er sich in der Situation selbst als „dumm“ (453) betrachtet und sehr unter den Misserfolgen und Begrenzungen leidet. Er spricht

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sogar davon, zu dieser Zeit unter einer Depression gelitten zu haben. Sein Selbstbild als ‚der Kluge‘ der Familie und ‚Star‘ der Gleichaltrigen wird nachhaltig erschüttert. Die Migration wird in der Rekonstruktion der Lebensgeschichte zum zentralen biographischen Ereignis, das sein Leben in ein Davor und ein Danach teilt. In Kasachstan war die Schule für Vadim ein Raum der Erfolge und Anerkennung, sowohl von Lehrer- als auch von MitschülerInnenseite aus. In Deutschland erlebt Vadim diese hingegen als Ort des Scheiterns und Verkannt-Werdens. Dazu, dass seine Möglichkeiten in Deutschland anders aussehen als zuvor, tragen auch strukturelle Bedingungen bei, wie die Tatsache, dass Vadim eine Abwertung seines mitgebrachten Bildungstitels erfährt. Wohingegen er in Kasachstan bereits im Jahr der Ausreise unmittelbar mit einem Studium hätte beginnen können, braucht er nach der Einreise fünf Jahre, ehe er anschließen kann. Des Weiteren berichtet er von Diskriminierung, fehlender Anerkennung für seinen Status als Spätaussiedler sowie seine eigentlich vorhandenen Kompetenzen. All dies nimmt auch Einfluss auf den Möglichkeitsraum der Adoleszenz und führt zu einem Rückschritt der adoleszenten Auseinandersetzungen. Die in der erzählten Lebensgeschicht – vor allem in der Darstellung seiner Geburt – aufscheinende ‚Größenphantasie‘ könnte eine Art Kompensation oder Bewältigung dieses Zustands darstellen. In diesem Kontext kann auch die von Vadim in der Interviewsituation geäußerte Idee, sein Leben sei ähnlich ‚verfilmenswert‘ wie der preisgekrönte Film „Schindlers Liste“ sowie sein von mir in der Interviewsituation wahrgenommenes Bedürfnis nach Gehört- und Wertgeschätztwerden, gesehen werden. Angesichts der Enttäuschungen und Misserfolge im Anschluss an die Migration, versucht Vadim diese in der erzählten Lebensgeschichte, wie gezeigt, als zwangsläufiges Geschehen (‚unweigerliche Folge der Familiengeschichte‘) zu interpretieren, was zudem die Eltern von ihrer Verantwortung befreit. Täte er dies nicht, müsste er entweder kritisch mit diesen ins Gericht gehen oder stünde, wenn er eingestehen würde, dass er die Migration als Fehler empfindet, vor den Trümmern der letzten Jahre. Auf das verborgene Vorhandensein dieser Sichtweise gibt die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte jedoch klare Hinweise. Vadim kann allerdings nicht aussprechen, dass er lieber in Kasachstan geblieben wäre, da die Eltern für die Migration viel aufgegeben haben und seitdem unter Entbehrungen leiden. Entgegen dem allgemeinen Trend konnten sie den Zusammenbruch der Sowjetunion auf eindrucksvolle Weise für sich nutzen und sich als selbstständige Unternehmer (finanziell) erfolgreich etablieren. Durch die Migration, die sie als ausschließlich für die Kinder geschehen benennen, erfahren sie eine starke berufliche Entwertung und entwickeln zudem Krankheiten. Der zuvor stets aufsteigende Vater kann beruflich nicht anschließen und bekommt Allergien. Die Mutter

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hat massive Schwierigkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen, findet nur degradierende Aushilfstätigkeiten und leidet nicht nur unter Rückenschmerzen, sondern auch an einer Depression und vermisst Mutter und Schwester, die sie in Kasachstan zurücklassen musste. In der Folge versucht sie, die ‚verlorene‘ Herkunftsfamilie durch eine übersteigerte Bindungssuche an ihre Söhne zu kompensieren, wobei sie aufgrund der Geschwisterkonstellation vor allem Vadim wählt. Dies wird z.B. dadurch deutlich, dass es zu einem großen Streitpunkt wird, als ihr Sohn in Deutschland eine Liebesbeziehung eingeht, wohingegen sie seine längere Partnerschaft in Kasachstan explizit guthieß. Vadim reagiert auf die Bindungssuche, vom ‚coolen Star‘ wird er zum „Muttersöhnchen“ (Z.1110). In Kasachstan wurden ihm viele Freiheiten (auch in Liebesbeziehungen) zugestanden, in Deutschland engt die Mutter ihn (emotional) ein und zeigt sich wenig generativ. Aufgrund der emotionalen Befindlichkeit seiner Mutter, die Vadim eindeutig als Folge der Migration charakterisiert, wird er daran gehindert, sich vollends von ihr und ihren Erwartungen zu lösen. Es geht bei dieser Deutung nicht darum, normativ zu bewerten, ob der vorliegende Verlauf der adoleszenten Entwicklungen gut oder schlecht ist; vielmehr geht es um die Frage, wie die Selbstwahrnehmung des Interviewpartners ist. Bei Vadim zeigt sich in der Erzählung das Verlangen, sich die alten Freiräume zurückzuerobern. So nimmt er nach zwei Jahren in Deutschland eine (räumliche) Loslösung mittels Umzug vor und heiratet später eine Frau, die die Eltern ablehnen und die seine Ablösungsversuche unterstützt. Die Analyse zeigt jedoch, dass Vadim, obwohl er bald selbst Vater wird, noch nicht zu einem ausgewogenen Verhältnis von Autonomie und Verbundenheit mit der Mutter/den Eltern kommen konnte. Er kann innerlich nicht ganz aus der engen Bindung zur Mutter ‚ausziehen‘, da diese zum einen eine Infantilisierung des erwachsenen Mannes vornimmt (‚immer kleine Jungs‘) und zum anderen verkehrt, wenn sie Vadim – gleich einem Kinde – Sorgen bereitet, was eine paradoxe Situation für ihn darstellt. Aufgrund der Konstellation nimmt Vadim zudem den Bildungsauftrag der Eltern an und versucht, sich in Deutschland „zu adaptieren“ (Z.361) und rasch erfolgreich zu sein, obgleich dies mit den oben beschriebenen Schwierigkeiten verbunden ist. Er war zwar auch in Kasachstan der Sohn, der die Bildungsaspirationen der Eltern erfüllen sollte, doch fielen ihm die guten Leistungen dort leicht und hatte er daneben Raum für eigene Entwürfe. In Deutschland hingegen kann er nicht so sein, wie er war und wie er sein möchte. Von jemandem, der stets in der „Mitte“ (Z.1457) des Geschehens stand, sei er in Deutschland zu jemandem geworden, der sich zurückgezogen am Rand befindet. Vadim könne nicht mehr aktiv und selbstbewusst sein, obwohl er es eigentlich möchte, sondern beschreibt sich als passiv und ängstlich, sein Selbstbild erscheint in der Folge wenig kohärent. Der

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herausgearbeitete Versuch der erzählten Lebensgeschichte, eine eigene biographische Kohärenz herzustellen, ist auch damit in Zusammenhang zu sehen. Dabei hat Vadim den Eindruck, nur durch Anpassung in die Mitte gelangen zu können, womit er zugleich auf bestimmte gesellschaftlich geforderte Verhaltensweisen rekurriert, die als bedeutsam für einen Bildungserfolg benannt werden. Die einstige Leichtigkeit fehlt. Seine beruflichen Zukunftspläne, also einen bedeutsamen Teil der adoleszenten Individuation, schmiedet er in Hinblick darauf, seiner Mutter die Situation in Deutschland zu erleichtern, statt ganz eigene Entwürfe zu entwickeln. Vadim träumt davon, nach dem Studium einen russischen Radiosender zu gründen. Dies wäre (auch) für seine Mutter sehr hilfreich, denn sie könne keinen der üblichen Sender hören, weil sie kein Deutsch verstehe und einen anderen Musikgeschmack habe. ‚Gewinnbringend’ ist die Konstellation für Vadim insofern, als dass er, der sich im Vergleich zu Kasachstan in Deutschland wie ein „gar [N]ichts“ (Z.870) vorkommt, somit zumindest für die Mutter eine herausgehobene Stellung behält und die schmerzlich vermisste Anerkennung erfährt. Darüber hinaus stellt der Radiosender, ebenso wie der von ihm betriebene Blog im Internet eine Art ‚nichtOrt‘ dar, also einen Ort jenseits von Deutschland und Russland bzw. Kasachstan, an dem Gleichgesinnte zusammenkommen können. Da Vadim real vor Ort in Deutschland nicht ganz anzukommen scheint und eine Rückkehr aufgrund der familialen Konstellation ausgeschlossen ist, hat er sich eine Zwischenebene gesucht, auf der er, wenn auch in anderer Form als früher, eine Art Selbstdarstellung betreiben kann. Sich in solchen ‚nicht-Orten‘ in seiner Muttersprache mitzuteilen und auszutauschen, stellt für Vadim offenbar eine Verarbeitungsweise seiner Erfahrungen dar, aus der er zugleich Bestätigung zieht. Dies ist als kreativer Umgang mit der Situation zu bezeichnen, der jedoch auch eine segregative Seite enthält, da Vadim ausschließlich auf Russisch schreibt. Ein weiteres Potential, das die Ablösung und Umgestaltung der Beziehung zu den Eltern fördert, stellt Vadims Ehefrau dar. Auch sie ist im Jugendalter aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert. Mit ihr kann Vadim Sprache und Selbstverständlichkeiten teilen, was ihm Halt gibt. Zudem lernt er durch sie und den Umgang in ihrer Herkunftsfamilie innigere familiale Beziehungen kennen, die ihn zum Nachdenken anregen. Mit ihr gründet Vadim zur Zeit des Interviews eine eigene Familie. Dabei hat er den Gedanken, dass einst seine Tochter den – von seinen Eltern erhofften Gewinn durch die Migration – ‚einfahren‘ kann. Dies könnte ihn z.T. von dem Druck befreien, er selbst müsse es in Deutschland als viel besser erleben als in Kasachstan, was er – wie gezeigt – nicht kann. Es ist aber auch, ebenso wie die frühe Heirat und Vaterschaft noch während der Ausbildung, eine Wiederholung des elterlichen Lebensentwurfs.

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6.2 Fallrekonstruktion Anton: „hab ich auch so Zwischenfälle irgendwie, wo ich nich verstanden wurde“ Anton kam 1983 in einer sibirischen Großstadt als Sohn eines Deutschen und einer Russin zur Welt. Nachdem er 1997 die 8te Klasse abgeschlossen hatte, migrierte er mit seinen Eltern, seinem um zwei Jahre älteren Bruder sowie den Großeltern väterlicherseits nach Deutschland. Sein Bildungsweg in Deutschland gestaltete sich über lange Zeit problematisch und zeichnet sich durch Brüche, Wechsel und Unterbrechungen aus. Zurzeit des Interviews (2008) befindet sich der 25-Jährige im ersten Semester seines Studiums der Biochemie an der Universität einer Großstadt. Die Auswahl des Falles folgte dem Prinzip des maximalen Kontrastes. Das bedeutet, dass für die zweite ausführliche Rekonstruktion ein Fall gewählt wurde, der in Bezug auf zentrale Aspekte entgegengesetzt zum ersten Fall zu sein scheint. Bei Vadim zeigte sich ein Rückschritt der adoleszenten Auseinandersetzungen und die Relevanz der Mutter, die ihn stark an sich zu binden sucht. Daher habe ich nach einem Fall gesucht, bei dem die familialen Beziehungen auf den ersten Blick nicht diese Intensität aufweisen und kein Rückschritt der adoleszenten Entwicklung durch die Migration geschieht. Die Einschätzung erfolgte nach dem mehrmaligen Durchlesen aller Interviews und dem ersten Versuch einer Charakterisierung. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Annahme sich nach der eingehenden Analyse nicht halten lässt. Daneben erfolgte die Auswahl auch in Hinblick auf das jüngere Alter bei der Ausreise, da es sich bei Vadim als besonders schwierig erwiesen hat, dass er auf dem ‚Höhepunkt‘ (Schulabschluss erreicht, adoleszente Ablösung begonnen, integriert in Freundes- und Liebesbeziehung) ausgereist ist. 6.2.1 Interviewsituation Anton hat sich auf ein Interviewgesuch von mir per Mail gemeldet. In kurzen, aber freundlichen E-Mails verständigten wir uns über Ort und Zeit für das Interview. Er schrieb, dass er sich darauf freue, meine Fragen zu beantworten und wählte als Ort einen Raum an der Universität. Beim Zusammentreffen erzählte er mir, dass er im Internet über meine Tätigkeit in einem Projekt zu türkischen Migranten gelesen habe.54 Dazu erklärte ich ihm, dass ich in diesem Projekt arbeite, dieses Interview aber für meine Doktorarbeit führe, in der es um Spätaussiedler geht. Dass 54

Damit meint er das DFG-Projekt „Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien“, in dem ich unter Leitung von Prof. Dr. Vera King und Prof. Dr. Hans-Christoph Koller zum damaligen Zeitpunkt als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war.

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er sich im Vorfeld informiert hat, lässt vermuten, dass er gerne wissen wollte, mit wem er es zu tun hat. Möglicherweise hat es ihn dabei irritiert, dass in Zusammenhang mit meiner Person im Internet nur von Forschungen zu türkischen Migranten die Rede ist, sodass er abklären wollte, für welche Gruppe ich mich interessiere. In der Analyse kann betrachtet werden, ob sich der angenommene Wunsch, zu wissen, mit wem er es zu tun hat und ob ich mich wirklich für ihn interessiere, im Text wiederfinden lässt und wenn ja, ob sich Gründe dafür finden lassen. Während des Interviews zeigte Anton sich sehr offen und herzlich. Er gestikulierte und lachte viel, womit er mich ansteckte. Mehrmals sah er mir lange in die Augen; wenn er nachdachte schaute er hingegen an mir vorbei und schien zu versuchen, sich vor seinem geistigen Auge zurückzuerinnern. Manchmal machte er kurze Pausen, sprach dann jedoch flüssig weiter. Wiederholt hatte ich das Bedürfnis, in solch eine Lücke eine Frage zu stellen, tat es aber nicht und Anton sprach dann von alleine genau das Thema an, das mich interessierte. Nach dem Interview sagte er mir, dass er sich vom vielen Erzählen leer fühle, es aber sehr gut für ihn gewesen sei. Darauf sprachen wir noch mehrere Minuten, etwa über seinen Geburtsort, sein Studium oder das Thema BAföG. Obgleich er im Interview mehrmals die Bedeutsamkeit von Geld angesprochen hatte, wehrte er sich mit den Worten ‚Das war das Beste für mich‘ vehement gegen die Aufwandsentschädigung. Damit vermittelte er mir den Eindruck, dass das Interview für ihn von besonderer Bedeutung gewesen ist. Bei der Verabschiedung sagte er, dass es nicht leicht sei, durchzuhalten und er gar nicht wisse, wie er es so weit geschafft habe. Um ihm Mut zu machen, sagte ich, dass seine Geschichte wirklich spannend für mich gewesen sei und er den erfolgreichen Weg sicher fortsetzen werde. In meinen subjektiven Notizen habe ich direkt nach unserem Treffen festgehalten, dass mich die Kürze seiner Eingangserzählung, die ich so noch nie erlebt hatte, zunächst irritiert hat und die Sorge auslöste, dass das Interview misslungen sei bzw. misslingen könnte. Als sich dann aber zeigte, dass auf meine Nachfragen auch längere Erzählungen folgten, konnte ich mich entspannt auf das Interview einlassen. Ich habe Anton in der Interviewsituation aufgrund des Inhalts der Erzählung und seiner Art der Darstellung sehr gerne zugehört. Mein Empfinden Anton gegenüber war dabei ambivalent. Auf der einen Seite habe ich ihn als eine Person empfunden, die ständig gegen den Strom schwimmt und dabei durchaus selbstsicher und stark die eigene Meinung vertritt. Auf der anderen Seite spürte ich kleine Unsicherheiten, wie etwa seine Aussage bei der Verabschiedung, wodurch es zu den persönlichen und bewertenden Worten gekommen ist.

Fallrekonstruktion Anton

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6.2.2 Text- und thematische Feldanalyse Die selbstgestaltete Eingangserzählung von Anton im Anschluss an die Erzählaufforderung (die der unter 6.1.3 ausführlich dargestellten entspricht) umfasst nur 27 Zeilen und ist damit auffällig kurz. Dies erlaubt es aber, sie hier zum besseren Nachvollzug der Analyse komplett wiederzugeben: „Also, ich bin äm /räuspert sich/ neunzehnhundertdreiundachtzig geborn. [mh] Bin zu (.) Kindergarten gegangen da. [mh] Hab auch Schule besucht bis zum achte Klasse, [mh] /räuspert sich/ dann sind wir nach Deutschland gereist, also siebenundneunzig. [mh] Dann hab ich, wurde ich in eine Gesamtschule Stadtteil A eingeschult. [mh] Äm, in Vorbereitungsklasse, dann hab ich halbes Jahr Schule gemacht und dann wurde ich in die siebte Klasse äh also irgendwie [mh] (.) über-, (.) *wie heißt das?* über-, übergewechselt, oder? [ja, übergewechselt] Dann hab ich die siebte Klasse zu Ende gemacht und dann wurde mir geboten, dass ich in die äm Gesamtschule Stadtteil B geh. [mh] Dann hab ich aber nich so gut (.) empfunden. Aber mein Platz in Gesamtschule Stadtteil A war schon besetzt. /lacht/ [oh] Dann hab ich äh, hab ich achte Klasse übersprungen und bin neunte Klasse in Gesamtschule Stadtteil A dahingegangen. Hab mein Hauptschulabschluss gemacht, ja, dann bin ich in die zehnte, hab ich (.) viel geschwänzt /lacht auf/ [lacht auf] und bin abgegangen so in März. [mh] Hab ich nichts gemacht, also nicht viel. Hab ein bisschen rumgereist in Deutschland [mh] und überhaupt. /räuspert sich/ Dann bin ich in die Schule, Berufsfachschule A, auch. /lacht auf/ [lacht auf] Hab ich da auch nich so geschafft, weil ich viel geschwänzt hab. Wurde also (.) weggeschickt sozusagen, also hab ich den Probe-, Probehalbjahr nich bestanden. [mh] Dann hab ich wieder nichts gemacht, äh dann bin ich halben Jahr später zu Berufsfachschule B gegangen und da war ein Zwischenfall, /lacht/ [mh] dass ich fast, also ich wurde von der Schule geschmissen [mh] und das is auch so eine interessante Sache. /lacht auf/ Und dann wurde ich äh /räuspert sich/ in die Bundeswehr eingezogen, also hab ich vorge-, vorgeschoben, [mh] weil ich sollte in Januar anfangen und hab ich im November angefangen. [mh] Bin ich rein, hab neun Monate da durchgemacht und bin, hab mich sofort in die Abendrealschule angemeldet, [mh] Privatschule. Hab ich in ein Jahr Realschulabschluss gemacht und bin ich zum /lacht auf/ Gymna-, Abend-, nicht Abend-, sondern Aufbaugymnasium, [mh] drei Jahre, Abi-, Abitur gemacht und jetzt bin ich hier. /lacht/ [wow] Also wurde in die Biochemie angenommen sozusagen. [wow, lacht] Ja, das is so ein Lebensweg. Ja“ (4-30)

Bei Antons Stegreiferzählung handelt es sich um eine stark geraffte Darstellung „ohne Herausarbeitung von Situationen“ (Kallmeyer/Schütze 1977, 187) und somit um die Textsorte des Berichts. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen niedrigen Detaillierungsgrad besitzt und zudem das persönliche Empfinden kaum thematisiert wird. Der Nebensatz „das is auch so eine interessante Sache“ fällt als Evaluation heraus, wie auch der letzte Satz, der eine ‚bilanzierende Koda‘ darstellt (vgl. Glinka 1998, 60). Man kann diesen zum einen als Reaktion auf die Frage der

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Interviewerin verstehen, die erklärt hatte, sich für die Lebenswege von Spätaussiedlern zu interessieren, von denen er ihr nun ‚so einen‘ präsentiert hat. Zum anderen kann der Satz auch im Sinne von: ‚Wie du bereits an dieser kurzen Darstellung siehst, habe ich einen besonderen/speziellen Lebensweg‘ verstanden werden. Auffällig ist, dass von den ohnehin nur 27 Zeilen lediglich zwei für die Zeit in Russland verwendet werden, obgleich Anton dort mehr als die Hälfte seines bisherigen Lebens verbracht hat. Das quantitative Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit ist demnach sehr unausgeglichen. Lediglich drei Fakten werden angeführt: sein Geburtsjahr, der Kindergarten- und der Schulbesuch. Nicht einmal das Land seiner Geburt benennt er konkret, sondern spricht von „da“. Anton füllt die Fakten nicht mit Leben und die Familie (die nur in dem „wir“ zu erahnen ist) sowie (mögliche) Freunde bleiben unerwähnt. Auf die Migration fällt im Folgenden gar nur eine Zeile, wobei er mit „gereist“ eine besondere Begrifflichkeit dafür wählt, die assoziieren lässt, dass es sich um eine Urlaubsreise und nicht um eine auf Dauer angelegte Auswanderung gehandelt habe. Dies verleiht der Migration eine Leichtigkeit, die allein durch das Räuspern unterbrochen wird, das sowohl als notwendige parasprachliche Lücke zwischen dem Leben in Russland und dem Leben in Deutschland betrachtet werden kann als auch als Hinweis darauf, dass es so leicht doch nicht gewesen ist. Insgesamt wird deutlich, dass im Mittelpunkt von Antons Präsentationsinteresse weder seine Familiengeschichte, die Kindheit in Russland noch die Migrationserfahrungen stehen. Das Thema der selbststrukturierten Eingangserzählung ist sein komplizierter und umwegreicher Bildungsweg (so spricht er allein zehn unterschiedliche Bildungsinstitutionen an, die er besucht, abgebrochen, gewechselt und abgeschlossen hat oder verlassen musste), der aber letztlich an der Universität endet. Dabei beeindrucken die Mühelosigkeit und Präzision, mit der er die einzelnen Stationen chronologisch aufzuzählen vermag. Diese geordnete Darstellung spricht dafür, dass er sich seines Weges sehr genau bewusst ist und die Abfolge für ihn Relevanz besitzt. Dabei stellt er auch das mehrmalige Scheitern ohne Scham dar; im Gegenteil, durch den ironischen Unterton, erhält die Erzählung einen leicht nonchalanten Charakter. Dies ist eventuell deshalb möglich, da Anton in der Interviewsituation aus der Position eines jungen Mannes spricht, der an der Universität angekommen ist. Die Gefühle, die er während des Erlebens hatte, z.B. seine emotionale Reaktion auf die vielen Rückschläge, lässt er dafür überwiegend unausgesprochen. Gerade durch die stringente und geballte Aufzählung aller Stationen, Brüche und Umwege, wirkt der finale Erfolg umso erstaunlicher und so äußert die Interviewerin darauf auch zweimal die Interjektion „wow“, die ihre Verwunderung und Anerkennung ausdrückt und die sie, geht man alle Interviews durch, höchst selten einsetzt. Dennoch ist die denkbare Lesart, dass es Anton hauptsächlich darum

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geht, eine ‚Erfolgsstory‘ zu präsentieren, nicht überzeugend. Denn wenn der Erfolg gerade vor dem schwierigen Hintergrund umso beeindruckender wirken soll, hätte er die vielen sich andeutenden problematischen Erlebnisse noch wesentlich stärker als Kontrastfolie ausbauen können. Stattdessen erhalten die Stellen, an denen es zu Brüchen kam, nur äußerst knappe und für den Zuhörer nicht immer verständliche Erläuterungen. So spricht Anton lachend von einem „Zwischenfall“ auf der Berufsfachschule B, wobei zunächst unklar ist, ob dieser positiver oder negativer Art war. Die Erzählweise spricht eher für etwas Positives, doch der weitere Verlauf des Satzes kehrt sich ins Negative, da Anton angibt, dass er von der Schule „geschmissen“ worden sei. Er evaluiert dies als „eine interessante Sache“. Auffällig ist, dass die Interviewerin in das mehrmalige Lachen nicht einsteigt. Auf „Zwischenfall“ äußert sie ein „mh“ und auf das leichte Lachen nach der „interessante[n] Sache“ reagiert sie gar nicht. Die Ursache ist darin zu vermuten, dass sie ‚den suggerierten Witz‘ an der Sache aufgrund fehlender Informationen nicht nachvollziehen kann. Das Lachen Antons und die verschleiernde Erzählweise können die Funktion haben, die Situation abzuschwächen (da er vielleicht aufgrund von eigenem Fehlverhalten die Schule verlassen musste), der ironische Unterton könnte aber auch eine kritische Bewertung dieser (seiner Meinung nach ungerechtfertigten) Maßnahme andeuten. Auffällig ist in diesem Kontext auch, dass Anton, der als 14-Jähriger migriert ist und die deutsche Sprache neu lernen musste, keinen der Brüche mit diesem (nachvollziehbaren) Grund erklärt. Ebenso bemerkenswert ist, dass die Migration weder als zentraler Wendepunkt noch als besonderer Einschnitt dargestellt wird. Man gewinnt den Eindruck, dass Anton diese lediglich erwähnt, da sie zur chronologischen Reihenfolge der Lebensgeschichte dazugehört. Als gegenwartskonstituierender Wendepunkt wird stattdessen inhaltlich wie sprachlich die Bundeswehr herausgestellt. Anton wendet das „eingezogen“ rasch in ein aktives „hab ich vorge-, vorgeschoben“ um (das er zudem auch noch schnell ausspricht). Die Darstellung wird im Folgenden noch mehr gerafft und durch das temporale Adverb „sofort“ zusätzlich verstärkt. Im ersten Teil der Eingangserzählung zeigt sich ein steter Wechsel zwischen aktiven („hab ich“) und passiven ‚Ichs‘ („wurde ich“). Immer wieder macht Anton etwas (z.B. eine Schule besuchen), bis von außen etwas mit ihm gemacht wird (z.B. von der Schule verwiesen werden). Ab dem Wendepunkt verbleibt Anton in aktiven Konstruktionen und stellt sich als handelndes und wirkmächtiges Subjekt dar; lediglich die Annahme an der Universität formuliert er mit „wurde“. Dreizehnmal fällt bis Zeile 20 das Adverb „dann“, ab dem – durch ihn vorgezogenen Wehrdienst – taucht es hingegen kein einziges Mal mehr auf. Werden Ereignisketten mit ‚dann und dann…‘ verknüpft, lässt dies an eine stabile Struktur denken, die sich nicht verändert. Zwar wird der Weg bis zur Bundeswehr formal durch

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zahlreiche Diskontinuitäten begleitet, doch thematisch ging es durchgehend um Situationen, in denen Anton letztlich scheiterte. Auf verschiedenen Ebenen wird somit deutlich, dass sich die Eingangserzählungen in zwei Teile gliedert: einen unerfolgreichen und einen erfolgreichen, mit dem Wendepunkt der Bundeswehr. Insgesamt bettet Anton seine Selbstpräsentation in das thematische Feld: ‚Mein komplizierter, aber letztlich erfolgreicher Weg bis zum Studium‘, wozu auch die Lesart mit dem besonderen/speziellen Lebensweg passt. Dabei möchte er vermitteln, dass sein mehrmaliges Scheitern nicht Folge von mangelnder intellektueller Befähigung gewesen ist, sondern sich entweder aufgrund seines Verhaltens (Schwänzen) oder ‚interessanter Geschichten‘ (durch das „auch“ deutet sich an, dass sich mehrere solcher Geschichten ereignet haben) geschehen ist. Dabei gewinnt man durch die Darstellungsweise auch für die wenig erfolgreiche Phase nicht den Eindruck von Anton als ‚erleidendem Objekt‘, was vor allem durch die Erzählweise und die häufige Verwendung des Personalpronomens „ich“ geschieht. In der gesamten Einstiegserzählung kommt neben dem dreißigmal verwendeten „ich“ nur einmal ein weiteres Personalpronomen („wir“) vor. Das bedeutet, dass auch in Szenen, in denen etwas mit Anton gemacht wurde, wie der Verweis von der Schule, neben ihm keine andere handelnde Person genannt wird („ich wurde von der Schule geschmissen“). Und auch insgesamt finden in der Eingangserzählung neben ihm (außer dem unspezifischen „wir“) keine anderen Menschen direkt Erwähnung, weder die Eltern oder der ältere Bruder (der in den biographischen Daten zu finden ist), noch FreundInnen oder Lehrkräfte. Anton präsentiert seinen (Bildungs-)Weg und den letztlichen Erfolg demnach als unabhängig von den Eltern und anderen Personen. Offen bleibt an dieser Stelle jedoch, ob es schlicht keine Hilfe von den Eltern gegeben hat, er diese nicht annahm oder ob er ihren durchaus unterstützenden Anteil unerwähnt lässt. Durch das völlige Fehlen anderer Menschen erscheint Anton losgelöst und vereinzelt. Zu fragen ist auch, wie sich der Wandel zum positiven Bildungsweg genau vollzogen hat, denn betrachtet man nur die biographischen Daten bis dahin, würde man erwarten, dass es negativ weitergeht. Die Struktur erklärt den Wandel nicht. Untersuchenswert ist auch die Tatsache, dass die Einstiegserzählung so kurz ausgefallen ist. Wie zuvor beschrieben, hat Anton vor dem Interview geäußert, dass er auf die Fragen gespannt sei und hat daher wohl eher ein klassisches FrageAntwort-Interview erwartet. Eventuell ist es der Interviewerin nicht gelungen, zu Beginn den Charakter des narrativen Interviews ausreichend deutlich zu machen. Vielleicht wollte Anton zunächst auch nicht zu lange sprechen, da er zudem sagte, dass er dem gerecht werden wolle, was die Interviewerin erwartet. Dann verwundert allerdings umso mehr, dass er nicht ausführlicher von der Migration und dem ‚Spätaussiedlersein‘ erzählt hat, denn die Interviewerin hat nicht davon gespro-

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chen oder geschrieben, dass sie sich speziell für Bildungswege interessiere, sondern für die Lebenswege männlicher Spätaussiedler. Anton mutet der Interviewerin eine Masse an Fakten zu, aus der sie weitere Fragen generieren kann. Einen Anstoß dazu gibt er explizit an der Stelle, an der eine „interessante Geschichte“ andeutet. Vielleicht ist dieser telegrammartige Einstieg somit auch eine Art Test der Interviewerin: Kann ich ihr Interesse wecken? Kann sie mich verstehen? Was behält sie? Was fragt sie nach? Weil die Selbstpräsentation derart knapp ausgefallen ist, gibt sie nicht nur Hinweise auf die Gegenwartsperspektive und das Präsentationsinteresse Antons, sondern wirft auch Fragen auf, die die Analyse zum gegebenen Zeitpunkt nicht abschließend zu beantworten vermag: 

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Warum sind die Familie, das Leben in Russland und die Migrationserfahrungen nicht Teil der Selbstpräsentation in der Eingangserzählung? Sind diese Themen für Anton weniger relevant oder lässt er sie aus, da sie belastend sind oder sein Präsentationsinteresse ‚stören‘? Welche „interessante Sache“ hat sich auf der Berufsfachschule B ereignet? Warum stellt Anton die Zeit bei der Bundeswehr als Wendepunkt dar? Was ist dort geschehen? Welche Ursache haben die Schulschwierigkeiten? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den Problemen in der Schule und (möglichen Problemen) in der Familie? Wie ist die Losgelöstheit des ‚Ichs‘ Antons in seine Lebensgeschichte eingebettet? Welche Rolle spielt die Interaktion zwischen Anton und der Interviewerin?

6.2.3 Rekonstruktion der Fallgeschichte In diesem Unterkapitel stelle ich eine gekürzte Fassung der Rekonstruktion der Fallgeschichte Antons vor. Darin sind die Ergebnisse der Auswertungsschritte 1 und 4 (Analyse der biographischen Daten sowie Feinanalysen einzelner Stellen) eingeflossen. Da die Eingangserzählung sehr knapp ausgefallen ist, fließt die Art von Antons Selbstpräsentation an relevanten Stellen auch in diesen Teil mit ein.

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Die Familiengeschichte Die Eltern von Antons Vater Paul sind Deutsche und stammen ursprünglich aus dem Wolgagebiet. Von dort werden unabhängig voneinander sowohl seine Großmutter als auch sein Großvater im zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Abstammung in eine sibirische Großstadt deportiert. In dieser Stadt befindet sich bis 1953 ein großer Gulag mit zeitweise mehreren zehntausend Inhaftierten, die für schwere körperliche Arbeiten eingesetzt werden. Mehr als ein Viertel von ihnen stirbt aufgrund der schlechten Lebensbedingungen. Antons Großeltern lernen sich im Lager kennen und überleben. Ihr Sohn Paul wird 1954 geboren und heiratet Ende der 1970er-Jahre die Russin Ekaterina, die zwei Jahre nach ihm ebenfalls in dieser sibirischen Großstadt zur Welt gekommen ist. In der Literatur wird es als Anpassungs- und Aufstiegsbestreben gedeutet, wenn Deutsche dieser Generation russische Ehepartner wählen (vgl. Rosenthal et al. 2011). Ein Aufstiegswille zeigt sich auch in Bezug auf den Bildungsweg: so absolviert Paul – anders als sein Vater – die vollständige Mittelschule (vergleichbar mit dem deutschen Abitur) und studiert anschließend Maschinenbau. Ekaterina macht den gleichen Schulabschluss und absolviert ein Architekturstudium. Nachdem beide ihr Studium abgeschlossen und etwas gearbeitet haben, bekommen sie 1981 ihren ersten Sohn, Stephan. Nur knapp zwei Jahre darauf wird 1983 Anton in die Familie geboren. Die familiale und soziale Ausgangslage für Anton ist geprägt durch die deutschen und russischen Wurzeln der Familie. Auf der einen Seite die deutschen Großeltern, die durch ihr Aufwachsen im Lager sicherlich traumatische Erfahrungen gemacht haben, auf der anderen Seite die russischen Großeltern, die in derselben Stadt, jedoch in einer ganz anderen Situation groß geworden sind, was Themen wie Verantwortung und Schuld virulent werden lässt. Paul wird direkt im Jahr nach Aufhebung des Gulags geboren und steht somit symbolisch für Befreiung und Neuanfang. Eher ungewöhnlich ist, dass die Familie in Sibirien wohnen bleibt. Dies kann ein Zeichen dafür sein, dass sie keine weiteren Veränderungen auf sich nehmen möchten oder sich eventuell auch trotz der negativen Vorgeschichte und des rauen Klimas dort wohlfühlen. Dabei steht die Sesshaftigkeit im Widerspruch zur späteren Migration. Wie für die Zeit ab den 1955er-Jahren typisch (vgl. Kiel 2009), finden in der Familie starke Assimilationsbestrebungen an das sowjetische Umfeld statt. Es werden weder die deutsche Sprache noch deutsche Traditionen weitergegeben, wodurch das historische Erbe des deutschen Familienteils in den Hintergrund tritt. Die Bedeutsamkeit von Bildung für die Familie zeigt sich in der guten Schulund Universitätsausbildung von Paul und Ekaterina. Da beiden ein Bildungsaufstieg im Verhältnis zu den eigenen Eltern gelungen ist, kann vermutet werden,

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dass sie sich für ihre Söhne ebenso einen erfolgreichen Weg und eine Reproduktion des Bildungsniveaus wünschen. Auf dem Weg zum Schulerfolg können sie aufgrund ihres eigenen Bildungshintergrundes unterstützend wirken, was allerdings durch die Berufstätigkeit beider Elternteile (die Mutter unterbricht ihre Berufstätigkeit für die Kinder nur kurz) zeitlich begrenzt sein könnte. Die Eltern erscheinen vernünftig und überlegt, indem beide zunächst ihr Studium abschließen und in den Beruf starten, ehe sie darauf ihr erstes Kind bekommen. Als Anton als zweites Kind geboren wird, ist sein Bruder noch nicht einmal zwei Jahre alt und somit selbst noch ein Kleinkind. Durch das erste Kind sind Paul und Ekaterina bereits in die Elternrolle hineingewachsen und geübt im Umgang mit Säuglingen. Allerding stellt es eine besondere Herausforderung dar, zwei kleine Kinder zu versorgen, sodass Anton nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern erhält, wie es bei seinem Bruder der Fall war. Die Kindheitsjahre – Bäume „abreißen“ mit der Familie In den ersten Jahren unternimmt die Familie viel zusammen, vor allem Ausflüge in die Natur. Die Eltern besitzen einen Kleingarten (Datscha), den sie gemeinsam bewirtschaften. Mit den Großeltern geht Anton oft in den Wald, um zu wandern oder Pilze zu sammeln. Gemeinsam mit seinem Vater und dem Opa unternimmt er auch kleinere Bergtouren. Angesichts der Berufstätigkeit der Eltern spricht dies dafür, dass es ihnen wichtig ist, die freie Zeit als Familie zu nutzen und sie dies auch regelmäßig tun. Als einen besonders schönen Familienmoment schildert Anton: „Vor allem wir haben so ein, so ein Waldstück genommen, gekauft damals und wir mussten die, (.) die Bäume, [mh] die Bäume alle abreißen und das war so eine gemeinschaftliche Arbeit, wo wir zu viert zusammen das irgendwie gemacht haben [mh] und war super. [mh] Ja. (3) Ja“ (758ff)

Durch die schnelle Aussprache wird seine Begeisterung hörbar, es sprudelt förmlich aus ihm heraus. Das Besondere sei die Gemeinschaftlichkeit: die Familie tritt als Team auf, zusammen haben sie die Kraft und Stärke, ‚Bäume auszureißen‘. An diese umgangssprachliche Redensart erinnert Antons Formulierung des ‚Abreißens‘, die er statt des inhaltlich korrekten ‚Bäume Fällens‘ gebraucht55. Dabei wird nicht explizit, um wen es sich bei den genannten vier Personen handelt und wen 55 Es kann nahezu ausgeschlossen werden, dass es sich an dieser Stelle um einen ‚Übersetzungsfehler‘ Antons handelt, denn auch das russische Verb für diese Tätigkeit ‚валить‘ hat nicht die Bedeutung ‚abreißen‘.

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Anton demnach zur Gemeinschaft zählt und wen nicht: seine Eltern, seinen Bruder und sich? Seine Eltern, seinen Großvater und sich? Bei all den genannten Aktivitäten ist Anton unter zehn Jahren alt. Obwohl es sich bei den Bergtouren oder dem „[A]breißen“ der Bäume um Aktionen handelt, die eher für ältere Kinder geeignet erscheinen, ist Anton als Teil der Gemeinschaft immer dabei und empfindet dies als sehr positiv. Über den Schulbesuch in diesen Jahren verliert Anton kein Wort, er präsentiert sich allein im Kontext der Familie. Auch das Thema Bildung spricht er nur in diesem Zusammenhang an, so beschreibt er es als besonders positives Attribut seines Vaters, dass er ihm „so ein Streben nach Wissen“ „eingepflanzt“ (beide: 750) habe. Passend zu den schönen Momenten in der Natur wählt Anton eine Formulierung, die eigentlich aus dem Gartenbau stammt. Der Vater wird mit dem Sinnbild des Gärtners dargestellt, der das Streben einpflanzt, das dann in den nächsten Jahren wachsen und gedeihen kann. Als konkrete Beispiele führt er an: „Warum zum Beispiel es regnet oder so. Dann fragt man sich und guckt man irgendwo [mh]“ (751) oder „die Multi-, Multiplikationsregel [mh] und dieses Multiplizieren“ (752). Wohingegen eine grundlegende forschende Haltung gegenüber der Welt wie im ersten Beispiel relativ unabhängig von formaler Bildung ist, benennt das zweite Beispiel ein Thema, dessen Vermittlung eigentlich Aufgabe der Schule ist. Entweder greift der Vater vor oder wird unterstützend tätig. In jedem Fall wird deutlich, dass Paul seinen Sohn im Bildungsbereich fördert, was den vermuteten Bildungswillen bestätigt. Dies geschieht aber auf eine Art, die Anton nicht als Druck, sondern als anregend empfindet. Für die Mutter gibt es für die Zeit in Russland gar keine eigenen Erzählungen. Dadurch gewinnt man kein rundes Bild von der Familie. Frühe Jugend – Konflikt mit dem bevorzugten Bruder und Flucht von der Familie Im Interview erfolgt genau im Anschluss an die einträchtige Waldszene, in der die Familie gemeinsam aktiv ist, eine Zäsur durch ein „Aber“: „Aber einmal bin ich weggelaufen *von zuhause weg*, die haben mich irgendwie, ich hatte ja immer ein Konflikt mit meinem Bruder, [mh] der war so (3) äh (.) *war so gut in der Familie*, [lacht auf] der is, der is so unsere Hoffnung. /lacht auf/ [ja] Er war ja der erste Kind und er war irgendwie krank ein bisschen [mh] und die ham äm, die ham mich immer so angesehn: Ja, der kommt zurecht. /lacht auf/ Der kann, der kann leben, also der kann. Mein Bruder zum Beispiel, der kann kein Fleisch essen. Der wurde immer so: Willst du das? Willst du das? Willst du ein bisschen Pfannkuchen und so? [lacht auf] Und der so: Nein, kein Brokkoli essen! /lacht/ [ja] Und dann bin ich, bin ich einmal weggelaufen und musst ich, jetzt hab ich in Google Earth zum Beispiel geguckt, wie viel ich gelaufen bin. [mh] Ich hatte, ich hatte, da, da war ich dreizehn

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Jahre und da hab ich so elf Kilometer in Wald zu einem Kleingarten gelaufen, da umgezogen und mit der Bahn (.) in die Stadt gefahrn, so fünfunddreißig Minuten musst ich fahrn, so achtzig Kilometer. Und das war schon, wenn ich jetzt mich daran erinner, dreizehn Jahre, irgendwie im Wald alleine so. [mh] Aber irgendwie diese Selbstständigkeit [mh] (.) is geblieben. (.) Also ich brauche niemanden /lacht auf/ sozusagen für mein Leben. [ja] (.)“ (761ff)

Chronologisch liegt zwischen den beiden Szenen mindestens eine Zeit von drei Jahren. Durch die unmittelbare Verknüpfung des Guten mit dem Schlechten in der Erzählabfolge (auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte) und durch die Konjunktion „Aber“ tritt der Gegensatz besonders stark hervor. In den Jahren dazwischen haben Antons schulische Leistungen nachgelassen. Die Brüder besuchen eine in der Stadt sehr angesehene Schule, was sich z.B. dadurch zeigt, dass auch die Tochter des Bürgermeisters dorthin geht. Diese wurde eigens von den Eltern ausgewählt, was deutlich macht, dass sie für die Kindergeneration in der Tat eine Fortsetzung des Erfolgs wünschen. Sein älterer Bruder Stephan ist zwei Jahrgänge über ihm und ein ‚Einser-Schüler‘, Anton hingegen zeigt eher mittelmäßige Leistungen im Dreierbereich. Da den Eltern der Bildungserfolg wichtig sind, kann gefragt werden, ob sich die deutlich differierenden Leistungen auf die Beziehungen auswirken. So könnte der ‚erfolgreiche Stephan‘ zum Lieblingssohn werden, wohingegen der ‚mittelmäßige Anton‘ immer wieder kritisiert und angetrieben wird. Der konkrete Anlass der Flucht bleibt im abgebrochenen „die haben mich irgendwie“ verborgen. Statt auszuführen, was „die“, also vermutlich die Eltern, gemacht haben, spricht Anton von einem fortwährenden Konflikt mit seinem Bruder. Durch das verabsolutierende Temporaladverb „immer“ gewinnt man den Eindruck, sie hätten sich schon als Kleinkinder im Laufstall nur gestritten und dies dauerhaft fortgesetzt. In seinen Erzählungen zu den Jahren der Kindheit, die er als schön beschreibt, erwähnt Anton den Bruder denn auch nicht. Möglich ist, dass er die dargestellte ‚Eintracht‘ gestört hätte. Im Interview führt Anton seinen Bruder erst im letzten Drittel ein und verwendet diesen durchweg als Negativ-Folie. In der oben genannten Textstelle führt er Gründe für den „Konflikt“ an, die jedoch nicht von einem bestimmten Verhalten des Bruders ihm gegenüber zeugen, sondern von den jeweiligen Positionen der Geschwister in der Familie. Der ältere Bruder, der Erstgeborene, sei „so gut in der“ Familie und ihre „Hoffnung“, auf die zudem besonders aufgepasst werden müsse, da sie empfindlich sei. Dabei lassen Antons Formulierungen Zweifel darüber aufkommen, wie ernsthaft die gesundheitlichen Einschränkungen des Bruders tatsächlich sind bzw. als wie ernsthaft er sie betrachtet: „er war irgendwie krank ein bisschen“ ist sehr vage und so bleibt ein gewisser Zweifel zurück. Das Beispiel mit dem Brokkoli schließlich lässt das Bild eines ‚mäkeligen Kleinkindes‘, aber nicht das eines ernsthaft allergisch Erkrankten aufkommen. Als Anton geboren wurde, war sein Bruder noch recht jung

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und litt (vermutlich) an gesundheitlichen Problemen. Möglich, dass die Eltern sich daher weiterhin stark um den eigentlich älteren sorgten und der Säugling eher ‚mitlief‘ („der kann leben“), wodurch bei Anton schon früh der Eindruck entstand, dass der Mittelpunkt der Familie bereits von Stephan besetzt ist. Gerade durch den geringen Altersabstand der beiden Brüder und dadurch, dass sie das gleiche Geschlecht besitzen, ist die Grundlage für Vergleiche groß und offenbar schneidet Stephan innerfamilial besser ab. Solch ein Gefühl der Zurücksetzung und der fehlenden Anerkennung ist schmerzhaft für ein kleines Kind und kann den Aufbau von Selbstvertrauen und -bewusstsein behindern. Durch Vergleiche, durch bewusste oder unbewusste spezifische Delegationen und Bevorzugungen, sind die Eltern verstrickt in die Beziehung und Streitigkeiten zwischen den Geschwistern (vgl. Cierpka 1999, 23) bzw. sogar deren Auslöser. Dass die Ungleichbehandlung von den Eltern ausgeht, thematisiert Anton jedoch nicht, stattdessen projiziert er die Wut über die Benachteiligung auf den Bruder. Antons Erzählung lässt den Eindruck entstehen, dass „außerhalb von Verschiedenheit und Konkurrenz“ (Stärk 2009, 215) keine Geschwisterbeziehung besteht. „Momente von Gemeinsamkeit, Zusammenhalt oder Liebe werden nicht beschrieben“ (ebd.). Anton reagiert auf diese fortwährende Konstellation des Konflikts in einer bestimmten – nicht näher definierten – Situation damit, dass er sich durch seine Flucht nun selbst räumlich von der Familie exkludiert. Man stelle sich vor, welche Wut und Verzweiflung ein Heranwachsender fühlen muss, sodass er von zuhause wegläuft und das nicht nur ein paar Blocks weit, sondern zunächst elf Kilometer zu Fuß und dann noch achtzig Kilometer mit der Bahn. Dass dies ein einschneidendes Erlebnis für Anton dargestellt hat, wird auch dadurch deutlich, dass er noch als Erwachsener – das erwähnte Google Earth gibt es erst seit 2006 – die abgelaufene Strecke nachzuvollziehen sucht. Auffällig sind zudem die zwei Pausen und das mehrmalige leise Sprechen, beides Dinge, die für Antons Erzählweise untypisch sind und daher darauf hindeuten, dass diese Thematik für ihn problembelastet ist. Er lässt ungesagt, welcher Ort oder welche Person am Ende der Bahnfahrt lag und wie sich die Situation aufgelöst hat. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Heranwachsende von Zuhause flüchten. In den meisten Fällen wollen sie „gesucht und gefunden werden“ (du Bois/Resch 2005, 433). Angesichts der Situation ist es vorstellbar, dass Anton ebenso auf sich aufmerksam machen will und von den Eltern gesucht und heimgeholt werden möchte. Die tatsächliche Reaktion der Eltern bleibt ungenannt, doch die abschließende apodiktische Evaluation dieser Szene spricht dafür, dass ihm keiner folgt und er am Ende alleine zurückkehrt: „Aber irgendwie diese Selbstständigkeit [mh] (.) is geblieben. (.) Also ich brauche niemanden /lacht auf/ sozusagen für mein Leben. [ja] (.)“. Anton möchte deutlich machen, dass er sich (spätestens durch diesen Vorfall) ab einem Alter von dreizehn Jahren als unabhängig von anderen Personen bzw.

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der Familie betrachtet. Eine Selbstdarstellung, die mit den Beobachtungen in der Eingangserzählung korreliert, in der er seine Lebensgeschichte auffällig gelöst von anderen Personen entwickelt. Doch nicht nur die beiden Pausen und das leichte Lachen lassen vermuten, dass es sich damit mindestens um eine nachträgliche Deutung – eher noch um eine Bagatellisierung – handelt. Denn in der Darstellung fällt auf, dass Anton beim Zuhörer (unbewusst) nahezu ein Empfinden von Sorge zu provozieren versucht, indem er zweimal das (junge) Alter betont. Zuvor wurde der Wald als positiver Familienort dargestellt, nun als Ort der Einsamkeit und Gefahr (was durch die sequenzielle Verknüpfung zusätzlich verstärkt wird). Dies spricht dafür, dass die Flucht nicht nur aus dem Affekt erfolgt, sondern damit der Wunsch verbunden ist, den Eltern (auch einmal) Sorgen zu bereiten. Letztlich bestätigt Anton durch seine Handlung jedoch die Annahme der Eltern, denn er ‚überlebt‘ ohne ihre Unterstützung. Da er keinen Halt erfährt, ist er für sein weiteres ‚Überleben‘ quasi gezwungen, das Alleinsein mit Autonomiebestreben zu belegen. Ab der frühen Pubertät verändert sich das Verhältnis zwischen Anton und seinen Eltern deutlich; seine Eltern und er hätten sich nicht mehr verstanden, wie er sagt. Die Folge sei eine zunehmende Absonderung von der Familie, so sei er derjenige, „der irgendwie draußen lebt, [mh] also der zuhause nur so zum Schlafen kommt. /lacht/ [lacht auf]“ (674f). Das Leben, also der aktive Zustand, spielt sich draußen ab, wobei er nicht angibt, ob er es mit anderen (wie den Peers) teilt; das Schlafen, also ein Zustand, der ohnehin keine Kommunikation oder Interaktion zulässt, findet im Rahmen der Familie statt. Die verschlechterte Beziehung zu den Eltern zeigt sich nicht nur durch die Kontaktlosigkeit, sondern auch in Gewalttätigkeiten des Vaters: „Äm und einmal hat er mich geschlagen sozusagen, also mit, mit, mit Gürtel. [mh] Dann hab ich zu ihm gesagt: Ja, du bist nich mehr mein Vater und so. [mh] Und bin zu Oma gezogen. Aber das war so demonstrativ, [mh] ich hatte, ich hatte nich so viele Aggressionen gegen ihn. Dann hab ich gesagt, dass er sich entschuldigen muss. /lacht auf/ [lacht auf]“ (691ff)

Anton hat etwas Schwierigkeiten, die Tat zu benennen, er bagatellisiert durch das „sozusagen“ und braucht drei Anläufe des Wortes „mit“, ehe er den Gegenstand aussprechen kann, mit dem der Vater ihn geschlagen hat. Beim Schlagen mit einem Gürtel handelt es sich um eine körperliche Misshandlung (vgl. Kindler 2006). Zudem unterscheidet es sich qualitativ vom Schlagen mit der Hand. Auch geschieht es weniger im Affekt, da der Gürtel erst einmal besorgt werden muss und wird somit ganz gezielt als Bestrafung eingesetzt. Diese Bestrafung, die – so stellt man es sich gängig vor – auf das Gesäß geschieht, ist nicht nur sehr schmerzhaft, sondern enthält zudem eine Komponente der Erniedrigung, die gerade für einen

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Jungen in der Pubertät sehr verletzend sein wird. Auf diese Gewalthandlung reagiert Anton, indem er Paul sein Vatersein abspricht. Die verbale Entmachtung wird durch seinen ‚Auszug‘ zur Oma unterstrichen. Erneut wählt Anton Flucht als Reaktion. Dies spricht dafür, dass es für Anton keinen Raum für kommunikative Aushandlungen gibt. Die Wahl des Zieles zeigt die Bedeutsamkeit der Großmutter als sicherer Halt. Anton wehrt sich nicht körperlich, was gegen den erwachsenen Vater vermutlich auch kaum möglich wäre, doch er lässt es auch nicht einfach geschehen, zumindest nicht dieses Mal, denn er sagt, dass es auch schon vorher Gewalt gegeben habe. Er erklärt sich verbal autonom, ‚zieht‘ zur Oma und fordert vom Vater eine Entschuldigung, was so klingt, als hätten sie die Rollen getauscht. Darauf schränkt er seine Reaktion jedoch wieder ein, indem er erklärt, dass dies eher „demonstrativ“ gemeint gewesen sei. Er kann die Anklage nicht aufrechterhalten. Doch wenn auch „nich so viele Aggressionen gegen“ den Vater vorhanden gewesen seien, so impliziert dies doch, dass es welche gab. Anton lässt unerwähnt, welche Handlung von ihm den Schlägen vorausgegangen ist. Denkbar ist, dass er permanent fürchten muss, Gewalt zu erfahren. Infolgedessen könnte das beschriebene häufige ‚Nichtzuhausesein‘ auch eine präventive Maßnahme gegen Bestrafungen und Konflikte in der Familie sein. Die Ausreise – Vom Hoffen auf einen Neuanfang Nach schwelenden Unruhen in den vorausgegangenen Jahren, beginnt im Dezember 1994 der erste Tschetschenienkrieg. Obgleich der russische Verteidigungsminister einen Sieg innerhalb von zwei Wochen prophezeit, erleidet die Armee schwere Verluste und die Kämpfe ziehen sich hin (vgl. Hassel 2003). Antons Eltern und Großeltern haben Angst, dass ihre Söhne einst als Soldaten in diesem oder einem anderen Krieg kämpfen müssen. Anton gibt an, dass sein Großvater immer viel „von seiner Geschichte vom Krieg, vor dem Krieg, nach dem Krieg“ (682f) erzählt habe. Er führt nicht aus, welcher Art diese Erzählungen gewesen sind, aber es ist möglich, dass diese von Grausamkeiten und Leid handelten und Ängste bei den Familienmitgliedern geschürt haben. Dies führt dazu, dass die Eltern, unmittelbar nach Kriegsausbruch, 1995, die deutschen Wurzeln der väterlichen Familie ‚nutzen‘ und einen Ausreiseantrag stellen, dessen Bearbeitung zwei Jahre dauert. Bis dahin ist der Krieg zwar beendet, doch die unruhige Lage bleibt und führt ab 1999 zum zweiten Tschetschenienkrieg. Es wird deutlich, dass die Eltern ihre beiden Söhne – trotz der innerfamilialen Konflikte –schützen möchten. 1997 migriert Anton mit seinen Eltern, seinem Bruder und den Großeltern väterlicherseits nach Deutschland. Es stellt eine große Herausforderung dar, mit

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14 Jahren aus der gewohnten Umgebung gerissen zu werden und ohne abgeschlossene Schulausbildung in eine ungewisse Zukunft in ein Land zu gehen, dessen Sprache man nicht spricht. Die Entscheidung für die Ausreise wurde allein von Antons Eltern getroffen, was das Gefühl hervorrufen kann, ungewollt mitgenommen zu werden. Anton gibt jedoch an, die Entscheidung begrüßt und sich auf die Migration gefreut zu haben. Eine Tante von ihm lebt bereits in Deutschland und hat ihnen Fotos geschickt, „wie die, wie die lebten haben, dieses alles schön und bunt und ja, Industriestadt [er meint die russische, JZ] is nich so schön. /lacht/ (.) Ja. (2) Ich wollt, ich wollte hierher [mh]“ (791ff). Das Bunte und Schöne scheint ihm angesichts der grauen Industriestadt reizvoller. Sein Gedanke ist: „Hier fang ich neues Leben an. [mh] Obwohl da auch nich schlecht war, [mh] aber hier irgendwie wollt ich irgendwie eine Existenz aufbauen und, also vierzehn Jahre, /lacht auf/ [mh] das is ja auch irgendwie Träume. Und ich wollte so äm, neu anfangen, sozusagen“ (43ff)

Mit Blick auf diese Sequenz können die Beschreibungen „alles schön und bunt“ versus „nich so schön“ und ‚grau‘ („Industriestadt“) auch in Bezug auf sein Leben verstanden werden, das er nun in Deutschland „neu“ beginnen möchte. Anton befindet sich mit seinen 14 Jahren am Beginn der Adoleszenz. Die Adoleszenz ist die Phase, in der das Bestehende infrage gestellt wird und potentiell Neues entstehen kann. Insofern steckt in dem Wunsch nach einem Neubeginn ein originär adoleszenter Wunsch, jedoch in einer sehr radikalen Form, indem ein 14-Jähriger davon spricht, seine Vergangenheit hinter sich lassen und woanders noch einmal neu anfangen zu wollen. Dies bezieht sich höchstwahrscheinlich auf die bisherigen vor allem innerfamilial negativen Erfahrungen. In diesem Kontext ist es sehr interessant, noch einmal die unmittelbar vorausgehende Sequenz zu betrachten: Anton beendet die Gewaltszene damit, dass er angibt: „Dann hab ich gesagt, dass er sich entschuldigen muss. /lacht auf/ [lacht auf] Und dann sind wir nach Deutschland gekommen“ (694f). In dieser Verknüpfung wird die Migration zur Entschuldigung des Vaters, zur Wiedergutmachung der Gewalt. Eventuell erhofft Anton sich durch die Ausreise, die im Familienverbund stattfindet, auch die Chance auf eine sich ändernde Beziehung. Der Wunsch, das Alte ‚abzustreifen‘, kann als Ausdruck eines frühadoleszenten Wunsches nach ‚Neuschöpfung‘ gelesen werden. Das neue Leben kann als zweite Chance begriffen werden. Anton will sich „eine Existenz aufbauen“, was in verschiedene Richtungen verstanden werden kann. Umgangssprachlich bezeichnet das Wort Existenz die wirtschaftliche Lebensgrundlage einer Person, die zumeist durch eine Berufstätigkeit erworben wird. Eventuell hat er den Gedanken, in dem westlichen Land, das er sich durch Bilder und Medienberichte als wohlhabend vorstellt, einen guten Beruf erlernen zu können, mit dem

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eine sicherere Existenz möglich wird als im post-sozialistischen Russland. Es könnte auch darüber hinaus darum gehen, einen eigenen Lebensentwurf ‚aufzubauen‘ und dadurch die ‚eigene Existenz‘ zu stärken, die durch die Zurücksetzung in Russland gelitten hat. Durch die Nennung des jugendlichen Alters, das leichte Lachen, die Unsicherheitsmarkierer („irgendwie“) und die Kommentierung: „das is ja auch irgendwie Träume“ macht er allerdings deutlich, dass er dazu heute eine reflektierte Haltung einnimmt, die übersetzt werden könnte mit: ‚Es war nicht so einfach, wie ich es mir in meinem jugendlichen Leichtsinn vorgestellt habe.‘ Von ‚Lager zu Lager‘ Die konkrete Situation der Migration schildert Anton nicht. Er war nicht in intensive Freundschaftsbeziehungen eingebunden und gibt an, den Abschied nicht als schwer empfunden zu haben; „damals dachte ich mir: Ja, schön, [mh] ich muss jetzt weiter“ (801f). Der Text gibt keine Hinweise darauf, dass es sich dabei um eine Bagatellisierung oder Abwehr der Gefühle handelt. Anton scheint sich ganz auf das Leben in Deutschland und die damit verbundenen Hoffnungen gerichtet zu haben. Nach der Aufnahme im Lager Friedland kommt die Familie direkt in eine Großstadt, wo sie zunächst in einer Unterbringung für Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und Spätaussiedler einquartiert wird. Diese zentrale Aufnahmestelle wird in der Literatur (Quellen können aufgrund der Anonymität des Ortes nicht genannt werden) als überfüllt und mit sehr wenig Platz für die einzelnen Familien geschildert. Auch Anton beschreibt die Zeit dort sehr negativ, wenn auch aufgrund einer anderen Begründung: „Horror, /lacht leise/ da warn, also ich hab ja in Russland gelebt, ich kannte die Schwarzen nicht. [mh] Und da warn so viele und irgendwie war das für mich (.) ganz schlimm“ (531ff). Anton träumte vom schönen Deutschland, doch dort, wo er zunächst lebt, schaut es nicht aus wie auf den Fotos. Er wird räumlich segregiert, wobei ihm seine Nachbarn fremd sind und Angst machen. Nach einem kurzen Aufenthalt in dieser Unterbringung geht es für die Familie weiter in eine ‚Notwohnung‘ eines Lagers. Noch immer haben sie keinen festen eigenen Wohnsitz, sondern müssen sich mit einer Übergangslösung auf engstem Raum bescheiden. Das Leben in einer Notwohnung bringt viele Unannehmlichkeiten mit sich und behindert das Gefühl, angekommen zu sein. Wohingegen Anton in Russland die beste Schule der Stadt besucht hat und daher das Gefühl hatte, „irgendwas Besseres“ (507) zu sein, erfährt er durch das Leben im Wohnheim eine Degradierung. In dem Lager leben viele SpätaussiedlerInnen, vor allem aus ländlichen Gegenden, gegenüber denen Anton zunächst eine distinguierte Haltung einnimmt. Er behält „den in [der] Kindheit erworbenen Habitus eines exklusiven Statusbewusstseins bei“ (Braun 2010, 194). Statt eine Nähe aufgrund

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der ähnlichen Migrationserfahrungen oder der geteilten Sprache herzustellen, differenziert er nach anderen Kriterien (Region, Schicht). Zudem lebt er sehr beengt mit den Eltern und dem Bruder, vor denen er in Russland mehrfach geflüchtet ist. Es gibt keinen Raum, ungestört für sich zu sein. Herabstufung in der Schule Anton kommt in eine Vorbereitungsklasse an einer Gesamtschule. Dort erhält er zusammen mit Migranten aus unterschiedlichen Ländern – auch aus ehemaligen sowjetischen Republiken – zur Vorbereitung auf den Regelunterricht ein halbes Jahr lang vor allem eine Einführung in die deutsche Sprache. Er hat zwar schon in Russland an der Schule Deutschunterricht gehabt, schätzt seine Sprachkenntnisse jedoch als sehr gering ein und bewertet die Orientierungseinheit insgesamt positiv. Doch danach wird er, der in Russland bereits die achte Klasse abgeschlossen hat, in die siebte Klasse eingestuft, wo er demzufolge mit seinen 14 Jahren deutlich älter ist als seine zwölf-/dreizehnjährigen MitschülerInnen: „das war schon ein bisschen, das hat mich auch so deprimiert“ (63f). Eine Rückstufung um zwei Jahre kann als Form der institutionellen Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009) bezeichnet werden. Obgleich die Eltern in Russland auf eine gehobene Schule für die Kinder geachtet haben, ist an dieser Stelle nichts über ihre Haltung bekannt. Möglich, dass sie aufgrund der Unkenntnis des deutschen Schulsystems die Einstufung der Schule hinnehmen, zumindest gehen sie nicht gegen diese an. Eventuell sind sie enttäuscht darüber, dass Anton zurückgestuft wird. Hinzukommt, dass er durch das Aufwachsen in Russland und die Migration einen anderen Erfahrungshintergrund hat als seine MitschülerInnen, was das Gefühl der Zugehörigkeit erschweren kann. In diesem Alter spielen Freundschaften eine große Rolle. Anton und die wesentlich jüngeren SchülerInnen können jedoch nicht viel miteinander anfangen, sodass er die Pausen mit älteren SchülerInnen verbringt, wofür er allerdings wiederholt von den LehrerInnen ermahnt wird. Dies „deprimiert“ (64) ihn und nimmt ihm auch etwas von der Kraft, die er für den noch fremden Schulalltag brauchen könnte. Es fällt ihm schwer, die Unterschiede zum Unterricht in Russland zu verinnerlichen. So ist er damit überfordert, „selber noch alles machen [zu, JZ] müssen“ (908f), statt von den Lehrkräften zu etwas „gezwungen“ (902) zu werden. In Russland hatte er nur noch drei Jahre vor sich und hätte dann studieren können, in Deutschland ist sogar der Hauptschulabschluss, der niedrigste Abschluss, noch in weiter Ferne. Dabei ist es sein erklärtes Ziel, das Abitur zu machen, so sagt er: „ich wollte immer (.) Abi machen und studiern, [mh] das war für mich von Anfang an“ (888f) klar, was vermutlich mit der ‚Erfolgsreproduktionshaltung‘ der Eltern und dem Besuch der guten Schule in Russland in

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Zusammenhang steht. Angesichts der schwierigen und nicht Haltgebenden innerfamilialen Beziehungen, könnte die Schule eine kompensatorische Funktion übernehmen. Sie könnte Halt geben und das Ankommen in Deutschland erleichtern. Stattdessen dupliziert sich die Situation. Dies löst bei Anton den Wunsch aus, nach Russland zurückzukehren, der von den Eltern jedoch rigoros abgelehnt wird. Der erhoffte Neuanfang ist gescheitert. Sein Bruder Stephan kann aufgrund seiner guten Noten im Herkunftsland in Deutschland sogleich auf einem Gymnasium im passenden Jahrgang weitermachen. Somit wird im Schulsystem die Situation reproduziert, die Anton auch zuhause erlebt: der Bruder wird (in Hinblick auf Bildung) vorgezogen. Da Stephan wie er migriert ist, stellt er einen Vergleichsrahmen dar. Dies wird dadurch verstärkt, dass sie in Bezug auf ihr Alter nur knapp zwei Jahre auseinanderliegen, in Bezug auf die Klassenstufe aber nun stärker differieren als in Russland. Anton kam mit großen Plänen nach Deutschland, doch dort sind die Umstände anders, als er es erwartet hat: „Als ich damals nach Deutschland kam, [mh] ich wollte ja, ich wollte mich als Deutscher behaupten hier. [mh] Also ich wollte alles, ich dachte ich vergesse Russisch so in einem halben Jahr und dann schmeiß ich das weg alles. Und dann bin ich sofort in so ein russischen Lager, Lager? Ja, so ein Camp [mh] /lacht auf/ reingekommen, wo wir mit den Eltern zusammengelebt haben. [mh] Da warn nur Russen. Und man sucht sich Freunde, man sucht sich irgendwas und dann hab ich jetzt verstanden, dass: Warum denn integrieren, wenn man auch so leben kann? [ja] Also und dann hab ich auch so gelebt, weil das einfacher is nach diesen Regeln, wie ich in Russland gelebt, vierzehn Jahren gelebt hab, [mh] das is ja so ein Ding.“ (445ff)

Mit ‚wegschmeißen‘ verwendet er ein starkes Wort. Üblicherweise wird entsorgt, was nicht mehr gebraucht, was alt, leer, kaputt oder schmutzig ist. In dem „alles“ kann, anknüpfend an das Zitat oben, auch das gesamte alte Leben stecken, das er vergessen und entsorgen möchte. Anton macht eine starke Dichotomie auf. Der Gedanke, dass beides nebeneinander bestehen könnte, fehlt. Stattdessen erscheint es, als müsse alles Russische ausgemerzt werden, um sich in Deutschland „behaupten“ zu können. Durch die (Wohn-)Umstände, so schildert er es, sei dies jedoch nicht möglich. Er kann nicht fraglos als ‚Deutscher unter Deutschen‘ leben, so wie er es sich erträumt hatte, sondern ist ‚Migrant unter Migranten‘. Und so verzichtet er nicht nur darauf, sich des Russischen zu entledigen, sondern greift jetzt verstärkt darauf zurück. Eventuell ist mit dem Begriff „Regeln“ so etwas gemeint, wie das „Rezeptwissen“ von Schütz (1972, vgl. 2.2). Die Beispiele, die er im Folgenden nennt, zeugen jedoch nicht nur von gewissen Denk- und Orientierungsmustern des Alltags, sondern rekurrieren auf gängige Klischees gegenüber RussInnen bzw. SpätaussiedlerInnen. Da er bei den Autochthonen keinen An-

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schluss findet, legt er seine Distinktion ab und beruft sich auf die ethno-natio-kulturelle Herkunft. Er schließt sich jungen Leuten an, die am Rande der Gesellschaft stehen, die trinken, Drogen nehmen und delinquent sind. Diese sprechen seine Sprache und hören ihm zu. Zu dieser Zeit sieht er „kein, kein Licht [mh] im Tunnel“ (522), was seine Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit verdeutlicht. Er weiß nicht, wie es weitergehen soll, im Moment weiß er nur, dass seine Träume geplatzt sind. In dieser Situation beginnt er, mit seinen Freunden hochprozentigen Alkohol zu konsumieren. Anton präsentiert sich erstmals in einer Gleichaltrigenbeziehung, jedoch in einer destruktiven Konstellation: „abends haben wir getrunken, (2) irgendwie abends nachhause, morgens müssen wir aufstehn mit ner Flasche Wodka in der Hand. [mh] (3)“ (525f). Anton zeichnet ein trostloses Bild und nahezu klischeemäßig trinken sie nicht irgendetwas, sondern Wodka. Dabei befindet er sich mit 14 Jahren in einem Alter, in dem er solch hochprozentigen Alkohol noch lange nicht trinken dürfte und in dem dieser seine Entwicklung massiv schädigen kann. Exzessiver Alkoholkonsum stellt ein jugendkulturelles Gruppenphänomen dar, das häufig als Element der Freizeitgestaltungspraxis auftritt (vgl. Litau et al. 2015, 136ff). Anton und seine Freunde trinken jedoch nicht neben Freizeitaktivitäten, sondern ausschließlich. Die Alkoholexzesse können als Reaktion auf die ihn umgebenden (strukturellen) Bedingungen betrachtet werden, die ihn überfordern. Als Versuch, die Sorgen vergessen zu machen. Retrospektiv äußert Anton über diese Zeit: „dieses Abschnitt is auch so ein bisschen vernebelt, [mh] also da kann ich mich auch nich viel erinnern daran [ja]“ (557). Dies ist nicht nur als Folge des Alkohols zu verstehen, sondern auch als Folge der Verdrängung von belastenden Erinnerungen. Seine Zeichen der Überforderung, seine ‚Hilferufe‘, werden nicht gehört. Dies kann in ihm das Gefühl auslösen, dass es seinen Eltern egal ist, was mit ihm passiert, was gerade in dieser unsicheren Situation schwer zu ertragen sein dürfte. Die Großeltern väterlicherseits, die ebenfalls nach Deutschland migriert sind und für Russland als wichtige Personen dargestellt wurden, finden keinerlei Erwähnung mehr. Es ist daher nicht möglich zu sagen, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt aufhalten, festzuhalten ist jedoch, dass auch sie als schützende Instanz für Anton offenbar nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Eltern sind damit beschäftigt, sich selbst gut einzuleben, um so an ihre qualifizierten Stellen in Russland anknüpfen zu können. Gegen den Trend fällt ihnen das Einleben in Deutschland zunächst leichter als ihrem jüngsten Sohn. Nach dem Besuch von Sprachkursen finden beide eine gute Arbeit, der Vater als Mechatroniker, die Mutter als technische Zeichnerin, wodurch sie, wenn auch nicht in so hoch qualifizierten Positionen, aber doch in ihren erlernten Bereichen tätig sein können. Auch dem Bruder wird, wie erwähnt, der Anschluss in Deutschland leicht gemacht, indem er nicht wie

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Anton die Erfahrung der deutlichen Zurückstufung macht. So bleibt eine Kontinuität über die Ausreise erhalten, der Bruder ist erfolgreich und in die Familie inkludiert, während Anton am Rand steht. Zudem fehlt ihm nun ein positiver Rückzugsort, wie die Natur oder die Berge. Den einzigen Halt bieten ihm ‚falsche‘ Freunde. Beziehungslosigkeit Als Leser fragt man sich, warum die Eltern, die doch aufgrund der beengten Wohnverhältnisse sehen müssen, was mir ihrem Sohn geschieht, nichts dagegen unternehmen, was (zumindest) ihre elterliche Fürsorgepflicht verlangen würde. Obgleich sie so dicht beieinander leben, gibt Anton an, in der ersten Zeit in Deutschland keine Beziehung zu seinen Eltern gehabt zu haben: „und äh, (2) haben die mich so irgendwie nicht, nich so, also keine Beziehung hat ich mit ihnen [mh]“ (695f). Dabei formuliert er es aus zwei Perspektiven, er beginnt mit: „haben die mich so irgendwie nich“, womit er den Eltern den aktiven Part zuschreibt, jedoch nicht deutlich macht, was sie nicht haben – ihn nicht verstanden? Ihn nicht unterstützt? Darauf bezieht er die Ablehnung mehr auf seine Person: „also keine Beziehung hat ich mit ihnen“. „Damals war irgendwie so eine Zeit, wo ich äh mit Eltern überhaupt nicht in Kontakt war. [mh] Ich kam in mein Zimmer, zu, (.) raus, essen, die Toilette besuchen, rein. [mh] *Und äh ich, ich hatte überhaupt keine, keine Beziehung zu ihnen damals*“ (730ff)

Dies erinnert an die Situation vor der Ausreise, als er nur zum Schlafen nachhause gekommen ist. Erneut gibt er an, mit seinen Eltern nicht in Kontakt zu sein, dabei fällt auf, dass er das Possessivpronomen weglässt, es sind nicht einmal mehr ‚meine‘ Eltern, es sind einfach nur Eltern. Dadurch wird die aufgehobene Beziehung hörbar. Die Beziehungslosigkeit drückt sich auf Textebene auch durch eine gewisse Sprachlosigkeit aus, Anton macht Pausen und spricht leiser als im Interview gewöhnlich. Keine Beziehung zu haben, kann für einen Jugendlichen vielleicht ‚praktisch‘ sein, weil dann kein großes Aufheben bezüglich negativer Verhaltensweisen gemacht wird. Doch keine Beziehung zu haben enthält auch noch eine andere Dimension, die des ‚Alleingelassenseins‘ und ‚Hilflosseins‘. Die Ausreise, die als Familie unternommen wurde und alle in eine neue Situation warf, hätte ein Zusammenrücken bewirken können, doch bei Anton bleibt die Beziehungslosigkeit über die Migration hin erhalten bzw. steigert sich noch. Dies wird auch durch die folgende Sequenz deutlich:

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„Und dann jetzt, wenn ich zu den komme und die gucken irgendwie Fotos an von der Zeit, ich bin nirgenswo drauf. /lacht auf/ [ja] Also, da ist überall die Familie, mein Bruder [mh] und ich bin nich da. Ja, also ich war nirgenswo, also ich war irgendwo anders /lacht auf/“ (698ff)

Die Fotos der Familie zeigen seine Eltern und seinen Bruder – Anton fehlt. Er ist „nirgenswo“. Er verbessert sich, natürlich existiert er, doch ist er „irgendwo anders“. Es handelt sich dabei um ein starkes Bild. Die Unsichtbarkeit Antons auf den Fotos kann als Sinnbild seiner Verbindungslosigkeit zur Familie verstanden werden. Die Familie, das sind die Eltern und der Bruder, Anton gehört nicht dazu. Er ist der Gast, der hin und wieder kommt, aber nicht fraglos dazugehört. Insgesamt fällt auf Textebene auf, dass er die Geschichte seiner Eltern und seines Bruders in Deutschland getrennt von der seinen erzählt. Dadurch wird die in der erlebten Lebensgeschichte nicht vorhandene Beziehung zu diesen auch in der erzählten offensichtlich. Wohingegen die Beziehung zur Familie in Russland durch Konflikte und Auseinandersetzungen geprägt war, scheint sie nun gar nicht mehr vorhanden. Dies ist jedoch nicht als eine Form gelungener Ablösung zu verstehen, denn dafür wäre eine Balance von Autonomie und Verbundenheit charakteristisch (vgl. Hofer/Pikowsky 2002). Vielmehr können die fehlende Anerkennung und das nicht vorhandene Gefühl des ‚Aufgehobenseins‘ zur Gefahr für den Entwicklungsprozess werden. Durch diese Handlungslosigkeit verweigern seine Eltern eine generative Haltung. Man könnte sagen, dass Anton nun einen größeren Freiraum zur Verfügung hat, aber es handelt sich dabei nicht um einen bereichernden Raum; indem die Eltern ihre protektive und Grenzen setzende Funktion nicht übernehmen, verliert Anton den Halt. Angesichts dessen, dass er in Deutschland immer noch fremd ist, kann die familiale Exklusion besonders prekär wirken. Im Rahmen der Interviewsituation setzt Anton sich mit dem Verhalten der Eltern kritisch auseinander: „Ich weiß nich auch warum, irgendwie muss ich mit meinen Eltern auch darüber sprechen. /lacht/ [lacht] Glaube ich. (.) Jetzt muss alles rauskommen, was damals gelaufen ist. /lacht/ [lacht auf] (.)“ (732ff). Er bettet diese Aussagen in eine amüsante Stimmung, lacht viel, doch die Ausdrucksweise und der Inhalt sprechen eine andere Sprache. Durch die Erzählung wird Anton bewusst, dass es damals nicht optimal gelaufen ist und er fordert nun eine Erklärung dafür. Darin steckt eine Anklage an die Eltern: ‚Sagt mir, warum seid ihr nicht für mich dagewesen?‘ Offenbar hat die Erzählung der Lebensgeschichte die Infragestellung des elterlichen Verhaltens angestoßen, der eventuell das Potential eines Bildungsprozesses im Sinne einer Transformation von Figuren des Selbstund Weltverhältnisses innewohnt (vgl. Koller 2012). Auf Interaktionsebene passt dazu, dass Anton die Aufwandsentschädigung mit den Worten: ‚Das war das Beste für mich‘ abzulehnen versucht hat.

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Gefährdung des Erfolgs Aus ihm nicht bekannten Gründen soll Anton mitten im achten Schuljahr auf eine andere Gesamtschule wechseln, was er jedoch abzuwehren versucht, indem er seinem Schulleiter schreibt: „Ich will da nicht, ich will da nich rein“ (81). Der erzwungene Schulwechsel wäre ein weiterer Bruch nach der Ausreise eineinhalb Jahre zuvor. Dies ruft möglicherweise Ängste hervor und kränkt ihn, vor allem, weil nicht erklärt wird, warum er überhaupt die Schule wechseln soll. Auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte geht Anton vor allem auf seinen Kampf dagegen ein. Seine Gefühle bleiben im Hintergrund, im Vordergrund steht das Aufbegehren. Die Bemühungen zeigen letztlich Erfolg. Da sein Platz in der achten Klasse bereits vergeben ist, bietet der Schulleiter ihm an, dass er in die neunte Klasse wechseln kann, wenn die Lehrerin der Vorbereitungsklasse ihre Zustimmung gibt. Dies tut sie. Durch seinen Einsatz ist es ihm nicht nur gelungen, auf der alten Schule zu verbleiben, sondern dazu noch einen Jahrgang aufzusteigen, so wie es von Anfang an hätte sein sollen. Er empfindet es daher als „eine Art Geschenk“ (157), dass er nun gleich in die neunte Klasse gehen kann. Dort fühlt er sich wohler, weil er ehemalige Schüler aus der Vorbereitungsklasse wieder trifft. In diese Zeit fällt auch der Umzug aus der Notwohnung in eine eigene, sodass er dem direkten Einfluss der problematischen Clique entzogen wird. 1999 schließt er die neunte Klasse mit dem Hauptschulabschluss ab, wobei er im Vergleich zum Herkunftsland durch die Ausreise knapp zwei Jahre verloren hat. Dennoch ist es ein Erfolg und da er sich auf einer Gesamtschule befindet, kann er unmittelbar mit der zehnten Klasse fortfahren. Allerdings bringt Anton die Fortsetzung des Erfolgs in Gefahr indem er im Alter von 16 Jahren einen Nebenjob annimmt, durch den er den Unterricht, der am Nachmittag stattfindet, nicht besuchen kann. Man könnte vermuten, dass seine Geldnot so groß ist, dass er den Job trotzdessen angenommen hat. Dem widerspricht jedoch, dass Anton die Stelle später abrupt wieder aufgibt als sie ihm zu stressig wird. Dies spricht dem Job eine existenzsichernde Relevanz ab. Daher wirkt es, als provoziert er es bewusst, zu fehlen und somit das Schuljahr eventuell nicht erfolgreich zu absolvieren. Dabei könnte er es durchaus schaffen: seine Leistungen werden von den LehrerInnen immer wieder als z.T. sogar sehr gut bestätigt, doch er vergibt die Chance, indem er dem Unterricht fernbleibt. Will er seine Grenzen (bei Eltern und LehrerInnen) testen? Gucken, wann jemand etwas sagt? Ihm hilft? Überraschenderweise ist sein Fehlen den LehrerInnen zunächst gar nicht besonders aufgefallen. Analog zur Familie wird Anton auch dort nicht gesehen, es scheint egal, ob er da ist oder nicht. Erst als er aufgrund der Fehlstunden keine Chance mehr hat, das Schuljahr erfolgreich zu beenden, wird er von den LehrerInnen angesprochen. Sie legen ihm nahe, das Schuljahr bereits vorzeitig im

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März zu verlassen. Das Schwänzen in der zehnten Klasse wirkt wie der Versuch, eine Reaktion der Eltern (und LehrerInnen) zu provozieren, die (zumindest in Russland) hohe Bildungsaspirationen an ihn formulierten. Dies kann als spezielle Form des Ringens um Anerkennung verstanden werden; als Versuch, sich ‚aufs Foto zu bringen‘, doch seine Eltern reagieren weder auf das Schwänzen noch auf den Rauswurf. Orientierungslosigkeit und Reisen Nach dem Abbruch der Schule durchläuft der 17-jährige Anton eine Phase, in der er Bildungsinstitutionen den Rücken kehrt. Das Leben an sich und das Ausprobieren stehen an erster Stelle. „Dann hab ich, hab ich Internet entdeckt, [lacht auf] /lacht auf/ hab ich viel gechattet, gesprochen. Wir ham so eine, im Chat so eine Community, [mh] (.) *aber* Russlanddeutsche auch, [mh] aber viele auch Kontingentflüchtige“ (Z162ff)

Die Formulierung „entdeckt“ legt das Bild eines Kindes nahe, das etwas ganz Neues für sich entdeckt und genau betracht. Das Internet ist ein Medium, das von vielen Jugendlichen genutzt wird, besonders das Chatten ist eine alterstypische Erscheinung. Anton zeigt also ein jugendtypisches Verhalten, doch mit dem Unterschied, dass andere Heranwachsende zumeist nebenbei noch anderes machen, was bei Anton zu dieser Zeit nicht der Fall ist. Auffällig ist, dass er sagt, viel gesprochen zu haben, obgleich er zuvor angab, erst durch die Bundeswehr die Sprachbarriere ganz überwunden zu haben. Diese Divergenz löst sich durch den folgenden Satz auf, in dem er erklärt, dass es sich um eine Community von Russlanddeutschen und Kontingentflüchtlingen – also russischsprachige Menschen – gehandelt habe. Nach der Ausreise hat Anton sich im thematischen Feld ‚Schüler im deutschen Schulsystem‘ (mit allen dazugehörigen Schwierigkeiten) präsentiert. Nach Abbruch der Schule stellt er sich hingegen in einer russischsprachigen Community dar. Dabei geht es nicht speziell um das Spätaussiedlersein, denn er hat ebenso Kontakt zu Kontingentflüchtlingen. Es geht aber um russischsprachige junge Menschen in Deutschland, die aus einem Land der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert sind und damit einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund und eine gemeinsame Muttersprache teilen. Es kann als Suche nach Gleichaltrigen und Gleichgesinnten verstanden werden, als eine Segregation, die ihm Halt geben. Von der Realität enttäuscht, sucht Anton virtuelle Welten auf. Doch dabei bleibt es nicht. Lebhaft erzählt er weiter, dass er seine Bekannten aus dem Chat in ganz Deutschland getroffen habe. Anfangs noch nicht einmal 18 Jahre alt,

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setzt er sich spontan in den Zug, um seine Chatpartner persönlich kennenzulernen, mit ihnen zu feiern oder einfach nur Zeit zusammen zu verbringen. Anton inszeniert sich dabei als einen spontanen jungen Mann, der kurzfristig entscheidet, z.B. am nächsten Tag einen Freund in Stuttgart zu besuchen: „im Chat so: Wir sehn uns morgen in Stuttgart oder so. [mh] Sofort morgens um fünf Uhr in die Bahn und dann in Stuttgart gewesen“ (166f). Er finanziert dies mit Nebenjobs, die jedoch nicht immer genug Geld bringen. So fährt er oftmals mit kaum Geld in der Tasche, immer mit der Gefahr im Nacken, weder Essen noch Trinken kaufen zu können und nicht wieder wegzukommen, wenn er niemanden findet, der ihn auf seinem Ticket mitfahren lässt. „Also einmal war es so, dass ich kein Geld hatte, ich hatte fünfzig Pfennig mit sich dabei und war in Stuttgart /lacht auf/ [mh] und ich konnte nirgenswo fahren. Dann hab ich irgendwie äh schwarz nach Dortmund gekommen, dann wurd ich geschnappt, irgendwie kam Rechung äh dreihundert Mark oder so Strafe“ (709ff)

Anton sucht das Abenteuer und testet die Gefahr aus. Es drängt sich das Bild des jugendlichen Ausreißers auf, der ohne einen Cent von zuhause wegläuft und spontan und als blinder Passagier in die Bahn steigt. Dabei geht es über ein einmaliges Ausreißen eines Jugendlichen (wie damals) hinaus. Denn die Phase dauert „eineinhalb Jahre“ (182). Interessant ist zudem die Formulierung „so gelebt“ (ebd.), was dieser Phase noch mehr Gewicht verleiht, denn dadruch wird es zu einer ‚Lebensweise‘. Während dieser eineinhalb Jahre geht Anton nicht in die Schule. Eine solche Schulverweigerung bezeichnet Streeck-Fischer (2005, 43) als krisenhaften Verlauf der Adoleszenz. Als Aussteiger aus dem normalen System taucht Anton in die russische Community ein. Auf diesem Weg kommt er mit vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt, spricht mit ihnen, was im Gegensatz zu seinen Möglichkeiten im ‚deutschen Umfeld‘ steht. Zuvor hat er nicht in einer solchen intensiven Weise von Kontakten zu anderen und Freundschaften gesprochen. Dabei handelt es sich nicht (nur) um Personen in prekären Verhältnissen, sondern auch um solche, „die auch schon studiert haben, [mh] oder schon zweimal studiert haben“ (202f). Anton ‚sammelt‘ ihre Lebensgeschichten, vergleicht sie mit seinem eigenen Weg und bezieht sie in die Entwicklung eigener Zukunftsentwürfe ein. Zudem kann Anton auch offen von sich erzählen und wird von den anderen in dem Glauben an sein Potential bestärkt. Offenbar braucht er die Auszeit, um sich zu finden und Anregungen für seinen weiteren Weg zu erhalten, die er von seinen Eltern nicht bekommt. Evaluierend bewertet Anton es so, dass es „interessante solche /lacht auf/ (3) Expeditionen von mir“ (181) gewesen seien. Ihm fehlt zunächst eine Formulierung für seine ‚Trips‘, dann wählt er das Wort „Expeditionen“, das an seine

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Bergtouren erinnert. Eine Expedition hat einen erkenntnissuchenden/wissenschaftlichen Zweck und dient dazu, Neues zu erkunden. Anton stellt diese Zeit im Rückblick also nicht als pures jugendliches Herumirren dar, sondern gibt dieser eine sachliche Grundlage. Dadurch erhält die Phase – quasi als ‚Wanderjahre‘ – in denen er fremde Lebenspraktiken kennenlernt, eine Rechtfertigung. In diesem Sinne kann die Phase als eine radikale Form eines selbst genommenen Moratoriums, eines „Sozial-aus-dem-Spiel-Seins“ (Bourdieu 1980, 138), betrachtet werden, während der Anton sich der normativen Ordnung verweigert. Bei dieser sehr positiven Darstellung darf jedoch nicht übersehen werden, dass Anton auch Risiken eingeht. Es birgt Gefahren, Menschen zu besuchen, die einem nur aus der virtuellen Welt bekannt sind. Und der Geldmangel kann zu bedrohlichen Situationen führen, in denen er sich, wie beim Zugfahren ohne gültige Fahrkarte, auch strafbar macht. So muss er z.B. einmal eine Strafe von 300 Euro zahlen, da er ohne Fahrkarte erwischt wird. Auch hier stellt sich wieder die Frage nach der Reaktion der Eltern: Sie lassen ihren minderjährigen Sohn durch ganz Deutschland fahren ohne sich scheinbar zu sorgen. Gelegentliche Informationen über seine Aufenthaltsorte fordern sie nur, um Bescheid zu wissen, falls einmal die Polizei vor der Tür stehen sollte. Die 300Euro-Strafe übernehmen sie allerdings ohne großes Aufsehen, um ein Abrutschen des Sohnes in die Kriminalität zu verhindern. Dies zeigt Anton, dass sie zumindest im Ernstfall rettend einspringen. Die Eltern bieten ihrem Sohn zwar Freiräume und ein hohes Maß an Entscheidungsautonomie, aber erneut ohne gleichzeitig ausreichend ihrer Fürsorgepflicht und generativen Aufgabe nachzukommen, Halt zu geben und Grenzen zu setzen. Rückblickend in der Interviewsituation zeigt Anton sich selbst verwundert darüber, dass seine Eltern „das irgendwie nich (.) äm, gebremst haben“ (182f). Darin kann eine Anklage im Sinne von: ‚Es hat euch gar nicht interessiert, was ich mache‘ liegen. Darüber hinaus scheint auch an dieser Stelle durch die Infragestellung das Potential eines Bildungsprozesses auf. Der Weg seiner Eltern ist inzwischen weniger erfolgreich verlaufen. Die Firma des Vaters ist ins Ausland ausgelagert worden. Stattdessen ist er nun als Installateur tätig, eine Stelle also, die deutlich unter seiner Qualifizierung liegt und die ihm auch nur einen geringen Verdienst einbringt. Noch schwieriger ist die Situation der Mutter. Auch sie hat ihre Stelle als technische Zeichnerin bereits nach wenigen Monaten wieder verloren und macht zurzeit eine Umschulung zu einer Tätigkeit, die gänzlich verschieden zu ihrer früheren ist und zudem auch weit entfernt von einem Hochschulstudium und damit unter ihren eigentlichen Fähigkeiten liegt. Anton erlebt die Entwertung der elterlichen Arbeitskraft. Die beiden studierten Ingenieure müssen in Deutschland Tätigkeiten ausüben, die deutlich unter ihrer Qualifizierung liegen. Einzig der Bruder, der während Antons Reisen sein Abitur besteht – „ohne Zwischenfälle“ (638), wie Anton im Gegensatz zu seinem Weg

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betont – bleibt die ‚Hoffnung der Familie‘, die jetzt sogar die Eltern zu überflügeln scheint und somit zugleich zu ihrer Entwertung beiträgt. Zurück in die Schule und ‚die Leiden des jungen Anton‘ Auf den Reisen erhielt er das nötige Vertrauen in seine Fähigkeiten, das ihm seine Eltern nicht gegeben haben. Dies motiviert ihn, es wieder mit der Schule zu versuchen. Ab Herbst 2001 besucht er eine Berufsfachschule im sozialen Bereich, da er ein Interesse dafür habe, „wie der Mensch tickt“ (215f). Dadurch möchte er einen Grundstein für ein Studium in diesem Bereich zu legen. Sein neues Zutrauen ist so stark, dass er, der bisher nur den Hauptschulabschluss erreicht hat, von einem Studium träumt – doch dann verliebt er sich unglücklich: „Ja, das war, es war so ein erste Liebe sozusagen. [mh] Das hab ich, aber das hab ich später sozusagen alles interpretiert, was damals gelaufen is. Das is so wie in Goethe, [mh] äm ‚Die Leiden des jungen Werthers‘, [mh] sozusagen das war, das war das gleich-, also als ich diesen Buch gelesen hab, das hab ich so mich gesehen. /lacht auf/“ (219ff)

Anton vergleicht seine Situation mit der des Protagonisten aus Goethes Briefroman ‚Die Leiden des jungen Werther‘ von 1774. Darin wird von Werthers unglücklicher Liaison zu der mit einem anderen Mann verlobten Lotte berichtet, die schließlich mit dessem Suizid endet. Dieses Werk der literarische Strömung ‚Sturm und Drang‘ wird aufgrund seiner Thematik als Urbild des Adoleszenzromans betrachtet (vgl. Kalteis 2008, 6). Der Roman löste bei Erscheinen moralische Diskussionen aus, erfreute sich aber vor allem bei jugendlichen Lesern einer großen Beliebtheit. Es brach ein regelrechtes ‚Werther-Fieber‘ aus, das den Protagonisten zur Kultfigur werden ließ und nicht wenige folgten seinem Umgang mit der unglücklichen Liebe, sodass von einer ‚Selbstmordwelle‘ infolge des Briefromans gesprochen wird (vgl. Andree 2006). Der Vergleich mit der literarischen Figur des ‚Werthers‘ ist auf verschiedenen Ebenen interessant. Zum einen verdeutlicht der Verweis auf dieses deutschsprachige Werk Antons Bildungsbezug. Zum anderen wird er in seinem Liebeskummer durch den Vergleich „hab ich so mich gesehen“ (223) zu einer potentiell literarischen und bedeutsamen Persönlichkeit. Und schließlich unterstreicht dies ganz stark die adoleszente Situation in Bezug auf Beziehungen und die starke Betonung eigener Empfindungen. Die (recht späte) erste unglückliche Liebe nimmt den Jugendlichen so sehr mit, dass er sich dem Alltag nicht mehr gewachsen fühlt. Er gibt sich dem Kummer ganz hin und vernachlässigt die Schule. In dieser Zeit findet er bei niemandem Halt.

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„Ja und dann wurd ich, dann wurd dich angeschrieben: Da Sie gefehlt haben, (3) äm, denken wir, dass Sie keine Lust mehr an der Schule haben oder so. Also irgendwie so, aber in so einer Behördensprache, /lacht/ [ja] kann das jetzt nich mehr erinnern. Dann bin ich sofort dahin und dann hab ich gefragt: Wieso denken Sie das? /lacht/ [lacht auf] Wer gibt Ihnen das Recht, so zu denken?“ (228f)

Anton fühlt sich ungerecht behandelt. Es stimmt, dass er die Schule geschwänzt hat, doch geschah dies nicht aufgrund mangelnder Lust. Es kränkt ihn, falsch gesehen zu werden und daher begehrt er auf. Objektiv betrachtet, können die LehrerInnen (wenn er es ihnen nicht erzählt) nicht von seinem Liebeskummer wissen und müssen reagieren, wenn er sehr oft fehlt. Anton kann dies jedoch nicht in seine Beurteilung einbeziehen und stellt die Gedanken infrage. Um Vorteile in der Versicherung zu haben, will er zumindest das Probehalbjahr noch beenden, doch das wird ihm verweigert. Für ein halbes Jahr ist in der Folge „irgendwie ein Loch zwischen. Hab ich auch irgendwas gemacht, /lacht auf/ also auch irgendwie im Internet gesessen oder gearbeitet oder ja. [mh]“ (241f). Das Scheitern seines Plans stürzt Anton in eine neue Krise. Obwohl es kürzer her ist als die ‚Auszeit‘ zuvor, kann er sich nicht mehr daran erinnern. Die Erinnerungslosigkeit deutet auf eine innere Leere und Problematik hin. Zu dieser Zeit trifft er ein anderes Mädchen, das seine Zuneigung erwidert, sodass sie ein Paar werden. Sie ist ebenfalls Russlanddeutsche, was eine natürliche Nähe durch die Muttersprache und Ausreiseerfahrungen mit sich bringt. In seiner Partnerin hat Anton eine Vertraute gefunden, jemanden, der sich voll und ganz für ihn interessiert und gerne Zeit mit ihm verbringt. Dies stärkt sein Selbstbewusstsein. Zudem ist sie vier Jahre älter als er und befindet sich gerade in einer Ausbildung zur Versicherungskauffrau. Somit ist sie in einer gefestigten Position und kann ihm Halt und Vorbild sein, aber auch Druck, der im- oder auch explizit ausdrückt: ‚Schaff du das auch.‘ Der „Zwischenfall“ „Und dann bin ich in diese Schule [mh] für Kauf-, äh Berufsfachschule A, [mh] da bin ich rein. Also dann bin ich auch mit achtzehn Jahren reingekommen, da warn wieder /er deutet mit der Hand eine geringe Höhe an/ Fünfzehn-/ Sechzehnjährige. [ja] Ja. /4/ Dann hat ich so ein Zwischenfall. /lacht auf/ Äm, das is auch so. /lacht/ (2) Äh, wurde mir, also“ (244)

Anton erzählt chronologisch weiter und kommt nun zum „Zwischenfall“, den er in der Eingangspräsentation bereits kurz als „interessante Sache“ (22) angedeutet

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hat. Ein Zwischenfall meint ein „unerwartet eintretendes (häufig unangenehm berührendes, peinliches) Vorkommnis, das den Ablauf der Ereignisse unterbricht“ (Duden online 2017). Der inzwischen 19-jährige Anton ist 2002 auf der Berufsfachschule wieder mit deutlich jüngeren MitschülerInnen zusammen. Das Erzählen über den Zwischenfall wird etwas hinausgezögert, was darauf hindeutet, dass Anton unsicher ist, wie er diesen darstellen könnte. Nach dem Auftakt „also“ beginnt er dann schließlich: Zum Anfang des Schuljahres sollen alle SchülerInnen einen Ordner für den Unterricht mitbringen. Da Anton dies nicht tut, wird ihm dafür die Note Sechs eingetragen. Dies empfindet er als große Ungerechtigkeit und sucht daher das Gespräch mit dem Lehrer: „Warum machen Sie so was? Warum stellen Sie mir eine Sechs, weil ich irgendwelchen Aus-, irgendwelche, für irgendwelche Materialen? [mh] Zum Beispiel, wenn ich, zum Beispiel eine Leistung erbringen soll: Okay, hab ich nich gemacht, Sechs. Aber [mh] um ein Ordner zu bringen?“ (255)

Anton fällt in der Interviewsituation in die wörtliche Rede, was sein Involviertsein bis heute verdeutlicht. Sein Unverständnis und sein Aufgebrachtsein treten deutlich hervor. Dabei betont er die Worte „Material“ und „Leistung“, die er als Gegensatzpaar versteht. Er stellt heraus, dass der Bewertungsmaßstab für ihn absurd ist, da intellektuelle Leistungen wichtiger seien als das disziplinarische Verhalten. Er klagt den Maßstab an, denn dadurch fühlt er sich falsch verstanden und behandelt. Der Lehrer geht auf Antons Einwand jedoch nicht ein und der von ihm hinzugezogene Direktor teilt die Meinung seines Kollegen. Anton unterstreicht dies zusätzlich mit dem Argument der Vernunft. Auf seinen Reisen habe er die „Vernünftigkeit kennengelernt“ (252) und daher auch ein solches Verhalten von den Lehrkräften erwartet – sei aber enttäuscht worden. Mit dem Rückgriff auf diesen großen moralischen Wert, der u.a. an die Epoche der Aufklärung sowie an deutsche Philosophen wie Kant oder Hegel denken lässt, macht Anton sich quasi unantastbar und zeigt zudem einen Bildungsbezug. In diese Richtung geht auch seine mehrfach in unterschiedlichen Wendungen gebrauchte (philosophische) Frage an die Lehrkräfte: „Wieso denken Sie das? /lacht/ [lacht auf] Wer gibt Ihnen das Recht, so zu denken?“ (231f); „Warum machen Sie so was?“ (255); „Wieso macht Ihr so was?“ (271). Um seinen Notenspiegel jedoch nicht gleich zu Beginn des Schuljahres derart zu belasten, gibt Anton schließlich nach und kauft einen Ordner, wobei er davon ausgeht, dass die negative Note in der Folge gestrichen würde, doch dem ist nicht so. Weder das Anführen von – für ihn – guten Gründen noch die letztliche Erfüllung des Auftrages, die für Anton bereits als Niederlage empfunden wird, führt zum Ziel. Anton gibt an, aufgrund dieser Ungerechtigkeit, „Depressionen“ (266) erlitten zu haben, sodass er nicht mehr habe schlafen können. Unabhängig davon,

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ob es sich um eine ‚echte‘ Depression im klinischen Sinne handelt, wird deutlich, wie sehr Anton das Thema belastet. Aufgrund der psychischen Belastung sucht Anton erneut das Gespräch mit dem Lehrer, in dessen Verlauf er diesen jedoch duch die Aussage provoziert, dass man bei einer solchen Behandlung durchdrehen könne, wobei er auf den Amoklauf von Erfurt anspielt. Kurz zuvor, im April 2002 ist der ebenfalls 19-jährige Robert Steinhäuser in Erfurt an seiner ehemaligen Schule Amok gelaufen und hat insgesamt 17 Menschen (darunter zwölf LehrerInnen und sich selbst) getötet. Es handelt sich um den ersten und bisher verheerendsten Amoklauf eines (ehemaligen) Schülers an einer Schule in Deutschland und war damals in den Medien hochpräsent. Recht schnell wurde bekannt, dass er kurz vor dem Abitur von der Schule verwiesen wurde und der Amoklauf vermutlich einen Racheakt für den aus Sicht des Täters ungerechtfertigten Schulverweis darstellte (vgl. Becker 2005). „Und ich bin zu ihm gegang und ich wollte nur andeuten, das: Wieso macht Ihr so was? [lacht auf] Seid Ihr behindert? /lacht/ Weil äm, äm, so was passiert ja. Und äm, nicht ich, sondern irgendjemand anders, der irgendwie nicht psychisch labil is oder psychisch äm (.) ausgeglichen is, kann er so was machen also. [mh] Aber ich weiß nich, ob ich schlecht geschlafen hab, irgendwie hat er das irgendwie falsch verstanden. [lacht auf] Und dann hab ich ein Brief bekommen, dass ich ausgesprochene Drohung an mein Lehrer gemacht hab. [mh]“ (270ff)

Anton fühlt sich derart ungerecht behandelt, dass er seine Lage mit der des Amokschützens vergleicht. Dass er überhaupt diesen Vergleich zieht und nicht aufgrund des allgemeinen Entsetzens Distanz zu solch einer Tat einhält, zeigt, wie viel Wut und Enttäuschung diese Behandlung in ihm ausgelöst hat. Der Versprecher „nicht psychisch labil“ kann als Ausdruck seiner Gefühlswelt verstanden werden. Denn psychisch labil meint, dass jemand in seiner Belastbarkeit reduziert ist, was, wenn auch nicht generell, in dem Moment auf ihn zutrifft. In der schlaflosen Nacht kreisen seine Gedanken darum, sich zu rächen, mächtiger zu sein als die Lehrkräfte und diese für die als ungerecht empfundene Behandlung zu bestrafen. Diese Gewalt- und Allmachtsphantasien können als Reaktion auf die Kränkung verstanden werden. Mehrfach fällt der Vagheitsmarkierer „irgendwie“, der die Konturen verwischt. Auch dadurch stellt sich die Frage, ob der Lehrer ihn in der Tat ‚nur‘ „irgendwie falsch verstanden“ hat oder Anton ihm durchaus drohen wollte (ohne wirklich an eine ähnliche Tat gedacht zu haben). In jedem Fall werden Antons Worte vom Lehrer als „ausgesprochene Drohung“ bewertet. Laut § 241 Abs. 1 StGB macht sich einer Bedrohung strafbar, „[w]er einen Menschen mit der Begehung eines gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten Verbrechens bedroht“. „Entscheidend ist, ob die ausgesprochene Drohung objektiv den Eindruck der Ernstlichkeit erweckt und ob sie subjektiv von diesem Willen getragen

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wird. Unwichtig ist, ob der Bedrohte tatsächlich glaubt, dass der Täter die Drohung ernst meint“ (Braun 2012). Es folgt eine Anhörung unter Anwesenheit mehrerer Lehrkräfte, bei der Anton das Gefühl hat, von allen Seiten attackiert zu werden: „Du hast dies so gemacht, du hast das gemacht. [mh] Du darfst so was nich machen“ (285f). Als er in seine Tasche greifen will, um seine vorbereitete Rede herauszuholen, erschrecken alle, da sie offenbar befürchten, er könne eine Waffe hervorziehen und es dem Amokschützen gleichtun. „Und dann sagt, /lacht/ guckten die mich nur mit so ein Augen, weil ich in die Tasche griff. /lacht/ [mh] Das war schon lustig, also das war schon so ein Gefühl. Ja und dann wurde ich irgendwie rausgeschmissen aus dieser Schule“ (289)

Anton erlebt, dass seine LehrerInnen und der Schuldirektor in ihm das Potential eines Amokschützen sehen und sich daher vor einer harmlosen Handbewegung erschrecken. Er ist der Angeklagte, der keinen Anwalt zur Seite hat und sich selbst verteidigen muss, wobei ihm eine übermächtige Jury gegenübersitzt. Diese gibt ihm jedoch nicht einmal die Chance, seine Position vorzutragen, sondern verurteilt ihn im Voraus durch eine enorme Unterstellung. Dies kann Gefühle der Verletztheit, Fassungslosigkeit und Wut über die Verkennung und den anschließenden Verweis ausgelöst haben. Das evaluierende „Das war schon lustig“ könnte dann als ironische Äußerung verstanden werden, die den Schmerz verdeckt und die Erinnerung abwehrt. Antons heutige Erzählweise lässt jedoch vermuten, dass es zumindest nicht nur das ist. Denn er inszeniert die Szene parasprachlich in einer Weise, die sie der Lächerlichkeit preisgibt, was sich auch im weiteren Verlauf fortsetzt, der weiter unten dargestellt wird. „lustig“ könnte zudem im Sinne eines ‚Lustgewinns‘ interpretiert werden, denn in der Zuschreibung der Bedrohlichkeit liegt auch etwas Machtvolles, das die adoleszenten Größen- und Allmachtsphantasien bedient. Aufgrund dieser Unterstellung muss Anton die Schule verlassen, ehe sie richtig losgegangen ist. In dieser Situation bietet ihm ein Mitarbeiter einer staatlichen Schulberatungseinrichtung Hilfe an und versucht, ihn auf einer anderen Handelsschule unterzubringen. Bei dem Vorstellungsgespräch wird Anton in Hinblick auf seine Vergangenheit an der vorherigen Schule jedoch als „Terrorist“ (301) beschimpft und abgelehnt. In dieser Situation gelingt es dem Mitarbeiter, Antons Einberufungsbefehl für die Bundeswehr von Januar 2003 auf November 2002 vorzuziehen, sodass er ohne eine weitere Lücke in diese eintritt und dort neun Monate dient. Die Entscheidung erscheint Anton jedoch widersinnig: „Und dann, dann konnt ich irgendwie nich verstehn, der Mensch hat, der Mensch hat mit äh, irgendwie mit Erschießung angedroht und wurde, wird er in die Bundeswehr

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geschickt, /lacht/ damit er das lernt, oder was? /lacht/ [lacht] War für mich auch irgendwie so nich ganz logisch. [mh]“ (310ff)

Er entlarvt die Unlogik der Entscheidung und macht die Absurdität des Geschehens deutlich, wodurch er selbst als ‚moralischer Sieger‘ hervorgeht. Er wertet ganz klar, macht dies aber auf eine ironisch-sarkastische Weise. Durch die Art der Darstellung schafft Anton es, dass die Interviewerin mit ihm lacht und sie das Verhalten der Entscheidungsträger als falsch empfindet. Betrachtet man jedoch die Fakten, so ist es im deutschen Schulsystem nun mal so angelegt, dass die SchülerInnen regelmäßig zum Unterricht erscheinen, ihre Hausaufgaben machen, lernen und die nötigen Materialien mitbringen. Man mag das Verhalten der Lehrkräfte für übertrieben halten, muss aber doch deutlich konstatieren, dass Anton Fehler gemacht hat und es stellt sich die Frage, warum er den Ordner nicht einfach gleich oder zumindest nach dem ersten Gespräch mit dem Lehrer mitgebracht hat. Sein Bruder hätte den Ordner sicher rechtzeitig mitgebracht – Anton nicht. Die Bedeutung des Verstehens In der ‚Ordner-Szene‘ geht es wiederholt um das Thema ‚Verstehen‘. Anton konnte nicht verstehen, warum das Mitbringen eines Ordners so hoch gewertet wird und der Lehrer hat ihn „irgendwie falsch verstanden“ (275). Doch nicht nur an dieser Stelle, im gesamten Interview hat sich dieses Thema als eines der zentralen herausgestellt. In den knapp 1000 Zeilen kommt der Begriff zwanzigmal vor, in Verbindung mit ‚nicht verstanden werden‘, ‚nicht verstehen können‘, ‚sich selbst verstehen‘ sowie ‚verstanden werden‘, wobei das Verstehen bzw. NichtVerstehen sowohl von Anton als auch von anderen ausgeht und die negativen Kontexte überwiegen. Er fühlt sich von den Eltern und Lehrkräften, von Autochthonen sowie von anderen SpätaussiedlerInnen bzw. RussInnen missverstanden; die Erfahrungen potenzieren sich. Der Wunsch, verstanden zu werden, lässt sich als Antons übergeordnetes biographisches Thema herausarbeiten. Verstehen ist ein Prozess der Bedeutungsgabe und somit der Sinnkonstruktion (vgl. Kruse 2009, 15) und kann sich auf Verschiedenes beziehen, wie Sprache oder Sachverhalte. Anton verwendet es in einem Sinne, bei dem es nicht nur darum geht, etwas intellektuell nachzuvollziehen, sondern sich in den anderen hineinzuversetzen und zu versuchen, die Dinge aus dessen Perspektive zu betrachten und zu respektieren (vgl. Covey 2005, 263ff). Der Wunsch, verstanden zu werden, hat etwas genuin Adoleszentes und zugleich ist dies die Phase, in der die Heranwachsenden phasenweise auf Zustimmung und Anerkennung durch andere verzichten

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müssen (siehe Anerkennungsvakuum unter 2.1.3, wobei Verstehen als eine Vorstufe von Anerkennung betrachtet werden kann). Im Fall von Anton geht die Beziehungslosigkeit zu den Eltern jedoch darüber hinaus, sodass sich die Auseinandersetzungen auf eine andere intergenerationale Ebene, die Schule/Lehrkräfte, verschieben. Die ‚Ordner-Szene‘ ist die längste zusammenhängende und am stärksten nuancierte Erzählung des ganzen Interviews, wodurch sie besondere Bedeutung erhält. Sie stützt die Lesart, dass Antons widerständiges Verhalten in der Schule eine Art Verschiebung der Rebellion gegen die Eltern ist. Es besteht keine Beziehung und daher, egal was er macht, kommt keine Grenzen setzende Reaktion der Eltern – auch an dieser Stelle schreiten sie übrigens nicht ein. Anton will sich sichtbar machen, seine Grenzen austesten und wählt dafür den Raum der Schule, der ebenfalls generative Strukturen enthält. Er provoziert und attackiert das Selbstverständliche (alle SchülerInnen bringen ihren Ordner mit). Anders als in Bezug auf die Eltern, kann er das Verhalten bereits in der Situation infrage stellen („Warum machen Sie so was?“, 255). Die Haltung, in der er es vorträgt macht die Schwächen des Alten deutlich und enthält neue Ideen. Die LehrerInnen reagieren und es entsteht Raum zum Austesten von Grenzen. Sie gestehen ihm jedoch nicht zu, sich zu erklären, stattdessen folgt der Rauswurf. Exkurs: Verstehen und Interaktion im Interview Bereits in den Informationen zur Interviewsituation kam der Gedanke auf, dass es Anton wichtig ist, ob ich als Interviewerin mich wirklich für ihn interessiere. Für die telegrammartige Einstiegserzählung wurde die These aufgestellt, dass es auch eine Art Test des Interesses und des Verstehens der Interviewerin sein könnte, die aufrechterhalten werden kann. Im Interview höre ich ihm zu, paraphrasiere seine Aussagen, lache mit ihm über die Lehrkräfte, frage explizit nach seinen Empfindungen und zeige Interesse. So kann die Ablehnung der Bezahlung mit ‚das war das Beste für mich‘, auf das Gehört- und Verstanden-Werden bezogen werden. Im Verlauf des Interviews findet ein Wandel statt. Zunächst bin ich als Interviewerin irritiert über die kurze Erzählung und fühle mich aufgrund der Sorge, dass das Interview misslingen könnte, unter Zugzwang. Die ersten Nachfragen, die chronologisch am dargelegten Bildungsweg orientiert sind, sind nicht immer so formuliert, dass sie Narrationen evozieren. Als ich von diesem Schema abweiche und spontan einen Kommentar zu seinen ‚Reisen‘ abgebe („Ja, da hast du bestimmt ziemlich viel verschiedene Menschen kennengelernt“, 196), knüpft Anton an die Interviewsituation an und sagt, dass er interessiert daran sei, welche Fragen ich stellen würde und nicht wegen des Geldes am Interview teilnehme, was ich mit „schön, ja“ (199) kommentiere. Diese kurze Aushandlung bewirkt etwas auf der Interaktionsebene und in der Folge fallen Antons Antworten wesentlich länger und zudem narrativ aus. Mit Antons Wunsch, verstanden zu werden, könnte auch das Verhalten der Interviewerin nach dem Gespräch erklärt werden. Sie hatte das Bedürfnis ihm mitzuteilen, dass seine Geschichte spannend für sie war und dass sie ihn für intelligent hält. Diese persönlichen und wertenden Worte, die im Nachhinein etwas irritierend wirken,

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können Folge der Dynamik sein. Dies würde aber zugleich dafürsprechen, dass dieses Thema für Anton bis in die Interviewsituation hinein von Bedeutung ist. Das kann darin begründet sein, dass er einige der Beziehungserfahrungen mit den Eltern bis heute nicht reflexiv bearbeitet hat. So fällt im Interview – wie dargestellt – an zwei Stellen auf, dass ihm durch die Erzählung ‚plötzlich‘ und offenbar erstmalig Dinge bewusstwerden, z.B. die Tatsache, dass es seltsam ist, dass seine Eltern es zuließen, dass er – noch nicht einmal volljährig – Fahrten durch ganz Deutschland unternahm.

Die Bundeswehr als doppelter Wendepunk Im Herbst beginnt Anton seinen neunmonatigen Grundwehrdienst. Das Hauptmotiv für die Ausreise der Familie war, die Söhne vor der russischen Armee zu bewahren und nun soll er in die deutsche, von der er nicht weiß, wie sie sein würde. Dies kann Ängste auslösen. Da aber alle anderen Wege versperrt scheinen, nimmt Anton die Herausforderung an. Für ihn erweist sich die Zeit bei der Bundeswehr jedoch als sehr positiv. Das einzige, was ihm nicht gefällt, ist es, Befehle ausführen zu müssen, weswegen er auch wiederholt disziplinarische Maßnahmen erlebt. Wohingegen er mehrere Schulen aufgrund seines Verhaltens verlassen musste, lässt ihn die Bundeswehr nicht gehen, bestraft sein Handeln jedoch. Somit gibt sie ihm Regeln vor, ohne ihn fallen zu lassen. Anton ist durch die Bundeswehr zum ersten Mal wirklich von den Eltern getrennt und der konkreten Konkurrenz mit seinem Bruder enthoben. Auch seine Partnerin kann er für längere Zeit nicht sehen. Dafür lernt er unter den Kameraden viele unterschiedliche Menschen kennen. Von Abiturienten, „mit den ich mich super verstanden“ (320) hab, bis zu vielen „wie ich so zum Beispiel die Hauptschulabschlussabgänger oder Kiffer“ (321). Zum ersten Mal ist der nunmehr 19-/20jährige im ‚richtigen‘ Alter in einer Institution. Im direkten Vergleich zu den Gleichaltrigen wird ihm bewusst, was er nicht will: „Ach so, und weswegen ich in diese Realschule gegang, weil ich auch in Bundeswehr gesehn hab, dass da, dass das nich geht, also das diese, ich kann, ich kann so nicht leben, wie die leben, die Hauptschulabschluss haben /lacht auf/ [mh] oder Ausbildung, also ich muss irgendwie aus diese (.) Unterschicht /lacht/ sozusagen raus, [mh] ich muss nach oben. Is, also, ja, *ich muss irgendwie* was schaffen. [mh] (2) Ja“ (414ff)

Zum Zeitpunkt der Bundeswehr gehört er formal zu denen mit Hauptschulabschluss, also nach seinen Worten zur Unterschicht. Er stellt Vergleiche zu den Kameraden an und fragt sich, wie er (künftig) sein und leben möchte, was eine zutiefst adoleszente Auseinandersetzung darstellt. Er entscheidet für sich, dass er

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nicht weiter zur Unterschicht gehören möchte und wirkt dabei aktiv und handlungsmächtig. Die Gleichaltrigen fungieren für ihn als Rollenvorbild und können – im Gegensatz zu seinen Eltern – konkret vermitteln, wie er diesen Weg erreichen kann. Trotz des körperlich anstrengenden Alltags in der Bundeswehr, kann diese Phase als eine Art Moratorium verstanden werden, in dem er – ohne weitere soziale Verpflichtungen und mit Abstand von den Eltern – Zeit zum Erkunden und Nachdenken hat. Die Analyse zeigt jedoch einen weiteren relevanten Punkt: Aufgrund der für ihn äußerst reizvollen Bezahlung eines Auslandseinsatzes in einem Krisengebiet, so gibt Anton an, möchte er sich im Anschluss an den Wehrdienst verpflichten lassen. Dadurch hätte er die Aussiedlung, die für die Eltern auch negative Folgen mit sich brachte (wie die Arbeitslosigkeit der studierten Mutter), umgekehrt und ad absurdum geführt. Denn das Hauptmotiv der Ausreise war ja, durch diese die Einberufung der Söhne in die Armee und einen eventuellen Kriegseinsatz zu verhindern. In dem Wunsch Antons liegt somit auch ein adoleszentes Aufbegehren gegen die Eltern und gegen die Migration – und dies ruft die Eltern und Großeltern (es sei daran erinnert, dass der Großvater schlimme Erlebnisse im Krieg gemacht hat) in Deutschland zum ersten Mal auf den Plan. Sie wollen nicht, dass er sich verpflichtet: „meine Großeltern und Eltern sagen zu mir: Ja, wir haben dich da rausgeholt. [mh] Ja, soll ich jetzt dankbar sein oder was? /lacht/“ (815f). Seine Eltern und Großeltern stellen sich quasi als seine Lebensretter dar: ‚Wir haben dir das Leben gerettet, da wir dich vor der russischen Armee bewahrt haben‘. Bei Anton löst diese Aussage Unbehagen aus und er fragt in einem frechen Tonfall, ob er nun dankbar sein müsse, was er mit einem Lachen begleitet, wodurch eine gewisse Geringschätzung spürbar wird. Anton will seinen Eltern nicht dankbar sein, eventuell da er das Gefühl hat: ‚Ihr rettet mir das Leben, aber nun interessiert sich keiner für mich.‘ Es könnte auch darin stecken: ‚Ich wäre lieber in die russische Armee gegangen, als tagtäglich in Deutschland kämpfen zu müssen.‘ Der Konflikt löst sich in der Weise, dass Anton von der Bundeswehr abgelehnt wird, der Streit wird somit von einer äußeren Instanz entschieden. Dennoch ist dies eine bedeutsame Szene. Es ist das erste Mal, dass Antons Eltern auf ein Aufbegehren des Sohnes in Deutschland reagieren. Wohingegen die vielen Schulabbrüche und die Reisen durch Deutschland unkommentiert blieben, ruft schließlich ein Thema im Kontext von Migration eine generative Haltung hervor. Und in diesem Kontext gelingt es Anton direkt in der Situation, die Haltung seiner Eltern kritisch zu sehen und zu attackieren. Erst nachdem Anton bei den Eltern in Bezug auf ein Thema rund um die Migration auf eine generative Haltung stößt, zeigen seine Eltern Zuneigung, mit der er sich kritisch auseinandersetzen und in der Folge einen erfolgreichen Weg einschlagen kann. In diesem Sinne wird die Bundeswehr zu einem biographischen Wendepunkt, nach dem sich die Situation auf beiden Ebenen – Schule und Familie – stabilisiert.

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Der Beginn des Aufstiegs Nach der Bundeswehr verlässt Anton die Eltern räumlich, indem er mit seiner Freundin zusammenzieht. Diese hat ihre Ausbildung inzwischen beendet und einen gut bezahlten Job angenommen, mit dem sie die Lebenshaltungskosten der beiden finanziert. Anton beginnt nun, seinen Bildungsaufstieg umzusetzen, indem er eine Abendrealschule besucht, auf der er in nur einem Jahr zum Abschluss gelangen kann. Da es sich jedoch um eine Privatschule handelt, muss er monatlich dafür bezahlen. Unterstützung von seinen Eltern erhält er nicht. Anton ist der Realschulabschluss so wichtig, dass er eine schwere körperliche Arbeit auf dem Bau annimmt, um ihn selbst finanzieren zu können. Es ist ihm ernst und er setzt sich für sein Ziel ein. Die Lehrkräfte beschreibt er als engagiert und den Unterricht als sehr gut. „Und es warn auch viele da, die wenig Ahnung hatten und ich hab ihn geholfen [mh] und habe dadurch auch ja, meine, meine Kenntnisse auch verbessert [mh] sozusagen. Aber das war ja Realschulabschluss für mich jetzt, das is ja /lacht auf/ Kinder-, Kinderkram sozusagen. /lacht auf/ [mh]“ (392ff)

Anton macht die Erfahrung, anderen helfen zu können, wodurch das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten wächst, zudem ist es Anlass für sozialen Austausch. Er wird gebraucht. Heute, da er studiert, sieht er die Realschule als „Kinderkram“, damals war der Abschluss, den er quasi mit vier Jahren Verspätung macht, sicher ein großer Erfolg und ein bestätigendes Gefühl der eigenen Kompetenzen. Zudem, da sein NC für die Aufnahme am Gymnasium reicht und er den geplanten Weg somit nahtlos weiterverfolgen kann. Zu dieser Zeit wendet Anton sich von seinem ‚Russischsein‘ ab. Nachdem seine Träume nach der Einreise geplatzt sind, habe er als Russe gelebt. Damit hing zusammen, dass er sich von der autochthonen Gesellschaft distanzierte. Ebenso würden es seine Eltern seitdem tun und hätten sich nicht integriert, so Anton. Im Zuge seines geplanten Aufstiegs jedoch, habe er die russische Seite „irgendwie von mir weggeschubst [mh]“ (475). Er stellt es so dar, als sei dies leicht für ihn, da er z.B. die deutschen Schriftsteller ohnehin mehr schätze. Die Wortwahl ‚wegschubsen‘ hat jedoch etwas Gewalttätiges und enthält ein Moment des aktiven Tuns, um das man sich bemühen muss. Als Begründung führt er an, dass er ein „bisschen Deutsch werden“ (4765f) wolle, „weil ich das irgendwie schaffen muss, sonst, sonst /lacht auf/ kann ich nich Deutsch lernen und sonst kannst, sonst kann ich nich äh irgendwie mit anderen Menschen zu sprechen (.)“ (476f). Um in Deutschland erfolgreich zu sein, müsse man sich anpassen und die Herkunft ‚wegschubsen‘. Dadurch kommt es auch zu Auseinandersetzungen mit seinen Eltern.

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„Also mein Vater auch, aber äh, wenn ich zum Beispiel in einer russischen Gesellschaft so äh bin, wird irgendwie gesagt: Ja, die Deutschen sind so doof und so doof [mh] und die machen so einen Scheiß“ (489ff). Anton will beginnen, näher von seinem Vater zu sprechen, verallgemeinert es dann jedoch, als wolle er diesen vor der deutschen Interviewerin nicht bloßstellen. Anton erzählt daher allgemein, dass in russischer Gesellschaft oftmals schlecht über Deutsche gesprochen werde. In solch einer Situation habe er ‚die Deutschen‘ in Schutz genommen. Diese Parteinahme habe dazu geführt, dass er von ‚den Russen‘ „nich verstanden wurde“ (498). Zum wiederholten Male zeigt sich hier das ‚Nichtverstandenwerden‘ als übergeordnetes biographisches Thema. Allerdings führt dies nicht erneut zu einer Beziehungslosigkeit mit den Eltern. Vielmehr können sie über dieses Thema nun miteinander diskutieren, etwa darüber, dass die Haltung der Eltern auch mit ihrer sozialen Position in Deutschland zu tun hat. Erneut hat Anton ein Feld gefunden, auf dem er sich mit seinen Eltern und ihren unterschiedlichen Ansichten auseinandersetzen kann und erneut steht dieses im Zusammenhang mit der Migration. Die Themen ‚Ausreisemotiv‘ und ‚Zugehörigkeitskonstruktionen‘ rufen die Eltern auf den Plan und ermöglichen Anton eine produktive Reibung. Dadurch ist ein Ausagieren im schulischen Rahmen nicht mehr vonnöten und er kann sich ganz auf die Abendrealschule einlassen. Auch von autochthoner Seite macht er die Erfahrung von Fremdheitszuschreibungen: „Und dann auch viele Einheimischen zum Beispiel, die möchten ja in Dir den Russen sehn [mh] und nich den, den Deutschen, Russlanddeutschen irgendwie. Also ich hab mal in auf dem Bau gearbeitet mit einem Deutschen […] Und dann hab ich mit ihm gesprochen und dann fragt er: Woher kommst du? Und ich sagte so: Ja, irgendwann mal bin ich aus Russland gekommen. Und irgendwie wollte er nicht wissen, was, was ich irgendwas so machen, er wollte wissen: Ja, wie viel trinkst du Wodka und so? /lacht/ [mh, ja] Und ich trinke überhaupt kein Wodka, also, /lacht/ [lacht auf] jetzt nicht mehr, /lacht auf/ aber damals, also äh- (.) Du willst so gesehn werden, also die wollen dich so sehn, [ja] als kleiner Russe, der irgendwie Wodka trinkt und äh, weiß nich. [mh] Ja. (5)“ (453ff)

Anton möchte mit dem deutschen Kollegen ins Gespräch kommen, macht jedoch die Erfahrung, dass er von diesem nicht als ‚Person an sich‘ wahrgenommen wird, sondern für diesen nur interessant ist in Bezug auf zugeschriebene ‚typisch‘ russische Verhaltensweisen. So wie Anton es beschreibt, wird er sowohl von Autochthonen als auch von Allochthonen nicht verstanden, wobei diese Verkennung und das ‚nicht-verstehen-Wollen‘ von ihm als belastend empfunden werden. Offen bleibt, ob es auch Personen gibt, bei denen es anders ist, etwa seine Freundin; dazu erzählt er jedoch nichts.

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Das Erreichen des Abiturs – „Ich bin Gott. /lacht/“ Darauf besucht Anton drei Jahre lang ein Aufbaugymnasium. Auf dieser Schule sind viele „Russen“ (441): „Erstmal war ich sehr erfreut, [mh] dann, dann war das irgendwie für mich nich so mein Ding, weil (.) man konnte nich mehr Deutsch sprechen, reden in, in der Schule. [mh] Also es war, (2) also es war, du wurdest von den umgeben sozusagen. /lacht/ [ja] (4)“ (441ff)

Anton beschreibt es so, als werde er von russischsprechenden Personen umzingelt und bedroht. Obgleich ihn ihre Anwesenheit an sich freut, meidet er den Umgang mit ihnen, opfert diese Beziehungen seinem Wunsch nach Erfolg, wie es zuvor als Abkehr vom Russischsein ausgeführt wurde. Dadurch wirkt er strategisch und zielorientiert. Den Unterricht auf dem Gymnasium empfindet Anton als anregend. Die größte Leidenschaft entwickelt er für das Fach Deutsch: „Und ich hab in dem Gymnasium zum Beispiel Schiller gelesen, ich hab Goethe gelesen, ich hab, ich weiß ich nich, Lessing gelesen, das fand ich am besten, /lacht auf/ also für mich“ (483ff). Mit Lessing nennt er einen bedeutenden Dichter der Aufklärung. In seinen Werken sind der Gedanke der Freiheit und die Kritik an Willkürherrschaft (z.B. ‚Emilia Galotti‘) zentral. Lessing spricht sich für eine Akzeptanz der Verschiedenheit aus (z.B. ‚Nathan der Weise‘) und plädiert dafür, Dinge stets von mehreren Seiten zu betrachten (vgl. Misdorf 2006). Angesichts dieser Charakterisierung überrascht Antons Interesse dafür nicht. Offenbar findet er in der Literatur Themen, die ihn selbst beschäftigen. Im Interview stellt er sich mit Nonchalance als Kenner klassischer deutscher Literatur dar, indem er sich z.B. wie oben dargestellt, mit Goethes ‚Werther‘ vergleicht. Der souveräne Umgang damit, etwa, wenn er im Kontext der ‚Ordner-Geschichte‘ seine Irritation über die LehrerInnen auch mit seinen Erkenntnissen aus Lessings Werken begründet, dient auf der Erzählebene der Bloßstellung der Lehrkräfte, ebenso wie es seine sarkastischen Formulierungen tun. In der Schule macht es ihm große Freude, Romane und Poesie sowie philosophische Fragestellungen zu interpretieren. Dies habe er „nach meiner Art“ (958f) gemacht und von den LehrerInnen gesagt bekommen, dass seine Interpretationen falsch seien und schlechte Noten dafür erhalten. Man könnte darüber diskutieren, ob persönliche Interpretationen ‚falsch‘ sein können. Doch auch die negative Bewertung kann seiner Freude daran nichts anhaben. Losgelöst davon geht es ihm um sein Empfinden („Aber ich bin mit mir zufrieden, dass ich das irgendwie gemacht hab, (.) war ganz schön, obwohl ich eine Vier oder Fünf hatte, hat mir das gefallen. [mh]“, 965ff). In Russland hingegen, so Anton, werde im

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Unterricht nicht interpretiert und dürften gewisse Dinge nicht infrage gestellt werden – daher empfindet er den Unterricht in Deutschland als Erweiterung seines Denk- und Möglichkeitsraumes. Auch das System an sich betrachtet er mit Wohlwollen, „weil ich, weil ich diesen Weg sowieso gehen konnte, weil sonderlich irgendwie in Russland darf man das nich machen. Gibt nicht, nich so viel Weg zu diesem Ziel. [mh] Hier konnt ich da, da, da und irgendwie sowieso durchkommen. [mh] (.)“ (674ff). Anton hat negative Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem gesammelt, aber in dessen Vielfalt steckt für ihn auch ein Gewinn, denn so führt er als Vergleich an, dass es in Russland nicht so viele Möglichkeiten gebe, einen bestimmten Schulabschluss zu erreichen. Das heißt, dort hätte er einen vergleichbaren Weg zum Erfolg nicht gehen können. Auf der anderen Seite wäre es in Russland vermutlich auch nicht nötig gewesen, denn dort hat er bereits die achte Klasse beendet, hätte die Schule zu Ende machen und dann studieren können, ohne Umwege gehen zu müssen. In einer nonchalanten Art gibt Anton immer wieder an, dass er etwas faul sei, z.B.: „War nich so mein Ding, so Hausaufgaben machen. /lacht/“ (53), „ich kann irgendwie Strebheit nich nachvollziehn“ (615f) oder beschwert sich darüber, dass er schon um acht Uhr morgens im Gymnasium sein muss. Diese nonkonforme Haltung hat ihren Ursprung vermutlich bereits in der Kindheit, denn auch in Russland war er kein fleißiger Schüler und bei weitem nicht so erfolgreich wie der Bruder. Anton will zwar auch erfolgreich sein, aber den Erfolg nicht wie der Bruder erreichen. Er ist geworden wie er ist, weil er nicht werden wollte wie der Bruder (vgl. Mann 2001, 580). Aufgrund seiner Arbeitshaltung und Beziehungsproblemen während der Abiturprüfungen, erhält er am Ende einen Durchschnitt von 3,0. Der Abschluss stellt für ihn eine große Bestätigung dar, sodass er denkt: „Ich bin Gott. /lacht/ [lacht] (2)“ (584). Mit 24 Jahren hat Anton sein Abitur bestanden. Durch die Ausreise und ‚Zwischenfälle‘ in Deutschland hat er etwa sieben Jahre länger gebraucht als er in Russland bis zum Abschluss benötigt hätte, der für ein Studium berechtigt. Nun, da er am Ziel ist, ist er überglücklich, zufrieden und äußert Allmachtsphantasien. Dass der Durchschnitt nur mittelmäßig ist, spielt keine Rolle, er hat es geschafft und seine Fähigkeiten somit allen bewiesen: Dem Lehrer, der ihm wegen eines fehlenden Ordners eine Sechs gab, den Schulleitern, die ihn von der Schule schmissen, seinen Eltern, die ihre Hoffnungen immer nur auf den Bruder legten. Allerdings fällt die Anerkennung durch sein Umfeld eher gering aus. Die Eltern kommentieren das Abitur mit: „Na, endlich!“ (876) und wohingegen er gerade am schwierigen Anfang seines Studiums steht, hat sein Bruder das Bachelorstudium bereits abgeschlossen. Die fehlende Wertschätzung seines Erfolgs mag kränkend für ihn sein.

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Ein Platz wird frei – der Bruder wird zum „Sonderling“ der Familie Der ältere Bruder ist formal erfolgreich, indem er trotz der Migration im Jugendalter bereits seinen Master absolviert, doch ist er der Familie in der letzten Zeit zunehmend menschlich fremd geworden: „Aber mein Bruder zum Beispiel, […] er ist ein Beispiel für äh geglückte Integration. [aha] Er wurde sofort in Gymnasium A angenommen. […] Der hatte Abi gemacht ohne Zwischenfälle. [mh] Äm, dann hat er studiert, jetzt hat er Bachelor geschrieben [mh] im November. Hat er auch wegen, wegen Bundeswehr bisschen verloren, Zeit. [mh] Jetzt mach er Master, hat deutsche Freunde, /lacht auf/ lebt irgendwie schön, aber ja. /lacht auf/ Er ist der Sonder-, Sonderling [lacht auf] in unserer Familie. /lacht auf/ [mh] Ja.“ (633ff)

Stephan ist integriert, z.B. auch sprachlich, er ist so, wie die Mehrheitsgesellschaft es sich wünscht (unauffällig, angeglichen) und auch so, wie Anton es sich zunächst gewünscht hatte, aber für sich nicht umsetzbar findet. Zudem, so spricht Anton betont aus, habe dieser deutsche Freunde. Dies steht sowohl im Gegensatz zu ihm als auch zu seinen Eltern. Anton evaluiert an anderer Stelle: „mein Bruder is integriert [mh] und kann auch Deutsch ohne Akzent sprechen, [mh] /lacht auf/ auch so ein Ding. Aber ja. /räuspert sich/“ (840f). Durch einen Städtewechsel hat der Bruder zusätzlich eine räumliche Trennung von der Familie vollzogen. Es hat sich demnach erfüllt, dass er die ‚Hoffnung der Familie‘ geworden ist, jedoch auf Kosten einer Assimilation, durch die er sich gleichzeitig von der Familie entfernt hat. Nun ist es der Bruder, der der „Sonderling“ der Familie ist. Dies meint einen Menschen, der „durch sein sonderbares, von der Norm stark abweichendes Wesen auffällt“ (Duden online 2017). Geglückt integriert zu sein wäre demnach nicht normal, sondern ein Sonderfall. Die Mutter ist seit der Umschulung arbeitslos und übernimmt nur gelegentlich kleinere Aufträge für Freunde oder hilft ehrenamtlich in einer sozialen Einrichtung. Wohingegen die Eltern in Russland formal-beruflich auf einer Ebene standen, befindet sich die Mutter in Bezug auf diese nun unterhalb des Vaters. Dieser ist immer noch in der gering bezahlten Arbeit tätig. Darüber hinaus ist es ihnen nicht gelungen, sich zu integrieren, so sagt Anton. Sie führten vielmehr ein ‚russisches Leben‘ in Deutschland, hätten nur russische FreundInnen und an ‚den Deutschen‘ so einiges auszusetzen. Anton erklärt hingegen, fortan eine Mischung zwischen Deutsch und Russisch leben zu wollen, denn „dann hab ich verstanden, dass das [die russische Seite ganz abzuschütteln, JZ] nich geht. Das jetzt geht es nich. [ja] Das kann ich jetzt nich mehr irgendwie. Das is zu, zu großer Widerstand sozusagen. /lacht/ Ich weiß nich, in mir /lacht/ oder in der Umgebung. [mh] Ja.

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(.)“ (486ff). Er merkt, dass es ihm nicht möglich ist, seine russische Seite abzulegen, ebenso, wie es ihm nicht möglich war, Russisch nach einem halben Jahr zu vergessen. Der Bruder unterwirft sich dem deutschen Schul- und Hochschulsystem und ist auf diese Weise erfolgreich. Seine Eltern sind die Absteiger, sein Bruder der Aufsteiger, Anton nimmt eine Mittelstellung ein und hält somit die Familiendynamik in Balance. Auch in Hinblick auf die Zugehörigkeit: Seine Eltern leben als ‚Russen‘, sein Bruder als ‚Deutscher‘ und Anton lebt eine Mischung aus beidem. Diese ermöglicht ihm den Aufstieg und verbindet ihn dennoch mit seinen Eltern. Der Platz des Bruders wird letztlich durch Folgen der Migration frei und das Verhältnis zwischen Anton und seinen Eltern verbessert sich merklich: „Jetzt, jetzt, als ich Abi machte, is irgendwie das so gekommen, dass ich ein gutes Verhältnis mit meinen Eltern hatte. [mh] Nicht Elternverhältnis, sondern so freundschaftliches Verhältnis. [mh]“ (675ff)

Über Jahre, bereits in Russland und später in Deutschland, hatte Anton eine sehr schlechte Beziehung zu seinen Eltern. Nun spricht er erstmalig wieder von einem guten Verhältnis. Dabei handele es sich jedoch nicht um ein gutes Eltern-KindVerhältnis, sondern um eines auf freundschaftlicher Basis. Dies ist eventuell ein Ausdruck dessen, dass er nach den negativen Geschehnissen in den letzten Jahren nicht schlicht zu einem guten Eltern-Kind-Verhältnis zurückkehren kann und es daher einen qualitativen Unterschied geben muss. Allerdings steht es auch für eine Transformation der Beziehung – weg von einer hierarchischen hin zu einer egalitären Ebene. Insofern würde seine Formulierung für einen produktiven Wandel der Beziehung stehen, bei dem seine Eltern ihn als erwachsen und ernstzunehmend betrachten. Er charakterisiert ihre Freundschaft dadurch, dass sie sich nun häufiger treffen und anregende Gespräche führen würden: „mit meinem Vater interpretiere ich vieles, das is meine Lieblingsbeschäftigung, [mh] mit meiner Mutter-, mit meinem Vater spreche ich vor allem über Naturwissenschaften und Politik. [mh] Und mit meiner Mutter spreche ich über mh Menschen und so überhaupt über diese Menschenverhältnisse *und wie kann das sein, ein bisschen so gesellschaftlich, [mh] Soziologisches*. [mh] /lacht/ Ja. [ja]“ (719ff) „Und kann ich, ich kann mit meinem Vater gut über Politik unterhalten und über irgendwie Klimawandel oder noch irgendwas. /lacht auf/ [mh] Wir sprechen auch viele, mein Großvater is auch so einer, der immer gelernt hat, is auch so, weiß ich nich, Professor oder so, /lacht auf/ der auch viel erklärn kann [mh] oder erzähln kann von seiner Geschichte vom Krieg, vor dem Krieg, nach dem Krieg. [mh] Und wenn wir immer zusammensitzen, Feiertag oder einfach so, wird schon gut diskutiert und irgendwie gestritten und über Politik, viel über Politik. [mh] Sowohl in Deutschland, in Amerika, in Russland, alles, alles. [aha] Ja. (3)“ (679ff)

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Es findet eine Anknüpfung an die positiven, verbindenden Erlebnisse in der Kindheit statt. Damals hat er es genossen, vom Vater zum Fragen stellen angeregt zu werden. Nun debattiert er mit den Eltern (und dem Großvater) über vielerlei Themen, die ihn interessieren und die er inhaltlich jeweils einer Person zuordnet. Vom Erklären sind sie zum Diskutieren gekommen, was zugleich seinen Positionswechsel vom Kind, dem die Älteren etwas erklären, zum jungen Mann, der gemeinsam mit den Älteren die Dinge auseinandernimmt, verdeutlicht. Dabei werde auch gestritten, jedoch auf eine konstruktive und anregende Art. Studienbeginn und offenes Ende Mit Bestehen des Abiturs stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Anton ist hat nun die Möglichkeit, die er die ganze Zeit über erreichen wollte: er kann studieren. Damit kommt er auch den elterlichen Aspirationen nach, ohne sich jedoch auf diese zu beziehen. Die Rekonstruktion erweckt nicht den Eindruck, Anton wolle ‚nur‘ für seine Eltern studieren oder weil es sein Bruder tut. Vielmehr erscheint es als eigensinniger Plan, der vor allem auf dem Wunsch gründet, seine Fähigkeiten und Interessen zu nutzen und einmal ein besseres Leben führen zu können. Zunächst hat Anton vor, Management zu studieren: „Da [nach dem Abitur, JZ] dachte ich: Ich bin Gott, dann fang ich Management an, dann werd ich alle hier fertig machen. /lacht/ [lacht auf] Wie die mich, wie die mich äh irgendwie fertiggemacht haben, als ich da auf dem Bau geschuftet hab“ (592ff). Diese Erfahrung muss ihn so tief gekränkt haben, dass er bis zum Zeitpunkt des bestandenen Abiturs immer noch Gedanken der Rache in sich trägt. Dann hätten sich bei ihm jedoch Skrupel eingeschlichen. Seine Eltern hätten ihm geraten: „Studier, was du willst. [mh] Also, egal was“ (629). Schließlich entscheidet er sich für das Fach Biochemie, obgleich der NC dafür an den meisten Studienorten um 1,0 liegt. Aus neun Städten hat er bereits eine Absage erhalten, als sich als letztes ausgerechnet die Universität meldet, die sich an seinem Wohnort befindet und ihm einen Platz anbietet. Die Freude darüber wird dadurch getrübt, dass er den Platz wohl nur durch einen „Fehler […] in der System“ (613f) erhalten hat. Im Grunde ist er fehl am Platz und nicht willkommen. Seine Mitstudierenden sind wesentlich jünger als er und Einser-Abiturienten, sodass er nicht wirklich dazugehört und keinen Anschluss findet. Wie im Verhältnis zum Bruder, sind die anderen immer besser als er. Dieses Ausgeschlossensein macht er damit wett, dass er die anderen Studierenden pauschal zu Strebern erklärt und ihr Verhalten abwertet. Er berichtet nicht über Freundschaften mit den KommilitonInnen, vielmehr macht er eine Dichotomie im Sinne von ‚ich und sie‘ auf. In Abgrenzung zum strebsamen Bruder und den ebensolchen Mitstudierenden habe er „mein Leben lang nie, nie gelernt“ (616)

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und keine Hausaufgaben gemacht. Und er könne sich auch nicht vorstellen, „nach der (.) Vorlesung nachhause zu kommen und das alles noch durcharbeiten“ (618f). Zum aktuellen Zeitpunkt bleibt offen, auf welche Weise sich Antons Bildungsweg fortsetzen wird. Das Studium kann ein Bildungsmoratorium darstellen, eine Phase in der die Heranwachsenden (in Abhängigkeit von der sozialen Lage) noch nicht alle Verantwortungen eines üblichen Erwachsenenlebens übernehmen müssen und sich bilden, ausprobieren und entfalten können. Anton, der auf der Suche nach seinem Weg ist, würde so ein Bildungsmoratorium sehr gerne für sich nutzen und ohne Effektivitätsdenken, parallel Seminare anderer Studiengänge belegen, wie philosophische Veranstaltungen. Er will ein Leben, in dem er täglich „Neues lernen“ (941) und sich „selber auf den Prüf-, Prüfstand stelle[n]“ (955) kann. Anton möchte das Studium als „Chance der biografischen Entfaltung und der Persönlichkeitsfindung“ (Hurrelmann 2004, 105) nutzen, doch sein Moratorium wird durch den Druck von außen eingeschränkt. „*Und manche wissen nich, dass ich das nich vielleicht schaffe dieses Semester*. Das is auch so eine Sache, die, die Eltern und die Freundin, die hat irgendwelche Erwartungen, [mh] dass ich jetzt schaffe, das alles schaffen muss. /räuspert sich/ Ein Druck sozusagen [mh] is erstanden und jetzt kann ich weg von diesem Druck nicht kommen“ (933ff)

Anton spricht selten leise im Interview, im Zusammenhang mit dem Studium jedoch schon zum zweiten Mal, was deutlich macht, wie belastend dieses Thema für ihn ist. Er gibt an, dass „*manche*“ nicht wüssten, dass er das Semester vielleicht nicht schafft. Auffällig ist, dass er gerade mit den für ihn wichtigsten Personen offenbar nicht über seine Schwierigkeiten im Studium und die Angst vor dem Versagen sprechen kann, was als belastend vermutet werden kann. Wahrscheinlich meint er mit dieser verschleiernden Formulierung die im nächsten Satz angesprochenen Eltern und Freundin. Diese arbeitet inzwischen in einer leitenden Position; er hat mit Mitte zwanzig gerade erst zu studieren begonnen. Sie erwartet, dass er das Studium schnell absolviert, um dann für eine künftige Familie sorgen zu können. Dies löst Druck auf Anton aus. Im Zusammenhang mit den vielen Schuljahren hat er einen solchen nicht erwähnt, es scheint, als sei sein bisheriger Weg so weit von der Norm entfernt gewesen und wirkte nach außen so fragil, dass keine besonderen Erwartungen an ihn formuliert wurden. Nachdem er aber nun das Abitur erreicht hat und ins Studium eingetreten ist, beginnt der Druck. Würde er wie die Freundin eine Ausbildung machen, würde er zumindest schon etwas verdienen, doch beim Studium ist dies nicht so. Da seine Partnerin vier Jahre älter und somit schon Ende Zwanzig ist, denkt sie an die Familiengründung:

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„Es is wenig Zeit geblieben. [ja] Obwohl ich, ich weiß ja, dass ich jetzt fünfundzwanzig Jahre bin, ich muss ja irgendwie und meine Freundin fordert auch ein, dass ich die Familie irgendwie übernehmen und irgendwie dazu irgendwie verdienen muss, obwohl sie gut verdient. [mh] Ich hab schon ihr Angebot gemacht, dass ich als Hausmann zuhause bleibe, /lacht/ [lacht auf] da sie gut verdient. /lacht/ Ich kann mir gut vorstellen“ (948ff)

Antons Bildungsaufstieg scheint bei der Freundin wenig erwünscht. Es wäre ihr lieber, er würde ‚einfach‘ arbeiten und Geld verdienen und damit zur Existenzsicherung beitragen. Diesem Druck versucht Anton zu entgehen, indem er vorschlägt, als Hausmann zuhause bleiben zu können, was von der Freundin jedoch abgelehnt wird. Er bietet ihr an, die Rolle zu übernehmen, die klassisch der Frau zugeschrieben wird, während sie den gesellschaftlich männlich konnotierten Part beibehält und das Geld verdient. Es wird deutlich, wie wenig Anton an der traditionellen Rollenverteilung festhält. Dabei ist auch diese mit Verantwortung verbunden, vor allem für das Kind/die Kinder, jedoch bei gleichzeitiger Befreiung vom täglichen Arbeitsleben. Damit vertritt er zugleich ein Männlichkeits- und Vaterbild, das in Russland wenig üblich ist. 6.2.4 Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte Die selbstgestaltete Eingangserzählung von Anton ist mit 27 Zeilen auffällig kurz, wobei sogar nur zwei Zeilen dem Leben in Russland gewidmet sind. Die Migration wird lediglich als Datum benannt, aber weder als zentraler Wendepunkt noch als besonderer Einschnitt dargestellt. Stattdessen macht Anton seinen umwegreichen Bildungsweg in Deutschland zum Thema seiner Selbstpräsentation. Er berichtet von zehn unterschiedlichen Bildungsinstitutionen, die er besucht, abgebrochen, gewechselt und abgeschlossen hat oder verlassen musste. Das mehrmalige Scheitern ‚rechtfertigt‘ er nicht damit, dass er migriert ist und z.B. die deutsche Sprache neu erlernen musste, sondern erklärt es als Folge seines Verhaltens (schwänzen) oder ‚interessanter Geschichten‘, die er nur als solche andeutet, aber nicht ausführt. Insgesamt, so zeigt die Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte, bettet Anton seine Selbstpräsentation in das thematische Feld: ‚Mein komplizierter, aber letztlich erfolgreicher Weg bis zum Studium‘; als zentraler Wendepunkt hin zum Erfolg wird die Bundeswehr benannt. Für den Kontrast mit der erlebten Lebensgeschichte stellt sich die Frage, wie sich der Wandel zum positiven Bildungsweg genau vollzogen hat und welche Rolle die Bundeswehr dabei gespielt hat – denn betrachtet man nur die biographischen Daten, würde man erwarten, dass es negativ weitergeht. Auffällig ist zudem, dass in der Eingangserzählung ganz klar das Personalpronomen ‚ich‘ dominiert und kein anderer Mensch

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direkt Erwähnung findet. Durch das völlige Fehlen anderer Personen erscheint Anton losgelöst und vereinzelt und es ist zu klären, wie dies in seine Lebensgeschichte eingebettet ist. Zu fragen ist auch, warum die Selbstpräsentation derart kurz ausgefallen ist. Auf der Ebene der erlebten Lebensgeschichte lassen sich für die ersten ca. zehn Lebensjahre Antons schöne gemeinsame Erlebnisse mit den Eltern und Großeltern, wie Ausflüge in die Natur, finden. Vor allem die Beziehung zum Vater wird positiv geschildert; Anton liebt es, mit diesem die Welt zu entdecken. Als negativ wird seit jeher die Beziehung zum zwei Jahre älteren Bruder Stephan beschrieben. Dieser müsse aufgrund diverser gesundheitlicher Empfindsamkeiten geschont werden und sei zugleich in Bezug auf Bildung die ‚Hoffnung der Familie‘. Der ältere Bruder ist ein Einser-Schüler, Anton hingegen zeigt eher mittelmäßige Leistungen. Seine Eltern haben als Bildungsaufsteiger beide ein Studium absolviert und wünschen sich von den Söhnen eine Reproduktion des Erfolgs. Parallel zur Verschlechterung von Antons schulischen Leistungen wird auch die Beziehung zu den Eltern schwieriger, es werden Druck und Gewalt ausgeübt. Immer wieder kommt es zu Ungleichbehandlungen der Brüder. Dass diese von den Eltern ausgehen, kann Anton jedoch nicht erfassen, stattdessen projiziert er die Wut über die Benachteiligung auf den Bruder. Wann immer es geht, verbringt Anton die Zeit allein draußen in der Natur, wird zu einem ‚Eremiten‘; Freundschaftsbeziehungen werden nicht ausgeführt. In einer Konfliktsituation reißt Anton von zuhause aus. Die Analyse spricht dafür, dass er den Eltern damit (auch einmal) Sorgen bereiten und von ihnen ‚gerettet‘ werden will – was jedoch nicht geschieht. Dies stellt für Anton bis heute ein einschneidendes Erlebnis dar. Er möchte in der Erzählsituation deutlich machen, dass er sich (spätestens ab diesem Vorfall) als unabhängig von anderen Personen bzw. der Familie betrachtet. Eine Selbstdarstellung, die mit den Beobachtungen in der Eingangserzählung korreliert, in der er seine Lebensgeschichte auffällig losgelöst von anderen Personen entwickelt. Die Rekonstruktion der Textstelle zeigt jedoch, dass Anton für sein weiteres ‚Überleben‘ quasi gezwungen ist, das Alleinsein mit Autonomiebestreben zu belegen. Ein anderes Mal, als er 13jährig von seinem Vater mit einem Gürtel geschlagen wird, gibt er an, diesem sein Vatersein abgesprochen zu haben und für einige Zeit zur Oma gezogen zu sein. Anton beendet die Darstellung dieser Szene auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte mit einer Verknüpfung zur Migration, die zur geforderten Entschuldigung des Vaters und einer Art Wiedergutmachung der Gewalt wird. Obgleich die Entscheidung zur Migration von den Eltern alleine getroffen wurde, vor allem um die Söhne dadurch vor einem potentiellen Kriegseinsatz zu bewahren, gibt Anton an, die Migration begrüßt zu haben. Auffällig ist der wiedergegebene Wunsch des 14-Jährigen, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen

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und noch einmal neu anzufangen. Dies kann als Ausdruck eines frühadoleszenten Wunsches nach ‚Neuschöpfung‘ gelesen werden. Aufgrund der eher negativen Erlebnisse der letzten Jahre, sieht Anton das ‚neue Leben‘ in Deutschland offenbar als eine Art zweite Chance. Dort wird die Familie zunächst in einer Unterbringung für Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und SpätaussiedlerInnen einquartiert und lebt anschließend längere Zeit in einer Notwohnung in einem Lager. Diese monatelange Segregation steht dem erfolgreichen Einleben in Deutschland entgegen. Anton kann nicht als ‚Deutscher unter Deutschen‘ leben, wie er es als Wunsch formuliert hat, sondern lebt segregiert als ‚Migrant unter Migranten‘. Dem Bruder wird der Anschluss leichtgemacht, indem er seinen Weg sogleich auf einem Gymnasium fortsetzen kann. Anton hingegen, der in Russland die achte Klasse bereits abgeschlossen hat, wird nach einem halben Jahr in einer Vorbereitungsklasse in die siebte Klasse versetzt und somit um zwei Jahre zurückgestuft, was als Form institutioneller Diskriminierung gedeutet werden kann. So reproduziert sich die Ungleichbehandlung auch institutionell, der Bruder bleibt die ‚Hoffnung der Familie‘, Anton erfährt Benachteiligung. In dieser Zeit „entgleist“ (535) Anton, indem er seine Zeit mit delinquenten Freunden aus dem russischen Lager verbringt und große Mengen hochprozentigen Alkohols konsumiert. Das Verhältnis zur Familie bleibt schlecht und da die Eltern damit beschäftigt sind, Sprachkurse zu absolvieren, um rasch an ihre guten beruflichen Positionen in Russland anknüpfen zu können, kommen sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nach und lassen ihn gewähren. Es zeigt sich eine Zuspitzung der Konflikte infolge der Migration, der erhoffte Neuanfang scheitert. Die Beziehung zur Familie war in Russland durch Auseinandersetzungen geprägt, nun scheint sie nicht einmal mehr vorhanden, die Eltern werden zur Leerstelle. Versinnbildlicht wird dies durch Fotografien aus jener Zeit, auf denen immer nur die Eltern und der Bruder zu sehen sind, Anton aber fehlt. Die Generationenbeziehung ist aufgehoben, wobei die äußerliche Loslösung Antons nicht als gelungene Ablösung missgedeutet werden darf. Aus einer nicht vorhandenen Beziehung kann man sich kaum produktiv ablösen. Das Verhalten, das er in den folgenden Jahren zeigt, wirkt wie der Versuch, sich sichtbar zu machen. Insgesamt fällt auf, dass er die Geschichte seiner Eltern und seines Bruders in Deutschland getrennt von der seinen erzählt. Dadurch wird die in der erlebten Lebensgeschichte nicht vorhandene Beziehung zu diesen auch in der erzählten offensichtlich und zudem das Fehlen anderer Personen und der gewonnene Eindruck einer Vereinzelung Antons aus der Selbstpräsentation noch einmal nachvollziehbar. In den folgenden fünf Jahren besucht Anton mehrere unterschiedliche Bildungsinstitutionen, die er entweder abbricht oder aufgrund von Schwänzen, schlechten Leistungen oder Fehlverhalten verlassen muss. Wiederholt begehrt er

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gegen bestehende Regeln auf. Mit 17 Jahren wendet er sich einer russischsprachigen Internetplattform zu und fährt immer wieder spontan deutschlandweit mit dem Zug, um seine neuen Bekannten zu treffen, was er selbst als bereichernd empfindet. Oftmals fährt er ohne Fahrkarte und hat kaum Geld für Essen und Trinken bei sich. Zur Schule geht er in dieser Zeit nicht. Diese Phase, die als radikale und teils gefährliche Form eines selbst gewählten „Sozial-aus-dem-Spiel-Seins“ (Bourdieu 1980, 138) betrachtet werden kann, dauert fast eineinhalb Jahre und wird von den Eltern gebilligt. Der Ausreißer Anton wird erneut nicht zurückgeholt. Dadurch bieten sie ihrem Sohn zwar einen Freiraum, aber wieder ohne gleichzeitig der generativen Aufgabe nachzukommen, Halt zu geben und Grenzen zu setzen, wodurch dieser nicht unbedingt als förderlich für die Ablösung zu sehen ist. In der damaligen Situation ist Anton wie abgeschnitten von seinen Eltern und reflektiert ihr Verhalten nicht. Erstmalig durch das Erzählen im Interview wird Anton vom Vorgehen der Eltern ‚plötzlich‘ irritiert und beschließt, mit ihnen darüber reden zu wollen („irgendwie muss ich mit meinen Eltern auch darüber sprechen. /lacht/ [lacht] Glaube ich. (.) Jetzt muss alles rauskommen, was damals gelaufen ist. /lacht/“, 733f). Eventuell ist dies der Anstoß eines Bildungsprozesses. Zurück von diesen Reisen kommt es auf der nächsten Schule erneut zu einem „Zwischenfall“ (u.a. 21). Diesen spricht Anton bereits in der knappen Selbstpräsentation als „interessante Sache“ (22) an und gibt ihm dadurch eine besondere Relevanz. Diese zeigt sich ebenso auf der Textebene, da es sich um die längste zusammenhängende Narration des gesamten Interviews handelt. Aufgrund von Streitigkeiten mit einem Lehrer um einen nicht mitgebrachten Ordner, fühlt Anton sich unverstanden und verletzt. Die Rekonstruktion hat deutlich gemacht, dass die Beziehungslosigkeit zu den Eltern so grundlegend ist, dass sich die adoleszenten Auseinandersetzungen auf eine andere intergenerationale Ebene verschieben: die Schule/LehrerInnen. Anton will sich sichtbar machen, seine Grenzen austesten und wählt dafür den Raum der Schule, der ebenfalls generative Strukturen enthält. Anders als in Bezug auf die Eltern, stellt er das Verhalten des Lehrers bereits in der damaligen Situation infrage. Wenige Tage nach dem Schulamoklauf von Erfurt mit zahlreichen Toten, erklärt Anton dem Lehrer, dass er diese Tat gut verstehen und so etwas auch an dieser Schule passieren könne. Diese Gewalt- und Allmachtsphantasien können als Reaktion auf die Kränkung verstanden werden. Da der Lehrer dies als Drohung empfindet, kommt es zu einer offiziellen Anhörung, nach der Anton die Schule verlassen muss. Dass diese Szene so ausführlich dargestellt wird, kann damit zusammenhängen, dass es zentral um das Thema (nicht) verstanden-Werden geht, das sich bei Anton als übergeordnetes biographisches Thema ausmachen lässt. Dabei beschreibt er, von unterschiedlichen Gruppen nicht verstanden zu werden bzw. diese nicht zu verstehen. Er erfährt Diskriminierung durch Autochthone, die ihm vermeintlich typisch ‚russische‘ Verhaltensweisen

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zuschreiben und wird ebenso von Russischsprachigen kritisiert, etwa für sein Interesse an deutscher Literatur. Vor diesem Hintergrund kann der telegrammartige Einstieg in das Interview als eine Art Test der Interviewerin verstanden werden. Anton möchte zunächst wissen, mit wem er es zu tun hat, ob sie versucht, ihn zu verstehen und ein wirkliches Interesse an ihm bzw. seiner Geschichte hat. Mit seinem Wunsch, verstanden zu werden, könnte auch das bestärkende Verhalten der Interviewerin nach dem Interview erklärt werden. Ursächlich kann dafür sein, dass Anton einige der Beziehungserfahrungen mit seinen Eltern bis heute nicht reflexiv bearbeitet hat. Nach dem Rauswurf kommt Anton in die Bundeswehr, die er bereits in seiner knappen Eingangserzählung als Wendepunkt seiner Geschichte hervorgehoben hat und die auch in der erlebten Lebensgeschichte zu einem solchen wird. Er nutzt die Zeit ohne weitere soziale Verpflichtungen und mit Abstand von den Eltern zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie er künftig leben möchte und betrachtet dafür die Kameraden und deren unterschiedliche Bildungsverläufe. Den folgenden Wandel erklärt Anton damit, dass er für sich entschieden habe, den Abiturienten, die er in der Bundeswehr getroffen habe, nacheifern zu wollen. In Deutschland (aufgrund der Migration) fallen die Eltern als berufliches Beispiel aus, wodurch signifikante Andere als Vorbilder bedeutsam werden. Die Fallrekonstruktion hat jedoch noch einen anderen Punkt herausgearbeitet, der die besondere Rolle der Bundeswehr begründet: Anton spielt zu dieser Zeit mit dem Gedanken, sich verpflichten zu lassen und an einem Auslandseinsatz teilzunehmen. Dadurch hätte er die Aussiedlung, die für die Eltern vor allem negative Folgen mit sich gebracht hat, ad absurdum geführt. Denn das Hauptmotiv der Ausreise war es, durch diese die Einberufung der Söhne in die Armee und einen eventuellen Kriegseinsatz zu verhindern. In dem Wunsch Antons liegt somit auch ein adoleszentes Aufbegehren gegen die Eltern und gegen die Migration. Erst als Anton sich potentiell in Gefahr bringt und ein Thema im Kontext der Migration berührt, reagieren die Eltern zum ersten Mal; sie wollen nicht, dass er sich verpflichtet. In diesem Kontext gelingt es Anton, die Haltung seiner Eltern bereits in der Situation zu kritisieren und mit ihnen zu diskutieren. Solange die Eltern nicht reagierten, musste Anton sein Aufbegehren im Kontext der Schule inszenieren und war so zum Scheitern verurteilt. Nachdem die Eltern schließlich bei einem Thema im Kontext von Migration eine generative Haltung einnahmen, kann er den schulischen Weg erfolgreich bestreiten. In diesem Sinne stellt die Bundeswehr einen biographischen Wendepunkt dar, der eine Stabilisierung der Situation in Familie und Schule anstößt. Im Folgenden kommt es zu einer Wiederannäherung zwischen Anton und seinen Eltern. Sie führen wieder Gespräche miteinander und diskutieren z.B. über das Thema Zugehörigkeit, was Anton eine produktive Reibung ermöglicht. Erneut hat er ein Feld gefunden, auf dem er sich mit seinen Eltern und ihren unterschiedlichen Ansichten

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auseinandersetzen kann und erneut steht dieses in Zusammenhang mit der Migration. Die sich nun positiver gestaltende Beziehung zu den Eltern wird noch durch einen zweiten Faktor begünstigt: die parallele (emotionale) Entfernung des Bruders. Nach einem recht guten beruflichen Anschluss in Deutschland haben inzwischen beide Eltern ihre Anstellungen verloren. Die Mutter ist nach einer Umschulung arbeitslos und der Vater musste eine gering qualifizierte Stelle antreten. Für die studierten Eltern ist diese Degradierung eine schmerzliche Erfahrung. Beide würden zudem, so Anton, ein russisches Leben in Deutschland führen, ohne Kontakt zu Autochthonen. Der Bruder Stephan hat inzwischen sein Bachelorstudium erfolgreich abgeschlossen und den Master begonnen. Er hat einen einheimisch deutschen Freundeskreis und spricht die Sprache, wie Anton entsetzt bemerkt, „ohne Akzent“ (841). Es hat sich demnach erfüllt, dass er die Bildungshoffnungen der Familie erfüllt, jedoch auf Kosten einer Anpassung, durch die er sich gleichzeitig von dieser entfernt (auch räumlich durch einen Umzug in eine andere Stadt). Nun ist es der Bruder, der seinen Eltern menschlich fremd und der „Sonderling“ (641) der Familie geworden ist. Die sich nun positiver gestaltende Beziehung zu den Eltern wird auch dadurch begünstigt, dass der ‚emotionale Platz des Bruders‘ durch dessen Assimilationsbewegungen, mit denen er sich von den Eltern entfernt, frei wird. Der Platz des Bruders wird durch die Folgen der Migration frei. Die Eltern sind die Absteiger, Stephan der Aufsteiger und Anton nimmt eine Mittelstellung ein, wodurch er die Familiendynamik in Balance hält. Ebenso ist es in Bezug auf die Zugehörigkeit: Seine Eltern leben als ‚Russen‘, sein Bruder als ‚Deutscher‘, Anton hingegen wählt einen Mittelweg. Dies ermöglicht ihm den Aufstieg und verbindet ihn zugleich mit seinen Eltern. Erstmalig seit seiner Kindheit hat Anton wieder ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, wobei es einen Wandel von einem Eltern-Kind-Verhältnis zu einer freundschaftlichen Basis gegeben habe. Die erlebte Lebensgeschichte verdeutlicht, dass sich Antons Darstellung gemäß, keine Hinweise darauf finden lassen, dass einer der schulischen Brüche – nach der Herabstufung zu Beginn der Schullaufbahn in Deutschland – in Zusammenhang mit (Sprach-)Schwierigkeiten infolge der Migration zu sehen ist. Das Erlernen der deutschen Sprache stellte zwar auch für ihn eine Herausforderung dar („bisschen Startprobleme“, 56), doch hat er dafür die Vorbereitungsklasse als sehr hilfreich empfunden. Allerdings gibt es trotzdem, was nicht Teil von Antons Selbstpräsentation ist, einen Zusammenhang mit der Migration. Auf der Oberfläche geht es um das, was zur erzählten Lebensgeschichte als thematisches Feld herausgearbeitet wurde: um ‚seinen komplizierten, aber letztlich erfolgreichen Weg bis zum Studium‘. Darunter liegt aber – wie eine zweite Ebene – die Verknüpfung

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von Familie und Migration. Denn die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte konnte zeigen, dass der umwegreiche Bildungsweg in Zusammenhang mit der Beziehungslosigkeit zur Familie in Deutschland steht, quasi eine Verschiebung des adoleszenten Aufbegehrens auf das Generationenverhältnis Schule stattfindet. Zudem ist deutlich geworden, dass die Wiederannäherung im Kontext von Migration zu sehen ist und den folgenden Aufstieg (mit)ermöglichte. Es könnte gesagt werden, dass der vom 14-jährigen Anton erträumte ‚Neuanfang‘ sich nach turbulenten und herausfordernden Jahren doch noch eingestellt hat. Für Anton ist dieser tiefer liegende Zusammenhang offenbar aber nicht herstellbar. Der Wandel zum Bildungserfolg und damit auch der Wandel in der Beziehungsstruktur ist jedoch sowohl in der erzählten als auch in der erlebten Lebensgeschichte der zentrale Wendepunkt und erhält damit höhere Relevanz für den biographischen Verlauf als der Akt der Migration. Ohne erneute Zwischenfälle gelingt es Anton im Folgenden, eine Abendrealschule und ein Aufbaugymnasium erfolgreich abzuschließen. Zurzeit des Interviews befindet sich der 25-Jährige im ersten Semester seines Studiums der Biochemie. Aufgrund der Migration und des verschlungenen Bildungsweges ist er allerdings viele Jahre älter als seine Mitstudierenden. Zudem hat er den Studienplatz offenbar nur aufgrund eines Verwaltungsfehlers erhalten, da er weit vom geforderten NC entfernt ist. Wie im Verhältnis zum Bruder, sind die anderen (formal) besser als er, sodass er nicht wirklich dazugehört und keinen Anschluss findet. Dieses Ausgeschlossensein macht er damit wett, dass er die anderen pauschal zu Strebern erklärt und ihr Verhalten abwertet. In Abgrenzung zum strebsamen Bruder und den ebensolchen Mitstudierenden habe er noch nie für etwas gelernt. Dies führt allerdings im Umkehrschluss dazu, dass Anton das Semester wahrscheinlich wiederholen muss. Er würde die Phase des Studiums gerne als Bildungsmoratorium für sich nutzen und parallel auch Seminare anderer Studiengänge belegen. Seine Partnerin erwartet jedoch von ihm, dass er das Studium schnell absolviert, um bald für die von ihr geplante Familie sorgen zu können. Mit der Partnerin, die ebenfalls Spätaussiedlerin ist, ist er schon längere Zeit zusammen. Sie ist älter als er und nach einer Ausbildung in leitender Position tätig. Diesem belastenden Druck versucht Anton zu entgehen, indem er vorschlägt, die Rolle des Hausmannes zu übernehmen, was sie jedoch ablehnt. Es wird deutlich, dass er im Gegensatz zu ihr nicht an einer traditionellen Rollenverteilung festhält. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Anton nicht ganz sicher, auf welche Weise sich sein Bildungsweg fortsetzen wird. Er ist jedoch froh darüber, dass es überhaupt möglich war, über so viele Umwege doch noch an die Universität zu kommen, denn „in Russland darf man das nich machen“ (893). Das deutsche Schulsystem bietet potentiell mehr Varianten und im Unterricht zudem mehr Freiheiten

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für Interpretationen und eigene Sichtweisen, was er als Erweiterung seines Denkund Möglichkeitsraumes empfindet. 6.3 Fallrekonstruktion Semjon: „Aber trotzdem gibt es einen Bereich in der Psyche, der danach verlangt irgendwie so, [mh] sich konkret zuzuordnen“ Semjon kam 1980 in einer kleinen Stadt in Russland als Sohn eines Deutschen und einer Russin zur Welt. 1993 migrierte er als 13-Jähriger mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern (damals 3 und 14 Jahre alt) nach Deutschland, wo er den Namen Simon annimmt56. Sein Lebens- und Bildungsweg zeichnet sich in der Folge durch mehrere Umzüge, Brüche und Wechsel aus. Zur Zeit des Interviews (2012) ist er 31 Jahre alt und studiert Sozial- und Wirtschaftspolitik an einer Fachhochschule in einer Großstadt. Seit mehreren Jahren ist er ehrenamtlich politisch aktiv. Er lebt zusammen mit seiner langjährigen Partnerin, die ebenfalls Spätaussiedlerin ist. Die Auswahl des Falles erfolgte nach dem Prinzip des minimalen Kontrastes. Das bedeutet, dass nach einem Fall gesucht wurde, der in Bezug auf zentrale Aspekte dem Fall von Anton zu ähneln scheint. Bei Anton zeigt sich – anders als bei Vadim – keine enge Bindung an die Familie, vielmehr sind die Beziehungsschwierigkeiten über lange Zeit zentral. Die adoleszenten Auseinandersetzungen nach der Migration scheinen forciert. Die Lektüre des Interviews mit Semjon lässt in Hinblick darauf Gemeinsamkeiten erahnen. Zudem sind die beiden bei der Migration etwa gleich alt gewesen. 6.3.1 Interviewsituation Semjon hat auf ein Interviewgesuch von mir per Mail geantwortet. Als wir einen Termin gefunden hatten und es um die Vereinbarung des Ortes ging, schrieb ich, dass wir uns dort treffen können, wo es für ihn günstig sei und führte an: „bei dir, an der Uni, in einem Café, …“. Er antwortete darauf, dass ich „einfach“ zu ihm nachhause kommen könne, nannte die Adresse, das Stockwerk und den Namen auf dem Klingelschild. Zudem gab er zur Orientierung an: „Ein Hochhaus mit grün verglasten Balkonen“.

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Da er dies selbst rückblickend als Fehler betrachtet und sich mir mit dem russischen Vornamen vorgestellt hat, verwende ich im Folgenden diesen, auch wenn der andere offiziell im Personalausweis steht.

Fallrekonstruktion Semjon

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Semjon wohnt in einem Stadtteil, in dem eher Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status leben. Es handelt sich jedoch nicht um einen sozialen Brennpunkt. Er grüßte mich mit Handschlag. Vom sehr engen Flur der Wohnung aus ging der Blick direkt in die Küche, in der sich eine junge Frau befand. Semjon stellte mir diese knapp als seine Freundin vor und ich begrüßte sie. Darauf deutete er in ein Zimmer, das rechts vom Flur lag und fragte, ob ich Kaffee oder Tee möchte, was ich mit Tee beantwortete. Das Zimmer enthielt zugleich Schlaf- als auch Wohnzimmermöbel, die funktional zusammengestellt wirkten. Bilder oder Dekorationsgegenstände gab es nicht. Nach einer kurzen Weile kam Semjon mit einer Teekanne und zwei Bechern herein. Seine Freundin brachte Zucker. Danach verließ sie das Zimmer und schloss die Tür. Den Geräuschen nach zu urteilen, hielt sie sich darauf weiterhin überwiegend in der Küche auf.57 Ich äußerte die Sorge, seine Freundin vertrieben zu haben, die er verneinte. Der Raum sei nicht das gemeinsame Wohnzimmer, da sie die Zwei-Zimmer-Wohnung so aufgeteilt hätten, dass jeder einen eigenen Raum für sich habe. Darauf sprach ich von meinem Interesse für die Lebensgeschichten von Spätaussiedlern und erklärte die Interviewmethode. Auf meine Aussage, dass es kein Frage-Antwort-Interview wie in der Zeitung werden solle, antwortete er, dass ihm dies auch nicht liegen würde. Die Gesprächssituation während des zweieinhalbstündigen Interviews war angenehm und offen. Wir saßen über Eck auf dem L-förmigen Sofa. Semjon sah mich beim Sprechen oft an und wir lachten viel. Seinen Tee trank er kaum, schenkte mir aber einmal nach. Nach dem Interview sprachen wir noch etwas weiter. Semjon erzählte mir, dass er innerhalb der Großstadt schon mehr als fünfmal umgezogen sei und dieses Haus auch gerne wieder verlassen würde, was er kommentierte mit: ‚Einmal angefangen mit dem ‚Zigeunerleben‘, gibt es kein Ende mehr‘. Weiter sprach er davon, dass die meisten russischen Frauen sehr geldorientiert seien, was er ‚widerlich‘ finde. Seine Freundin bedränge ihn nicht mit dem Wunsch nach einem sicheren Leben, dennoch habe er gewisse Ängste, da er immer älter werde. Darauf verabschiedeten wir uns freundlich. Nach dem Treffen habe ich in meinen subjektiven Notizen festgehalten, dass es mich verwundert hat, dass Semjon in der kurzen Mail explizit den Begriff „Hochhaus“ verwendet hat, obgleich die Beschreibung „Haus mit grün verglasten Balkonen“ ausgereicht hätte (oder auch einfach: das Haus direkt neben der Bahnhaltestelle). Bei dem Begriff ‚Hochhaus‘ schwingt eine eher negative Konnotation 57

Semjon hat im Interview von sich aus kaum von seiner Freundin gesprochen, längere Erzählungen folgten nur auf direkte Nachfragen von mir. Dabei fiel auf, dass er an diesen Stellen betont leise gesprochen hat. Dies hat den Eindruck erweckt, dass er vermeiden wollte, dass sie hört, wie er über sie spricht.

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mit. Die Aussage Semjons, dass ihm ein Frage-Antwort-Interview nicht gelegen hätte, freute mich und ich hoffte, dass er auch tatsächlich ins Erzählen kommen würde. Seine Stegreiferzählung hat bereits nach wenigen Momenten mein Interesse geweckt, was sich z.B. auch in der überschwänglichen Reaktion auf seine Einstiegserzählung abbildet: „Ja, großartig. /lacht auf/ Wirklich super, super spannend, schön erzählt. /lacht auf/ Danke“ (531). Semjon sprach lebhaft und oftmals in wörtlicher Rede, sodass eine gewisse Spannung aufkam. Zudem nahm er wiederholt eine reflexive Ebene ein, von der aus er sein Handeln oder Denken zu ergründen suchte. Überrascht hat mich, wie offen er (vor allem im Nachfrageteil) von der schwierigen Beziehung zu seinen Eltern und Geschwistern gesprochen hat. 6.3.2 Text- und thematische Feldanalyse Auf die Eingangsfrage folgt eine 45-minütige Stegreiferzählung. Semjon spricht dabei flüssig und eloquent, Pausen macht er kaum. Sein Akzent ist zwar hörbar, aber es kommt nicht zu Formulierungsschwierigkeiten aufgrund sprachlicher Unsicherheiten. Im Gegenteil zeichnet sich seine Rede durch einen elaborierten Sprachcode unter Verwendung von Fremdwörtern und Fachbegriffen aus. Die Erzählung gliedert sich grob in zwei Stränge. Im ersten Teil stellt Semjon überwiegend chronologisch seinen Lebens- und Bildungsweg vor und im Besonderen nach der Ausreise dar. Nach der Benennung des aktuellen Studienfaches endet dieser Strang in Zeile 343 mit der Zwischenkoda: „Ähm (.) ja, das ist bis, meine Laufbahn bis heute“ (343). Nach einer Pause von nur einer Sekunde folgt ein zweiter Teil, den er wie folgt einführt: „Mh, (.) was jetzt vielleicht noch interessant ist äh, ich äh, in der Ph-Phase, wo ich dann äh BWL dann quasi schon mehr oder weniger fallen lassen hab, [mh] äh hab ich mich äh angefangen, ein bisschen politisch für irgendwas zu interessieren“ (344ff). In diesem, etwa 200 Zeilen langen Teil, führt Semjon vor allem seine politischen Aktivitäten aus und kommt am Ende auf das Fehlen russischer Bezugspersonen zu sprechen. Im Verlauf werden zu einzelnen Erlebnissen detailreiche Erzählungen präsentiert, doch insgesamt dominieren die Textsorten Bericht und Argumentation, wobei die Argumentationen Kommentierungen des Erzählten darstellen bzw. dieses reflexiv deuten und erklären. Auffällig ist, dass vor allem zu Beginn der selbststrukturierten Erzählung mehrfach thematische und chronologische Brüche stattfinden. Allein in den ersten 55 Zeilen kommt es zehnmal zu einem Wechsel der zeitlichen/räumlichen Perspektive. Wiederholt springt Semjon zwischen Russland und Deutschland sowie zwischen verschiedenen Zeitebenen (wie Kindheit in Russland, Ausreisesituation,

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„jetzt“, 37). Diese rasanten Sprünge verhindern, dass es auf den ersten anderthalb Seiten zu ausführlichen Erzählungen kommt. Auffällig ist zudem die häufige Verwendung von ‚irgend‘-Adverbien (vor allem ‚irgendwann‘, ‚irgendwie‘). Allein in den genannten Zeilen fallen 16 solcher Verbindungen. Diesen Vagheitspartikeln ist ein Moment von Unbestimmtheit zu eigen, so sie für einen unbestimmten und/oder unbestimmbaren Zeitpunkt (irgendwann) bzw. für eine unbestimmte und/oder unbestimmbare Art und Weise (irgendwie) stehen (vgl. Duden online 2017). Das gehäufte Vorkommen trägt daher noch zur Verwischung der zeitlichen und thematischen Konturen bei. Bei der Sammlung erster Leseeindrücke zu dieser Passage in einer Interpretationsgruppe wurde geäußert, dass in der Erzählung ständig und ungehemmt neue Gedanken ‚aufpoppen‘, wodurch der Text unkoordiniert wirke. Daher wurde infrage gestellt, ob der Erzählung eine spezifische Systematik zugrunde liegt. Semjon selbst nährt diese These, indem er seine Stegreiferzählung mit folgender Koda enden lässt: „So viel dazu, ja. (4) Ja, ich glaube das ist irgendwie so, was mir einfällt. [mh] Also (.) nach dem Prinzip freie Assoziation“ (529f). Mit der ‚freien Assoziation‘ führt er eine Methode der psychoanalytischen Therapie als Leitbild an, in der es gerade darum geht, seinen Gedanken unzensiert und ohne Blick auf einen roten Faden freien Lauf zu lassen (vgl. Freud 2000, 193ff). Freud geht allerdings davon aus, dass auch dann Zusammenhänge zwischen Gedankenäußerungen und (Krankheits-)Problematik bestehen, wenn der Aufbau von außen zunächst zufällig erscheint. Ungeachtet der Frage, ob man an dieser Stelle überhaupt von freier Assoziation sprechen kann und ohne Bezug zum Thema Krankheit, könnte man in Hinblick auf narrative Interviews davon sprechen, dass es eine zufällige Anordnung nicht geben kann, sondern diese, auch wenn sie auf den ersten Blick sprunghaft und wirr erscheint (bzw. vor allem dann), latenten Steuerungsmechanismen unterliegt, die es zu ergründen gilt.58 Im Fall des Interviewanfangs verdeutlicht das Ergebnis der Analyse sehr klar, dass es in der Selbstpräsentation thematisch um das Problem geht, sich zu verorten, was sich zum einen inhaltlich zeigt und zum anderen auch auf die Textebene auswirkt, indem es zu den beschriebenen Schwierigkeiten beim Aufbau einer geordneten Erzählung kommt. Ich möchte das Problem der Verortung exemplarisch für die ersten drei Sequenzen verdeutlichen: Semjon beginnt mit einer präzisen Verortung. Er spricht nicht allgemein davon, in Russland geboren zu sein, sondern nennt zunächst die Region und spezifiziert dann, dass er „in einer Stadt, so kleineren Stadt, so namens Kleinstadt A, ist kaum bekannt“ (4f) zur Welt gekommen sei und führt die in der 58 Auf die Bedeutung dieser Aussage für die Interaktionsebene wird noch an späterer Stelle eingegangen.

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Nähe befindliche Großstadt an, um der Zuhörerin eine Einordnung zu ermöglichen. Dabei geht es jedoch nicht nur um eine geographische Zuordnung, sondern auch um eine kontextuelle, da es sich um eine Krisenregion handelt, was Semjon auch noch einmal explizit betont. Er verortet sich zu Beginn der Erzählung also nicht anhand seines Geburtsjahres, seiner Eltern oder der (deutschen) Familiengeschichte, sondern richtet seinen Blick auf den Ort. Seiner Darstellung gemäß wird der Ort seiner Geburt später aufgrund der Angst vor einem sich anbahnenden Krieg und der Sorge, dass die Kinder in diesem als Soldaten kämpfen müssen, zum Grund der Ausreise. Dadurch erfährt die starke Verortung bereits nach wenigen Worten einen Bruch. Die folgende Sequenz knüpft derart thematisch an, dass der Wunsch nach materiellem Wohlstand als ein weiterer Grund für die Ausreise benannt wird. In der dritten Sequenz spricht Semjon dann von der deutschen Abstammung; allerdings findet der Bezug mittels Negation statt: „Ähm, wir ham uns selbst in der Familie nie so als äh (.) Deutsche definiert [mh]“ (25). Weder er noch sein Vater hätten Deutsch gesprochen und sich stattdessen über das dialektal gefärbte Deutsch der Oma lustig gemacht. Durch den Nachnamen des Vaters seien sie jedoch „als Deutsche definiert“ (30f) gewesen. Seine Mutter hingegen sei Russin und habe einen russischen Mädchennamen getragen. An dieser Stelle geht es um die Frage, wodurch Zugehörigkeit bestimmt wird, wobei Unterschiede zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung deutlich werden. Dass Semjon von Definitionen spricht, verdeutlicht, dass die objektive Gegebenheit nicht klar zu bestimmen ist, sodass erst eine Festlegung erfolgen muss. Die reflexive Form des Verbs ‚definieren‘ in Bezug auf die eigene Zuordnung verleiht dem Selbstverständnis stärkere Bedeutung. Durch das ‚Definieren‘ umgeht Semjon zudem eine klare Zuordnung, wie: ich bin Deutscher oder Russe bzw. wird dadurch deutlich, dass eine solch eindeutige Bestimmung eventuell gar nicht vorgenommen werden kann. Semjons Präsentationsinteresse ist es an dieser Stelle, zu verdeutlichen, dass sich die Familienmitglieder in Russland nicht als Deutsche gesehen haben. Dies ist vor allem deshalb auffällig, weil sie dadurch die rechtlichen Bedingungen des Spätaussiedlerstatus nicht erfüllen würden. Semjon stellt keinen (einfachen) Bezug zu seinen ‚deutschen Wurzeln‘ oder einer ‚deutschen Familiengeschichte‘ her, sondern gibt an, dass andere Motive für die Migration vorlagen und der ‚deutsche Nachname‘ (lediglich) als Ausreisemöglichkeit genutzt wurde. Doch obwohl er dies in der Erzählgegenwart klar formuliert, wird bereits im weiteren Verlauf des Sequenz deutlich, dass er als Heranwachsender in Deutschland das Bedürfnis hatte, sich ‚dem Deutschen‘ anzupassen: „ich heiße auch offiziell Simon, so ne? [okay] Hab irgendwann den Namen hier angenommen, [mh] weil ich (.) gleich sein wollte, ich wollte ass- [mh] assi-, mich assimilieren, so angleichen“ (35ff). Wenig später in der Eingangserzählung kommt er argumentierend noch einmal auf die Namensänderung zu sprechen, was

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ihre Bedeutsamkeit hervorhebt: „im Nachhinein hab ich gemerkt, is ein großer Fehler. So funktionieren [mh] Entwicklungen und Identitätsentwicklungen nicht, das ist eine, (.) eine Veraschung gewesen, Selbstverarschung“ (124ff). Semjon kann den damaligen Wunsch nach Assimilation kaum noch aussprechen und betrachtet das Vorgehen kritisch. An dieser und anderen Stellen zum Thema ‚Anpassung‘ kritisiert er neben dem eigenen Zutun vor allem das Handeln der Eltern, Verwandten und Mitschüler sowie den Umgang der Behörden. Das Präsentationsinteresse kann demnach erweitert werden: Als problematisch wird dargestellt, dass er in Deutschland versucht hat, sich zu assimilieren, obgleich er sich vor der Migration gar nicht als Deutscher definiert hat. Auch im weiteren Verlauf der Selbstpräsentation geht es wiederholt um Fragen nach der eigenen identitären Verortung. Dabei unterscheidet Semjon deutlich zwischen Deutschen, Russlanddeutschen, Russen und jüdischen Russen, wobei vor allem die Russlanddeutschen (zu denen er z.B. seine Eltern rechnet) negativ als gering gebildet und geldgierig dargestellt werden. Sich selbst ordnet er auch im Weiteren nicht klar zu. Ein ebenso wiederkehrendes Thema in der Selbstpräsentation ist die Tatsache, sich nicht entscheiden zu können bzw. nicht zu wissen, was er machen will/soll sowie das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Die Schwierigkeit, sich zu verorten, wird auch über den Aspekt der natio-ethno-kulturellen Zuordnungen hinaus thematisiert und zwar in Bezug auf Freunde, Männlichkeit, Verwandtschaftsbeziehungen, Wohnorte sowie politisch-weltanschauliche Kontexte. Letztere werden im zweiten Strang ausführlich betrachtet, wobei er seinen „Umbruch“ (364) vom ‚Kapitalisten‘ zum ‚Antikapitalisten‘ nachzeichnet, der nun zudem vegan lebt und sich stark für Menschenrechte engagiert. Auffällig ist, dass die für den Anfang geschilderte Textsortenstruktur (Argumentationen zu Berichten und Erzählungen) in Bezug auf die politisch-weltanschaulichen Entwicklungen in ihm nicht auftritt. Auch im Erzählaufbau ist dieser Strang – wie dargestellt – von der Lebens- und Bildungsgeschichte getrennt, obgleich Zusammenhänge vermutet werden können. Diesen Aspekt gilt es im nächsten Auswertungsschritt näher zu betrachten. Die Äußerung zur freien Assoziation kann auch in Hinblick auf die Interaktion betrachtet werden. Später im Interview gibt Semjon an, dass die Psychoanalyse ein Bereich sei, der ihn interessiere. Daher kann vermutet werden, dass ihm Bedeutung und Hintergrund des ‚freien Assoziierens‘ bekannt sind. Die Interviewerin hat im Vorfeld geäußert, dass sie sich für Lebensgeschichten interessiere (wobei die Narration als geschlossene Konstruktion einer Lebensgeschichte dem Prinzip des freien Assoziierens eigentlich widerspricht). Durch seine Aussage adressiert Semjon sie als Psychotherapeutin, wodurch sich die Beziehung ‚Forscherin – Erforschter‘ verändert. Es wäre dann ein Verhältnis von Therapeutin und Patient, dem zudem inhärent wäre, dass Semjon sich als jemanden betrachtet, der

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Hilfe braucht. Markant in diesem Kontext ist, dass dies von der Interviewerin (unbewusst) unterstützt wird. Mehrere Nachfragen sind nicht narrativ formuliert, sondern fordern noch zusätzlich Selbstdeutungen heraus; zum Beispiel: „Interviewerin: Ja, du hast eben den Begriff Nostalgie verwendet, so für dieses ganze Russische. Was ist denn das, wo du da irgendwie ne Sehnsucht nach hast?“ (1188f). Dies ist vor allem deshalb aussagekräftig, da ich zum Zeitpunkt des Interviews in unterschiedlichen Forschungsprojekten schon über 40 narrative Interviews geführt habe und dadurch über viel Erfahrung und Sicherheit in der Methode verfügte. Auch wenn ich die konkrete Formulierung des ‚freien Assoziierens‘ in der Erzählsituation nicht bewusst wahrgenommen habe, kann es als Manifestation dessen betrachtet werden, was die gesamte Stegreiferzählung durchzieht: ein hoher Selbstthematisierungs- und Selbstverstehensbedarf, vor allem in Hinblick auf die eigene Verortung, der sich auch auf die Interaktion niedergeschlagen hat. Semjon versucht oft, eine selbstreflexive Ebene einzunehmen, sein Handeln zu deuten und spricht von einem „dialektische[n] Prozess“ (527). Dies zeigt sich zudem durch den mehrfachen Gebrauch von ‚Termini technici‘ aus dem psychologisch-philosophischen Bereich, die seine Auseinandersetzung mit diesen Themen verdeutlicht (bzw. verdeutlichen soll). Das ‚um-sich-selbst-Kreisen‘ wird auch dadurch offensichtlich, dass es sehr stark um ihn persönlich geht und er sich z.B. kaum in engen Beziehungen mit anderen schildert. In der Stegreiferzählung werden seine Eltern fast ausschließlich im Kontext von Arbeit präsentiert. Für die jüngere Schwester wird nur das Studienfach genannt und die Freundin wird als Partnerin gar nicht eingeführt. Am ausführlichsten tritt sein älterer Bruder hervor, mit dem er nach der Migration engeren Kontakt gehabt hat als zuvor (weil passende Freunde fehlten) und durch den er in eine ‚russische Szene‘ eingeführt wurde. Semjon präsentiert sich als jemand, der sich bereits im Herkunftsland mit der Frage nach seiner Zugehörigkeit in Bezug auf natio-ethno-kulturelle und soziale Zusammenhänge konfrontiert sah, was sich nach der Migration noch verstärkt und zudem auf politisch-weltanschauliche und schließlich auch familiale Zusammenhänge ausgeweitet habe. Das thematische Feld der Eingangspräsentation kann daher so formuliert werden: ‚Ich habe Schwierigkeiten, mich zu verorten, möchte es aber unbedingt‘. Obgleich die Darstellung daran orientiert ist, deutlich zu machen, dass Semjon sich reflexiv und wissenschaftlich fundiert (z.B. durch die Nennung der Begriffe Dialektik und freies Assoziieren) mit diesen Thematiken auseinandersetzt, tritt vor allem die Unverbundenheit zwischen der Lebens- und Bildungsgeschichte und seiner politisch-weltanschaulichen Entwicklung hervor. Die Frage, was der Grund dafür sein könnte, wird im folgenden Auswertungsschritt aufgegriffen werden.

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6.3.3 Rekonstruktion der Fallgeschichte Die Rekonstruktion von Semjons Fallgeschichte wird im Folgenden ebenso wie die zu Anton in gekürzter Form präsentiert. Die Ergebnisse der Auswertungsschritte 1 und 4 (Analyse der biographischen Daten sowie Feinanalysen einzelner Stellen) sind darin eingeflossen. An ausgewählten Stellen werden detailliertere Einblicke in die Interpretation gegeben. Die Familiengeschichte Die Eltern von Semjons Vater sind Deutsche und stammen ursprünglich aus dem Westen der ehemaligen Sowjetunion. Dort gab es vor dem Zweiten Weltkrieg mehrere hundert deutsche Dörfer (1926 lebten über 30 Prozent aller Russlanddeutschen in dieser Region, vgl. Eisfeld 1992, 148), in denen die Kinder mit einem dialektal gefärbten Deutsch als Muttersprache aufwuchsen. 1941 werden sowohl Semjons Großmutter als auch sein Großvater aufgrund ihrer Abstammung im frühen Jugendalter nach Sibirien deportiert, wo sie in einer sogenannten ‚Sondersiedlung‘ leben. Obgleich der Zweite Weltkrieg im Mai 1945 endet, dürfen die Deutschen die ‚Sondersiedlungen‘ bis 1956 nicht verlassen und sind in dieser Zeit von wesentlichen Rechten der Sowjetbürger ausgeschlossen (vgl. Velten 2003, 28; siehe auch 1.1). Es ist den Daten nicht zu entnehmen, ob die Großeltern sich dort kennenlernen oder bereits vorher kannten, jedoch bekommen sie noch während dieser Zeit (1954) ihren ersten Sohn Alexej, Semjons Vater. In den nächsten Jahren folgen drei weitere Kinder. Als Alexej zwölf Jahre alt ist, kommt sein Vater bei einem Unfall ums Leben. Im Interview bleibt offen, um was für einen Unfall es sich gehandelt hat. Es ist jedoch zeitlich auszuschließen, dass dieser direkt mit der Verfolgung in Zusammenhang steht. Nach einer Weile heiratet die Großmutter in Sibirien einen neuen Mann. Dieser ist geschieden und hat bereits eigene Kinder aus erster Ehe. Semjons Vater verliert demnach kurz vor Beginn der Adoleszenz den eigenen Vater. Während der Adoleszenz wird ihm ein ‚neuer Vater‘ vorgesetzt, der ihn jedoch spüren lässt, dass ihm die Kinder aus erster Ehe wichtiger sind. Die Mischung aus Verlust und Zurückweisung stellt besondere Bedingungen für die adoleszenten Entwicklungen dar. Ebenfalls in diese Phase, um 1970, fällt auch der Umzug der ganzen Familie in einen anderen Teil Russlands. Infolge der Aufhebung der ‚Sondersiedlungen‘ und der Rückgabe der Bürgerrechte kommt es ab Mitte der 1950er-Jahre zu einer massiven Binnenmigration der Deutschen in der Sowjetunion (siehe 1.1). Der Umzug der Familie erfolgt im Verhältnis also recht spät. Die Motivation sei auf einen Verwandten zurückgegangen, der von dieser Region im europäischen Teil Russlands geschwärmt habe. Diese zeichnet sich

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im Vergleich zu Sibirien, das von extrem kalten Wintern und bis zu neun Monaten Schnee geprägt ist, durch milde Wintermonate und lange, heiße Sommer aus. Dort lebt die Familie in einer Kleinstadt. Die Mehrheit der Einwohner ist russisch, doch insgesamt ist für die Region eine Vielfalt an ethnischen Gruppen charakteristisch. Die Stadt ist durch ein Arbeiter- und kleinbürgerliches Milieu geprägt, die nächste Universität liegt weit entfernt. Semjons Vater verlässt die Schule in Sibirien nach der 9. Klasse mit der ‚grundlegenden allgemeinen Bildung‘ (vergleichbar mit dem Hauptschulabschluss) und lernt in der Kleinstadt an einer mittleren Fachschule (Berufsschule) einen technischen Beruf. Dort trifft er auf Semjons spätere Mutter, Irina, die eine Ausbildung absolviert. Die Großeltern erhielten in der Verbannung keine angemessene Schulbildung, sodass die Großmutter als Helferin in der Landwirtschaft tätig war. Alexej und Irina haben beide nur den niedrigsten Abschluss erworben und arbeiten nach den Ausbildungen nicht in den erlernten Berufen. Irina ist Russin und 1955 im „ganz, ganz fernen Osten“ (77f) im asiatischen Teil der Sowjetunion geboren. Als einzige aus ihrer Familie ist sie im Jugendalter in den europäischen Teil Russlands gezogen. Sie lebt somit schon sehr früh losgelöst von ihrer Herkunftsfamilie, wobei innerfamiliale Schwierigkeiten Auslöser der Binnenmigration über tausende von Kilometern gewesen sein können. Später folgt ihre Schwester, um einen Cousin von Semjons Vater zu heiraten. Die Ehe zwischen Alexej und Irina ist in beiden Familien unerwünscht. Der Onkel Alexejs äußert stellvertretend für den bereits verstorbenen Vater („sein Onkel hat seinen Vater ersetzt“, 749) die Bedenken, ob „es äh sinnvoll (.) ist, eine Russin zu heiraten. [mh] Weil, die mögen uns Deutsche ja nicht. [ja]“ (751f). Auffällig ist daran zum einen, dass die nächste leibliche männliche Person die Ehewünsche bewertet, was für eine patriarchale Orientierung in der Familie spricht. Zum anderen fällt auf, dass nicht die russische Herkunft kritisiert wird, sondern die antizipierte Abneigung. Und dies, obwohl in dieser Generation eine starke Assimilation an das russisch-sowjetische Umfeld stattgefunden hat, sodass Alexej und seine Geschwister z.B. mit der russischen Sprache aufgewachsen sind und nur vereinzelt deutsche Worte gelernt haben. In der Tat habe die Familie der Mutter allerdings Bedenken über ihre Partnerwahl geäußert. Trotz der familiären Ressentiments gehen beide die Ehe ein. Die Unerwünschtheit der bi-nationalen Ehe kann Folgen für Kinder aus dieser mit sich bringen. 1978 bekommen sie ihren ersten Sohn Dmitrij; 1980 wird Semjon mit einem Abstand von nur zwei Jahren in die Familie geboren. Welche Herausforderungen und Konstellationen dies mit sich bringen kann, wurde bereits unter 6.2.3 ausgeführt. Interessant ist der Hintergrund zur Namensgebung:

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„also, sei-sein [Alexejs, JZ] Vater hieß auch Semjon, deswegen ham die mir den Namen gegeben, eigentlich ist das in Russland auch nicht, (.) ein nicht besonders cooler Name, sag ich mal. [lacht auf] […] Und das war ein alter Name und zum Beispiel mein Bruder heißt Dmitrij, [mh] älterer Bruder, Dima59, das war ein schöner, cooler Name. [mh] Semjon war kein cooler Name, aber der Opa hieß auf jeden Fall Semjon und dann musst ich auch Semjon heißen [lacht auf] /lacht auf/“ (680ff)

In vielen Ländern gibt bzw. gab es die Praktik, den Vornamen des Großvaters (väterlicherseits) als Erst- oder Zweitnamen an den neugeborenen Jungen weiterzugeben. Auffällig ist jedoch, dass in diesem Fall nicht, wie üblich, der Erstgeborene den Namen erhält, sondern der zweite Sohn. Dies kann mit einer veränderten familialen Dynamik in Zusammenhang stehen, die es erst zu diesem Zeitpunkt erlaubt (z.B. aufgrund der antizipierten oder tatsächlichen Ablehnung des Deutschen durch Irinas Eltern). Schließlich handelt es sich um den Namen des deutschen Großvaters, der in Sibirien, dem Ort der Verbannung, gestorben ist. Indem Semjon fortan den Namen trägt, bleibt der Großvater im Familienalltag präsent, was zudem als Affront gegen den neuen Mann der Großmutter gesehen werden kann. Der Name60 ist biblischen Ursprungs und in Russland wenig geläufig. Semjon beklagt Jahre später in der Interviewsituation auf der Oberfläche, dass sein älterer Bruder einen ‚schönen coolen‘ und somit zeitgemäßen Namen erhalten habe, er hingegen einen ‚alten und uncoolen‘. Damit könnte aber auch der Gedanke verbunden sein, dass sein Bruder auf die Zukunft ausgerichtet wurde, er jedoch mit einem Erbe belegt wurde. Mit der Weitergabe des Namens könnte (demnach) der ‚Auftrag‘ verbunden sein (vgl. Stierlin 1982; BoszormenyNagy/Spark 1981), die Familiengeschichte zu erhalten und/oder dem Stiefgroßvater etwas entgegenzusetzen. Die familiale und soziale Ausgangslage Semjons ist geprägt durch die deutschen und russischen Wurzeln der Familie, die in den Herkunftsfamilien offenbar problematisiert wurden. Dass sich die Eltern darüber hinwegsetzten, spricht für eine gewisse Eigenständigkeit. Auch darüber hinaus gibt es Anzeichen für schwierige familiale Beziehungen sowohl in Hinblick auf den väterlichen Stiefvater als auch die Herkunftsfamilie der Mutter. Sehr prägnant ist auch, dass in beiden Generationen Migrationserfahrungen im Jugendalter vorliegen, was sich später bei Semjon reproduzieren wird. So wurden Alexejs Eltern im frühen Jugendalter ins weit entfernte Sibirien deportiert, vollzog die Familie später mit dem Jugendlichen Alexej eine Binnenmigration und verließ Irina als Heranwachsende ihre Familie.

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Dies ist die Koseform von Dmitrij, sodass sich beide Namen auf den älteren Bruder beziehen.

Semjon ist gemäß der Anonymisierung nicht der tatsächliche Name des Interviewpartners, wurde jedoch danach ausgewählt, das die grundlegenden Eigenschaften auch auf diesen zutreffen.

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Diese (z.T.) unfreiwilligen (Binnen-)Migrationen werden auch bei den Eltern und Großeltern Einfluss auf ihre (adoleszenten) Entwicklungen genommen haben. Die Kindheitsjahre – Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen Als Semjon geboren wird, arbeitet sein Vater im Drei-Schicht-System als Maschinenführer in einem Autowerk. Die Mutter ist zeitweise im Bereich Gebäudemanagement tätig, überwiegend aber bei den Kindern zuhause. Die Familie lebt in einem sechsgeschossigen Wohnheim, das zum Werk gehört und sich in einer Hochhaussiedlung befindet. Die Verhältnisse beschreibt Semjon als „relativ, sag ich mal, also ärmlich“ (15). Die Begriffe ‚ärmliche Verhältnisse‘ und ‚Wohnheim‘ fallen an verschiedenen Stellen im Interview, was die biographische Relevanz verdeutlicht. Semjon führt aus: „Da konnte man sich auch wirklich für schämen, dass man da gelebt hat. [mh] Müsst-, sollte man oder, /deutliche Schwierigkeiten:/ äh, äh, äh, also hab ich auch versucht, oft zu vermeiden, das irgendwie zu nennen, so. [mh] Das war nicht gut. [mh] (.)“ (604ff)

Semjon spricht betont von Scham und hat an dieser Stelle starke Formulierungsschwierigkeiten. Als Kind habe er sich für sein Lebensumfeld geschämt und versucht, dieses zu verheimlichen. Auffällig ist hierbei der Gegensatz zur Gegenwartssituation, in der Semjon mich zu sich einlädt und bereits in der Mail von einem Hochhaus spricht, obgleich es nicht nötig gewesen wäre. Es deutet sich demnach an, dass in der Zwischenzeit ein Wandel vom Vermeiden und Schämen zum offensiven Vertreten stattgefunden hat. Im Wohnheim seiner Kindheit müssen sich immer zwei Familien eine Küche und Toilette teilen (vermutlich handelte es sich um eine ‚Kommunalka‘), wodurch es zwangsweise zu einem engen Kontakt mit den Nachbarn kommt und das Potential für soziale Konflikte erhöht ist. Die Mitbewohner wechseln mehrfach, z.T. schließen die Eltern Freundschaft mit diesen, doch die meisten seien „nicht nett“ (19f), würden zu viel trinken und sich rücksichtslos verhalten, sodass es häufiger zum Streit kommt. Demnach ist das Wohnheim nicht nur nach außen problematisch, sondern bietet auch nach innen kein angenehmes, schützendes Umfeld. Die Intimsphäre und Privatheit werden durch die gemeinsame Nutzung gestört. „Oder (.) wir hatten auch Nachbarn, die (2) äh, ist auch interessanter Aspekt vielleicht, dass wir uns in d- also ich mich nicht als Deutschen definiert habe lange Zeit, [mh] aber wir immer wieder von Leuten als Faschisten beschimpft wurden. [mh] Also, die

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Nachbarn zum Beispiel auch, [ja] für die waren wir halt (.) so die die Deutschen *ne? so irgendwie*. [mh]“ (596ff)

Die Mieter im Wohnheim eint die geringe ökonomische Ausstattung, die sie von anderen abgrenzt. Doch innerhalb dieser Gleichheit der Armut erfährt Semjons Familie eine weitere Zurücksetzung durch die Bezeichnungen „Faschisten“ und „Deutsche“. Dies geht über eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit hinaus, denn es bezieht eine historisch-politische Ebene mit ein. Sie werden als Feinde des Sowjetstaates bezeichnet, obgleich die Mutter Russin ist und die Familie sich, wie Semjon hier erneut anführt, nicht als ‚Deutsche definiert‘ (es folgt der Nachtrag „lange Zeit“, der aber vermutlich im Zusammenhang mit der Ausreise zu sehen ist). Für das Erleben zum Zeitpunkt des Geschehens bedeutet dies, dass beleidigende Zuschreibungen von außen erfolgen, die mit der Selbsteinschätzung nicht übereinstimmen. Dies wird für ein Kind, das mit russischer Sprache und Kultur aufwächst, schwer zu verstehen und verletzend sein. Zudem wird dadurch vermittelt, dass das Deutsche etwas Schlechtes und Feindliches sei, das Grund zur Ausgrenzung bietet. Dies wiederum kann Auswirkungen auf die intergenerationalen Familienbeziehungen, vor allem zur väterlichen Seite, haben. „der Begriff Defizit [mh] ne?, so (.) war da alltäglich und äh, der war auch, den hat niemand verstanden als einen abstrakten Begriff, sondern der war ganz konkret gemeint, [ja] Defizit hieß, wir ham keine Lebensmittel und keine Kleidung, so, das war Defizit. [mh] Ja, und (.) das, das waren so die Umstände“ (579ff)

Semjon betont das Wort „Defizit“ und verabsolutiert die Mangelsituation („keine Lebensmittel und keine Kleidung“), was vermutlich eine Dramatisierung darstellt. So sagt er etwas später, dass es „jetzt nicht so [war,] wie man das aus Afrika zum Beispiel vorstellt“ (575f). Wenn man sich fehlendes Essen in Afrika vorstellt, denkt man an eine absolute Armut, die das Leben bedroht, von dieser grenzt er sich jedoch ab. Weiter führt Semjon aus, dass er beim Gemüseanbau auf der Datscha helfen muss, was er nicht mag und mit Augenzwinkern als „Straftat“ (570) bezeichnet und dass er statt zu spielen für alltägliche Dinge wie Brot und Milch „Schlange stehen“ (611) muss oder Dinge über den „informelle[n] Sektor“ (563) mittels „Schmiergeld“ (561) beschafft werden müssen. Er zeichnet insgesamt ein starkes Bild des Mangels, wobei es sich bei den geschilderten Szenarien durchaus um ‚typische‘ der zusammenbrechenden/zusammengebrochenen Sowjetunion handelt, die ein Großteil der Bevölkerung erlebt hat (vgl. Metz 2016, 105). Auch für die kulturelle Ebene beschreibt Semjon ein Defizit („Bildung war da Mangelware“, 758). Musik und Bücher würden zuhause keine Rolle spielen: „also kulturell [mh] hab ich da, sag ich mal, in der Familie nix mitbekommen“ (667f). Weiter charakterisiert er die Eltern als Einzelgänger („einsame Wölfe“, 777), die keine

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engen Freundeskreis haben und nie Gäste einladen. Familienfeiern gibt es aufgrund der innerfamiliären Ressentiments ebenfalls nicht. Semjon ist somit sehr allein mit seiner Kernfamilie, also den Eltern und dem Bruder. Die Erziehungsmethoden sind „(.) teilweise auch etwas härter irgendwie so, es war auch üblich äh äh, Kinder zu schlagen, [mh] also wir wurden jetzt nicht richtig zusammengeschlagen, aber so mal mit dem Gürtel irgendwie [ja] und äh es war normal irgendwie und wenn der Vater nach Hause kommt, gibt’s noch mehr irgendwie, weil der stärker ist, *er ist der Mann, ne?, zuhause*. [mh] *War auch* üblich, sag ich mal. [ja] (2) *Ja*. (2) *Was die Beziehung zu den Eltern natürlich nicht gerade (.) [mh] besser werden li- /lacht auf/ äh besser werden lässt mit den Jahren*“ (569f)

Semjon erlebt körperliche Bestrafungen, z.T. sogar den Einsatz eines Gürtels. Er bezeichnet diese Strafen als „üblich“ und der Blick auf die anderen Fälle sowie in die Literatur sprechen dafür. Das ändert jedoch nichts daran, dass es für das individuelle Kind physisch wie psychisch verletzend ist, was auch Semjon anspricht. Zudem spielt in der Sequenz der Aspekt der Männlichkeit eine Rolle. Durch die zusätzliche väterliche Strafe am Abend, wird Männlichkeit zugleich mit Macht und Willkür verbunden. 1990, Semjon ist knapp zehn Jahre alt, wird seine Schwester geboren. „Die, irgendwann (.) galten wir als erwachsen, irgendwie so [lacht auf] und, da hat das [die gemeinsame Zeit mit den Eltern, JZ] aufgehört. Als meine jüngere Schwester geboren wurde, war ich eher ein Elternteil so“ (647ff). Er muss auf sie aufpassen und Hausarbeiten (wie bügeln) übernehmen. Ebenso ergeht es dem älteren Bruder. Beide haben keine Lust auf diese Aufgaben, was sich z.B. darin zeigt, dass sie sich gegenseitig mit Streichholzschachteln bestechen, damit sich der jeweils andere um die Schwester kümmert: „und dann ham wir so gehandelt [lacht] [ja] und /lacht auf/ also die Währung war halt (.) irgendwelche Sachen und meine Schwester war dann quasi dann die Ware“ (655ff). Dies verwundert umso mehr, als dass die Mutter mit der Geburt des jüngsten Kindes aufhört zu arbeiten und vor der Migration auch nicht mehr damit beginnt. Die Umstände, wie auch der große Altersabstand, stellen keine gute Grundlage für eine innige Beziehung zwischen Semjon und seiner Schwester dar. Die Mutter des Vaters lebt am selben Ort. Semjon und sein älterer Bruder sind oft bei der Oma zu Besuch, schlafen manchmal sogar dort. Sie mögen die Oma gerne und hören sie Deutsch sprechen. Problembehaftet wird jedoch die Beziehung zu ihrem neuen Mann geschildert. Zu ihm haben sie „ein schlechtes Verhältnis, [mh] weil der war oft so irgendwie, so, man hat nur die biologische Linie beachtet, also [ja] die biologischen Enkel sind Enkel und die anderen sind Hunde

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so irgendwie. /lacht auf/ [oh, okay]“ (Z693ff). Die Formulierung „die anderen“ schließt ihn selbst mit ein. Die distanzierte Form rührt vermutlich daher, dass die Ablehnung innerhalb der Familie für ein Kind schwer zu begreifen und verletzend ist. Insgesamt erhält man kein Bild einer engen emotionalen Bindung innerhalb der Familie. Als gemeinsame Erlebnisse erzählt Semjon davon, dass die Eltern mit ihm und seinem Bruder gebastelt und ihnen vorgelesen hätten, allerdings nur in der frühen Kindheit und auch da nur sehr selten. Es geht vor allem um Mangel: Mangel an Geld, Mangel an Kultur, Mangel an Kontakten und im Gegensatz dazu einem Zuviel an Gewalt und Einbezug in unliebsame Aufgaben. Schule: zwischen Teilhabe und Ausgrenzung Nach einer Zeit der Orientierung, die Semjon zeitlich nicht konkretisiert, kommt er in eine Sportklasse. An vielen Schulen gab es eine Klasse mit solch einem Schwerpunkt. Im Fall von Semjon ist die Wahl nicht durch ein besonderes Talent bestimmt, sondern: „Ich bin dorthin gegangen, gekommen, weil ich irgendwie nicht wusste, was ich machen soll [lacht] irgendwie, wie auch oft im Leben später auch und ähm (.) und die Eltern ham gesagt: Ey, da gibt’s drei Mal am Tag umsonst eh Essen, so es wird vom [mh] Staat finanziert, dann geh da ma hin, /lacht auf/ ist bestimmt ganz gut so. [lacht] Und dann bin ich dahin und dann ham wir ganz viel Sport gemacht“ (62ff)

Semjon beschreibt sich als unentschlossen und seine Eltern als pragmatisch denkend. Der Unterricht geht bis zum Nachmittag, inkl. mehrerer Sporteinheiten. Auch in der Schule erlebt er Ausgrenzung. So habe er „schon mit sieben dann die Ehre verteidigen“ (731) müssen. Auf dem Schulhof gibt es dafür sogar eine eigene „Prügelecke“ (732), wo dies „standardisiert“ (733), wie ein Männlichkeitsritual, abläuft. Er erzählt, dass er sich öfter geprügelt habe, da er Faschist genannt wurde. Es ist möglich, dass er diese Situation aufgrund des Interviews herausgreift. Deutlich wird jedoch, dass den anderen Kindern bewusst ist, dass er (auch) einen deutschen Hintergrund hat und dies (zumindest) in Streitsituationen negativ bewertet wird. Wie bereits oben ausgeführt, wird Semjon auch im Kontext von Schule nicht ‚einfach‘ als Deutscher beschimpft, sondern wird mit dem Begriff belegt, der im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Deutschland der 1930er- und 40er-Jahre steht. „Weil, es war in Russland äh äh auch ganz klar, wer Faschisten sind, so. Wir ham, (.) es gab diese Na- Nachkriegs- sag ich mal Propaganda, [mh] wir ham den Faschismus

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Biographische Fallrekonstruktionen besiegt und das is der Feind, [ja] und wir sind Sowjetunion und wir sind das Held“ (734ff)

Somit wird er aus der siegreichen Gemeinschaft exkludiert und zum Feind und Verlierer gemacht. Dabei habe er „tausend Bilder gemalt, wo links auf dem Blatt irgendwie so äh russische, sowjetische Panzer sind und Flugzeuge und rechts irgendwie so alles mit Hakenkreuz, hier Stern [mh] un-, wir ham natürlich die alle besiegt und hier explodierte alles [ja] und das waren die Bösen, ne? /genervt:/ Und da haben die uns Faschisten genannt, ne? [ja]“ (737ff)

Semjon fühlt sich zugehörig und malt den Feind, den er besiegt, rechts. Trotzdem wird er von den anderen zum Feind gemacht. Versetzt man sich in die Lage eines Kindes, so lässt sich vermuten, dass dies verwirrend und schmerzhaft ist. Es drückt sich bei Semjon der Wunsch nach einer eindeutigen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft aus. Auch sein Vater habe Diskriminierung aufgrund seines deutschen Hintergrundes erfahren. Dies sei umso stärker geworden, je mehr Menschen nach Deutschland ausgesiedelt seien (was er mit Neid erklärt). Allerdings erklärt Semjon auch, dass die erfahrene Ausgrenzung nicht „alltäglich“ (1208) vorgekommen sei und er auch „Kumpels und […] schon eine /leicht singend:/ Freundin“ (Z.103f) gehabt habe. Ausreise Mit der Lockerung der Einreisemöglichkeit sind einige Verwandte von Semjon nach Deutschland migriert, auch die Schwester des Vaters, die ihnen rät, es ihr gleichzutun. Semjon kann sich nicht erinnern, konkret nach seiner Meinung gefragt worden zu sein, gibt jedoch an, dass es „klar [war, JZ] irgendwie für alle. [mh] Ich mein, dass Deutschland gut ist, und dass nach Deutschland ziehen das Richtige ist“ (792f). Die Eltern versprechen den Kindern, in ein tolles Land mit „schönen vielen Farben“ (108) und allem Konsum, den sie sich wünschen, zu reisen. Es wird eine Sehnsucht nach Konsum deutlich, die auch in Zusammenhang mit der politisch-historischen Lebenssituation der Menschen im Land gesehen werden muss. Semjon beschreibt, das Gegenstände aus Deutschland, wie Filzstifte in „allen Farben, die so übergehen“ (796) oder Schuhe, selbst wenn sie viel zu groß sind, „wie son son Götze irgendwie“ (796f) seien. In diesem Zusammenhang wird die Zugehörigkeit zu einer positiven Besonderung. Semjon geht davon aus, nach der Migration ein schönes Leben im Luxus zu führen.

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Während sie auf die Bearbeitung der Unterlagen warten, geschieht in der Sowjetunion der Umbruch, sodass diese Ende 1991 aufgelöst wird. Dies führt bei der Familie zu der Sorge, dass die Grenzen geschlossen werden. Es wird deutlich, dass sie Angst haben, keine Ausreisegenehmigung mehr zu erhalten, was wiederum verdeutlicht, dass diese von ihnen als etwas sehr Erstrebenswertes betrachtet wird. So zeigen sie sich erleichtert, als sie die Zusage erhalten: „und dann ham wir‘s doch geschafft“ (47f). Im Herbst 1993 migriert die Familie. Beim Abschied weint Semjons russische Oma und auch alle anderen verabschieden sich emotional von ihm. Er habe jedoch lediglich gesagt: „Mach die Tür zu, wir fahren nach Deutschland“ (808f), denn bei ihm überwiegt die Freude auf das von den Eltern in Aussicht gestellte Leben. Gleichzeitig hat Semjon mit seinen 13 Jahren kein realistisches Bild von einer Migration. Er beschreibt das Gefühl, „in Urlaub“ (802) zu fahren. Diese Umschreibung macht deutlich, dass er die Endgültigkeit nicht greifen kann. Ein Urlaub stellt eine angenehme Abwechslung und Auszeit vom Alltag dar, die zeitlich begrenzt ist. Eine Migration hingegen führt – auf Dauer – zu einem neuen Alltag und Leben. „Dass wir dann nicht wiederkommen, das war außerhalb glaub ich äh, meiner Fähigkeiten [mh] mit dreizehn Jahren“ (804f). Und zweimal sagt er: „ich konnte das nicht fassen“ (802f, 806). Diesem Satz wohnt eine Doppeldeutigkeit inne. Auf der einen Seite betrifft er Semjons kognitives Denkvermögen, das die Endlosigkeit nicht begreifen kann. Auf der anderen Seite sind der Formulierung auch Bedeutungen wie ‚nicht damit gerechnet haben‘ oder ‚nicht verstehen/verarbeiten können‘ inhärent. Die erste Zeit in Deutschland: Enttäuschungen Nach der Registrierung in Friedland werden sie von Verwandten aufgenommen („wir geben uns nicht, euch nicht ins Lager, ihr wohnt erst mal bei uns“, 901f). Dadurch bleibt ihnen die Erfahrung des Lagers erspart, was einen guten Start unterstützen kann. Nach einer Weile finden die Verwandten eine eigene Wohnung für Semjons Familie. Allerdings liegt diese am Stadtrand, sodass zu Fuß keine relevanten Orte zu erreichen sind. Die Familie hat das Gefühl, von den Verwandten ‚abgeschoben‘ und mit den Herausforderungen allein gelassen zu werden. Zusätzlich schüren diese noch Ängste: „Du darfst bloß keinen Deutschen böse angucken oder so, da wirst du gleich des Landes verwiesen. [oh!] Ganz, ganz viel, die ham uns eingeschüchtert, ich war dreizehn und dachte: [ja] Äh, wie geht man hier um, ey?! [lacht] /lacht auf/ Ich will nicht in den Knast kommen. [lacht]“ (118ff)

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Semjon ist noch jung und neu in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht spricht, und kann daher den Wahrheitsgehalt der Aussagen nicht einschätzen. Da es seine Verwandten sind, die ihn warnen, wird er es vermutlich ernst nehmen und in der Sorge leben, etwas falsch zu machen und seinen Aufenthalt zu gefährden. Das Alleingelassenwerden und die ‚Angstmacherei‘ erschweren ein unbeschwertes Ankommen. Die Familienmitglieder besuchen Sprachkurse und haben ansonsten keine Kontakte zu anderen Menschen. Die Kinder können erst zu Beginn des nächsten Jahres in die Schule einsteigen, was Semjon sich rückblickend nicht erklären kann. Sein großer Bruder ist durch den geringen Altersabstand in einer ganz ähnlichen Situation wie Semjon. Dennoch sprechen die beiden nicht über ihre Gefühle. Stattdessen streiten sie sich viel, kümmern sich um die kleine Schwester oder hören Kassetten. Nach den positiven Erwartungen fühlt Semjon sich rasch ernüchtert. In Russland hatte man „schon eine Identität und war irgendwo auch cool in bestimmten [mh] Sachen so und eh man kam hierher und das war erstmal so ein Einbruch, ne [mh] und (.) der nicht erwartet wurde, was ich meinen Eltern ein bisschen so vorhalte. [mh] Dass die uns da nich für drauf vorbereitet haben. [ja] Wir sind in ein Land der Bananen und äh schönen vielen Farben gereist /lacht auf/ [lacht] und die Banane wurden äh dann gegessen, sogar die mussten ja am Anfang rationiert werden, nur eine Banane am Tag so, [mh] da ging‘s schon los /lacht auf/, also man konnte sich nicht satt futtern, weil die, also die Sozialleistungen warn halt nich so hoch, dass die [mh] ähm, das wir da uns satt, sag ich mal an diesen Sachen, [mh] satt essen konnten“ (104ff)

Semjon fühlt einen „Einbruch“ in Bezug auf seine Identität, der nicht durch die Lebensumstände wettgemacht wird, wie es die Eltern behauptet haben. Er migriert mit dem Gedanken, dass alles besser wird und stattdessen wird ein Teil schlechter und der andere Teil nicht so gut, wie versprochen. Die Familie muss erneut sparen, was er anhand des Beispiels der ‚rationierten Bananen‘ deutlich macht. Er bekommt nur eine ‚Ration des versprochenen besseren Deutschlands‘, sodass der Gewinn für ihn nicht ersichtlich ist. Dabei hat er das Gefühl, dass seine Eltern ihn nicht richtig auf das Leben nach der Migration vorbereitet haben bzw., dass sie ihn mit falschen Versprechungen belogen haben. Die Eltern konnten es vermutlich nicht besser wissen, da von bereits migrierten Verwandten ein idealisiertes Bild vermittelt wurde. Semjon erlebt es jedoch bis zur Gegenwartssituation als Vertrauensbruch und Enttäuschung. 1994 beginnt für Semjon der Schulbesuch in Deutschland. Die ersten Monate sind „schon ne heftige Zeit (.)“ (136), den ersten Schultag erlebt er als eine Art Schock:

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„Und äh, (.) ja und irgendwann bin ich halt zur Schule (.) gekommen, in die Schule gekommen und (.) hab erst da gemerkt, was da alles irgendwie auf mich zukommt und bin da halt irgendwann nach Hause nach dem ersten Schultag und hab (.) geheult und hab gesagt: (.) Äh, ich will da nich nochmal hin. [mh] Die Eltern haben dann gesagt: Ne, *du musst da hin, wieso? das geht doch nicht und (.) ja*“ (843ff)

Zu Beginn kann Semjon nur ein paar auswendig gelernte Sätze auf Deutsch sprechen. Er fühlt sich fremd und überrannt von den Anforderungen. Seine Gefühle drücken sich durch seine Tränen und den Wunsch aus, nicht noch einmal in die Schule gehen zu müssen. Die Eltern reagieren offenbar wenig empathisch und argumentieren auf der formellen Ebene, dass ein Fernbleiben von der Institution nicht möglich sei. Es fällt auf, dass Semjon die Entgegnung seiner Eltern in wörtlicher Rede und deutlich leiser spricht, was ausdrückt, dass dies für ihn in der Tat eine belastende Situation gewesen ist. Auf Nachfrage ergänzt er: „Ja, ich ich ich muss da hin, und irgendwie ich soll, darf nich zu lange nerven, weil die waren selbst ständig [mh] so abgenervt und dann gab‘s irgendwann, (.) wurde laut gesagt, dass ich die in Ruhe lassen sollte, [ja] ne?, dass die auch andere Probleme (.) haben“ (887ff)

Semjons Sorgen werden nicht beachtet und sogar als nervend betitelt. Die Eltern haben ebenfalls Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung und diese wiegen für sie offenbar schwerer bzw. ist es ihnen nicht möglich, daneben noch den Kummer des Sohnes angemessen aufzufangen. Semjon findet kein Gehör und keinen Trost, sondern wird abgestraft. Ihm wird vermittelt, dass er stört. Direkt nach der Migration stellt dies für einen 13-Jährigen vermutlich eine schwierige Situation dar. Dies drückt sich auch darin aus, dass er den ersten Teil des Satzes im Präsens formuliert, wodurch das Geschehen bis heute ‚präsent‘ erscheint. Hinzukommt, dass Semjon im Gegensatz zu seinem älteren Bruder eine Abstufung erfährt. In Russland hat er die siebte Klasse begonnen (da ein Schuljahr übersprungen wird, wäre er nach deutschem Verständnis in der sechsten Klasse), er wird allerdings in die fünfte Klasse eingeteilt. „/ratlos:/ Ich weiß nicht warum. [mh] Und es gibt nicht so viele Fälle, wo Leute so runtergesetzt werden, aber ich weiß nicht, wieso die das gemacht haben. (2) Keine Ahnung, die haben das kurz besprochen mit dem Direktor meine Eltern saßen da, und vielleicht haben sie auch irgendwas nicht verstanden, [mh] keine Ahnung. Jedenfalls (.) so (.) hätte ich jetzt Kinder hätt ich äh schon tausend Gedanken gemacht, wie das ist“ (877ff)

Semjon versteht (bis heute) nicht, warum er zurückgestuft wurde und erhält keine Erklärung.

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Biographische Fallrekonstruktionen „Und äh (2) ja, mein Bruder kam in die gleiche Schule wie ich, (.) also dieselbe Schule und (.) aber er (.) irgendwie wurde er nicht paar Klassen runtergesetzt, der kam genau in die Klasse, die er sein sollte [mh] und war mit seinen Gleich- (.) also, Gleichaltrigen so. [mh] /ratlos:/ Ich weiß nicht warum. [mh]“ (875ff)

Besonders im Geschwistervergleich kann dies ein Gefühl der Degradierung darstellen. Retrospektiv grenzt Semjon sich vom Verhalten der Eltern ab. Er hält es für möglich, dass sie den Direktor nicht verstanden haben (z.B. sprachlich oder aufgrund der Andersartigkeit des Schulsystems) und unterstellt ihnen, dass sie sich nicht genug Gedanken (um ihn) gemacht haben. Er betont, dass er es anders machen würde, wenn er Kinder hätte und grenzt sich damit vom (Erziehungs-)Verhalten der Eltern ab. In Russland sei man „mit dreizehn Jahren […] schon ein Mann“ (130). Weil die Umstände „härter“ (132) und Prügeleien an der Tagesordnung seien, könne man Semjon zufolge in Russland nicht so lange Kind bleiben wie in Deutschland. Seine MitschülerInnen kommen ihm daher wie „Kinder“ (128) vor und „da gab‘s ganz, ganz viele Konflikte, irgendwie so, [mh] dass ich mit jemand geschlagen habe und ich musste zu /lacht auf/ [mh] zum Direktor“ (133ff). Semjon wird auffällig. Er versucht, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Aufgrund seiner „Sprachschwierigkeiten und auch so kulturelle Schwierigkeiten“ (868) wird er gehänselt. Einen weiteren Anlass dafür bietet sein fremd klingender Name, den die MitschülerInnen in eine Verballhornung abändern. Dies verletzt ihn sehr und führt zu Aggressionen. Seine Eltern müssen in die Schule kommen, was für gewöhnlich nur bei größeren Auffälligkeiten gefordert wird. „ich musste mich schnell verteidigen, hab sogar mal im Unterricht, da weil mich ständig einer gehänselt hat, irgendwie mit dem Kugelschreiber irgendwie so verletzt [mh] und das war, *es war auch nicht eigentlich so, nicht meine Art, ich bin kein Prügeltyp*, aber dann bin ich zum Direktor und dann eh, typisch der Russe irgendwie verletzt hier alle [mh]“ (870ff)

Die genaue Tat an sich verschweigt Semjon. Er hat (mindestens) einen anderen Schüler mit einem Kugelschreiber so verletzt, dass die Angelegenheit nicht direkt vom Klassenlehrer geklärt wird, sondern an den Schuldirektor übergeben wird. Dieser bringt Semjons Tat offenbar in Zusammenhang mit seinem Herkunftsland, wodurch er ‚das Russische‘ negativ besetzt (denn ein verletzendes Verhalten sei „typisch“). Semjon gibt an, dass es eine Verteidigungstat gewesen sei und er zuvor „ständig“ gehänselt worden sei. Auf diese Not, die ihn betrifft, geht offenbar niemand ein. Er wird zum Schuldigen ernannt und abgestraft. Es wird nicht ganz deutlich, worin der Unterschied zu den Prügeleien in Russland besteht. Eventuell

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in dem Punkt, dass dort zwei Schüler ‚standardisiert‘ ihren Streit ausgetragen haben, wohingegen in Deutschland nur er körperlich auf ‚wörtliche Angriffe‘ reagiert. In Russland sei dieses Verhalten akzeptiert gewesen, in Deutschland wird er zum Direktor zitiert und mit negativen Zuschreibungen belegt. Vielleicht fühlt er auch deshalb eine Differenz. „Aber trotzdem war ich äh irgendwann wie gesagt ganz schnell auch der Russe, ne? [mh] Und (.) ja, das da waren, aber so so eindeutig war das alles nicht, das war alles voller Widersprüche und [lacht auf] so wirklich äh, ambivalente Sachen. Bin ich jetzt Russe oder bin ich Deutscher“ (985ff) „Also, die Nachbarn [in Russland, JZ] zum Beispiel auch, [ja] für die waren wir halt (.) so die die Deutschen, ne? so irgendwie. [mh] Wobei wir hier die Russen sind. /lacht auf/ [super] [lacht]“ (599f)

Semjon macht in beiden Ländern Differenzerfahrungen. Nirgends gehört er fraglos dazu. In Russland wurde er als Faschist charakterisiert, in Deutschland als ‚brutaler Russe‘. Dabei sind die Zuschreibungen stets negativ besetzt. Semjon fühlt sich allein und wünscht sich jemanden, der ihn versteht und seine Sprache spricht: „Und [ja] ich konnte, da gab‘s dann diesen Austausch nicht, und das war echt äh äh ziemlich äh, (.) da hat was gefehlt, [mh] ne?“ (157f). Die Bedeutung der Kleidung Vor der Migration hat die Familie sehr viel Geld in Kleidung investiert, vermutlich verbunden mit dem Wunsch, dadurch im Einwanderungsland einen guten Eindruck zu machen bzw. „cool“ (849) auszusehen. Die Kleidung wird von Semjon als sehr besonders beschrieben, was durch die Aussage: „in Russland wären wir Könige gewesen“ (853) unterstrichen wird. In Deutschland fallen sie dadurch jedoch negativ auf. Der Kleidungsstil ist „viele Jahre hinterher“ (850). Dies stellt ein starkes Sinnbild der Zurückweisung dar. Das, was sie selber sehr chic finden, mit Stolz tragen und was in Russland honoriert worden wäre, erscheint in Deutschland veraltet und „komisch“ (Z852). Da Kleidung auch Ausdruck der Persönlichkeit ist, stellt dies eine Zurückweisung/Degradierung dar. Semjon macht demnach in verschiedenen Kontexten Erfahrungen von Abwertung. Die Verwandten raten der Familie, in eine Kleinstadt etwa eine Autostunde entfernt zu ziehen, da es dort gute Wohnungen gebe. Semjons Eltern folgen dem Rat, sodass die Familie im Sommer 1994 umzieht und fortan allein mit allen anfallenden Aufgaben ist. Für Semjon (und die Geschwister) führt der Umzug zu einem Schulwechsel zum neuen Unterrichtsjahr, sodass er erneut herausgerissen wird. Seine Probleme setzen sich dort in der sechsten Klasse fort. In Semjon wird

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der Wunsch immer stärker, gleich zu sein und nicht als anders aufzufallen. Er spricht von Anpassung, wiederholt fällt aber auch der Begriff ‚assimilieren‘. So versucht er, sehr schnell Deutsch zu lernen und den typischen Akzent, erkennbar etwa durch das rollende R, zu unterdrücken. Er will nicht durch seine Sprache und Aussprache als Anderer erkannt werden. Vielleicht aufgrund seines Alters gelingt es ihm in der Tat, Deutsch „richtig schnell“ (864) gut zu lernen. Auch äußerlich versucht er, Dinge zu übernehmen, die er für „typisch deutsch“ (934) hält und von denen er annimmt, dass ‚Deutsche‘ sie „cool“ (931) finden. Cool zu sein ist etwas sehr Wichtiges für ihn, was im Interview dadurch deutlich wird, dass dieses Wort sehr oft fällt. Er will auch cool sein, dazugehören. Dabei folgt er nicht seinen eigenen Maßstäben. Es ist der typische Wunsch eines Jugendlichen, in einem gewissen Peerkontext Anerkennung zu erhalten und dazuzugehören. Das Besondere ist, dass er die Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur mit dem Land verbindet. ‚Russische‘ Dinge lehnt er ab, er will ‚deutsch sein‘. Dies stellt eine Abwertung des Bisherigen dar. Die Kleidung aus Russland will er nicht mehr tragen, da er in Deutschland damit nicht modisch gekleidet ist. Er hat den Eindruck, dass es in Deutschland hingegen ‚cool‘ ist, ein „bisschen schlabberig“ (940) rumzulaufen, etwa mit zu langen Ärmeln. Sein älterer Bruder macht sich darüber lustig, dass Semjon versucht, dem Mainstream zu entsprechen. Semjon fühlt sich unverstanden. Dabei ist es für ihn schwer, modisch mitzuhalten, da sie kein Geld für Kleidung haben; z.B. wünscht er sich Turnschuhe einer speziellen Marke, denn „das war wirklich absolut wichtig, so me- [ja] irgendeine we- anderen Leute ham so so so aufpumpbaren Nike-Sachen so für Basketballschuhe und das war supercool [ja] und die hatten (.) äh, halt so Sa- Sachen getragen, (.) die cool waren“ (950ff)

Die Eltern wollen bzw. können dafür jedoch nicht so viel Geld ausgeben, weshalb sie „lang Streit“ (950) haben. Semjon hat das Gefühl, dass seine Eltern ihn nicht unterstützen, ihm nicht helfen, mit den anderen mithalten zu können. Da die Eltern nur wenig Geld zur Verfügung haben, kommt die Mutter auf eine besondere Idee: „also in der sechsten Klasse, in der sechsten Klasse noch in Kleinstadt B, hat mich meine Mutter mitgenommen, da ist sie mit einer anderen russischen Frau losgezogen nachts (.) zum Roten Kreuz-Container und ham mich da quasi, /lacht/ weil ich kleiner war, da reingelassen, /lacht auf/ [lacht] hab da Säcke geschnappt, wir ham die rausgezogen, nach Hause gebracht, [lacht] auseinander genommen, die Sachen rausgenommen, die wir brauchten und ham dann die wieder reingeschmissen. /lacht auf/ […] Und äh für mich gab‘s dann auch irgendwann Sachen, die für mich abgefallen sind und (.) das war mir auch immer peinlich, ich dachte d-dieser Container steht in die Nähe meiner Schule [mh] und Kleinstadt B ist so klein (.) äh, wenn die mich da irgendwie sehen mit den Klamotten, [mh] die, wo die genau wissen, ihre Mutter hat das zum Roten Kreuz gebracht. [lacht auf] Das war auch so [ja, klar] schlimm, ne? [ja] So

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mit dreizehn Jahren so irgendwie. [mh] Nicht so das Alter, wo man (.) äh, son Puffer sich aufbauen kann, intellektuellen Puffer, sondern [mh] da geht’s ganz direkt. [ja] Ja. (2)“ (953ff)

Die Mutter möchte nicht als bedürftig auftreten, indem sie bei einer offiziellen Stelle um etwas bittet. Für den Plan, heimlich an Kleidung zu kommen, benötigt sie die Hilfe ihres Sohnes. Semjon ist die Aktion unangenehm, dies scheint jedoch nicht gehört zu werden. Besonders peinlich ist es ihm, die Kleidung anschließend zu tragen. Er ist sich bewusst, dass es sich aufgrund der Nähe des Containers zur Schule um Stücke handeln kann, die von Kindern stammen, die er kennt. Er fürchtet, dass andere ein Kleidungsstück wiedererkennen und sich dann über ihn lustig machen. Dies ist ein schlimmes Gefühl für ihn und er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Seine Eltern haben kein Verständnis für ihn. Auch in Russland waren sie eher arm, doch waren es auch alle in ihrem Umfeld. Während Semjon jedoch in Deutschland im Container ‚hängt‘ und nach den Säcken schnappt, wird ihm die ökonomische Ungleichheit zwischen sich und den anderen, die die Sachen gespendet haben, schmerzlich noch stärker bewusst. Semjon unterscheidet sich demnach in Hinblick auf zwei Kategorien von seinem Umfeld: durch den Migrationshintergrund und die Armut/soziale Schicht. Seine Zugehörigkeit ist dadurch in mehreren Hinsichten als prekär zu bezeichnen (vgl. Mecheril 2003). Versuche der Angleichung Beruflich hat der Vater zunächst als Möbelpacker gearbeitet und dann rasch wieder eine Arbeit als Maschinenführer in einem Autowerk annehmen können. Die Mutter hingegen hat „echt so Schwierigkeiten, die hat große Schwierigkeiten mit der [mh] deutschen Sprache“ (211f). Sie kann in Deutschland nicht „Fuß fassen“ (221). Gerne möchte sie etwas dazuverdienen, doch aufgrund ihrer fehlenden Sprachkompetenz ist es schwer für sie, etwas zu finden. Schließlich geht sie stundenweise einer Reinigungstätigkeit nach. Obgleich dies eine schwierige Situation für die Mutter zu sein scheint, hört man bei Semjon weder Mitleid noch Sorge heraus. Die Eltern versuchen eine Anpassung, sie „wollen auch nicht anders sein“ (995). So beginnen sie bereits kurz nach der Migration damit, ihr Zuhause zur Weihnachtszeit zu schmücken, die Kerzen des Adventskranzes anzuzünden und Heiligabend am 24. Dezember zu feiern – obgleich sie dies alles in Russland nicht gemacht haben und keinen besonderen Bezug zu einer christlichen Religion haben. Dies geschieht auch explizit nach außen, so stellen sie z.B. Lichter ins Fenster, „damit auch die Nachbarn sehen äh äh [mh] wir sind gleich so“ (1007f). Andererseits kann dieses Verhalten auch mit dem Wunsch verbunden sein, in der

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neuen Heimat anzukommen. Die Eltern haben sich schon in Russland angepasst und behalten diese Strategie bei. Semjon empfindet die deutschen Weihnachtsrituale als befremdlich und aufgesetzt. Damit tragen die Eltern dazu bei, dass Semjon das Gefühl hat, sich anpassen zu müssen, auch wenn es sich für ihn nicht richtig anfühlt. Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Gleichheit ist die Änderung seines Vornamens zu sehen. Das Gesetz zur Namensführung von Vertriebenen und Spätaussiedlern nach §94 Bundesvertriebenengesetz macht es diesen möglich, den Namen zu ändern, etwa den Vatersnamen abzulegen, den Familiennamen der deutschen Aussprache anzupassen oder die deutschsprachige Form eines Vornamens anzunehmen (z.B. von Vladimir zu Waldemar) bzw. einen neuen Vornamen zu wählen, falls keine deutschsprachige Form vorhanden ist. Die Änderung ist nur einmal möglich und kann nicht rückgängig gemacht werden. Semjon wünscht sich diese von sich aus, da er hofft, somit nicht mehr zum Opfer der Hänseleien der MitschülerInnen zu werden und um sich (äußerlich) zu assimilieren: „Hab irgendwann den Namen hier angenommen, [mh] weil ich (.) gleich sein wollte, ich wollte ass- [mh] assi-, mich assimilieren, so angleichen“ (35f); „Und [mh] irgendwie hab ich deswegen immer gesagt: Ich will Simon heißen, [ja] ich will nicht Semjon heißen so, Semjon gibt’s nicht mehr“ (124f). Sein Wunsch nach (fragloser) Zugehörigkeit zum ‚deutschen‘ Umfeld weckt bei Semjon den Gedanken, dass jeglicher Hinweis auf seine natio-ethno-kulturelle Herkunft unkenntlich gemacht werden muss. Die Aufgabe des eigenen Namens kann als Reaktion auf die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft und als Strategie der Anpassung betrachtet werden. Der Namenswechsel steht darüber hinaus symbolisch für eine vollkommene Abkehr von seinem bisherigen Leben bzw. von seinem ‚Vor-Migration-Ich‘, wie es die Formulierung „Semjon gibt’s nicht mehr“ ausdrückt. Damit kann zudem der Gedanke verbunden sein, dass er auch innerlich – quasi automatisch – ‚deutscher‘ würde, wenn er äußerlich ‚deutsch‘ klingt und dann nicht mehr so fremd ist/sich nicht mehr so fremd fühlt. Die forcierte Anpassung kann in diesem Sinne als Bearbeitung der Migrationserfahrung gesehen werden. Es ist jedoch zu fragen, was es mit einem 13-Jährigen macht, wenn er plötzlich einen anderen Vornamen trägt. Sein ganzes bisheriges Leben war er Semjon. Es ist der Name, den seine Eltern für ihn gewählt haben. Und es ist der des Großvaters, wodurch er mit einer besonderen Bedeutung belegt ist. Zudem hat er eine positive religiöse Bedeutung61. Nun wird der Name in ‚Simon‘ geändert, der einen ähnlichen Klang hat, aber nicht der russischen Bedeutung entspricht. Zugleich steckt darin eine Abwertung des alten Namens/des alten Lebens. Wie reagiert sein nahes Umfeld? Halten sie sich an die Änderung? Und was geschieht, wenn er trotz 61

Aufgrund der Anonymisierung kann die Bedeutung des Originalnamens nicht genannt werden.

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der Änderung weiterhin genau dieselben Erfahrungen der Ablehnung macht? Denn es scheint zumindest zweifelhaft, ob der geänderte Name auch alles andere ändert. Selbst wenn Semjon es versucht, kann er den autochthonen MitschülerInnen aufgrund seiner Biographie gar nicht vollkommen ‚gleichen‘. Obgleich Semjons Sozialverhalten z.T. noch auffällig ist, erhält er 1995 aufgrund seiner guten Leistungen eine Gymnasialempfehlung. Dies stellt eine Anerkennung seiner Fähigkeiten und Mühen dar, die ihm Selbstvertrauen gibt und den Beginn eines erfolgreicheren Abschnitts markieren könnte. Die Eltern entscheiden sich jedoch dafür, ihn auf eine Realschule zu schicken, da sie Angst haben, dass er auf dem Gymnasium scheitern könnte. Sie selbst haben Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und kennen sich mit dem Schulsystem nicht aus. Sie können sich nicht vorstellen, dass der Sohn es ohne ihre Unterstützung schaffen kann. Auch ein Gespräch mit der Lehrerin kann daran nichts ändern. Mit dieser Entscheidung wird eine Weichenstellung für den weiteren Bildungsweg vorgenommen, deren weitreichende Folgen ihnen vermutlich nicht bewusst sind. Semjon selbst bekommt angesichts der Meinung der Eltern Selbstzweifel und sagt, dass er nun auch nicht mehr auf ein Gymnasium wolle. Auf der erzählten Ebene macht Semjon ihnen deshalb Vorwürfe. Er hätte ihre „Unterstützung gebraucht“ (1056) und sie „ham da schon ihren Beitrag geleistet, dass ich diesen Weg nicht gegangen bin […] und auf dem Gymnasium wäre ich vielleicht auch äh (.) besser aufgehoben und hätte (.) auch früher einige Fähigkeiten entwickeln können“ (1064ff). Er imaginiert, dass sein Weg hätte anders und erfolgreicher verlaufen können, wenn er ein Gymnasium besucht hätte. Insgesamt fällt im Interview auf, wie oft er betont, dass seine Eltern „nichts mit irgendwelchen intellektuellen Sachen zu tun“ (1047) und keinen „kritischen [mh] Bezug zu den Sachen“ (1054f) hätten. Dabei bleibt er nicht bei einer neutralen Beschreibung, sondern erhebt sich durch seine Formulierungen über seine Eltern und stellt sie bloß. Er präsentiert es wie eine schlechte Charaktereigenschaft, für die die Eltern selbst verantwortlich sind. Dadurch wird deutlich, dass er seine Enttäuschung im Verhältnis zu den Eltern bisher nicht bearbeiten konnte. Die russische Clique 1995 ziehen die Familie in eine Neubausiedlung, in der laut Semjon viele ‚Russen‘ und ‚Polen‘ leben. „wir [der ältere Bruder und er, JZ] ham immer so ausm Fenster geguckt und waren so sag ich mal recht einsam und auf einmal liefen da Leute rum, die wir als (.) Russen identifiziert haben irgendwie [kleines Lachen] gemerkt haben ey, da sind Leute aus von unserer Heimat und die wohnen hier anscheinend irgendwie so. [kleines Lachen]

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Biographische Fallrekonstruktionen Das is irgendwie so, wenn, wenn, wenn, wenn ein Hund ein anderen Hund sieht [lacht] /lacht auf/ war das vielleicht so ähnlich so: Oh, [lacht] wer is denn da irgendwie? Und das war denn auf einmal unsere Clique so, [ja] wir ham uns mit denen befreundet, die ham uns dann gesagt: Ey, euch kennt man gar nicht, ihr seht aus wie Deutsche. Und wir ham so assimiliert irgendwie mit Frisur und [mh] alles irgendwie, ich hab mein Pullover so über die Arme gezogen, das war ganz cool, in Russland wär das als ey, (.) das zieht man so /er deutet es an/ [ja] und nich über die Arme [lacht] und das warn so Kleinigkeiten. Und das war dann unsere Clique“ (161ff)

Semjon stellt es wie ein plötzliches und überraschendes Geschehnis dar („auf einmal“), das die traurige Routine („immer so“) durchbricht und aus den einsamen Brüdern Teil einer Clique macht. Er beschreibt es wie ein Erwachen, dem der Gedanke inhärent ist: ‚Es gibt noch mehr von uns, wir sind nicht allein‘. Der HundeVergleich lässt das Instinktive besonders stark hervortreten. Darin enthalten, wenn von Semjon auch nicht ausgeführt, ist ein ‚Rasse-Gedanke‘. Er impliziert, dass Hunde einer Rasse besonders gut zueinander passen. Semjon spricht verallgemeinernd von „Russen“ und führt erst an späterer Stelle aus, dass es sich größtenteils ebenfalls um (Spät-)Aussiedler handelt. Damit nimmt er stereotype Zuschreibungen vor: ‚die‘ Deutschen auf der einen und ‚die‘ Russen auf der anderen Seite. Semjon wird zusammen mit dem älteren Bruder Teil der Clique. In Russland hatten sie nach Alter getrennte Freundeskreise, nun ‚darf‘ er beim Bruder mitmachen. Es geht weniger ums Alter als um die Zugehörigkeit. Bei diesen Jugendlichen findet er erstmals in Deutschland eine soziale Einbindung. Die Peergroup zeichnet sich vor allem durch die geteilte Herkunft aus. Auf einmal ist das unpassend und fällt negativ auf, was er zur Angleichung versucht hat. „Ja, aber dann als wir dann die äh Russen kennengelernt haben, kam die russisch strenge Mode auch wieder, ich hab lange Zeit dann auch (.) so, sogar so so ein Gürtel getragen, aus der russischen Armee, [mh] mit so einem Stern [mh] vorne drauf, so irgendwie und äh das war auch ganz cool. [mh] *So hat man gezeigt, dass man gezeigt, dass man richtiger Mann ist, irgendwie so. Und dass man Russe ist*. /lacht auf/ [lacht auf] Irgendwann gab‘s auch doch recht schnell die Identität so, ich bin Russe so, [mh] und dann hatte man eine Identität“ (974ff)

In der Clique erlebt Semjon, dass die anderen Jugendlichen sich nicht ‚dem Deutschen‘ anpassen und damit, zumindest in der interethnischen Gemeinschaft, anerkannt werden. In der Folge findet bei Semjon ein starker Rückbezug auf ‚das Russische‘ statt. Erneut fällt er mit einer starken Zick-Zack-Bewegung von einem Extrem ins andere. Hat er zuvor seinen Kleidungsstil angepasst und sogar seinen Namen ‚geopfert‘, ist er nun bemüht, (s)eine russische Identität auch nach außen zu demonstrieren. Dabei wählt er ostentativ u.a. einen Gürtel mit einem Symbol der russischen Armee. Dies lässt auch an seine Kindheit denken, in der er sich mit der

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russischen Armee identifizierte und zugleich zeigen wollte, dass er eben kein Faschist ist. Offenbar ist es recht leicht, so in der Clique und außerhalb die ‚eindeutige Identität Russe‘ zugeschrieben zu bekommen. Es ist für Semjon einfacher, sich auf diese zu beziehen, denn dies macht ihm von außen keiner streitig, obgleich er als Spätaussiedler in Deutschland lebt und sein Vater ‚deutsch‘ ist. Zudem geht es um das Thema Männlichkeit. Seine deutsche Anpassung beschädigt ihn – die Symbole ‚des Russischen‘ und der Rückhalt der Gruppe ermöglichen es ihm, sich männlich zu fühlen. Die Peergroup befriedigt seine Sehnsucht nach Selbstverständlichkeit. Dort wird er mit seiner Muttersprache, die ihm immer noch näher ist, verstanden und darüber hinaus intuitiv, z.B. in Hinblick auf Insider, wie er anmerkt („Und mit meinen Leuten äh, mit anderen aus Russland meinen Kumpels, [mh] da is auch das möglich, *quasi auch, irgendwelche (.) Insider da*“, 1222f). „Und irgendwann, ich weiß nicht, das war in der siebten Klasse, glaub ich, (.) so abrupt hab ich gedacht: /betont:/ Wieso? [lacht auf] Und hab das R [lacht auf] wieder mit reingenommen. [mh] Und ja, das ist wieder so, es war wahrscheinlich immer eine Identitätssache so immer, [mh] also egal in welchen Phasen ich war [mh] und äh (.) ja, seitdem spreche ich das R, obwohl ich das (.) weglassen könnte. […] für mich ist das irgendwie ehrlicher, glaub ich“ (1175ff)

Vermutlich angeregt durch die Haltung seiner Peergroup stellt Semjon seine bisherigen Anpassungsleistungen infrage. Dabei verknüpft er die Sprache (bzw. den hörbaren Akzent) mit der Frage nach der eigenen Identität. Indem er im Deutschen den Buchstaben R auf besondere Weise ausspricht, die ihn als russischen Muttersprachler verrät, hat er das Gefühl, seine Zugehörigkeit auszudrücken. Er will nun als aus Russland stammend erkannt werden, auch wenn er es sich damit in der Ankunftsgesellschaft schwerer macht. So spricht er auch immer wieder mit einer Klassenkameradin auf Russisch, obgleich die LehrerInnen dies ablehnen. Einmal habe die Geschichtslehrerin daraufhin losgeschrien: „könnt ihr mal leise hier mit deiner harten, schrecklichen Sprache und hat uns dann so nachgeäfft, so hcuar hcuar, so“ (1481f). Die Lehrerin verhält sich beleidigend und diskriminierend, indem sie seine Muttersprache herabsetzt. Semjon hat zudem das Gefühl, dass seine MitschülerInnen ihn aufgrund rassistischer Einstellungen nicht mögen würden. Dieses Gefühl wird vermutlich auch durch Geschehnisse bestärkt, die sich in der Kleinstadt zu dieser Zeit ereignen. So hätten Rechtsextreme einen Russen verprügelt und skandiert: „Kleinstadt B gehört den Deutschen“ (1497). Daraufhin versammeln sich „wir Slawen“ (1500), laut Semjon ‚Jugoslawen‘, ‚Polen‘ und ‚Russen‘. Ihr Motto sei: „wir Slawen, wir zeigen es denen, und /lacht auf/ verprügeln die […] und da hat ich auch auf einmal son Gefühl, wir sind Slawen, so“ (1500ff). Angesichts der Ereignisse vereinen sich die Zugezogenen aus dem osteuropäischen Raum und beziehen sich auf eine größere Gemeinschaft bzw. übergeordnete

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Gruppenzugehörigkeit. Es geht über konkrete Nationen hinaus, zusammen sind sie stärker. Es entsteht eine ‚wir-gegen-die-Situation‘, die die Differenzen verschärft. Semjon, der nicht fraglos zu den Etablierten gehören konnte, ordnet sich nun den Außenseitern zu, die sich gemeinsam jedoch auf eine starke Zugehörigkeit berufen. 1997 zieht die Familie in ein altes Haus, das die Eltern auf Kredit kaufen und komplett renovieren müssen. Der Vater arbeitet hart im Drei-Schicht-System, um dies möglich zu machen. Dies verdeutlicht, wie wichtig den Eltern das eigene Haus ist. In einer Studie von Vogelsang (2008) wurde deutlich, dass der Bau des Eigenheims für (Spät-)AussiedlerInnen bedeutet, dass man nach der Zuwanderung „im Wortsinn wieder Boden unter den Füßen hat“ (187). Zugleich spricht es für die geplante Dauerhaftigkeit des Lebens in Deutschland. Zu dieser Zeit siedelt Semjons Oma mit ihrem zweiten Mann ebenfalls aus. Sie kann sich mit ihrem Deutsch ganz gut verständigen und kommt besser zurecht als Semjons Eltern. Jedoch findet er keine innige Beziehung mehr zu ihr. Der ältere Bruder macht nach seiner Ausbildung das Fachabitur und ändert somit den durch die Eltern bestimmten Bildungsweg ab. Semjon beendet 1999 seine Realschule und weiß nicht, was er mit dem Abschluss machen soll: „ich hatte keine Interessen, gar nix irgendwie“ (254). Er wirkt leer. Dass er angibt, gar keine Interessen zu haben und sich auch im Voraus offenbar überhaupt nicht mit der Frage befasst hat, was er nach dem Schulende machen könnte, ist auffallend. Er hofft, dass er zur Bundeswehr gehen kann. Zum einen, da die Entscheidung, was er machen soll, damit verschoben wird und zum anderen hat er den Gedanken: „jetzt geh ich dahin und werde da ein Mann“ (258). Semjon berichtet, dass Freunde von ihm beim Bund sind und stolz davon erzählen. Er ist inzwischen 18 Jahre alt und die Frage: ‚Wie wird man in Deutschland zum Mann?‘ ist relevant für ihn. Semjon erlebt seinen Vater arbeitend bis zur Erschöpfung und sich anpassend, wodurch er für ihn kein wünschenswert nachzuahmendes Bild von Männlichkeit darstellt. Semjon wird jedoch nicht eingezogen, denn „irgendwie ham die da mit den Papieren das nich hinbekommen“ (255f). „Und äh und dann bin ich zum Arbeitsamt gegangen, habe gesagt: Ja, ich bin jetzt arbeitslos. Und die meinten: Du kannst jetzt nicht so jung so arbeitslos sein, das geht nicht, /lacht/ [lacht] geh mal zur Handelsschule, [mh] einjährige Handelsschule. Äh, dacht ich: Geh ich zur Handelsschule so. [lacht auf]“ (263ff)

Da Semjon keinen eigenen Plan hat, folgt er dem Ratschlag von offizieller Stelle ohne viel darüber nachzudenken. Das nicht vorhandene eigene Bild für das (berufliche) Leben spricht für eine bisher völlig fehlende adoleszente Auseinandersetzung mit diesem Thema. Generell erzählt er sehr wenig zu dieser Zeit, obgleich es sich eigentlich um wichtige Jugendjahre handelt.

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Schöne Konsumwelt Der große Bruder fängt nach seinem Fachabitur ein Studium an. Semjon beginnt nach der einjährigen Handelsschule im Jahr 2000 eine 2,5-jährige Ausbildung zum Kaufmann in der Firma, in der auch sein Vater arbeitet. Es ist denkbar, dass dieser dabei eine Rolle gespielt hat. Entweder direkt, indem er es ihm vorgeschlagen und/oder ihn empfohlen hat oder indirekt, indem der Sohn sich an ihm orientiert. Die Arbeit liegt Semjon und er ist gut darin. Daher bekommt er gute Bewertungen, darf direkt einem der Chefs zuarbeiten und als einziger Auszubildende auch Dienstreisen machen. Dass er den anderen vorgezogen wird – gerade nach den vielzähligen Zurückweisungen – löst in ihm sicher ein Gefühl des Stolzes aus. Die Bevorzugung bringt ihm aber auch den Neid der anderen Auszubildenden ein. Semjon entwickelt ein großes Interesse an materiellen Dingen („war halt auch sehr materiell orientiert“, 435f) und den Wunsch, viel Geld zur Verfügung zu haben, um sich etwas leisten zu können. Deshalb arbeitet er neben der Ausbildung an den Wochenenden und im Urlaub noch in einem anderen Betrieb. Die Tätigkeit dort bezeichnet er als „Drecksarbeit“ (429), „giftig“ (413), „schwer“ (ebd.) und „schrecklich“ (425), aber für den guten Verdienst nimmt er sie auf sich. Dem Beispiel seines Vaters folgend arbeitet er sehr hart, um sich etwas leisten zu können. Beim Vater ist es das eigene Haus, bei Semjon ein schickes eigenes Auto, das zugleich als Statussymbol und äußerlicher Ausdruck von Männlichkeit zu betrachten ist. Zu dieser Zeit berichtet Semjon nicht von Auseinandersetzungen mit seiner natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit. Es wirkt, als sei an die Stelle (oder zumindest dazu) der Konsum getreten. Nach dem Motto: ‚Ich bin, was ich mir leisten kann‘, erwirbt er sich (Selbst-)Anerkennung/Bestätigung nun mittels materiellen Besitzes (ökonomisches Kapital). Durch seinen eigenen Einsatz kann er (zumindest z.T.) an der vor der Migration versprochenen Konsumwelt teilhaben. Vom Kind aus ärmlichen Verhältnissen in Russland und Deutschland wird er zum Azubi, der Dienstreisen macht und gut verdient. Auch den Plan für ein Studium bettet er in diesen Rahmen ein. Seine Kollegen raten ihm: „Ey, komm, du kannst doch hier nicht irgendwie vergammeln, ey geh mal studieren. [leises Lachen] Und ham mich überredet und dann war ich so so karrieregeil und dachte: /angeberisch:/ Ey, [kichert] e- ich werde richtig Geld verdienen, ich werde richtig gute Klamotten tragen und [mh] und BMW fahren, [ja?] ich hab zwar schon ein BMW aber nur einen Dreier, so [lacht] und die haben mich halt überredet und ich hab irgendwann beschlossen so, ich arbeite ein Jahr, so nach der (.) Ausbildung wird man für ein Jahr übernommen, aber die hätten mich auch länger übernommen, [mh] und hab dann s- gekündigt“ (285ff)

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Semjon erfährt Anerkennung durch seine Kollegen. Dies motiviert und beflügelt ihn in Hinblick auf eine künftige Karriere und noch höhere Verdienstchancen. Er träumt von „richtig gute[n] Klamotten“ (288) und einem noch besseren Auto. Dabei drängt sich unmittelbar der Vergleich zu den Anfängen in Deutschland auf, als er für die mitgebrachte Kleidung verlacht und von seiner Mutter in den Rot-KreuzContainer gedrängt wurde. Auffällig ist jedoch auch, dass die Karrieremöglichkeiten von anderen an ihn herangetragen werden und er zudem überredet werden muss. Er ist erfolgreich, aber nicht von sich aus aufstiegsaktiv. Eventuell traut er sich aufgrund seiner Erfahrungen nicht so viel zu und braucht für den Gang in diese fremde Lebenswelt Ermutigung. Auf in die Großstadt Aufgrund der guten anschließenden Verdienstaussichten beschließt Semjon, ebenso wie sein Bruder, das Fachabitur zu machen und anschließend zu studieren. Nach dem genannten Jahr kündigt Semjon und zieht 2004 in die Großstadt, in der sein Bruder schon seit ein paar Jahren mit seiner Freundin lebt und studiert. Der große Bruder ist den neuen Weg vor ihm gegangen und dient ihm nun als Vorbild. Anders als dieser verlässt Semjon jedoch bereits für das Fachabitur die Familie, obgleich er dies auch in Mittelstadt A hätte machen können. Er nutzt die Chance, sich im Rahmen des Bildungsweges (räumlich) von den Eltern zu lösen. Dadurch gewinnt er an Freiraum, aber auch Verantwortung für die eigene Lebensführung. In der Großstadt kennt er außer seinem Bruder niemanden. Daher verbringt er sehr viel Zeit mit diesem und dessen Freundin: „waren wir so zu dritt und hatten wieder so keine Clique, wieder so ein [ja] richtiger Leerlauf ohne Freunde, ziemlich schwierig“ (471f). Er ist nun 23 Jahre alt und vermisst es, einen richtigen Freundeskreis zu haben. Der Bruder stellt anfangs einen besonderen Bezugspunkt dar. Dieser hat während der Zeit in der Großstadt sein Erscheinungsbild geändert und trägt nun längere Haare und Schlaghosen. Semjon findet das „cool“ (1109) und eifert ihm äußerlich nach. Auch innerlich beginnt er bald, seine bisherigen Einstellungen infrage zu stellen. Als Auslöser dafür benennt er eine Lehrerin der Fachschule, die bei ihm „ein bisschen so die Saat der Zweifel gesät“ (301) habe. Sie ermutigt die Schüler u.a., ihre Gedanken aufzuschreiben, was Semjon tut und dafür Anerkennung erfährt. Kaum von den Eltern räumlich getrennt, probiert er in kurzer Zeit viele neue Dinge aus, zu denen er durch andere angeregt wird. Zu dieser Zeit lernt Semjon seine Freundin kennen, die seit einem Jahr als Spätaussiedlerin in Deutschland lebt. Mit 16 Jahren ist sie aus Kasachstan migriert. Auch sie hat ein russisches und ein deutsches Elternteil und kommt aus ähnlichen ökono-

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mischen Verhältnissen wie Semjon. Vor der Ausreise hat sie den Mittelschulabschluss absolviert und besucht nun das Studienkolleg, um in Deutschland ein Studium beginnen zu können. In Hinblick auf die Rahmendaten sind Semjon und sie sich demnach recht ähnlich. Semjon wird Student Ohne Schwierigkeiten besteht Semjon das Fachabitur und hat dann „auch wieder Zweifel gehabt, was will ich überhaupt studieren?“ (298f). Das von den Kollegen vorgeschlagene Studienfach möchte er nicht machen, da es für ihn durch die Erfahrungen in der Großstadt inhaltlich an Bedeutung verloren hat. Ein Freund aus seiner Klasse hat vor, Wirtschaftspsychologie in einer Nachbarstadt zu studieren. Semjon hat sich durch die Erfahrungen in der Stadt von der starken ökonomischen Orientierung entfernt. Nun interessiert ihn das Verstehen von Menschen. Das Thema ist auch für ihn persönlich relevant, denn auch er möchte verstanden werden. Im ersten Anlauf wird er jedoch trotz eines sehr guten Fachabiturs abgelehnt. Zur Überbrückung und um BAföG zu erhalten, studiert er zunächst ab dem Wintersemester 2005/06 ein anderes Fach. Beim nächsten Versuch zum Sommersemester 2006 erhält er dann einen Platz für das achtsemestrige Wunschstudium. Ein paar Scheine aus dem Überbrückungsstudium kann er sich anrechnen lassen. Da er in der Großstadt leben bleiben möchte, muss er pendeln und z.T. sehr früh aufstehen, um rechtzeitig bei Veranstaltungen und Klausuren zu sein. 2007 – Beginn der „kritischen Phase“ Semjon lernt in der Großstadt und im Studium „mehr Vielfalt sag ich mal kennen […], sag ich mal [mh] offenere Menschen“ (493f) als er es aus der Kleinstadt gewohnt war. In der Großstadt, ohne die Eltern, steht ihm ein anderer Möglichkeitsraum zur Verfügung, der es ihm erlaubt, vielfältige Erfahrungen zu machen. Parallel zum Studium „hab ich glaub ich auch so (.) im Schnelldurchlauf ein paar Phasen durchgemacht, so d- die die Menschheit gemacht hat. [lacht auf] Punk, und Hippie und eh ganz schnell [kichert] alles einmal so ganz breite Hosen und äh meine Freundin hat mir auch irgendwie Hosen, aus irgendwie Stücken Jeans genäht [mh] und waren, und äh, (.) irgendwelche Ketten getragen, so so Hippiezeug und war total auffällig dann auch irgendwie. [mh] Ja, in Wirtschaftspsychologie war ich dann auch komischer Typ, [lacht]“ (1119ff)

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Das Wort „Phase“ verwendet er noch öfter. Dies meint im allgemeinen Verständnis einen Zeitabschnitt, kann aber auch übergreifend als ein Abschnitt einer Entwicklung verstanden werden. Semjon schließt sich rasch hintereinander unterschiedlichen jugendkulturellen Bewegungen an, wobei er ‚Punk‘ und ‚Hippie‘ benennt. Die Punkerszene zeichnet sich durch eine ‚Anti-Haltung‘ aus und richtet sich „gegen alle Konventionen, gegen die Konsumgesellschaft und gegen das Bürgertum“ (Motta 2015, 64). Darin liegen Trotz und Abgrenzung von seiner früheren Lebensweise, aber auch eine Abkehr von den Eltern. Auch für die Hippiebewegung ist die Ablehnung von Konsum typisch, diese ist jedoch stärker durch eine freiheitliche und pazifistische Lebensphilosophie geprägt. Beide Bewegungen sind im Westen entstanden. Erneut drückt sich seine Gruppenzugehörigkeit auch durch äußerliche Merkmale aus, etwas durch die ‚breiten Hosen‘, die seine Freundin eigens für ihn anfertigt. Sie wirkt als Unterstützerin aus dem Hintergrund, ohne dass im Interview deutlich wird, ob auch sie ein Interesse für diese Strömungen entwickelt hat. Durch das Tragen der typischen Kleidung demonstriert Semjon seine Einstellung nach außen und wird in der Folge in seinem Studiengang als „komischer Typ“ betrachtet. Seine Formulierung, dass er ein paar Phasen, „die die Menschheit gemacht hat“ „im Schnelldurchlauf“ vollzogen habe, enthält durch das vermittelte Bild von ihm als ‚Menschheit im Kleinen‘ einen Anteil adoleszenter Größenphantasien. Der „Schnelldurchlauf“ kann zudem als Akzeleration des Austestens von Lebensentwürfen verstanden werden und wirkt wie eine rastlose Suche nach etwas, das ihm Halt und Orientierung geben kann. Gefragt, wie es zu dem Wandel kam, antwortet er, dass er es nicht erklären könne: „Es kam über mich. [lacht auf] Ich hab das auch gewählt, aber auch nicht gewählt irgendwie. [ja] Das is sehr seltsam. [mh] (2)“ (1324f). Obgleich Semjon im Interview oftmals eine reflexive Ebene einnimmt und Geschehnisse in seinem Leben zu deuten versucht, bringt er an dieser Stelle keine Erklärung ein. Stattdessen enthält seine Formulierung religiöse Anklänge. Es kam – halb gewählt – über ihn. Dadurch stellt er sich erneut nicht als wirkmächtiges Subjekt dar. Vor diesem Hintergrund entscheidet Semjon sich auch, Vegetarier zu werden. Er bezeichnet dies als „Anfang der kritischen Phase“ (1069), in der er „angefangen habe, auch mich selbst zu bilden, ich hab seitdem auch viel gelesen, auch viel eh Fachbücher“ (1070f). Für den Begriff sind verschiedene Erklärungen möglich (es gibt diesen Begriff z.B. auch in der Psychologie), doch vermutlich meint Semjon damit eine Veränderung seines Denkens und Handelns hin zu einer kritischeren Haltung. Zudem beginnt er, viel zu lesen und sich Fachwissen in unterschiedlichen Bereichen anzueignen. Mit 25 Jahren befindet Semjon sich nun in einem existentiellen Selbstfindungs- und Orientierungsprozess.

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In diesem Zusammenhang informiert er sich über eine vegane Lebensweise und entschließt sich noch im selben Jahr, fortan alle Nahrungsmittel tierischen Ursprungs und z.T. auch tierische Produkte generell zu meiden. In diesem Sinne kann die vegane Lebensweise, die von Verzicht geprägt ist, als maximaler Kontrast zum Wunsch nach Konsum wenige Jahre zuvor betrachtet werden. Mit der Zeit folgt seine Freundin seinem Beispiel, was er sehr gut findet. Sie hat an wichtigen Stellen besondere Bedeutung als Anerkennung und Rückhalt, obwohl er insgesamt nicht viel von ihr spricht. Es ist möglich, dass dies daran liegt, dass sie sich ebenfalls in der (kleinen) Wohnung aufhält und er nicht wollte, dass sie hört, dass/wie er über sie redet. Seine Familie hingegen versteht seine für ihn relevante Entscheidung nicht. Die Oma fragt ihn, ob er einer Sekte beigetreten sei und die Mutter zeigt eine noch stärkere Reaktion „als ich gesagt habe, ich ess kein Fleisch mehr […], dass das f-, ich sag mal ganz platt, äh, dass ich fast mich oute, dass ich schwul bin, oder so in der Familie, ne? [mh, mh] Das war auch sehr schlimm, so, und dann, da sagst du fast so: Mutter, ich bin jetzt ein Mädchen so. [lacht auf] /lacht auf/ Ich hab mich umoperieren lassen, das wär für sie so ähnlich und, also nich, dass ich jetzt das schlimm finde, wenn das jemand tut, [ja, ja, klar] aber, äh (.) das war schlimm so und [mh] äh (.) äh hat halt dann ging mit Beschimpfung einher und Konflikten [mh]“ (1328ff)

Semjon erfährt Missachtung, wird beschimpft. In ‚russischen‘ Familien haben fleischhaltige Gerichte oftmals eine besondere Bedeutung, dennoch ist die starke Ablehnung durch die Familie auffällig. Es wirkt, als würde etwas stellvertretend ausgetragen. Die Mutter findet das Essverhalten ihres Sohnes nicht nur absurd, sondern auch gefährlich und äußert die Sorge, er würde einen „langsame[n] Selbstmord“ (1096) begehen. „[W]ährend meine Mutter irgendwelche Bilder sich anguckt äh, da sagt die, ja guck mal da, da warst du ja (.) cool und irgendwie hast du ja Bodybuilding gemacht /lacht auf/ [lacht auf] und jetzt äh“ (1089ff). Es wird deutlich, dass die Mutter am liebsten ihren Sohn von ‚den alten Bildern‘ – vor dem Weggang in die Großstadt und die damit zusammenhängenden Veränderungen – wiederhaben möchte. Sie kann seine Entwicklung nicht verstehen. Dass in ihren Äußerungen vermutlich auch (echte) Sorgen um die Gesundheit des Sohnes enthalten sind, beachtet Semjon nicht. Er stellt ihr Unverständnis im Interview als sehr störend und verletzend dar. Zunächst reagiert er defensiv und bittet einfach, ihn seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Mit der Zeit jedoch wird er offensiver. Er lehnt es ganz ab, dabei zu sein, wenn die Familie gemeinsam Fleisch isst. Er bricht mit den Traditionen der familialen Esskultur. Mit seinem Vater gerät er vor allem deswegen in Konflikt, da dieser gerne angelt:

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Biographische Fallrekonstruktionen „das macht es auch nicht grad [mh, mh] einfacher, also, dass er Tiere ersticht mit, aus Spaß so. /kleines Lachen/ [ja] Und ich hab da natürlich krasse Probleme mit, weil das mein Vater ist, ne? [mh] Und (.) sehr, sehr konfliktreich. [ja] (.)“ (1345ff)

Semjon spricht urteilend über die Eltern. Mehrfach taucht hier und an späterer Stelle das Wort ‚Konflikt‘ in Bezug auf die Eltern auf. Dieser meint eine schwierige Situation infolge des Aufeinanderprallens unterschiedlicher Auffassungen oder Interessen (vgl. Duden online 2017). Eine konstruktive Auseinandersetzung scheint nicht möglich. Politisches Engagement Durch die Anregung eines politisch interessierten Freundes beginnt Semjon, sich bei einer Menschenrechtsorganisation zu engagieren. Er wird in Internetforen aktiv, fängt an, Demonstrationen zu besuchen und hat „recht viel äh mitgemacht, so irgendwelche [mh] Kongresse organisiert, Demos, Kampagnenarbeit und all das“ (358ff). Dabei erfährt er viel Gegenwind, etwa von politischen Gegnern, aber auch von der Polizei: „ständig irgendwelche Einschränkungen. [mh] sei es seitens dieser Versammlungsbehörde, die Polizisten vor Ort sind auch nicht so [mh] äh einem zugetan irgendwie und äh, da gibt‘s viel Konfliktpotential“ (1440ff). Er fühlt wenig Rückhalt. An der Kampagnenarbeit schätzt er die Hierarchielosigkeit „und dass [mh] du dann selbst bei solchen Projekten der Chef sein kannst“ (1446f). Dadurch habe er sich „einiges (.) an Selbstwert auch aneignen [können, JZ], indem ich wirklich auch einmal die Sachen in die Hand genommen hab“ (1443f). Er erlebt sich (erstmals) als eigenverantwortlich und wirkmächtig, was ihn stärkt. Unter den Mitstreitern ist er der einzige mit Migrationshintergrund. Zu russischsprachigen Menschen (außer seiner Partnerin) hat er zu dieser Zeit keinen Kontakt. Im Kontext seines ehrenamtlichen Engagements spielt die natio-ethno-kulturelle Herkunft der einzelnen Mitstreiter keine Rolle. Die Gruppe wird durch ihre gesellschaftspolitischen Ideale geeint. Zugehörigkeit und Anerkennung können durch aktives Engagement erworben werden. Insgesamt bezeichnet er sich „politisch eher so, sag ich mal als links“ (368) und „antikapitalistisch“ (370). Die zunächst heiß gewünschte und dann gelebte Teilhabe an kapitalistischen Einkaufswelten, lehnt er nun ab. Das steht diametral im Gegensatz zu seinem Verhalten ein paar Jahren zuvor. Erneut fällt er von einem Extrem ins andere. Zu dieser Zeit studiert er noch Wirtschaftspsychologie, hat dies für sich aber „quasi schon mehr oder weniger fallen lassen“ (Z.345). Student sein stellt seinen

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offiziellen Status dar, doch eigentlich lebt er zu dieser Zeit für sein ethisch-politisches Engagement, was ihn auch zeitlich sehr in Beschlag nimmt. Es stört ihn, dass er psychologisches Wissen erhält, um es für mikroökonomische Interessen einzusetzen, da es seinem Engagement widerspricht. Negativ kommt noch der lange Fahrtweg hinzu, der ihn schon seit Beginn stört. Nach dem Sommersemester 2008 bricht Semjon das Studium daher nach fünf Semestern ab. Am liebsten würde er Soziologie studieren, doch da er nur das Fachabitur hat, ist er eingeschränkt. „Ich hatte auch wieder so eine Zweifelphase und dachte ph, *was mach ich denn jetzt*? [lacht auf] […] Ähm (.) Ja, und dann hat ich eh ne Phase, wo ich wieder so (.) nicht wusste, was ich machen soll, (.) und eh (.) hab zweitausendacht hier angefangen Sozial- und Wirtschaftspolitik zu studieren [mh]“ (326ff)

Konfliktreiche Beziehung zur Familie Mit Interesse verfolgt Semjon, wie sich das Studium des Bruders nach vielen Jahren dem Ende zuneigt. Mit Anerkennung spricht er über dessen Abschlussprüfung, bei der dieser eine sehr gute Präsentation gehalten habe. Nach dem Studium kehrt der ältere Bruder nach Mittelstadt A zurück und zieht mit seiner Frau und dem inzwischen geborenen Kind in das Haus der Eltern. Semjon bemängelt die fehlende Ablösung des Bruders von den Eltern („er hat sich nicht emanzipiert“, 1419). Eventuell spielt auch Enttäuschung darüber hinein, dass der Bruder die Großstadt und damit auch ihn verlässt. Die Schwester macht 2010 als erste in der Familie Abitur. Semjon freut sich darüber, auch weil er denkt, dass er dazu beigetragen hat. Die Eltern hätten auch diese nicht unterstützt und bei Problemen vom Gymnasium nehmen wollen. Er habe sie jedoch „gegen den Rest der Familie verteidigt“ (1085f) und ihr „dadurch auch ein bisschen Kraft gegeben“ (1086). Es wirkt wie ein Stellvertreterkampf. Was ihm damals nicht möglich war, will er nun der Schwester ermöglichen. Nun kann er Gegenwind zeigen. Allerdings ist er enttäuscht darüber, dass ihm dies von der Familie „nicht angerechnet wird“ (1087). Die Eltern machen ihm stattdessen den Vorwurf, er sei schuld daran, dass sie nach bestandenem Abitur keinen Studienplatz erhalten habe: „die ham sogar so so [.] verschwörungstheoretische Überlegungen so, dass [mh] die jetzt äh, der deutsche Staat weiß, dass äh einer von uns irgendwie politisch aktiv ist irgendwie [mh] und dass deswegen meine kleine Schwester deswegen keinen Platz bekommt, Studienplatz“ (1021ff)

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Semjon wird beschuldigt, durch seine politischen Aktivitäten die Ablehnung der Schwester verursacht zu haben. Dieser absurde Vorwurf ist vermutlich verwirrend und verletzend. Semjon versucht, es mit dem Aufwachsen der Eltern in der Sowjetunion zu erklären, wo Ängste dieser Art z.T. berechtigt gewesen seien. Dennoch ist es für ihn schwer, dass seine Eltern „total dagegen“ (1021) sind, dass er sich politisch engagiert, obgleich es ihm am Herzen liegt. Die kritisch-politische Haltung kann auch als Gegensatz zur Unhinterfragtheit der Eltern und damit als Abgrenzung von diesen betrachtet werden. Semjon hat das Bedürfnis, vergangene Dinge aufzuarbeiten, „ob Kindheit und Gewalt oder äh [mh] Umzug und äh Aufklärung“ (1042f). Die Eltern würden allerdings sofort „auf Verteidigungskurs“ (1042) gehen und da „gibt‘s wenig Einsicht [mh] und das is sehr konfliktbehaftet immer“ (1043f). Die Eltern lassen die Auseinandersetzung mit den Themen nicht zu. Zugleich wird deutlich, dass die Gewalt in der Kindheit und die fehlende „Aufklärung“ vor der Migration für Semjon offenbar die größten ‚offenen Wunden‘ darstellen. Dabei wirft er den Eltern nicht die Migration an sich vor, sondern die fehlende (ehrliche) Vorbereitung. Wie bereits weiter oben ausgeführt, wussten die Eltern eventuell selber nicht besser, was die Familie tatsächlich in Deutschland erwartet. Semjon bedenkt dies offenbar nicht. Es scheint sein größtes Verlangen zu sein, von ihnen zu hören, dass sie Fehler gemacht haben und sie sich dafür entschuldigen. Die Eltern verweigern jedoch jegliche Auseinandersetzung, was Semjon belastet und es ihm verunmöglicht, mit den Themen abzuschließen. In der Folge sind auch die Ablösung und Selbstfindung erschwert. Insgesamt ist die Beziehung zu seinen Eltern bis heute „sehr konfliktreich […] Es ist schon (.) nicht einfach“ (1382f). Semjon ist seiner Familie fremd geworden, sodass sie seine „Welt nich mehr verstehen“ (405f). Er ist nicht zu dem Sohn geworden, der – mit dem Namen des Großvaters belegt – einen besonderen Auftrag für die Familie übernimmt, sondern zu dem Sohn, der sich von der Familie entfernt. Es findet eine Entgegensetzung von seiner und ihrer „Welt“ statt. Dies verdeutlicht, wie umfassend Semjons „Veränderungsprozess“ (1384) ist. Zugleich lässt die Formulierung an den Ausspruch ‚die Welt nicht mehr verstehen‘ denken, der ein Nicht-Begreifen bis zur Fassungslosigkeit ausdrückt. „Meine Geschwister haben zum Beispiel immer gesagt: Lass die Eltern wie die sind, die können sich nicht verändern. [mh] Das haben meine Eltern von sich auch immer gesagt. [mh] Das ham die natürlich immer als Ausreden benutzt für (.) sozial fragwürdiges Verhalten so mir gegenüber [mh] und anderen gegenüber. Ich hab immer gesagt: Nein so. Die können äh äh bis die hundert sind und später können sie sich entwickeln, das Gehirn [kichert] so allgemein und das Psyche will das und verlangt das auch sogar und (.) und das war auch ein Streitpunkt mit meinen Geschwistern“ (1398ff)

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Bruder und Schwester ‚halten‘ offenbar zu den Eltern und finden es nicht gut, dass Semjon sämtliche familiale Muster infrage stellt und dadurch – in ihren Augen – Unfrieden in die Familie bringt. Es stellt vermutlich eine große Enttäuschung dar, dass auch die Geschwister sich gegen ihn stellen. Vom älteren Bruder fühlt er sich verlassen und in den vorherigen gemeinsamen Idealen verraten und von der jüngeren Schwester erhält er nicht die Anerkennung für seine Unterstützung, die er sich erwartet hätte. Die Geschwister, als intragenerationale Beziehungsform, könnten sich in der intergenerationalen Auseinandersetzung beistehen und stärken, doch das tun sie nicht. Semjon hat beide Generationen gegen sich, es stehen vier gegen einen. Es gebe Tabus und „bestimmte Regeln“ (1397) in der Familie „und ich hab die halt viele gebrochen von denen“ (1397f). Semjon vergleicht es mit dem Begriff „Kadavertreue“ (1422) (und meint vermutlich Kadavergehorsam): „Also ich hab auch so äh n Teil des Alten Testaments gelesen, so aus Neugier [mh] und (.) hab da einige Sachen auch wiedererkannt, die in der Familie so waren. [mh] Also, Kadavertreue, oder irgendwie so, dass man [mh] äh die Eltern ehren soll und die eigentlich das machen können, was die wollen, so /lacht auf/“ (1420ff)

Semjon kritisiert den ‚blinden Gehorsam‘, bei dem der Gehorchende (wohl auch die Geschwister) sich fremden Befehlen uneingeschränkt, wie ein willenloser toter Körper, unterwirft. Dies untermauert er mit seinem Bezug auf die Bibel, obwohl das Wort dort direkt nicht zu finden ist. In Sekundärliteratur wird der Kadavergehorsam jedoch herangezogen, etwa für die Erzählung der Opferung Isaaks durch Abraham (vgl. z.B. Stoodt-Neuschäfer 2011). Ein solcher Tabubruch sei, dass er den Eltern alternative Lebensentwürfe vorschlägt, z.B. in Hinblick auf die Rollenverteilung: „sag ich mal traditionellen Sachen auch so, ne? Wo ich sage, (.) den sollten wir in Ruhe lassen. Und der, der Vater muss nicht äh der Mann sein, der irgendwie alles schafft, so wenn die Mutter etwas machen sollte, will, dass im Haushalt, was gemacht wird, keine Ahnung irgendwas (.) mit Nägeln gearbeitet wird, ne? [mh] Sollte sie das von ihm nicht verlangen, sondern vielleicht auch selbst anpacken [kichert] oder zumindest anders fragen, wenn schon die Arbeitsteilung in der Gesellschaft so gestaltet ist [mh] und sie das leider nicht lernen konnte. [ja] Und ich hab da viel in Schutz genommen, viel so reingebracht, aber trotzdem bin ich am Ende dann doch irgendwie (.) ziemlich außen vor, ja, [mh] was mir auch ziemlich zusetzt, natürlich. [mh]“ (1386ff)

Semjon setzt sich mit den Themen Geschlechterrollenbilder und Männlichkeit auseinander und kommt zu dem Schluss, dass es in Ordnung ist, wenn auch die Mutter vermeintlich männliche Aufgaben übernimmt. Er verfolgt damit das Ziel,

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den Vater durch das Einbringen moderner Bilder von einer z.T. aufgehobenen Rollenverteilung zu entlasten. Dennoch oder aufgrund dessen sei er nicht selbstverständlicher Teil der Familie, werde von dieser exkludiert („ziemlich außen vor“). Dies erklärt er sich so: „die haben vielleicht auch Minderwertigkeitskomplexe, [mh] dass ich denen ständig was beizubringen hätte, theoretisch [ja] und die mir kaum was beibringen können. [mh] Weil deren Leben schon seit langem stagniert. [mh] Normalerweise ist das glaube ich schon in der Gesellschaft vielleicht wichtig oder in solchen Beziehungen, dass die immer irgendwo auch ein Vorsprung haben, [mh] so an Erfahrung. Wären wir in dem Land geblieben, [mh] hätten die immer ein Vorsprung in Erfahrung im System, so [ja] und durch den Wechsel gab‘s da einige äh (.) Umkehrungen, [mh] die nicht ganz gesund sind, vielleicht auch so und [mh] (.) die ham vielleicht Schwierigkeiten, (2) ja, dass ich V- Vorsprung habe in vielen Bereichen, und-. [mh] (.)“ (1368ff)

Semjon sieht sich den Eltern in Deutschland in vielen Bereichen überlegen. Geht man davon aus, dass diese Selbsteinschätzung stimmt, würde dadurch die Generationendifferenz aufgehoben. Allerdings behauptet er zwar, ihnen etwas beibringen zu können, die Eltern aber – so zeigen es auch die anderen Sequenzen – erbitten dies nicht von ihm und wollen es auch nicht annehmen. Die alten Freunde „des Ghettos“ und die ‚intellektuellen Russen‘ aus Moskau – nirgends ganz dazugehörig Semjon hat nicht nur Schwierigkeiten, sich in der Familie zu verorten, sondern auch in Bezug auf Freundschaften. 2012 gibt es ein Treffen mit seinen Jugendfreunden aus Mittelstadt A, die auch (Spät-)Aussiedler sind. Er spricht von einem „Treffen des Ghettos“ (1562) und vollzieht damit eine Selbststigmatisierung. Diese Freunde „schuften“ (189) seit dem Hauptschulabschluss seit Jahren im Metallhüttewerk. Dadurch würden sie gut verdienen und hätten inzwischen eigene Häuser und große Autos. Dies macht wird Semjon bewusst, was aus ihm hätte werden können, wenn er den gleichen Weg gegangen wäre. Früher war es sein Ideal, viel Geld anzuhäufen, sodass auch er nun in einem schönen Haus leben könnte. Stattdessen sitzt er nun als Student und ohne Arbeit in einer kleinen Wohnung. Er grenzt sich von den alten Freunden über das Intellektuelle ab: „die sind so geblieben bis jetzt“ (402), würden z.B. keine Bücher lesen, er hingegen lese sehr viel und gerne. Die Unterschiedlichkeit würde auch den anderen auffallen, sodass sie sagen:

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„boah, wie du sprichst, ey, [lacht auf] sch- du, das ist unglaublich, ne, so? [mh] Dass ich so spreche als würd ich grad, äh quasi, keine Ahnung, (.) für die ist das Gefühl, als würd ich grad aus Moskau kommen und äh [mh] eine Doktorarbeit in Linguistik schreiben, [mh] so richtig so, frei und irgendwie mit vielen komischen Begriffen so. [lacht auf]“ (1567ff)

Die Charakterisierung stellt eine Form der Anerkennung dar. Semjon und seine einstigen Freunde kommen aus den gleichen „Ghetto“-Verhältnissen, doch er hat sich weiterentwickelt und wird nun von den anderen bewundert. Zugleich gehört er dadurch aber nicht mehr zu ihnen. Zu den angesprochenen Moskauern gehört er allerdings auch nicht, wie ihm in der Großstadt bewusst wird. Dort hat er in der russischen Szene Intellektuelle aus großen Städten wie Sankt Petersburg oder Moskau kennengelernt, die wohlsituierte Eltern und keinen (Spät-)Aussiedlerhintergrund haben und z.T. zwischen beiden Ländern pendeln und „da sind so [mh] Grenzen, [mh] die fühlbar werden, denn ne? [mh]“ (1572), „das is schon wieder etwas eine an- etwas andere Welt, so“ (1297f). Semjon hat das Gefühl, mit diesen nicht mithalten zu können (z.B. was die Sprachkompetenz im Russischen angeht oder den sozioökonomischen Hintergrund) und es aufgrund seiner Herkunft auch nie tun zu können. Im Vergleich dazu seien ihm die Russlanddeutschen aus Mittelstadt A durch ihr „ähnlicheres Schicksal“ (1300) doch wieder näher. Diese wiederum würden ihn jedoch als etwas „Unheimliches“ (1301) betrachten, da er nun in einer Großstadt lebt und studiert. Es zeigt sich, dass Semjon sich zu keiner der beiden Gruppen zugehörig fühlt, immer bleibt eine Differenz für ihn spürbar. Dabei verwendet er unterschiedliche Dimensionen von Zugehörigkeit, wie die sozioökonomische Ausstattung oder den Erfahrungshintergrund. Auffällig ist in diesem Kontext, dass Semjon die beiden Gruppen nach außen sehr unterschiedlich und nach innen sehr homogen darstellt, was teilweise etwas plakativ wirkt. Bei der beschriebenen Schwierigkeit, quasi zwischen zwei Milieus zu stehen und keinem der beiden fraglos anzugehören, handelt es sich um eine typische Herausforderung von Bildungsaufsteigern, wie Semjon selbst einer ist. Seine Eltern haben in Russland beide den niedrigsten Abschluss erworben, er hingegen studiert nun. Juhasz und Mey (2003) sprechen davon, dass die Aufstiegssituation zu einer Verschärfung der Zugehörigkeitsproblematik führen kann, was sich bei Semjon zu bestätigen scheint. Das Dilemma der Freundschaftsverortung betrachtet er jedoch nicht vor diesem Hintergrund, sondern verknüpft es mit dem Thema Migration, vor allem mit der Sprache. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer merke er: „ich verliere die Sicherheit in der russischen Sprache, aber habe auch im Deutschen keine absolute Sicherheit so, [ja] [lacht auf] das ist wieder so ein Hybridding, ne? [mh] Es hat zwar was Gutes, weil es (.) vielleicht achtzig Prozent der einen einen, achtzig

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Biographische Fallrekonstruktionen Prozent der anderen is, zusammen hundertsechzig Prozent, [lacht] aber eben keine hundert Prozent“ (1531ff)

Man könnte Semjons Gedanken in folgender Rechnung ausdrücken: 80 % Russischkenntnisse + 80 % Deutschkenntnisse = 160 % Russisch- und Deutschkenntnisse aber: 160 % Russisch- und Deutschkenntnisse < 100 % Sprachfähigkeit

Da er zwar zwei Sprachen gut, aber seiner Meinung nach, nicht perfekt spricht, empfindet er seine Sprachfähigkeit als nicht ausreichend. Dabei kann gefragt werden, wie er die Prozentbewertung vorgenommen hat, denn wie im vorherigen Auswertungsschritt ausgeführt, zeichnet sich seine Rede im Deutschen durch einen elaborierten Sprachcode und die Verwendung von Fremdwörtern und Fachbegriffen aus, wodurch er sich durchaus auch von den anderen Interviewpartnern abhebt. Es entsteht daher der Eindruck, dass Semjon sehr hohe Bewertungskriterien ansetzt, die ihn selbst (unnötig) herabstufen und unter Druck setzen. Andererseits empfindet er es aber auch als Gewinn, zwei Sprachen zu beherrschen, sodass er zumeist zwei Bücher parallel lese: „Philosophen sind in Deutschland besser /lacht/ so und die Belletristik [mh] find ich aus Russland besser, [mh] das, ich hab den Genuss quasi beider Sprachen, [lacht] [ja] also diesem Fall (.) ist das ein kleiner Jackpot“ (1174ff). Der politische Bereich bietet ihm eine Plattform, auf der der Migrationshintergrund keine Rolle spielt und er dazugehört, solange er den gewünschten Einsatz zeigt. Doch auch dort fühlt er sich nicht in seiner ganzen Persönlichkeit angenommen und verstanden. Er hat, vor allem in der letzten Zeit, ein besonderes Interesse „für Russland und die Kultur da“ (507f) entwickelt. Wenn er den MitstreiterInnen jedoch etwas von Russland erzählt, habe er „das Gefühl, [mh] dass der Opa von der alten Zeit erzählt. /lacht auf/ [lacht] Ne?, so irgendwie, [lacht] und irgendwas is nich schön, das is irgendwie asymmetrisch so irgendwie. [mh]“ (516ff). In dieser Asymmetrie fühlt Semjon sich offenbar unterlegen. Er macht die Erfahrung, dass autochthon deutsche FreundInnen nicht ‚angemessen‘ mit ‚seiner russischen Seite‘ umgehen. Er nimmt selbst eine Dichotomie vor. Es fehle ihm etwas, „wenn ich sag ich mal nur mit Deutschen Kontakt habe“ (508f). „Und äh (5) ja, kulturell, ich ich mein, (.) es ist auch irgendwann ein Wechsel gewesen, weil wir hatten da die ganzen Sendungen, die wir geguckt haben, [mh] auch alles, was da so (.) äh zwischen den Kindern auch klar war, hier war dann wieder was anderes. [mh] Hier war ne ganz andere Kultur, ne, und (.) äh, wenn ich jetzt mit d- sag ich mal meinen da- deutschen Kumpels irgendwo (.) äh, bin (.) Geburtstag gefeiert wird, die ham dann halt einfach so Insider, ein paar irgendwelche Gags, [mh] die auch

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von ihrer Kindheit sind und von eh ihren ihrer Art von Geburtstagsparty und so [ja] und die ham dann halt ihre schönen Assoziationen aus der Kindheit, wo ich dann wieder (.) äh nur theoretisch was mit anfangen kann“ (1215f)

Semjon spricht von unterschiedlichen ‚Kulturen‘ zwischen Russland und Deutschland, die er in dieser Sequenz an Dingen festmacht, mit denen Kinder und Jugendliche aufwachsen und die „klar“ zwischen ihnen sind. Es geht um Ähnlichkeiten und fragloses Verstandenwerden und Verstehenkönnen. Die Kindheit und Jugend in Russland erscheinen in der retrospektiven Darstellung im Interview positiver als in den erzählten, konkreten Erlebnissen. Es wirkt dadurch so, als ob Semjon durch seine Erfahrungen in Deutschland, manche Selbstverständlichkeit mit besonders positiver Bedeutung auflädt. Diese Gefahr ist ihm durchaus selbst bewusst, so spricht er davon, dass er ein „idealisierte[s] Bild“ (1139) habe, dass er „an der Realität [mh] ein bisschen zurecht […] schleifen“ (1139f) müsse. Er gibt sich an dieser Stelle reflektiert, dennoch kann er die nostalgische Sehnsucht nicht intellektuell stillen. Durch welche Tür? Die Frage der Zugehörigkeits-Verortung Semjon erklärt, dass er sich als eine Art „Hybridwesen irgendwie“ (1153) empfinde, „Mal mehr dies, mal mehr das. [mh] (2)“ (1153f). Er bezieht sich damit auf die Mischung von ‚deutschen‘ und ‚russischen‘ Anteilen, wobei je nach Situation eines von beidem überwiegen würde. Dass eines überwiegen kann, macht deutlich, dass es sich nicht um eine Mischung handelt, die etwas ganz Neues entstehen lässt, sondern die Dichotomie erhalten bleibt. Darauf fragt die Interviewerin: „I: Kannst du dich irgendwie zuordnen? Oder wie würdest du dich, wenn jemand sagt, was bist du jetzt /lacht auf/ so, was würdest du antworten? [ja] Hybridwesen? Oder? S: Ja, keine Ahnung, ich äh (.) a-, (.) also, weil die dreizehn Jahre (.) am Anfang des Lebens sind wahrscheinlich nicht die dreizehn Jahre mitten im Leben. [lacht auf] Deswegen ist es in diesem Sinn schon sehr prägsam gewesen. Und äh, (.) das ist einer der Gründe zu sagen vielleicht, ja ich bin doch ein (.) Russe, der (.) lange Zeit in Deutschland lebt und auch viel von hier mitgenommen hat. (.) Ja, (.) aber (5) abgesehen davon hab ich ja große Probleme mit den national- äh [mh] also Zuordnungen, das ist eine ideologische Geschichte, [mh] aber kulturell is das natürlich wahr, so ist es wirklich, also da gibt‘s ja diese Grenze zwischen den Kulturen schon. Ja. Ich kann das auch nicht beantworten, [mh] ich bin da glaub ich noch am Überlegen seit Jahren noch. [mh, mh] Und äh, (.) vielleicht gibt‘s auch diese Antwort nicht. [ja] Vielleicht, (.) ich merke auch oft in meinen Gedanken oder sogar auch in meinen Träumen, dass ich (.) äh, dass es da irgendwo irgendwelche mehreren Türen gibt und ich denke, muss

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Biographische Fallrekonstruktionen ich jetzt in die [mh] oder in die [mh, mh] oder die? Und da weiß ich genau, was das bei mir ist so. [mh, lacht auf] Das ist diese Frage [ja] und das ist auch die Täuschung, dass man sich zu genau zuordnen muss, so. [mh] Aber trotzdem gibt es einen Bereich in der Psyche, der danach verlangt irgendwie so, [mh] sich konkret zuzuordnen. [mh] Es hat eben Vor- und Nachteile, so irgendwo dazwischen zu sein. [ja] Ja. (2) Zu-Zumindest äh in einer Gesellschaft, die (.) gewisse Zuordnung verlangt. [mh]“ (1155ff)

Auffällig ist, dass Semjon sich bei seiner Antwort nicht auf den familialen Hintergrund bezieht, sondern auf das Leben in dem jeweiligen Land. Dass das Thema ihn intensiv beschäftigt, wird u.a. deutlich durch den Versprecher, er denke darüber „seit Jahren noch“ nach, der impliziert, dass er es seit Jahren tut und noch weitere Jahre tun wird. Er beschreibt das Paradoxon, dass er sich aus ideologischen Gründen eigentlich nicht zuordnen (müssen) möchte, aber dennoch das innere Bedürfnis verspürt, es konkret zu tun. Man könnte von einem Widerstreit von intellektueller und affektiver Ebene sprechen. Gleich wie sehr er sich mit politischen Fragen befasst, bleibt ein affektives Verlangen, was sich z.B. darin ausdrückt, dass er über dieses Thema träumt, es sich ihm also – in für ihn nicht bewusst steuerbaren Situationen – aufdrängt. Dabei verwendet er mit den unterschiedlichen Türen, zwischen denen er sich entscheiden müsse, ein sehr starkes Bild. Er kann nur eine wählen und ‚schließt‘ mit der Wahl einer Tür die anderen Möglichkeiten aus. Dabei irritiert jedoch, dass er mit: „in die [mh] oder in die [mh, mh] oder die?“ drei Varianten aufzählt. Eventuell denkt er an eine ‚russische‘, eine ‚deutsche‘ und eine ‚hybride‘ Tür, was jedoch in gewisser Weise mit der eindeutigen Zuordnung konfligiert. Für den Zwang zur Zuordnung macht er neben „der Psyche“ die Gesellschaft verantwortlich. Interessant ist in diesem Rahmen, dass seine Antwort auf die Frage der Interviewerin zurückgeht, ob er sich zuordnen könne; eine Frage, die sie sonst (bewusst) in keinem Interview gestellt hat (siehe 5.6). Zunächst handelt es sich dabei nicht um eine wohlformulierte Nachfrage, denn sie fordert keine Narration, sondern eine Argumentation heraus. Auffällig ist die weitere Formulierung: „Oder wie würdest du dich, wenn jemand sagt, was bist du jetzt /lacht auf/ so, was würdest du antworten? [ja] Hybridwesen? Oder?“ Es drückt sich – auch durch das leichte Lachen – aus, dass sie Vorbehalte gegen die Frage hat, weshalb sie diese (vordergründig) stellvertretend durch „jemand“ stellen lässt und Semjons vorausgegangene Charakterisierung „Hybridwesen“ aufgreift. Dass die Interviewerin diese Frage stellt, obwohl sie es bei der übergreifenden Interviewplanung für sich ausgeschlossen hat und obwohl sich ihr Unbehagen in der Formulierung ausdrückt, ist nur durch die Interaktion im Interview erklärbar. Denkbar wäre zum einen, dass Semjons Zuordnungsversuche, die sich durch das Interview ziehen, in ihr das Begehren nach einer eindeutigen Zuordnung geweckt haben. Zum anderen kann dies Semjons Bedürfnis nach Verortung widerspiegeln, das von ihr aufge-

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griffen wird. Die Interviewerin würde dann die Frage aussprechen, die ihn innerlich dauerhaft begleitet. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass Semjon an anderer Stelle mit der ‚freien Assoziation‘ eine Methode der psychoanalytischen Therapie angeführt und die Interviewerin damit indirekt als (seine) Psychotherapeutin adressiert hat. Semjons Erzählung endet mit einem Plädoyer dafür, „dass man etwas auch aufheben sollte mit- also mitnehmen sollte [mh] und nicht ständig auf Reset drücken sollte [lacht] dann geht [sehr schön] man irgendwann kaputt, so“ (527ff). Mit dem „etwas“ spricht er Teile seiner ‚russischen Identität‘ an. Mit dem Resetdrücken findet er ein anschauliches Bild, denn bei diesem Vorgang findet eine Zurücksetzung des Systems hin zum Anfangszustand statt. So beklagt er z.B. den Versuch, all dies vergessen machen zu wollen, indem er einen deutschen Vornamen angenommen hat: „im Nachhinein hab ich gemerkt, is ein großer Fehler. So funktionieren [mh] Entwicklungen und Identitätsentwicklungen nicht, das ist eine (.) eine Veraschung gewesen, Selbstverarschung“ (125ff) „und jetzt äh be-benenn ich mich selbst so stelle ich mich als Semjon vor, [mh] darf aber den Namen offiziell nich mehr haben, [schnaubt] weil es äh so rigide Gesetze gibt irgendwie [mh] von Simon zu Semjon gibt’s kaum ein Weg so *irgendwie*“ (37ff)

Semjon hat in den letzten Jahren für sich herausgefunden, dass sein Plan nicht aufgegangen ist. Weder wird er durch den Namen von anderen fortan als ‚nur‘ Deutsch wahrgenommen, noch hat sich für ihn durch die Änderung innerlich das Ankommen erleichtert. Die Revision seines ‚Fehlers‘ wird ihm jedoch verweigert. Es scheint immer wieder die Sehnsucht nach dem Russischen auf. Einen kreativen Umgang damit stellt z.B. der Versuch dar, alte russische Gerichte zu veganisieren: „Und äh (.) find‘s auch spannend äh irgendwelche alten russischen Gerichte, die wir in der Familie ständig gegessen haben, [mh] äh so sag ich mal zu veganisieren und die [mh] vegan zu machen, vegan zu kochen und nicht zu sagen, wir sind jetzt vegan und leben jetzt äh, das muss alles, da muss alles anders werden, [mh] muss alles komplett neu und da, (.) da hab ich aus meiner, (.) aus meinem Leben gelernt“ (522ff)

Zukunftsaussichten – Studieren ohne Ende Semjon verbringt seine Zeit mit dem Studium und der politischen Arbeit, an der er sich „teilweise auch wirklich dann auch überarbeitet“ (1647f). Er zeigt großen

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Einsatz, erhält aber wenig „Output“ (1652) dafür. Sein Engagement und sein Studium finanziert er durch Arbeitslosengeld II-Leistungen, die er als „Einkommen“ (454) für seine politische Arbeit betrachtet. Seine Freundin hat ihr Bachelorstudium vor einem halben Jahr beendet. Obgleich sie jünger ist als er, hat sie bereits einen ersten Studienabschluss erreicht und darauf einen Master begonnen. Möglicherweise erhöht dies für Semjon den Druck, sein Studium, dass er aktuell etwa zu zwei Dritteln geschafft hat, auch bald zu beenden. Allerdings hat dieser „so allgemein äh keine großen Pläne“ (1616), was nach dem Studium folgen könnte. In der freien Wirtschaft wolle er aus ideologischen Gründen nicht arbeiten und „so die Uni (.) und lernen und weiterentwickeln, (.) noch hab ich‘s nicht satt so. [mh] Ich könnte so weitermachen, n das ist natürlich nich (.) f- fü- finden viele nicht gut, irgend- ich soll da schneller d- durch sein, [lacht auf] aber ich könnte da wirklich (.) mei- mein Wissendurst ist jetzt noch äh [mh] in Wahrheit nicht gestillt, so [kichert] und ich finde jedes Mal eine Vorlesung, die ich sehr spannend finde. [mh] Und äh, (.) hab auch nich so das Bedürfnis, das irgendwo in der Welt so, sag ich mal, direkt praktisch irgendwo anzuwenden [mh]“ (1622ff)

Hurrelmann (2004) schreibt, dass die meisten Studierenden den langen Ausbildungsweg an der Universität sowie den damit verbundenen „ökonomisch und sozial ungesicherten Status“ (105) mit dem Gedanken auf sich nehmen, dadurch einmal einen „finanziell gut dotierte[n] und prestigehohe[n] Beruf“ (ebd.) zu erhalten. Semjon fehlt nicht nur solch ein Endziel, sondern auch das „Bedürfnis“, das theoretisch Erlernte überhaupt in eine berufliche Tätigkeit zu überführen. Es lässt sich im Interview keine Identifikation mit einer künftigen Berufsrolle ausmachen. Für Semjon geht es nicht um eine berufliche Verwertungsmöglichkeit des Studiums (vgl. ebd., 106), das Studium wird vielmehr zum Selbstzweck an sich. Der folgende Satz verdeutlicht, dass es für Semjon im Grunde keine Option darstellt, das Studium (jemals) zu beenden: „Und auch wenn ich jetzt äh die Uni irgendwann verlassen müsste, ich würde mich immer weiterbilden [mh] über Bücher. (.)“ (1630f). Auf der manifesten Ebene wird mit dem Satz vor allem in einem positiven Sinne ausgedrückt, dass er sich auch über das Studium hinaus immer weiterbilden möchte. Dabei irritiert jedoch im Zusammenhang mit der Universität die Formulierung „verlassen müsste“. Üblicherweise beendet man aktiv ein Studium und verlässt dann die Universität, in Semjons Formulierung ist der Abschluss jedoch nicht enthalten. Es ist nur von einem erzwungenen Verlassen die Rede, das zudem zeitlich unbestimmt nach hinten geschoben wird („irgendwann“). Grammatikalisch handelt es sich um einen Konditionalsatz, der ausdrückt, dass eine Handlung (weiterbilden) nur unter der bestimmten Bedingung (verlassen müssen) geschehen wird. Da es sich jedoch genauer um einen Konditionalsatz II handelt,

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also einen irrealen Satz, der die Bedingung als unerfüllbare oder eingeschränkte erscheinen lässt (vgl. Duden 2009, 1082ff), drückt sich aus, dass für Semjon das Verlassen der Universität aktuell keine denkbare Bedingung darstellt. Das ‚Studieren ohne Ende‘ stellt zudem eine Verlängerung des adoleszenten Möglichkeitsraumes dar. Semjon nutzt die Zeit auch für das außeruniversitäre (z.B. das politische Engagement). Er ist noch nicht bereit, einer umfangreichen Beschäftigung nachzugehen, da er noch im Prozess der adoleszenten Selbstfindung ist. Sich für ein berufliches Ziel zu entscheiden würde auch bedeuten, sich von anderen Möglichkeiten zu trennen. Eventuell kann Semjon sich erst dann beruflich festlegen, wenn er sich innerlich gefunden hat. Aktuell hat er keinen Entwurf für sein berufliches Leben. Sein ausgedehntes Studium stellt auch ein Gegenmodell zum Vater dar, dessen Arbeitssituation Semjon wie folgt beschreibt: „Und äh (.) äh, er arbeitet halt irgendwie schon sei- seit er jung ist in drei Schichten und irgendwie is [mh] total kaputt auch gesundheitlich und äh äh is [ja] kerst-, steht kurz vor der Rente und presst jeden Tag aus sich noch d- d- d- diese Energie herheraus, [mh] um dahin zu gehen so. (.) Mh, das is so alles, was im Leben meines Vaters so passiert ist, irgendwie, *so ne*?“ (196ff)

Er zeichnet ein trostloses Bild: Das Leben des Vaters bestehe nur daraus, bis zur völligen körperlichen Erschöpfung zu arbeiten. Dem ‚immer hart körperlich Arbeiten‘ setzt Semjon ein ‚Studieren ohne Ende‘ entgegen und grenzt sich so vom Lebensentwurf des Vaters ab. Er möchte keine Arbeitssituation, die ihm die Zeit zum Leben nimmt, sondern weiter Wissen „anhäufen“ (1641) und seinen Interessen nachkommen. So bemängelt Semjon an anderer Stelle, dass „man sich dann auch f- für so ne Arbeit auch viel Zeit nehmen [mh] und auch andere Bereiche dann zurückdrängen im Leben“ (1641f) müsse. Die übliche Lebenspraxis, nach dem Studium eine Arbeit mit einem Umfang von etwa vierzig Stunden pro Woche anzunehmen, lehnt er für sich ab, da er keine Zeit dafür habe. Dies erscheint als bourgeoise, von der Realität entfernte Sicht, die im Zusammenhang mit dem Beispiel des Vaters stehen kann. Indem er allerdings genau das Gegenteil von dem macht, was der Vater verkörpert, kommt auch sein Verhaftetsein zum Ausdruck. Dadurch erscheint es nicht als genuin eigener Lebensentwurf, sondern (eventuell für ihn unbewusst) als Verharren in einem oppositionellen Lebensentwurf, der ihn als nicht abgelöst charakterisiert. Durch seine Haltung könnte Semjon – zumindest aktuell – nicht die Rolle eines Familienernährers einnehmen. Er kreist sehr um sich selbst. Die Eltern kritisieren die Haltung ihres Sohnes, die der ihren entgegensteht, die Mutter prophezeit etwa: „du wirst irgendwann als Obdachloser enden“ (1355f). Sie würden auch immer wieder fragen, „wie lange ich noch studiere und so“ (1408), was Semjon als „Grenzüberschreitung“ (1407) wahrnimmt, die

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„in die Freiheit (.) eingreif[t]“ (1409). Er empfindet die Nachfragen als bedrängend. Er möchte den Eltern nicht zu Erklärungen verpflichtet sein, zumal er das Gefühl hat, dass sie ihn ohnehin nicht verstehen können. Es schwingt aber wohl auch die Sorge mit, dass er mit 31 Jahren noch nichts „Fertiges“ (Ullrich 2015, 13) vorweisen kann: „also mit der Zeit irgendwann (.) gibt‘s überhaupt keine Ausrede mehr, wenn man irgendwann vierzig ist, [lacht auf] dann darfst du nicht mehr Student so sein, sondern (.) dann muss man halt dann irgendwann, ne? [mh]“ (1199ff)

Semjon benennt die gesellschaftliche Anforderung konkret, schiebt sie jedoch noch etwa zehn Jahre auf, indem er von einem Alter von 40 Jahren spricht, obgleich dies ein sehr untypisches Alter für das Beenden eines Studiums darstellt. Offenbar wäre es ihm am liebsten, sich den ‚Zwischenraum‘ vor dem Eintritt in die Arbeitswelt noch viele Jahre offen zu halten. 6.3.4 Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte Die etwa 45-minütige Eingangserzählung Semjons gliedert sich grob in zwei Stränge, die auf Textebene durch eine Zwischenkoda und eine Pause voneinander getrennt sind. Im ersten Teil stellt er überwiegend chronologisch seinen Lebensund vor allem Bildungsweg vor und nach der Ausreise dar. Im zweiten Teil steht er als Person im Fokus. Dort spricht er über seinen Wandel vom ‚Kapitalisten‘ zum ‚Antikapitalisten‘, der heute vegan lebt, sich ehrenamtlich politisch engagiert und dem russische Bezugspersonen fehlen. Auffällig ist, dass dieser Strang im Erzählaufbau von der Lebens- und Bildungsgeschichte getrennt ist, obgleich Zusammenhänge zu vermuten sind. In der Text- und thematischen Feldanalyse wurde die übergreifende Schwierigkeit Semjons herausgearbeitet, sich zu verorten, was sich zum einen inhaltlich zeigt und zum anderen auch auf die Textebene auswirkt, indem mehrfach Brüche in Bezug auf Themen, Orte und die Chronologie stattfinden. Zugleich drückt sich in der Stegreiferzählung ein hoher Selbstthematisierungsund Selbstverstehensbedarf aus, vor allem in Hinblick auf die eigene Verortung, der sich auch auf die Interaktion niedergeschlagen hat (so adressiert er die Interviewerin indirekt als Therapeutin). Insgesamt präsentiert Semjon sich in der Eingangserzählung als jemand, der sich bereits im Herkunftsland mit der Frage nach seiner Zugehörigkeit in Bezug auf natio-ethno-kulturelle und soziale Zusammenhänge konfrontiert sah, was sich nach der Migration noch verstärkt und zudem auf politisch-weltanschauliche und schließlich auch familiale Zusammenhänge ausgeweitet habe. Zugleich tritt der

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Wunsch zutage, sich jeweils zuordnen zu können und fraglos dazuzugehören. Das thematische Feld der Eingangspräsentation kann daher so formuliert werden: ‚Ich habe Schwierigkeiten, mich zu verorten, möchte es aber unbedingt‘. Obgleich die Darstellung daran orientiert ist, durch reflexive Passagen und Argumentationen deutlich zu machen, dass er sich intensiv und wissenschaftlich fundiert mit diesen Themen auseinandersetzt, tritt vor allem die oben beschriebene Unverbundenheit zwischen der eher formalen Lebens- und Bildungsgeschichte und seiner emotional gefärbten persönlich-politisch-weltanschaulichen Entwicklung hervor. Der Frage, was der Grund dafür sein könnte, soll in der Kontrastierung mit der erlebten Lebensgeschichte nachgegangen werden. Das Thema der Verortung kann schon vor Semjons Geburt als relevant in der Familie ausgemacht werden. Zum einen wurden sowohl seine Großmutter als auch sein Großvater aufgrund ihrer Abstammung im frühen Jugendalter nach Sibirien deportiert, wo sie in einer sogenannten ‚Sondersiedlung‘ leben mussten. Zum anderen wurde die Eheschließung zwischen seinen Eltern in beiden Familien aufgrund der unterschiedlichen Zugehörigkeiten abgelehnt. Semjon ist demnach das Kind einer unerwünschten bi-nationalen Verbindung. Die darin enthaltene Spannung drückt sich z.B. darin aus, dass er den Vornamen des deutschen, in der Verbannung gestorbenen, Großvaters erhält, obgleich die Familie sich in Russland nicht auf ihr Deutschsein bezieht und sich dem sowjetisch-russischen Umfeld anpasst. Trotz dessen machen sowohl die Eltern als auch er wiederholt Erfahrungen von Diskriminierung aufgrund des deutschen Hintergrundes. Semjon möchte fraglos zu seinen MitschülerInnen und der Mehrheitsgesellschaft dazugehören, wird jedoch des Öfteren als „Faschist“ (598) ausgegrenzt, obgleich dies mit seiner Selbsteinschätzung als Russe nicht übereinstimmt. Auf dem Schulhof kommt es manchmal zu Schlägereien, auch wegen der Zugehörigkeit, aber vor allem, um infolge kleiner Uneinigkeiten, die eigene Männlichkeit zu beweisen. Semjon gibt an, dass es in seinem Umfeld ein recht klares Bild davon gegeben habe, was typisch männlich sei und er mit seinen dreizehn Jahren das Gefühl gehabt habe, diesem zu entsprechen. Er hat auch bereits eine erste Liebesbeziehung und ist Teil einer Clique. Darüber hinaus beschreibt er die Lebensumstände als von Mangel und Armut geprägt. Die Familie muss sich mit den Nachbarn Küche und Bad teilen. Diese Umstände führen dazu, dass es öfter zu Streitigkeiten kommt. Die Eltern versuchen, sich zurückzuziehen und pflegen keine Freundschaften. Auffällig ist zudem, dass man kein Bild enger emotionaler Bindungen innerhalb der Familie erhält, die neben Semjon und den Eltern noch einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester umfasst. Aufgrund von Erzählungen von Verwandten, die bereits in Deutschland leben sowie durch das Versprechen der Eltern, dass sie in ein Land mit „schön vielen Farben“ (108) und allem Konsum, den sie sich wünschen, reisen würden, geht

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Semjon davon aus, dass die Migration richtig und gut sei und freut sich darauf. Angekommen in Deutschland wird er jedoch enttäuscht. Aufgrund der Rückstufung in der Schule ist er älter als seine MitschülerInnen und findet keinen Anschluss. Er fühlt sich fremd und überrannt von den Anforderungen. Auch in Hinblick auf seine Zugehörigkeit macht er erneut Differenzerfahrungen, wird nun negativ als ‚Russe‘ konnotiert. Von seinen Eltern, die mit ihrer eigenen Integration befasst sind, wird er mit seinen Sorgen alleine gelassen und erfährt keinerlei Unterstützung. Er bleibt allein mit den Herausforderungen der Migration, die er dadurch als „Einbruch“ (106) empfindet. Zudem hat er den Eindruck, auch finanziell nicht ausreichend teilhaben zu können. Es gibt Beschränkungen bei Auswahl und Menge des Essens und besonders eindrücklich ist die Szene, in der seine Mutter ihn anweist, in einen Altkleidercontainer zu klettern, um Kleidung für die Familie zu stehlen. Semjons Überforderung drückt sich in (tätlichen) Aggressionen gegenüber seinen MitschülerInnen aus, aufgrund derer die Eltern mehrfach zum Direktor bestellt werden. Die anfängliche Freude auf die Migration ist einer destruktiven Aggression gewichen. Semjon hat das Gefühl, von seinen Eltern getäuscht worden zu sein. Sie, die Älteren, hätten doch wissen müssen, was nach der Migration kommt und ihn besser darauf vorbereiten müssen. Offenbar liegt es für ihn außerhalb des Denkbaren, dass die Eltern es eventuell selbst nicht besser wussten. Er bespricht diese Gefühle in der damaligen Situation nicht mit seinen Eltern; so kanalisieren sich die Enttäuschung über die nicht erfüllten Versprechungen und die wiederholten Erfahrungen von Degradierung in Aggressionen nach außen, unterschwellig bleibt die Wut auf die Eltern. Nach einer Weile in Deutschland entsteht in Semjon der ‚typische‘ Wunsch eines Jugendlichen, zu einem Peerkontext dazuzugehören. Das Besondere ist, dass Semjon die Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur mit dem Land (Deutschland) verbindet. Um (fraglose) Zugehörigkeit zum ‚deutschen‘ Umfeld zu erreichen, möchte er jeglichen Hinweis auf seine natio-ethno-kulturelle Herkunft unkenntlich machen. So wünscht er sich Kleidung, die vermeintlich ‚deutschen‘ Maßstäben gerecht wird und lässt – auf eigenen Wunsch – seinen Namen ‚eindeutschen‘, aus Semjon wird Simon. Der Namenswechsel steht symbolisch für den Versuch einer vollkommenen Abkehr von seinem bisherigen Leben bzw. seines ‚VorMigration-Ichs‘. Die forcierte Anpassung kann als Versuch der Bearbeitung der Migrationserfahrungen sowie als Versuch, die Zurückweisungen zu beenden, gesehen werden; der jedoch misslingt. Damit folgt er dem Beispiel seiner Eltern, die ebenfalls bemüht sind, sich anzupassen, indem sie z.B. ihr Zuhause zur Weihnachtszeit dekorieren, obgleich sie dieses Fest in Russland nie gefeiert haben. In der Interviewsituation betrachtet Semjon sein damaliges Verhalten auf der Ebene

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der erzählten Lebensgeschichte kritisch, man dürfe „nicht ständig auf Reset drücken“ (528). Dabei beklagt er auch den Versuch, die russische Seite vergessen machen zu wollen, indem er einen deutschen Vornamen angenommen hat. Er wirft seinen Eltern und Verwandten vor, dass sie ihm suggeriert hätten, dass dies der richtige Weg sei. Dass dieses Thema ihn immer noch beschäftigt, wird z.B. dadurch deutlich, dass er die Anpassungsversuche seiner Eltern retrospektiv ins Lächerliche zieht. Semjons Verhalten verändert sich komplett, als er (zufällig) Kontakt zu einer russischstämmigen Clique bekommt. Dort werden die Dinge, die er zur Angleichung unternommen hat, abgelehnt. In der Folge findet bei Semjon ein starker Rückbezug auf ‚das Russische‘ statt und er versucht, (s)eine russische Identität auch nach außen zu demonstrieren. Er merkt, dass es für ihn leichter ist, sich darauf zu beziehen, da ihm diese keiner streitig macht, obgleich er einen deutschen Pass besitzt. Es kommt sogar zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen ‚den Slawen‘ und ‚den Deutschen‘. Mit einer starken Zick-Zack-Bewegung ist er von dem ‚Extrem der Anpassung‘ ins ‚Extrem der Unterscheidung‘ gewechselt, jeweils verbunden mit einer starken Ablehnung der anderen Zugehörigkeit. Während der Ausbildung tritt dann der Konsum an die Stelle der Überbetonung von Zugehörigkeit. Nach dem Motto: ‚Ich bin, was ich mir leisten kann‘, erwirbt Semjon sich (Selbst-)Anerkennung/Bestätigung mittels materiellen Besitzes. Zusätzlich zur Ausbildung nimmt er einen anstrengenden Nebenjob an. Dabei charakterisiert er den Wunsch nach einem hohen Verdienst als typisch für SpätaussiedlerInnen. Motiviert durch seine Kollegen und die Aussicht auf ein noch höheres Einkommen, entschließt er sich (wie sein älterer Bruder), das Fachabitur zu machen und im Anschluss zu studieren. Dafür verlässt er das Elternhaus und zieht in die Großstadt, in der sein älterer Bruder bereits lebt. Durch die Erfahrungen, die er dort sammelt und durch signifikante Andere, wie eine sozial engagierte Lehrerin oder das Vorbild des Bruders, entfernt Semjon sich wieder von der starken ökonomischen Orientierung. Stattdessen durchläuft er nun „im Schnelldurchlauf ein paar Phasen“ (1119) und lebt erst als Punk und dann als Hippie genau das Gegenmodell zur kapitalistischen Konsumideologie. Die zunächst heiß gewünschte und dann gelebte Teilhabe an den kapitalistischen Einkaufswelten in Deutschland lehnt er nun strikt ab. Dadurch wird auch eines der Hauptmotive abgelehnt, dass die Eltern zur Migration bewogen hat, wodurch sein Antikapitalismus auch als ‚Antimigrationismus‘ gelesen werden kann. Semjons Verhalten stellt zudem ein Gegenmodell zum Vater dar, der sehr viel und körperlich hart arbeitet, um ein eigenes Haus finanzieren zu können. Im Zuge des Orientierungsprozesses beginnt Semjon, sich politisch zu engagieren und entscheidet sich, fortan vegan zu leben. Auch damit geht er in Konfrontation zu den Eltern, denn diese lehnen (mit Bezug auf Erfahrungen im Sozialismus) seinen politischen Einsatz vehement ab

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und kritisieren seinen Verzicht auf Fleisch scharf, prophezeien ihm gar, dass er dadurch sterben werde. Das Leben, das Semjon führt, wird von der Familie nicht verstanden und daher abgelehnt. Seine adoleszenten Auseinandersetzungen mit der Frage, wie er leben will, ‚deutsch‘ oder ‚russisch‘, konsumorientiert oder als ‚antikapitalisitischer Hippie‘, wirken durch die starken Zick-Zack-Bewegungen von einem Extrem zum anderen ausufernd. Es gibt für ihn keinen Mittelweg. Unterstützend erlebt er seine Freundin, die ebenfalls Spätaussiedlerin ist und noch kürzer in Deutschland lebt als er. Sie begleitet ihn durch alle Phasen, näht ‚dem Hippie‘ z.B. Schlaghosen und folgt ihm später in die vegane Ernährungsweise. Darüber hinaus lässt sie ihm den gewünschten Freiraum, z.B. dadurch, dass sie die zwei Zimmer ihrer Wohnung nicht als Wohn- und Schlafzimmer nutzen, sondern je einen Raum bewohnen, wie ich beim Interview vor Ort erfahren habe. Sie selbst bleibt im Interview allerdings blass und erscheint als bedeutsame Person im Hintergrund. Da es nicht zu seinen neuen moralischen Ansprüchen passt, bricht Semjon das aktuelle Studium ab und beginnt ein anderes, das er bis heute betreibt. In der Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte wurde herausgearbeitet, dass das Verlassen der Universität für Semjon aktuell keine denkbare Option darstellt bzw. es für ihn momentan nicht einmal denkbar ist, das Studium (jemals) zu beenden. Es geht für ihn offenbar nicht um eine berufliche Verwertungsmöglichkeit des Studiums. Ebenso lässt sich im gesamten Interview keine Identifikation mit einer künftigen Berufsrolle ausmachen. Bereits der 17-Jährige hatte weder berufliche Interessen noch sich im Voraus Gedanken über eine mögliche Ausbildung gemacht. Seine Entscheidungen beruhten auf den Hinweisen und Ratschlägen anderer Menschen. Auch das Fachabitur und das Studium gehen maßgeblich auf Empfehlungen Dritter zurück. Es besteht kein genuin eigener Weg. Der Bildungsweg an sich gerät in den Hintergrund bzw. stellt nur den Ermöglichungsraum für das Private bereit. Die persönlich-politisch-weltanschauliche Entwicklung und der Bildungsweg können als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden. Entweder liegt die eine oben oder die andere; sie ergeben kein kohärentes Ganzes. Dies korreliert mit der in der Text- und thematischen Feldanalyse herausgearbeiteten Unverbundheit der beiden Erzählstränge und hat die Schwierigkeit zur Folge, sich selbst und Pläne für einen beruflichen Weg in Zusammenhang zu bringen. Ein Zukunftsentwurf als bedeutsames Ergebnis adoleszenter Auseinandersetzungen fehlt. Diente die Ausbildung vornehmlich dem Zweck des Geldverdienens, so wird das Studium zum Selbstzweck an sich. Das ‚Studieren ohne Ende‘ stellt eine Verlängerung des adoleszenten Möglichkeitsraumes dar. Dabei ist Semjon bewusst, dass ein solcher Weg in Russland nicht möglich gewesen wäre und auch insgesamt bewertet er die Freiheiten im Westen positiv (mit Ausnahme des Kapitalismus).

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Zugleich bedeutet es einen maximalen Kontrast zum Männlichkeitsbild des stets körperlich hart arbeitenden Vaters. Semjon nutzt den zeitlichen (Frei-)Raum, um sich außerhalb der Universität ausleben zu können (z.B. im Ehrenamt) und sich innerlich mit für ihn relevanten biographischen Themen und Fragestellungen auseinanderzusetzen. Obgleich Semjon im Interview häufig zwischen Narration und Reflexion oszilliert und dabei durch Termini technici seine Beschäftigung mit Fachdiskursen zeigt und z.T. auch ein hohes Abstraktionsniveau erkennbar ist, sind für ihn offenbar einige Fragen der familialen Beziehungen, der persönlichen (Migrations-)Geschichte und der Verortung noch nicht ausreichend bearbeitet. Auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte drückt sich dies durch den erwähnt hohen Selbstthematisierungs- und Selbstverstehensbedarf aus. Einen maßgeblichen Faktor dafür stellen die Eltern dar. Semjon möchte gerne Themen der Vergangenheit mit ihnen besprechen, etwa die fehlende authentische Vorbereitung auf das, was nach der Migration kommt, doch die Eltern verweigern jegliche Auseinandersetzung (gehen „auf Verteidigungskurs sofort“, 1042). Dies belastet Semjon und verunmöglicht es ihm, damit abzuschließen, sodass dieses Thema für ihn noch immer aktuell und drängend ist. Dadurch werden sowohl Ablösung als auch Selbstfindung erschwert. Indem er genau das Gegenteil vom Vater macht, zeigt sich sein Verhaftetsein. Aktuell ist sowohl die Beziehung zu den Eltern als auch die zu den Geschwistern „sehr, sehr konfliktreich“ (1347). Sie trauen ihm wenig zu und Semjon beklagt, dass sie seine Bemühungen nicht wertschätzen würden. So habe er wiederholt versucht, Neues in die Familie einzubringen, etwa die althergebrachten Geschlechterrollenbilder zu entmachten („Und der, der Vater muss nicht äh der Mann sein, der irgendwie alles schafft“, 1387). Damit verletze er jedoch „bestimmte Regeln“ (1397) und Tabus, die es in der Familie gebe, was auch die Geschwister ihm vorhalten würden. In der Folge wird er von diesen sowie den Eltern kritisiert und exkludiert, was ihm zusetzt. Die ablehnende Haltung der Eltern erklärt er sich als Folge von „Minderwertigkeitskomplexe[n]“ (1369), da es durch die Migration zu einer Rollenumkehr gekommen sei und nun er derjenige mit dem „Vorsprung“ (1372) sei. Es fällt Semjon sehr schwer, angesichts seiner Infragestellungen auf die Anerkennung der Eltern verzichten zu müssen. Bei den beschriebenen Phänomenen, wie dem Männlichkeitsbild, handelt es sich um adoleszente Themen, die im Kontext der Migration eine Verstärkung erfahren. Das thematische Feld der Eingangspräsentation: ‚Ich habe Schwierigkeiten, mich zu verorten, möchte es aber unbedingt‘, zeigt sich auch in der erlebten Lebensgeschichte als zentral. Dabei stellt die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit für Semjon einen relevanten Aspekt dar, es geht aber auch um die Frage, wie er sich in und zu der Familie verorten kann (s.o.), zu welchem Freundeskreis er passt und auch die direkte örtliche Verortung scheint für ihn schwierig, so erzählte er

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mir nach dem Interview, dass er innerhalb der Großstadt schon mehrfach umgezogen sei und kommentiert dies mit: ‚Einmal angefangen mit dem ‚Zigeunerleben‘, gibt es kein Ende mehr‘. Dabei wirken die vielen Umzüge wie eine Steigerung der Migration. Die adoleszente Figur der Suche (Wer bin ich? Wo gehöre ich hin?) erscheint aufgrund der unzureichenden Möglichkeit, sich mit den Eltern auseinanderzusetzen sowie der mangelnden Anerkennung in den jeweiligen Peerkontexten zentral und erschwert. In Bezug auf die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit beschreibt Semjon das Paradoxon, dass er sich aus ideologischen Gründen eigentlich nicht zuordnen (müssen) möchte, aber dennoch das innere Bedürfnis verspürt, dies konkret zu tun. Man könnte von einem Widerstreit von intellektueller und affektiver Ebene sprechen. Für den Zwang zur Zuordnung macht er auch die Gesellschaft verantwortlich. Die Relevanz, die das Thema für ihn besitzt, tritt zudem dadurch hervor, dass es ihn bis in seine Träume verfolgt und die Interviewerin nach seiner Zuordnung fragt, obgleich sie sich im Voraus dazu entschieden hatte, diese Frage in keinem der Interviews zu stellen. Dies ist, so zeigt die Analyse, nur durch die Interaktion im Interview erklärbar. Die Rekonstruktion spricht dafür, dass dieser ‚Fehler‘ Semjons Bedürfnis nach Verortung widerspiegelt. Gestärkt wird diese Annahme durch die (implizite) Adressierung der Interviewerin als (seine) Psychotherapeutin. Auch in Bezug auf Freundschaftsbeziehungen hat Semjon für sich den richtigen Ort noch nicht gefunden. Seinen ehemaligen Spätaussiedlerfreunden aus Mittelstadt A sei er durch ihr „ähnlicheres Schicksal“ (1300) nahe, doch hätten sie sich in den letzten Jahren sehr auseinander entwickelt. Sie lebten zwar als Lohn ihrer harten Arbeit heute in eigenen Häusern, hätten sich aber Semjon zufolge intellektuell nicht weiterentwickelt. Er hebe sich von ihnen z.B. durch seine Art des Sprechens, sein Leben in der Großstadt und sein Studium ab und sei ihnen daher fremd geworden. Im Vergleich dazu habe er in der Großstadt Intellektuelle aus Russland kennengelernt, bei denen er wiederum das Gefühl habe, nicht mithalten zu können und es aufgrund seiner Herkunft auch nie tun zu können. Semjon führt das Dilemma aus, nicht mehr so zu sein wie die ehemaligen Spätaussiedlerfreunde, aber auch nie so sein zu können wie die ‚intellektuellen Russen‘. Bei der Situation, quasi zwischen zwei Milieus zu stehen und keinem der beiden fraglos anzugehören, handelt es sich um eine typische Herausforderung von Bildungsaufsteigern, zu denen Semjon zählt. Seine Eltern haben in Russland beide den niedrigsten Abschluss erworben und das kulturelle Kapital der Familie war und ist eher gering. Als Semjon in Deutschland nach der sechsten Klasse von den Lehrern empfohlen wurde, direkt auf ein Gymnasium zu wechseln, haben seine Eltern dies abgelehnt. Semjon spricht im Interview abschätzig über die kulturelle Ausstattung seiner El-

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tern. Er verbleibt in einer eher destruktiven Abwertung und es gelingt ihm insgesamt nicht, wie Streeck-Fischer (2005) es als bedeutsam für die Beziehung zu den Eltern und die Ablösung benennt, „sich potenziell irgendwann einmal mit ihnen und ihrer Unvollkommenheit aus[zu]söhnen“ (12). Der Aspekt des Bildungsaufstiegs scheint ihm selbst nicht bewusst. Der politische Bereich bietet Semjon eine Plattform, auf der der Migrationshintergrund keine Rolle spielt und er dazugehört, solange er den gewünschten Einsatz zeigt. Doch auch dort fühlt er sich nicht in seiner ganzen Persönlichkeit, vor allem nicht in den ‚russischen Anteilen‘, angenommen und verstanden. Es bleibt die Sehnsucht nach ‚passenden russischen‘ FreundInnen, die er noch nicht gefunden hat. Ein durchaus kreativer Umgang bei dem Versuch, Altes und Neues zu verbinden, sind seine ‚Kochexperimente‘, bei denen er traditionelle (fleischhaltige) russische Gerichte zu veganisieren versucht (was für ihn auch für den Westen steht). 6.4 Fallrekonstruktive Kurzportraits Um die Spezifika der einzelnen Fälle noch stärker herausarbeiten und die Vielfalt des Gesamtsamples aufzeigen zu können, wurden drei weitere Fälle ausgewählt, deren biographische Rekonstruktionen im Folgenden als Kurzportraits dargestellt werden. Die Auswahl dieser Fälle erfolgte nach den Globalanalysen der sechs verbliebenen Fälle in Hinblick darauf, dass zum einen ein Fall gezeigt werden soll, der Ähnlichkeiten zu Vadim aufweist (Jurij) und zum anderen zwei Fälle Einblick in eine Konstellation bieten sollen, die sich von den bisherigen unterscheidet (Sergej und Fjodor). Die Fälle werden in einer stark komprimierten Form der Gesamtrekonstruktion präsentiert, um auch diese Fälle in ihrer Struktur nachvollziehbar zu machen und dadurch zudem weitere Varianten der Lebensgeschichten von Spätaussiedlern auffächern zu können. Vergleiche zu den vorherigen Fallrekonstruktionen scheinen dabei in den Darstellungen explizit auf. 6.4.1 Kurzportrait Jurij Jurij ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt und studiert Jura. Mit 19 Jahren ist er gemeinsam mit seinen Eltern und den Großeltern mütterlicherseits von Kasachstan nach Deutschland migriert. Geschwister hat er nicht. In Kasachstan hat er bereits die vollständige Mittelschule abgeschlossen, bei der es sich um eine anspruchsvolle Schule mit einem juristischen Schwerpunkt handelte, sodass ihm

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zwei Semester des folgenden Jurastudiums erlassen wurden. Nach einem Studienjahr in der Heimatstadt, zog er alleine in eine russische Großstadt und studierte dort zwei weitere Jahre. 2002 folgte die Ausreise, nach der er zunächst einen mehrmonatigen allgemeinen Sprachkurs absolvierte und 2004 dann einen Studienvorbereitungskurs bei der Otto Benecke Stiftung. Im Wintersemester des gleichen Jahres konnte er das Jurastudium in Deutschland aufnehmen. In seiner selbstgestalteten Eingangserzählung stellt Jurij vor allem die Geschehnisse rund um die Migration dar. Dabei fällt seine Erzählweise auf, denn obgleich er sehr viele negative Geschehnisse aufzählt, wie die erbarmungswürdigen Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen, dominiert der abenteuerliche Charakter, der an einigen Stellen mit etwas Komik gewürzt ist62. Die Art der Erzählung überdeckt das (durchaus benannte) persönliche Erleiden. Dominant ist des Weiteren seine Präsentation als „Kopf der Familie“ (842f) infolge der Migration. Er habe entschieden, an welchen Wohnort die Familie in Deutschland zieht, dort zunächst für seine Großeltern und dann auch für seine Eltern und sich eine Wohnung gesucht und übernehme noch heute Verwaltungsaufgaben für die Familienmitglieder. Jurij erzeugt den Eindruck, er habe durch die Migration an Autonomie und Macht hinzugewonnen, was durch die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte jedoch brüchig wird. Jurijs Vater hat den niedrigsten Schulabschluss erreicht und war darauf in unterschiedlichen Arbeiterberufen tätig. Die Mutter hat nach dem höchsten Schulabschluss ein Ingenieurstudium abgeschlossen. Während der Umbruchsphase der Perestroika fangen die Eltern an, „so kleine Geschäfte zu machen“ (166f), die z.T. illegal und sehr gefährlich sind. Die beiden zeigen Weitsicht und Mut und so wird der Vater schließlich Chef einer eigenen Firma und die Mutter macht sich selbstständig im Bereich Verkauf und hat rasch über 100 MitarbeiterInnen. Ähnlich wie Vadims Eltern gelingt es ihnen, die – für die meisten eher negative – Zeit des Umbruchs für sich zu nutzen und beeindruckende Berufskarrieren zu machen. Und dennoch stellen auch sie einen Ausreiseantrag mit dem Wunsch, dem Sohn, für den sie hohe Bildungsaspirationen hegen, ein besseres Leben in Deutschland zu ermöglichen. Um Jurij die besten Chancen zu bieten, ‚kauft‘ die Mutter in Kasachstan „halb legal“ (198) einen Platz an der begehrtesten Schule der Stadt für ihren Sohn. Die 62

Die Germanistin König (2017) fasst die Ergebnisse vorliegender Studien dahingehend zusammen, dass (tragisch-)komische Geschichten in Interviews mit Migranten häufig zu finden seien. Die Komik trage dazu bei, dass sie die oftmals konfliktreichen „Migrationserlebnisse verarbeiten und Identitätskonflikte bewältigen“ (Leontiy nach König, 301) können. Die Rekonstruktion des Interviews mit Jurij spricht ebenfalls dafür, die komischen Geschichten im Interview nicht als ‚wirklich lustige Erlebnisse‘ zu verstehen, sondern als ein rhetorisches Stilmittel, das dazu dient, schmerzliche Augenblicke präsentieren zu können, ohne die Handlungsmacht zu verlieren.

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Schule hat einen Schwerpunkt für das Thema Jura und in den letzten beiden Schuljahren findet der Unterricht neben der Schule auch an einer Universität statt. Zudem werden den SchülerInnen fünf Sprachen gelehrt. Jurij sei „gezwungen“ (802) gewesen, gut in der Schule zu sein, was vor allem in der frühen Jugend zu Auseinandersetzungen mit den Eltern führt, vor allem mit der Mutter, die es wie bei Vadim und Anton ist, die den Bildungsweg beaufsichtigt. Jurij fühlt sich zunächst als „Außenseiter“ (306) an der neuen Schule, fast täglich kommt es zu körperlichen Auseinandersetzungen und er würde sich in der Freizeit lieber ausschließlich seinem Bass widmen, als zu lernen. Später findet er Anschluss, gründet z.B. eine Band, mit der er Konzerte gibt und findet zudem Gefallen an den Inhalten des Unterrichts. Nach dem Schulabschluss besucht er für ein Jahr eine Universität in seiner kasachischen Heimatstadt, wobei er gleich ins dritte Semester einsteigen kann. Da er nach der Gründung des Staates Kasachstan als Russe bzw. Deutscher in Kasachstan Benachteiligung erfährt, zieht er darauf – ohne seine Eltern – in eine russische Großstadt, um dort zu studieren. Der Beginn des Studiums in der Heimatstadt hat für Jurij keine große Umstellung mit sich gebracht, da er bereits in den letzten beiden Schuljahren die Universität der Stadt zeitweise besucht hat. Einen Statuswechsel stellt für ihn eher der Wechsel an die Universität in der Großstadt dar. Diesen nimmt er jedoch rein positiv wahr: „Traumzeit, [/kichert/] also endlich allein“ (449). Er genießt es, dem direkten Einfluss der Eltern entzogen zu sein und sich mehr seinen eigenen Wünschen und Interessen widmen zu können. Jurij findet schnell Anschluss an einen Freundeskreis und nutzt die vielfältigen Freizeitangebote der Großstadt. Er feiert und entspannt sich und ist etwas weniger ehrgeizig, ohne jedoch seinen Bildungserfolg dadurch in Gefahr zu bringen. Auch in diesem Punkt ist man an Vadims Biographie erinnert. In der Stadt lernt er eine junge russische Frau kennen, in die er sich verliebt. Schnell werden sie ein Paar, leben zusammen und planen sogar, zu heiraten, ohne dass seine Eltern sie überhaupt kennengelernt hätten. Als seine Mutter davon hört, reagiert sie wütend: „was sagst du denn mir? [/lacht auf/ ja] /lacht/ Hast du noch alle Tassen in Kopf?“ (477). Als sie in die Stadt kommt, um seine Partnerin kennenzulernen, bringt sie die Neuigkeit mit, dass die Ausreise nach sieben Jahren Wartezeit nun bevorstehe. Die Freundin habe darauf gesagt: „entweder ich oder, oder Deutschland“ (480). Jurij kann sich nicht gegen das ‚Familienprojekt Ausreise‘ entscheiden, sodass es zum Bruch der Beziehung und damit auch zum Bruch seiner aktuellen Zukunftspläne kommt: „es waren schon ziemlich riesige Pläne, die gebrochen wurden“ (517f). Die Migration findet somit, wie bei Vadim, an einem (bevorstehenden) biographischen Wendepunkt statt. Die Erzählung um das Beziehungsende stellt die emotionalste Sequenz im Interview dar. Es gelingt Jurij an dieser Stelle nicht – wie über weite Strecken – seine Gefühle durch die Art der Erzählung abzumildern. Er hat

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Wortfindungsschwierigkeiten, macht längere Pausen (beides untypisch) und bittet die Interviewerin schließlich, eine Frage zu stellen, was diese verstanden hat als: ‚Stell mir eine Frage, die mit einem anderen Thema zu tun hat‘. Mehrfach im Interview spricht Jurij über die Liebe seiner Eltern. Sein Vater habe sich sogleich in seine Mutter verliebt und bereits nach einem Jahr hätten sie geheiratet. Seine eigene Liebesgeschichte entspricht genau diesem Muster, jedoch ohne ‚Happy End‘ und es wird im Interview sehr deutlich, dass er sich eine wahre Liebe, „eine große Familie, viele Kinder“ (919) sehr wünscht. In Deutschland findet er jedoch keine Partnerin. Gerade durch das zeitliche Zusammentreffen erweckt es den Eindruck, als diene die Migration der Mutter dazu, ihre ‚Konkurrentin‘ zu vertreiben. Und wie bei Vadim kommt es in der Folge dazu, dass Jurij (wieder) enger an die Familie gebunden wird. Seine Freiheiten, seine eigenen Leidenschaften und Zukunftspläne, die er auch durch die Entfernung von den Eltern leben und entfalten konnte, werden dadurch abrupt beendet. Auch seine guten Freunde muss er zurücklassen. Inzwischen hätten viele von ihnen die Heimat verlassen und lebten über die Welt verteilt. Jurij merkt dazu an: „es ist schön, wenn man überall Freunden hat“ (229f). Im Interview wird jedoch deutlich, dass die Freunde zwar „überall“ sind – aber nicht in Deutschland, wo er nach eigenen Angaben nur „Bekannte“ (881) habe, was nicht die gleiche Qualität besitzt und wodurch ein bedeutsamer (zuvor vorhandener) Teil für adoleszente Auseinandersetzungen fehlt. Infolge der Migration scheint auch die Lebensgeschichte von Jurij – wie bei Vadim – zweigeteilt. Hinzukommt, dass er sich bereits im achten Semester befand und den Plan hatte, nach Deutschland zu kommen, die offiziellen Angelegenheiten zu klären und dann sein Studium in der Heimat zu beenden, um bei der Wiedereinreise bereits einen Abschluss zu haben. Dies klappt jedoch nicht, er muss zunächst Wartezeiten und Sprachkurse überbrücken und wird dann im Studium deutlich zurückgestuft. Zudem sind die Rahmenbedingungen nicht förderlich. So lebt die Familie zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft auf engstem Raum und später über Monate in einem Wohnheim, wo Jurij sich kaum aufs Lernen konzentrieren kann, weil die Nachbarn sehr laut sind und es Ungeziefer gibt. Vor allem das erste Jahr im Studium empfindet er als „katastrophal schwierig“ (149). Wie Vadim erklärt er dies u.a. auch mit den Unterschieden der Bildungssysteme, wobei er das russische als wesentlich besser charakterisiert. Darüber hinaus macht Jurij wiederholt Erfahrungen von Benachteiligung; er würde z.B. gerne bereits während des Studiums mit seiner Doktorarbeit beginnen, habe es jedoch nicht leicht, einen Betreuer zu finden. Er vermutet, dass es „wegen meiner Herkunft“ (154) sei, so habe ein Professor zu ihm gesagt: „für Sie habe ich gar nichts“ (636). Seit er sein Studium während der Schulzeit begonnen hat sind nun bereits zehn Jahren vergangen. Dies belastet und demotiviert ihn. Angetrieben wird er hingegen durch das Bewusstsein, dass die Eltern nur migriert seien, um das

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„[e]igene[…] Kind ins besse- Welt zu bringen“ (838). Wie auch bei Vadims Eltern und im späteren Verlauf auch bei denen von Anton, bringt die Migration für Jurijs Eltern eine deutliche berufliche Entwertung mit sich. Seine Mutter, die im Herkunftsland über 100 MitarbeiterInnen beschäftigt hat, findet nach längerer Suche eine Anstellung als Verkäuferin, was einen Abstieg darstellt und zudem belastet es sie, dass sie über Jahre nur als Zeitarbeiterin beschäftigt ist. Noch dramatischer stellt sich die Situation des russischen Vaters dar. Dieser ‚verschwindet‘ im Interview und erst auf konkrete Nachfragen berichtet Jurij, dass er nur aus Solidarität zur Familie migriert sei, sich in Deutschland jedoch nicht wohlgefühlt habe und es „fraglich“ (848) gewesen sei, wo er leben wird. So habe er längere Zeit wieder in Russland gewohnt und gearbeitet. Wie bei Vadim ist es vor allem das russische Elternteil, das sich schwer damit tut, in Deutschland heimisch zu werden. Wohingegen Vadims Mutter zwar mit dem Gedanken der Rückkehr spielt, aber vom Vater aufgehalten wird, kehrt Jurijs Vater wirklich eine Zeit lang nach Russland zurück. Die Migration wird somit zur Gefahr für die ‚große Liebesgeschichte‘ der Eltern. Die Mutter überlegt schließlich, mit ihm zurückzukehren und Jurij und die Großeltern in Deutschland zu lassen. Als sie jedoch nach drei Jahren der Zeitarbeit fest eingestellt wird, sei der Vater (vorerst?) wieder nach Deutschland gezogen. Jurij lebt bis zum Interview mit seinen Eltern bzw. phasenweise nur mit seiner Mutter zusammen in einer Wohnung. Er erlebt den Kummer der Eltern sowie das zeitweise Zerbrechen der Familie aufgrund der Migration hautnah und trägt Sorge für seine Mutter und seinen Vater. Nach der Rückkehr des Vaters geht er z.B. mit ihm zum Amt und kümmert sich (als sei er der Vater) darum, dass dieser einen Sprachkurs machen kann. Den besucht der Vater – sechs Jahre nach der offiziellen Einreise – nun seit drei Monaten. Insgesamt kann, analog zu Vadim, von einem ambivalenten Generationenverhältnis gesprochen werden. Auf der einen Seite gewinnt Jurij durch die Migration an Macht in der Familie („Kopf der Familie“, 842f), auf der anderen Seite jedoch ist er den Eltern stärker ‚unterworfen‘ als zuvor (eigene Liebesbeziehung geopfert, lebt als ‚Partnerersatz‘ mit der Mutter, versorgt die Eltern, hat keinen konkreten eigenen Zukunftsentwurf). Wie bei Vadim wird im Interview unterschwellig deutlich, dass Jurij Zweifel daran hat, ob die Familie nicht auch im Herkunftsland gut hätten leben können. Als sie den Antrag gestellt haben, seien es die „schlimmsten Zeiten“ (833) in Kasachstan gewesen, doch innerhalb der siebenjährigen Wartezeit habe sich eigentlich alles gut entwickelt. Aber aufgrund des Leidens der Eltern kann Jurij – wie Vadim – die Migration nicht offen infrage stellen. Würde auch er überlegen, zurückzukehren, wären die gesamte Zwischenzeit, die Trennung der Eltern sowie die berufliche Degradierung der Mutter, umsonst gewesen. Ebenso wäre es, wenn er die Aspirationen der Eltern nicht erfüllen würde und so sagt er über das Studium: „ich muss es machen“ (901f), obgleich bei ihm, wie bei Vadim deutlich wird, dass

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das Verfolgen des Ziels mit großen Anstrengungen verbunden ist. Die Konstellation dieses Falles, die durch eine Regression in der adoleszenten Individuation infolge der Migration und das darauf enge Gebundensein an die Eltern geprägt ist, zeigt eine große Ähnlichkeit zur Struktur von Vadims Rekonstruktion. 6.4.2 Kurzportrait Sergej Sergej ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt und studiert Maschinenbau. Mit 19 Jahren ist er gemeinsam mit seinen Eltern und seinem etwas jüngeren Bruder von Kasachstan nach Deutschland migriert. Seine wesentlich ältere Schwester verbleibt mit ihrer Familie im Herkunftsland. In Kasachstan hat er bereits die vollständige Mittelschule abgeschlossen und darauf drei Semester in Russland studiert. Ende 2001 erfolgt die Ausreise. Unmittelbar davor heiratet er seine Freundin, die ihm kurze Zeit später nach Deutschland folgen kann. Sergej hat zunächst eine Lücke von zehn Monaten, in denen er freiwillig zwei Praktika absolviert. Darauf folgt ein sechsmonatiger Sprachkurs und nach einem Jahr im Zentralkolleg kann er im Wintersemester 2004 mit dem Maschinenbaustudium beginnen und verpflichtet sich für mehr als zehn Jahre als Soldat auf Zeit. Zwei Jahre vor dem Interview bekommen er und seine Frau ein Kind. Sergejs Lebensgeschichte weist hinsichtlich der objektiven Daten deutliche Parallelen zu den Verläufen bei Vadim und Jurij auf. Auch bei ihm ist die Mutter hinsichtlich der Bildungspläne die treibende Kraft. Sie hätte selbst gerne studiert, konnte es aufgrund ihrer familialen Umstände jedoch nicht und wünscht sich nun, dass ihre Kinder (in dem Fall alle drei), ein Studium abschließen. Um sie dabei zu unterstützen, hat sie mit Schulbeginn ihre Arbeit aufgegeben, was ungewöhnlich für die Zeit der Sowjetunion war. Sergej hat eine elf Jahre ältere Schwester, die bereits einen erfolgreichen Schulweg gegangen ist und für ihn ein „Vorbild“ (63) darstellt und ihm zudem aber auch den Wert der Bildung darlegt. Sergej ist sehr ehrgeizig und nimmt auch Extraaufgaben in Kauf, um überall beste Noten zu erhalten. In diesem Fleiß unterscheidet er sich von den anderen Interviewpartnern. Allerdings resultiert dieser nicht (nur) aus einer Übernahme der Bildungsaspirationen, denn er berichtet authentisch von seiner großen Leidenschaft für bestimmte Fächer. So erzählt er z.B., dass er „Chemie so geliebt habe“ (186) und auch außerhalb des Unterrichts zusammen mit seinem besten Freund experimentiert hätte. In der Folge nimmt er sehr erfolgreich an Wettbewerben teil: „das hat mich einfach, einfach beflügelt […] Weil einerseits bringt das Spaß [mh] und andererseits kann ich das“ (206ff). Wie Vadim fühlt auch Sergej sich im Herkunftsland beflügelt, in seinem Fall vor allem aufgrund seiner Bildungserfolge, doch auch er ist stark in einen Peerkontext eingebunden und gehört (trotz der guten Leistungen) zu den

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‚coolen und beliebten‘ Schülern. Gemeinsam mit seinem Freund erhält er den Schlüssel für einen speziellen Raum in der Schule, in dem sie regelmäßig Partyabende veranstalten. „Das war auch gut angekommen, so warn wir nich nur die besten Schüler, [lacht auf] sondern auch die besten Kumpels für alle /lacht auf/“ (217ff). Wie Vadim gibt auch er an, einen Sonderstatus bei den Lehrkräften zu genießen, die Direktorin bezeichnet er als seinen „Kumpel“ (377) und die Sekretärin habe ihn schon gekannt und stets vorgelassen. Zudem war er auch im sportlichen Bereich sehr erfolgreich. Sergej ist ein sehr guter Schüler, der aber nebenbei dennoch seinen eigenen Leidenschaften nachgeht, in einen Freundeskreis eingebunden ist und auch wechselnde Liebesbeziehungen führt. Mit den Eltern kommt es zu adoleszenten Auseinandersetzungen, etwa in Hinblick auf die gewährte Autonomie. Zum Ende der Schulzeit geht er mit der jungen Frau eine Beziehung ein, die er später heiraten wird. Wie Jurij berichtet auch er von Benachteiligungen von Russen im kasachischen Studiensystem. Daher geht er für das Studium ebenfalls nach Russland. Sergej verlässt seine Eltern, wird jedoch von seinem besten Freund begleitet und gemeinsam beginnen sie ein Chemiestudium, später folgt auch seine Freundin nach. An der Universität organisiert er gemeinsam mit seinem Freund erneut Partyabende und ist sozial gut integriert. Jedoch erlebt Sergej erstmals einen Einbruch seiner Leistungen. Er empfindet das Studium als „schwer“ (231), schreibt nun auch schlechtere Noten und muss sogar Prüfungen wiederholen, was sein Selbstbild belastet („Ja, es war schon son Erlebnis. [lacht auf] Hups, funktioniert auf einmal nicht“, 1794f). In dieser Situation erfährt Sergej, dass der Ausreiseantrag nach Deutschland bewilligt wurde, sodass die Migration zur Befreiung aus der belastenden Leistungssituation wird. Er beendet das Studium sofort und bereitet sich in der verbleibenden Zeit, z.B. mit einem Sprachkurs, auf die Ausreise vor. Auffällig im Fall von Sergej ist, dass es in dieser Familie (glaubhaft) die Kinder waren, die die Migration vorantrieben, da sie überzeugt waren, bessere Bildungschancen in Deutschland zu haben, die zudem mit weniger Aufwand und Kosten für die Eltern verbunden sein würden als in der Heimat. In der Folge nimmt Sergej – anders als die bisher vorgestellten Biographen – die Migration als autonom konstituiert wahr. Er fühlt eine „Art Euphorie“ (785) und freut sich – wie Anton – auf die Ausreise, was jedoch die Gefahr des Einbruchs birgt. Eine Woche vor der Aussiedlung heiratet Sergej seine Freundin, da sie zusammenbleiben wollen und damit die Hoffnung verbinden, dass es ihr die Einreise erleichtern würde. Wie bei Jurij, ist auch Sergejs Mutter gegen die Hochzeit, doch „wir haben das durch- durchgezogen und das hat viele Nerven gekostet, [mh] mir und meiner Mutter. /lacht/“ (1658f). In diesem Sinne stellt die Hochzeit einen weiteren Autonomieschlag, diesmal im Zuge der geplanten Migration, dar. Und im Gegensatz zur Partnerin von Jurij, begrüßt seine die Ausreise, da sie sehr gerne in

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Deutschland leben möchte. Im Fall von Sergej ist die Migration nicht mit einem biographischen Wendepunkt verbunden. Zwar stellt die Hochzeit einen solchen dar, doch wird diese mit Blick auf die Migration geschlossen. Das einschneidenste Erlebnis für ihn war der Wegzug seiner Schwester als er sich im letzten Schuljahr befand. Die Bedeutsamkeit der großen Schwester zieht sich durch das gesamte Interview. Ihr Umzug nach Russland sei „sehr schwer“ (779 und 781), „richtig schwer“ (782) für ihn gewesen. An keiner anderen Stelle im Interview spricht er von solch belastenden Gefühlen. Angesichts dieses Verlustes erscheint ihm der Abschied bei seiner eigenen Migration nicht mehr ‚schwer‘. Der Akt der Migration läuft als Flug sehr bequem ab. Am Flughafen werden sie von der Schwester der Mutter abgeholt und da es Schwierigkeiten mit der Aufnahme im Lager Friedland gibt, verbringen sie das Wochenende zunächst bei dieser und treffen dort viele Bekannte und Verwandte wieder, was allen viel Freude bereitet. Somit ist die Ankunftsszene in Deutschland – im Unterschied zu allen anderen Interviewpartnern – nicht durch die oftmals entwürdigenden Erlebnisse im Lager geprägt, sondern durch familiale Geborgenheit und Vertrautheit, was einen anderen emotionalen ‚Auftakt‘ darstellt und ein sanfteres Ankommen ermöglicht. Sergej beschreibt seine ersten Eindrücke in Deutschland und auch das Zusammentreffen mit Autochthonen sehr positiv, wobei die Rekonstruktion keine Hinweise darauf gibt, dass es sich dabei um Normalisierungen oder Bagatellisierungen handelt. Darauf klären sie die Formalitäten in Friedland, wobei sie von der Tante unterstützt werden, und verbringen dann als Familie zweieinhalb Monate in derselben Erstaufnahmeeinrichtung wie Jurij. Sergej benennt knapp die engen Verhältnisse dort, wichtiger ist für ihn jedoch, dass er – im Unterschied zu Jurij – dort schnell Freunde findet, „mit denen ich immer noch befreundet bin“ (827). Einer der Freunde hat ein Buch mit Geschäftsdeutsch, dass Sergej sich ausleiht und daraus lernt. Als er dann Wörter in einem Amtsbrief wiederentdeckt, freut und motiviert ihn das sehr. Trotz des begrenzten strukturellen Rahmens und ohne institutionelle Einbindung macht er bereits in den ersten Wochen Selbstwirksamkeitserfahrung. Nach zwei Monaten in einer anderen Notunterkunft, erhält er eine Wohnung, die er für sich und seine Frau herrichten kann, die sechs Monate nach ihm einreist. Anders als in den anderen Fällen kann Sergej seine Liebensbeziehung über die Migration erhalten, was eine emotionale Unterstützung für ihn darstellt. Kurz zuvor hat die gesamte Familie einen Deutschkurs an einer Sprachschule begonnen. Als bekannt wird, dass Sergej und sein Bruder ein Studium planen, müssen sie diesen jedoch wieder verlassen, weil der Kurs nicht für solche Teilnehmer gedacht sei. Sie erhalten keine Alternative, sondern sollen neun Monate auf einen Kurs bei der Otto Benecke Stiftung warten. In dieser Situation trifft Sergej im Büro der Sprachschule jedoch auf einen Mitarbeiter, der ihm ein Praktikum in der Schule anbietet, damit er seine Deutschkenntnisse verbessern kann. Als es von

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Amtsseite Probleme deswegen gibt, argumentiert der Mann: „Das is ein guter Junge, [mh] der soll bei und bisschen bleiben“ (722f). Sergej betont im Interview, dass es sich bei dem Mann um einen Lokalpolitiker gehandelt habe, „der stand einfach hinter den Aussiedler [mh] und hat sie immer verteidigt und so und hat mir sehr gut geholfen“ (1126f). Vermutlich trägt der politische Hintergrund dazu bei, dass er das Engagement als ‚offiziell‘ und willkommenheißend empfindet. Zu seinen Aufgaben während des Praktikums gehört es z.B., zwischen neuen KursteilnehmerInnen und MitarbeiterInnen zu dolmetschen oder handschriftliche Notizen des Mannes abzutippen, was er als sehr gute Übung empfindet. Er fühlt sich bestärkt und „motiviert“ (1865) dadurch, dass er anderen, die – wie er betont – überwiegend schon länger in Deutschland leben als er, helfen kann. Erneut macht er die Erfahrung, dass er trotz der noch nötigen (sprachlichen) Eingewöhnung kompetent ist. Als Sergej dies eine Weile gemacht hat, bewirbt er sich – erneut auf Rat des Mannes – um ein weiteres Praktikum an anderer Stelle, was klappt. In den folgenden drei Monaten lernt er z.B. etwas über Computer-Programme. Auf Anfrage gelingt es ihm, dass auch sein Bruder dort ein Praktikum machen kann. Durch die beengte Wohnsituation, die gleiche Lage und die gemeinsame Zeit im Praktikum wird die Beziehung zwischen den Brüdern enger. Emotional war Sergej zuvor stärker mit seiner älteren Schwester verbunden, nun nimmt der jüngere Bruder an Bedeutsamkeit zu und auch diese Beziehung ist sehr unterstützend für ihn. Durch die Praktika empfindet er die Wartezeit als „perfekt“ (752) und habe „viel mehr Deutsch gelernt, [mh] als in ein Sprachkurs“ (757f). In der Folge hat er – im Gegensatz etwa zu Vadim, den dieses Thema bis zur Interviewsituation beschäftigt – kaum noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und schreibt im Kurs bei der Otto Benecke Stiftung ausschließlich sehr gute Noten. Sergej trifft sogleich am Anfang auf zwei bedeutsame Andere, die ihm vertrauen, ihn unterstützen und ihm das Gefühl geben, willkommen zu sein und gebraucht zu werden. Auch darin unterscheidet sich seine Biographie signifikant von den bislang vorgestellten. Sergej nutzt die Chancen, die sich ihm bieten und macht in der Folge Selbstwirksamkeitserfahrungen. Im Anschluss an den Sprachkurs muss Sergej für ein Jahr das Zentralkolleg des Studienkollegs besuchen, ehe er mit dem Studium beginnen kann. Wie die anderen erfährt er demnach eine deutliche Rückstufung: der Student wird wieder zum Schüler. Doch unterscheidet sich seine Wahrnehmung dieser Zeit, denn er empfindet das Jahr nicht als verloren, sondern deutet es als hilfreich, um es später einfacher im Studium zu haben. Als Wahlfach nimmt er z.B. bewusst ein Fach, das ihm nicht liegt, um sein Wissen zu verbessern, anstatt es sich einfacher zu machen. Sergej nutzt alte Strategien und erledigt Extraaufgaben, um zu „punkten“

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(443). Zu den MitschülerInnen knüpft er Freundschaften und die Lehrkräfte empfindet er als zugewandt, z.T. verbringen diese auch ihre Freizeit mit den SchülerInnen, was er als wertschätzend wahrnimmt. Wohingegen ihn die schlechten Noten im Studium in Russland verletzt haben, genießt er es, dass die Leistungen im Maschinenbau-Grundstudium an seiner Universität keine Benotung erfahren. „Ich war immer Perfektionist irgendwie, [mh] ich wollte immer irgendwas viel besser machen als die anderen. Aber dadurch, dass es hier äh keine Noten gibt, musst ich mich nich so viel anstrengen“ (967ff). Er empfindet es als entlastend und ist stolz, dass er in Deutschland – anders als in Russland – noch keine Prüfung wiederholen musste. Zudem ist er nicht wesentlich älter als die Mehrzahl seiner KommilitonInnen, wie es etwa bei Anton der Fall ist, da mit dem Studienfach viele z.B. aufgrund von Wartezeiten wegen des hohen NCs nicht direkt nach dem Abitur beginnen. Schnell findet Sergej Anschluss an mehrere russischsprachige junge Frauen und bildet eine Lerngruppe mit ihnen. Die gleiche Sprache und ähnliche Erfahrungen geben Halt und Unterstützung in der Studienanfangszeit. Mit der Zeit verliert dies jedoch an Bedeutung, sodass er heute Teil einer bunt gemischten Lerngruppe sei. Als Sergej erfährt, dass man über die Bundeswehr studieren könne, womit eine berufliche Sicherheit über Jahre sowie ein Einkommen schon während des Studiums verbunden sind, bewirbt er sich dort. Seine Mutter findet die Idee nicht gut, da sie sich Sorgen über mögliche Einsätze macht und nicht möchte, dass er später beruflich umziehen muss. Sergej verfolgt seinen Plan jedoch auch gegen den Wunsch der Mutter. Dabei setzt er sich differenziert mit ihren Motiven auseinander, entmachtet diese aber für sich. Das Verhältnis zu den Eltern beschreibt er insgesamt als innig. Es kommt durchaus auch mal zu Meinungsverschiedenheiten, doch die Beziehung hält es aus, dass diese ausgetragen werden. In die Entscheidung für die Bundeswehr hat hineingespielt, dass der Mann seiner älteren Schwester Offizier in der russischen Armee gewesen ist und – anstatt des Vaters – als eine Art Rollenvorbild in Bezug auf Beruf und Männlichkeit gewirkt hat. Die Eltern sind in Deutschland bereits beide in Rente. Der Mutter geht es gesundheitlich nicht so gut und der Vater hat Schwierigkeiten, die Sprache zu lernen. Allerdings befand sich der Vater, z.B. aufgrund seines niedrigen Schulabschlusses schon im Herkunftsland im Vergleich zu seiner Frau in einer schwächeren Position. Sergej kann die Benachteiligung seines Vaters benennen und sich damit auseinandersetzen, ohne ihn dabei abzuwerten oder die Generationendifferenz aufzuweichen. Zwar übernimmt auch er, wie Vadim oder Jurij, Verwaltungsaufgaben für seine Eltern, doch gerät dabei das Generationengefüge nicht ins Wanken. Eine bedeutsame Rolle in der Familie erhält der Vater schließlich als Betreuer seiner Enkelin, damit Sergej und seine Frau studieren können. Dass seine Eltern generative Aufgaben für die kommende Generation übernehmen, gibt Sergej den

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emotionalen Freiraum, seine Individuation voranzutreiben. Obwohl er die Migration (mit)forciert hat, fühlt er sich nicht schuldig an den z.T. negativen Empfindungen der Eltern infolge der Ausreise. Dies rührt vor allem daher, dass er mit der Ausreise zentral ein Ziel verfolgt, das seine Eltern teilen: bildungserfolgeich sein. Dabei entspricht er mit seinem Studium zwar den hohen Bildungsaspirationen der Eltern, doch tut er dies nicht ‚im Auftrag von‘, sondern konnte den Weg „zur eigenen Sache“ (Zölch et al. 2009, 75) machen. Individuation bedeutet, King zufolge „nicht zwangsläufig, etwas oder gar alles anders zu machen, es bedeutet vielmehr, den eigenen Lebensentwurf in einer Logik produktiven Eigensinns zu gestalten – anstatt vorwiegend defensiv eigene Potenziale unausgeschöpft zu lassen“ (King 2017, 16f). Im Fall von Sergej wird die Migration nicht zu dem biographisch bestimmenden Ereignis, wie es bei Vadim oder Jurij der Fall ist. Das einschneidenste Erlebnis für ihn war der Verlust der großen Schwester durch ihren Umzug, der bereits im Herkunftsland stattfand. Es gelingt Sergej, seine Handlungsressourcen auch nach der Migration zu erhalten (wie seine Lernmotivation, selbstverantwortliches Lernen, Zielstrebigkeit) (vgl. Metz 2016, 225) und er wird zudem durch bedeutsame Andere sowie eine Beziehung zu den Eltern, die von Bindung und Autonomie geprägt ist, gestützt. In der Folge führt die Migration in seinem Fall nicht zu einem Rückschritt im adoleszenten Entwicklungsprozess, wodurch er maximal zu Vadim kontrastiert. 6.4.3 Kurzportrait Fjodor Fjodor ist zum Zeitpunkt des Interviews 24 Jahre alt und studiert Innenarchitektur. Mit 17 Jahren ist er gemeinsam mit seinen Eltern, seiner um zwei Jahre älteren Schwester und seinem Großvater väterlicherseits von Kasachstan nach Deutschland migriert. Die letzten zwei Schuljahre hat er auf einem kostenpflichtigen Lyzeum absolviert, das einen Informatikschwerpunkt hatte. Dafür hat er bei Verwandten in einer größeren Stadt in Kasachstan gelebt. Nach dem Schulabschluss im Jahr 2000 erfolgt die Ausreise. Mit der ganzen Familie besucht er sechs Monate lang einen Sprachkurs. Darauf zieht er mit seiner Schwester in eine Großstadt, lebt dort in einem Studentenwohnheim und macht einen Sprachkurs bei der Otto Benecke Stiftung. Im Anschluss besucht er für zwei Jahre das Studienkolleg und absolviert darauf eine zweijährige Ausbildung zum Kaufmann. Er muss ein Semester warten, ehe er dann 2006/07 schließlich sein Studium beginnen kann. Ähnlich wie Vadim oder Semjon beschreibt Fjodor die Beziehungen zwischen ihm und seinen Eltern sowie seiner Schwester im Herkunftsland als nicht besonders innig. Der Vater habe seine freie Zeit vor dem Fernseher verbracht und

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die Mutter habe im Haushalt viel zu tun gehabt, sodass sie außer bei einer Mahlzeit am Tag kaum Zeit miteinander verbachten. Die Eltern müssen viel arbeiten und die finanziellen Sorgen, vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, belasten sie sehr. Dies stellt das Motiv des Ausreisewunsches dar, obgleich in seiner Familie auch – stärker als in den anderen Fällen – der deutsche Hintergrund bewusst gehalten wird. Als einziger spricht er davon, dass sie im Herkunftsland zu den „Russlanddeutschen“ (697) gehört hätten. Wie auch andere, wählt er in der Schule Deutsch als Fremdsprache, begründet dies aber explizit damit, dass er eine Verbindung zu seiner, Herkunft gesucht habe und dies auch von der Familie „erwartet“ (59) wurde. Zu innerfamilialen Konflikten kommt es, als sie sechs Jahre vor der Ausreise von der Stadt in das kleine Haus des Großvaters väterlicherseits in ein Dorf ziehen. Dieser Umzug zum ‚deutschen Opa‘ steht in Zusammenhang mit dem Einreichen das Ausreiseantrags, allerdings hat die Familie nicht gedacht, dass bis zur Migration noch so viele Jahre vergehen würden. Die Stimmung, vor allem zwischen der Mutter und dem Schwiegervater, „kocht“ (399) und mehrfach ist die Situation „eskaliert“ (407). Ob dies auch mit den unterschiedlichen Zugehörigkeiten zusammenhängt, konnte die Rekonstruktion nicht sicher herausarbeiten, in jedem Fall wird der Großvater als Patriarch beschrieben, der der Mutter wenig Raum lässt. Zudem erleben sie infolge der Souveränitätserklärung Kasachstans „Unan(.)nehmlichkeiten“ (337) und „gewisse […] Zwischenstöße“ (502). Die Diskriminierung richtet sich nicht speziell gegen Deutsche, sondern gegen all diejenigen, die nicht Kasachen sind. Das Gefühl von Benachteiligung erleben alle in Kasachstan aufgewachsenen Interviewpartner, das Ausmaß ist bei Fjodor jedoch besonders hoch. Die Eltern haben beide die Mittelschule abgeschlossen, aber im Anschluss nicht studiert, sondern Ausbildungen absolviert. Vor allem die Mutter habe dies „bereut“ (773) und die Eltern wollen daher, dass Fjodor „ein besseres Leben habe, als sie es gehabt haben“ (772). Es erfolgt, wie auch bei Sergej, eine Delegation des Bildungserfolgs an den Sohn. Nach der neunten Klasse wechselt Fjodor auf ein Lyzeum (gehobene Mittelschule), das einen Schwerpunkt für Informatik hat. Dieses kostet „relativ viel Geld, also [mh] für die Verhältnisse“ (32). Da die Eltern nicht so viel Geld zur Verfügung haben, investieren sie nur in seinen Bildungsweg und nicht in den seiner Schwester; „wahrscheinlich is das ja auch etwas ältere Denkweise, dass man ja den Jungen vorziehen muss, [mh] was die Bildung [mh] und Berufschancen angeht“ (743f). Dies zeugt von einem patriarchalen Weltbild, zu dem auch passt, dass die Mutter keine Freizeit hat, sondern sich neben der Erwerbsarbeit alleine um den Haushalt kümmern muss. Die Beziehung zwischen den Geschwistern wird (auf die Ungleichbehandlung folgend) für das Herkunftsland als nicht eng beschrieben. Da das Lyzeum in der Stadt liegt, wohnt Fjodor unter

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der Woche bei Verwandten und kommt nur am Wochenende nachhause. Das Leben bei den Verwandten stellt eine Zweckgemeinschaft dar, von schönen gemeinsamen Erlebnissen wird nicht berichtet. Bereits mit 14 Jahren erfolgt somit eine zeitweise Trennung von den Eltern, wobei diese ihm Freiheiten lassen und ihm vertrauen, da er gute Leistungen bringt. Fjodor nutzt die Zeit allerdings nicht für adoleszentes Austesten, was vor allem darin begründet sein mag, dass er nicht in Freundschaftsbeziehungen eingebunden ist. Vielmehr gibt es Konflikte mit den MitschülerInnen und er wünscht sich, dass die anderen ihn einfach „in Ruhe“ (361) lassen. Er beschreibt sich als „unabhängiger Typ“ (780), man könnte aber auch davon sprechen, dass er ein ‚einsamer Typ‘ ist. In dieser Beziehungslosigkeit erinnert er an Anton. Kurz nach dem Schulabschluss reist die Familie aus, sodass auch seine Migration – wie bei Vadim – mit dem Wendepunkt des Statuswechsels vom Schüler zum Studenten einhergegangen wäre, wenn er dort verblieben wäre. Allerdings macht die Rekonstruktion deutlich, dass dieser Punkt für Fjodor weniger bedeutsam ist. Der Schulabschluss wird als ein Schritt auf dem Weg zum Erfolg betrachtet und da er nicht sozial eingebunden ist, fühlt er sich nicht wie Vadim auf einer Art Höhepunkt seines Lebens. Dies macht deutlich, dass nicht das Vorliegen eines Wendepunkts allein relevant ist, sondern dieser stets im biographischen Kontext betrachtet werden muss. Die Wartezeit von sechs Jahren erlebt die Familie als sehr belastend, weil sie nie weiß, ob sich eine bestimmte Investition (wie der Ausbau des Hauses des Großvaters) noch lohnt. Zwischendurch zweifeln sie mehrfach, ob sie überhaupt ausreisen sollen, wobei stets die ganze Familie, auch Fjodor, in die Überlegungen einbezogen wird, sodass er wie Sergej die Migration nicht als fremdbestimmt erlebt. Motivierend sind die positiven Berichte von Verwandten. Trotz der erwähnten Herkunftsbezüge nennt Fjodor als Grund für die Ausreise wirtschaftliche Gründe („die Möglichkeiten [...], alles zu haben, was man so sich immer vielleicht schon gewünscht hatte“, 549f). Wie auch Vadim oder Semjon, erlebt er die Anfangszeit als große Herausforderung. Zum einen aufgrund der „totale[n] Umstellung“ (38) („weil alles unbekannt, man wusste nicht, wo was is, wie man was regelt, ja, und natürlich die Sprache, das war ein großer, eine große Barriere“, 43ff) und zum anderen, da „die Vorstellung ganz weit abweicht [mh] von dem, was ja in Realität hier alle erwartet“ (39f). Hilfreich ist jedoch, dass sein Onkel, der schon länger in Deutschland lebt, sie unterstützt. Fjodor, seine Eltern und seine Schwester besuchen über sechs Monate gemeinsam einen Sprachkurs. Dieser gemeinsame Besuch verbindet sie miteinander; sie frühstücken zunächst zusammen und fahren dann zum Kurs. Übergreifend spricht Fjodor davon, dass die Situation der Fremdheit zu „mehr Zusammenhalt“

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Biographische Fallrekonstruktionen

(613) in der Familie geführt habe und sie mehr Zeit miteinander verbringen würden als zuvor. Einen entscheidenden Beitrag leistet wohl auch, dass der Großvater im Zuge der Migration eine eigene Wohnung erhält und sich dadurch die innerfamilialen Spannungen auflösen. Dies zeigt sich auch auf Textebene, denn wohingegen der Großvater für die Erzählungen zu Kasachstan sehr präsent ist, findet er für die Zeit in Deutschland keinerlei Erwähnung mehr. Erst auf Nachfrage erfahre ich von der räumlichen Trennung und davon, dass er inzwischen verstorben ist. Durch die Migration findet eine ‚Loslösung von dem Alten‘ statt und entsteht für die gesamte Familie Raum für Neues. Der Sohn absolviert den Sprachkurs als bester Teilnehmer. Somit ist er auch besser als seine Eltern. Die Rekonstruktion spricht jedoch nicht für eine Verwischung der intergenerationalen Grenzen. Es ist allen bewusst, dass jüngere Menschen schneller lernen und Fjodor kann sich ohne schlechtes Gewissen über seinen Erfolg freuen. Von der Mitarbeiterin eines Heimatvereins erhalten er und seine Schwester die Empfehlung, anschließend einen Sprachkurs bei der Otto Benecke Stiftung zu absolvieren. Zudem hilft sie den beiden noch mit weiteren hilfreichen Informationen. Die Lehrerin aus dem Sprachkurs unterstützt die beiden bei den Formalitäten. Da der Kurs nur in einer ca. zwei Stunden entfernten Großstadt angeboten wird, ziehen die Geschwister dorthin. Zur Geschwisterbeziehung lässt sich insgesamt sagen, dass diese sich in Deutschland wesentlich verbessert. Aufgrund der staatlichen Unterstützungsmöglichkeiten können hier beide Kinder gleichermaßen am Bildungsangebot teilnehmen, sodass die zuvor bestehende Ungleichheit wegfällt. Beide sind nur ein Jahr und wenige Monate auseinander und können sich durch die gleiche Situation jeweils gut in den anderen hineinfühlen und sich emotional stützen. Fjodor erhält ein Zimmer in einem Studentenwohnheim und empfindet den Umzug nach der großen Migration nicht mehr als so bedeutsam. Im Kurs lernt er Freunde kennen, „die ja fürs weitere Leben auch Freunde geblieben sind“ (104). Zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben hat er enge Freundschaftsbeziehungen. Erst in der Fremde wird er Teil einer Gemeinschaft. Fjodor entschließt sich, nach dem Sprachkurs in der Stadt zu bleiben, weil er das Leben in der Großstadt sehr schätzt und er sich ein solches schon immer gewünscht habe (gerade im Vergleich zur Abgeschiedenheit des Dorfes in Kasachstan). Die Eltern sind „etwas traurig“ (599) über seinen Umzug in die Großstadt, doch da sie wissen, dass er dort ist, um sich um seine Ausbildung zu kümmern, lassen sie ihn gewähren. Er hat das Glück, gemeinsam mit seinen drei sehr guten Freunden aus dem Kurs, die ebenfalls Spätaussiedler sind, an das Studienkolleg wechseln zu können. So empfindet er die Zeit dort, wie Sergej, als „sehr lustige, sehr interessante Zeit“ (126). Durch die Unterstützung eines Mitarbeiters des Arbeitsamtes erhält er nach dem Abschluss einen Ausbildungsplatz im EDV-Bereich. Er möchte inhaltlich an

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den Weg vor der Ausreise anknüpfen. Auf der einen Seite empfindet er die Ausbildung als Herausforderung, da er nun ausschließlich in Kontakt zu deutschsprachigen Personen steht. Auf der anderen Seite hat er daneben aber auch genügend Zeit, das Angebot an Kunst und Kultur der Großstadt zu erkunden, was ihn sehr fasziniert. Während der Ausbildung besucht er – zumeist mit einem der drei Freunde, Museen und Ausstellungen. Sie gehen überall hin, „wo wir was Neues entdeckt haben“ (717f) und er habe sich in der Folge „sehr (2) verändert“ (213). Seine adoleszenten Auseinandersetzungen zeigen sich nicht laut und ungestüm. Vielmehr setzt sich Fjodor innerlich mit der Frage auseinander, was ihn wirklich interessiert und wie er leben möchte. Durch den kulturellen Möglichkeitsraum der Großstadt, die durch die Eltern gewährte Freiheit und die Anregung seines Freundes, findet er sein Eigenes. In diesem Sinne versteht er die Ausbildung als „Auszeit“ (208); er muss zwar viel lernen, doch hat daneben auch Raum dafür, sich bewusst zu werden, was er möchte. Dies gibt seiner „Entscheidung, was das Studium angeht, ja, eine re-, ra-, radikale Wende“ (693f). Ohne diese Phase, so mutmaßt er, hätte er nach der Ausbildung Informatik studiert, was sich logisch an das besuchte Lyzeum angeschlossen hätte. Nun wählt er hingegen den Studiengang Innenarchitektur – erhält jedoch eine Absage, was ihn sehr deprimiert. Fjodor hat Sorge, seinen Traum niemals verwirklichen zu können. In dieser Situation wendet er sich an die Bundestagsabgeordnete seines Bezirks und spricht mit ihr über sein Problem. Diese rät ihm, sich einzuklagen und unterstützt ihn dabei, was zum Erfolg führt. Es ist auffällig, dass Fjodor, wie auch Sergej, auf seinem Weg immer wieder auf bedeutsame Andere („richtige und wichtige Leute [mh] zu, zu dem Zeitpunkt“, 882) gestoßen ist, die ihn „mit Rat und Tat“ (883) unterstützt haben. Fjodor stellt es wiederholt so dar, dass er Glück gehabt habe oder es Schicksal gewesen sei. Dabei zeigt die Analyse deutlich, dass die ‚glücklichen Zufälle‘ von ihm initiiert werden, indem er aktiv auf Personen zugeht, die ihm potentiell behilflich sein können und sich dafür auch in der Verantwortung sieht. Die Zeit bis zum Beginn des Studiums verbringt er mit einem Praktikum in einem Antiquitätengeschäft, wohlwissend, dass er dieses ohnehin für das Studium braucht. Während der ersten beiden Semester bleibt er als Volontär nebenbei in dem Handel. Obgleich dies parallel zum Studium herausfordernd ist, bewertet er es als sehr positiv, weil es seiner Leidenschaft entspricht. Mit seinem Studium erfüllt Fjodor zwar den elterlichen Auftrag des Bildungserfolgs, doch mit dem Fach Innenarchitektur geht es für ihn um sein eigenstes Interesse, sodass er, wie Sergej, seinen Bildungsweg „zur eigenen Sache gemacht“ (Zölch et al. 2009, 75) hat. Die Eltern selbst konnten nicht an ihren Weg vor der Migration anknüpfen. In Kasachstan waren sie trotz der Krisen durchgängig beschäftigt, in Deutschland dauert es etwas, ehe die Mutter wieder eine Anstellung erhält und der Vater findet

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aufgrund seiner bereits zuvor bestehenden Teilinvalidität keine Arbeit, die über einen Minijob hinausgeht. Fjodor begründet die Arbeitslosigkeit des Vaters mit der körperlichen Behinderung, dennoch erklärt er, dass er mehrere Familien kenne, in denen nach der Migration die Frauen das Geld verdienen. Seine adoleszenten Auseinandersetzungen führen dazu, dass die starren Rollenbilder, mit denen er aufgewachsen ist, für ihn bedeutungslos werden. So wechselt er vom männlich dominierten Fach Informatik zur Innenarchitektur, in der weniger als 1/5 der Studierenden männlich sind und empfindet es nicht als schlimm, dass die Mutter infolge der Migration in eine machtvollere Position gerät. Die Mutter wird auch dadurch gestärkt, dass sie nicht mehr mit dem als patriarchalisch beschriebenem Schwiegervater in einem Haus leben muss und nun mehr Freiheiten hat. Zudem sind beide Elternteile froh, von den in Kasachstan bestehenden finanziellen Sorgen befreit zu sein und die Zukunft der Kinder gesichert zu wissen. In der Folge vermitteln sie Fjodor nicht das Gefühl, dass er die Sorge für sie übernehmen müsse; die Generationendifferenz bleibt bestehen. Ihr Verhältnis beschreibt Fjodor als „mittlerweile […] besser als je“ (604). Darüber hinaus zieht er Vergleiche zwischen dem Leben in Kasachstan und Deutschland, ohne eine Idealisierungen in eine Richtung vorzunehmen. Vielmehr betrachtet er beide Seiten kritisch, z.B. in Hinblick auf die Lebensarten und Familienbilder. Auch das ‚Thema Integration‘ beschäftigt ihn, ohne dass er sich klar einordnen könnte. Für ihn zählt es, von den Menschen in seinem direkten Umfeld angenommen zu werden und spielt die Stadt, in der er in Deutschland lebt und die ihn durch ihr kulturelles Angebot sehr bereichert, eine besondere Rolle für seine Verortung. Obgleich die Rahmen der Lebensgeschichten von Sergej und Fjodor sehr unterschiedlich sind, bestehen Analogien in der Struktur der Auswirkungen der Migration in der Adoleszenz.

7 Theoretische Verallgemeinerung: Konstellationen und zentrale Ergebnisse

Ziel der Fallrekonstruktionen war es, die jeweiligen Lebensgeschichten in ihrer Gesamtgestalt zu erfassen. In diesem Kapitel wird nun der exklusive Fokus auf je eine Biographie verlassen und erfolgt stattdessen eine fallübergreifende Betrachtung unter explizitem Einbezug des Forschungsthemas. Die übergeordnete erkenntisleitende Frage ist dabei die der Arbeit zugrundeliegende Forschungsfrage nach dem Einfluss des Zusammentreffens der Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration auf den adoleszenten Entwicklungsprozess von männlichen Spätaussiedlern.63 Unter 7.1 werden im Sinne der Verallgemeinerung drei Konstellationen zum Verhältnis von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen vorgestellt, die basierend auf den Rekonstruktionen aller Interviews entwickelt wurden. Im Anschluss findet eine ausführliche Theoretisierende Betrachtung der zentralen Ergebnisse statt (7.2). In dieser werden fallübergreifend und mit Blick auf die theoretischen Ausführungen des ersten Teils der Arbeit die zentralen Ergebnisse der eigenen Forschung aufgefächert. 7.1 Konstellationen zum Verhältnis von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen Sowohl die ausführlichen als auch die fallrekonstruktiven Kurzportraits haben die hohe Bedeutung der familialen Beziehungen im Kontext adoleszenter Migration aufgezeigt. Anhand der Kontrastierung der Fälle konnte gezeigt werden, dass diese ganz entscheidend zu den Differenzen in den adoleszenten Entwicklungen beitra-

63 In einem ersten Schritt wurden die Fälle in der Dissertation dafür anhand von sieben Vergleichsdimensionen konstrastiert, die ausgehend von den theoretischen Erkenntnissen, den in der Zusammenfassung angeführten Unterfragen und den sich in den Interviews zeigenden relevanten Themen entwickelt wurden. Diese waren: Möglichkeitsraum vor der Migration, Art des Erlebens der Migration und der migrationsspezifischen Herausforderungen, Generative Haltung der Eltern nach der Migration, Adoleszente Entwicklungen in Deutschland, Soziale Beziehungen (Bedeutsame Andere), Zugehörigkeitskonstruktionen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie Männlichkeit. Für die Veröffentlichung wurde aufgrund von Redundanzen auf diesen Teil verzichtet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_8

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Theoretische Verallgemeinerung

gen. Daher sollen im Folgenden drei Konstellationen zum Verhältnis von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen vorgestellt werden. Diese sind jeweils ausgehend von zwei bis vier Fällen des Gesamtsamples entwickelt worden, weisen aber auch über diese hinaus, indem sie das Allgemeine im Besonderen hervorheben (vgl. Wohlrab-Sahr 1004, 270ff). So ist Vadim zwar beispielhaft für die erste Konstellation, doch ausgehend von den Kontrastierungen und Abstraktionen, können dieser Konstellation potentiell viele junge männliche Spätaussiedler zugeordnet werden, die im Rahmen familialer Migration während der Adoleszenz nach Deutschland migriert sind. Der Begriff ‚Konstellation‘ stammt ursprünglich aus der Astronomie bzw. Astrologie und meint die „Stellung der Planeten und des Mondes zur Sonne und zueinander“ (Duden online 2017). In ‚Dichtung und Wahrheit‘ beginnt Goethe die Erzählung wie folgt: „Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich“ (Goethe 1993, 9; Herv. JZ). Im Folgenden beschreibt er, der obigen Definition gemäß, die Konstellation der Sonne, des Mondes und der Planeten. In der weiteren Darstellung wird jedoch deutlich, dass es nicht nur um die astronomische Konstellation geht, sondern auch die soziale Konstellation Relevanz besitzt (vgl. Gostmann 2016, 11). Der Begriff ‚Konstellation‘ wird im Folgenden daher im Sinne einer Gesamtlage verwendet, „wie sie sich aus dem Zusammentreffen besonderer Umstände“ (Duden online 2017) und deren Verhältnis ergibt. Dabei wird betrachtet, wie die unterschiedlichen Aspekte in Beziehung zueinander stehen und wie sie sich auf die adoleszente Individuation der jungen Männer auswirken.64 Diese Aspekte sind die familialen Beziehungen bzw. die generative Haltung der Eltern, die adoleszenten Entwicklungen, die migrationsspezifischen Herausforderungen sowie das (Nicht-)Vorhandensein bedeutsamer Anderer. Um für die einzelnen Konstellationen das Geflecht der Aspekte von Abhängigkeit und Verwobenheit miteinander deutlich zum Ausdruck zu bringen, tragen die drei Konstellationen jeweils längere Titel (siehe Abb. 4). Dadurch wird auch die Gefahr der Verkürzung und Bedeutungsreduktion minimiert, die auftreten kann, wenn das Wesentliche in einen Begriff gebannt wird.

64 Vgl. zur Verwendung des Konstellationenbegriffs für verallgemeinernde Darstellungen z.B. auch King (2005a).

Konstellationen

Abbildung 4:

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Übersicht der Konstellationen (eigene Darstellung)

1) Konstellation: Die Bindungssuche der Eltern infolge der Migration führt zusammen mit weiteren migrationsspezifischen Herausforderungen zu einer Regression in der adoleszenten Individuation Die jungen Männer der ersten Konstellation migrieren nach dem Mittelschulabschluss oder während des Studiums zusammen mit ihren Familien nach Deutschland. Ihr Möglichkeitsraum vor der Migration ist groß. Im Zuge ihres Älterwerdens lassen die Eltern ihnen mehr Freiraum und z.T. ist dieser durch ein Verlassen der Heimatstadt für das Studium zudem noch äußerlich vergrößert. Hinzukommen bestehende Freundschaftsbeziehungen, in denen adoleszentes Probehandeln betrieben werden kann und Anerkennung erfahren wird sowie eine feste Partnerschaft. Die jungen Männer erleben keine Diskriminierung aufgrund der deutschen Zugehörigkeit eines Elternteils. Die in Kasachstan lebenden Interviewpartner machen jedoch ab der Souveränitätserklärung des Landes Erfahrungen von Benachteiligung aufgrund der russischen Zugehörigkeit des anderen Elternteils, etwa in Bezug auf Studienmöglichkeiten. Die Bildungsaspirationen der Eltern sind hoch und die jungen Männer legen auch selbst Wert darauf, den Mittelschulabschluss zu erreichen und ein Studium zu absolvieren, ohne jedoch auffällig strebsam zu sein. Die Ausreise erfolgt nach einer Wartezeit von vielen Jahren an einem Punkt, an dem sie sozial stark integriert sind und sich die finanzielle Lage der Eltern ver-

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Theoretische Verallgemeinerung

bessert hat. Überwiegend haben sich die Eltern inzwischen erfolgreich als Selbstständige etabliert, wofür sie Mut, Flexibilität und Einsatz bewiesen haben. Die Migration erfolgt aus dem Motiv heraus, den Kindern eine (ökonomisch) sicherere Zukunft zu ermöglichen. Charakteristisch für diese Konstellation ist, dass die Migration von den jungen Männern als starker Bruch erlebt wird, der ihre Lebensgeschichte in ein ‚Davor‘ und ein ‚Danach‘ teilt. Dies kann noch dadurch verstärkt werden, dass die Ausreise mit einem biographischen Wendepunkt, wie dem Wechsel vom Status des Schülers zum Studenten, zusammenfällt. Die engen Freundschaftsbeziehungen werden zwangsläufig abgebrochen und die Liebesbeziehungen scheitern unmittelbar vor oder kurz nach der Migration. In Deutschland machen die jungen Männer die Erfahrung begrenzter Handlungsressourcen. Dabei wird die migrationsspezifische Herausforderung der neuen Sprache als besonders schwerwiegend und belastend empfunden. Zumeist werden noch in der Interviewsituation, viele Jahre nach der Einreise, die anhaltenden Sprachschwierigkeiten betont. Dies wird auch, neben den als sehr verschieden wahrgenommenen Denk- und Verhaltensmustern zwischen Deutschland und dem Herkunftsland, als Hindernis dafür wahrgenommen, Freundschaften zu Autochthonen aufzubauen. Viele Dinge in Deutschland, vom Klima bis zu den Lehrmethoden, werden als fremd empfunden. In Bezug auf den Bildungsweg erfolgt eine Rückstufung, die eine Kränkung darstellt und dazu führt, dass sich der Weg bis zum Abschluss im Vergleich zum Herkunftsland um Jahre nach hinten verschiebt. Die jungen Männer dieser Konstellation erfahren stereotype Zuschreibungen und Benachteiligungen aufgrund ihres Migrationshintergrundes. Auf Unterstützung durch bedeutsame Andere können sie nicht zurückgreifen. Neue Freundschafts- und Liebesbeziehungen können sie, wenn überhaupt, nur zu russischsprachigen Personen aufbauen. Diese stellen einen emotionalen Halt dar, zugleich wünschen sich die jungen Männer aber auch autochthone FreundInnen, vor allem, um besser in Deutschland ‚anzukommen‘. Die Zugehörigkeit zu russischen Lebenswelten ist nicht als gewollte Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft zu verstehen, sondern als zwangsläufige Folge fehlender anderer Bezüge und Zuflucht angesichts eines beschädigten Selbstbildes aufgrund beschränkter Handlungsmöglichkeiten. Insgesamt zeigt sich der Möglichkeitsraum in Deutschland im Verhältnis zum Herkunftsland als begrenzt. Für die Konstellation ist typisch, dass die Eltern in Deutschland eine berufliche Entwertung erfahren und es ihnen selbst schwerfällt, sich einzuleben. Besonders betrifft dies jeweils das russischstämmige Elternteil, das sogar eine Remigration erwägt oder phasenweise durchführt. Die generative Haltung der Eltern ist dadurch geprägt, dass mindestens ein Elternteil aufgrund der im Zuge der Migra-

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tion erlebten Verluste die Beziehung speziell zu einem Sohn intensiviert, entweder, weil er das einzige Kind ist oder aufgrund der Geschwisterkonstellation ‚ausgewählt‘ wird. Durch die emotionale Bedürftigkeit mindestens eines Elternteils geraten die Heranwachsenden in die Situation, für den im Einwanderungsland leidenden Elternteil (emotional) Sorge tragen zu müssen, was eine Verkehrung der Generationendifferenz darstellt. Potentiell an Macht gewinnen sie in der Familie auch dadurch, dass sie z.B. aufgrund ihrer höheren Sprachkompetenz, Verwaltungsaufgaben übernehmen. Gleichzeitig fordern die Eltern die Generationendifferenz jedoch ein, indem sie die Zeit- und Spielräume für adoleszente Auseinandersetzungen stärker beschränken als vor der Migration und nicht zulassen wollen, dass der Sohn sich weiterentwickelt und die Beziehung eine andere Form annimmt. Die Generationendifferenz wird somit zum einen eingefordert und zum anderen verkehrt, wodurch von einer paradoxen Situation für diesen Sohn gesprochen werden kann. Die jungen Männer in dieser Konstellation zeigen starke Bemühungen, ein Studium erfolgreich abzuschließen, um damit den Aspirationen der Eltern gerecht zu werden und der Migration rückwirkend einen Sinn zu geben. In den Interviews werden der dafür nötige hohe Einsatz und die zeitweise vorliegende Verzweiflung und Resignation auf dem Weg deutlich. Zudem haben sie den Wunsch, an ihre eigenen früheren Erfolge anzuknüpfen, um den schmerzvollen Begrenzungserfahrungen ihrer Kompetenzen entgegenzuwirken. Die Herausforderung der Adoleszenz, sich mit den eigenen Stärken und Schwächen realistisch auseinanderzusetzen und sich mit der eigenen Unvollkommenheit auszusöhnen, wird durch die Reduktion der Handlungsressourcen infolge der Migration erschwert. Diese Begrenzungserfahrungen führen auch zu einer Sehnsucht nach dem Leben in der ehemaligen Sowjetunion, die jedoch nicht deutlich geäußert werden kann. Da die Migration, die von den Eltern überwiegend als leidvoll erlebt wird, mit dem Wunsch erfolgte, den Kindern ein besseres Leben zu bieten, können diese die Migration nicht offen infrage stellen. ‚Gewinnbringend’ ist die Konstellation für sie insofern, als sie u.a. aufgrund ihres Bildungsweges die Anerkennung der Eltern erhalten, wohingegen sie in Deutschland ansonsten eher Erfahrungen von Verkennung machen. Das Spezifische an der Konstellation ist, dass die Migration zu einer Regression des adoleszenten Entwicklungsprozesses führt. Regression wird hierbei im Sinne von Staemmler (2000) als „(vorübergehende oder länger andauernde) Einschränkung in der aktuellen Möglichkeit eines Menschen […], alle bereits einmal erworbenen Kompetenzen seinem Wunsch entsprechend zu realisieren“ (166, Herv. a. O. weggelassen) verstanden.65 Auf der ‚Reise der Adoleszenz‘ findet 65 Mit der Verwendung wird der Definition der Gestalttherapie gefolgt, ohne jedoch an (alle) psychoanalytischen Implikationen anzuknüpfen.

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durch die dazukommende ‚Reise der Migration‘ eine Rückkehr an einen bereits passierten ‚Zwischenhalt‘ statt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um denselben ‚Zwischenhalt‘ wie ein paar Jahre zuvor, sondern um einen – durch die migrationsspezifischen Herausforderungen – modifizierten. Der bereits begonnene Schritt der ‚Neuschöpfung’ im adoleszenten Dreischritt wird abgebrochen und stattdessen findet eine Rückkehr in die Phasen der ‚Trennung’ und ‚Umgestaltung’ statt (vgl. King 2010a, 14). Die „Herausbildung eines erwachsenen, individuierten Lebensentwurfs“ (vgl. King 2000a, 42) ist stark gebremst. Dabei zeigt sich überwiegend der Wunsch, von den Eltern mehr Autonomie zugestanden zu bekommen, der aufgrund der bestehenden Konstellation jedoch nicht leicht umzusetzen ist. Teilweise zeigt sich das Potential der Partnerin, Ablösungsversuche zu unterstützen. Die Konstellation verdeutlicht, dass und wie die Migration Einfluss auf den adoleszenten Entwicklungsprozess nimmt, der im Herkunftsland vermutlich einen anderen (Weiter-)Verlauf genommen hätte. Dieser Konstellationen liegen die rekonstruierten Lebensgeschichten von Vadim, Jurij, Maxim und Pjotr zugrunde. 2) Konstellation: Das Alleingelassensein mit den Herausforderungen der Migration und die elterliche Verweigerung adoleszenter Auseinandersetzungen haben eine Unabgeschlossenheit der adoleszenten Individuation zur Folge Die Angehörigen dieser Konstellation gehören zum Zeitpunkt der Ausreise zu den jüngsten des Samples und besuchen somit noch die Schule. Charakteristisch ist, dass die familialen Beziehungen schon immer oder in den letzten Jahren vor der Ausreise als wenig innig bis problembelastet beschrieben werden. Die adoleszente Individuation vor der Migration ist noch nicht ausgeprägt, der Möglichkeitsraum beschränkt. Hinsichtlich des Eingebundenseins in einen Peer- und Partnerschaftskontext besteht keine Einheitlichkeit, diese kann sowohl gegeben sein als auch nicht. Spezifisch ist hingegen, dass die Migration positiv gesehen wird, obgleich die Heranwachsenden nicht in die Entscheidung einbezogen worden sind. Die Freude wird jedoch durch eine kindlich-naive Hoffnung auf einen Neuanfang (der Familienbeziehungen) oder den von den Eltern versprochenen ökonomischen Wohlstand ausgelöst und wird nach der Ausreise rasch enttäuscht. Die Erwartungen erfüllen sich nicht, sodass die Migration als gescheiterter Neuanfang bzw. enttäuschtes Versprechen wahrgenommen wird. Obgleich die Ausreise auch für diese jungen Männer große Herausforderungen mit sich bringt, wird sie in den Erzählungen nicht zum zentralen Wendepunkt im Leben, wie es in der ersten Konstellation der Fall ist. Stattdessen sind es andere (familien-)biographische Ereignisse, die ihre Lebensgeschichte bestimmen (vgl. Breckner 2009, 340).

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Die Angehörigen dieser Konstellation erfahren in Deutschland eine Zurückstufung in der Schule, die (auch im Verhältnis zu ihren Geschwistern) willkürlich erscheint und ihnen nicht erklärt wird. Aufgrund des – in diesem Alter besonders relevanten Altersabstands – können sie mit ihren Klassenkameraden nicht viel anfangen und bleiben allein. In der Bildungsinstitution fallen sie durch Aggressionen oder andere abweichende Verhaltensweisen, wie Schwänzen, negativ auf. Die jungen Männer reagieren auf die erlebten Zurückweisungen durch Einheimische (z.T. trotz anfänglicher Assimilationsbemühungen) zeitweise mit einem Rückbezug auf die Herkunftsgruppe und werden Teil einer ‚russischen Clique‘, in der es zu destruktiven, externalisierenden Verhaltensweisen kommt (wie Alkoholmissbrauch oder Gewalt). Dies kann durch strukturelle Bedingungen, wie dem Leben in einem segregierten Lager über viele Monate, noch befördert werden. Die Zugehörigkeitskonstruktion fungiert dabei auch als ein Mittel der Abgrenzung von der abwertenden Mehrheitsgesellschaft. Die Eltern sind damit befasst, selbst in Deutschland Fuß zu fassen, um an ihren (erfolgreichen) Berufsweg im Herkunftsland anzuknüpfen oder die finanzielle Lage im Vergleich dazu zu verbessern. Dabei zeigen sie teilweise die Tendenz einer äußerlich starken Anpassung. Es kommt nicht zu einer Parentifizierung der Angehörigen dieser Konstellation. Stattdessen ist die konflikthafte Beziehungsdynamik zu den Söhnen (noch stärker als im Herkunftsland) durch einen Mangel an emotionaler Unterstützung geprägt. Die jungen Männer bekommen von ihren Eltern zwar zumeist große Zeit- und Spielräume zur Verfügung gestellt, doch wirken diese auch haltlos, indem die Eltern nicht zugleich als sicherer Hafen dienen (vgl. King 2010a, 15). Insgesamt wird die Generationendifferenz als aufgehoben erlebt. Adoleszente Migranten „müssen sich erst einmal verankern, um sich wiederum lösen zu können“ (King/Schwab 2000, 215) – die Söhne dieser Konstellation bleiben jedoch allein mit den migrations- und adoleszenzspezifischen Herausforderungen, die sichere Basis sowie das Gegenüber für produktive Auseinandersetzungen fehlen. Es zeigen sich bei den Angehörigen dieser Konstellation unterschiedliche Umgangsweisen mit der Situation, die jedoch jeweils ihre Halt- und Orientierungslosigkeit verdeutlichen. Das adoleszente Aufbegehren kann sich auf die Institution Schule und damit auf einen anderen intergenerationalen Bereich verschieben, wo es zu rebellischen Verhaltensweisen kommt, die zugleich einen erfolgreichen Weg verhindern. Ebenso kann eine gesteigerte Suche nach Verortung entstehen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass unterschiedliche und teils stark kontrastierende Lebensentwürfe erprobt werden, ohne dass dies jedoch auch nach Jahren für die inzwischen jungen Männer als befriedigend erlebt wird. Spezifisch für die Konstellation ist, dass Deutschland als potentiell erweiterter Möglichkeitsraum erscheint. Es findet ein forciertes, intensives adoleszentes Probehandeln statt. Die

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jungen Männer spielen in den folgenden Jahren unterschiedliche (nicht nur ethnonatio-kulturelle) Zugehörigkeiten durch und zeigen ein hohes Maß an Kreativität. Die adoleszente Suche nach dem Eigenen bleibt jedoch – aufgrund des Alleingelassenseins durch die Eltern und deren Verweigerung der Auseinandersetzung mit relevanten Themen sowie diskriminierende Zuschreibungen von außen – unabgeschlossen. Bedeutsame Andere, die unterstützend wirken könnten, gibt es kaum. Die jungen Männer entwickeln ihren Lebensentwurf in Opposition zu den Eltern, etwa wenn dem hart arbeitenden Vater ein Sohn gegenübertritt, der über 30-jährig ein Ende des Studiums und die Aufnahme einer Arbeit nicht in Betracht zieht. Oder indem angestrebt wird, als Soldat in ein Kriegsgebiet zu ziehen, obgleich es das Motiv der Eltern war, die Söhne durch die Migration vor der (russischen) Armee zu bewahren. Gerade indem die jungen Männer genau das Gegenteil von dem machen, was die Eltern tun oder sich wünschen, zeigt sich ihre Unabgelöstheit. Sie sind in der Bindung zu den Eltern verhaftet, weil ihnen das Gegenüber zur produktiven Bearbeitung fehlt. Die zugrundeliegenden Fälle zeigen in den ersten Jahren nach der Migration die gleiche Konstellation, allerdings macht einer der Fälle deutlich, dass ein Wandel möglich ist. So führt ein Aufbegehren im Kontext der Migration erstmalig zu einer Reaktion der Eltern, aufgrund derer (und der veränderten Familienkonstellation) es dazu kommt, dass Eltern und Sohn sich wieder miteinander auseinandersetzen. Dies führt zu einer Wiederannäherung, die Auseinandersetzungen zulässt und auch emotional als Stütze erlebt wird. Zusammen mit dem Vorbild neugewonnener bildungserfolgreicher Freunde, kann das nicht zielführende Aufbegehren eingestellt und ein erfolgreicher Bildungsweg bestritten werden. Die Individuation wird vorangetrieben, erscheint aber noch nicht abgeschlossen. Bleibt es jedoch bei der verweigerten Auseinandersetzung und Antwortlosigkeit auf drängende Fragen (auch im Kontext von Migration) der Söhne, wird eine produktive Wendung weiterhin verunmöglicht. Diese Konstellation wurde anhand der Fallrekonstruktionen von Anton und Semjon entwickelt. 3) Konstellation: Die infolge der Migration innige(re), aber auch Freiheiten gewährende Beziehung zu den Eltern sowie die Unterstützung durch bedeutsame Andere ermöglichen die Bearbeitung migrationsspezifischer Herausforderungen und die adoleszente Individuation Die Angehörigen dieser Konstellation befinden sich zum Zeitpunkt der Ausreise in verschiedenen Altersstufen, sodass sie z.T. noch die Schule besuchen oder gerade ein Studium begonnen haben. Obgleich sie selbst überwiegend keinen hohen

Konstellationen

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Abschluss haben, hegen die Eltern durchweg hohe Bildungsaspirationen verbunden mit dem Wunsch, dass die Kinder es einmal besser haben sollen. In Bezug auf die familialen Beziehungen liegen zwei Varianten vor. In der einen sind die Beziehungen durch innerfamiliale Konflikte und ein Ungleichgewicht in der Machtverteilung zwischen den Elternteilen geprägt (die sowohl zugunsten des Vaters als auch der Mutter vorkommt). Die Bildungsaspirationen werden von den Eltern mit großer Strenge vertreten. Die Geschwisterbeziehungen sind (auch aufgrund elterlicher Ungleichbehandlungen) nicht eng. In der anderen Variante ist die Beziehung sowohl zu den Eltern als auch zu den Geschwistern bereits im Herkunftsland als innig und unterstützend zu bezeichnen. Im Zuge des Älterwerdens werden zudem größere Freiräume zugestanden. Die soziale Einbindung in einen Freundeskreis differiert in beiden Varianten von fehlend bis vorhanden und durch Anerkennung geprägt. Charakteristisch für diese Konstellation ist, dass in den Interviews sehr stark auf die soziostrukturelle Lage nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Bezug genommen wird. Die Familien erleben Situationen des Mangels, die Eltern erhalten z.T. über Monate kein Gehalt, haben Schwierigkeiten die finanziellen Kosten einer guten Bildung zu tragen und sind von Zukunftssorgen befallen. Zudem erfahren die Familien dieser Konstellation stärkere Benachteiligungen aufgrund der deutschen Zugehörigkeit eines Elternteils. Ein Alleinstellungsmerkmal dieser Konstellation ist, dass die Heranwachsenden in die Entscheidung zur Ausreise einbezogen werden bzw. sogar sie es sind, die diese – in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und Bildungschancen – forcieren. Der Wunsch nach einem erfolgreichen Bildungsweg ist sehr präsent und verbindet als eine Kontinuität die Zeit vor und nach der Migration in der erzählten Darstellung. Obgleich die Migration auch für die jungen Männer dieser Konstellation mit Herausforderungen verbunden ist, erleben sie diese nicht als einen zentralen Wendepunkt, der das Leben zweiteilt. Auch dann nicht, wenn diese mit einem biographischen Wendepunkt zusammenfällt. Ein Großteil der Verwandten lebt bereits in Deutschland und charakteristisch ist, dass sie gerade durch die Ausreise näher an die deutsche Familienseite rücken als es im Herkunftsland der Fall war. Die Verwandten unterstützen die Neueingereisten vor allem in der ersten Zeit in Deutschland, holen sie z.B. vom Flughafen ab oder gehen mit ihnen zu Ämtern. Dadurch leben die Angehörigen dieser Konstellation auch nur kurz oder gar nicht in Übergangswohnheimen, was das Ankommen in Deutschland erleichtert. Durch die Unterstützung der Verwandten geraten die Kinder anfangs nicht in die Situation, Aufgaben für die Eltern übernehmen zu müssen. Die Generationendifferenz bleibt erhalten. Charakteristisch für diese Konstellation ist, dass die jungen Männer über verwandtschaftliche Beziehungen hinaus, wiederholt auf bedeutsame Andere treffen

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Theoretische Verallgemeinerung

bzw. diese auch aktiv aufsuchen und förderliche Tipps und Unterstützung erhalten. Dies vermittelt zudem ein Gefühl des Willkommen- und Anerkanntseins. In den Bildungsinstitutionen werden sie zumeist von den Lehrenden in ihren Fähigkeiten erkannt und zum Teil wird auf die speziellen Bedürfnisse eingegangen, etwa durch Einzelunterricht im Fach Englisch, das im Herkunftsland nicht gelehrt wurde. Die jungen Männer bekommen somit mehr „Hilfestellung […] von außen“ (King 2013, 110) als es in den anderen Konstellationen der Fall ist. Das Erlernen der deutschen Sprache stellt eine Herausforderung dar, die jedoch relativ leicht gelingt und rasch machen sie Selbstwirksamkeitserfahrungen, z.B. indem sie anderen Migrierten durch dolmetschen helfen können. Es gelingt den Angehörigen dieser Konstellation eher, frühere Handlungsweisen und -strategien, z.B. selbstverantwortliches Lernen, auch in Deutschland (mitunter leicht variiert) einzusetzen. Aufgrund der beschriebenen Aspekte verfügen sie im Vergleich zu den Angehörigen der anderen beiden Konstellationen „über geeignetere Mittel zur Bewältigung“ (King 2008b, 100) der migrationsspezifischen Herausforderungen. Das Verhältnis zu den Geschwistern wird im Zuge der Migration enger und als unterstützend erlebt. Die Beziehung zu den Eltern bleibt innig (in der oben genannten 2. Variante) oder erfährt infolge der Ausreise eine starke Verbesserung (in der 1. Variante). Die gemeinsamen Herausforderungen stärken die Bindung und zudem kommt es in Deutschland zu einem Machtzuwachs des im Herkunftsland unterlegenen Ehepartners, sodass die Beziehung insgesamt ausgeglichener wird. Aufgrund der Migrationssituation, den Herausforderungen, die die Eltern für ihre Kinder sehen und ihre eigene Eingewöhnung und Unwissenheit, üben sie nicht mehr einen so starken, einengenden Erfolgsdruck auf die Kinder aus. Die Söhne erfüllen zwar die Bildungswünsche der Eltern, doch haben sie diese in Deutschland „zur eigenen Sache gemacht“ (Zölch et al. 2009, 75). Die Sorgen um die tägliche Versorgung werden durch die Unterstützung der Sozialsysteme obsolet, was von den Eltern als Befreiung erlebt wird. Trotzdem erfahren z.T. auch die Eltern dieser Konstellation berufliche Degradierungen und haben Schwierigkeiten, sich einzuleben. Die Söhne setzen sich mit den begrenzten Möglichkeiten und Fähigkeiten der Eltern auseinander, ohne diese jedoch zu beschämen oder in eine belastende Parentifizierung zu geraten. Sie treffen auch Entscheidungen gegen die Wünsche der Eltern und können es aushalten, phasenweise auf deren Anerkennung zu verzichten, da sie andere verlässliche Beziehungen, z.B. eine Partnerin, haben. Sie befinden sich im Schritt der Neuschöpfung (vgl. King 2010a, 14) und ein individuierter Lebensentwurf wird herausgebildet (vgl. King 2000a, 42). Die beschriebenen positiven Aspekte sind nicht gleichbedeutend mit einer besonders einfachen oder starken Integration der Angehörigen dieser Konstellation in die deutsche Gesellschaft. Die Freundeskreise, die z.T. in Deutschland

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überhaupt erstmals bestehen, setzen sich überwiegend aus russischsprachigen Personen zusammen und die Partnerinnen, sofern vorhanden, teilen den Migrationshintergrund. Auch diese jungen Männer machen teilweise die Erfahrung von negativen Zuschreibungen und zweifeln phasenweise an ihren Fähigkeiten. Sie haben jedoch Rückhalt und setzen sich kritisch mit den Familien- und Geschlechterbildern sowie Bildungssystemen in beiden Ländern auseinander. Insgesamt hat ihr Möglichkeitsraum durch die ‚Reise der Migration‘ eine Erweiterung erfahren, indem weniger soziale Unsicherheiten bestehen, ein größeres (Bildungs-)Angebot vorhanden ist, bedeutsame Andere unterstützend wirken und sich die familialen Beziehungen durch Autonomie und Verbundenheit auszeichnen. Diese Konstellation basiert auf den Rekonstruktionen von Sergej, Fjodor und Jevgenij. 7.2 Theoretisierende Betrachtung der zentralen Ergebnisse Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit fallübergreifend und mit Blick auf die theoretischen Ausführungen des ersten Teils dargelegt. Dabei gilt es herauszuarbeiten, an welchen Stellen sich die empirischen Ergebnisse mit dem Forschungsstand decken oder diesem widersprechen und wo sie über bisher vorliegende Erkenntnisse hinausreichen. Illustrierend werden Interviewpassagen eingeflochten, wobei auch jene Interviewpartner ‚zu Wort kommen‘, deren Fälle noch nicht präsentiert wurden. Dies folgt keinem methodischen Schritt Rosenthals, sondern dient der Veranschaulichung. An geeigneten Stellen erfolgt darüber hinaus der Vergleich zu Adoleszenten der zweiten Migrantengeneration. Dies bettet die Ergebnisse in einen größeren Zusammenhang ein und vermag es dadurch zugleich, die Spezifika einer Migration in der Adoleszenz noch stärker hervorzuheben. 7.2.1 Strukturelle Bedingungen der Migration Alle im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten jungen Männer und ihre Familien mussten nach dem Stellen des Ausreiseantrags mehrere Jahre warten, ehe dieser bestätigt wurde. Die Familien hofften, dass der Antrag positiv beschieden werde und sie bald nach Deutschland ausreisen können. Zugleich konnten sie aber nicht planen, wann dies geschehen wird und ob es sich ‚lohnt‘, dass die Kinder gewisse Dinge im Herkunftsland noch beginnen. So absolvierte beispielsweise Vadim einen Kurs in der Schule nicht, da er ihm in Deutschland ohnehin nicht genutzt hätte. Daneben bestand die Option der Ablehnung des Antrags, die vor allem im Fall von Semjons Familie sorgenvoll bedacht wurde. Die bevorstehende Ausreise hing wie

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eine ungewisse und in gewissem Sinne auch unfassbare Zukunftsaussicht über den jungen Männern und ihren Familien. Übergreifend wird diese Zeit als belastend beschrieben, wie z.B. Fjodor berichtet: „Und diese, diese Zeit, diese sechs Jahren, das war immer so mh, (3) so wie Zwischenzeit, [mh] man wusste nicht genau, was kommt, ob es kommt. [mh] Äm, soll man sich hier eher mh (.) für, für, für dieses Leben etwas mehr Mühe geben, [mh] also ein bisschen vielleicht äh (2) vorsorgen, was ja das Haus, das Grundstück angeht, [mh] was etwas Größeres unternehmen, ja, vielleicht was anbauen oder damit der Alltag einfacher wird? [mh] Oder ob das hier nich, ob es sich nich mehr lohnt, weil man sowieso [mh] bald wegzieht und (2) das war auch äh, (3) ja, vielleicht sogar (.) Hauptgrund /lacht auf/[mh] für diese unangenehme Zeit, (.) in, in dieser Zwischen-, [mh] in dieser familiären Beziehung. (.)“ (412ff)

Hauptmotiv für den Ausreiseantrag nach Deutschland waren bei allen Eltern wirtschaftliche Gründe, wie es auch in der Literatur beschrieben wird (vgl. Greiner 2002, 48), gefolgt von dem Wunsch, die Söhne vor der russischen Armee zu bewahren. Im Kern war die Migration darauf ausgerichtet, den Kindern eine sichere Zukunft mit besseren Bildungschancen bieten zu können. Zum Teil haben die Eltern auch deutlich gemacht, dass sie für sich selbst in Deutschland schlechtere Bedingungen antizipieren, was in der Folge den Druck auf die Söhne erhöht, das elterliche ‚Opfer‘ anzuerkennen (vgl. King 2005). Dadurch war die Migration für die Heranwachsenden von Anfang an nicht neutral, sondern mit einem Ziel belegt. Die Wahrnehmung dessen fiel jedoch unterschiedlich aus. Gerade die Jüngeren freuten sich zunächst in ‚kindlicher‘ Weise auf die versprochenen Konsummöglichkeiten und verstanden sich nicht explizit als Träger eines Auftrags. Migration ist mit Abschied verbunden. Im Gegensatz zu anderen Migrationsformen, findet die Ausreise von SpätaussiedlerInnen überwiegend im Familienverbund statt. In allen erhobenen Fällen ist die Kernfamilie mit Vater und Mutter, Geschwistern (wenn vorhanden) und teilweise sogar den Großeltern migriert. Zudem befanden sich in allen Fällen schon Verwandte in Deutschland. Allerdings beziehen sich alle diese Ausreisen nur auf die Angehörigen der deutschen Familienseite. Die russische Großmutter, Tante, etc. mussten ebenso zurückgelassen werden wie Freunde und andere Bekannte. Die Erzählungen gleichen sich darin, dass der Moment der Abschiednahme, wenn überhaupt, nur sehr knapp erwähnt wird, wodurch sich der Eindruck verstärkt, dass die Heranwachsenden nicht bewusst Abschied genommen haben. Aufgrund ihres Alters konnten sie die Tragweite des Kommenden kaum erfassen. Dies kann die Trauerarbeit erschweren (vgl. Zimmermann 2012, 23). Die Art der Erzählungen spricht zudem dafür, dass dieser Moment von den jungen Männern (retrospektiv) als problembelastet empfunden wird. Die Versprechungen der Verwandten und Eltern stellten sich in

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Deutschland bald als unrealistisch heraus. Dies wird als enttäuschend erlebt und wirkt sich z.T. auch negativ auf die Beziehung zu den Eltern aus. Fjodor erzählt: „Und von den Verwandten hat ja /atmet ein/ auch keiner mh von Problemen erzählt, [mh] was man hier bekommt. Und wenn man schon hierherkommt, sieht man ja, dass, man nimmt die rosa Brille ab [mh] und sieht das, wie das eigentlich is. (.)“ (554ff)

Des Weiteren ist – dem Forschungsstand entsprechend – deutlich geworden, dass die strukturellen Bedingungen, die die adoleszenten Migranten nach der Einreise erfahren, das Einleben und den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeitsraum beeinflussen. Im Vergleich zu anderen Migrantengruppen wird die Lage der SpätaussiedlerInnen für die erste Phase nach der Migration in der Literatur oftmals als besonders positiv und leicht beschrieben, beispielsweise, weil sie mit der Einreise den deutschen Pass erhalten und für die erste Zeit direkt in Sammelunterkünften untergebracht werden (vgl. BMFSFJ 2000, 129ff). Dies bringt zwar eine Vielzahl von Rechten (sicherer Status, Arbeitsbewilligung, Wahlrecht) mit sich, die Rekonstruktionen zeigen jedoch, dass dies in seiner Bedeutung für das Erleben von Ausgrenzung oder Diskriminierung nicht überschätzt werden darf. Im Alltag werden die jungen Männer nicht nach ihrem Ausweis bewertet, sondern in Hinblick auf andere Kriterien (z.B. Sprachfähigkeit, Herkunftsland, u.a.) und das Leben in einem Erstaufnahmelager oder einem Übergangswohnheim wird von den jungen Männern als sehr belastend beschrieben. Zumal es sich in vielen Fällen nicht nur um eine ‚Übergangszeit‘ handelt, sondern es z.T. Monate und Jahre dauert, ehe sie mit ihren Familien in eine eigene Wohnung ziehen können. Es wird von einer segregierten Lage der Unterkünfte, entwürdigenden medizinischen Untersuchungen, katastrophalen hygienischen Zuständen, problematischen Nachbarn, beengtem Raum und fehlender Unterstützung von außen berichtet. Der eingeschränkte und segregierte Raum verhindert die eigene Verortung im Ankunftsland erheblich und zudem fühlen sich die jungen Männer dadurch wenig willkommen und sicherlich nicht ‚gleich‘. Wie bei Strobl und Kühnel (2000) beschrieben, führt die räumlich separierte Wohnsituation auch zu einer sozialen Segregation, was z.B. die Gefahr des Rückzugs in die Eigengruppe birgt, wie er bei Anton auf destruktive Weise geschehen ist. Die schulpflichtigen Interviewpartner konnten in den meisten Fällen rasch in den Schulbetrieb einsteigen, die anderen hatten teils Lücken von mehreren Monaten, ehe sie einen Sprachkurs beginnen konnten. Maxim beschreibt die Wartezeit bis zu seinem Sprachkurs als „Halbdepression-Zustand“: „ich fühlte mich nich besonders gut [mh] und eine Halbdepression-Zustand, [mh] dass man verliert die Zeit [mh] und es ändert sich nichts. Erstens man lernt kein, kein

400

Theoretische Verallgemeinerung Deutsch, zweitens man, man entwickelt sich überhaupt nich, [mh] man sitzt da zuhause oder man geht spazieren, aber es bringt nichts. [mh]“ (319ff)

Insgesamt bewerten die jungen Männer die bürokratischen Anforderungen als erschwerend, das war „wirklich ein (2) Stein im Weg“ (570), so Fjodor. Als großer Vorteil wird mehrfach die Unterstützung durch bereits länger in Deutschland lebende Verwandte benannt. Keiner der Interviewpartner kann – auch nach Sprachkursen – genau an der Stelle im Bildungssystem weitermachen, an der er vor der Ausreise stand. In der Schule erfolgen Rückstufungen und um mit einem Mittelschulabschluss studieren zu können, muss zuvor zwei Jahre ein Studienkolleg besucht werden. Vadim erlebt z.B., dass er nach der Einreise fünf Jahre braucht, ehe er an der Universität beginnen kann, wohingegen er in Kasachstan bereits im Jahr der Ausreise unmittelbar hätte studieren können. Die Eltern erhalten zur schulischen Einstufung in der Regel keine genaueren Informationen, zumal es eine Sprachbarriere gibt und keine ÜbersetzerInnen zur Verfügung stehen. Dadurch haftet den schulischen Rückstufungen etwas Willkürliches an und sie können als institutionelle Diskriminierung (im Sinne von Gomolla/Radtke 2009) verstanden werden. Nur einer der Interviewpartner, Jevgenij, kann nach der Zeit in der Auffangklasse im ‚richtigen‘ Jahrgang weitermachen, was aufmerksamen Lehrpersonen zugeschrieben werden kann. Die Abwertung der mitgebrachten Bildung enthält implizit auch eine Abwertung des Bildungssystems im Herkunftsland, der einige Interviewpartner mit einer Idealisierung der hierarchischen Schulkultur der (Post-)Sowjetunion begegnen. Die Unterschiede zum deutschen Schulsystem sind groß, etwa in Bezug auf die Lehrmethoden und die geforderte Eigenverantwortung (vgl. Kleespies 2006, 59f). Die Erfahrungen, die die jungen Männer machen, entsprechen den Herausforderungen, die allgemein in der Literatur für SpätaussiedlerInnen, die nach der Einreise nur noch kurze Zeit im Schulsystem oder in der Ausbildung in Betrieb oder Hochschule vor sich haben, benannt werden (vgl. 1.4). Mehrere der jungen Männer legen bis zum (Fach-)Abitur in Deutschland verschlungene Wege zurück, verbunden mit dem Besuch und Abbruch unterschiedlicher Schulformen. Das Mehr an Möglichkeiten im deutschen Schulsystem (z.B. (Fach-)Abitur über den zweiten Bildungsweg) bewerten sie im Vergleich zum Herkunftsland insgesamt als positive Erweiterung. Unter 2.3.1 wurde die allgemeine Annahme ausgeführt, dass adoleszente MigrantInnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland eine größere soziale Sicherheit erleben und potentiell ein erweiterter adoleszenter Möglichkeitsraum bestehen würde. Die Interviews zeigen in der Tat auf, dass die ökonomische Situation in den Herkunftsländern für viele der Familien belastend war. Auch Benachteiligungen aufgrund der deutschen Zugehörigkeit (in Kasachstan

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auch und vor allem aufgrund der russischen) wurden negativ wirksam. Zudem spielten elterliche Gewalt und Autorität sowie ein starker Druck bei der Durchsetzung von Bildungsaspirationen für die Söhne eine Rolle. Zum Teil bestanden in den Familien traditionelle Bilder von Männlichkeit und Zukunftsentwürfen. Dies alles wirkte – neben den gesellschaftlich zugrundeliegenden Bedingungen – begrenzend auf den Möglichkeitsraum. Über diese äußeren Faktoren hinaus hat es sich als bedeutsam erwiesen, die Art der familialen Beziehungen und die Einbindung in den Peerkontext zu betrachten. Die jungen Männer, die den Konstellation 2 und 3 zugerechnet werden konnten (siehe 7.1), nehmen die gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland als potentielle Erweiterung ihres Möglichkeitsraumes wahr, etwa in Hinblick auf die höhere finanzielle Sicherheit und Stabilität, demokratische Freiheiten oder größere Freiräume im Schulsystem. Diejenigen, die der 1. Konstellation angehören, können diese gesellschaftlichen Erweiterungen kaum für sich nutzen bzw. lehnen diese sogar ab, da sie ihren Möglichkeitsraum insgesamt im Vergleich zum Herkunftsland als beschränkt empfinden. Je mehr Freiräume die Eltern boten (was durch ein höheres Alter bei der Ausreise stärker gegeben war) und je höher die soziale Integration im Herkunftsland war, desto wahrscheinlicher ist eine (phasenweise) Beschränkung des Möglichkeitsraumes nach der Migration, z.B. durch die zwangsläufig abbrechenden Freundschaftsbeziehungen. Die Ergebnisse der Rekonstruktionen zeigen, dass die unter 2.2.2 ausgeführten migrationsspezifischen Transformationsherausforderungen für die jungen Männer in der Tat alle von Relevanz waren bzw. noch sind und die strukturellen Bedingungen das Einleben und den zur Verfügung stehenden Möglichkeitsraum beeinflussen. Dabei ist es bedeutsam, sich vor Augen zu führen, dass es sich bei den Interviewpartnern – obgleich sie im Familienverbund in der Position des Kindes ausreisen – um Migranten der ersten Generation handelt (u.a. nach der Definition von Segeritz et al. 2010, 122). Dies unterscheidet sie deutlich von jenen jungen Männern und Frauen, die mit Migrationshintergrund in Deutschland geboren werden. In der Folge sind sie von den im 2. Kapitel vorgestellten Krisiserfahrungen (Schütz 1972) betroffen. Die Interviews zeigen durchgängig, dass die Migration für die jungen Männer (und ihre Familien) mit zahlreichen Herausforderungen verbunden ist, die teilweise dem Bild des Einsturzes des ‚Denkens-wieüblich‘ (vgl. 58) entsprechen. Pjotr äußert beispielsweise: „Und die Schwierigkeiten [der Eingewöhnung, JZ], dass ich hab in Russland gewohnt, gelebt und ich fühle mich in Russland wie Fisch in Fluss. [ja] In Deutschland is, äh ich kenne nicht die, (.) nichts, ich kenne nichts“ (469ff). Schütz geht davon aus, dass durch das ‚Denken-wie-üblich‘ ein Gefühl der fraglosen Selbstverständlichkeit entstehe, welches Sicherheit gebe, sodass kognitive und emotionale Kapazität für anderes bleibe (vgl. ebd. 66). Die befragten jungen Männer berichten z.T., dass sie ihre

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Denk- und Wahrnehmungsmuster bis heute unterschiedlich zur Mehrheitsgesellschaft empfinden würden und gewisse Grenzen nicht aufzulösen seien. Übergreifend werden zudem konkrete alltägliche Abläufe als schwierig beschrieben. Viele erzählen von dem Gefühl, sich hilflos und alleingelassen zu fühlen. Die Ergebnisse sprechen jedoch deutlich dafür, dass dies nicht im Sinne eines statischen Kulturbegriffs als Folge ‚kultureller Unterschiede‘ oder ‚Modernisierungsdefizite‘ zu bewerten ist, sondern die familialen und soziokulturellen Bedingungen in den Blick zu nehmen sind, unter denen Migration jeweils stattfindet. Übergreifend bestätigen die vorliegenden Ergebnisse, dass die individuelle Ausgestaltung des Spannungsfeldes vor allem davon abhängt, „in welcher Weise Migrationserfahrungen in den adoleszenten Entwicklungsprozessen verarbeitet werden oder in welcher Weise adoleszente Entwicklungen durch die Migration gefördert oder gehemmt, verändert oder nicht verändert werden“ (King/Schwab 2000, 211). 7.2.2 Der zentrale Wendepunkt? Die lebensgeschichtliche Einbettung der Migration Übergreifend kann festgehalten werden, dass die Ausreise immer einen Einschnitt in die Lebensgeschichte der jungen Männer dargestellt hat, aber nicht zwangsläufig zum entscheidenden biographischen Wendepunkt werden muss. Von den Angehörigen der 1. Konstellation wird die Migration als Bruch wahrgenommen, der das Leben gewissermaßen zweiteilt. Damit ist kein kurzer Einbruch gemeint, der angesichts eines Länderwechsels nahezu unvermeidlich ist, sondern eine grundlegende Veränderung, die über Jahre anhält. In anderen Fällen hingegen kommt der Migration keine solch stark strukturierende Rolle zu. Als wesentlich für die Bedeutungszuschreibung hat sich erwiesen, ob die Migration mit einem weiteren biographischen Wendepunkt zusammenfällt und wie dieser aufgeladen ist. Dafür kann Bezug auf Rosenthals (1995) Konzept der ‚biographischen Wendepunkte‘ genommen werden. Diese Wendepunkte trennten als temporaler Einschnitt die Lebensgeschichte in eine Zeit ‚davor‘ und eine Zeit ‚danach‘ (vgl. 134). Dabei unterscheidet Rosenthal drei Arten:   

„entwicklungspsychologisch relevante Wendepunkte Statusübergänge, d.h. sozial typisierte Wendepunkte und Interpretationspunkte, d.h. als tiefe Einschnitte erlebte Wendepunkte“ (ebd.)

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Wohingegen die ersten beiden Punkte Veränderungen betreffen, die im Leben aller Menschen vorkommen (auch wenn sie individuell unterschiedlich erlebt werden) – wie den Wandel von der frühen zur mittleren Kindheit oder die Einschulung – handelt es sich bei den Interpretationspunkten um ‚individuelle‘ Situationen, die einen nachhaltigen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Biographie nehmen. Als ein solcher kann Rosenthal zufolge auch eine Migration wirksam werden (vgl. ebd.). Die Kontrastierung der Fälle hat gezeigt, dass die Migrationserfahrung erschwert werden kann, wenn sie zeitlich mit lebensphasenspezifischen Statuswechseln und -übergängen zusammenfällt. Findet die Migration z.B. parallel zum Statusübergang vom Schüler zum Studenten statt, der als Höhepunkt des bisherigen Erfolgs erlebt wird und geschieht dann in Deutschland eine starke Degradierung des Abschlusses, wirkt sich dies negativ aus. Wird dieser Statuswechsel im Herkunftsland jedoch als Herausforderung empfunden, die zu negativen Einbrüchen des Selbstbildes führt, kann die Migration eher als Befreiung erlebt werden. Relevant ist also nicht nur das Zusammentreffen mit biographischen Wendepunkten an sich, sondern ihre jeweilige lebensgeschichtliche Einbettung. Festhalten lässt sich zudem, dass die Art des zuvor zur Verfügung stehenden Möglichkeitsraumes Einfluss auf das Erleben der Migration nimmt. Je größer dieser im Verhältnis zu dem in Deutschland verfügbarem Möglichkeitsraum war, desto stärker wird die Migration als Bruch empfunden. Für das Erleben der Migration und den weiteren Verlauf in Deutschland hat es sich als bedeutsam erwiesen, ob über die Ausreise hinaus das eigene Selbstbild aufrechterhalten werden kann. Die jungen Männer befinden sich in der Phase der Adoleszenz, der Fragen nach der eigenen Identität inhärent sind: „Wer bin ich? Woher komme ich? Wer will ich sein?“ (King 2013, 101, Herv. i. O.). Obgleich sie als Adoleszente noch ‚im Werden begriffen‘ sind, zeigt sich im Kontext der Migration das Verlangen nach einer gewissen biographischen Kontinuität (vgl. Erdheim 1982, 296). Die Rekonstruktionen sprechen dafür, dass es im Zuge der Migration aufgrund plötzlich begrenzter Kompetenzen und Handlungsressourcen (phasenweise) zu Auswirkungen auf das eigene Selbstbild kommen kann. Dies wird auch durch die erfahrenen Fremdbilder, vor allem stereotype Zuschreibungen, die viele der Befragten erleben, beeinflusst. Als zentral hat sich erwiesen, ob sich die jungen Männer trotzdem als handlungsfähig erleben, Selbstwirksamkeitserfahrungen machen und sich auch in der Fremde ‚wiedererkennen‘. Selbstwirksamkeit meint dabei, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu haben und davon auszugehen, dass diese zur Erreichung erwünschter Ziele befähigen (vgl. Filipp/Aymanns 2010, 302). Vadims Fallrekonstruktion macht deutlich, dass er nach der Migration das Gefühl hat, nicht mehr so agieren und er selbst sein zu können wie davor. Dies lässt sich in der Formel: VadimvorMigration ≠ VadimnachMigration zusammenfassen. Er

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möchte zurück zum ‚alten Ich‘, das für ihn als ‚Idealbild‘ bestehen bleibt und nicht (wieder) erreicht werden kann. Eine Herausforderung der Adoleszenz ist es, sich mit den eigenen Stärken und Schwächen realistisch auseinanderzusetzen und sich auch mit der eigenen Unvollkommenheit auszusöhnen (King 2002, 115). Gerade durch die ‚Migration auf dem Höhepunkt‘ kann Vadim sich mit der neuen Lage jedoch nicht aussöhnen. Es gelingt ihm nicht, diese für sich anzuerkennen oder zufriedenstellend in sein Selbstbild zu integrieren. Diese Situation ist typisch für Angehörige der 1. Konstellation. Dabei gilt es zu betonen, dass ein wahrgenommener Wandel des Selbstbildes nicht per se negativ sein muss; es kommt darauf an, ob dieser als begrenzend oder eröffnend erlebt wird. Im Laufe der ersten Jahre in Deutschland kommt es z.B. auch bei Fjodor zu neuen Antworten auf die Frage ‚Wer bin ich?‘, die jedoch als Erweiterung und Eigensinn ins Selbstbild integriert werden können und positiv wirken. Dies hat sich als charakteristisch für Angehörige der 3. Konstellation erwiesen, die im Unterschied zu den anderen oftmals bereits kurz nach der Migration Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, etwa indem sie anderen MigrantInnen als Dolmetscher helfen können. Bei den jungen Männern der 1. Konstellation ist es so, dass die Migration zur Diskontinuität im Lebenslauf wird, die das „Leben gewissermaßen zweiteilt in ein Leben vor und ein qualitativ anderes nach der Emigration“ (Kirsch 2010, 15). In der Folge kommt es zu der beschriebenen Regression in der adoleszenten Individuation. Vor allem den Angehörigen der 3. Konstellation gelingt es hingegen, die Migration in ihre Lebensgeschichte zu integrieren, ohne dass es zu einem starken Bruch kommt. Dies wird dadurch möglich, dass sie durch Selbstwirksamkeitserfahrungen und aufgrund vielfältiger Unterstützung und Rückhalt durch Andere, ihr biographisches Selbstbild aufrechterhalten können (vgl. Bartmann 2006). Eine Kontinuität schaffen sie für sich über den Bildungsweg, den sie – nach Umwegen – erfolgreich fortsetzen können und zudem als für sich selbst stimmiger erleben als im Herkunftsland. Dies wird auch dadurch möglich, dass sie die Migration als autonom konstituiert wahrnehmen, indem sie an der Entscheidung beteiligt waren oder diese sogar selbst forciert haben. Dies bestätigt die Annahme von Han (2005, 212), dass die innere Bereitschaft zur Migration deren positiven Verlauf maßgeblich mitbestimmt. Zudem erweisen sich bei ihnen sowie auch bei den Angehörigen der 2. Konstellation andere Ereignisse im Konstitutionsprozess ihrer Biographie von größerer Bedeutung als die Migrationserfahrungen (vgl. Breckner 2009, 360). 7.2.3 Erschwerter Zugang zu Freundschaftsbeziehungen Durch das Verlassen des Herkunftslandes werden die bestehenden Freundschaftsbeziehungen der interviewten Männer abrupt beendet. Der Abbruch genau in der

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Phase adoleszenter Auseinandersetzungen und zeitgleich vor dem Hintergrund migrationsspezifischer Herausforderungen stellt einen großen Verlust dar, der je schwerer wiegt, desto höher die soziale Einbindung zuvor war. Dies stellt einen eklatanten Unterschied zu Heranwachsenden mit Migrationshintergrund der zweiten Generation dar. Aufgrund möglicher Ausgrenzungen kann auch für sie der Aufbau von Freundschaften erschwert sein, doch können sie diesen im Kindesalter beginnen und darauf weiter vorantreiben, ohne dass irgendwann ein vergleichbarer Bruch erfolgen würde. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung (2009, 49) kommt zu dem Ergebnis, dass MigrantInnen mit Spätaussiedlerhintergrund (vielleicht auch aufgrund dessen) im Vergleich zu allen anderen Herkunftsgruppen die wenigsten deutschen FreundInnen besäßen und prozentual die größten Schwierigkeiten hätten, solche zu finden, wodurch es zur Eigengruppenfavorisierung kommen könne (vgl. Frank 2011, 91). Bei den Interviewten in dieser Arbeit handelt es sich um erfolgreiche junge Männer, die jeweils an einer deutschen Universität studieren. Dennoch berichten sie (außer im Fall von Semjon) davon, kaum bis keine autochthonen FreundInnen zu besitzen. Adoleszente MigrantInnen „müssen sich erst einmal verankern, um sich wiederum lösen zu können“, schreiben King und Schwab (2000, 215). Eine Verankerung im Peerkontext kann helfen, besser mit den adoleszenten Unsicherheiten und Ängsten, etwa in Verbindung mit dem adoleszenzspezifischen Anerkennungsvakuum, aber auch mit migrationsspezifischen Herausforderungen, umzugehen. Den Interviewpartnern fehlt es jedoch überwiegend an den positiven Effekten, die eine Peergroup geben kann und die auch gerade in Bezug auf die Ablösung von den Eltern bedeutsam sind. Die Rekonstruktionen haben gezeigt, dass sich die weitläufige Annahme, dass leicht und ‚quasi automatisch‘ Freundschaften entstehen, wenn sich die migrierten Personen noch im Schulalter befinden, nicht bestätigen lässt. Bei einer Migration im Schulalter kommt es zwar zwangsläufig zu Kontakte mit anderen Jugendlichen, diese führen jedoch nicht automatisch auch zu Freundschaften. Als erschwerend hat sich vor allem erwiesen, dass die meisten Interviewpartner im Schulalter ein bis zwei Jahre zurückgestuft wurden und somit älter waren als ihre MitschülerInnen. Gerade in der Phase der Pubertät und frühen Adoleszenz können zwei Jahre – unabhängig von der Migration – einen großen Unterschied ausmachen. Neben körperlichen Differenzen, liegen oftmals andere Interessen und kognitive Fähigkeiten vor. Die Andersartigkeit durch den Migrationshintergrund wird also in der Schule dadurch potenziert, dass sie zudem die Ältesten sind. Hinzukommen vor allem in der Anfangszeit Sprachschwierigkeiten und die Herausforderung, sich an das Leben in Deutschland und den anders strukturierten Unterricht mit z.T. neuen Unterrichtsfächern zu gewöhnen. Da scheint kaum Kapazität dafür zu bleiben, sich in der Freundschaftsanbahnung zu engagieren. Von Seiten der

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autochthonen MitschülerInnen erhielten die Interviewpartner, so berichten sie es, keine ‚Angebote‘. Diese wurden vielmehr als reserviert bis ausgrenzend und diskriminierend erlebt. So erzählt z.B. Semjon von Beleidigungen und Verballhornungen seines Vornamens, die schließlich mit dazu geführt haben, dass er seinen Namen ‚eindeutschen‘ ließ. Dies alles widerspricht den Charakteristika von Gleichaltrigengruppen, wie dem ähnlichen Alter der Mitglieder, gemeinsamen Interessen, Gleichrangigkeit sowie dem Fehlen von Wissens- oder Erfahrungsvorsprüngen (vgl. 2.1.3). Darüber hinaus lebten viele der Interviewpartner während der ersten Zeit in der Schule, teilweise sogar über Jahre, in ‚Lagern‘ und/oder Übergangswohnheimen. Diese marginalisierten Lebensumstände sind (aufgrund des geringen Platzes und eventueller Scham) kaum dazu geeignet, mögliche FreundInnen dorthin einzuladen. Die jüngeren Interviewpartner zogen sich phasenweise aufgrund der segregierten Lage der Aufnahmeeinrichtung oder als Reaktion auf die Zurückweisungen durch Autochthone und Marginalisierungserfahrungen in eine russischsprachige Clique zurück, wo es teils zu destruktiven, männlich konnotierten Gruppenhandlungen gekommen ist. Es lässt sich bestätigen, dass der Rückzug in die ethnische Community zum einen Halt geben und helfen kann, Fremdheitserfahrungen auszuhalten; zum anderen aber auch negativ auf die Beziehungsgestaltung zum Aufnahmeland wirken kann (vgl. Günther 2009, 89). So fühlten sich die Jugendlichen ihrer Gruppe zugehörig, wurden aufgrund dieser Zugehörigkeit jedoch von der Mehrheitsgesellschaft verstärkt ausgegrenzt. Die Lage der nicht mehr schulpflichtigen MigrantInnen wird in Bezug auf den Aufbau neuer Freundschaften als besonders schwierig eingeschätzt. Dietz und Roll (1998) zufolge bestehe die Gefahr einer sozialen Isolation (vgl. 100ff). Pjotr erzählt: „Und die größte Probleme, die ich in Deutschland bekommen habe, das ich keine Kumpels habe, keine Freunde. [mh] Ich habe immer viele Freunden, ich habe immer gut mit Kin-, mit Leuten Kontakt [ja] und als ich nach Deutschland komme, habe ich keine Leute [mh] zum Kontaktieren, zum Sprechen, zum Plaudern. Das war die Probleme. [ja]“ (447ff)

In der Tat erlebten die nicht mehr schulpflichtigen Interviewpartner zumeist längere Wartezeiten und sind in den folgenden Bildungsinstitutionen zunächst und oftmals über Jahre nur in Gemeinschaft mit SpätaussiedlerInnen und/oder anderen MigrantInnen. Dies wird aufgrund der (sprachlichen Vertrautheit) als hilfreich erlebt, aber auch als Verhinderung empfunden, Beziehungen zu Einheimischen aufzubauen. Im Studium treffen sie schließlich auf Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeiten sowie auf viele Autochthone. Durchgängig wird das Phänomen be-

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schrieben, dass sie zunächst, z.B. für Lerngruppen, explizit russischsprachige Personen wählen. Der Statusübergang an die Universität ist für Erstsemester gleich welcher Herkunft mit vielfältigen Herausforderungen verbunden. Die Interviewpartner berichten darüber hinaus z.T. von anhaltenden Sprachschwierigkeiten oder dem als fremd erlebten Aufbau des Studiums. Zudem sind sie aufgrund ihrer umwegreichen Bildungswege in Deutschland oftmals älter als ihre Mitstudierenden. In dieser Situation werden Studierende mit ähnlichem (Erfahrungs-)Hintergrund als bedeutsame Ressource sowie emotionaler Halt erlebt (vgl. Schwendowius 2015). Allerdings berichten die jungen Männer auch davon, dass sie sich durchaus Kontakt zu deutschen Studierenden wünschen würden, was jedoch kaum gelinge. So erzählt Vadim: „Und äh, ja, ja. Aber (.) zum Freunden sag ich ja so, dass wir irgendwie, ich hab ni-, ich hab das so viel analysiert und versucht, selbst zu verstehen, warum das so ist, aber /jedes Wort betont:/ ich bin immer in Umgebung von Russen. [mh] Und es ist immer so, [lacht auf] ich weiß nicht warum“ (371ff) und Maxim erklärt: „An der, an der, an der Uni is es, (.) mit Ausländer kommt man besser zurecht, [mh] muss ich ganz ehrlich sagen. [mh] […] Is natürlich, dass man schneller in eine Kontakt kommt, wenn, wenn man eine ge-, gesamte Sprache spricht“ (426ff)

Anders ist es bei Semjon oder auch bei Sergej, der von ‚gemischten Lerngruppen‘ berichtet. Der bereits oben beschriebene Wunsch nach Selbstverständlichkeit zeigt sich oftmals bis zur Interviewsituation als drängendes Thema und wirkt sich auch auf die Freundschaftsbeziehungen aus. Fallübergreifend berichten die Interviewpartner von der Bedeutsamkeit geteilter Erfahrungshintergründe und Selbstverständlichkeiten für den Aufbau von Freundschaften. Pjotr erklärt: „Mit den russischen Leuten is einfacher. Wir haben gleiche Mentalität, oder nich Mentalität, sondern diese, kulture-, äm kulturelle Kontakt. Also zum Beispiel Zitate von Filmen oder, [mh] (.) wir verstehn uns von halbe Wörter, [ja] /lacht auf/ das is leichter als, /lacht auf/ (.) fremde Kulturen zu-, (.) ich kennen deutsche Kultur nicht, [mh] also ich kenne nicht, was die Deutschen als Kleinkinder für Film gesehn oder deutsche Geschichten, sie [ja] gehören zur Kultur, [mh] oder Büchern, Kindheitsbüchern, Kind-, wie spricht man? [Kinderbücher] Kinderbüchern, kenn ich auch nicht, Kinderfilmen kenn ich auch nicht. [mh] /lacht auf/ (.) [ja] (..)“ (542ff)

Auch andere junge Männer sprechen von den Dingen, die „zwischen den Kindern auch klar“ (Semjon, 1216f) waren, wie Inhalte bestimmter Kindersendungen, In-

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sider oder die Art, Geburtstag zu feiern. Dafür gebrauchen sie die Begriffe: gemeinsame ‚Mentalität‘ und ‚Kultur‘. Die Rekonstruktionen verdeutlichen jedoch, dass es sich dabei weniger um ethnische Zugehörigkeit handelt, denn um Ähnlichkeiten aufgrund geteilter Sozialisationserfahrungen und den Wunsch nach einem fraglosen ‚Verstandenwerden‘ und ‚Verstehenkönnen‘. Die fehlende geteilte Kindheit mit den autochthonen Gleichaltrigen in Deutschland – durch die sie sich von Angehörigen der zweiten Generation fundamental unterscheiden – wird als Hemmschuh für Freundschaften empfunden. Anton erzählt, er habe bereits überlegt, einmal den Kinderbuchklassiker ‚Max und Moritz‘ zu lesen, um das Verpasste ‚nachzufühlen‘. Dennoch bleibt eine Differenz, die nie aufgehoben werden kann. Die jungen Männer sind keine Kinder mehr und könnten sich die nicht geteilten Erlebnisse nur theoretisch aneignen, aber nicht affektiv zu eigen machen. Als eine weitere Möglichkeit für soziale Beziehungen hat sich in den Interviews das Internet herausgestellt. Mehrere Interviewpartner nutzen russischsprachige Internetforen und für Vadim wurde ausführlich auf seinen Blog eingegangen. Das interaktive Internet des 21. Jahrhunderts bietet – als räumlicher ‚nichtOrt‘ – ganz neue transnationale Austauschräume. Es ermöglicht, in der Muttersprache zu kommunizieren und die eigene Zugehörigkeitskonstruktion zu bearbeiten, kann aber auch eine Abkehr von der Mehrheitsgesellschaft darstellen. Mit zunehmendem Alter wandelt sich die Form der Gleichaltrigenbeziehungen. Die Bedeutung von Peergroups nimmt ab und Freundschaften zu einzelnen Personen erlangen größere Relevanz. Solche bauen alle Interviewpartner (fast ausschließlich zu russischsprachigen Personen) auf. Diese können als unterstützend und bereichernd bezeichnet werden. So erkundet Fjodor z.B. mit einem russischsprachigen Freund zusammen das kulturelle Leben der Großstadt, in der sie leben, was sich entscheidend auf seine Zukunftspläne auswirkt. 7.2.4 Soziale Unterstützung als wichtige Ressource Der Blick in die Konstellationen verdeutlicht, dass das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von sozialer Unterstützung entscheidend Einfluss nimmt. Als intergenerational bedeutsame Andere können Verwandte dienen, die bereits längere Zeit in Deutschland leben und somit in der Anfangsphase hilfreich zur Seite stehen können, etwa bei lebenspraktischen Dingen, wie Ämter- oder Arztbesuchen. Das Vorhandensein von Verwandten allein sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob und wie diese unterstützend tätig werden. Manche wohnten schlicht zu weit weg, andere zeigten wenig Interesse, den Neulingen zu helfen. Bei Sergej hingegen – und generell typisch für die Konstellation 3 – trugen die Verwandten entscheidend dazu bei, dass bereits die ersten Eindrücke in Deutschland positiv verliefen und

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die Söhne in der Anfangszeit nicht in eine Parentifizierung aufgrund der besseren Sprachkenntnisse gerieten, weil stattdessen die Verwandten Unterstützungsleistungen für die Eltern übernommen haben. In allen Fällen begrenzt sich diese Unterstützung jedoch auf die Anfangszeit und auch in der 3. Konstellation sind es später die Kinder der Familien, die ihren Eltern behilflich sind. Die Rekonstruktionen zeigen überdies, dass auch Lehrkräfte zu unterstützenden Anderen werden können. Einzelne LehrerInnen haben die Jugendlichen in ihren Fähigkeiten erkannt und sind gezielt auf spezielle Bedürfnisse eingegangen, etwa durch Einzelunterricht im Fach Englisch, das im Herkunftsland nicht unterrichtet wurde. Überwiegend haben sich die jungen Männer in den Bildungsinstitutionen jedoch von den Lehrkräften alleingelassen oder sogar diskriminiert gefühlt (vgl. Bär 2016, 302). Auch weitere erwachsene Personen, wie ArbeitgeberInnen oder KommunalpolitikerInnen haben sich im Einzelfall für die jungen Männer engagiert. So berichten die Angehörigen der 3. Konstellation mehrfach von Situationen, in denen sie von außen unterstützt wurden. Teilweise sind die jungen Männer aktiv auf mögliche UnterstützerInnen zugegangen, überwiegend haben sich die Gelegenheiten mit fremden Personen eher zufällig ergeben. Bei den jungen Männern dieser Konstellation zeigt sich deutlich ein positiver Einfluss durch soziale Unterstützung. Die Angehörigen der 1. Konstellation können auf keine der beschriebenen Varianten von sozialer Unterstützung zurückgreifen. In der 2. Konstellation zeigen sich wenige, dann aber hilfreiche Personen. Auch intragenerational können signifikante Andere als protektive Ressource wirksam werden (vgl. King 2013, 134). Von besonderer Relevanz haben sich die Partnerinnen der jungen Männer erwiesen. Die Partnerschaften vor der Migration sind (außer bei Sergej) an dieser zerbrochen. In Deutschland gehen jedoch viele der Männer wieder eine Beziehung ein, die sich fallübergreifend durch eine lange Dauer auszeichnen. Die Partnerinnen teilen allesamt die russische Sprache und die Migration im Jugendalter. Dabei zeigen die Rekonstruktionen, dass die Beziehungen durch den geteilten Sozialisationshintergrund in der (ehemaligen) Sowjetunion, den ähnlichen Erfahrungshintergrund der Migration und die gemeinsame Sprache entscheidend gestärkt werden. Das Eingehen von bi-nationalen Partnerschaften und Ehen wird in der Integrationsberichterstattung als einer der zentralen Indikatoren für Integration betrachtet (vgl. Filsinger 2011, 57). In diesem Sinne verhalten sich die Interviewpartner integrationshinderlich. Die Interviews machen jedoch deutlich, dass ihnen diese Beziehungen Rückhalt geben, der z.T. auch überhaupt erst dafür nötig ist, dass sie in die (fremde) Welt gehen und sich behaupten können. Aus dieser Perspektive ist (zumindest für Migrierte, die nicht in Deutschland geboren wurden) infrage zu stellen, ob solch eine Partnerschaft so deutlich als Zeichen gegen Integration gewertet werden sollte. Auffällig ist jedoch, dass in der Elterngeneration im Gegensatz dazu bi-nationale Verbindungen eingegangen

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worden sind und es in der Folgegeneration somit zu einer ‚Schließung‘ kommt. Einschränkend muss dazu allerdings angemerkt werden, dass in der Generation der Eltern eine hohe Assimilation derjenigen mit deutschem Hintergrund an das russische Umfeld stattgefunden hat (z.B. in Bezug auf Sprache und Bräuche). Ebenso sprechen die Rekonstruktionen dafür, dass auch Geschwister als wichtige intragenerationale Ressource füreinander fungieren können (vor allem in der Migrationssituation, in der die anderen generational gleichen Beziehungen – die Freundschaftsbeziehungen – zwangsläufig abbrechen). Studien gehen für Familien mit Migrationshintergrund davon aus, dass Geschwister als Vorbilder für Bildungsentscheidungen dienten und sich gegenseitig oftmals starke Unterstützung gäben (vgl. Wallace 2007; Tepecik 2011). Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen die Rolle (älterer) Geschwister als Vorbild und Hilfe für den Bildungsweg. Es hat sich jedoch auch als relevant erwiesen, die Rolle der Geschwister darüber hinaus zu betrachten. Auffällig ist, dass vor allem die Geschwisterbeziehungen in der 3. Konstellation nach der Migration eine Verbesserung erfahren und auch emotional zu einer starken Stütze werden. In den Konstellationen 1 und 2 hingegen werden die Geschwister eher zu Figuren der Abgrenzung, etwa in Hinblick auf den Grad der Anpassung an das autochthone Umfeld. 7.2.5 Eine große Herausforderung: die neue Sprache Als größte Herausforderung wird von den meisten Interviewpartnern konkret der Erwerb der deutschen Sprache im jungen Erwachsenenalter benannt; eine Aufgabe, die sich den Angehörigen der zweiten Migrantengeneration nicht stellt. Im Herkunftsland hat keiner der jungen Männer als Kind selbst Deutsch gesprochen. Überwiegend haben sie einzelne deutsche Worte von der Großelterngeneration gehört, meist jedoch keinen persönlichen Bezug dazu aufgebaut. Viele der Interviewpartner haben in der Schule das Fach Deutsch belegt, was mit der Zugehörigkeit und der geplanten Ausreise begründet wird. Allerdings berichten sie durchgängig, dass dieser Sprachunterricht kaum in Deutschland nutzbare Fähigkeiten hervorgebracht habe. Manche (ausschließlich junge Männer der 3. Konstellation) haben kurz vor der Ausreise noch einen Sprachkurs belegt, was als hilfreicher wahrgenommen wurde. Es kann jedoch gesagt werden, dass die jungen Männer fallübergreifend entweder ohne deutsche Sprachfähigkeiten oder mit wenigen auswendig gelernten Sätzen nach Deutschland migriert sind. Je nach Alter kamen sie daraufhin entweder in die Schule (z.T. zunächst in Auffangklassen) oder (meist nach einer Wartezeit) in einen mehrmonatigen Sprachkurs. An dieser Stelle lässt sich ein Unterschied bezüglich des Alters ausmachen. Diejenigen, die in Deutschland in die Mittelstufe eingestiegen sind, schildern den deutschen Spracherwerb

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zwar auch als Herausforderung, jedoch als eine, die sie in ihren Augen recht schnell und gut gemeistert haben. Zwei von ihnen erzählen zudem, dass sie sehr gerne Bücher auf Deutsch lesen und die Zweisprachigkeit als persönlichen Gewinn empfinden, wie z.B. Semjon: „da sind‘s immer so zwei Bücher, die ich parallel [ja] lese und die Philosophen sind in Deutschland besser /lacht/ so und die Belletristik [mh] find ich aus Russland besser, [mh] das, ich hab den Genuss quasi beider Sprachen, [lacht] [ja] also in diesem Fall (.) ist das ein kleiner Jackpot. [kichert] [auf jeden Fall] irgendwie. (.)“ (1069ff)

Die mitgebrachten Russischkenntnisse können im Kontext von Schule und Universität überwiegend nicht genutzt werden. Nur Jevgenij kann seine muttersprachliche Kompetenz in der Oberstufe im Russisch-LK anwenden. In den anderen Fällen kommt es z.T. sogar zu einer expliziten Abwertung der Muttersprache, so erzählt Semjon wie sich eine Lehrkraft verächtlich über seine Sprache geäußert habe. Maxim berichtet über seine Erfahrungen an der Universität: „zum Beispiel, wenn ich zu Professor A, er is Stellvertretender von Prüfungsausschuss, [mh] komme und sage: Wissen Sie was, ich weiß nich, ob ich besser dieses oder jenes Schwerpunkt mir auswählen soll, [mh] oder dieses oder jenes Klausur schreiben. Dann sagt er: Du musst zuerst deutsche Sprache lernen [oh] und dann zu mir kommen, [mh] sonst wird es nix. /lacht irritiert auf/ Dann fragt man sich, ob man da richtig ist [mh]“ (402ff)

Hier lässt sich auf den ‚monolingualen Habitus‘ (Gogolin 1994) der deutschen Schule verweisen. In Hinblick auf die Hochschule könnte man von einem bilingualen Habitus sprechen, der neben dem Deutschen das Englische in den Fokus rückt, jedoch keine anderen Sprachen. Vor allem die jungen Männer, die in Deutschland nicht mehr die Regelschule besucht haben, stellen den Spracherwerb in den Interviews als ein belastendes Thema dar. Dabei muss allerdings einbezogen werden, dass diese auch insgesamt eine geringere Zahl von Jahren in Deutschland leben. Oftmals haben sie eine Wartezeit zwischen der Ankunft und dem ersten Sprachkurs. Die jungen Männer sind sich bewusst, dass sie in Deutschland nur an ihren vorherigen Bildungsweg anknüpfen können, wenn sie über ausreichend Sprachkenntnisse verfügen. In der Folge zeigen sie oftmals eine beachtliche Lernleistung. Sergej bekommt beispielsweise ein Buch über Geschäftsdeutsch in die Hände und liest jeden Tag darin, obwohl der Inhalt fachspezifisch ist. Dabei stellt es für ihn eine große Bestätigung dar, als er infolgedessen Wörter in amtlichen Schreiben wiedererkennt und versteht. Andere versuchen, sich über das Fernsehprogramm Sprachkenntnisse anzueignen. Insgesamt zeigen sich die kreativen und beeindruckenden Anstrengungen,

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die die jungen Männer unternehmen, die eventuell auch damit in Zusammenhang zu sehen sind, dass sie überwiegend bereits im Herkunftsland hohen Bildungsaspirationen gefolgt sind und z.T. auch bereits Erfolge erzielt haben. Die Angehörigen der 3. Konstellation ‚werfen‘ sich zudem infolge erster Lernzuwächse bewusst in Situationen, in denen sie Deutsch sprechen müssen, auch wenn es ihnen schwerfällt und machen so rasch Fortschritte. Indem sie infolgedessen gebeten werden, z.B. für andere Migrierte zu dolmetschen, fühlen sie sich wieder kompetent und machen Selbstwirksamkeitserfahrungen. Die jungen Männer aus der 1. Konstellation hingegen reagieren auf ihre mangelnde Sprachfähigkeit mit einem Rückzug, der ihnen das Erlernen zusätzlich erschwert. Es erscheint wie ein Teufelskreis: Einerseits entscheidet die Sprachfähigkeit mit über die Möglichkeit, soziale Beziehungen aufzubauen. Andererseits sind soziale Beziehungen der Raum, in dem Sprachkenntnisse en passant erworben werden können. Noch für die Zeit der Universität berichten diese Interviewpartner davon, dass sie sich aufgrund ihrer Sprachkompetenz nicht trauen, Nachfragen zu stellen oder Antworten zu geben. Wenn die Sprache zudem von außen „als Indikator von Kompetenz und Intelligenz konstruiert wird und sprachliche Schwierigkeiten als mangelnde fachliche Kompetenz oder ‚Dummheit‘ bewertet werden“ (Discher/Plößer 2010, 9), wie es das Beispiel Maxims oben verdeutlicht, kann das Selbstbild dadurch negativ berührt werden. Einige der jungen Männer zeigen im Interview eine elaborierte Sprachkompetenz, dennoch geben auch diese an, dass sie durch ihren Akzent immer sogleich als Nicht-Muttersprachler erkannt würden, was oftmals negative Folgen mit sich brächte. Der Akzent wirkt als Fremdheitsmarker, als sichtbares Zeichen des Migrationshintergrundes, aufgrund dessen sie von einem autochthonen ‚Wir‘ exkludiert werden (vgl. 2.2.3). Auch dann, wenn deutliche Versuche der Anpassung, wie die Annahme eines deutschen Namens, unternommen wurden. 7.2.6 Bildungserfolg – der Weg zum Studium Alle einbezogenen jungen Männer befanden sich zur Zeit des Interviews im Studium. Angesichts der geschilderten Herausforderungen stellt sich beim Lesen unweigerlich die Frage, wie ihnen der erfolgreiche Bildungsabschluss in Deutschland und/oder der Beginn des Studiums jeweils gelingen konnte. Für junge Spätaussiedlerinnen gibt es zwei Studien (Schmidt-Bernhardt 2008; Ruhland 2009), die das Thema Bildungserfolg betrachten. Als Hauptargument für den Erfolg wird in beiden vor allem der Wunsch der jungen Frauen ausgeführt, für ihre Mütter erfolgreich sein zu wollen. In dieser Arbeit stehen bildungserfolgreiche Männer im Mittelpunkt, weil die bisherige wissenschaftliche Betrachtung männlicher

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Spätaussiedler fast ausschließlich defizitorientiert ausgerichtet ist. Aus forschungspragmatischen Gründen wurden die Bedingungen für den Erfolg jedoch nicht zur zentralen Analysekategorie gemacht, denn dies hätte eine andere Schwerpunktsetzung der Arbeit benötigt. Dafür wäre es z.B. wichtig gewesen, (themen-)spezifische Nachfragen zu stellen und das Thema Migration und Bildung intensiv zu beleuchten. Daher kann nicht konkret beantworten werden, warum die jungen Männer erfolgreich sind. Ausgehend von den Rekonstruktionen lassen sich jedoch Faktoren benennen, die den Erfolg begünstigt haben können. Wichtig ist es dabei zu betonen, dass es keine ‚einfache‘ oder monokausale Erklärung gibt. Förderlich ist in jedem Fall, dass viele der jungen Männer bereits im Herkunftsland kulturelles Kapital erworben haben (vgl. Bourdieu 1992). So hat beispielsweise bereits knapp die Hälfte schon in der ehemaligen Sowjetunion ein Studium begonnen. Zudem sind viele der Eltern bildungsaffin (mit eigenem akademischen Hintergrund oder gerade deshalb, weil ihnen dieser nicht möglich war) und äußern hohe Bildungsaspirationen für ihre Söhne. Dies kann – gerade in Verbindung mit negativen Erfahrungen der Eltern im Zuge der Migration – bei den jungen Männern zu dem Bestreben führen, den Bildungserfolg für die entwerteten und leidenden Eltern zu erlangen (1. Konstellation). Dies entspricht dem Muster, das Schmidt-Bernhardt (2008) und Ruhland (2009) für die jungen Frauen ihrer Studien herausgearbeitet haben (vgl. auch Bär 2016). Darüber hinaus möchten die Angehörigen der 1. Konstellation aber auch für sich selbst erfolgreich sein, um damit an Vergangenes anzuknüpfen und ihr Selbstbild erhalten zu können. Auch in der 3. Konstellation hegen die meisten Eltern hohe Bildungsaspirationen für ihre Söhne, doch lassen sie ihnen auch Freiraum, sodass es den jungen Männern gelingt, den Erfolg zur eigenen Sache zu machen (vgl. Zölch et al. 2009, 75). Unterstützend wirken vor allem signifikante Andere und die Selbstwirksamkeitserfahrungen, die die jungen Männer in Deutschland schon früh machen konnten und die sie auf ihrem Weg stärken. Für die 2. Konstellation könnte man davon sprechen, dass die jungen Männer trotz ihrer Eltern erfolgreich sind. Die Eltern zeigen sich wenig hilfreich, dafür erlangen signifikante Andere außerhalb der Familie Bedeutung. Bildung wird von diesen jungen Männern, die in der adoleszenten Entwicklung aufgrund der verweigerten Auseinandersetzung durch die Eltern wie gefangen erscheinen, auch als Verlängerung des Moratoriums genutzt. Insgesamt zeigt sich, dass formal erfolgreiche Bildungskarrieren auch dann möglich sind, wenn sich die jungen Männer (noch) nicht von ihren Eltern abgelöst haben. Dies bestätigt King et al. (2011), die junge Männer mit türkischem Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation untersucht haben.

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Darüber hinaus zeigen die rekonstruierten Lebensgeschichten jedoch auch deutlich, dass hinter dem ‚Label‘ bildungserfolgreich sehr unterschiedliche Wege stehen können, die nicht immer geradlinig und problemlos verlaufen, worauf auch Schwendowius (2015, 93) in ihrer Studie hingewiesen hat. Die formalen Bildungsverläufe der jungen Männer sind in Deutschland vielmehr phasenweise durch Brüchen, Krisen und Scheitern geprägt. Deutlich werden die besonderen und beeindruckenden Anstrengungen und Leistungen, die die jungen Männer zeigen, um ein Studium beginnen und durchführen zu können. Dabei sind einige der strukturellen und psychischen Herausforderungen als aufstiegstypisch (auch für einheimische Bildungsaufsteiger) zu benennen (vgl. z.B. King 2008a). So macht Semjon etwa die Erfahrung, sich durch seinen Bildungsaufstieg vom Herkunftsmilieu zu entfernen und in der Folge quasi zwischen zwei Milieus zu stehen und keinem der beiden fraglos anzugehören. Hinzukommen migrationstypische Herausforderungen, die den Aufstieg erschweren und die Bildungsaufsteiger ohne Migrationsgeschichte nicht zu bewältigen haben. Das können beispielsweise sprachliche Schwierigkeiten oder Erfahrungen institutioneller Diskriminierung sein. 7.2.7 Adoleszente Auseinandersetzungen mit der eigenen Zugehörigkeit Die Beschäftigung mit Zugehörigkeitsfragen ist konstitutiver Bestandteil der adoleszenten Auseinandersetzungen. Zugehörigkeit, soziale Ein- und Ausgrenzungsprozesse sowie Wir-Gruppenbildungen sind bedeutsam für das ‚Hineinentwickeln‘ der Heranwachsenden in die Gesellschaft. Zugehörigkeit ist demnach ein Thema, das sowohl im Kontext von Adoleszenz als auch von Migration zentral ist. Dabei handelt es sich jedoch, so zeigen die ausgewerteten Fälle, um mehr als eine bloße (thematische) Überschneidung, denn auch hier kommt es durch das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration zu einer spezifischen Konstellation. Wenn ein Heranwachsender sich in der Adoleszenz ohnehin mit Fragen nach seiner natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit befasst und zudem in diesem Alter eine Migration stattfindet, wodurch ebenfalls die Auseinandersetzung mit diesem Thema virulent wird, entsteht eine besondere Verflechtung. Im Falle der (Spät-)AussiedlerInnen kommt eine spezifische, mehr als zweihundertjährige Geschichte der Migrationen, Stigmatisierungen und Deportationen hinzu, die transgenerational wirksam werden kann und beispielsweise in der Elterngeneration oftmals zu forcierten Anpassungsbemühungen an das russischsowjetische Umfeld geführt hat (vgl. Kap. 1). So entstammen alle interviewten Personen einer bi-nationalen Verbindung. Wie bereits angeführt spricht die Literatur davon, dass ein Anpassungs- und Aufstiegsbestreben bestand, wenn Deutsche dieser Generation russische EhepartnerInnen wählten (vgl. Rosenthal et al.

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2011). Die Verfolgungsgeschichte ihrer Groß- und/oder Urgroßeltern skizzieren die jungen Männer (z.T. erst auf Nachfrage) nur vage. Es werden die Rahmendaten angeführt, die für die Legitimation der Aussiedlung nach Deutschland Relevanz besitzen, doch weitere Details fehlen. Dies kann Folge der historischen Entwicklungen sein, denn Metz (2016) weist darauf hin, dass bis in die 2000er-Jahren keinerlei „Aufarbeitung der durch staatliche Gewalt erlebten tragischen Ereignisse“ (140) in der (ehemaligen) Sowjetunion stattgefunden habe und dies auch seitdem nur punktuell geschehe. „Sowohl die Erfahrungen während der stalinistischen Repressionszeit als auch die Auswirkungen des Deutsch-Seins konnten in der sowjetischen Öffentlichkeit damals nicht verarbeitet werden“ (ebd., 140f), sodass sie von einem „kollektiven Trauma“ (ebd., 141) ausgeht, das in den Familien oftmals zu einer Tabuisierung von Themen rund um die Repressionserfahrungen geführt habe. Ein Teil hat im Herkunftsland Diskriminierungen aufgrund der deutschen Zugehörigkeit erfahren. Semjon und seine Eltern seien z.B. als „Faschisten“ (598) bezeichnet worden. Ebenso haben diejenigen, die in Kasachstan aufgewachsen sind, nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes Zurückweisungen aufgrund der russischen Zugehörigkeit des anderen Elternteils erlebt. Dadurch ist für die Kindergeneration die komplizierte Ausgangslage entstanden, dass sie im Herkunftsland ‚als Russen’ gelebt haben, aber auch eine deutsche Familiengeschichte im Hintergrund hatten, die dann im Zuge der Migration besondere Relevanz erfahren hat. Zu dieser bestand zwar bewusst nur ein vager Bezug, intergenerational haben aber eventuell Transmissionen stattgefunden. Mit der Ausreise erhalten sie die deutsche Staatsangehörigkeit, wozu Maxim erklärt: „Und wir haben gewusst, dass äh wir haben, wenn wir nach Deutschland ziehen, haben wir gleiche Rechte wie Deutsche, [mh] weil wir als Deutsche eingestuft werden“ (187ff). Dies verleiht einen sicheren Status und die Hoffnung, gleichberechtigt anerkannt zu werden. Zugleich entsteht dadurch aber auch ein gewisser Druck, ‚deutsch‘ zu sein, der bei Personen mit anderen Migrationshintergründen in dieser Weise nicht vorliegt. In den meisten Fällen führt dies zunächst zu dem Versuch einer forcierten Anpassung, z.T. auch verbunden mit der Annahme eines deutschen Vornamens (was zumeist von den Eltern in der Hoffnung veranlasst wird, dass dieser ihrem Kind die Integration erleichtern würde). Dies widerspricht Kiels (2009) Aussage, dass bi-nationale Familienmitglieder nicht die Vorstellung eines Anspruchs auf die Zugehörigkeit zur bundesdeutschen Gesellschaft hätten und sich in der Folge nach der Migration auch nicht mit ihrer eigenen ethnisch-kulturellen Orientierung auseinandersetzen (vgl. 181) müssten. Vor allem durch die Lebensumstände in den Aufnahmeeinrichtungen und Notwohnungen bekommen die Migrierten jedoch bereits unmittelbar nach der Einreise das Gefühl vermittelt, nicht gleich zu sein. Die Rekonstruktionen machen deutlich,

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dass die ‚formelle‘ Mitgliedschaft (vgl. Mecheril 2002, 110) in Form der deutschen Staatsangehörigkeit oder eines deutschen Vornamens nicht davor schützt, auf ‚informeller‘ Ebene von anderen dennoch als nichtzugehörig wahrgenommen und behandelt zu werden, wie es unter 2.2.3 ausgeführt wurde. Nach der Definition von Mecheril (2002) liegen bei den jungen Männern ‚prekäre‘ Zugehörigkeiten vor. Die Erfahrungen von Ausschluss und Fremdheit „markieren das Ende der Illusion“ (Schwendowius 2015, 316), in Deutschland als Gleiche unter Gleichen leben zu können. Auch dort machen sie Differenzerfahrungen, werden von der Ankunftsgesellschaft nicht als gleichwertig anerkannt, sondern (nun) mit der Zuschreibung ‚Russe‘ konfrontiert und ausgegrenzt. Sie erleben Akte der „Verweisung“ und „Entantwortung“ im Sinne von Terkessidis (2004). Für den ersten ist die Frage nach dem Ort der Herkunft typisch, die oftmals erst dann als befriedigend beantwortet betrachtet werde, wenn ein ausländischer Ort als Ursprung angegeben wird (vgl. ebd., 180); bei dem zweiten handele es sich um einen Vorgang, bei dem die MigrantInnen von den Autochthonen nicht als Individuen, sondern als Angehörige einer bestimmten Gruppe, verbunden mit Klischees und Vorurteilen, betrachtet und angesprochen würden (vgl. ebd., 186). Neben dem täglichen Gefühl, ‚anders zu sein‘ und nur schwer mit Autochthonen in Kontakt zu kommen, machen die befragten jungen Männer teilweise auch Erfahrungen von Diskriminierung und Fremdenhass. Die offizielle Bezeichnung als Deutscher stimmt weder mit dem Selbst- noch mit dem Fremdbild überein. Somit bleiben sie Opfer der „Etablierten-Außenseiter-Figuration“ (im Sinne von Elias und Scotson 1965).66 Weil sie in diesem Sinne von der Mehrheitsgesellschaft nicht als vollkommen zugehörig betrachtet worden seien, hätten die InterviewpartnerInnen von Schramkowski (2007) überwiegend eine Abkehr von der Strategie der Anpassung vorgenommen (vgl. 271). So ist es auch für die überwiegende Zahl der Interviewpartner dieser Studie zu beobachten. Dabei kann der Rückbezug auf ‚das Russische‘ nur in einigen – zumeist zeitlich begrenzten Situationen – als Rebellion gegen und Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft gelesen werden. Zumeist ist die Selbstethnisierung nicht als bewusste Distanznahme zu verstehen, sondern als zwangsläufige Folge fehlender anderer Bezüge und Zuflucht angesichts eines beschädigten Selbstbildes aufgrund beschränkter Handlungsmöglichkeiten (vgl. dazu auch Yazıcı 2011, 181). Im Laufe der Jahre finden sich bei den meisten jungen Männern Versuche der ‚Mischung‘ und ‚Neubildung‘, jedoch in keinem Fall so ausgeprägt, wie es im 66 Die fehlende Anerkennung durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft drückt sich auch darin aus, dass mir mehrere Interviewpartner nach dem Gespräch explizit dafür dankten, dass ich ihre Geschichte angehört habe. Es sei ein gutes Gefühl für ihn, dass sich jemand für ihn interessiere, meinte z.B. Maxim zu mir, denn das sei nicht üblich. So viele ‚Ausländer‘ würden studieren und keinen interessiere es, so seine Worte.

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Forschungsstand über andere Studien berichtet wurde (z.B. der ‚dritte Stuhl‘ von Badawia 2002). Eventuell hat auch dies mit der geringeren Aufenthaltsdauer in Deutschland zu tun, denn die in unter 2.2 und 3.1 dazu zitierten Studien beziehen sich auf Angehörige der zweiten Generation. Zudem benennt sich keiner der jungen Männer – auch nicht die der 3. Konstellation – als ‚integriert‘, obgleich alle in Deutschland studieren, was sich ebenfalls mit den Ergebnissen von Schramkowski (2007) deckt. Interessant ist es, darüber hinaus den Einfluss der Zugehörigkeitskonstruktionen auf die familialen Beziehungen zu betrachten, durch die Abgrenzung oder Nähe hergestellt werden kann. So leben z.B. Antons Eltern als ‚Russen‘, sein Bruder als ‚Deutscher‘ und er selbst hält durch seine ‚Mischung aus beidem‘ die Familiendynamik in Balance. Zudem wird das natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsgefühl – ebenso wie das Thema Sprache – wiederholt als Abgrenzungsmechanismus gegenüber Geschwistern gebraucht. Es erweist sich daher als bedeutsam, dass Thema Zugehörigkeit nicht nur in Zusammenhang von Selbst- und Fremdzuschreibungen zu betrachten, sondern vermehrt auch im Kontext der Familienkonstellationen. 7.2.8 ‚Bedeutsame Orte‘ Vor allem in den Interviews mit den Angehörigen der 1. Konstellation spielt ‚Heimweh‘ eine wichtige Rolle. Dies widerspricht der generalisierenden Aussage Schmitzs (2013), dass bei jungen SpätaussiedlerInnen kein „Verlangen nach Heimat“ (266) und Verortung bestehe. Dabei handelt es sich jedoch nicht zufällig um jene, die in Deutschland bisher am wenigsten ‚angekommen‘ sind. Sanders (2015) verweist auf das Entstehen von Heimweh als Reaktion auf die Situation im Aufnahmeland: „Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, scheint oft eine allgemeine Nostalgie für die Vergangenheit zu bewirken“ (300), wobei es z.T. auch retrospektiv zu Idealisierungen komme (vgl. Han 2005, 241). Das in den Interviews dargestellte ‚Heimweh‘ bezieht sich vor allem auf einstmals bestehende Beziehungen und Situationen. Idealtypisch lässt sich dies bei Vadim aufzeigen, der seine Freunde und das Gefühl, der ‚Star‘ unter ihnen zu sein, vermisst – eine Situation, die heute, Jahre später, vermutlich auch am Herkunftsort nicht mehr so bestehen würde. Vadim hat die Situation jedoch für sich „eingefroren“ (Ålund 2003, 38) und ihr „die Rolle des Symbols für ein glückliches Leben“ (Sanders 2015, 304) gegeben, nach dem er ‚Heimweh‘ hat. Angesichts seiner Begrenzungserfahrungen in Deutschland kann dies als nachvollziehbare Reaktion betrachtet werden. Jedoch trägt die fehlende Umgestaltung der Haltung zum Herkunftsland wiederum dazu bei, dass die Aneignung des Ankunftslandes erschwert wird. Auch bei Semjon

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wird deutlich, dass es um die Sehnsucht nach einer bestimmten Situation bzw. einem Lebensabschnitt geht – bei ihm die größere Leichtigkeit und Verantwortungslosigkeit der Kindheit – die er mit seinem Herkunftsland verbindet. An diesem Punkt lässt sich deutlich auch die Verbindung zur Adoleszenz aufzeigen. Die Sehnsucht nach der verlassenen Kindheit führt auch zur Sehnsucht nach einem anderen Ort. Angehörige der zweiten Generation, die bereits in Deutschland geboren wurden, können von einem ‚Heimweh‘ im hier beschriebenen Sinne daher nicht betroffen sein. In den sehnsüchtigen Erzählungen über das Herkunftsland spielen immer wieder auch besondere Orte eine Rolle, die mit Emotionen aufgeladen sind. Ein eindrückliches Beispiel dafür stellt die Erzählung Pjotrs über die Wolga dar. Das Interview mit ihm zeichnet sich im Vergleich durch die größten sprachlichen Schwierigkeiten aus. Er bleibt zumeist an der Oberfläche und gibt wenig Einblick in seine Gefühlswelt, über die Wolga an seinem Heimatort erzählt er jedoch: „Ich hab in Wolga geboren, in der Wolga gewohnt, ganze meine Leben hab ich in Wolga. [mh] Und Wolga ist also eine große und (..) /atmet aus/ /lacht leicht/ sie is breiter als ‚A-Fluss in Deutschland‘, sie ist acht Kilometer breit, [mh] also wie ein Meer kannst du [mh] keine andere Ufer sehn [mh] und jede Sommer haben wir von morgens bis abends an der Wolga gespielt, geschwommen [mh] und das war ein schönste Tag. /lacht leicht/ [mh] […] Also Wolga ist eine, ist immer dabei, [mh] /lacht leicht/ ist immer in der Nähe. [mh]“ (49ff)

Pjotr stellt sein Leben als innig verbunden mit dem Fluss dar. Im Konzept der ‚Therapeutischen Landschaften‘ spielen Orte bzw. places eine besondere Rolle (vgl. Gebhard/Kistemann 2016, 10). „Indem wir mit einem Ort interagieren, entstehen bewusste und unbewusste Sinn- und Bedeutungszuschreibungen: Raum wird zu Ort/place transformiert, indem persönliche, soziale und kulturelle Prozesse der Aneignung dem Raum Bedeutungsschichten aufsetzen“ (ebd., Herv. i. O.). Dabei würden vor allem die Kindheitsorte einen hohen Stellenwert einnehmen (vgl. Lengen 2016a, 22). Die Narrationen über die bedeutsamen Orte sind oftmals mit Naturerfahrung und Familienleben verknüpft. So spricht auch Maxim von der besonderen Bedeutung eines Flusses, an dem auch ein Teil des Familienlebens (angeln, Fische vor Ort essen) stattfand und in mehreren Interviews wird ausführlich über die eigene Datscha und die familialen Erlebnisse dort berichtet. Lengen (2016b) führt aus, dass ein unbekannter Ort Gefühle des Ausgeschlossen-Seins und der Fremdheit wecken könnte, „wodurch eine Verunsicherung entsteht und krankmachender Dysstress ausgelöst wird“ (185). Auch wenn sie den Begriff Migration nicht konkret verwendet, wird dieser Kontext durch ihre Ausführungen denkbar („Draußen oder drinnen, zu Hause oder in der Fremde“

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(ebd.)). In vielen Interviews wird explizit ein Ort mit solch negativen Empfindungen verbunden, und zwar das ‚Lager‘, in denen einige in Deutschland über Monate leben mussten. In Jurijs Interview etwa nimmt die Erzählung zu der Zeit in der Aufnahmeeinrichtung einen großen Raum ein. Er zeichnet ein Bild, das einen an einen Horrorfilm à la Hollywood denken lässt, mit übernatürlich großen Kakerlaken und schrecklichen Nachbarn. Und in Antons Erzählung wirkt das ‚Lager‘, das sich in einer ehemaligen Kaserne befand, wie ein abgeschiedener Raum im Niemandsland, ein kleines Russland im Nichts. Wie Lengen es beschreibt, erfahren die jungen Männer dort ein Gefühl von „Außen-Sein, Ausgeschlossen- und Wurzellos-Sein“ (ebd.). Jedoch hat sich in mehreren Interviews ebenso gezeigt, dass die jungen Männer nach einiger Zeit in Deutschland bestimmten Orten eine positive Bedeutsamkeit zuschreiben. Auffällig ist, dass sich keiner als mit Deutschland (an sich) verbunden bezeichnet, viele jedoch einen emotionalen Bezug zu der Stadt aufgebaut haben, in der sie leben. Wie ausgeführt erzählt Vadim von seiner regionalen Bindung und ‚Liebe‘ zu seinem Wohnort in Deutschland. Dabei gibt es bestimmte Orte, an denen er sich besonders wohlfühlt und die er künstlerisch fotografiert auf seinem Blog mit anderen teilt. Fjodor baut solch einen Bezug zu den Kulturstätten (z.B. der Oper) auf, mit denen er auch den Wandel seiner Zukunftspläne verbindet. Es entsteht ein Gefühl des „Drinnen-Sein[s], Sich-Identifizieren[s]-mit“ (Lengen 2016b, 185). Manche träumen von einem eigenen Haus in der Stadt, durch das eine ‚Verwurzelung‘ stattfinden könnte. Und sogar Pjotr versucht, sich mit dem Fluss, der durch die Stadt fließt, in der er in Deutschland lebt, über die schmerzlich vermisste Wolga hinwegzutrösten, auch wenn dieser nicht mit der gleichen Emotionalität und den innigen Kindheitserinnerungen aufgeladen ist. Es zeigt sich, dass die Möglichkeit besteht, dass auch im Jugend- und Erwachsenenalter neue Orte mit Bedeutsamkeit belegt und mit Erlebnissen und Gefühlen verbunden werden können. Eventuell wohnt diesen, wie im Konzept der ‚Therapeutischen Landschaften‘ enthalten, das Potential inne, zur „Quelle für Gesundheit und Wohlbefinden“ (Gebhard/Kistemann 2016, 13) zu werden. Dies lässt an die ‚lokale Zugehörigkeit‘ (vgl. Mecheril/Hoffarth 2009, 254f) denken, allerdings geht es dabei weniger um eine – durch soziale Beziehungen vermittelte – Zugehörigkeit in Bezug auf einen bestimmten Raum. Ausgehend von diesen Beobachtungen erscheint es fruchtbar, die Relevanz ‚bedeutsamer Orte‘ explizit im Kontext von Migration zu untersuchen.

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Theoretische Verallgemeinerung

7.2.9 Männlichkeit und die Auseinandersetzung mit dem Vater (und der Mutter) Es wurde ausgeführt, dass bei einigen der interviewten jungen Männer phasenweise ein selbst ethnisierender Rückzug in eine herkunftsbezogene Peergroup stattgefunden hat. In diesen kommt es, wie in der Literatur beschrieben (vgl. Resch 2002, 64), zu männlich konnotierten problematischen Verhaltensweisen, wie Alkoholkonsum oder gewalttätigen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Gruppen. Es findet ein Rückgriff auf dominante bis destruktive Männlichkeitskonstruktionen statt. Angesichts der eigenen Ressourcenarmut und der Marginalisierungen von außen verleihen der Zusammenhalt in der Eigengruppe und die Verkörperung eines starken Männlichkeitsbildes ein Gefühl von Stärke. Auffällig ist, dass solch eine Phase charakteristisch für die 2. Konstellation und damit die jüngsten Interviewteilnehmer ist. Es ist daher möglich, dass diese Bewältigungsform eher typisch für die frühe Adoleszenz ist. Gegenteilig finden sich vor allem bei den Angehörigen der 1. Konstellation internalisierende Bewältigungsformen, wie depressive Phasen, die in der Literatur eher den jungen Frauen zugeschrieben werden. Dies kann zum einen mit dem fehlenden Gruppenanschluss in Deutschland zusammenhängen und zum anderen mit der familialen Konstellation, die ein externalisierendes Verhalten der Söhne kaum zulässt. Für Angehörige der 3. Konstellation und mit zunehmendem Alter auch für die der 2. Konstellation, bietet sich in Deutschland – im Vergleich zum skizzierten Möglichkeitsraum im Herkunftsland – eine Erweiterung des individuellen Spektrums an Ausgestaltungsmöglichkeiten von Männlichkeit. Dies betrifft z.B. die Ausgestaltung von Vaterschaft, den Umgang mit Nahrung und Körpergestaltung oder die Wahl eines weiblich konnotierten Studienfaches. Dies führt zu (destruktiven bis fruchtbaren) Auseinandersetzungen mit den Eltern. Darüber hinaus bestätigen die Rekonstruktionen die Annahme anderer Studien (vgl. z.B. Sauter 2000), dass die Auseinandersetzung mit dem Vater und seinem Modell von Männlichkeit eine zentrale Rolle für die Heranwachsenden spielt. Im Zuge der Migration erfahren die Väter fast aller interviewten Männer eine berufliche Abwertung. Manche erleben ihre Väter zudem unter massiven Sprachproblemen leidend und sehen ihren Rückzug in Freundschaftsbeziehungen der Herkunftsgruppe. Dabei zeigen die Söhne unterschiedliche Strategien, mit dem Leid und der Entwertung ihres Vaters umzugehen. Erstens lässt sich eine Abwertung des Vaters beobachten, verbunden mit einem gegenteiligen Lebensmodell, das zugleich die Verstricktheit ausdrückt. Zweitens zeigt sich der Versuch, den Vater angesichts anderer Kompetenzen dennoch ‚hochzuhalten‘, um sich nicht mit der veränderten Position im Zuge der Migration auseinandersetzen zu müssen. Dies ist jedoch zugleich damit verbunden, dass in den defizitären Bereichen eine Parentifizierung des hilflos erscheinenden Vaters stattfindet. Und drittens ist die

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Variante zu beobachten, sich offen, aber nicht beleidigend mit den Veränderungen des Vaters zu befassen und diesen konstruktiv zu unterstützen, ohne sich jedoch dessen Leid zu eigen zu machen. Darüber hinaus weisen die Ergebnisse darauf hin, dass – anders als in der Geschlechterforschung angenommen (vgl. z.B. Apitzsch 1990; Herwartz-Emden et al. 2000) – für die jungen Männer auch die durch die Migration veränderte Rolle der Mutter eine besondere Relevanz erfahren kann. Vor allem dann, wenn ihre Verluste infolge der Migration – emotional wie beruflich – größer sind als die des Vaters und sie zugleich das Elternteil ist, das die Nähe zum Sohn besonders sucht. Es besteht die Annahme, dass in Migrantenfamilien die Stellung der Mutter strukturell gestärkt werde, da sie sich im Ankunftsland oftmals „neben dem Bereich der Familie auch den der Berufswelt“ (Apitzsch 2003, 75) erobere. Da es in der (ehemaligen) Sowjetunion jedoch üblich war, dass auch die Frau berufstätig ist und trotzdem den größten Teil der Hausarbeit und Kindererziehung übernimmt (vgl. Sekler 2008, 124), gilt Apitzschs Argumentation eher umgekehrt. Denn infolge der Migration im mittleren Erwachsenenalter finden viele Frauen zunächst oder auch langfristig keine – oder keine an die vorherige Tätigkeit anschließende – Berufstätigkeit (vgl. Westphal 2003, 129ff), sodass sie infolge der Aussiedlung etwas verlieren. Statt der ‚Peergroup-Orientierung‘ der Jugendphase, die Apitzsch (2003) in ihrer Studie den jungen Männern zugeschrieben hat und die sie „traditionellerweise von Pflichten und Verantwortungen für die Familienarbeit“ (72) freisetzen würde, kommt es für einige der jungen Männer aus dieser Studie in Deutschland dann eher zu einer ‚familienorientierten Prägung‘, die im Gegensatz zu ihrer Position vor der Migration steht. Diese Konstellation hat Apitzsch in ihrer Untersuchung in Bezug auf die weiblichen Heranwachsenden gefunden. Es lässt sich daher die These formulieren, dass es weniger eine Frage des Geschlechts ist, ob sich eine Familienorientierung entwickelt, sondern die familiale Konstellation darüber entscheidet, welchem Kind diese ‚Rolle‘ zukommt. In der Familie von Vadim z.B. gibt es keine Töchter, sondern drei Söhne, von denen einer die Aufgabe übernimmt, die Wünsche der entwerteten Mutter zu erfüllen (vgl. hierzu auch Zölch 2015). Schließlich zeigt sich vereinzelt auch die Situation, dass nach der Migration zunächst die Söhne im Verhältnis zur Familie entwertet werden. So können beispielsweise Antons Eltern und der Bruder zunächst recht erfolgreich ins deutsche Schul- und Arbeitswesen einsteigen, wohingegen er eine deutliche Zurückstufung erfährt. Die abweichenden Verhaltensweisen (z.B. Alkoholexzesse) können in diesem Fall nicht als Folge der Entwertung des Vaters gedeutet werden, wie Sauter (2000) es für junge Männer herausgearbeitet hat, sondern als Reaktion auf die eigene Entwertung. Es zeigt sich demnach auch hier, dass stets die familiale Konstellation in den Blick genommen werden muss.

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Theoretische Verallgemeinerung

7.2.10 Von zentraler Bedeutung: die familialen Beziehungen und die generative Haltung der Eltern Die adoleszenten Entwicklungen der jungen Männer in Deutschland hängen zum einen entscheidend mit ihrem Erleben der Migration (z.B. Selbstbild) zusammen; zum anderen mit den familialen Beziehungen und der Art der generativen Haltung der Eltern nach der Migration. So zeigen die dargestellten Konstellationen, dass eine Individuation nur dort gelingt, wo die Eltern sowohl emotionalen Halt geben als auch Freiheiten gewähren. Das Alleingelassensein und das Verweigern von Auseinandersetzungen bei der 2. Konstellation verunmöglichen es, sich abzulösen. Und für die 1. Konstellation ließ sich deutlich herausarbeiten, dass die erhöhte Bindung eine Individuation kaum zulässt. Wie bei Rohr (2001) in Bezug auf junge Frauen geäußert, erschwert dies eine „unabhängige, emanzipatorische Identitätsentwicklung“ (147) erheblich. Der angenommene größere Freiraum der männlichen Heranwachsenden in der Migration (vgl. Apitzsch 2003) entfällt in der Folge. Die generative Haltung der Eltern67 nach der Migration lässt sich als entscheidender Faktor für den weiteren Verlauf der adoleszenten Entwicklungen der Söhne bezeichnen. Eine Besonderheit der adoleszenten Migration im Familienverbund ist, dass ein Teil der Adoleszenz bereits im Herkunftsland stattgefunden hat und sich die Entwicklungsphase dann im Ankunftsland fortsetzt. Erziehungswissenschaftliche Studien haben in den letzten Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die Migrationsgeschichte der Eltern spezifische Voraussetzungen für die Adoleszenz der im Einwanderungsland geborenen Kinder mit sich bringt (vgl. z.B. King/Koller 2009). Bei den in dieser Arbeit betrachteten Fällen ist das Spezifische, dass die Migrationsgeschichte der Eltern nicht vor der Geburt der Kinder stattgefunden hat, sondern zeitgleich zu ihrer eigenen Migrationsgeschichte entsteht. Das bedeutet, dass die Eltern sich zeitgleich den Herausforderungen dieses Wandlungsprozesses stellen müssen, wodurch es zu ebensolchen Handlungsweisen kommen kann, wie sie für Eltern der zweiten Generation beschrieben wurden. Zölch et al. (2012) führen z.B. für selbstmigrierte Eltern mit türkischem Migrationshintergrund und ihre in Deutschland geborenen Söhne die Konstellation aus, dass die Heranwachsenden innerlich mit ihren Eltern verwoben blieben, „wenn in der Elterngeneration migrationstypische Erfahrungen wie Trennung und Verlust, Ausgrenzung oder misslungene Aufstiegsversuche kaum bewältigt werden konnten“ (36). In diesem Fall wachsen die Kinder von Anfang an mit den auf diese 67

Es ist anzumerken, dass die Informationen über die Haltung der Eltern aus den Interviews mit den Söhnen stammen und daher ihrer Wahrnehmung und Wiedergabe in den Erzählungen unterliegen. Für die generative Kompetenz der Eltern ist zentral, wie sich ihre eigene Adoleszenz gestaltet hat. Da die Väter und Mütter jedoch nicht interviewt wurden, kann diese Ebene nicht in die Auswertung einbezogen werden.

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Weise von der Migration beeinflussten Eltern auf, was dann bestimmte Auswirkungen auf den Adoleszenzverlauf nimmt. In der 1. Konstellation dieser Arbeit ist es hingegen so, dass die Söhne zunächst ohne eine oben beschriebene emotionale Verwobenheit zu den Eltern groß werden und in der Adoleszenz bereits gewisse Freiräume zur Verfügung haben – und dann im Zuge der Migration mit Eltern(teilen) konfrontiert werden, die an den ‚migrationstypischen Erfahrungen wie Trennung und Verlust, Ausgrenzung und misslungenem Statuserhalt‘ leiden. Dies ändert die Bedingungen und damit den Möglichkeitsraum für den adoleszenten Entwicklungsprozess erheblich, was ohne die Migration vermutlich nicht geschehen wäre. Die Migrationserfahrungen können bei den Eltern auch dazu führen, dass sie von ihren eigenen Bemühungen um Anpassung so in Beschlag genommen werden, dass sie ihre Kinder mit ihren adoleszenten Auseinandersetzungen ‚alleinelassen‘, wie es vor allem die 2. Konstellation betrifft. Allerdings, so zeigt diese Arbeit auch, kann ein Wandel nicht nur auf beschränkende Weise geschehen. Zwar haben alle Eltern mit den Herausforderungen der Migration zu tun, erfahren fast alle eine berufliche Entwertung und Sprachschwierigkeiten, doch gehen sie unterschiedlich damit um. Den Eltern der 3. Konstellation gelingt es trotzdem, die Söhne nicht mit einer gesteigerten Bindungssuche zu belegen und ihnen Raum für eigene Erfahrungen und Ablösung zu bieten. Dies z.T. sogar stärker als im Herkunftsland, was in Zusammenhang damit zu sehen ist, dass sich die Migration im Familienverbund auf mehrere Ebenen auswirkt. So kommt es in manchen Familien zu einer Verschiebung der Positionen und Machtverhältnisse. Im Fall von Fjodor etwa erhält die Mutter, die im Herkunftsland unter dem patriarchalen Schwiegervater gelitten hat, in Deutschland mehr Raum und Möglichkeiten, was sich wiederum positiv auf die Beziehung zum Sohn auswirkt. In diesem Kontext ist es auch bedeutsam, den Einfluss der Migration auf die Generationendifferenz zu betrachten. Eigentlich ist es die Aufgabe der Eltern, diese im Zuge der Adoleszenz ihrer Kinder aufrechtzuerhalten. Dies gelingt jedoch nur den Erwachsenen der 3. Konstellation. In der 2. Konstellation ist die Differenz durch das ‚Alleinelassen‘ der Kinder aufgehoben. Eine paradoxe Situation findet sich bei der 1. Konstellation, in der die Differenz von den Eltern zum einen verkehrt und zum anderen eingefordert wird. Das bedeutet, dass die Kinder zum einen mit einer Parentifizierung belegt werden, zum anderen aber auch ‚kleingehalten‘ werden und die Eltern keine Ablösung zulassen wollen.68 68

Es ist wichtig festzuhalten, dass das von den Eltern gezeigte Verhalten in keinem der Fälle als ‚typisch für SpätaussiedlerInnen‘ charakterisiert werden kann, sondern die Hintergründe in der Migration an sich und der jeweiligen individuellen und familialen Konstellation zu sehen sind. Auch kann nicht in einem einfachen Sinne davon gesprochen werden, dass die Eltern ‚Schuld‘ haben, wenn durch ihre Haltung der Raum ihrer Söhne zur Ablösung beschränkt wird. Es muss immer betrachtet werden, dass sie selbst MigrantInnen der ersten Generation sind und in die Herausforderungen und Dynamiken der

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Theoretische Verallgemeinerung

Die Ergebnisse der Arbeit bestätigen King und Schwab (2000), die davon ausgehen, dass eine produktive Bewältigung des Zusammenkommens der adoleszenten und migrationsbedingten Krisensituation nur dann möglich sei, wenn angemessene Zeit- und Spielräumen zur Verfügung stehen und das soziale Umfeld ausreichend Fürsorge, aber auch Zurückhaltung bietet (vgl. ebd., 211). Denn wie im Fall von Anton zeigt sich, dass Zeit- und Spielräume ohne den emotionalen Rückhalt der Eltern auch als haltlos und dadurch wenig ermöglichend erlebt werden können. Auch Günthers (2009) Erkenntnisse in Hinblick auf die familialen Ressourcen können bestätigt werden. Die hier betrachteten Rekonstruktionen zeigen ebenfalls, dass insbesondere „die innerfamilial gewährten Spielräume für adoleszentes Probehandeln, verlässliche und streitbare Bezugspersonen sowie die seitens der Familie gewährte Autonomie“ (ebd. 245f) bedeutsam für die Ablösung sind. Ebenfalls machen die Ergebnisse deutlich, „dass es sich bei den Themen, die die adoleszenten MigrantInnen bearbeiten, um genuine Adoleszenzthemen handelt, die durch die Migration eine krisenhafte Verstärkung erfahren“ (ebd. 244), wie z.B. das Thema ‚Anerkennung‘ bei Vadim. Als größtes Hindernis für die Bewältigung der Herausforderungen adoleszenter Migration nennt Günther den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen, Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozessen (vgl. ebd. 244). Die Rekonstruktionen der vorliegenden Interviews weisen auf die Bedeutsamkeit dieser Erfahrungen hin. Als größeres mögliches Hindernis hat sich jedoch die Haltung der Eltern infolge der Migration erwiesen. Darin liegt ein Unterschied zu Günther, deren InterviewpartnerInnen als Einzelpersonen ohne ihre Eltern eingereist sind. Generell hat es für die Söhne auch Vorteile, sich während der Migration noch in der Phase der Adoleszenz zu befinden, denn neben den Herausforderungen bietet diese (unter günstigen Bedingungen) auch das Potential, mit Weltbildern zu ‚spielen‘, Zukunftsentwürfe zu transformieren und Neues hervorzubringen. Die rekonstruierten Biographien machen zudem darauf aufmerksam, dass es für die potentiellen Zeit- und Spielräume hilfreich ist, noch die Schule oder Universität zu besuchen. Die Eltern der jungen Männer hingegen, die u.a. die Sorge für ihre Kinder tragen und unmittelbar nach der Migration eine Arbeit aufnehmen müssen oder möchten, haben weniger zeitliche und geistige Freiräume zur Verfügung. Im Kontext von Migration müssen sich die Heranwachsenden ergänzend zu all den anderen Themen auch mit den Beweggründen der Eltern auseinandersetzen, zu migrieren – sowie mit der Frage, welchen Erfolg bzw. Misserfolg diese Entscheidung mit sich gebracht hat (vgl. Koller 2015). Durch die gemeinsame Migration wissen die jungen Männer dieser Studie um die Ausreisemotive der Eltern. Als relevant hat sich dabei allerdings erwiesen, ob die Eltern-Kind-Dynamik familialen Migration eingewoben sind. Darüber hinaus haben sie zudem biographische Erfahrungen unabhängig von der Migration zu bewältigen.

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es zulässt, sich offen mit der familialen Wanderungsgeschichte – und damit auch mit möglichen Enttäuschungen und Misserfolgen – auseinanderzusetzen. Dabei haben sich zwei Varianten gezeigt, die für die jungen Männer belastend sind. In der ersten können die Kinder ihre Gefühle nicht äußern, weil sie ihre Eltern aufgrund ihres emotionalen Gebundenseins nicht belasten wollen (Angehörige der 1. Konstellation); in der zweiten ist der Wunsch nach Auseinandersetzung für die Adoleszenten drängend, wird aber von den Eltern nicht zugelassen (2. Konstellation). Sauter (2000) spricht für junge Männer von einer ‚aufgeschobenen Ablösung‘, bei der die Auseinandersetzung mit den Eltern vermieden bzw. auf später verschoben werde und keine reflexive Beschäftigung mit der Familiengeschichte der Migration stattfinde. Diese Arbeit zeigt jedoch, dass eine solche durchaus von den jungen Männern gewünscht sein, aber durch die Verweigerung der Eltern nicht in befriedigender Weise zu einer Lösung kommen kann. Es gilt demnach auch an dieser Stelle, nicht nur das Handeln der Heranwachsenden zu betrachten, sondern auch die Rolle der Eltern als ‚Ermöglicher‘, ‚Erschwerer‘ oder ‚Verhinderer‘ von adoleszenten Entwicklungen einzubeziehen. Ein bedeutsames Ergebnis der Arbeit ist, dass es in vielen Fällen mindestens ein Elternteil gibt, das deutlich unter den Folgen der Migration leidet (bzw. es nach einiger Zeit in Deutschland tut), aber nicht immer das (interviewte) Kind mit einer starken Bindungssuche belegt wird. Dabei ist ausgehend von den Erzählungen zu vermuten, dass auch dort z.T. eine Bindungssuche der Eltern stattfindet, sich diese jedoch auf eines der Geschwisterkinder bezieht (etwa bei Anton auf den ‚Lieblingssohn‘ Stephan, ehe sich dieser durch seine Anpassung an das deutsche Umfeld von den Eltern entfernt). Es spricht daher einiges dafür, dass nicht generalisierend von der Reaktion der Eltern in Bezug auf Bindung und Generativität infolge der Migration gesprochen werden kann, sondern diese je spezifisch in Hinblick auf das einzelne Kind (insofern es denn mehrere gibt) betrachtet werden muss. An diesem Punkt sei auf die Psychotherapeutin Wardi (1997)69 verwiesen, die herausgearbeitet hat, dass in den Familien von Holocaust-Überlebenden oftmals ein Kind als „Gedenkkerze“ (62) auserwählt werde, dem die Aufgabe zukomme, „das ungeheure Vakuum, das der Holocaust hinterlassen hat, zu füllen“ (ebd., 31) und als Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Zukunft zu fungieren. Dieser Prozess geschehe unbewusst und Wardi kann nur Vermutungen darüber anstellen, auf welche Weise die Auswahl des Kindes erfolgt; diese könne aber sowohl Tochter als auch Sohn treffen (vgl. ebd. 63). Die Beziehung zwischen Eltern und diesem Kind sei besonders eng, es werde „zum neuen Zentrum der Liebe“ (ebd., 66). Indem das Kind jedoch die Bedürfnisse der Eltern befriedigen soll, 69 Schmidt-Bernhardt (2008) verweist ebenfalls auf Wardi, jedoch in Bezug auf die Feststellung, dass immer nur ein Kind ihres Samples in seiner jeweiligen Familie bildungserfolgreich ist.

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Theoretische Verallgemeinerung

werde ihm der Raum zur Individuation genommen (vgl. ebd., 59). In der Folge hätten diese Kinder Schwierigkeiten, sich von den Eltern abzulösen (vgl. ebd., 67). Die Geschwister hingegen seien dadurch „von der emotionalen Last befreit“ (ebd., 64). Auch wenn die Traumata der Holocaust-Überlebenden nicht mit der Erfahrung von Migration vergleichbar sind, ist die Übertragung des Grundgedankens weiterführend: Durch die Migration verlieren Vater und Mutter ihre gewohnte Umgebung und habituelle Sicherheit, müssen geliebte Menschen zurücklassen etc., wodurch es z.T. zu der Reaktion kommt, dass ein Kind ‚auserwählt‘ wird, um das ‚Vakuum‘ des Elternteils zu füllen, wie es in Konstellation 1 zu finden ist. Schmidt-Bernhardt (2008) und Ruhland (2009) sind mit Blick auf Spätaussiedlerinnen beide zu dem Ergebnis gekommen, dass keine adoleszenten Auseinandersetzungen und Ablösungsversuche stattfinden würden. Ruhland geht davon aus, dass die „migrationsbedingten Notwendigkeiten von Transformation und Erfahrungsverarbeitung [die] adoleszenten Umstellungsprozesse“ (ebd.) weitreichend überlagert hätten. In der Folge sei es den Mädchen „schlichtweg weder um Ablösung und Neufindung noch um Neugestaltung im Elternbezug, sondern primär um die Konstanz in der Verbundenheit“ (ebd. 432) gegangen. Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen hingegen, dass sich auch für die Angehörigen der 1. Konstellation, bei denen die Individuation bislang nicht deutlich vorangetrieben wurde, Ablösungswünsche von den Eltern rekonstruieren lassen, die jedoch schwer zu realisieren sind. Dies hängt mit den aufgezeigten familialen Verstrickungen und der gesteigerten Bindungssuche der Eltern infolge der Migration zusammen. In der 2. Konstellation geht es intensiv um das Thema der Ablösung, die jedoch durch die fehlende Verfügbarkeit der Eltern (zeitweise) verhindert wird. Die jungen Männer der 3. Konstellation schließlich wählen von den Eltern unabhängige Lebensentwürfe. Die vorliegende Untersuchung kann demnach – zumindest für männliche Migranten – nicht bestätigen, dass es im Kontext von Migration automatisch zu einem Ausbleiben der adoleszenten Ablösung kommt. Dabei kann nicht entschieden werden, ob es sich dabei um Differenzen zwischen den Geschlechtern handelt oder ob die methodischen Anlagen der Studien von Ruhland und Schmidt-Bernhardt die latenten Sinngehalte nicht zu erfassen vermochten.

8 Schlussbetrachtung

Im letzten Kapitel erfolgt eine Reflektion des methodischen Vorgehens und der Generalisierbarkeit der Ergebnisse der vorliegenden empirischen Untersuchung (8.1). Abschließend werden die zentralen Erkenntnisse zu den Besonderheiten von Migration in der Adoleszenz bei jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien in vier zentralen Aspekten (8.2) zusammengefasst. 8.1 Reflektion des methodischen Vorgehens und der Generalisierbarkeit Im Rahmen qualitativer Forschung ist es von besonderer Relevanz, den Verlauf der Erkenntnisgewinnung transparent und intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten (vgl. Steinke 1999, 207). Dementsprechend wurden die einzelnen Interpretationsschritte im 6. Kapitel dezidiert ausgeführt. An dieser Stelle gilt es nun, die Gegenstandsangemessenheit reflexiv zu betrachten, Aussagen zur Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zu machen und Beschränkungen der Arbeit zu benennen. Dies geht über in einen Ausblick auf sich anschließende Forschungsmöglichkeiten. Ein zentrales Gütekriterium der qualitativen Forschung ist ihre Gegenstandsangemessenheit, also die Frage danach, ob sich das Forschungsdesign als dem Gegenstand der Arbeit angemessen erwiesen hat (vgl. Steinke 1999, 38ff). Die gesamte Studie reflektierend ist festzuhalten, dass sich der Gewinn und das Potential des qualitativ-rekonstruktiven Zugangs auf Biographien durchgehend gezeigt haben. Als Erhebungsmethode wurde das ‚biographisch-narrative Interview‘ (Schütze 1983) gewählt. Durch dieses konnte jeweils die gesamte Lebensgeschichte – vor und nach der Migration – erhoben werden, was sich als fundamental wichtig herausgestellt hat. Die überwiegende Zahl der Studien, die die Lebenssituation von jungen (Spät-)AussiedlerInnen bisher untersucht haben, konzentriert sich auf den Lebensweg nach der Migration (vgl. Kap. 3). Der Einbezug der Lebensgeschichte vor der Aussiedlung erlaubte den Vergleich der Möglichkeitsräume vor und nach der Migration. In der Folge konnte u.a. untersucht werden, ob die Ausreise mit biographischen Wendepunkten zusammengefallen und selbst zu einem solchen geworden ist. Zudem konnte herausgearbeitet werden, wie sich die Migration auf die zur Verfügung stehenden Handlungsressourcen und das © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. Zölch, Migration in der Adoleszenz, Adoleszenzforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26905-0_9

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Schlussbetrachtung

Selbstbild ausgewirkt hat und ob sich die generative Haltung, die die Eltern nach der Migration eingenommen haben, von der im Herkunftsland unterscheidet. Eine andere Erhebungsmethode, die besonders die aktuelle Lebenssituation in den Fokus rückt, hätte diese Dynamik nicht erfassen können. Als weiterer Vorteil biographischer Interviews hat sich der große Spielraum für eigenlogisch strukturierte Narrationen herausgestellt, durch den die Interviewpartner ihren eigenen Relevanzkriterien gemäß Themen einbringen und ausführen konnten. Gerade in längeren Erzählpassagen sind so Inhalte zur Sprache gekommen, die bei einer expliziten Nachfrage (z.B. durch einen Fragebogen) sehr wahrscheinlich verdeckt geblieben wären. Darüber hinaus haben sich auch Aspekte als bedeutsam erwiesen, die ich zuvor nicht im Blick hatte und daher gar nicht hätte abfragen können. Die große Fülle an offenem Material, die bei dieser Erhebungsmethode entsteht, ist daher auch besonders gut für explorative Forschungen (wie die vorliegende) geeignet. Die gewählte Auswertungsmethode der ‚biographischen Fallrekonstruktion‘ wurde von Rosenthal (1995) für die Interpretation narrativer Interviews entwickelt und hat sich in der praktischen Durchführung als angemessene Methode erwiesen. Die kleinschrittige Vorgehensweise, die den gesamten Interviewtext beachtet, ist den Lebensgeschichten in hohem Maße gerecht geworden. Den expliziten Einbezug beider Perspektiven der Erzählung (erzählte und erlebte Lebensgeschichte), die dieser ohnehin immer inhärent sind, habe ich als einen besonderen Gewinn der Methode empfunden. Dadurch war es möglich, jeweils ein detailliertes Gesamtbild zu erstellen. Als gewinnbringend und unverzichtbar hat es sich auch erwiesen, die historischen Besonderheiten der SpätaussiedlerInnen zu betrachten und in die Rekonstruktion einzubeziehen. In Hinblick auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist festzuhalten, dass diese nicht beanspruchen, im Sinne statistischer Repräsentativität verallgemeinerbar zu sein. Ausgehend von den Rekonstruktionen und Fallvergleichen können keine Aussagen über die Verteilung und Häufigkeit der gefundenen Konstellationen und übergreifenden Ergebnisse gemacht werden. Statistische Repräsentativität und Aussagen zur numerischen Verallgemeinerung sind allerdings auch übergreifend weder Ziel noch Anspruch qualitativer Sozialforschung (vgl. Rosenthal 2005, 25). In dieser geht es vielmehr darum, theoretisch relevante Zusammenhänge im einzelnen Fall zu entdecken. Grundgedanke der theoretischen Verallgemeinerung ist, dass jeder Fall immer sowohl Besonderes als auch Allgemeines enthält (vgl. Schulze 2010, 578). Daher „kann die rekonstruierte Struktur als allgemein gültige betrachtet werden, unabhängig von der Frage ihrer statistischen Häufigkeit“ (Wohlrab-Sahr 1993, 107). In diesem Sinne können die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit als generalisierbar für jene männlichen Spätaussiedler betrachtet werden, die während der Adoleszenz im Familienverbund nach Deutschland migriert sind und heute eine Universität besuchen. Die Erkenntnisse sind des

Reflektion des methodischen Vorgehens und der Generalisierbarkeit

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Weiteren aufschlussreich für die spezifischen Bedingungen der Migration von SpätaussiedlerInnen sowie hinsichtlich der Besonderheiten von Migration im Familienverbund (mit adoleszenten Kindern) im Allgemeinen und bei SpätaussiedlerInnen im Besonderen. Inwieweit die Schlussfolgerungen auch Aussagen über das Zusammentreffen der Transformationsprozesse von Adoleszenz und Migration generell zulassen, müsste anhand von vergleichenden Forschungen geprüft werden. Die Unmittelbarkeit von Adoleszenz und Migration im Sinne dieser Arbeit lässt sich nur anhand von Fällen untersuchen, die im Familienverbund während der Jugendzeit migriert sind. Dafür hat sich die Gruppe der SpätaussiedlerInnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion als passende Untersuchungsgruppe herausgestellt. Zugleich bedeutet die ausschließliche Betrachtung einer Herkunftsgruppe eine Beschränkung der Ergebnisse. Sicher wäre es weiterführend, adoleszente MigrantInnen anderer Herkunftsländer vergleichend auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu untersuchen. Darüber hinaus würde ein expliziter Vergleich mit Fällen von Angehörigen der zweiten oder dritten Migrantengeneration eine weitere Ausdifferenzierung der Ergebnisse ermöglichen. Aufgrund des Forschungsdesiderats wurden ausschließlich junge Männer in den Fokus der vorliegenden Arbeit gestellt, wodurch diese zugleich auf ein Geschlecht beschränkt ist. Es wurde versucht, die Ergebnisse mit denen zu jungen Frauen aus ähnlichen Forschungen zu vergleichen, wobei die theoretischen und methodischen Herangehensweisen sich naturgemäß unterscheiden. Es wäre daher interessant, künftig in einer Studie beide Geschlechter kontrastierend zu diesem Thema zu betrachten. Dadurch könnte z.B. der Frage nachgegangen werden, ob die in Konstellation 3 gefundene Struktur in der Tat nur für männliche Spätaussiedler gilt (da sie sich bei Schmidt-Bernhardt und Ruhland für Spätaussiedlerinnen nicht gezeigt hat) oder doch – je nach familialer Konstellation – geschlechtsübergreifend auftreten kann. Die Fokussierung auf formal bildungserfolgreiche junge Männer geht ebenfalls auf eine bisherige Forschungslücke zurück, bringt aber auch eine Begrenzung der Ergebnisse mit sich. Das DFG-Projekt „Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien“ hat gezeigt, dass der Vergleich bildungserfolgreicher und weniger bildungserfolgreicher Interviewpartner weitere Erkenntnisse liefern kann (vgl. z.B. King et al. 2011), sodass ein solcher auch für die Gruppe der SpätaussiedlerInnen fruchtbar erscheint. Die vorliegende Dissertation kommt zu dem Ergebnis, dass die familialen Beziehungen von entscheidender Bedeutung für den adoleszenten Entwicklungsprozess im Kontext von Adoleszenz und Migration sind. Die Erkenntnisse dazu

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Schlussbetrachtung

wurden aus narrativen Interviews mit jungen Männern gewonnen. Im Rahmen zukünftiger Studien könnten darüber hinaus auch Interviews mit Angehörigen der Elterngeneration geführt werden, um die intergenerationalen Beziehungen und Verstrickungen nicht nur aus der Kindesperspektive zu erfassen. Dieses methodische Vorgehen würde ein umfassenderes Portrait der Familienkonstellationen erlauben und es ermöglichen, auch weitere Aspekte, wie den Adoleszenzverlauf der Eltern, konkret in die Analyse einzubeziehen. Im Kontext der Familie hat sich zudem die besondere Relevanz von Geschwistern gezeigt. Daher wäre es gewinnbringend, mehrere Kinder einer Familie zu interviewen und die Fallrekonstruktionen anschließend miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. dazu Böker/Zölch 2017b). In Hinblick auf die Bedeutung von Geschlecht wäre es dabei interessant, Familien mit unterschiedlichen Konstellationen (z.B. Töchter und Söhne, nur Töchter, …) einzubeziehen. Darüber hinaus wurden in der Arbeit Fragen aufgeworfen, die nicht deren zentrale Fragestellung berühren, aber dennoch Forschungspotential in sich tragen. Dazu zählen die (methodischen) Fragen, welche Auswirkungen es hat, wenn Erlebnisse auf einer anderen Sprache erzählt werden als in der sie erlebt wurden und ob und welche Formen von ‚Übersetzungen‘ im Kontext von Erzählungen aus der Kindheit geschehen. Anknüpfungspunkte bietet auch der Ansatz, Orte/places im Kontext von Migration näher zu betrachten. 8.2 Besonderheiten einer Migration in der Adoleszenz bei jungen Männern aus Spätaussiedlerfamilien In der vorliegenden qualitativ-rekonstruktiven Arbeit stand die Frage im Mittelpunkt, welchen Einfluss das Zusammentreffen bzw. die wechselseitige Überlagerung der Transformationsprozesse Adoleszenz und Migration auf den adoleszenten Entwicklungsprozess von männlichen Spätaussiedlern hat. Dafür wurden im theoretischen Teil die historischen und sozialen Hintergründe der Gruppe der (Spät-)AussiedlerInnen ausgeführt sowie dezidiert die der Arbeit zugrundeliegenden adoleszenz- und migrationstheoretischen Ansätze dargelegt und anschließend miteinander in Hinblick auf eine Migration in der Phase der Adoleszenz verknüpft. In der Präsentation des Forschungsstandes wurden darauf noch einmal konkrete Forschungslücken aufgezeigt. Im empirischen Teil erfolgte die detaillierte Vorstellung des methodischen Vorgehens. Die besondere Leistung der vorliegenden Dissertation stellen die nuancierten Rekonstruktionen der Lebensgeschichten von jungen Männern mit Spätaussiedlerhintergrund dar, die im 6. Kapitel in Form von drei ausführlichen biographischen Fallrekonstruktionen sowie drei Kurzportraits

Besonderheiten einer Migration in der Adoleszenz

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präsentiert wurden. Ausgehend von den einzelnen Fallrekonstruktionen und kontrastiven Vergleichen ließen sich drei Konstellationen zum Verhältnis von adoleszenter Migration und familialen Beziehungen herausarbeiten, die im 7. Kapitel vorgestellt wurden. In der ersten Konstellation führt die Bindungssuche der Eltern infolge der Migration zusammen mit weiteren migrationsspezifischen Herausforderungen zu einer Regression in der adoleszenten Individuation des Sohnes. Charakteristisch für die zweite Konstellation ist, dass das Alleingelassensein mit den Herausforderungen der Migration und die elterliche Verweigerung adoleszenter Auseinandersetzungen für den Sohn eine Unabgeschlossenheit der adoleszenten Individuation zur Folge hat. Die dritte Konstellation zeichnet sich dadurch aus, dass die infolge der Migration innige(re), aber auch Freiheiten gewährende Beziehung zu den Eltern sowie die Unterstützung durch bedeutsame Andere die Bearbeitung migrationsspezifischer Herausforderungen und die adoleszente Individuation des Sohnes ermöglichen. Im zweiten Teil des Kapitels wurde der Blick auf die übergreifenden Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellung gerichtet. Ausgehend davon sollen die zentralen Erkenntnisse der Arbeit abschließend in vier Punkten verdichtet werden: 1) Das Zusammentreffen von Adoleszenz und Migration führt zu spezifischen Herausforderungen, die nichtgewanderte Personen mit und ohne Migrationshintergrund nicht teilen. Durch die Ausreise im Jugendalter sind die jungen Männer zugleich Migranten der ersten Generation – verbunden mit vielfältigen migrationsspezifischen Herausforderungen – und durch ihr Alter und die Migration im Familienverbund zugleich auch in der intergenerationalen Position des Kindes – verknüpft mit den Anforderungen der Adoleszenz. So erleben sie durch die Migration beispielsweise den Abbruch der Gleichaltrigenbeziehungen und die Konfrontation mit einer neuen Sprache unmittelbar und müssen sich im Zuge der Adoleszenz z.B. mit Fragen nach dem eigenen Gewordensein auseinandersetzen. Spezifisch ist, dass ein Teil der adoleszenten Entwicklungsphase bereits im Herkunftsland stattgefunden hat und dann die Migration als weiterer Wandlungsprozess hinzutritt. In der Folge gilt es, mit den Herausforderungen der beiden Transformationsprozesse umzugehen, die nicht je für sich bestehen, sondern in Wechselwirkung miteinander treten und so zu einem einzigartigen Bedingungsgefüge werden. Die Konstellationen verdeutlichen, dass und wie die Migration – auch bei bildungserfolgreichen jungen Männern – Einfluss auf den adoleszenten Entwicklungsprozess nimmt, der im Herkunftsland z.T. vermutlich einen anderen (Weiter-)Verlauf genommen hätte. Die Besonderheiten und die phasenweise auftretenden Schwierigkeiten der jungen

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Schlussbetrachtung

Männer haben jedoch keine kulturelle Ursache; vielmehr zeigt sich die Bedeutsamkeit des historischen und familialen Bezugsrahmens, der strukturellen Bedingungen und der persönlichen Beziehungen. 2) Die Migration im Familienverbund bringt besondere Bedingungen mit sich. Durch diese findet die Migrationsgeschichte der Eltern nicht vor der Geburt der Kinder statt (wie es bei Angehörigen der zweiten Migrantengeneration der Fall ist), sondern entsteht parallel zu den Migrationserfahrungen und den adoleszenten Entwicklungen der Söhne. Das bedeutet, dass die Eltern sich zeitgleich den Herausforderungen dieser Transformationsprozesse stellen müssen, wodurch es zu einer Veränderung der generativen Haltung (von einschränkend bis mehr Freiheiten gewährend) kommen kann. In der Folge kann es z.B. geschehen, dass die Söhne erstmals während ihrer Adoleszenz mit einer emotionalen Bindungssuche der Eltern belegt werden, die sich einschränkend auf deren weiteren Verlauf auswirken kann. Zudem erleben sie u.a. berufliche Degradierungen der Eltern und Verschiebungen innerfamilialer Machtbalancen unmittelbar mit. All dies nimmt Einfluss auf die intergenerationalen Beziehungen und den Möglichkeitsraum der Adoleszenz unter Migrationsbedingungen. 3) Es ist von entscheidender Bedeutung, welche lebensgeschichtliche Einbettung die Migration erfährt. Sie kann als zentraler biographischer Wendepunkt erlebt werden, der das Leben zweiteilt – oder aber in ihrer Bedeutsamkeit hinter andere Erlebnisse zurücktreten und in die Lebensgeschichte integriert werden, ohne dass es zu einem starken Bruch kommt. Die individuelle Ausgestaltung hängt vor allem davon ab, wie der Möglichkeitsraum in Deutschland im Vergleich zum Herkunftsland empfunden wird. Dieser wird neben der generativen Haltung der Eltern, durch die soziale Integration, soziostrukturelle Bedingungen sowie das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von sozialer Unterstützung bestimmt. Zentral ist zudem, ob und in welchem Maße infolge der migrationsspezifischen Herausforderungen Begrenzungserfahrungen gemacht werden, die das Selbstbild beeinflussen. Die adoleszente Auseinandersetzung mit der Frage ‚Wer bin ich?‘ zeigt sich gerade im Zuge der Migration als drängend und zentral. Dabei geht es entscheidend darum, ob eine biographische Kontinuität über die Ausreise hinweg erhalten bleiben kann. 4) Neben Selbst- und Fremdzuschreibungen zeigen sich die Sozialisationserfahrungen aus dem Herkunftsland als relevant für die Zugehörigkeitskonstruktionen der Spätaussiedler.

Besonderheiten einer Migration in der Adoleszenz

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Die Beschäftigung mit Zugehörigkeitsfragen ist konstitutiver Bestandteil der adoleszenten Auseinandersetzungen. Bei jungen SpätaussiedlerInnen ist die Beschäftigung mit der eigenen ‚natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit‘ – auch im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen in Deutschland – von einer besonderen Vielschichtigkeit geprägt. Die Rekonstruktionen machen deutlich, dass die jungen Männer trotz ‚formeller‘ Mitgliedschaft (vgl. Mecheril 2002, 110), etwa in Form der deutschen Staatsangehörigkeit, auf ‚informeller‘ Ebene von anderen (zumeist) nicht als zugehörig betrachtet werden. Dies nimmt Einfluss auf die Selbstwahrnehmung, für die sich – jenseits von ethnischer Zugehörigkeit – die Sozialisationserfahrungen aus der Kindheit und Jugend im Herkunftsland als entscheidend herausgestellt haben. Durch ihr Aufwachsen in einem anderen Land unterscheiden sie sich auch von Heranwachsenden der zweiten Migrantengeneration. Ist die Adoleszenz nun „das beste und das schlimmste Alter“ für die Migration, wie ich Grinberg und Grinberg (1990, 144) ganz zu Beginn zitiert habe? Ausgehend von den Erkenntnissen der Arbeit halte ich den Superlativ nicht für angebracht. Allerdings kann Grinberg und Grinberg insofern zugestimmt werden, als deutlich wurde, dass eine Migration in der Adoleszenz ein sehr spezifisches Geschehen darstellt und zu Konstellationen mit besonderen Herausforderungen und Potentialen führt, die bei einer Ausreise in einer anderen Lebensphase nicht bestanden hätten.

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