Migration, das finde ich …: Multidisziplinäre Perspektiven auf ein allgegenwärtiges Phänomen [1 ed.] 9783737012744, 9783847112747

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Migration, das finde ich …: Multidisziplinäre Perspektiven auf ein allgegenwärtiges Phänomen [1 ed.]
 9783737012744, 9783847112747

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Christina Hansen / Julia Ricart Brede (Hg.)

Migration, das finde ich … Multidisziplinäre Perspektiven auf ein allgegenwärtiges Phänomen

Mit 21 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © pronoia / Adobe Stock #459335718 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1274-4

Inhalt

Christina Hansen / Julia Ricart Brede Vorwort der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Fonk Migration und Integration aus christlich-caritativer Sicht

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Britta Kägler Historische Migrationsprozesse in Bayern: Netzwerke als Grundlagen von Migration in der (Frühen) Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karsten Fitz Zwischen »Mother of Exiles« und »Build the Wall Act (2018)«: U.S.-amerikanische Einwanderungskonzepte im Spiegel der Zeit . . . .

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Daniela Wawra »Managing Migration« – Diskurse von EU-Institutionen und US-Regierung zur Migration: Eine kritische Analyse . . . . . . . . . . . .

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Bernhard Stahl / Anna Felfeli Deutsche Außenpolitik, nationale Identität und Migration – das erschütterte ›Weiter-so‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Martina Maletzky de García »Shukri hatte im Praktikum goldene Hände«: Erfahrungsberichte über die Anstellung von Geflüchteten als Instrument von Institutional Work . . . 147 Marina Ortrud M. Hertrampf Migration als (Krisen-)Narrativ: Inszenierungen französischer Migrationsnarrative in Literatur und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Inhalt

Ursula Reutner Migration – Auslöser für die Entstehung neuer Wörter, Varietäten und Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Christina Hansen / Kathrin Eveline Plank (Bildungs-)Raum zwischen transnationaler Mobilität und Mauerbaufieber: Migration vor dem Hintergrund räumlicher Re-Figuration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Angaben zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Christina Hansen / Julia Ricart Brede

Vorwort der Herausgeberinnen

Migration ist ein Phänomen, das letztlich alle Menschen, alle Lebensbereiche, alle Gesellschaften und alle Fachdisziplinen betrifft. Es ist ein Phänomen, das aus der Sicht des Individuums ebenso erfahr- und beschreibbar ist wie aus Sicht der Gesellschaft(en); es ist aus individueller Perspektive ebenso analysierbar wie aus sozialer und politischer Perspektive. Dabei ist die Debatte über die Zusammenhänge zwischen Migration und der Entwicklung von Gesellschaft(en) keineswegs neu. In gewisser Weise ist der Zusammenhang ursächlich: Migration (oder ihre Abwesenheit) ist immer auch Ausdruck von (fehlender) Entwicklung in einer Gesellschaft, ein Zusammenhang, der bereits im 19. Jahrhundert erkannt und thematisiert worden ist (vgl. Oltmer 2010, 1ff.). Durch die Erkenntnis, dass staatliche Lenkungsmaßnahmen Migration befördern oder hemmen können, wurden Wanderungsbewegungen mit ihren positiven und negativen Auswirkungen auf Entwicklung wahrgenommen, etwa im kolonialen Zusammenhang oder in Debatten über »Brain Drain« (negative Auswirkungen durch Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften) (vgl. Bade 2017, 27–90). Dabei heben sich die Debatten über Migration und Entwicklung etwa seit der Jahrtausendwende inhaltlich von früheren deutlich ab: So stehen seitdem auch die positiven Beiträge von Migrantinnen und Migranten auf die Entwicklung ihrer Herkunftsregionen im Mittelpunkt (vgl. hierzu beispielsweise die Arbeiten zu »translocal livelihoods« von Steinbrink 2009 sowie Steinbrink / Niedenführ 2017), zuvor wurden eher die negativen Folgen thematisiert oder es wurde der Nutzen von (Arbeits-) Migration für die Aufnahmestaaten hervorgehoben. Mit dem Leitbegriff der Migration rücken durch aktuelle Migrationspha¨ nomene angestoßene Prozesse der Pluralisierung und Vereinseitigung, der Differenzierung und Entdifferenzierung sowie der sozialen Segregation und Integration in den Blick. »Migration« ist eine Perspektive, die von vornherein anzeigt, dass die Einengung auf eine monokulturelle Betrachtung der mit Wanderung verbundenen Pha¨nomene unangemessen ist. Wanderung ist ein umfassendes Pha¨nomen, das im Spannungsfeld politischer, administrativer, o¨ konomischer, kultureller und rechtlicher Systeme auf globaler, nationaler und lokaler Ebene

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Christina Hansen / Julia Ricart Brede

stattfindet. Positionierungen und Identifizierungen der Migrantinnen bzw. Migranten und komplementa¨ r der Nicht-Migrantinnen bzw. Nicht-Migranten mu¨ ssen in der Komplexita¨ t dieses Spannungsfeldes verstanden werden.

Zum Anliegen des Buches Im vorliegenden Sammelband wollen wir uns dem Phänomen Migration und den Fragen nach den Zusammenhängen von Migration und Gesellschaft(en) aus verschiedenen Fachperspektiven widmen, um die Komplexität der Migrationsdiskurse zu diesen Verhältnissen sowie den Möglichkeiten der Veränderungen dieser Verhältnisse in einen weiteren Blick zu nehmen. Die Beiträge führen in den fachlichen Diskurs um Migration, Interkulturalität und Gesellschaft ein. Der vorrangige Anspruch des vorliegenden Buches ist es allerdings nicht, den fachlichen Diskurs als vollständige Sammlung des jeweilig disziplinären Wissens zu Migration darzustellen. Dies auch aufgrund folgender ¨ ber Tatsache, die fu¨ r das (Wissenschafts-)Wissen u¨ berhaupt kennzeichnend ist: U die Frage, welches Wissen das gu¨ ltige ist, werden Auseinandersetzungen und Dispute gefu¨ hrt. Es steht also nicht einfach schon fest, worin das gu¨ ltige Wissen besteht. Vor diesem Hintergrund kann behauptet werden, dass letztlich paradoxerweise das Nichtwissen kennzeichnend fu¨ r (Wissenschafts-)Wissen ist. Wissen ist weiterhin nicht nur ›in der Gegenwart‹ umka¨mpft. Mindestens das empirische Wissen ist auch deshalb verga¨ ngliches Wissen, da sich die historischen Bedingungen vera¨ ndern, unter denen u¨ ber die Frage der Gu¨ ltigkeit des Wissens befunden werden kann. Somit geht es im Werk weniger um die Auflistung ›gu¨ ltigen Wissens‹ im Hinblick auf das Themenfeld Migration. Es geht ¨ berblick u¨ ber die Art und Weise, wie diachron und synchron vielmehr um einen U im Fachdiskurs und in der Gesellschaft u¨ ber Migration gesprochen wird und welche Konsequenzen an welche Redeweise geknu¨ pft sind. Insofern gibt das vorliegende Werk Einblick in aktuelle fachwissenschaftliche Diskurse zum Thema Migration. Gleichzeitig zeigt es durch seine vielfältigen Perspektiven die Komplexität dieses Phänomens auf und ermöglicht es, unterschiedliche Begründungslinien zu reflektieren. Das Werk kann damit als Offerte verstanden werden, nach alternativen Denk-, Handlungs- und Erfahrungsformen Ausschau zu halten und soll ein Nachdenken über die eigene Praxis anregen. Eine Besonderheit des Bandes stellen ferner die persönlichen Kommentare der Autorinnen und Autoren dar, die als Ergänzung zum jeweiligen fachwissenschaftlichen Beitrag gelesen werden können und die als eine Art Positionslicht zum Reflektieren einladen sollen. Hierzu wird jeder Beitrag mit einem persönlichen Statement zur Debatte im Kontext von Migration, frei nach dem Motto: »Migration, das finde ich …« eröffnet, das im Beitrag erläutert und be-

Vorwort der Herausgeberinnen

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gründet wird. Da allerdings mit der persönlichen Kommentierung der fachlichen Diskussion auch die Hinfu¨ hrung zu einer bestimmten Perspektive auf das Verha¨ ltnis von Fachwissenschaft und Migration verbunden ist, verknu¨ pft sich mit diesem Buch ein zweites Anliegen. Es geht darum, Leserinnen und Leser durch die Lektu¨ re zu ermutigen: zu einem Nachdenken u¨ ber das Themenfeld Migration und dazu, alternative Mo¨ glichkeiten zu erwa¨ gen und nicht auf einschra¨ nkende und beschneidende Einteilungsmuster und Denkkategorien begrenzt zu bleiben. In dieser Vielfalt an Perspektiven richtet sich das Werk an Fachwissenschafterinnen und Fachwissenschaftler sowie an Studierende aus unterschiedlichen Fachbereichen, die sich mit dem Thema Migration auseinandersetzen, gleichermaßen wie an Menschen aus Sozialberufen, die in ihrem täglichen Handeln als Multiplikatorinnen bzw. Multiplikatoren zum Thema Stellung beziehen. Im Besonderen richtet sich das Werk an Menschen in allen Phasen der Lehrerinnenund Lehrerbildung sowie an alle am Thema Interessierten.

Zum Hintergrund und zur Gliederung des Buches Im Wintersemester 2019 / 20 fand eine öffentliche Vortragsreihe zum Thema »Migration – Facetten eines multidisziplinären und allgegenwärtigen Begriffs« an der Universität Passau statt. Die Vorträge dieser Ringvorlesung wurden von Vertreterinnen und Vertretern aus Philosophie, Theologie, Bildungs-, Kultur-, Literatur-, Medien-, Politik- und Sprachwissenschaften gehalten und boten den Zuhörenden wahrlich einen multiperspektivischen Einblick in den aktuellen Migrationsdiskurs. Die im Band versammelten Beiträge basieren auf den Vorträgen dieser Ringvorlesung. Ergänzt wurde der Band durch weitere erhellende Beiträge, die sich aus den Diskussionen rund um die Ringvorlesung ergeben haben, sodass wir beschlossen, diese ebenfalls in das Werk aufzunehmen. Alle Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes sind an die Universität Passau affiliiert. In den einzelnen Beiträgen finden sich immer wieder Querverweise auf andere Beiträge des Bandes. Dies und auch die Tatsache, dass der Band neben den vortragsbasierten Beiträgen durch weitere Beiträge ergänzt wurde, die sich aus Diskussionen rund um die Ringvorlesung ergeben haben, zeigt, dass der Band nicht nur das Ergebnis einer multiperspektivischen Annäherung an das Thema Migration ist, sondern dass aus der gemeinsamen Beteiligung an der Ringvorlesung und der Arbeit am Band auch ein interdisziplinärer Dialog zu diesem multidisziplinär relevanten Phänomen erwachsen ist. Über dessen Fortführung und dessen weitere Öffnung – auch über den Kolleginnen- und Kollegenkreis in Passau hinaus – würden wir uns freuen. Die Veröffentlichung der Beiträge ist damit auch als Einladung zum Dialog zu verstehen.

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Im Folgenden sollen die einzelnen Beiträge des Bandes kurz vorgestellt werden. In den zu Beginn platzierten Beiträgen werden historische Perspektiven zu Migration eingenommen. Dafür diskutiert Peter Fonk Migration aus christlichcaritativer Sicht. Er spannt dabei den Bogen von der aktuellen Migrationspolitik bis zur biblischen Migrationsgeschichte und zeigt in seinem Beitrag interessante Verbindungslinien und Parallelen zu Migrationsprozessen aus unterschiedlichen Epochen – die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Migration – und er zeigt gesellschaftliche Gelingensbedingungen durch Wohlfahrtsverbände und zivilgesellschaftliche Flüchtlingshilfe auf. Britta Kägler führt den historischen Diskurs in ihrem Beitrag mit einem Fokus auf Bayern fort. Sie zeigt dabei auf, dass bereits ab der frühen Neuzeit von einer hohen Mobilität innerhalb der bayerischen Gesellschaft ausgegangen werden muss. Am Beispiel des Münchener Kurfürstenhofes und im Besonderen mit Verweis auf Kurfürstin Henriette Adelaide belegt sie, wie die bayerische Heiratspolitik in jeder Generation neue Impulse für Migrationsprozesse gegeben hat und wie der kulturelle Anspruch des Münchener Hofes die Migration von Künstlern von und nach Bayern förderte. Auch Karsten Fitz spiegelt Migrationsprozesse in historischer Analyse – allerdings fokussiert er dabei die U.S.-amerikanischen Einwanderungskonzepte. Er dekonstruiert in seinem Beitrag die Versinnbildlichung der amerikanischen Idee eines (nationalen) Schmelztiegels als widersprüchliches Konzept zwischen Inklusion und Exklusion. In zeitgeschichtlicher Analyse zeigt er dabei den Weg vom »melting pot« zu multiethnischer Diversität auf. Den Kontrapunkt dieser integrativen Entwicklung setzt Fitz mit der Präsidentschaft Donald Trumps an und hofft durch die Einsetzung einer afroamerikanischen Vizepräsidentin in die neue Regierung der Demokraten, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika in Zukunft wieder mehr ihres Vermächtnisses als Einwanderungsland bewusst werden. Den historischen Perspektiven auf Migration folgen Analysen zum Migrationsdiskurs in der aktuellen Politik. Daniela Wawra präsentiert in diesem Zusammenhang Ergebnisse einer vergleichenden Diskursanalyse der offiziellen Webpräsenzen von EU und USA. Auch wenn sowohl auf den Webseiten der EU als auch auf den Webseiten der US Themen zu Migration ausgeklammert werden, scheint der offizielle US-Diskurs insgesamt stimmiger. Eine mögliche Ursache hierfür sieht die Autorin darin, dass es für die EU als supranationale Formation sehr viel schwieriger als für einen Nationalstaat ist, gemeinsame Politikrichtlinien festzulegen. Aber auch in Bezug auf die sprachliche Gestaltung der Außenkommunikation zeigen sich Unterschiede, beispielsweise indem sich die USA – im Unterschied zur EU – des Storytellings bedienen und den Diskurs damit scheinbar persönlicher gestalten und emotional aufladen.

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Bernhard Stahl und Anna Fefeli greifen für politikwissenschaftliche Positionierungen ebenfalls auf die Diskursanalyse zurück. Um Kontinuität und Veränderung der deutschen Migrationspolitik bewerten zu können, vergleichen Stahl und Fefeli die politischen Debatten zu zwei formativen Ereignissen: zu den ›brennenden Asylheimen‹ 1992 / 1993 und zur ›Flüchtlingskrise‹ 2015 / 2016. Die Analyse zeigt, dass die deutsche Migrationspolitik Ausdruck einer ›Null-Immigrationspolitik‹-Diskurshegemonie ist, die trotz globaler Trends und entgegen eigener wirtschaftlicher Erfordernisse über Jahrzehnte hinweg stabil blieb. Zwar berge die neue Diskursformation ›Willkommenskultur‹ das Potential, diese Diskurshegemonie langfristig aufzubrechen, doch sei diese bislang noch nicht stark genug, um die Diskurshegemonie der ›Null-Immigration‹ zu brechen. Martina Maletzky de García geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welches Bild von Geflüchteten die beiden größten deutschen Kammern (Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern) auf ihren Webseiten entwerfen und wie dieses Bild mit dem gesellschaftlichen Diskurs um Geflüchtete im Zusammenhang steht. Zur Korpuserstellung wurden sämtliche auf den Internetseiten der genannten Kammern auffindbaren, einschlägigen Erfahrungsberichte aus den Jahren 2016–2020 kodiert und einer Metaphernanalyse unterzogen. Die Analyse der Berichte zeigt, dass trotz der Nennung von Hürden insgesamt ein einseitig positives Bild von der Arbeit mit Geflüchteten gezeichnet wird, beispielsweise indem Geflüchteten generell positive Eigenschaften wie eine hohe Leistungsbereitschaft attestiert werden. Dies lässt wenig Raum für Abweichungen und birgt somit die Gefahr, von Skeptikerinnen bzw. Skeptikern durch existierende Gegenbeispiele als unrealistisch abgetan zu werden. Marina Ortrud M. Hertrampf untersucht französische Migrationsnarrative in Literatur und Film. Dabei gibt sie zunächst einen Überblick über Frankreichs Immigrationsgeschichte und fokussiert im Anschluss die Problematisierung von Immigration nach Frankreich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dafür werden ästhetisierte Formen von Migrationsnarrativen herangezogen und es wird untersucht, inwieweit in Frankreich etablierte Migrations-Krisen-Narrative durch literarisch-künstlerische Transpositionen perpetuiert werden bzw. inwiefern in literarischen und filmischen Darstellungen möglicherweise Gegennarrative konstruiert werden. Welches schöpferische Potential Migrationsprozesse auch für die Entwicklung und Entstehung von Sprache(n) besitzen können, legt Ursula Reutner in ihrem Beitrag dar. Am Beispiel der romanischen Sprachen, am Beispiel des Englischen sowie anhand der aus diesen Sprachen hervorgegangenen Kreolsprachen zeigt die Autorin, wie im Kontext von Migration neue Ausdrücke, Varietäten und sogar Sprachen entstanden sind. Inbesondere an Kreolsprachen wird dabei deutlich, wie sich die ›neuen‹ Sprachen ob ihres Entstehungshintergrundes teilweise auch heute noch mit Stigmatisierungen konfrontiert sehen.

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Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Christina Hansen und Kathrin Eveline Plank mit einer raumsoziologischen Analyse zum (Migrations-) Raum. Dabei stellen die beiden Autorinnen die These auf, dass sich durch Migrationsbewegungen nicht nur der Lebensraum der Geflüchteten verändert, sondern auch derer, ›die schon da waren‹: Migration betrifft in diesem Verständnis alle, die im nunmehr gemeinsamen Raum leben (müssen). Vor diesem Hintergrund, d. h., indem der Sozialraum neu ausgehandelt wird, finden soziale und kulturell konnotierte Aneignungs- und Ausgrenzungspraxen statt. Im Beitrag wird aufgezeigt, wie auf der räumlichen Spielfläche solcher Re-Figurationsprozesse üblicherweise Mechanismen von Ausgrenzung stattfinden und welche Möglichkeiten es aus einer internationalen Perspektive gäbe, den sozialen Raum inklusiv für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu öffnen.

Quellen- und Literaturverzeichnis Bade, Klaus J. (2017): Migration, Flucht, Integration. Kritische Politikbegleitung von der ›Gastarbeiterfrage‹ bis zur ›Flüchtlingskrise‹. Erinnerungen und Beiträge. 2. Auflage. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag. Oltmer, Jochen (2010): Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 86). Steinbrink, Malte (2009): Leben zwischen Land und Stadt. Migration, Translokalität und Verwundbarkeit in Südafrika. Wiesbaden: VS. Steinbrink, Malte / Niedenführ, Hannah (2017): Afrika in Bewegung. Translokale Livelihoods und ländliche Entwicklung in Subsahara-Afrika. Bielefeld: transcript (Global Studies).

Peter Fonk

Migration und Integration aus christlich-caritativer Sicht

Migration ist aus meiner Sicht eine der größten Herausforderungen in unserer Zeit und ist aus christlich-caritativer Sicht unter dem Aspekt der Nächstenliebe zu betrachten. Zugleich ist sie als wechselseitiger Prozess der Integration zu sehen. Die Zuwanderung von Menschen in einer bisher nicht gekannten Größenordnung stellt die Aufnahmeländer, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland zählt, vor umfangreiche Aufgaben. Diese bestehen nicht nur in der Bereitstellung menschenwürdiger Unterkünfte, Wohnungsmöglichkeiten und der Erfüllung der Basisbedürfnisse, sondern auch in der Bewältigung einer mindestens ebenso großen Herausforderung, nämlich der Integration der Migranten1 in die Aufnahmegesellschaft. Um die aus christlich-caritativer Sicht wichtigsten Aspekte herauszustellen, behandelt dieser Beitrag die nachfolgend angeführten Aspekte: 1) Migration und Flucht, 2) Perspektiven der Integration, 3) Biblische Migrationsgeschichten, 4) Integration als genuine Aufgabe von Caritas und Diakonie, 5) »[…] und der Fremdling, der in deinen Toren ist.«: Kirchliche Stellungnahmen und theologische Reflexion und 6) Fazit.

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Migration und Flucht

Das Jahr 2015 markiert einen Wendepunkt. Während es seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunächst den Anschein hatte, es habe sich die Zahl der nach Deutschland Geflüchteten und der von ihnen gestellten Asylanträge auf einem relativ stabilen Niveau eingependelt, änderte sich die Situation vor gut fünf Jahren auf dramatische Weise. Für viele unerwartet und überraschend schnellte die Zahl derer, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, im Sommer 2015 1 In diesem Beitrag wird, abweichend zu den Beiträgen von anderen Autorinnen und Autoren, das generische Maskulinum verwendet, da sich der Beitrag auch auf historische Diskurse, u. a. auf die Bibel, bezieht und diese per se im generischen Maskulinum gehalten waren.

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Peter Fonk

schlagartig in die Höhe. Rund eine Million2 Menschen kamen in Deutschland an: mit dem Zug, teilweise zu Fuß, teilweise auch von geschäftsmäßig agierenden Schleppern auf Parkplätzen oder an entlegenen Orten ausgesetzt (vgl. BMI 2016). Tag für Tag finden Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa den Tod. In den letzten Jahren sind tausende Menschen, die sich in der Hoffnung auf Schutz zur gefährlichen Reise über das Mittelmeer nach Europa aufgemacht haben, auf ihrer Flucht vor Verfolgung, Armut und Krieg ertrunken. Im Jahr 2020 befanden sich über 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht (vgl. UNHCR 2020), angewiesen auf Schutz und Versorgung – mehr als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrheit der betroffenen Menschen sind Binnenvertriebene oder haben Zuflucht in Nachbarländern gefunden. Insgesamt leben 85 % (vgl. UNHCR 2020) der Betroffenen in Entwicklungsländern. Deutschland zählt zu den fünf größten Aufnahmeländern weltweit und hat innerhalb der Europäischen Union die meisten Geflüchteten aufgenommen. Da überrascht es nicht, wenn besorgte Stimmen immer lauter werden, die auf die Grenzen der Aufnahmekapazitäten der europäischen Länder verweisen. Angesichts solcher durchaus verständlichen Sorge darf aber nicht in Vergessenheit geraten, was diese Menschen dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen und die Gefahren einer Flucht auf sich zu nehmen. Sie haben sich entschlossen, längerfristig oder gar dauerhaft ihren Lebensmittelpunkt zu verlagern. Dieser Schritt beschreibt jenen Sachverhalt, den der Begriff »Migration« bezeichnet (vgl. Oswald 2007, 13f.). Wir haben es in diesem Fall mit einer besonderen Form von Migration zu tun, die in einer ersten und vorläufigen Unterscheidung in freiwillige und unfreiwillige Migration unterteilt wird. Zu den unfreiwillig Migrierten, die ihre Heimat erzwungenermaßen verlassen haben, zählen Flüchtlinge (vgl. UNHCR, Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 1). Denn keiner von ihnen verlässt seine Heimat freiwillig. Da bedarf es schon sehr gewichtiger Gründe. Die Ursachen der gegenwärtigen großen Fluchtwellen sind vielfältig und komplex (vgl. EWDE 2013). Krieg, Gewalt und Verfolgung ohne Grund sind die am häufigsten genannten Gründe. Allerdings ist zu bedenken, dass im letzten Falle solche Personen keinen Flüchtlingsstatus erhalten können. Teilweise sind die Regierungen direkt verantwortlich für Fluchtgründe wie systematische Menschenrechtsverletzungen, fehlender Minderheitenschutz, Diskriminierung oder mangelnde Chancen zur politischen oder ökonomischen Teilhabe. Auch chronische Armut und Hunger können Folgen verfehlter Politik sein. Sie können aber auch durch Entwicklun2 Im System zur Erstverwaltung von Asylsuchenden (EASY) wurden 2015 1,1 Millionen Menschen registriert. Das BMI korrigierte diese Zahl in einer Pressemitteilung am 30. 09. 2016 auf 890.000 Asylsuchende und begründete die Differenz u. a. über Mehrfachmeldung und mit der Nichtberücksichtigung von Weiterreisenden (vgl. BMI 2016).

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gen befördert werden, auf welche die eigene Regierung kaum Einfluss hat. Dazu zählen etwa der Klimawandel, ungerechte internationale Handelspolitik sowie die aggressiven Strategien global agierender Konzerne zur Rohstoff- und Ressourcensicherung. Die Lieferung scheinbar unbegrenzter Mengen an Kleinwaffen und schwerem Kriegsgerät auch für nichtstaatliche Akteure gehört ebenfalls zu den Ursachen (vgl. EWDE 2013, 1). Des Weiteren sind Fluchtursachen aufgrund von Verfolgung, basierend auf ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, eine traurige Realität in vielen Ländern: Die Ausmaße, welche die entfesselte Gewalt von IS-Milizen gegen Kurden, Jesiden und – was oft übersehen wird – gegen Christen in Syrien und im Nordirak inzwischen erreicht hat, bieten ein aktuelles Beispiel dafür, dass angesichts solch grausamen Hinschlachtens von unschuldigen Menschen, geplant und im großen Stil durchgeführt, das Verlassen der Heimat als einzige Möglichkeit bleibt, um das eigene Leben zu retten. Doch trifft der islamische Terror keineswegs nur Christen, sondern alle Bevölkerungsteile, also auch Muslime, die sogar den größten Teil der betroffenen Zielgruppe darstellen. Christen sind allerdings insofern bevorzugte Opfer von Entführern, weil viele Familien Verwandte im Ausland haben und die Entführer deshalb vermuten, dass besonders hohe Summen erpresst werden könnten. Man muss allerdings hinzufügen, dass viele dieser Entführungen nicht auf das Konto von Islamisten gehen, sondern auf das von gewöhnlichen Kriminellen, die unter der Maske des Gotteskriegers auftreten; doch trägt diese Tatsache nicht dazu bei, das Gefühl der Angst und Unsicherheit bei vielen Christen abzubauen. Sie sehen daher in der Auswanderung aus ihrer alten Heimat den einzigen Ausweg (vgl. Vogt 2014, 7). Im Wesentlichen sind zwei Ursachen für die Verfolgung verantwortlich: der islamische Extremismus und systematische Korruption (vgl. Schulte von Drach 2018). Während der islamische Extremismus von dem Ziel geleitet ist, das eigene Land und auf längere Sicht die ganze Welt in das »Haus des Islam« zu bringen und dabei auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, deren Opfer in vielen Fällen Christen sind, dient die systematische Korruption vor allem der Selbstbereicherung. Entführungen mit Lösegelderpressungen konnten sich in dem vom Bürgerkrieg hervorgebrachten Klima der Straflosigkeit und der Anarchie besonders gut ausbreiten. Auch Syrer sind in der letzten Dekade in großer Zahl vor dem Bürgerkrieg im eigenen Land geflohen. Unter ihnen befinden sich keineswegs nur Christen, sondern mehrheitlich Muslime, die dem Terror der IS-Milizen entkommen wollen. Doch unabhängig von ihrer Religion sind allein von 2011 bis 2020 mehr als 500.000 Menschen getötet worden (vgl. Welthungerhilfe 2020). Nach Aussage des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vor dem UN-Sicherheitsrat in New York handelt es sich bei der durch die Kriegssituation in Syrien ausgelösten Fluchtwelle um die Schlimmste seit dem Völkermord in Ruanda in den 1990er Jahren (vgl. FAZ 2013).

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Peter Fonk

Neben den Gründen, die erwachsene Asylbewerber dazu getrieben haben, ihr Heimatland zu verlassen, gibt es einige spezifische Bedrohungssituationen, die besonders für Kinder und Jugendliche zutreffen (vgl. Müller 2014, 12f.). Hier sind vor allem die Rekrutierung als Kindersoldaten, Genitalverstümmelungen bei Mädchen, Zwangsprostitution und Verheiratung, familiäre Gewalt oder die Suche nach Familienangehörigen zu nennen. Es kommt aber auch vor, dass Minderjährige zwar zusammen mit ihren Eltern aus der Herkunftsregion fliehen, diese aber unterwegs verlieren und sich ohne sie bis nach Deutschland durchzuschlagen versuchen. Bewusste Entscheidungen für einen konkreten Zielstaat kommen in der Regel durch familiäre Beziehungen oder Kontakte zu einer dort lebenden Diaspora zustande. Bisweilen werden Kinder aber auch von ihren Eltern gezielt auf die Flucht geschickt, um den zuvor benannten Bedrohungssituationen zu entkommen. Unter den Flüchtlingen stellen die unbegleiteten Minderjährigen, die in Deutschland Schutz suchen oder auf der Durchreise aufgegriffen werden, jedenfalls eine besondere Gruppe dar. In Bezug auf das Migrationsgeschehen in Deutschland machen sie bisher allerdings nur eine verhältnismäßig kleine Zahl aus. Sie kamen in den letzten Jahren vor allem aus Afghanistan, Somalia, Syrien und Ägypten und es ist nicht absehbar, ob ihre Zahl innerhalb der nächsten Jahre weniger wird. Tendenziell ist eher das Gegenteil zu vermuten. Die Erwartungen der Geflüchteten beziehen sich bei allen Gruppen auf die politische und rechtliche Sicherheit in Deutschland. Entgegen der vornehmlich von Rechtspopulisten verbreiteten Parolen, denen zufolge sich die ökonomischen Motive der Geflüchteten auf den Empfang wohlfahrtsstaatlicher Leistungen wie Unterkunft, medizinische Versorgung sowie ein Taschengeld für den täglichen Bedarf richten, liegt aus der Sicht der Betroffenen das primäre ökonomische Ziel darin, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können.

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Perspektiven der Integration

Angesichts der Flüchtlingsströme, die inzwischen Deutschland und viele andere europäische Länder erreicht haben, kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass eine humane Einwanderungspolitik, die sich an den Menschenrechten der Frauen, Männer und Kinder orientiert, nicht erst die Gruppe der Menschen in den Blick nehmen darf, die ihre Herkunftsländer bereits verlassen haben, um in einem anderen Land eine Existenz aufzubauen. Es ist unbedingt notwendig, dass diese Personen in ihren Herkunftsländern eine verlässliche Zukunftsperspektive erhalten – ebenso wie die in diesem Zusammenhang nicht eingehender berücksichtigten Migrantengruppen, die ebenfalls in den erweiterten Kontext dieses Themas gehören. Deshalb sind im Sinne einer

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nachhaltigen Einwanderungspolitik die Bekämpfung der Fluchtursachen und die Überwindung der Armut oberstes Gebot. Das heißt konkret: – Mehr Engagement für die Armutsbekämpfung in den ärmsten Ländern, die mehrheitlich auf dem afrikanischen Kontinent liegen. – Faire Gestaltung der Handelsbeziehungen und der Agrar- und Fischereipolitik unter Berücksichtigung des Rechts auf Nahrung. – Entwicklungsförderliche Wirtschaftsinvestitionen, die menschenwürdige Arbeitsplätze schaffen. – Systematische und nachdrückliche Unterstützung von Akteuren und Maßnahmen der Konfliktprävention und der friedlichen Konfliktbearbeitung wie auch verstärkte Förderung in Post-Konflikt-Situationen. – Stopp von Rüstungsexporten in Krisengebiete und an Regierungen, die Menschenrechte systematisch verletzen. (vgl. EWDE 2013, 2)

Nur unter Berücksichtigung dieser Gebote kann Einwanderungspolitik erfolgreich und dauerhaft tragfähig sein. Sonst kann sie die Probleme nachhaltig ebenso wenig lösen wie die Konzentration auf die Bekämpfung der kriminellen Fluchthelfer und die Abschottung der europäischen Grenzen, welche die Flüchtenden geradezu in die Arme der Schleuser treibt oder auf noch gefährlichere Wege führt (vgl. dazu auch Morice / Rodier 2018). Darüber hinaus muss auch der Schutz während der Flucht deutlich verbessert werden. Dafür schlägt das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung folgende Maßnahmen vor: – Gewährleistung eines effektiven Systems der Seenotrettung im Mittelmeer mit klaren Verantwortlichkeiten. – Ausbau der Möglichkeiten zur legalen Einreise für Schutzsuchende. – Ermöglichung des Zugangs zu einem fairen Asylverfahren und menschenwürdigen Aufnahmebedingungen. – Änderung der Dublin-II Verordnung3, damit eine solidarische Aufteilung der Geflüchteten in Europa möglich ist, die auch deren Wunsch nach einem bestimmten Aufnahmeland Rechnung trägt. – Gestaltung der Aufnahmebedingungen der EU in einer Weise, dass sie gesellschaftliche Teilhabe von Anfang an ermöglichen. In Deutschland bedeutet dies 3 Das Dublin-Verfahren regelt im Kern, dass jeder Asylantrag, der im Dublin-Raum gestellt wird, inhaltlich nur durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union sowie Norwegen, Island, der Schweiz oder Liechtenstein geprüft wird. Im Dublin-Verfahren wird also festgestellt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylverfahrens zuständig ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge informiert den Asylbewerber, dass ein Dublin-Verfahren eingeleitet wurde und befragt ihn zu den Gründen, die ggf. gegen eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat sprechen. So soll verhindert werden, dass gleichzeitig mehrere Asylanträge in verschiedenen Ländern gestellt werden (vgl. BAMF 2019, 16).

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insbesondere die Abschaffung des Arbeitsverbotes im ersten Jahr, des darauf folgenden nachrangigen Arbeitsmarktzugangs, der Residenzpflicht und der Pflicht, in Gemeinschaftsunterkünften einschließlich deren Verpflegungsregelungen leben zu müssen. (vgl. EWDE 2013, 2f.)

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass ein Umdenken sowohl in der Asylals auch in der Migrationspolitik einsetzen muss. Was viele Politiker über lange Zeit nicht wahrhaben wollten, kann inzwischen niemand mehr bestreiten: Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland (vgl. Deutscher Caritasverband 2008, 3). Das Gebot der Stunde ist daher die Entwicklung eines Konzepts, das nicht von der Rückkehrbereitschaft der Flüchtlinge, sondern von ihrer Eingliederung in die Gesellschaft ausgeht (vgl. ebd.). Daraus leitet sich ein schnellstmöglicher Zugang zum Bildungs- und Arbeitsmarkt ab (vgl. hierzu auch den Beitrag von Hansen und Plank in diesem Band). Damit diese Forderung tatsächlich eingelöst wird und nicht im Bereich eines folgenlosen Wunschdenkens verbleibt, wird als notwendiger erster Schritt die Bereitschaft zur Integration vorausgesetzt – und zwar sowohl auf der Seite der Migranten als auch der Aufnahmegesellschaft (vgl. Plutzar 2010). Allerdings wird das Integrationsverständnis, das in diesem Zusammenhang thematisiert wird, durchaus kontrovers diskutiert. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Integrationspolitik in Deutschland lange Zeit die Auffassung zugrunde lag, Integration sei letztlich ein Synonym für Assimilation, also eine vollständige An- und Einpassung der Zuwandernden an die deutsche Gesellschaft unter Aufgabe ihrer Herkunftskontexte zugunsten der Übernahme deutscher Lebensweisen und Identität. Hinter diesem Integrationsverständnis verbergen sich allerdings auch massive Ängste. Diejenigen, die diesem Verständnis von Integration folgen, sind vor allem Einwanderungsgegner, die befürchten, dass Menschen aus dem afrikanischen oder vorderasiatischen Raum nicht in der Lage seien sich anzupassen. Darüber hinaus sehen sie die Gefahr, dass durch die hohe Zahl von Zuwanderern der Druck zur Integration sinkt und sich die Migranten stattdessen in Communities zusammenfinden, in denen sie als Parallelgesellschaft ihr Leben entsprechend ihrer Herkunftskontexte ausgestalten. Bekannte Beispiele hierfür sind rechte Initiativen wie die der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA), die tausende von Menschen mobilisieren und Verschwörungstheorien von der Unterwanderung und Umvolkung Deutschlands propagieren. Der im Jahr 2013 gegründeten und inzwischen rechtspopulistisch bis rechtsextrem ausgerichteten Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) gelang es gar, sich zur drittstärksten Kraft im Bundestag hochzuarbeiten (vgl. Deutscher Bundestag 2019, 4).

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Das Assimilationskonzept bezeichnet innerhalb der führenden Akkulturationstheorien das eine Ende der Skala: die Forderung nach vollständiger Angleichung. Diese Position erscheint jedoch dem Soziologen Ludger Pries für eine differenzierte Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeiten sowie gesellschaftlicher Handlungs- und Gestaltungsforderungen als ungeeignet. Er spricht sich daher für eine Erweiterung und Pluralisierung des bis dato vorherrschenden Verständnisses von Integration aus und entscheidet sich für das Konzept der »pluralistischen Assimilation«, das auf der Vorstellung einer diversen, multikulturellen Gesellschaft basiert und eher zur anderen Seite der Skala tendiert (vgl. Pries 2015, 15). Die Zielvorstellung besteht im Bekenntnis aller in einer Gesellschaft lebenden Menschen zu einem gemeinsamen Wertekodex oder wertebasierten Orientierungsrahmen, der auch allen chancengerechte Teilhabe zugesteht. Zu den führenden Vertretern dieser Richtung im migrationswissenschaftlichen Diskurs zählt John Berry. Anders als etwa der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser, ein in Deutschland über längere Zeit führender Vertreter in dieser Debatte (vgl. Esser 2000, 2009), der zur Darstellung ethnisch-kultureller Inklusions- und Exklusionsverhältnisse das Entweder-oder-Prinzip zugrunde legte, betrachtet er das Verhältnis und den Umgang zwischen soziokulturell unterschiedlichen Gruppen aus der Perspektive des Sowohl-als-auch-Prinzips. Demzufolge ist es durchaus möglich, sowohl die kulturelle Identität und deren Charakteristiken beizubehalten als auch den Kontakt mit anderen Gruppen wahrzunehmen und aktiv an der Gesamtgesellschaft teilzuhaben. Laut Berry (1997, 10) lassen sich vier mögliche Anpassungsdimensionen erheben: 1) Die Marginalisierung bezeichnet den Fall einer Exklusion aus allen sozialen Bezügen. 2) Die Separation (oder Segregation) repräsentiert den Fall der Einbindung in die ethnische bzw. kulturelle Gruppe, aber den Ausschluss aus der Aufnahmegesellschaft. 3) Die Assimilation bezieht sich entsprechend auf den Einschluss in die Aufnahmegesellschaft und die gleichzeitige Aufgabe der ursprünglichen ethnischen bzw. kulturellen Zugehörigkeit. 4) Die Integration ist zu verstehen als inklusive Teilhabe an der Aufnahmegesellschaft unter der Möglichkeit der Beibehaltung von Eigenschaften der ursprünglichen ethnischen bzw. kulturellen Gruppe.

Berry formuliert als Ergebnis seiner Forschungsarbeiten, dass die Kategorie der Integration die gelingende Teilhabe aller Gruppen in Migrationsgesellschaften ausmacht. Dies beinhaltet sowohl die Beibehaltung kultureller Identität und Charakteristiken der nicht-dominanten kulturellen Gruppen als auch Kontakt mit und Teilhabe an anderen kulturellen Gruppen bzw. an der Gesamtgesellschaft.

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Um dieses Ziel zu erreichen bzw. die Migranten dabei zu unterstützen, sind – neben der Politik – zwei Akteure in besonderer Weise gefordert: zum einen die gänzlich neue Flüchtlingshilfebewegung, zum anderen traditionelle Wohlfahrtsverbände als Akteure zivilgesellschaftlicher Flüchtlingshilfe und Willkommenskultur. Die aktuelle Flüchtlingshelferbewegung ist zwischen klassischem Ehrenamt und dem Bereich der neuen sozialen Bewegungen einzuordnen. Sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Dezentralisation aus und setzt sich aus Kleingruppen und privaten Initiativen, Helferkreisen und Einzelkämpfern zusammen. Sie bewegen sich im gesellschaftlichen Feld zwischen den Geflüchteten bzw. Migranten, den Kommunen und Institutionen staatlicher Integrationspolitik sowie der Mehrheitsgesellschaft. Eine zentrale, vermittelnde und koordinierende Rolle zwischen diesen einzelnen Bereichen, insbesondere zwischen ehrenamtlicher und kommunaler Flüchtlingshilfe, nehmen die Wohlfahrtsverbände ein. Ihnen kommt großes Gewicht zu, weil sie – im Unterschied zu den oft spontan entstandenen, eigenständig und lose organisierten Initiativen ehrenamtlich engagierter Privatpersonen – über einen weit entwickelten Organisationsgrad, Strukturen und Ressourcen verfügen. Caritas und Diakonie sind hier in besonderer Weise in die Verantwortung zu nehmen. Zu ihren Kernaufgaben im Bereich der Ersthilfe gehört das vielfältige Engagement der großen christlichen Wohlfahrtsverbände, das wir derzeit deutschlandweit erleben: bei der Schaffung und Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften und der Wahrnehmung der umfangreichen Betreuungsaufgaben – sei es bei der Beratung in Rechtsfragen, der Einbeziehung in die reguläre Gesundheitsversorgung oder gelegentlich auch der Intervention bei den Ausländerbehörden und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Mit der Leistung sofort notwendiger Ersthilfe ist der Auftrag von Caritas und Diakonie allerdings noch keineswegs erfüllt. Der nächste wichtige Schritt besteht darin, Maßnahmen der Integration zu entwickeln und umzusetzen. Denn der Weg, der hinter den Geflüchteten liegt, ist noch nicht zu Ende, wenn sie das geographische Ziel erreicht haben. Dann warten neue Herausforderungen auf sie. Die Hauptaufgabe besteht darin, ihren Platz in der Aufnahmegesellschaft zu finden und sich in diese zu integrieren. Einschlägige Erfahrungen mit gelungenen, misslungenen oder auf halbem Wege stehen gebliebenen Integrationsmaßnahmen liegen auch in Deutschland bereits seit langem vor (vgl. EKD / DBK / ACK 1997; Ceylan4 / Ottersbach / Wiedemann 2018; Ceylan / Uslucan 2018).

4 Rauf Ceylan hat sich nicht nur im Rahmen von empirischen Studien mit der Thematik befasst, sondern diese auch in Romanform bearbeitet (vgl. Ceylan 2015).

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Biblische Migrationsgeschichten

Migration, Flucht und Vertreibung gehören substantiell zur Geschichte und zum Selbstverständnis des Christentums, sodass die damit verbundenen Erfahrungen durchaus als genuine Orte der Theologie gelten können. Sie sind aber nicht nur Applikationsort, Bewährungskontext und Forschungsgegenstand von Theologie, sondern auch Entstehungskontext und Lernort (vgl. Polak / Jäggle 2012, 594). Sie können somit auch Orte in dem Sinne sein, dass die Theologie selbst in die Schule geschickt wird und dazulernt. Anders gesagt: Sie sind »ein theologiegenerativer Ort« (Polak 2014). Diese Überlegungen mögen im ersten Moment theoretisch und abstrakt klingen. Sie sind es aber keineswegs. Das wird sofort deutlich, wenn man sie ins Praktische wendet und in die Frage nach den konstitutiven biblischen Ursprungsorten christlicher Selbstdeutung überführt. Tatsächlich sind die biblischen Texte des Alten und des Neuen Testamentes von der Geschichte der Vertreibung, der Wanderung, des Exils und der Flucht durchzogen. Zu Recht kann man deshalb die Bibel auch als Migrationsbuch lesen. Dies beginnt mit der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, setzt sich fort in der Neuansiedlung Noahs und seiner Familie nach der Sintflut, dem Auszug Abrahams in das verheißene Land, Jakobs Flucht vor Esau, Josefs Verschleppung nach Ägypten bis schließlich zur Übersiedlung seiner gesamten Sippe dorthin. Ihren Höhepunkt findet diese Geschichte nach dem Auszug aus Ägypten, dem Durchzug durch Palästina und schließlich ins Niemandsland Palästina. Im sogenannten kleinen heilsgeschichtlichen Credo verdichtet sich die Erfahrung der migrantischen Identität. Der Satz »Mein Vater war ein heimatloser Aramäer« bildet die Einleitung zu dieser Kurzformel des Glaubens Israels: Du aber sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen. (Dtn 26, 5–9)

Ob mit dem Vater, der als heimatloser Aramäer bezeichnet wird, Abraham, Jakob oder eine andere der großen biblischen Gestalten gemeint ist, sei dahingestellt. Relevant für das Thema dieses Beitrags ist vielmehr die Tatsache, dass dieses als Geschichtssummarium gestaltete Bekenntnis vier geschichtlich gestaltete Themenblöcke präsentiert: erstens den Auszug des aramäischen Stammvaters nach Ägypten, zweitens die dort erlebte Ausbeutung und Unterdrückung, drittens die

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Erhörung der Hilfeschreie des leidenden und geknechteten Volkes durch Gott und viertens die Herausführung aus der Knechtschaft unter der Leitung des Mose. Darauf geht die Gründung jüdischen Selbstverständnisses in der Exodustradition zurück, derer in liturgisch besonders hervorgehobener Form in jedem Jahr bei der Feier des Passahfestes gedacht wird. Der Akzent dieses Credos liegt in der Aussage, dass Israel sich aus Migranten, sprich: Ausländern und Fremden, herleitet und sich nun seinerseits solidarisch zeigen soll gegenüber Fremden und sozial Marginalisierten. Migration und Unterdrückung stehen an zentraler Stelle in diesem kurzgefassten Glaubensbekenntnis. Hier wird deutlich, dass die Migrations- und Unterdrückungsthematik in der Identität des auserwählten Gottesvolkes fest verankert ist und biblische Theologie sich als Theologie der Migration manifestiert (vgl. Karimi 2015, 4).5 Die Gründe für die Migration sind vielfältig. Das soll exemplarisch an zwei Erzählungen aus dem Alten und der Weihnachtsgeschichte aus dem Neuen Testament verdeutlicht werden. In der Erzählung über die Erzeltern Abraham und Sarah (Gen 12–25) beginnt die Geschichte Israels im engeren Sinn. Abraham gilt heute in allen drei monotheistischen Religionen – in chronologischer Reihenfolge Judentum, Christentum und Islam – als Vater des Glaubens. Von ihm wird berichtet, dass Gott ihn aufforderte, seine Heimat und seine Sippe zu verlassen, um in das Land zu ziehen, das Gott ihm zeigen wollte. Dort werde er zum Stammvater eines großen Volkes. Abraham wagte den Auszug in das unbekannte Land und den Schritt in eine unbekannte Zukunft, weil er der Verheißung Gottes glaubte und darauf vertraute, dass Gottes Segen auf ihm ruhte. Als aber in seiner neuen Heimat eine Hungersnot ausbrach, zog er hinab nach Ägypten und hielt sich dort als Fremder auf. Nach heutigem Sprachgebrauch würde man Abraham vermutlich als ›Wirtschaftsflüchtling‹ bezeichnen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Abraham und seine Frau Sarah das taten, was Migranten auch heute noch tun aus Angst, im Aufnahmeland abgewiesen zu werden: Sie täuschten über ihre wahre Identität. In Abrahams Fall stellt sich die Täuschung so dar, dass Abraham dem ägyptischen Pharao gegenüber Sarah als seine Schwester ausgab, anstatt sie richtigerweise als seine Ehefrau vorzustellen. Im Unterschied zu Abraham könnte man Mose in heutigem Sprachgebrauch als ›politischen Flüchtling‹ bezeichnen. Die Erzählung über seine Geburt findet sich in Ex 2, 1–10. Eingeleitet wird sie durch die Notiz, dass die in Ägypten 5 Karimi (2015, 4) gibt den wichtigen Hinweis, dass neben dem Judentum auch der Islam zu jenen Religionen zählt, die »fortwährend von der Urerfahrung der Flucht erzählen, deren Vergegenwärtigung […] Symbolcharakter besitzt. Die Flucht, dass der Mensch exiliert, immer wieder und immerfort, ist eine islamische Lehre […]. Der Prophet ist nicht bloß im Jahre 621/ 622 von Mekka nach Medina ausgewandert. Es ist die Erfahrung der Flucht, die den Gesandten Gottes prägt […]. Wer glaubt, ist ein Flüchtling.«.

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eingewanderten Hebräer, offensichtlich Nachkommen Abrahams, allmählich das Land eroberten – allerdings nicht durch Waffengewalt, sondern durch eine hohe Geburtenrate. Im Gegensatz zu den Ägypterinnen bringen die Hebräerinnen Kind um Kind zur Welt, sodass sie das Land zu füllen begannen. Trotzdem werden die Israeliten nicht ausgewiesen oder vertrieben, da die Ägypter ein starkes wirtschaftliches Interesse an leicht ausbeutbaren Arbeitskräften hatten. Sie teilten den Israeliten die schlechtesten Arbeitsplätze zu und ließen sie durch Aufseher kontrollieren, die sie unter sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen einsetzten. Als ob diese Form der Unterdrückung nicht schon schlimm genug gewesen wäre, erließ der Pharao zusätzlich einen grausamen Befehl, um eine radikale Geburtenkontrolle bei den Hebräerinnen durchzusetzen: Alle männlichen Nachkommen sollten in den Nil geworfen und ertränkt werden, nur die weiblichen Nachkommen durften am Leben bleiben. Der Grund für die Verschonung der Mädchen lag natürlich in der Absicht, diese später mit Ägyptern zu verheiraten, um deren Geburtenzahl anzuheben und das Volk wieder wachsen zu lassen. Unter diesen Voraussetzungen hätte auch das Kind Mose ertränkt werden müssen. Seine Mutter brachte das jedoch nicht übers Herz und verbarg das Kind zunächst die ersten drei Monate nach seiner Geburt. Als dieser Zustand nicht länger durchzuhalten war, setzte sie das Kind in einem selbstgefertigten und wasserdicht gemachten Kästchen am Ufer des Nil ins Wasser. Vermutlich war ihr bekannt, dass an der besagten Stelle die Tochter des Pharao gewöhnlich badete. Sie beauftragte eine ältere Schwester, das weitere Geschehen vom schützenden Uferschilf aus zu verfolgen. Der Plan ging auf; denn die Tochter des Pharao wurde durch das Weinen des Kindes aufmerksam und empfand Mitleid. Die Schwester des Mose trat daraufhin aus ihrem Versteck hervor und bot der Tochter des Pharao an, für das Kind eine hebräische Amme zu besorgen. Diese war keine andere als die leibliche Mutter. Mose wurde von der Tochter des Pharao nach dem Ende der Stillzeit an Kindes Statt angenommen und bei Hofe wie ein ägyptischer Prinz erzogen. Allerdings hatte er ein leicht erregbares Temperament und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Als er zufällig Zeuge wurde, wie ein ägyptischer Aufseher einen hebräischen Arbeitssklaven misshandelte, griff Mose ein und erschlug den Ägypter. Die Tat wurde jedoch beobachtet und Mose ergriff die Flucht nach Midian. Dort machte er die Bekanntschaft des Hohepriesters Jitro, der ihm seine Tochter Zippora zur Frau gab. Eines Tages, als er die Schafe seines Schwiegervaters hütete, offenbarte sich ihm Gott in der Gestalt eines brennenden Dornbusches, der aber von den Flammen nicht zerstört wurde und unversehrt blieb (Ex 3, 1–6). Gott selbst war es, der Mose den Auftrag erteilte, nach Ägypten zurückzukehren und das Volk Israel von der Knechtschaft Ägyptens zu befreien.

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Dieser Gott, der sich als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu erkennen gab, trug ihm auf, das Volk Israel nach Kanaan zu führen, in das gelobte Land. Das Ereignis, das dann folgte, der Exodus der Israeliten, erstreckte sich nach Auskunft der Schrift über vierzig Jahre, die das Volk Israel durch die Wüste zog, in das gelobte Land (Ex 15, 22–18, 27). Höhepunkte dieser Wüstenzeit waren der Bundesschluss zwischen Gott und dem Volk Israel am Berg Sinai (Ex 24), die Erteilung der Zehn Gebote (Ex 20, 1–21; vgl. Lev 19, 1–37) und die Auflistung der einzelnen Gesetze (Ex 25–31). Dieses Exodusgeschehen ist für die jüdische Identität bis heute von zentraler Bedeutung. Jedes Jahr wird dies in der Feier des Passahfestes immer wieder vergegenwärtigt. Für die Christen wird es in den Schriftlesungen der Osternacht stets erneut in Erinnerung gebracht. Weil die Erzählung über den Exodus die Stiftungsurkunde des Judentums darstellt und auch für die Christen eine Schlüsselrolle einnimmt, wird sie an dieser Stelle besonders ausführlich dargestellt. Sie ist der umfangreichste Bericht über eine Migrationsgeschichte in der Bibel, die sich über einen Zeitraum von vierzig Jahren erstreckt. Zugleich wird in ihr die Vorstellung eines Gottes präsent, der immer da ist und mit seinem Volk zieht – ein wandernder Gott, der immer und zugleich auch der Fremde ist und bleibt. Wandernd, migrierend ist auch der Mensch, der sich dieser Herkunft immer bewusst bleiben soll. Auch das Neue Testament enthält eine Migrationsgeschichte, die in dem populärsten aller christlichen Feste, dem Weihnachtsfest, in jedem Jahr gefeiert wird. Hinter der Weihnachtsidylle, die in vielen Krippendarstellungen über Jahrhunderte hinweg die Geburt Jesu und der damit verbundenen und besonderen Ereignisse in lebendiger Erinnerung hält, stehen gleich zwei Migrationsgeschichten: Die erste beginnt bereits damit, dass Maria und Josef sich auf den Weg von Nazareth nach Bethlehem machen müssen, um einer Anordnung des römischen Kaisers Augustus zu folgen. Für eine von ihm angeordnete Volkszählung muss jeder Mann sich in seine Heimatstadt begeben und sich dort registrieren lassen. Wie vorauszusehen gewesen wäre, strömen die Menschen scharenweise in ihre Heimatstädte, die solche Menschenmassen, die plötzlich über sie hereinbrechen, gar nicht aufnehmen können. So müssen Maria und Josef schließlich in einem Stall übernachten. Dort wird auch das Kind geboren. Dieses Kind Jesus kommt unbehaust und in einem besetzten Land zur Welt – an einem fremden und ungastlichen Ort. Das ist der Hintergrund der Weihnachtsgeschichte, die der Evangelist Lukas berichtet (Lk 2, 1–20). Ab dem frühen Mittelalter wurde die Geburt in einer armseligen Notunterkunft allmählich zur Idylle verklärt. Der ersten Migrationserzählung folgt noch eine weitere, von welcher der Evangelist Matthäus (Mt 2, 1–23) zu berichten weiß. Es waren nicht nur Hirten, die dem neugeborenen Kind Jesus ihre Huldigung entgegenbrachten. Ihnen folgten später weise Männer, vermutlich Gelehrte, die

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im Volksmund später »Heilige Dreikönige« genannt wurden. Weil sie sich auf ihrem Weg zu dem Kind Jesus bei dem von Rom eingesetzten König Herodes nach dem neugeborenen König der Juden erkundigten, geriet Herodes in helle Aufregung, weil er den Verlust seiner Macht befürchtete. Deshalb befahl er, so berichtet die Bibel, alle Knaben im fraglichen Alter präventiv umzubringen (Mt 2, 16), damit niemand ihm den Thron streitig machen konnte. Die Heilige Familie erhielt jedoch auf wunderbare Weise Kenntnis von Herodes’ grausamem Vorhaben und floh noch in der Nacht nach Ägypten. Diese Flucht vor dem Aggressor Herodes und der Aufbruch in ein fremdes Land macht Migration zu einem beliebten Thema vieler Weihnachtspredigten. Auch Papst Franziskus hat daran erinnert, dass das Kind Jesus zusammen mit seinen Eltern auf der Flucht nach Ägypten die dramatische Situation der Vertriebenen und Flüchtenden am eigenen Leib erfahren hat. Migration ist ein Menschheitsproblem aller Zeiten und spielt demgemäß auch in der Bibel eine große Rolle. Das alttestamentliche Gebot, auch den Fremden zu lieben (Lev 19,34) und ihn an den Festen teilhaben zu lassen, ohne die religiösen Pflichten des Judentums übernehmen zu müssen (Ex 20,10; Dtn 5,14), wurzelt in den breiten Migrationserfahrungen des Volkes Israels und bringt die praktischen Konsequenzen für ein gelingendes Zusammenleben beider Gruppen auf den Punkt.

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Integration als genuine Aufgabe von Caritas und Diakonie

Allerdings wird im Alten Testament begrifflich zwischen verschiedenen Kategorien von Fremden unterschieden. Daraus resultieren auch unterschiedliche rechtliche Regelungen hinsichtlich des Umgangs mit ihnen, ihrer gesellschaftlichen Stellung sowie der Privilegien und des Schutzes, den sie genießen. Ludger Schwienhorst-Schönberger (2018, 337f.) schreibt dazu: Das Alte Testament unterscheidet zwischen dem Fremden (ger) und dem Ausländer (nokri) – so die übliche Übersetzung für zwei unterschiedliche hebräische Begriffe. Mit dem Fremden ist der innerisraelitische Immigrant gemeint. Der häufig zitierte Satz: »Einen Fremden (ger) sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr seid selbst im Land Ägypten Fremde gewesen« (Ex 22,20) bezieht sich nicht auf Angehörige anderer Völker, sondern auf Angehörige des eigenen Volkes. Ihnen gegenüber gilt das Gebot der Integration: »Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, dann sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen« (Lev 19,33f). Anders wird der Umgang mit Ausländern (nokri) geregelt. Der Ausländer ist jemand, »der nicht von deinem Volk Israel ist und aus einem fernen Land kommt« (1 Kön 8,41). Auch die Ausländer sind in Israel nicht schutzlos, sie gehören aber nicht zur Gruppe der personae miserae, denen in besonderer Weise geholfen werden muss.

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Kurz: Während das AT beim Fremden auf Integration zielt, tendiert es beim Ausländer zur Abgrenzung […]. Die Abgrenzung von allen Nichtisraeliten zielt allerdings nicht auf eine endgültige Exklusivität Israels, sondern ist ein Weg der Identitätswahrung in der Gotteszeugenschaft [insbesondere während der lang andauernden Zeit im Exil, Erg. P.F.] (Schwienhorst-Schönberger 1995, sp. 126).

Das Neue Testament knüpft an diese alttestamentlichen Verhaltensregeln an, um sie am Beispiel des barmherzigen Samariters zu illustrieren und zu vertiefen (Lk 10, 25–37): Derjenige, der von Jesus als Adressat der Nächstenliebe vorgestellt wird, ist nicht nur der Volksgenosse beziehungsweise Angehörige der eigenen Glaubensgemeingemeinschaft, allerdings auch nicht in einem vagen und entgrenzten Sinn die ganze Menschheit, sondern primär jeder Not leidende Mensch – auch der Fremde. Die Gerichtsrede im Matthäusevangelium (Mt 25, 31–46) vermittelt die Botschaft, dass die Verantwortung für den Fremden zum ethischen Gebot und zugleich zum spirituellen Begegnungsort mit Christus selbst wird (vgl. Karimi 2015, 4).6 Weil es in der Frage des Umgangs mit Geflüchteten um Kernbestände christlicher Identität geht, ist es dringend gefordert, von einer Rhetorik Abstand zu nehmen, die Geflüchtete ins Zwielicht stellt. Stattdessen muss man in ihnen jene Schwestern und Brüder sehen, die in Not geraten und auf Solidarität angewiesen sind. Es hilft nämlich nicht, Europas Außengrenzen abzuriegeln, sodass Asylsuchenden der Zutritt verwehrt bleibt. Um es in einem Wort von Bischof Genn zu sagen: »Stacheldrähte lösen die Probleme nicht.« (Genn 2015, 18). Das Integrationsverhalten in der jüdisch-christlichen Kultur kann zwar nicht in einem direkten Sinne als Maßnahmenkatalog für notwendige operative Maßnahmen, doch sehr wohl als Heuristik für den Umgang mit den heute aktuellen Fragen herangezogen werden und in diesem Sinne hilfreiche Anregungen geben. Die Analyse des biblischen Befundes, die schon vor einigen Jahren von AlbertPeter Rethmann durchgeführt wurde und von bleibender Aktualität ist, zeigt ein vierfaches Ergebnis (vgl. auch Rethmann 1996): Erstens: Im Alten Testament wurde der Fremde vor allem in seiner Schutzbedürftigkeit gesehen und nicht als Bedrohung für die Aufnahmegesellschaft empfunden. Zweitens: Dort ist auch die zunehmend stärker werdende Tendenz erkennbar, den Zuwanderer dem Einheimischen rechtlich gleichzustellen. Drittens: Insbesondere durch die Integration in das Leben und Feiern der Familie wurde ihm die Partizipation an der 6 Karimi (2015, 4) weist darauf hin, dass auch in diesem Punkt eine wichtige Parallele des Islam zum Christentum vorliegt: »Wer der Spur des Propheten folgt, hat ihn zunächst als Flüchtling […] zu begreifen. Wer einem Flüchtling die Hand reicht, wer einen Flüchtling pflegt und seiner gedenkt, der gedenkt des Propheten.«.

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Alltagskultur ermöglicht. Viertens: Im Neuen Testament kommt als weiteres Merkmal hinzu, dass das Gebot universal geltender Nächstenliebe jeden volksgebundenen Partikularismus überwindet und somit ethische wie kulturelle Klassifizierungen bewusst durchbricht. Dafür kann das Gleichnis des barmherzigen Samariters (vgl. Lukas 10, 25–37) als Schlüsselerzählung gelten: Dort beantwortet Jesus in narrativer Form die Frage, wer aus christlicher Sicht als Nächster anzusehen sei. Er erzählt die Geschichte von einem Reisenden der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen, ausgeraubt, niedergeschlagen und halbtot zurückgelassen wurde. Mehrere Menschen gingen vorbei, unter ihnen ein Priester und ein Levit, doch sie kümmerten sich nicht um ihn. Erst ein Samariter, also aus jüdischer Sicht ein Andersgläubiger, nahm sich seiner an, versorgte ihn medizinisch und brachte ihn zur weiteren Pflege in eine Herberge. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gilt deshalb als Schlüssel für das Verständnis christlicher Nächstenliebe, die bewusst alle ethnischen und kulturellen Klassifizierungen durchbricht. Wenngleich es eine überzogene Schlussfolgerung wäre, die Praxis der Nächstenliebe als allein dem Christentum vorbehalten zu behaupten, beansprucht sie zweifelsohne eine Spitzenstellung, die sie in die unmittelbare Nähe des Zentralgebotes der Gottesliebe rückt und untrennbar mit diesem verbindet. Gottesliebe erweist sich in dem Maße als glaubwürdig, in dem sie erfahrbar und als Nächstenliebe konkret wird. Deshalb bietet sich das Nächstenliebegebot für eine theologische Grundlegung caritativer Diakonie geradezu an. Der ethische Anspruch des Samaritergleichnisses wurde deshalb in der christlichen Tradition vorrangig in seiner Bedeutung für die diakonische Praxis verstanden und als Vorbild für die Praxis sowohl des einzelnen Christen als auch der Kirche gesehen. Die Geschichte dieser Auslegung umschreibt damit aber auch Selbstverständnis und Aufgabenfeld caritativer Diakonie. Adressat sind dabei nicht in einem entgrenzten und damit vagen Sinne alle Menschen, sondern primär Not leidende Menschen. Das legt sich aus der Schlussfrage Jesu an den Gesetzeslehrer nahe: »Wer von diesen dreien hat den Mann, der von den Räubern überfallen wurde, wie seinen Nächsten behandelt?« (Lk 10, 36). Es bedarf keiner Frage, wer in unseren Tagen zu jenen Menschen gehört, auf den sich die Forderung christlicher Nächstenliebe richtet: Es sind auch jene, die als Geflüchtete vor Bedrohung und Verfolgung bei uns Schutz und Aufnahme suchen. Deshalb entspricht die Forderung, im Gefolge von Integration und Inkulturation den von außen neu hinzugekommenen Menschen auch Partizipation an den gesellschaftlichen Institutionen unserer Gesellschaft zu ermöglichen, nicht nur einem Gebot pragmatischer Klugheit mit Blick auf ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunftskulturen, sondern erwächst aus einem Menschenbild, demzufolge die Gleichheit aller Menschen vor

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Gott auch in der Schaffung prinzipiell gleicher Ausgangsbedingungen für den Erwerb gesellschaftlicher Positionen und gesellschaftlicher Mitwirkung konkret zum Ausdruck kommen muss. Für Wahrnehmung von Integrationsaufgaben in Caritas und Diakonie müssen nicht nur religiöse, sondern auch kulturelle Aspekte des Integrationsprozesses in den Blick genommen werden. Doch auf die Frage »Was verstehen wir unter Kultur?« eine umfassende und das Phänomen vollständig definierende Antwort zu geben, ist nicht leicht. Legt man die Auskunft des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zugrunde, ist Kultur »eine beginnende, sich abwandelnde, sich vollendende und auflösende Lebensgestalt und -form von Nationen, Völkern und Gemeinschaften« (Perpeet 1976, 1309). Einer weiteren Definition zufolge, die uns Karl Berkel und Rainer Herzog an die Hand geben, ist Kultur – im Gegensatz zur Natur – »immer ein Werk von Menschen. Menschen eines bestimmten Kulturkreises entwickeln in der Gesamtheit ihrer Lebensbekundung spezifische Grundmuster. Diese gründen im Kern auf geistige Vorstellungen, aus denen sich bestimmte Denkmuster, Entscheidungsregeln und damit die praktische Lebensgestaltung ableiten.« (Berkel / Herzog 1997, 9). Eine humane Einwanderungspolitik bedarf auch einer klaren Gestaltung. Neben dem Aufbau einer echten Willkommenskultur muss sie auch eindeutige normative Vorgaben bereitstellen. Diese betreffen allerdings beide Seiten, denn sie liegen sowohl im Interesse des Einwanderungslandes als auch der Zuwanderungsgruppen. Im Interesse des Einwanderungslandes liegen sie deshalb, weil nur dann, wenn eine möglichst weitgehende Integration in Gesellschaft und Wirtschaft ermöglicht wird, politische Radikalisierung und religiöse Fundamentalisierung verhindert werden […]. Man muss wissen, dass Radikalisierungen in der Regel eine Folge von Armut und Desintegration sind. (Rethmann 1996, 333)

Eine beträchtliche Rezeptions- bzw. Internalisierungsleistung ist aber auch von den Menschen der Zuwanderungsgruppen gefordert. Sie müssen, um am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben des Einwanderungslandes teilhaben zu können, zunächst die Sprache erlernen, sich aber auch den kulturellen Werten der Aufnahmegesellschaft annähern, sich auf diese einstellen und diese respektieren. Die Auseinandersetzung mit den zunächst fremden kulturellen Codes bringt häufig die Selbstdefinition des Zuwanderers in Bewegung, die nicht ohne Krisen verläuft. Deshalb vollziehen sich Integrationsprozesse stufenweise und erstrecken sich in der Regel über mehrere Generationen. Um diesen Prozess erfolgreich zu fördern, hat der Deutsche Caritasverband bereits vor einigen Jahren einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, in dem die Grundlagen einer nachhaltigen und humanen Migrations- und Integrationspolitik erarbeitet werden:

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Integration heißt: Heimat schaffen für alle […] Integration heißt: Vielfalt achten – Dialog und Begegnung fördern […] Integration heißt: Chancengerechtigkeit herstellen – Ausgrenzung beseitigen […] Integration heißt: Familien schützen – ihre Mitglieder stärken […] Integration heißt: Bildungsgerechtigkeit – Potenziale stärken und individuell fördern […] 6. Integration heißt: Ausbildung fördern, Arbeitsmarkt öffnen, Diskriminierung abbauen […] 7. Integration heißt: Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus nicht im Stich lassen […] 8. Integration heißt: Rechtliche Barrieren abbauen. (Deutscher Caritasverband 2008, 12–15)

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»[…] und der Fremdling, der in deinen Toren ist.«: Kirchliche Stellungnahmen und theologische Reflexion

Dass die Bewältigung der Herausforderungen durch Flucht und Migration sowie die Integration in die Aufnahmegesellschaft eine der größten Zukunftsaufgaben darstellen, ist der katholischen Kirche und den christlichen Kirchen überhaupt deutlich bewusst. Sowohl auf weltkirchlicher7 als auch auf nationaler Ebene (vgl. Die deutschen Bischöfe 2001; 2004) hat die katholische Kirche zu diesem Thema mehrfach ausführlich Stellung bezogen (vgl. Bünker 2015).8 Als bis heute Richtung weisend und die Komplexität des Themas umfassend behandelnd kann sicher das Gemeinsame Wort »[…] und der Fremdling, der in deinen Toren ist« betrachtet werden (vgl. EKD / DBK / ACK 1997). Es stellt die verschiedenen Aspekte von Migration, Flucht und Vertreibung dar; zugleich will es Perspektiven für einen Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog in diesen Fragen aufzeigen. Damit soll Hilfe für die kirchliche Arbeit mit Migranten – und damit auch mit Flüchtlingen – und für die politische Gestaltung in diesem Handlungsfeld angeboten werden.

7 Siehe dazu die Dokumente: Apostolische Konstitution »Exsul Familia« (Papst Pius XII 1952), Gaudium et spes (Zweites Vatikanisches Konzil 1965), Pastoralis Migratorum cura (Papst Paul VI 1969), Flüchtlinge – eine Herausforderung zur Solidarität (Päpstlicher Rat Cor Unum 1992), Instruktion Erga migrantes caritas Christi (Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs 2004), In Flüchtlingen und gewaltsam Vertriebenen Christus aufnehmen (Päpstlicher Rat Cor Unum / Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs 2013), Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen. Für ein friedliches Zusammenleben in der Welt (Papst Franziskus 2019). 8 Bünker (2015) weist darauf hin, dass die Folgen der Zuwanderung nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirche selbst betreffen, weil sie auch spürbare Auswirkungen auf die Identität christlicher Gemeinden haben können.

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Das Gemeinsame Wort ging schon vor über 20 Jahren von der Tatsache aus, dass Migration, d. h. Aus-, Ein- und Weiterwanderung, Vertreibung und Flucht nicht vorübergehende Erscheinungen sind, die bald erledigt sind bzw. durch perfekte Sicherung der Grenzen überwunden werden können. Vielmehr gehört Migration in ihren vielfältigen Erscheinungsformen, somit auch Vertreibung und Flucht, in allen Phasen der Menschheitsgeschichte zur Wirklichkeit unserer Welt und unserer Gesellschaft. Sie sind eine bleibende Herausforderung. Das gilt umso mehr, als unser Land im Zentrum eines sich einigenden Europas liegt und auf offene Grenzen angewiesen ist und bleibt. Es ist aus meiner Sicht überaus verwunderlich, dass die Richtung weisenden und bis heute aktuellen Einsichtsbestände, die in diesem Memorandum aller christlichen Kirchen eröffnet werden, so lange Zeit gebraucht haben, bis sie sich auch im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs durchgesetzt haben. Nicht erst das Jahr 2015 stellt einen Wendepunkt dar. Die Entwicklung, die uns damals angeblich überrollt hat, war schon seit Jahrzehnten absehbar. Spätestens seit den Erfahrungen der frühen 1990er Jahre […] ist offenkundig: Migrationspolitik ist Gesellschaftspolitik im weitesten Sinne; denn Migrationsfragen sind heute nicht mehr Randprobleme, sondern zentrale und gesellschaftliche Aufgaben und werden aller Voraussicht nach künftig in ihrer Bedeutung noch zunehmen (EKD / DBK / ACK 1997, 29, Absatz 60).

Eine umfassende Migrationspolitik kann allerdings nur erfolgreich sein, wenn sie sich auf einen möglichst breiten Konsens stützen kann. Sie kann in einer freiheitlichen Demokratie nicht gegen die einheimische Mehrheit durchgesetzt werden, wenn gefährliche Folgen, vor allem zu Lasten zugewanderter Minderheiten, aber auch des politischen Systems insgesamt vermieden werden sollen (vgl. EKD / DBK / ACK 1997, 29, Absatz 60). Die Migrationspolitik ist eine wichtige politische Gestaltungsaufgabe der kommenden Jahre. Diese kann allerdings nur gelingen, wenn die Wirklichkeit nicht verdrängt, sondern akzeptiert wird. Für die Akzeptanz dieser Aufgabe wie auch die Akzeptanz der zugewanderten Minderheiten muss bei der einheimischen Bevölkerung, muss in unserem Land, immer neu geworben werden. Zu diesem gesellschaftlichen Diskurs will diese Abhandlung einen bescheidenen Beitrag leisten.

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Fazit

Die Geschichte der Menschheit, so hat sich – auch bei einem Blick in die Bibel – gezeigt, ist eine Geschichte der Migration seit jeher. Zahlreiche Beispiele belegen, dass Migration zu einer Bereicherung für die Kultur der Aufnahmegesellschaft geführt hat und deshalb durchaus wünschenswert ist. Ob der notwendige Fol-

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geschritt der Integration dann auch erfolgreich verläuft, hängt vor allem davon ab, ob die Migranten bei uns auf eine offene Willkommenskultur treffen. Das wird der Lackmustest für das Funktionieren unserer Demokratie sein. In gleichem Maße gilt diese Bewährungsprobe für die großen Wohlfahrtsverbände, insbesondere Caritas und Diakonie, die angesichts der Herausforderungen, die von der Migration und Integration ausgehen, mit der Bewältigung ihrer Kernaufgaben konfrontiert werden. Das müsste zu schaffen sein.

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Britta Kägler

Historische Migrationsprozesse in Bayern: Netzwerke als Grundlagen von Migration in der (Frühen) Neuzeit

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Einleitung: Migration in Bayern

Migration, das finde ich in bilateralen Anwerbeabkommen, in Verwaltungsschriftgut, das beispielsweise in regionalen Arbeitsämtern1 entstanden ist, oder in Telefon- und Kreisadressbüchern2. Hinzu kommen die vielfältigen Quellen kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Provenienz, die von Vereinsprotokollen über Pfarrbriefe oder Programmhefte von Volkshochschulen3 bis hin zu privaten Aufzeichnungen reichen. Während die Anwerbepolitik europäischer Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg die staatlichen Rahmenbedingungen für die Migration von hunderttausenden sogenannten Gastarbeitern4 schuf, fand das konkrete Management von Migration auf regionaler und auf kommunaler Ebene statt, vor allem in nachgeordneten Behörden. Insbesondere die Überlieferung der Arbeitsämter kann dabei einen Eindruck von den administrativen und integrativen Herausforderungen vermitteln, mit denen Migration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesteuert bzw. gefördert wurde. Anhand der genannten Quellengattungen werden die unterschiedlichen Ebenen deutlich, auf denen politisch-administrative Entscheidungen und Problemlösun1 Verwaltungstechnisch waren die Arbeitsämter und Landratsämter in den 1960er und 1970er Jahren Unterbehörden, die den Mittelbehörden, den Landesarbeitsämtern und Regierungsbezirken zugeordnet waren. 2 Zum Quellenwert von Telefon- und Adressbüchern für Studien zu Internationalisierung und Migration vgl. Schemmer (2016, 30 und 168). Als aussagekräftig erweisen sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Branchenverzeichnisse wie die Handels-, Gewerbe- und Berufsverzeichnisse der Fernsprechteilnehmer für die größeren bayerischen Städte oder die Regierungsbezirke. 3 Die Volkshochschulen waren stets kommunale Einrichtungen, entweder einer Gemeinde, mehrerer Gemeinden oder eines Landkreises. Sie können aber auch eine Scharnierfunktion zwischen kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteuren einnehmen. 4 In diesem Beitrag wird, abweichend zu den Beiträgen anderer Autorinnen und Autoren in diesem Band, das generische Maskulinum verwendet. Grund hierfür ist, dass sich der vorliegende Beitrag vor allem auf historische Diskurse bezieht und diese i. d. R. im generischen Maskulinum gehalten waren.

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gen im 20. Jahrhundert ineinandergriffen.5 So regelten die Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Staaten wie Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien oder der Türkei den bundesweit einheitlichen rechtlichen Rahmen für die Anwerbung von »ausländischen Arbeitnehmern« (vgl. Rieder 2019; Knoll / Scharf 2021, 123). Von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 kamen etwa 14 Mio. Arbeitsmigranten nach Westdeutschland. Auch wenn rund 11 Mio. letztlich wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrten, wurde mit der Anwerbung der ›Gastarbeiter‹ ein Grundstein fu¨ r dauerhafte Migration gelegt, weil sich ein beträchtlicher Teil der Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik niederließ und Familienmitglieder nachholte. Zwar erklärte der erste Ausla¨nderbeauftragte der BRD Heinz Ku¨ hn (SPD) bereits Ende der 1970er Jahre, dass Westdeutschland faktisch ein Einwanderungsland sei (vgl. Hoerder 2010, 105; Meier-Braun 2017, 35; Kühn 1979), es sollte aber noch viel Zeit vergehen, bis sich der Staat offiziell zu dieser Rolle bekannte. Allerdings fanden die tatsächliche Einbindung der Arbeitsmigranten in den Arbeitsmarkt und die Integration in die Lebenswelt vor Ort ohnehin nicht auf Bundesebene, sondern auf der Ebene von Ländern und Kommunen statt.6 Der Blick auf Bayern soll das im Folgenden verdeutlichen. Bayern hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wie der Rest der Bundesrepublik ein starkes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen, das zunächst durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen (vgl. Bauernfeind / Fleischmann / Simon 1994; Ziegler 2009, 147) und seit den 1950er Jahren zunehmend durch Arbeitsmigranten aus ganz Europa geprägt war. Die Bedeutung dieser Zuwanderung lässt sich auch daran festmachen, dass die Geburtenrate im Freistaat bereits seit Mitte der 1960er Jahre unter der Zahl der Sterbefälle lag; d. h. Bayerns Bevölkerung wuchs längst nicht mehr von innen heraus.7 Die Zahl der in 5 Zuletzt setzte sich Alexander Wegmaier intensiv mit den Anwendungsmöglichkeiten des Konzepts des »Mehrebenensystems« in der Landesgeschichte auseinander. Er betont dabei, dass eine allgemeingültige Definition des Mehrebenensystems noch immer ausstehe. Vor allem geschichtswissenschaftliche Studien vertrauen Wegmaier (2021, 25) zufolge immer noch auf der »plastischen Bildkraft des Begriffs« an sich. 6 Die Nachfrage nach Arbeitskräften und die verschiedenen Anwerbeabkommen, die in der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1973 geschlossen wurden, waren allerdings kein Sonderfall des deutschen Wirtschaftswunders. Die skandinavischen Länder hatten bereits 1952 erste Handelsabkommen unterzeichnet, die Freizügigkeit über Grenzen hinweg vorsahen. Und die mitteleuropäischen Industrienationen zogen Mitte der 1950er Jahre nach und etablierten ein westeuropäisches Migrationssystem, das auf Su¨ d- und Su¨ dosteuropa ausgerichtet war (vgl. Rass 2009, 122; Herbert / Hunn 2000, 273–278). In der DDR gab es ab den 1960er Jahren ebenfalls sog. Vertragsarbeiter (vgl. Schulz 2011, 143–168; Gruner-Domic´ 1996, 204–230; Jasper 1991, 151–189). 7 Dieser Geburtenrückgang lässt sich anhand des demographischen Datenmaterials des Bayerischen Landesamts für Statistik erfassen, das die Geburtenrate in Bayern im Jahr 1964 noch bei durchschnittlich 2,6 Kindern pro Frau sah, während sich die Geburtenrate seit 1973 unverändert zwischen 1,3 und 1,6 Kindern pro Frau eingespielt hat (vgl. Lorenz 2007 sowie Hirtz / Lorenz / Roncador 2008).

Historische Migrationsprozesse in Bayern

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Bayern lebenden Menschen lässt sich anhand der statistischen Daten der Volkszählungen aus den Jahren 1939, 1950 und 1961 nachvollziehen: Die Einwohnerzahl stieg von 7,1 Mio. im Jahr 1939 in kürzester Zeit auf 9,1 Mio. im Jahr 1950 an. Dieses starke Bevölkerungswachstum flachte zu Beginn der 1960er Jahre zwar wieder ab, sodass die Volkszählung von 1961 über gut zehn Jahre hinweg nur einen leichten Anstieg auf 9,5 Mio. Menschen verzeichnen konnte (vgl. Bätzing 2006). Allerdings erwies sich das Bevölkerungswachstum als entscheidender Faktor für Bayerns – wirtschaftliche – Entwicklung. Der Beitrag, den insbesondere ausländische Arbeitnehmer zum Wirtschaftsaufschwung in Bayern geleistet hatten, wurde auch auf kommunaler Ebene bereits früh gewürdigt. So forderte der Münchener Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel 1970 – noch vor dem berühmten Kühn-Memorandum – die politischen Vertreter seiner Stadt dazu auf, anzuerkennen, dass München längst eine Einwanderungsstadt geworden sei (vgl. Zölls 2017, 256–258). »Das mag«, so Vogel, »manche erschrecken, aber es ist die Wahrheit!« (Vogel 1972, 320). Diese Zuschreibung trug den Wanderungsbewegungen aus Griechenland, Italien, Jugoslawien und der Türkei Rechnung, den ausländischen Restaurants, die nach und nach in bayerischen Städten eröffneten (vgl. Gebhardt 2011; Kramer 2017, 57f.; Möhring 2012, 46, 91), aber auch den Fließbandarbeitern in der Automobilindustrie oder den – oft saisonalen – Arbeitskräften in der Landwirtschaft. Von den 1950ern bis in die 1970er Jahre8 war die Zuwanderung aus Süd- und vor allem aus Südosteuropa ein zentrales Element des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Bayern. Zwar unterlag auch die Arbeitsmigration vielfältigen Konjunkturen, so brach z. B. die griechische Zuwanderung aufgrund der Wirtschaftskrise Mitte der 1960er Jahre kurzzeitig ein. Sie stieg aber nach 1968 wieder an, wofür einerseits die guten Verdienstmöglichkeiten in Bayern, andererseits die politischen Repressionen zur Zeit der griechischen Militärdiktatur verantwortlich waren. Außerdem kamen zunehmend Migrationsnetzwerke zum Tragen (vgl. Vermeulen 2010, 605). Allerdings gibt dieser Fokus auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur einen kleinen und nicht repräsentativen Eindruck von Migrationsprozessen wieder. Auch wenn die Zuwanderung durch Flüchtlinge, Vertriebene, Arbeitsmigranten und Asylbewerber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs quantitativ besonders ins Gewicht fällt und zuletzt durch die sogenannte Flüchtlingswelle von 2015 auch wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist, gab es in der deutschen Migrationsgeschichte doch verschiedene Phasen und Migrationsgründe. Bleiben wir beim Fall Bayern, dann wird rasch deutlich, dass Bayern selten nur Einwanderungs- oder nur Auswanderungsland war. So dominierte im 8 Auch nach dem Anwerbestopp 1973 hielt die Zuwanderung durch den Familiennachzug bis in die 1980er Jahre weiterhin an, vor allem zwischen 1973 und 1985 (vgl. Bätzing 2006).

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19. Jahrhundert beispielsweise die Auswanderung nach Amerika (für eine Darstellung dieser Migrationsgeschichte aus der Perspektive des Einwanderungslandes Amerika vgl. auch den Beitrag von Fitz in diesem Band). In Bayern lassen sich dabei drei intensive Auswanderungsphasen für die Jahre 1846–1857, 1864– 1873 und 1881–1893 herausarbeiten. Auch hier spielten neben wirtschaftlichen Nöten oder politischen Repressionen Migrationsnetzwerke eine entscheidende Rolle (vgl. Becker 2005; Brockhoff et al. 2004). Denn wenn erst einmal Verwandte, Freunde oder Bekannte die Reise erfolgreich hinter sich gebracht hatten, dann sank die Hemmschwelle, es selbst zu versuchen, und die Auswanderungsbereitschaft stieg.9 Diese sogenannte Folgewanderung führte mitunter sogar dazu, dass ganze Familien oder auch ganze Dorfgemeinschaften auswanderten (vgl. Brockhoff 2004, 4). An dieser Stelle lässt sich ein Bogen zum Beginn dieses Beitrags schlagen, denn entsprechende Quellennachweise über massenhafte Auswanderungen lassen sich über Jahrhunderte hinweg in Kirchenbüchern, den sogenannten Pfarrmatrikeln, finden. Aufgrund der bayerischen Gesetzgebung zur Ansässigmachung und Verehelichung sowie aufgrund des Heimatrechts in Bayern, das bis ins späte 19. Jahrhundert keinen Anspruch auf Freizügigkeit und Auswanderung kannte, ergänzen allerdings staatliche Überlieferungen (z. B. Anträge auf Reisepässe) diese kirchliche Überlieferungsstruktur, die zumindest dann an ihre Grenzen kam, wenn Migranten nicht problemlos in das Ideal des homogenen Konfessionsstaates eingegliedert werden konnten – und damit auch nicht in die flächendeckende Struktur römisch-katholischer Pfarrbezirke. Aber konnte es in der Vormoderne denn überhaupt solche Fälle von andersgläubigen Migranten geben? Galt nicht gerade Bayern seit dem 16. Jahrhundert als Speerspitze des Katholizismus im Alten Reich, in dem seit dem Westfälischen Frieden der jeweilige Landesherr festlegte, welcher Konfession sich die Untertanen in ihrem Herrschaftsbereich anzuschließen hatten? Die Formel »cuius regio, eius religio« bzw. das »ius reformandi« des jeweiligen Landesherrn standen ja schließlich für die friedenssichernde Errungenschaft des Augsburger Religionsfriedens (1555) und – noch einmal bekräftigt – des Westfälischen Friedens (1648). Ja, es muss mit der Vorstellung aufgeräumt werden, dass frühneuzeitliche Gesellschaften keine konfessionelle Toleranz kannten. Trotz des Festhaltens am Idealbild eines möglichst homogenen Konfessionsstaates gab es 9 Hinzu kam, dass im 19. Jahrhundert immer mehr Informationsschriften auf den Markt kamen, die Auswanderungswilligen bei organisatorischen und politisch-rechtlichen Fragen behilflich waren. Besonders gut untersucht ist das Phänomen der »American Letters« für norwegische Auswanderer nach Amerika (v. a. Minnesota) sowie die erfolgreiche Zeitschrift »Kvinden og Hjemmet – A Monthly Journal for the Scandinavian Women in America«, begründet von Ida Hansen (vgl. Gilbertson / Olsen 2004; Peterson 2011; Blegen 1931). Den Vergleich zur kleinräumlicheren Migration zieht Dribe z. B. anhand der Auswertung von Pfarrmatrikeln im ländlichen Schweden (vgl. Dribe 2000; Westin 2000).

Historische Migrationsprozesse in Bayern

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bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert zwei strukturelle Bereiche, in denen das Merkmal der Konfession zunehmend in den Hintergrund geriet, zumindest wenn es sich bei den konfessionsfremden Migranten um gefragte wirtschaftliche oder kulturelle Eliten handelte. In Bayern betraf das einerseits herausragende Künstler, denen Engagements am Hof ermöglicht wurden, andererseits aber auch technisch oder handwerklich versierte Experten, die angeworben werden mussten, um in Bereichen wie Bergbau, Hydrologie, Manufakturwesen oder Proto-Industrialisierung nicht ins Hintertreffen zu geraten. Matthias Asche hat insbesondere für den Südwesten des Alten Reichs gezeigt, dass dieser Traditionsstrang zusammen mit kameralistischen Ideen wegweisend für die groß angelegten Peuplierungs- und Binnenkolonisationsmaßnahmen wurde, was schließlich zu einer schleichenden Überlagerung des Konfessionalisierungsprozesses durch den Säkularisierungsprozess führte (vgl. Asche 2009; Kraus 2008; Nipperdey 2010).10 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass nicht erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern bereits ab der Frühen Neuzeit von einer hohen Mobilität innerhalb der bayerischen Gesellschaft ausgegangen werden muss. Die Vorstellung, dass Menschen in der vormodernen Gesellschaft nicht besonders mobil gewesen seien, muss als veraltet betrachtet werden. Vielmehr hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Migrationsbewegungen in der Geschichte häufig »keine biographischen Ausnahmeereignisse«, sondern Migrationserfahrungen durchaus üblich waren (Schaub 2017, 81f.). Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst ein kurzer Überblick über Ansätze der historischen Migrationsforschung gegeben werden. Anschließend möchte ich zwei ausgewählte Blicke in die bayerische Migrationsgeschichte werfen und zeigen, dass es in der Frühen 10 Trotz der Peuplierungsmaßnahmen blieb die Mehrheitsgesellschaft christlich. Das wird in den Studien von Matthias Asche deutlich, der die Ansiedlung von konfessionsverschiedenen Christen und deren gesellschaftliche Auswirkungen untersucht. Juden und Muslime lebten in der Frühen Neuzeit hingegen kaum in Bayern. Einzelfälle waren in der Regel im Umfeld des Hofes zu finden. Juden waren im 17. / 18. Jahrhundert an deutschsprachigen Höfen als Hoffaktoren tätig. Die Rahmenbedingungen änderten sich in Bayern erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Eingliederung der neuen schwäbischen und fränkischen Landesteile und ihren zahlreichen jüdischen Gemeinden (vgl. Kießling 2007, 357). Muslime wurden ebenfalls im 17. / 18. Jahrhundert in der Zeit der Türkenkriege als Kriegsgefangene verschleppt und kamen zunächst als Bedienstete an bayerische Herrschaftssitze. Sie ließen sich nach einer Weile zumeist taufen und erhielten damit neue Vornamen (also Taufnamen) und Nachnamen (vgl. Kramer 2007, 385). Dass Phänomen, dass evangelisch-lutherische Bergbauexperten (beispielsweise aus dem Harz oder aus Skandinavien) auch dann nicht mehr konvertieren mussten, wenn sie in katholischen Diensten standen, lässt sich auf den Bedarf an entsprechenden Experten zurückführen (vgl. Schleiff / Konecˇný 2013, 9–12). Vgl. auch das laufende Promotionsprojekt: Simone Hacke: Geometrie unter Tage: Markscheider im Oberharz der Frühen Neuzeit als Spezialisten im europäischen Kontext (Arbeitstitel), Promotion betreut von: Prof. Dr. Arnd Reitemeier (Georg-August-Universität Göttingen).

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Neuzeit nicht nur krisenbedingte Migrationswellen gab, sondern auch strukturelle Rahmenbedingungen für Migration im Umfeld der Fürstenhöfe. Der Münchener Kurfürstenhof soll hierfür als Beispiel dienen. Betrachtet wird in einer ersten, etwas längeren Skizze, (1) inwiefern die bayerische Heiratspolitik in jeder Generation wieder neue Impulse für Migrationsprozesse geben konnte und (2) wie der kulturelle Anspruch des Münchener Hofes die Migration von Künstlern von und nach Bayern förderte. Beide Beispiele verbindet dabei die Frage, welche Bedeutung Netzwerke für diese Form von Migrationsprozessen hatten.

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Historische Migrationsforschung und Landesgeschichte

Migration wird in der Forschung immer wieder als »zentrales Menschheitsthema« (Hecker / Heusler / Stephan 2017, 7) bzw. als »Konstituens der Conditio humana« (Bade 2002, 206) bezeichnet. Denn historische Migrationsprozesse begegnen als dynamisches Phänomen selbst in ländlichen, agrarisch geprägten Räumen häufiger als die verbindliche Festlegung auf einen Lebensmittelpunkt.11 Grundsätzlich lässt sich Migration als Wanderungsgeschehen von einem Ort zu einem anderen Ort verstehen, wobei eine zumindest so große Distanz überwunden wird, dass keine alltäglichen Kontakte mehr aufrechterhalten werden können (vgl. Bull 2020, 34). Migrationen können sowohl permanent als auch temporär sein, sie können Wanderungsbewegungen über kurze Distanzen innerhalb desselben Staates (Binnenmigration / short distance migration) oder über Grenzen hinweg beschreiben (internationale Migration). Die Forschung differenziert außerdem sogenannte Kettenwanderungen (vgl. Vermeulen 2010, 605) oder Zirkelmigration (vgl. Bull 2020, 35), womit das Phänomen beschrieben werden soll, dass Arbeitsmigranten wiederholt, auch einige Male pro Jahr, z. B. als Saisonarbeiter zwischen Staaten oder als Spezialhandwerker zwischen ländlichen Regionen und Städten hin- und herzogen oder in einer immerwährenden Abfolge von einer Stadt in die nächste wanderten (vgl. Harzig / Hoerder 2009; Schaub 2017, 82). In der Forschung ist immer wieder versucht worden, Migrationsprozesse zu typologisieren. Neben den bereits genannten Aspekten wie Distanz oder Dauer von Migrationen gab es auch Versuche, die Motive hinter Migrationsprozessen als Unterscheidungsmerkmal herauszuarbeiten. Als wenig hilfreich hat sich hierbei allerdings die Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Migrationen erwiesen. Denn solche Zuschreibungen sind für die 11 Dabei wird dem ländlichen Raum zunächst oft eine starke Schollenbindung unterstellt, die jedoch selten nachweisbar ist (vgl. entsprechende Studien zu den weitreichenden Außenbeziehungen und Einzugsgebieten im ländlichen Raum: Kramer 2004, 352; Kramer 1991).

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Forschung nicht trennscharf genug, weil sich auch vermeintlich freiwillige Migrationen nicht von materiellen oder immateriellen Bestimmungsfaktoren lösen lassen (vgl. Oltmer 2009, 5–27; Bade 2002, 208). Vor diesem Hintergrund verwundert es daher auch nicht, dass sich bislang keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs »Migration« durchgesetzt hat. Es ist auch nicht wahrscheinlich und letztlich nicht einmal notwendig, dass sich die Forschung auf eine Definition verständigt. Denn dafür deckt die Migrationsforschung ein viel zu breites Themenspektrum ab. Der Migrationshistoriker Klaus J. Bade versteht es, einen Eindruck von dieser Vielfalt zu geben, wenn er schreibt, dass Migrationen »als Sozialprozesse […] Antworten auf mehr oder minder komplexe, ökonomische und ökologische, soziale und kulturelle, aber auch religiös-weltanschauliche, ethnische und politische Existenz- und Rahmenbedingungen« seien (Bade 2002, 207). In den 1960er und 1970er Jahren ließ sich die historische Migrationsforschung im Kontext der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verorten, die sich der Untersuchung von räumlicher und sozialer Mobilität zuwandte. Seit den 1990er Jahren reagierte die historische Migrationsforschung dann zunehmend auf die Probleme der weltweiten Migration, indem sie sich mit Fremdheitserfahrungen auseinandersetzte und zunehmend interdisziplinäre Fragestellungen entwickelte, die kulturgeschichtliche, soziologische, aber auch politikwissenschaftliche Impulse aufgriffen, um so auch auf die in der öffentlichen Diskussion virulente Frage nach Integrationsprozessen reagieren zu können. Forschungsvorhaben wandten sich u. a. der Frage zu, inwiefern Zuwanderung wirtschaftliche Dynamik und gesellschaftliche Veränderungen beeinflusste oder wie sie kulturelle Identitäten des Landes herausforderte. Mit Fug und Recht kann deshalb konstatiert werden, dass sich Migrationsforschung inzwischen als ein inter- und multidisziplinäres Forschungsfeld bewährt hat, um so der Vielfalt von Erscheinungsformen, Ursachen und Folgen von Migrationen gerecht werden zu können. Im gleichen Maß wie sich die historische Migrationsforschung seit den 1990er Jahren kulturgeschichtlich öffnete, ging allerdings das Interesse an diachronen Vergleichen – ein Merkmal insbesondere landesgeschichtlicher Forschung – zurück. Das führte dazu, dass Theoriebildungen, die sich vor allem auf empirische Analysen des ausgehenden 20. Jahrhunderts stützten, einer historisierenden Verallgemeinerung nur schwer standhielten (vgl. Middell / Middell 1998, 9f.; Middell 1995, 18). An dieser Stelle setzt landesgeschichtliche Forschung an. Das Beobachtungsfeld der Migrationsforschung reicht geographisch vom Makrokosmos internationaler und interkontinentaler Massenwanderungen bis hin zum Mikrokosmos interregionaler oder lokaler Wanderungsbewegungen. Bade skizziert das Spektrum entsprechender Studien von »Großraumstudien auf notwendig hohem Abstraktionsniveau« auf der einen Seite bis hin zu »kleinra¨ umigen Fallstudien

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mit größerer analytischer Tiefenschärfe« auf der anderen (Bade 2002, 209). Dabei betont er aus sozialhistorischer Perspektive, dass es in makroregional orientierter Perspektive um strukturgeschichtliche Erkenntnisse gehe, die als Kollektivphänomene ihrerseits auf das Sozialverhalten von Gruppen und Individuen einwirken können. Seiner Ansicht nach sei Bevölkerung nur in einem »streng numerischen Sinne […] die Summe der ihr zugehörigen Einzelsubjekte« (Bade 2005 [1979], 63). Damit begründet Bade den Mehrwert überindividueller Strukturen. Gleichzeitig entspricht diese Kernaussage aber auch dem Selbstverständnis von landesgeschichtlich bzw. regionalgeschichtlich arbeitenden Historikern, denen es – aus einer anderen Perspektive – ebenfalls darum geht, dass mikrohistorische Studien eben nicht als Beispiele für die allgemeine Geschichte verstanden werden sollten. Die Einzelfallanalyse bietet vielmehr einen Wert an sich. So geht es im landesgeschichtlichen Zugriff darum, das Große im Kleinen sichtbar werden zu lassen, das jeweils Spezifische in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eines Landes oder einer Region in den Zusammenhang allgemeiner Entwicklungslinien der deutschen und europäischen Geschichte zu stellen (vgl. Drewsen 1997) und herauszuarbeiten, in welchen Bezügen das Leben vor Ort in Dörfern, Städten, Regionen und Ländern zu überregionalen, nationalen und europäischen Entwicklungen stand. Damit legt die landesgeschichtliche Forschung eine Grundlage, auf der es dann wiederum möglich ist, zu überprüfen, ob – vermeintlich – globale Entwicklungsprozesse auf regionaler und lokaler Ebene nachweisbar sind.

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Migration im Gefolge einer Frau? – Höfische Migrationsnetzwerke in der Frühen Neuzeit

München wurde im 16. Jahrhundert sukzessive zur Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums Bayern ausgebaut. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts gelang dem Haus Wittelsbach dann unter Maximilian I. endgültig der Aufstieg in die ersten Familien Europas. Als Anführer der Katholischen Liga im Dreißigjährigen Krieg war es dem bisherigen Herzog Maximilian gelungen, die Kurwürde für Bayern zu erlangen und im Westfälischen Frieden auch langfristig zu sichern. Damit vollendete der bayerische Kurfürst auf politischer Ebene den Bedeutungszuwachs, den seine Residenzstadt auf kultureller Ebene bereits seit dem späten 16. Jahrhundert vorweisen konnte und der München längst europaweit als kulturelles Zentrum der katholischen Welt bekannt gemacht hatte. Um seinem Kurfürstentum den neu errungenen Platz neben den europäischen Großmächten zu sichern, bemühte sich Maximilian um eine möglichst prestigeträchtige Heiratsverbindung für seinen noch minderjährigen Sohn, den Thronfolger Ferdinand

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Maria (vgl. Kägler 2011, 183; Kägler 2014). Das Unterfangen erwies sich keineswegs als zu ambitioniert. Der Machtzuwachs der bayerischen Fürsten führte nämlich nicht zuletzt auch zu einer neuen Attraktivität für ausländische Prinzessinnen. Die Ehefrauen der bayerischen Kurfürsten konnten nun tatsächlich unter den Kaisertöchtern aus dem Haus Habsburg oder aus anderen regierenden Adelshäusern aus ganz Europa gewonnen werden (vgl. Stephan 2017, 19). Ferdinand Maria wurde im Alter von nur 15 Jahren mit der gleichaltrigen Turiner Prinzessin Henriette Adelaide verheiratet. Die älteste Tochter der beiden, Maria Anna Christine, heiratete später den französischen Thronfolger und wurde Dauphine von Frankreich, während die jüngste Tochter, Violanta Beatrix, in die Toskana einheiratete. Der Thronfolger, Max Emanuel, heiratete in erster Ehe eine Tochter des Kaisers, eine Habsburger Erzherzogin, und in zweiter Ehe Therese Kunigunde, die Tochter des polnischen Königs. Heiratsverbindungen waren in der Vormoderne Ausdruck politischer Bündnisse. Mit jeder Heirat konnte das eigene Verwandtschaftsnetz grenzüberschreitend erweitert werden (vgl. Spieß 2004, 267–272). Die kleine Auswahl an bayerisch-italienischen, bayerisch-französischen und bayerisch-polnischen Heiratsverbindungen soll an dieser Stelle jedoch genügen, um auf ein strukturelles Phänomen hochadeliger Heiratsverbindungen aufmerksam zu machen: Jede Braut brachte jeweils ein kleines – oder auch größeres – Gefolge aus ihrer Heimat mit an den neuen Hof. Hierzu gehörten in der Regel Hofdamen und Kammerfräulein sowie mindestens ein persönlicher Beichtvater. Die Größe des Gefolges konnte dabei zwar recht unterschiedlich ausfallen; gleich blieb allerdings stets, dass die Braut des Kurprinzen bzw. des Kurfürsten in jeder Generation erneut von vertrauten Hofbediensteten begleitet wurde, die in die Münchener Hofgesellschaft integriert werden mussten und die sich nicht selten auch dauerhaft in Bayern niederließen. Die Italiener kamen im Gefolge von Henriette Adelaide. Therese Kunigunde wurde von Franzosen und Polen begleitet, während ein bayerisches Gefolge mit Maria Anna Christina nach Paris bzw. Versailles und mit Violanta Beatrix nach Florenz reiste. Dabei darf ›Gefolge‹ aber nicht nur im engeren Wortsinn verstanden werden. Denn neben dem persönlichen Gefolge der Braut, das den Kern ihres Hofstaates bildete, schlossen sich auch Berufsgruppen dem Brautreisezug an, die nicht zum persönlichen Stab der Prinzessinnen gehörten, aber auch nicht gerade aus krisengeschüttelten Wirtschaftszweigen kamen.12 Vielmehr handelte es sich oft um Priester, Köche, Schneider oder Ärzte, die wie im Fall der Turiner Heirat unmittelbar im Tross des designierten Hofstaats oder aber wenige Wo12 Selbstverständlich kannte auch die Vormoderne Auswanderungswellen, die mit wirtschaftlichen Krisen einzelner Gewerbezweige zusammenhingen. Da an dieser Stelle der Hof mit den ihm eigenen strukturellen Abläufen und wiederkehrenden Mustern als Bezugspunkt herausgearbeitet wird, spielen die frühneuzeitlichen Wirtschaftsmigranten hierbei allerdings keine Rolle.

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chen oder Monate später nach München ausreisten. Einige dieser Migranten lassen sich in der Regel in den Hofzahlamtsbüchern oder den Besoldungsbüchern des Hofes namentlich fassen. Sie gehörten zwar nicht zum engeren Kreis der neuen Kurprinzessin, hatten aber eine Stellung am Hof erhalten und sind für die Forschung damit auch greifbar. Schwierig wird es jedoch, jene Ausländer zu erfassen, die sich außerhalb des Hofs ansiedelten. Hierzu zählten in der Mitte des 17. Jahrhunderts zahlreiche italienische Adelige, die sich zunächst wohl ebenfalls eine Karriere am Münchener Hof vorgestellt hatten und sich dann – ohne eine bezahlte Anstellung erhalten zu haben – zumindest in der direkten räumlichen Nähe niederließen. Michael Stephan spricht sogar von einem »Little Italy« im Münchener Kreuzviertel unweit der Residenz (vgl. Stephan 2017, 20). Das Münchener Häuserbuch gibt Aufschluss darüber, wer im Kreuzviertel wohnte: Arco, Capri, Cetto, Guidobono-Cavalchini, Maffei, Minucci, Nogarola, Pistorini, Pocci, Porcia, Rambaldi, Simeoni, Spreti, Triva und Vacchieri (vgl. Burgmaier / Schneider 1960). Einige der Namen verweisen wiederum auf Familienangehörige im Hofdienst. So war Stefano Simeoni der Turiner Leibarzt, der Henriette Adelaide nach München begleitet und mit seiner Familie ein Palais in unmittelbarer Nähe zur Residenz bezogen hatte (vgl. Kägler 2018). Auch der Name Pistorini taucht bereits kurze Zeit nach Henriette Adelaides Ankunft im Münchener Frauenzimmer auf. Das erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings nicht als Hinweis darauf, dass Giovanna Pistorini zum engeren Kreis der Turiner Hofdamen gehörte. Es handelt sich bei ihr vielmehr um die Tochter eines Münchener Hofmusikers, die bereits seit Jahren in Bayern lebte und die Chance auf eine Stelle im italienischsprachigen Hofstaat der neuen Kurprinzessin genutzt hatte. Sprachkenntnisse erwiesen sich so als Brücken, wenn noch keine persönlichen Kontakte oder familiären Netzwerke bestanden. Verlässt man den inneren Kreis höfischer Migrationsnetzwerke, dann weitet sich der Blick auf eine beträchtliche Zahl italienischer Handwerker, Künstler, Mönche und Kaufleute, die alle ›im Schlepptau‹ der Turiner Braut ihre Heimat verlassen hatten und sich in München niederließen. Zahlreiche Initiativen lassen sich auch hier wieder an die Person Henriette Adelaide rückbinden. So ließ sie als Kurfürstin den Theatinerorden nach München kommen, förderte den Bau der Theatinerkirche St. Kajetan sowie des angeschlossenen Klosters und unterstützte den Aufbau einer Oper. Sie förderte das Ballett, indem sie entsprechende Tanzlehrer und Musiker engagierte, was schließlich einen erneuten Kulturaufschwung bewirkte, der noch über den Tod der Kurfürstin im Jahr 1676 hinaus in den Ausgaben für »welsche« Komödianten, italienische Opernaufführungen und italienische Schauspieltruppen zu greifen ist (vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (im Folgenden: BayHStA), Hofzahlamt 1179, 1216). Hinzu kamen aber auch italienische Händler, die aufgrund der großen italienischstämmigen Bevölkerung in München gute Absatzmärkte für ihre Waren witterten. Sie lassen sich in

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der städtischen Überlieferung insbesondere nachweisen, wenn es zu Konflikten kam oder wenn aus den einstigen Arbeitsmigranten am Ende sesshafte Münchener werden wollten, die das Bürgerrecht der Stadt beantragten.13 Die persönliche Nähe zu Henriette Adelaide, bereits bestehende, oft familiäre Netzwerke aus Turin, aber auch schlichtweg Sprachkenntnisse ermöglichten es zahlreichen Italienern im Kurfürstentum Bayern nördlich der Alpen Fuß zu fassen. Einzelne italienische Landsleute, denen die persönlichen Kontakte (noch) fehlten, wandten sich hingegen mit Bittschriften an den Hof. Während die persönliche Fürsprache der Kurprinzessin bzw. der späteren bayerischen Kurfürstin den Migrationsprozess und den Start in München entscheidend erleichtern konnte, erschwerte die eingeschworene italienische Gemeinschaft innerhalb der Münchener Hofgesellschaft allerdings die Integration vor Ort. Das wird – zumindest indirekt – anhand der Maßnahmen deutlich, die Max Emanuel im Vorfeld seiner zweiten Eheschließung traf. Im Februar 1694 bemühten sich bayerische Räte im Auftrag des Kurfürsten alle organisatorischen Details zur Heirat zu regeln und legten ihrem Fürsten daher auch Entwürfe für die Abwicklung der Brautreise und die Zusammensetzung des Hofstaates der polnischen Prinzessin vor. Max Emanuel kommentierte den Passus zum Hofstaat seiner zukünftigen Frau am Seitenrand wie folgt: ie weniger ie besser, aufs meiste 2 Cammerdienerinnen, besser wäre nur eine, Und endlich wan es nicht zuverhindern den Beichtvatter14 (BayHStA, Abt. III, Korrespondenzakten 701, fol. 37v).

Die Wortwahl war drastisch. Mehr Hofpersonal aus Warschau wollte Max Emanuel seiner zweiten Frau auf keinen Fall zugestehen. Offensichtlich war dem 32-Jährigen bewusst, dass das persönliche Gefolge einer neuen Kurfürstin innerhalb der Münchener Hofgesellschaft als Fremdkörper empfunden worden wäre. Ein Argwohn, der sich noch zusätzlich verstärkte, wenn zwischen einer Kurfürstin und den Hofbediensteten aus ihrer Heimat ein besonders enges Vertrauensverhältnis bestand, sodass der Eindruck von Protektion und Vorzug entstehen konnte. Ein Blick auf die Erfahrungen mit dem ungewöhnlich großen Turiner Gefolge kann diese Befürchtungen bestätigen. So hatte sich der bayerische Hof ein knappes halbes Jahrhundert zuvor bei den Eheverhandlungen in Turin mit personellen Beschränkungen zurückgehalten; wohlwissend, dass ein 13 Michael Stephan weist für das 17. Jahrhundert 15 Bürgerrechtsverleihungen an Männer nach, die aus Savoyen stammten, sowie 31 »Welsche«, also Italiener, die in den Ratsprotokollen und Stadtkammerrechnungen verzeichnet sind (vgl. Stephan 2017, 26f. sowie Stadtarchiv München, Gewerbeamt II, 4271a). 14 Die Schreibweise in den Quellenauszügen wird nur leicht vereinheitlicht. Stillschweigend werden u und v nach dem jeweiligen Lautwert vereinheitlicht. Doppelte Mitlaute, die mit Oberstrich angezeigt werden, sind aufgelöst worden.

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vertrautes Umfeld einer zukünftigen Kurfürstin den Beginn in der neuen Umgebung sicherlich erleichtern könnte. Noch konnte die junge Turiner Prinzessin auch kaum Deutsch, sodass die Münchener Hofräte der Prinzessin vier etwa gleichaltrige Hoffräulein zugestanden; wohlgemerkt also fünf etwa 15- bis 16Jährige. Die Turiner Hofmeisterin reiste nicht mit an den bayerischen Hof, dafür kamen allerdings ein jesuitischer Beichtvater sowie mehrere Kammerdienerinnen mit nach München, darunter Henriette Adelaides ehemalige Amme und ihre langjährige Kinderfrau, die beide bis zu ihrem Lebensende am Münchener Hof blieben. Hinzu kamen zwei männliche Kammerdiener, der bereits erwähnte italienische Leibarzt, mehrere Köche und Bedienstete niedrigerer Chargen.

Diese Abbildung ist aus rechtlichen Gründen nur in der Printausgabe enthalten.

Abb. 1: Kurfürstin Henriette Adelaide im Dreiviertelportrait (Gemälde von Paul Mignard aus der Zeit um 1673 / 74) – Copyright: Wittelsbacher Ausgleichsfonds München, Foto: Guido Burkhardt.15 15 Das Gemälde von Paul Mignard aus der Zeit um 1673 / 74 zeigt die bayerische Kurfürstin Henriette Adelaide im Dreiviertelporträt. Sie trägt ein kostbar besticktes Kleid, wertvollen Perlenschmuck und hält eine Pomeranze in der rechten Hand. Die Zitrusfrucht kann als

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Die Anzahl italienischer Hofbediensteter blieb über mehrere Jahre hinweg auf einem solch hohem Niveau. So lesen sich die Mitglieder des Hofstaats der Kurprinzessin im Jahr 1652 – also unmittelbar nach ihrer Heirat – noch wie die Aufstellung eines oberitalienischen Hofes: Auf die vier Hoffräulein Maria Catharina Broglia, Paola Christina Gromis, Gieronima Osasca und Catterina Violante Asinara folgten mehrere Kammerfrauen, Kammerdienerinnen und Dienerinnen. Acht deutschsprachige Amtsträgerinnen, die vom bayerischen Hof gestellt worden waren, standen etwa 15 italienischen gegenüber. Das Verhältnis »zwei zu eins« schlug zu Beginn der 1650er Jahre also deutlich zugunsten der italienischen Amtsträgerinnen aus. Allerdings lässt sich deren Zahl nicht ganz genau eingrenzen, weil die Turiner Bediensteten zum Teil von ihren Ehepartnern und minderjährigen Kindern begleitet wurden. Diese Söhne und Töchter rückten mit zunehmendem Alter dann schrittweise in den bayerischen Hofdienst nach. Zwar hatte sich einige Jahre später das Verhältnis zwischen Amtsträgerinnen italienischer und bayerischer Herkunft wieder etwas angeglichen, der Einfluss der inzwischen am Hof arrivierten Italiener ging deshalb allerdings nicht zurück. Es kam innerhalb der Münchener Hofgesellschaft immer wieder zu Konflikten zwischen den Bediensteten dieser beider Herkunftsgruppen, die über regelmäßige Korrespondenzen zwischen Bayern und Savoyen (vgl. Kägler 2013) auch dem Turiner Hof zugespielt wurden. Doch worum ging es bei diesen Konflikten zwischen ›den Italienern‹ und ›den Bayern‹ im Kern? Und hatten sie Rückwirkungen auf die Migrationsnetzwerke? Zunächst ist festzuhalten, dass alle ausländischen Kurfürstinnen mit ihrem Hofstaat eigene modische Vorlieben, Tanz- und Festkulturen oder Wohnaccessoires mit nach München brachten; Vorlieben, die zum Teil mit den Münchener Vorstellungen von angemessener Hofkultur oder adäquater Bühnenpräsenz kollidierten. Einen breiten Raum im täglichen Miteinander nahm aber auch die Esskultur der Migranten ein. Das Hofpersonal um Henriette Adelaide, das eine italienisch-französisch geprägte Küche gewohnt war, brachte immer wieder eine Abneigung gegen unbekannte bayerische Speisen zum Ausdruck oder war nicht von den Vorzügen von Griebenschmalz zu überzeugen, sondern beharrte auf Olivenöl. Diese kulinarischen Vorlieben lösten wiederum in München eine MiVerweis auf ihre oberitalienische Herkunft verstanden werden. Allerdings wurde ausgerechnet die Pomeranze – eine Art Bitterorange – nicht erst durch die welschen Früchtehändler des 17. Jahrhunderts im bayerischen Raum verbreitet. Pomeranzen züchtete man am Münchner Hof ebenso wie an den Höfen in Wien, Passau oder Salzburg bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert, um aus ihnen z. B. Duftwasser herzustellen. Die Pomeranze in der Hand der Kurfürstin kann daher auch als Attribut interpretiert werden, das einerseits auf ihre Herkunft südlich der Alpen verweist, andererseits durch die Wahl einer ungewöhnlich winterfesten Zitrusfrucht aber auch ihre gefestigte Position als Landesmutter des Kurfürstentums Bayern unterstreicht.

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schung aus Neugier, aber auch Erstaunen, mitunter sogar Widerwillen aus. So prangerte der bayerische Hofkammerpräsident in einer Denkschrift die »sinnlose Verschwendung« (Kägler 2011, 389) an, die er mit den zahlreichen Italienern und ihren exotischen Essensgewohnheiten in Zusammenhang brachte. Konkret ging es um den Konsum von Zitrusfrüchten: So seien in den 1650er Jahren am Münchener Hof mehr teure Orangen verzehrt worden als Äpfel in den 1630er und 1640er Jahren zusammen (vgl. Hierl-Deronco 2001, 103; Kägler 2009, 132). Zur Zerreißprobe zwischen der verwitweten Kurfürstin und ihrer Turiner Schwiegertochter wurde die Frage nach der Herkunft des Kochs. Während Henriette Adelaide darauf bestand, einen französischen Küchenchef zu beschäftigen, sträubte sich die Kurfürstinwitwe gegen jedweden fremdländischen Koch. In einem Schreiben an den bayerischen Hofkammerpräsidenten brachte Maria Anna ihre Vorbehalte in den 1650er Jahren auf den Punkt: Der französische Koch ist komben […] mich dünkt des K[ur]f[ürsten] Leben und Gesunt wer pesser pey dem teutschen Koch versichert gewesen. Ich halte mehr von einem retlichen Teutschen als einem vagierenden Franzosen; er hat mir sonst schon müssen den Eid tun, ehe ich ihn hab in die Kuchl gelassen. (zit n. Mayr 1903, 315)

Vor diesem Hintergrund erscheint es umso erstaunlicher, dass es sich im ausgehenden 17. Jahrhundert eingebürgert hatte, Köche aus der Münchener Hofküche zur Ausbildung nach Turin zu schicken. Ein Austausch, der für andere Hofstäbe kaum belegt ist; und wenn, dann eher auf Künstler oder Spezialhandwerker abzielte, die sich im Ausland – an italienischen oder französischen Höfen – fortbilden sollten.16 Die Sogwirkung, die Henriette Adelaides Hofstaat ab den 1650er Jahren in München entfaltete, blieb vierzig Jahre später allerdings aus. Die Rahmenbedingungen waren für die polnische Prinzessin Therese Kunigunde in den 1690er Jahren aber auch ganz andere: Max Emanuel residierte zu dieser Zeit bereits als Generalstatthalter der Spanischen Niederlande in Brüssel, sodass sich Braut und Bräutigam nicht in Warschau, aber auch nicht in München kennenlernten, sondern am Rhein aufeinandertrafen, um dann von dort aus gemeinsam nach Brüssel weiterzureisen. Polnische Musiker, Künstler oder Kaufleute fanden allerdings weder den Weg ins Kurfürstentum Bayern noch nach Brüssel. Die Impulse, die von einer Heiratsverbindung zwischen Bayern und Polen ausgehen konnten, waren nicht stark genug, um den traditionell eher nach Osten und 16 Den Hinweis auf die München-Turin-Verbindung innerhalb der Hofküche verdanke ich Cordula Bauer, die im Rahmen der Recherchen für ihre Promotion zu Handwerkern und Dienern am Münchener Hof auf entsprechende Hinweise gestoßen ist. Laufendes Promotionsprojekt: Cordula Bauer: Handwerker und Diener am Münchener Hof (1660–1726) (Arbeitstitel), cotutelle de thèse betreut von: Prof. Dr. Mark Hengerer (Ludwig-MaximiliansUniversität München) / Prof. Dr. Christine Lebeau (Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne).

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Norden ausgerichteten polnischen Handelsverbindungen aussichtsreiche Alternativen zu bieten. Außerdem hatten die bayerischen Gesandten in den Heiratsverhandlungen in Warschau versucht, alle Vorgaben des Kurfürsten umzusetzen, die sich am eindringlichsten in der Formulierung »ie weniger ie besser« greifen lassen. Um möglichst wenige polnische Höflinge für die zukünftige Kurfürstin akzeptieren zu müssen, warfen die Münchener die schlechten Erfahrungen mit dem großen italienischen Gefolge, das Henriette Adelaide begleitet hatte, als Argument in die Waagschale. Hatte man Turiner Bedienstete in den 1660er Jahren teilweise in ihre Heimat zurückgeschickt, in jedem Fall aber nach ihrem Austritt vom Münchener Hof nicht durch italienische Landsleute ersetzt, so sollte zukünftig eine kontinuierliche Höchst-, aber auch Mindestzahl an ausländischen Amtsträgern garantiert werden. Wie wenig diesem Versprechen dann tatsächlich Rechnung getragen wurde, zeigt allerdings ein mehr als zwei Jahre dauernder Briefwechsel, in dem Therese Kunigunde sich eine neue polnische Hofdame wünschte, nachdem eine der wenigen Vertrauten, die sie begleiten durfte, den Hofdienst verlassen hatte. Die Münchener Verwaltung schützte allerdings immer wieder Ausreden vor, die es angeblich verhinderten, der Bitte entgegenzukommen. Unabhängig von den geschilderten Versuchen, die Einflussnahme von ausländischen Hofbediensteten zu reduzieren oder die Übervorteilung einheimischer Hofangestellter zu verhindern, wurde vom Gefolge einer zukünftigen Kurfürstin aber ohnehin erwartet, dass es sich am bayerischen Hof nach den dortigen Regeln richtete. Diese Auflage war ein üblicher Bestandteil aller Heiratsverhandlungen und galt in der Regel bereits für die Brautreise, also den Weg, den die Braut von ihrer bisherigen Heimat zu ihrem neuen Hof zurücklegte. Typische Formulierungen solcher Instruktionen lauteten wie folgt: Es seye aber zu solchen ende vonnöhten, daß auch Irer L[ieb]d[en] mitgegebene, bevorab zu dero Cammer gehörige Manns- vnd Weibspersohnen sich hierinnen dem hiesigen gebrauch in allem accommodiren, Jrer Frawen nicht vil klagten den wenigen satisfaction, oder andern vorkhommen, stetige praetensiones oder disgusti an Jre L[ieb]d[en] bringen, und dadurch diselibe in Jrem ruhe- vndt wolstandt perturbiren und betrieben, sondern vilmehr, da Inen was ermanglet, oder sie mit billigkheit zu praetendiren haben, solches immediate bei Uns [gemeint ist hier die Obersthofmeisterin, Anm. BK] anbringen lassen, und sich versichert halten khönden, daß Wir auf solchen fall, und da Sie sich des rechten wegs bediennen werden, Jnen an Unserer protection nichts werden ermanglen lassen. (zit. n. Riedenauer 1989, 302f.)

Solche Instruktionen wurden natürlich nicht nur erstellt, wenn es sich um eine Heiratsverbindung aus einem anderen Kulturraum handelte. So sind beispielsweise auch Instruktionen für Brautreisen von Wien nach München überliefert. Deutlich wird am Fall der Instruktionen für die Turiner Bediensteten allerdings, dass in München die Sorge bestand, dass höfische Regularien und das Zere-

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moniell missachtet werden könnten; eine Sorge, die beim Wiener Hofpersonal eine Generation später nicht geäußert wurde. Der Beichtvater und der Leibarzt, die in der Regel eine besondere Vertrauensstellung genossen, wurden in den Instruktionen 1652 sogar explizit darauf hingewiesen, dass sie ihre Kompetenzen nicht überschreiten sollten und sich lediglich auf die Betreuung der geistigen bzw. körperlichen Verfassung der Braut zu konzentrieren hätten. Der Münchener Hof gestattete es dezidiert nicht, dass Beichtvater bzw. Leibarzt sich mehrers als der Sorg Unsers gewissens, und gesundtheit annehmme, im übrigen aber, so wol in Hof- als Regierungssachen khein access oder gehör geben [sollten]. (zit. n. Riedenauer 1989, 303)

An indirekte Steuerungsmechanismen wie Migrationsnetzwerke dachte der Münchener Obersthofmeister nicht. Dabei bewirkten diese Migrationsnetzwerke nur vordergründig vor allem den Nachzug von Familienmitgliedern. Bei genauerer Betrachtung wird hingegen deutlich, dass die Netzwerke, die sich innerhalb der Gruppe von Migranten am neuen Hof bzw. im städtischen Umfeld des Hofes noch einmal verstärkten, auch einen erheblichen Vertrauensvorschuss bedeuten konnten, der sich am Hof rasch in Form von besonderen Kommunikationschancen, Nähe zu Landsleuten, ja, der besonderen Nähe zur Kurprinzessin ausdrücken konnte. Die Migrationsnetzwerke konnten in Einzelfällen sogar die eigentlich streng hierarchisch getrennten sozialen Schichtungen der höfischen Gesellschaft überwinden.17 Damit erwiesen sich diese Netzwerke als tragfähige Kommunikations- und Handlungsgeflechte. Im höfischen Alltag verstetigte sich die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren innerhalb dieses Migrationsnetzwerks und ließ dadurch gegenseitiges Vertrauen sowie routinierten Informationsaustausch entstehen. Dadurch konnte sich dann eine besondere Nähe zu hochrangigen Entscheidungsträgern am Hof oder sogar eine besondere Nähe zur kurfürstlichen Familie selbst ergeben, was an einem frühneuzeitlichen Fürstenhof gleichbedeutend war mit direkten Einflussmöglichkeiten.

17 Stefano Simeoni, der als Leibarzt der Kurprinzessin und späteren Kurfürstin Henriette Adelaide in München Karriere machte, in den Adelsstand erhoben wurde und eine selten erreichte Vertrauensstellung genoss, ist lediglich ein Beispiel unter vielen. Die gemeinsame Sprache im fremdsprachigen Ausland, die gemeinsame Herkunft und – im Fall des italienischen Hofpersonals in der Mitte des 17. Jahrhunderts – die geteilte Erfahrung der Schwierigkeiten, sich in der bayerischen Hofgesellschaft zu integrieren, ließen die Turiner, Florentiner und Venezianer in München eng zusammenwachsen (vgl. Kägler 2018, 235f.).

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Ausgesandt, um heimzukehren? – Musikermigration im Umfeld höfischer Netzwerke

Musiker zählten in der Frühen Neuzeit zu den besonders mobilen Berufsgruppen. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, ob es sich um Sänger oder um Instrumentalisten, ob es sich um Solisten oder um Ensembles handelte. Während einige Musiker für Auftritte in benachbarten Regionen gastierten, lernten andere auch entferntere Orte kennen oder ließen sich sogar in der Ferne nieder. Das Spektrum reichte von europaweit bekannten Stars der Opernbühnen bis zu Allroundkünstlern, die von Ort zu Ort zogen, um auf Marktplätzen aufzutreten. Die Migration von Musikern hat damit entscheidend zur Dynamik der europäischen Musiklandschaft und zum musikalischen Austausch zwischen Höfen als den kulturellen Zentren des 17. / 18. Jahrhunderts beigetragen. Entsprechend vielfältig ist die musikwissenschaftliche Forschung zu Musikermigration in der Frühen Neuzeit (vgl. Leopold / Pelker 2014; Leopold 2013, 30–37; zur Nieden 2019b; zur Nieden 2015a; zur Nieden 2015b; Meyer / Pujalte-Fraysse 2010). Silke Leopolds Forschungen legen Grundlagen für die Strukturen hinter den Hof- und Adelskapellen. Gesa zur Nieden verbindet in ihren Forschungen hingegen stärker die Bereiche von Musik und Politik und kann so im Detail zeigen, dass italienische und französische Musikstile parallel zu politischen Auseinandersetzungen auch auf ästhetischer Ebene immer häufiger als Gegensatzpaare verwendet und gegeneinander ausgespielt wurden. Festzuhalten ist jedoch, dass italienische Musik, vor allem die italienische Oper, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ganz Europa eroberte, sodass parallel zu dieser Entwicklung auch die Mobilität von Musikern eine bislang nicht dagewesene Dimension erreichte. An dieser Stelle kommen tatsächlich auch wieder höfische Netzwerke zum Tragen, denn die europaweit miteinander verwandten Adelsfamilien förderten auch den Austausch von Musikern. Das konnten indirekte Impulse durch die Nachfrage nach italienischen Musikern sein. Denn sobald sich abzeichnete, dass an den Fürstenhöfen zunehmend Musiker aus Italien gefragt waren, bemühten sich durchaus auch Musiker aus den deutschsprachigen Territorien, aus Frankreich und Spanien, aber auch aus anderen Regionen in Ost-, Mittel- und Nordeuropa mit den gefragten »Welschen« nachzuziehen. Zahlreiche Musiker reisten nach Italien, um dort den beliebten italienischen Musikstil zu erlernen oder ihre bereits erworbenen Kenntnisse zumindest zu verfeinern (vgl. Kägler 2018, 236f.). Die Förderung von Hofmusikern konnte aber auch ganz konkret dadurch erfolgen, dass einzelne Instrumentalisten ein mehrmonatiges – oder sogar mehrjähriges – Stipendium erhielten, mit dem sie den Aufenthalt in Venedig, Rom oder Neapel finanzieren konnten. Die Idee dahinter war grundsätzlich, dass der Landesherr einzelne Musiker nur deshalb bei vollen Bezügen nach Italien ent-

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sandte, um auf diese Weise die Qualität seiner eigenen Hofkapelle zu verbessern. Denn der so geförderte Musiker sollte anschließend selbstverständlich an den Hof seines Gönners zurückkehren. Sollte sich ein Musiker entscheiden gar nicht in die vorherige Stellung zurückzukehren oder aber eine Position an einem anderen Hof in Erwägung zu ziehen, dann gab es durchaus Klauseln, die ihn dazu verpflichteten, das erhaltene Stipendium Gulden für Gulden zurückzuzahlen. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, wurden die meisten Musiker dazu verpflichtet, regelmäßig neue Kompositionen an ihren Fürsten zu schicken; neben einem Mittel zur Kontaktpflege erhielt sich der Landesherr damit immerhin ein geringes Maß an ›Ertrag‹ und – zumindest theoretisch – die Möglichkeit, Fortschritte zu verfolgen. Doch wer wurde denn eigentlich vom Münchener Hof nach Italien geschickt? Bereits vorliegende Studien haben gezeigt, dass es sich bei diesen Musikern vor allem um Instrumentalisten (v. a. Violinisten18) und Komponisten handelte. Allerdings waren darunter erstaunlicherweise nur selten deutschstämmige Hofmusiker, sondern viel häufiger italienische – im Sprachgebrauch der Zeit also »welsche« – Musiker, die für eine Art Spezialausbildung noch einmal zurück in ihre Heimat geschickt wurden. Hierzu zählte beispielsweise im 17. Jahrhundert Albrecht Caesar Gallilei, der von 1631 bis 1634 in der Münchener Verwaltungsrubrik unter »Hofmusik« zu finden war, aber dennoch »in Welschlandt [geschickt wurde], zu erlehrung der Lauten und Tyorba schlagen, auch Latein und welsche schriften [zu lesen] underhalten wirdet« (BayHStA, Hofamtsregistratur I Fasz. 467). Verschiedene Studien haben die Münchener Hofmusik bereits im europäischen Kontext verortet (vgl. Lütteken 2006, 11–14, 17) und dabei den Einfluss von Einzelpersonen herausgearbeitet, die den musikalischen Austausch durch gezielte Akquise förderten oder Stipendien für Fortbildungsreisen ermöglichten (vgl. Kägler 2021, 229f.). Die Münchener Hofmusik erlebte unter den bayerischen Herzögen Albrecht V. und Wilhelm V. eine erste Blütezeit. Beide Herzöge schufen die – nicht zuletzt auch finanziellen – Voraussetzungen dafür, dass München zu einem der angesehensten musikalischen Zentren Europas werden konnte. So gelang es, Orlando di Lasso ab 1557 als außerordentlich hoch bezahlten Sänger am Münchener Hof anzustellen, wo er ab 1562 als Komponist und Musiker der Hofkapelle vorstand. Ihm gelang nicht nur der Aufbau eines international geprägten Repertoires ›seiner‹ Hofmusik, er hatte auch die Mittel, um aus ganz Europa die besten Musiker nach München zu holen (vgl. Münster 2014, 369). München entwickelte sich dadurch wie andere Höfe ab dem 16. Jahrhundert zu einer Kontaktzone und Vermittlungsplattform für Musiker. Außerdem galten 18 Ein Beispiel ist der Münchener Hofmusiker Karl Marquard Caesar, der als »Instrumentistenjunge« ab 1627 für etwa zwei Jahre »um mehrerer Erfahrung willen des Cornets, Violin und Contrapunkts in Italien« aufhielt (vgl. BayHStA, Hofamtsregistratur I Fasz. 463 / 233).

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Empfehlungsschreiben im europäischen Adelsnetzwerk als geeignete Türöffner für andere Höfe. Hierbei nahmen interessanterweise erneut adelige Frauen eine besondere Rolle ein. Das spezifische Merkmal, dass junge adelige Frauen den elterlichen Hof verlassen mussten, um zu heiraten und an einen anderen Hof zu wechseln, verstetigte gewissermaßen das Element fortwährender Erneuerung: Der dynastischen Heiratspolitik war eine europaweite adelige Elitenmigration geradezu immanent, sodass – wie bereits ausführlich dargelegt worden ist – in jeder Generation wieder neue Verwandtschaftsbeziehungen und neue Migrationsnetzwerke entstehen konnten. In jedem Fall waren die äußeren Rahmenbedingungen hierfür gegeben. Der Blick auf drei bayerische Prinzessinnen kann einen Eindruck von diesem weiblichen Musikmäzenatentum vermitteln. Ende des 16. Jahrhunderts heiratete die bayerische Prinzessin Maria den Erzherzog von Innerösterreich. Maria galt selbst als sehr musikalisch und hatte das internationale Flair der Münchener Hofkapelle unter Orlando di Lasso bereits als Kind eingesogen. Auch nach ihrer Heirat blieb sie in engem schriftlichem und persönlichem Kontakt mit ihrer Familie und tauschte sich vor allem mit ihrem Vater und ihrem ältesten Bruder Wilhelm regelmäßig über musikalische Themen, vielversprechende Musiker und Kompositionen aus (vgl. Kägler 2021, 235). Ähnliche Briefwechsel sind von den Schwägerinnen Therese Kunigunde und Violanta Beatrix aus dem frühen 18. Jahrhundert überliefert. Die wenigen erhaltenen Briefe belegen immerhin, dass die bayerische Kurfürstin genau wie ihre Schwägerin, die Großprinzessin von Toskana, als ausgewiesene Musikmäzenin betrachtet werden muss. So etablierte Therese Kunigunde während ihres fast zehnjährigen Exilaufenthalts in Venedig ihren Palazzo als Anlaufstelle für verschiedene Musiker, die oft aus Florenz kamen und von Violanta Beatrix an ihre Schwägerin weiterempfohlen wurden. Darunter waren vor allem solche Musiker, die bereits erste Engagements in der Lagunenstadt gehabt hatten und eine Anlaufstelle für die Vermittlung weiterer Kontakte benötigten (vgl. Over 2007, 262). Außerdem nutzte Therese Kunigunde ihre venezianischen Kontakte später, um die schwach besetzte Münchener Hofkapelle nach dem Spanischen Erbfolgekrieg wieder auszubauen.19 Hier wird deutlich, dass der kulturelle Anspruch des Münchener Hofes, der in den 1650er und 1660er Jahren zahlreiche italienische Impulse von Henriette Adelaide erhielt, und der unter Kurfürst Max Emanuel stärker am Hofleben von Versailles ausgerichtet wurde, tatsächlich konkrete Auswirkungen auf die Personalpolitik hatte. Die gezielte Anwerbung ausländischer Musiker und Instrumente wie die Vergabe von Stipendien zum Zweck von Auslandsaufenthalten beförderten wiederum Migrationsprozesse. 19 Auch Antonio Vivaldi wurde in diesem Zusammenhang als möglicher Hofkapellmeister angeführt, was aber aus finanziellen Gründen nicht weiterverfolgt wurde (vgl. Over 1997).

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Schlussbemerkungen

Geschichte zu verstehen, bedeutet vor allem, historische Ereignisse analysieren, einordnen und bewerten zu können, wobei auffällt, dass einzelne historische Phänomene und Entwicklungsprozesse sich in unterschiedlichen Epochen, Räumen und Ausprägungen immer wieder nachweisen lassen. Migrationsprozesse gehören hierzu. Die Vielfalt dieser Wanderungsbewegungen, ganz unterschiedliche Motive, krisenbedingte Push- oder Pull-Faktoren sowie die Komplexität einzelner Migrationsbiographien machen es jedoch schwer, verbindliche Merkmale für Migrationsprozesse zu definieren. Migration kann auf der einen Seite als einschneidende, lebensweltliche Diskontinuität verstanden werden (vgl. Schaub 2017, 81), die einer Biographie einen unwiderruflichen Bruch zufügt. Vertraute Strukturen werden zerstört, unbekannte Herausforderungen zeichnen sich am Horizont ab. Auf der anderen Seite können Migrationserfahrungen, die ebenfalls mit geographischen Brüchen, Wohnortwechseln und lebensweltlichen Einschnitten verbunden sind, auch als Aufbruch in eine neue Ära, als positive Neugestaltung gedeutet werden. Allerdings lassen sich Migrationserfahrungen und Migrationsmotive kaum vom Einzelfall abstrahieren. Insofern bietet es sich an, nicht nur dem ›Warum‹ von Migration nachzugehen, sondern das ›Wie‹ historischer Migrationsprozesse in den Vordergrund zu stellen. Hierbei erweist sich die Untersuchung von Netzwerken als geeigneter analytischer Hebel, um der Frage nachzugehen, inwiefern sich Kommunikationsnetzwerke migrationsfördernd oder -hemmend auswirken konnten.20 Um noch einmal den Bogen zum Anfang des Beitrags zu schlagen: Migrationsforschung bietet mit ihrer interdisziplinären Auffächerung und mit Anknüpfungspunkten in unterschiedlichen Epochen und Räumen vielfältige Anregungen für vergleichende, landes- und regionalgeschichtliche Forschung, aber auch für die Vermittlung von Geschichte. Denn neben der vermeintlich ›alteingesessenen‹ Bevölkerung sollten stets auch Migranten, vorübergehend oder dauerhaft Zugezogene, Expats oder Reisende als Teil der historischen Forschung berücksichtigt werden. Außerdem müssen sie stärker als Adressaten der historischen Forschung – entweder im Museum, in Denkstätten, in Podcasts oder im Schulunterricht – einbezogen werden.

20 Letztlich lässt sich auch der Bogen zwischen den Untersuchungszeiträumen schlagen, wenn beispielsweise Musik und Migration in der zeitgeschichtlichen Forschung oder in Transferprojekten wie den »Denkwerk«-Projekten der Robert Bosch Stiftung zusammengebracht werden (zuletzt z. B. zur Nieden 2019a).

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Karsten Fitz

Zwischen »Mother of Exiles« und »Build the Wall Act (2018)«: U.S.-amerikanische Einwanderungskonzepte im Spiegel der Zeit

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Einleitung

Migration, das finde ich zentral für die kulturelle, wirtschaftliche und politische Weiterentwicklung dynamischer Gesellschaften. Und zweifelsfrei sind die Vereinigten Staaten von Amerika das Einwanderungsland per se. Bereits im Englischunterricht als Schüler hat mich deshalb, sicherlich mehr unbewusst als bewusst, das Thema der USA als Einwanderungsland besonders interessiert. In einer Schulzeit in den 1970er und 1980er Jahren, deren Unterrichtsinhalte stark geprägt waren von der Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, deren Hauptmerkmale die komplette Ausgrenzung – bis hin zur Auslöschung – des kulturell Anderen waren, erschien mir die Vorstellung einer Einwanderungsgesellschaft, bestehend aus vielen unterschiedlichen Kulturen, die in einem Schmelztiegel, dem berühmten melting pot, zu einer vielfältigen Gesellschaft zusammenwuchsen, als besonders attraktiv. Als wir in den frühen 1980er Jahren im Leistungskurs Englisch Neil Diamonds Popsong »America« mit Emma Lazarus’ Gedicht »The New Colossus«, eingraviert im Sockel der Freiheitsstatue auf Ellis Island im New Yorker Hafen als symbolische Mother of Exiles, in eine Linie stellten und anschließend zusammen mit Martin Luther Kings »I Have a Dream«-Rede diskutierten, wurden große Widersprüche zwischen Anspruch und Realität deutlich, die bis heute ein Kernbestandteil der Integrationspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika sind – und die zu einem wesentlichen Teil meines Forschungsinteresses als Amerikanist geworden sind. Dass allerdings auch die (scheinbar positive) Metapher des Schmelztiegels im Prinzip lediglich auf Assimilation und Homogenisierung abzielt und gar nicht die Heterogenität, Vielfalt und Multikulturalität einer Gesellschaft wertschätzt, wurde mir erst zu Beginn meines Studiums der Amerikanistik, einer Disziplin, deren Fokus in Deutschland traditionell auch auf den transatlantischen Beziehungen liegt, voll bewusst. Trotz dieser (schmerzlichen) Erkenntnis erschien mir das vor allem im liberalen Umfeld U.S.-amerikanischer Großstädte und an Universitäten vorherrschende Bild von den USA als

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multikulturelle Gesellschaft weiterhin als ein positiver Gegenentwurf zur in der Bundesrepublik lange anhaltenden Vorstellung von nicht-deutschen, aber permanent in Deutschland arbeitenden und steuerzahlenden Menschen als Gastarbeiter1. Da erschien mir das (neue) Konzept von Einwanderung bzw. die Bezeichnung »Menschen mit Migrationshintergrund« sichtlich mehr Sinn zu machen, trugen und tragen sie doch deutlich der Tatsache Rechnung, dass sich Deutschland längst zu einem Einwanderungsland entwickelt hat. Dieser Wandel hin zum vorsichtigen Eingeständnis des Status Quo als Einwanderungsland vollzog sich in Deutschland mit Beginn der Neuausrichtung der Integrationspolitik seit Anfang der 2000er Jahre und vor allem mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 und dem Nationalen Integrationsplan von 2007 (vgl. Seifert 2012). Ironischerweise war es im selben Jahr, dass Präsident George W. Bush dem Kongress seinen »Plan for Comprehensive Immigration Reform« vorschlug, in dem der während des Zweiten Weltkriegs im Bracero-Programm (1942–1964)2 geprägte Begriff für Gastarbeiter3 aus Mexiko wieder eingeführt wurde, just zu dem Zeitpunkt, als Deutschland sich (endlich) dieses Begriffs entledigte. Und gerade als sich Deutschland in der Flüchtlingskrise von 2015 zu einer nie dagewesenen Willkommenskultur für Geflüchtete vor allem aus Syrien bekannte, tauchte mit Donald J. Trump ein Präsidentschaftskandidat auf der amerikanischen politischen Bühne auf, der, zunächst durch populistische, nativistische, rassistische und xenophobe Rhetorik und später als Präsident durch ebensolche politische Maßnahmen, einen krassen Gegenentwurf zur damals regierungsseitig proklamierten Haltung Deutschlands einnahm. Hier hatte sich also auf beiden Seiten des Atlantiks offensichtlich innerhalb kürzester Zeit ein nachhaltiger Wandel in den Vorstellungen von der Rolle vollzogen, die das Thema Einwanderung im kulturellen und politischen Selbstverständnis der beiden Länder spielen soll. Und dieser Wandel musste – schon aus dem eigenen disziplinären Selbstverständnis heraus – das Interesse des Amerikanisten in mir wecken. 1 In diesem Beitrag wird, abweichend zu den Beiträgen anderer Autorinnen und Autoren in diesem Band, das generische Maskulinum verwendet. Grund hierfür ist, dass sich der vorliegende Beitrag in großen Teilen auf historische Migrationsprozesse bezieht, die stark männlich dominiert waren. 2 Das Bracero-Programm (vom spanischen Begriff bracero, was »Feldarbeiter« bedeutet) war eine Reihe von Gesetzen und diplomatischen Vereinbarungen, die die Vereinigten Staaten im August 1942 mit Mexiko unterzeichneten. Das Abkommen garantierte Landarbeitern, in der Regel Erntehelfern, u. a. menschenwürdige Lebensbedingungen, einen Mindestlohn von 30 Cent pro Stunde und Schutz vor Zwangsmilitärdienst für die Zeit ihres Arbeitsaufenthalts in den USA. Das Programm war bis in die 1960er Jahre in Kraft (UCLA Labor Center). 3 Unter Punkt 3 des Plans, »To Secure Our Border, We Must Create A Temporary Worker Program« (Um unsere Grenze zu sichern, müssen wir ein temporäres Arbeiter-Programm schaffen, Übers. K.F.), führte Bush den Begriff des guest worker wieder ein.

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Die USA haben eine höhere absolute Anzahl von Einwanderern als jede andere Nation der Welt und gelten auch heute noch als das Einwanderungsland per se. Millionen von Menschen kamen und kommen in die USA, um Religionsfreiheit, Familienzusammenführung, politisches Asyl und wirtschaftlichen Wohlstand zu suchen. Einwanderer spielten und spielen eine zentrale Rolle für die Bereicherung der amerikanischen Kultur und für das Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig werden sie immer wieder als schädlich für die Gesellschaft und als Belastung für die Steuerzahler dargestellt – eine Pendelbewegung zwischen Akzeptanz und Ablehnung, die so alt ist wie die USA selbst. Mit der Wahl von Präsident Trump wurde einmal mehr die nativistische und protektionistische Perspektive auf Einwanderung in Politik und Praxis institutionalisiert, allerdings in der vorliegenden Ausprägung in einer bisher nie dagewesenen Form und in der kulturellen Selbstwahrnehmung verfestigt (vgl. Heer 2016; Anbinder 2019). Dieser Beitrag widmet sich den Widersprüchen rund um das Thema Einwanderung in die USA, den sich kulturgeschichtlich und politisch wandelnden Konzepten von Einwanderung (in ihren jeweiligen sozio-politischen Kontexten) sowie der Frage, was Deutschland gegebenenfalls von den USA diesbezüglich lernen kann. Geleitet ist der Beitrag dabei von der Grundüberzeugung, dass Wissen über die Vergangenheit uns helfen kann, in Bezug auf die meisten gegenwärtigen Herausforderungen und Probleme einen Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Die Einwanderung sticht als ein Aspekt nicht nur des nationalen Erbes der Vereinigten Staaten und der jüngeren Vergangenheit Deutschlands hervor, sondern als ein Kernbestandteil zukünftiger globaler Herausforderungen. Und es scheint, dass viele der heutigen politisch und gesellschaftlich Handelnden nicht genügend über diese zentrale Thematik informiert sind.

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Frühe philosophische Immigrations- und Integrationsansätze

Seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 – und immerhin bis 1956, als es durch »In God We Trust« ersetzt wurde – war »E Pluribus Unum« (frei übersetzt: »Aus vielen eines«; englisch: »One from many«) das inoffizielle Motto der Vereinigten Staaten von Amerika. Bis heute ist es der Wappenspruch im Großen Siegel der USA, dem offiziellen Dienstsiegel und Hoheitszeichen der Vereinigten Staaten (s. Abb. 1). Auch wenn dieses Motto zu Beginn weniger im Sinne des heutigen Verständnisses von kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt gedacht worden ist, sondern zunächst einmal die (nationale) Einheit der dreizehn Gründerkolonien beschwor, wird es doch immer wieder als Versinnbildlichung der amerikanischen Idee des (alten) Schmelztiegels gesehen. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dieses Verständnis im Zuge der verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen – Civil Rights Movement, Chicano Move-

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ment, American Indian Movement, Feminist Movement und LGBT(Q) Movement – allerdings eher als Ausdruck einer echten Multikulturalität im Sinne einer Salad Bowl oder eines Verständnisses von E Pluribus Plures interpretiert.

Abb. 1: »E Pluribus Unum«: Großes Siegel der Vereinigten Staaten (Quelle: https://en.wikipedia. org/wiki/E_pluribus_unum#/media/File:Great_Seal_of_the_United_States_(obverse).svg, 15. 07. 2022).

Bereits das Pamphlet »Common Sense« des radikalen Revolutionärs Thomas Paine, das im Januar 1776 erschien, zu einem ersten Bestseller in Nordamerika wurde und als eine Art inhaltliche Vorlage für die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 gilt, überführt die millennialistisch-utopische Idee von Amerika in das Konzept der »last hope for mankind«, der letzten Hoffnung für die Menschheit, welche Kernbestandteil der amerikanischen Aufklärung war. Vor allem perpetuierte Paine mit dem Begriff des »asylum for mankind«, des Asyls für die Menschheit, die seit der puritanischen Einwanderung vorhandene Vorstellung Neuenglands / Amerikas als Zufluchtsort der (im Falle der Puritaner religiös) Unterdrückten der Welt. Dies wiederum schrieb Amerika eine singuläre und exzeptionelle Position in der Weltgeschichte zu. Bei den Puritanern kommt diese Vorstellung in Bezug auf Neuengland – wenn auch deutlich klerikaler – bereits im religiös-heilsgeschichtlichen Bild der Stadt auf dem Hügel / City upon a Hill zum Ausdruck; ein Bild, das der englische Puritaner John Winthrop 1630 an die Kolonisten der Massachusetts Bay Colony richtete.4 4 Selbstverständlich sind hier diverse weitere politische und philosophische Strömungen zu berücksichtigen. Besonders zu erwähnen ist im Zusammenhang mit der Entwicklung der amerikanischen Kolonien als positive Projektionsfläche, die auch die Wahrnehmung als Einwanderungsland geprägt hat, die politische Theorie des translatio imperii des Mittelalters und der frühen Neuzeit, der zufolge Amerika in der theologisch begründeten sowie linear und

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Paines Zeitgenosse Thomas Jefferson, Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung und dritter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, war es, der federführend und an prominenter Stelle das für das junge Einwanderungsland passende Wirtschaftssystem politisch und philosophisch begründete, idealistisch überhöhte, durch seine politischen Maßnahmen praktisch umsetzte und langfristig verankerte. Erst sein politisches Handeln schuf durch den Kauf der Kolonie Louisiana von Frankreich, dem sogenannten Louisiana Purchase5, die territoriale Basis für die Vereinigten Staaten als Siedler- und damit auch als Einwanderernation. Dieses politische Handeln verband er geschickt mit der Wirtschafts- und Philosophie-Theorie des Agrarianism. Noch während der Amerikanischen Revolution schuf Jefferson mit seinen Notes on the State of Virginia (1785 anonym in Paris und schließlich 1787 unter seinem Namen in London veröffentlicht), seiner einzigen Publikation in Buchlänge, die politischphilosophische Grundlage für seine amerikanische Version des Agrarianismus. Nirgends kommt die Philosophie Jeffersons dabei deutlicher zum Ausdruck als in seinem wohl bekanntesten Kapitel, »Query XIX: Manufactures«, welches sich dem Thema der wirtschaftlichen Produktion widmet. Hier definiert er die Vereinigten Staaten im Unterschied zu den Industrienationen Europas, allen voran England, als pastorale Agrarnation, deren Mission es sei, »Rohstoffe zu gewinnen und sie gegen feinere Erzeugnisse [aus Europa] einzutauschen« (Jefferson 2003,

gen Westen ausgerichteten Geschichtsauffassung der letzte Akt der Menschheitsentwicklung sei. Stellvertretend wird hierfür beispielhaft oft George Berkeleys einflussreiches Gedicht »Verses on the Prospect of Planting Arts and Learning in America« (geschrieben 1726; veröffentlicht 1752) herangezogen, das mit den folgenden, berühmten Zeilen endet: »Westward the Course of Empire takes its Way; / The four first Acts already past, / A fifth shall close the Drama with the Day; / Time’s noblest Offspring is the last«. (Etwa: »Westwärts nimmt der Lauf des Reiches seinen Weg; / Die vier ersten Akte sind schon vollzogen, / Ein fünfter soll das Drama mit dem Tag vollenden; / Der edelste Spross der Ära ist der Letzte«, Übers. K.F.) Die Botschaft dieses Gedichts sieht Gustav Blanke darin, »dass des Menschen Hoffnung auf Regeneration in Amerika liegt und die Menschheitsgeschichte dort im fünften und glorreichsten Akt zum Abschluss kommen wird« (Blanke 1962, 322). Für eine detaillierte Betrachtung des translatio imperii-Konzepts in der amerikanischen kulturellen Imagination des 17. bis 19. Jahrhunderts, vgl. Freese (1996). 5 Der Louisiana Purchase steht für den Kauf des Gebiets der ehemaligen Kolonie Louisiana von Frankreich im Jahr 1803, das westlich des Mississippi River lag. Allerdings ist dieses Gebiet viel größer als der heutige Staat Louisiana: Es umfasst außer Teilen des heutigen Louisiana auch die Staaten Arkansas, Missouri, Iowa, Oklahoma, Kansas und Nebraska sowie Teile von Minnesota, North Dakota, South Dakota, Texas, New Mexico, Colorado, Wyoming, Montana sowie Randgebiete der kanadischen Provinzen Manitoba, Saskatchewan und Alberta. Der Louisiana Purchase war das größte Grundstücksgeschäft der Geschichte. Das gekaufte Land verdoppelte zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Territorium der Vereinigten Staaten und macht fast ein Viertel des heutigen Staatsgebiets der USA aus. Zudem eröffnete es den Zugriff auf das Gebiet zwischen den Rocky Mountains und dem Pazifischen Ozean.

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737, Übers. K.F.).6 Europa habe gar keine andere Wahl, weil auf dem europäischen Kontinent aufgrund von Überbevölkerung das Rohmaterial knapp sei, aber die USA hätten »unermessliche Landvorkommen«, die dem agrarischen Wirtschaftssystem entgegenkämen und den amerikanischen Farmer zu einem unabhängigen Gutsbesitzer (yeoman farmer7) werden ließen. Daraus leitete Jefferson dann schließlich in Anlehnung an diverse biblische Passagen seine Version des Auserwähltheitsstatus Amerikas ab, indem er feststellt: »Diejenigen, die die Erde bearbeiten, sind das auserwählte Volk Gottes, wenn er je ein auserwähltes Volk hatte, dessen Körper er zum Empfänger echter Tugend gemacht hat«.8 Diese Interpretation Amerikas ist zu einer Art Diktum geworden, welches nicht nur für die Definition als Einwandererland von höchster Tragweite war. Der dritte Präsident der USA leitete daraus auch die Schlussfolgerungen ab, dass die Korruption der Moral in der Masse derjenigen, die das Land kultivieren, ein in der Menschheitsgeschichte unbekanntes Phänomen sei, während die wirtschaftliche Abhängigkeit in Europa Unterwürfigkeit und Bestechlichkeit erzeugt, den Keim der Tugend erstickt und die Menschen zu einem falschen Ehrgeiz und zur Gier verleitet. (Jefferson 2003, 737, Übers. K.F.)9 6 Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen in diesem Beitrag vom Verfasser (K.F.); es wurde jeweils recht frei ins Deutsche übersetzt. 7 Richard Hofstadter (1956) fasst die Bedeutung des yeoman treffend wie folgt zusammen: »The yeoman, who owned a small farm and worked it with the aid of his family, was the incarnation of the simple, honest, independent, healthy, happy human being. Because he lived in close communion with beneficent nature, his life was believed to have a wholesomeness and integrity impossible for the depraved populations of cities«. (»Der Yeoman, der einen kleinen Bauernhof besaß und ihn mit Hilfe seiner Familie bewirtschaftete, war die Verkörperung des einfachen, ehrlichen, unabhängigen, gesunden und glücklichen Menschen. Da er in enger Gemeinschaft mit der wohltätigen Natur lebte, glaubte man, dass sein Leben eine Gesundheit und Integrität beinhaltete, die für die verdorbene Bevölkerung der Städte unmöglich zu erreichen war«, Übers. K.F.). 8 »Those who labour in the earth are the chosen people of God, if ever he had a chosen people, whose breasts he has made his peculiar deposit for substantial and genuine virtue« (Jefferson 2003, 737). Benjamin Franklin überhöhte die Rolle der Agrarwirtschaft ähnlich, denn sie sei »the only honest way for a nation to acquire wealth, wherein man receives a real increase of the seed thrown into the ground, a kind of continuous miracle, wrought by the hand of God in his favour, as a reward for his innocent life and virtuous industry« (zit. n. Hofstadter 1956). (Die Landwirtschaft sei »der einzige ehrliche Weg für eine Nation, Reichtum zu erwerben, bei dem der Mensch eine wirkliche Vermehrung des in die Erde gepflanzten Samens erhält, eine Art kontinuierliches Wunder, das dem Farmer durch die Hand Gottes als Belohnung für dessen unschuldiges Leben und tugendhaften Fleiß verliehen wird«, Übers. K.F.) 9 Hier die gesamte Passage: »Dependance begets subservience and venality, suffocates the germ of virtue, and prepares fit tools for the designs of ambition. This, the natural progress and consequence of the arts, has sometimes perhaps been retarded by accidental circumstances: but, generally speaking, the proportion which the aggregate of the other classes of citizens bears in any state to that of its husbandmen, is the proportion of its unsound to its healthy parts, and is a good-enough barometer whereby to measure its degree of corruption. […] The mobs of great cities add just so much to the support of pure government, as sores do to the

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Für die Wirkmächtigkeit dieser politischen Philosophie war es von zentraler Bedeutung, dass der von Jefferson idealisierte yeoman farmer während der Amerikanischen Revolution durch die Figur des Minuteman eine konkrete politisch-patriotische Versinnbildlichung erhielt. Er war die generische Verkörperung des agrarian ideal: The minuteman was not only the symbol of the (official) beginning of the American Revolution, he was also a uniquely American character. As a yeoman farmer, he represented the crucial difference between the Old World and the New: he typically owned the land he tilled, was self-sufficient, and ideally made a modest profit, in contrast to the system of vassalage still practiced in most parts of Europe at the time of the American Revolution. Maybe most importantly, the incorruptible yeoman farmer also stood for the moral integrity of America. (Fitz 2010, 85, Übers. K.F.)10

Es war somit die Amerikanische Revolution, die historisch den Urtyp des homo americanus vollendete, dessen Anfänge Max Weber im Calvinismus und Puritanismus des 17. Jahrhunderts verortet und dessen Manifestation schließlich die protestantische Arbeitsethik ist. In den Worten des Einwanderers und französisch-amerikanischen Schriftstellers Michel-Guillaume Jean de Crèvecoeur, anglisiert J. Hector St. John de Crèvecoeur, in seinem »Letter III: What Is an American?« aus seinem Gesamtwerk Letters from an American Farmer (1782), war dieser nach Amerika Eingewanderte nichts geringeres als der neue Mensch: What then is the American, this new man? He is either an European, or the descendant of an European, hence that strange mixture of blood, which you will find in no other country. I could point out to you a family whose grandfather was an Englishman, whose wife was Dutch, whose son married a French woman, and whose present four sons have now four wives of different nations. He is an American, who, leaving behind him all his ancient prejudices and manners, receives new ones from the new mode of life he has embraced, the new government her obeys, and the new rank he holds. He becomes an American by being received in the broad lap of our great Alma Mater. Here individuals

strength of the human body. It is the manners and spirit of a people which preserve a republic in vigour. A degeneracy in these is a canker which soon eats to the heart of its laws and constitution« (Jefferson 2003, 737f.). 10 »Der Minuteman war nicht nur das Symbol des (offiziellen) Beginns der Amerikanischen Revolution, er war auch ein genuin amerikanischer Nationalcharakter. Als Yeoman Farmer repräsentierte er den entscheidenden Unterschied zwischen der Alten und der Neuen Welt: Er besaß typischerweise das Land, das er bebaute, war selbstversorgend und machte im Idealfall einen bescheidenen Gewinn, im Gegensatz zu dem Vasallensystem, das zur Zeit der Amerikanischen Revolution in den meisten Teilen Europas noch praktiziert wurde. Am wichtigsten war vielleicht, dass der unbestechliche Yeoman Farmer auch für die moralische Integrität Amerikas stand«.

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of all nations are melted into a new race of men, whose labours and posterity will one day cause great changes in the world. (Crèvecoeur 1782, 660, Übers. K.F.)11

Es ist Crèvecoeur, der hier zum einen Paines Metapher des jungen Vereinigten Staates als Zufluchtsort aufnimmt, wenn er von »this great American asylum« (a. a. O., 659) spricht. Zum anderen evoziert er erstmals das Bild von Amerika als kulturellem Schmelztiegel (melting pot), wenn er schreibt, dass »[h]ere individuals of all nations are melted into a new race of men« (a. a. O., 660). Selbstverständlich handelt es sich bei Crèvecoeurs Vorstellungen um einen Schmelztiegel, dessen Legierung ausschließlich aus europäischen Nationen, allerdings ohne Süd- und Osteuropa, besteht.

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Der amerikanische Schmelztiegel – ein widersprüchliches Konzept zwischen Inklusion und Exklusion

Seit Gründung der Nation als Resultat der Amerikanischen Revolution hat es immer wieder nativistische Strömungen gegeben und es wurden wiederholt Gesetze verabschiedet, die die Einwanderung beschränkten.12 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Selbstverständnis der USA als Einwanderungsnation allerdings erstmals im großen Stil aus nativistischen Überlegungen heraus mit Blick auf eine spezielle Bevölkerungsgruppe massiv in Frage gestellt. Dabei hat John Highams Definition von Nativismus bis heute ihre Gültigkeit: Der Nativismus […] kann als intensive Opposition gegen eine interne Minderheit aufgrund ihrer ausländischen (d. h. »unamerikanischen«) Verbindungen definiert werden. Spezifische nativistische Antagonismen können als Reaktion auf die sich verändernde Rolle einer Minderheit und die wechselnden aktuellen Rahmenbedingungen 11 »Was ist dann der Amerikaner, dieser neue Mensch? Er ist entweder ein Europäer oder der Nachkomme eines Europäers, daher diese seltsame Mischung, die man in keinem anderen Land findet. Ich könnte Ihnen eine Familie nennen, deren Großvater ein Engländer war, deren Frau Holländerin war, deren Sohn eine Französin heiratete und deren vier Söhne heute vier Frauen aus verschiedenen Nationen haben. Derjenige ist ein Amerikaner, der all seine alten Vorurteile und Verhaltensweisen hinter sich lässt und durch die neue Lebensweise, die er angenommen hat, die neue Regierung, der er gehorcht, und den neuen Rang, den er innehat, neue erhält. Er wird zu einem Amerikaner, indem er im breiten Schoß unserer großen Alma Mater empfangen wird. Hier werden Individuen aller Nationen zu einer neuen Art Mensch verschmolzen, deren Mühen und Nachkommenschaft eines Tages große Veränderungen in der Welt bewirken werden«. 12 Nativistische Ängste vor ›dem Anderen‹ gehen mindestens bis in die 1750er Jahre zurück. Lange vor der Gründung der amerikanischen Nation, an der er maßgeblich beteiligt war, befürchtete Benjamin Franklin, dass ein Zustrom von nicht assimilierten Deutschen ein Nachteil für die amerikanischen Kolonien darstellen könnte. Und bereits kurz nach der Unabhängigkeit äußerte kein Geringerer als Thomas Jefferson ähnliche Befürchtungen (vgl. Merelli 2017; Graffagnino 2017).

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sehr unterschiedlich sein, aber durch jede einzelne Feindseligkeit verläuft die verbindende, sich aufputschende Dynamik des modernen Nationalismus. Der Nativismus greift zwar auf viel umfassendere kulturelle Antipathien und ethnozentrische Urteile zurück, übersetzt sie aber in eine Art Mission, die Feinde eines unverwechselbaren American Way of Life zu vernichten. (Higham 1963, 4)

Angespornt von der Vorstellung, man habe als Nation ein Manifest Destiny, also eine von Gott gewollte »offensichtliche Bestimmung«, den Subkontinent durch Expansion zu besiedeln und die bestehende westliche Grenze, die Frontier, bis zum Pazifischen Ozean auszudehnen, gilt das Land nunmehr als komplett besiedelt. Es dauert zwar noch ein paar Jahre bis die Frontier zunächst durch das U.S. Census Bureau und anschließend durch Frederick Jackson Turners berühmte Frontier Thesis von 1893 für geschlossen erklärt wird13, aber der nun konstatierte Mangel an freiem Siedlungsland verursacht eine breite Anti-Einwanderungsstimmung. Diese findet ihren Ausdruck im nativistisch motivierten Chinese Exclusion Act von 1882. Dieser Erlass war das erste bedeutende Gesetz, das die Einwanderung in die Vereinigten Staaten in Bezug auf eine einzige ethnische Gruppe verbot. Viele Menschen an der Westküste schrieben den chinesischen Neuankömmlingen sinkende Löhne und wirtschaftliche Missstände zu. Obwohl diese Gruppe nur 0,002 % der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachte, verabschiedete der Kongress das Ausschlussgesetz, um die Forderungen der Arbeiter zu beschwichtigen und die vorherrschenden Bedenken hinsichtlich der Aufrechterhaltung der weißen »Rassenreinheit« zu zerstreuen (vgl. Foner / Garraty 1991, 167). Die Opiumkriege (1839–1842, 1856–1860) in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Großbritannien und China führten zu einer Verschuldung Chinas. Überschwemmungen und Dürre trugen zu einer Abwanderung der Landbevölkerung von ihren Höfen bei und viele verließen das Land, um Arbeit zu finden. Als 1848 im kalifornischen Sacramento Valley Gold entdeckt wurde, stieg die Zahl der chinesischen Einwanderer in die Vereinigten Staaten sprunghaft, um sich dem kalifornischen Goldrausch anzuschließen. Nach einem Ernteausfall 1852 in China wurden über 20.000 chinesische Immigranten auf der Suche nach Arbeit durch den Zoll von San Francisco registriert (gegenüber weniger als 3.000 im Vorjahr). Zwischen den weißen Bergarbeitern und den Neuankömmlingen brach bald Gewalt aus, die zum großen Teil rassistisch motiviert war. Im selben Jahr erhob Kalifornien eine Steuer für ausländische Bergleute, die sogenannte Foreign Miners Tax, in Höhe von 3 Dollar pro Monat, die sich aber in erster Linie 13 Die offizielle Bezeichnung des Census Bureau als »unbesiedeltes« oder Frontier-Territorium galt für Gebiete mit einer Bevölkerungsdichte von weniger als zwei Personen pro Quadratmeile. Von dieser Zählung ausgenommen ist die nicht besteuerte indigene Bevölkerung. 1890 wurde erklärt, dass es im so definierten Sinne keine Frontier mehr gäbe.

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gegen chinesische Bergleute richtete, woraufhin Kriminalität und Gewalt eskalierten. Ein am Obersten Gerichtshof behandelter Fall aus dem Jahr 1854, People v. Hall, entschied, dass Menschen aus China, ebenso wie Menschen afroamerikanischer und indigener Herkunft, nicht vor Gericht aussagen durften, was es chinesischen Eingewanderten praktisch unmöglich machte, gegen die zunehmende Gewalt juristisch vorzugehen. Bis 1870 hatten chinesische Bergleute über die Foreign Miners Tax fünf Mio. Dollar an den Staat Kalifornien gezahlt. Auch der Bau der transkontinentalen Eisenbahn, deren erste Verbindung 1869 fertiggestellt wurde, wurde weitgehend von chinesischen Migranten durchgeführt. Dennoch sahen sich chinesische Einwanderer anhaltender Diskriminierung am Arbeitsplatz und in ihren Lagern ausgesetzt (vgl. Takaki 2008, 177–205). Um die sogenannte ›Gelbe Gefahr‹ einzudämmen, setzte der Chinese Exclusion Act von 1882 die chinesische Einwanderung zunächst für zehn Jahre aus und erklärte chinesische Eingewanderte für nicht einbürgerungsfähig. Amerikaner chinesischer Herkunft stellten die Verfassungsmäßigkeit der diskriminierenden Gesetze in Frage, aber ihre Bemühungen schlugen fehl. Stattdessen verschärfte und verlängerte sich das im Ausschlussgesetz enthaltene Verbot der chinesischen Einwanderung in den darauffolgenden Jahrzehnten gleich mehrmals. So wurde es Eingewanderten verwehrt, nach einer Ausreise wieder in die USA zurückzukehren. Die Vorschriften des Chinese Exclusion Act konnten in der Folge auch auf Chinesen angewandt werden, die Staatsbürger anderer Staaten als China waren. Sogar amerikanische Staatsbürger chinesischen Ursprungs waren nicht ausgenommen. Darüber hinaus verlangte das Gesetz von in den USA ansässigen Menschen chinesischer Herkunft das Mitführen spezieller Dokumente, wie zum Beispiel Aufenthaltsbescheinigungen der U.S.-Steuerbehörde, des Internal Revenue Service. Einwanderer, die ohne diese Bescheinigungen angetroffen wurden, konnten zu Zwangsarbeit verurteilt oder abgeschoben werden. Die Maßnahmen erwiesen sich als sehr wirksam und die chinesische Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ging stark zurück. Diese Erfahrungen mit der Ausgrenzung von Menschen chinesischer Herkunft beeinflussten später mit der Verabschiedung des Einwanderungsgesetzes von 1924 die Bewegung zur Beschränkung der Einwanderung gegen andere ›unerwünschte‹ Gruppen. Chinesische Eingewanderte und ihre in Amerika geborenen Familien blieben bis 1943 von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen (vgl. Takaki 2008, 177–205). Es erscheint wie eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet in diesen Zeiten der eskalierenden Fremdenfeindlichkeit und des übersteigerten Nativismus das ›Projekt Freiheitsstatue‹ seine Vollendung fand. Die von Frédéric-Auguste Bartholdi geschaffene neoklassizistische Kolossalstatue, die auf Ellis Island im New Yorker Hafen steht, wurde am 28. Oktober 1886 eingeweiht und ist ein Geschenk des französischen Volkes an die Vereinigten Staaten. Die in Roben gehüllte Statue stellt die Figur der Libertas, der römischen Göttin der Freiheit, dar

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und symbolisiert Amerika als den Zufluchtsort aller Asylsuchenden per se. Die auf einem massiven Sockel stehende Figur reckt mit der rechten Hand eine vergoldete Fackel hoch, um den Geflüchteten der Welt den Weg in die Sicherheit auszuleuchten, und hält in der linken Hand eine Tafel mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Zu ihren Füßen liegt eine zerbrochene Kette als Symbol der Befreiung. Die Statue gilt weltweit als Sinnbild der Freiheit und ist eines der bekanntesten Symbole der Vereinigten Staaten. Auf dem Podest der Freiheitsstatue, eingraviert in eine Bronzetafel, befindet sich das 1903 hinzugefügte, berühmte Sonett der jüdisch-amerikanischen Dichterin und New Yorkerin Emma Lazarus, »The New Colossus«. Es wurde 1883 verfasst und war als Beitrag zu einer Kunstsammlung gedacht, die Geld für den Bau des Podests der Freiheitsstatue in New York sammeln sollte. Denn während Frankreich sein teures Geschenk bereits finanziert hatte, hatten die auf Spenden angewiesenen Vereinigten Staaten im nativistisch geprägten Zeitgeist der Ära Probleme, das Geld für den Sockel rechtzeitig für die Errichtung der Statue zusammenzubekommen. Not like the brazen giant of Greek fame With conquering limbs astride from land to land Here at our sea-washed, sunset gates shall stand A mighty woman with a torch, whose flame Is the imprisoned lightning, and her name Mother of Exiles. From her beacon-hand Glows world-wide welcome; her mild eyes command The air-bridged harbor that twin cities frame. »Keep, ancient lands, your storied pomp!« cries she With silent lips. »Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free, The wretched refuse of your teeming shore. Send these, the homeless, tempest-tossed to me: I lift my lamp beside the golden door.« (Lazarus 2012 [1883], 514–515)

Nicht wie der Griechen eherner Koloss die Feinde mit der Waffe unterdrückt; An unser meerumspültes Tor gerückt steht eine mächt’ge Frau, die Mutter der Migranten, den Blitz als Fackel in der starken Hand, ein Leuchtturm, der zwei Städte überbrückt. Sie ruft: »Behaltet den berühmten Tand und euren Pomp an euren alten Küsten. Schickt mir stattdessen eure Mittellosen, die Heimatlosen, hoffnungslos Zerlumpten, vom Sturm Gebeutelten, die Abgestumpften, die Müden, die trotzdem nach Freiheit dürsten. Den Abschaum schickt vom übervollen Strand. Am Goldnen Tor erheb ich meine Hand.« (Aus dem Amerikanischen von Ruth Klüger 2016)

Lazarus’ Einladung an »die Mittellosen, die Heimatlosen, hoffnungslos Zerlumpten, vom Sturm Gebeutelten« scheint ein krasser Gegenentwurf zum ausgrenzenden Zeitgeist zu sein, der die letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts charakterisierte. Allerdings fällt bei genauerer Betrachtung der oft übersehene Hinweis im Gedicht auf, dass auch diese Einladung der »Mutter der Migranten« nicht ganz ohne Einschränkungen ist, denn »der Abschaum« (»the wretched«) sei nicht willkommen. Und wer potentiell zu dieser nicht erwünschten Gruppe gehört, ist selbstverständlich Interpretationssache. Lazarus’ Zeitgenosse Thomas Bailey Aldrich hingegen, Schriftsteller, Dichter und Herausgeber (u. a. des renommierten Atlantic Monthly) sowie Mitglied der Immigration Restriction League, lässt in seinem nativistischen Gedicht »Un-

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guarded Gates« (1895) wenig Zweifel daran, wer in den USA als Neuankömmling nicht erwünscht ist. Nachdem der erste Teil seines Gedichts die Vereinigten Staaten als modernen Garten Eden preist, macht der zweite Teil deutlich, wem man nicht (mehr) die Tore ins gelobte Land öffnen sollte: »Men from the Volga and the Tartar steppes, / Featureless figures of the Hoang-Ho, / Malayan, Scythian, Teuton, Kelt, and Slav« (Aldrich 1907, 71–72). Menschen aus Nord- und Westeuropa, die weitgehend protestantisch waren, also die alten Einwanderergruppen bis in die 1850er Jahre, sind eher willkommen bzw. inzwischen integriert und werden nicht explizit erwähnt. Nicht-protestantische Einwanderer aus Osteuropa und anderswo hingegen, z. B. aus Russland und Ungarn, oftmals jüdischen oder orthodoxen Glaubens, sowie Menschen aus dem asiatischen Kulturraum, sind ausdrücklich unerwünscht. Dabei ist es besonders aussagekräftig, dass die Freiheitsstatue bei Aldrich eine weiße Gottheit ist (»O Liberty, white Goddess!«). Mit anderen Worten, die weiße Vorherrschaft ist hier ganz unverhohlenes Programm. Dieses Pendeln zwischen dem Bekenntnis zum Status als Einwanderungsland und der Bekämpfung dieses Bekenntnisses14 wird auch visuell ausgehandelt. Der aus Wien in die USA eingewanderte politische Karikaturist Joseph Ferdinand Keppler, der unter anderem für Frank Leslie’s Illustrated Newspaper arbeitete und das erste und lange Zeit erfolgreichste amerikanische Satiremagazin Puck gründete, nahm sich dieses Spannungsverhältnisses mehrfach an. Berühmt geworden sind seine beiden Karikaturen »Welcome to All!« (Puck, April 1880) und »Looking Backward« (Puck, Januar 1893). »Welcome to All« (s. Abb. 2) stellt Uncle Sam mit offenen Armen vor einer Arche stehend dar. Er empfängt die Menschen, die vor dem Boot aufgereiht sind und Einlass begehren, mit großer Herzlichkeit. Ein großer, schwarzer, bösartig aussehender Geist in Form einer Wolke, die mit »War« (Krieg) überschrieben ist, 14 Diese Pendelbewegung muss selbstverständlich nicht zeitversetzt passieren, sondern findet oft zeitgleich statt. So beschreibt der Einwanderungshistoriker Bernard Weisberger eine Gleichzeitigkeit von Befürwortung und Ablehnung der Einwanderung im Sommer 1992 wie folgt: Auf jeden journalistischen Artikel wie den der Business Week vom Juli 1992, in dem es heißt, dass »die USA eine Goldgrube an hoch gebildeten Ausländern ernten« und dass eingewanderte Menschen des unteren Segments »hart arbeitende Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, um die niedrig bezahlten Jobs zu besetzen, die eine moderne Dienstleistungswirtschaft ausmachen«, gibt es eine Gegenantwort wie jene von Peter Brimelow in der National Review. Bereits der Titel seines Beitrags ist aussagekräftig: »Time to Rethink Immigration?« (»Zeit, die Einwanderung zu überdenken?«, Übers. K.F.). Der Schwerpunkt seines Arguments liegt darin anzumahnen, dass Amerika zu viele Einwanderer mit dem ›falschen‹ ethnischen Hintergrund aufgenommen habe (er selbst ist ein Neuankömmling aus Großbritannien), dass weder unsere Wirtschaft noch unsere Kultur der Belastung standhalten könne und dass »es vielleicht an der Zeit ist, die zweite Periode der amerikanischen Geschichte [die erste war die Ära der offenen Grenze] mit der Ankündigung abzuschließen, dass die USA kein ›Einwanderungsland‹ mehr sind«. Kurz gesagt: Wir sind hier; ihr Ausländer bleibt zu Hause.

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Abb. 2: Joseph Ferdinand Keppler, »Welcome to All«, Karikatur, Puck, 28. April 1880 (Quelle: https://www.thinglink.com/scene/1012438322934448131, 31. 12. 2020).

liegt über der rechten Hälfte der Komposition, offensichtlich die Richtung anzeigend, aus der die Einwanderer geflüchtet sind. Im Kontrast dazu ist die linke Hälfte, die die USA darstellt, hell erleuchtet, was unter anderem Gottes Segen für das gelobte Land oder den Garten Eden der Moderne symbolisiert, ein Bild, welches seit der europäischen Erstbesiedlung in Virginia und New England immer wieder benutzt wurde und teilweise immer noch benutzt wird. Die Arche, vor der Uncle Sam steht, trägt den Namen »U.S. Arch of Refuge«. Der Name bezieht sich auf die biblische Geschichte der Arche Noah und schreibt den Vereinigten Staaten somit, ähnlich wie Emma Lazarus in ihrem Sonett, zu, der letzte Zufluchtsort für Geflüchtete auf Erden zu sein. Die Zufluchtssuchenden kommen aus verschiedenen Regionen der Welt und gehören unterschiedlichen sozialen Statusgruppen an, wobei allerdings die ersten sechs Paare scheinbar europäischer Herkunft sind. Die Schilder zeigen den Einwandernden die Chancen auf, die ihnen in Amerika geboten werden. Dort gibt es keine erdrückenden Steuern, keine teuren (vom Volk zu finanzierenden) Könige, keinen verpflichtenden Militärdienst, keine Peitschen und keine Kerker. Stattdessen gibt es frei zugängliche Bildung, verfügbares Land, Meinungsfreiheit, das Wahlrecht für alle (weißen Männer) und Mittagessen gratis. Uncle Sam ist bereit, die Einwandernden nach Amerika zu bringen, damit diese in der Neuen Welt ein besseres Leben führen können. Auch wenn die Darstellung durch die offensichtlichen Übertreibungen zum Teil ironisch ist, werden die USA hier als Land por-

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traitiert, welches sich grundsätzlich und aus Überzeugung als Einwandererland definiert.

Abb. 3: Joseph Ferdinand Keppler, »Looking Backward«, Karikatur, Puck, 11. Januar 1893 (Quelle: https://www.osu.edu/features/election/election-carousel/drawn-to-politics.html, 31. 12. 2020).

Kepplers »Looking Backward« (s. Abb. 3) zeigt mehr als ein Jahrzehnt später (und unmittelbar nach der Verlängerung des Chinese Exclusion Act durch den sogar noch schärferen Greary Act) amerikanische Nachfahren von Immigranten, die neue Einwanderer – im Kontext der Zeit stammten diese eher aus Ost- und Südeuropa – ablehnen. Die Schatten im Hintergrund stellen die Väter oder Großväter dar, die vor Jahren als Einwanderer aus verschiedenen Herkunftsländern nach Amerika kamen, die genauso arm waren und genauso der Arbeiterklasse angehörten wie jener Neuankömmling am Pier. Die Männer vor den Schatten, die Nachfahren dieser Einwanderer, haben ihren amerikanischen Traum verwirklicht und sind offensichtlich gewichtige Mitglieder der amerikanischen Geschäftswelt, da sie in Pelzmäntel, feine Anzüge und glänzende Zylinderhüte gekleidet sind und ihre zum Teil dicken Bäuche auf Überfluss hindeuten, was einen starken Kontrast zu den Kleidern und dem gesamten ärmlichen Erscheinungsbild sowohl der Schattenfiguren als auch des neuen Einwanderers, der über den Bootsanleger geht, darstellt. Die wohl situierten Männer haben eine nativistische Haltung eingenommen, was durch ihre Blicke der Zurückweisung oder Verachtung angedeutet wird; ferner haben drei der fünf ihre Hände so von sich gestreckt, als ob sie sich vor dem Neuankömmling

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schützen müssten oder als ob sie diesen abwehren und daran hindern müssten, einen Fuß auf (amerikanischen) Boden zu setzen. Die Botschaft ist klar: Damals wie heute sehen viele Menschen in den USA Einwanderer als eine Bedrohung des Status Quo, des Glücks und der Stabilität, die sie für sich selbst errungen haben. Im Kontext der 1890er Jahre soll dies darauf hindeuten, dass die amerikanischen Bürger, die nun von den neuen Einwanderern umfangreiche physische und psychische Kontrollen verlangen, ebenfalls auf eine Migrationsgeschichte zurückblicken und damit im Prinzip die gleichen Menschen sind wie jene, die nun als Neuankömmlinge vor ›ihren‹ Toren stehen. Der Kontext ist die Zeit der Masseneinwanderung, bekannt als die zweite Einwanderungswelle. Einwanderer aus Russland, der Ukraine und anderen ost- und südeuropäischen Ländern nahmen zu diesem Zeitpunkt mehr und mehr zu. Die Immigranten wurden gezwungen, über Ellis Island einzureisen und wurden nicht nur physischen und gesundheitlichen, sondern auch geistigen Tests unterzogen, um sicherzustellen, dass sie die Obdachlosigkeit und Armut in den USA nicht noch verstärken würden. Durch die Ironie dieser Karikatur legt Keppler, der selbst erst 1867 in die USA eingewandert war, die Engstirnigkeit und Heuchelei der amerikanischen Haltung zur Einwanderung um die Jahrhundertwende offen. Solche Vorstellungen werfen unweigerlich die Frage danach auf, wer sich, bezugnehmend auf John Highams Nativismus-Definition, dem American Way of Life anpassen kann und wer nicht, wer sich integrieren kann und wer nicht. An diese Vorstellungen von Integration in Form von Assimilation knüpft der Mythos des melting pot (Schmelztiegels) an. Der Begriff, der Ende des 18. Jahrhunderts von Crèvecoeur erstmals benutzt wurde (vgl. Kap. 2), findet seine Verstetigung und Popularisierung im Theaterstück The Melting Pot (uraufgeführt 1908 am Columbia Theater in Washington, D.C.) des britisch-jüdischen Schriftstellers und politischen Aktivisten Israel Zangwill. Das Stück schildert das Leben einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie in New York, der Quixanos. Der Protagonist David Quixano hat ein Pogrom überlebt, bei dem seine Mutter und seine Schwester getötet wurden, und er möchte dieses schreckliche Ereignis hinter sich lassen. Er komponiert eine »Amerikanische Sinfonie« und möchte sich vor dem Hintergrund des Erlebten auf eine zukünftige Gesellschaft ohne ethnische Spaltungen und Hass freuen, die er komplett auf seine neue Heimat Amerika projiziert, anstatt rückwärts auf seine traumatische Vergangenheit zu blicken. Die folgende Passage bildet im Prinzip die Blaupause für das Konzept des melting pot, in der der Komponist David seinem Onkel (Mendel) und seiner angebeteten Vera die Motivation für seine »Amerikanische Sinfonie« erläutert. VERA: DAVID: VERA:

Ihre Musik findet also in Amerika ihre Inspiration? Ja – im Brodeln des Schmelztiegels. Der Schmelztiegel? Das verstehe ich nicht.

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DAVID:

Nicht verstehen! Sie, der Geist dieser Siedlung! [Er erhebt sich, geht zu ihr hinüber und beugt sich über den Tisch, ihr zugewandt.] Nicht verstehen, dass Amerika Gottes Schmelztiegel ist, der große Schmelztiegel, in dem alle Rassen Europas verschmelzen und sich neu zusammensetzen! Hier in Amerika stehen sie zusammen, gute Menschen, denke ich, wenn ich sie auf Ellis Island sehe, hier stehen sie [Grafische Darstellung auf dem Tisch] in ihren fünfzig Gruppen, mit ihren fünfzig Sprachen und Geschichten und ihren fünfzig blutigen Feindseligkeiten und Rivalitäten. Aber ihr werdet nicht lange in diesem Zustand bleiben, Brüder, denn dies sind die Feuer Gottes, zu denen ihr gekommen seid – dies sind die Feuer Gottes. Begrabt eure Fehden und Rachefeldzüge! Deutsche und Franzosen, Iren und Engländer, Juden und Russen – in den Schmelztiegel mit euch allen! Gott erschafft den Amerikaner. MENDEL: Ich dachte, dass der Amerikaner bereits erschaffen wurde – genau genommen achtzig Millionen von ihnen. DAVID: Achtzig Millionen! [Er lächelt VERA spöttisch, aber gut gemeint zu.] Achtzig Millionen! Über einen ganzen Kontinent! Diese Nussschale, die sich Großbritannien nennt, hat vierzig Millionen! Nein, Onkel, der echte Amerikaner ist noch nicht erschaffen worden. Er ist erst im Schmelztiegel, ich sage dir – er wird erst durch die Verschmelzung aller Rassen entstehen, vielleicht der kommende Übermensch sein. Ah, was für ein glorreiches Finale für meine Sinfonie – wenn ich sie nur schreiben kann. (aus: Zangwill 1921, Übers. K.F.)

Die hier zelebrierte melting pot-Theorie, die später als kulturelle Assimilation bekannt wurde, ging davon aus, dass die Einwanderer, ganz wie in der zitierten Sequenz beschrieben, ihre originären kulturellen und religiösen Identitäten verlieren, die Verhaltensweisen und Merkmale der dominanten Aufnahmegesellschaft übernehmen und ihre Verbindungen zu ihren eigenen Herkunftskulturen schwächen oder gar gänzlich eliminieren würden. So abenteuerlich und fiktional sich diese Theorie anhören mag, so konkret waren ihre Auswirkungen. Auch Präsident Theodore Roosevelts Haltung zur Einwanderung wurde direkt von Zangwills Theaterstück inspiriert und Amerikanisierungsprogramme einschließlich englischsprachiger Kurse und Curricula für die Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft wurden in öffentlichen Schulen eingeführt (vgl. Zhu 2019). Und es konnte zum Beispiel lange Zeit nur eingebürgert werden, wer white by law war, also nach dem Gesetz weiß, auch wenn alle anderen Voraussetzungen erfüllt waren.15 Mit anderen Worten: Menschen, die nach den herr15 Ein bekannter Fall dieser Art ist die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Ozawa v. United States (1922). Das Gericht befand Takao Ozawa, einen in Japan geborenen Japaner, der seit 20 Jahren in den Vereinigten Staaten lebte, für nicht einbürgerungsfähig, weil die Einbürgerung in die Vereinigten Staaten gemäß dem Einbürgerungsgesetz von 1906 nur »freien

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schenden rassentheoretischen Vorstellungen nicht weiß waren, konnten keineswegs ›verschmelzen‹ – weder juristisch, noch kulturell und auch eher selten sozial.

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Auf dem Weg zu multiethnischer Diversität: Vom Konzept des Trans-National America zu den Borderlands

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Konzept des melting pot aber auch gleichzeitig zunehmend in Frage gestellt. Wichtige Vertreter dieser kritischen Position waren der Harvard-Gelehrte und spätere Mitbegründer der New School for Social Research (später nur noch The New School) in New York City Horace Kallen und der Publizist und Intellektuelle Randolph Bourne. Kallen (in »Democracy Versus the Melting-Pot: A Study of American Nationality« [1915]) und Bourne (in »Trans-National America« [1916]) stellen das Assimilationskonzept in Frage, weil es sich ausschließlich an einer angelsächsischen Leitkultur orientierte: [I]f freedom means a democratic cooperation in determining the ideals and purposes and industrial and social institutions of a country, then the immigrant has not been free, and the Anglo-Saxon element is guilty of just what every dominant race is guilty of in every European country: the imposition of its own culture upon the minority peoples. (Bourne 1964, 111–112)16

Stattdessen favorisierten sie ein kosmopolitisches und multikulturelles Amerika, in dem Assimilation gar nicht als wünschenswert angesehen wurde, eine Haltung, die vor allem bei Bourne stark von einem intellektuellen Internationalismus inspiriert war. Es dauerte allerdings weitere vierzig Jahre, bis Carl Degler mit der Metapher der salad bowl ein Konzept prägte, welches als feste Größe Einzug in den kulturphilosophischen Diskurs erhalten sollte. Er artikulierte dies wie folgt: »The metaphor of the melting pot is unfortunate and misleading. A more accurate analogy would be a salad bowl, for, though the salad is an entity, the lettuce can still be distinguished from the chicory, the tomatoes from the cab-

Weißen« und »Personen afrikanischer Herkunft oder Personen afrikanischer Abstammung« erlaubt war. Ozawa stellte die Verfassungsmäßigkeit der Rassenbeschränkungen nicht in Frage. Stattdessen behauptete er, Japaner seien ordnungsgemäß als »freie Weiße« einzustufen, was das Gericht ablehnte (vgl. Immigration and Ethnic History Society o. J.). 16 »Wenn Freiheit eine demokratische Zusammenarbeit bei der Bestimmung der Ideale und Ziele und der industriellen und sozialen Institutionen eines Landes bedeutet, dann ist der Einwanderer nicht frei gewesen und das angelsächsische Element hat sich exakt dessen schuldig gemacht, wessen sich jede Mehrheitskultur in jedem europäischen Land schuldig gemacht hat: den Minderheitengruppen die eigene Kultur aufzuzwingen« (Übers. K.F.)

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bage« (Degler 1970, 296).17 Auch die bereits angesprochene Abänderung des Wappenspruchs im Großen Siegel der USA von e pluribus unum in e pluribus plures ist Ausdruck dieses Perspektivwechsels. Entsprechend wurde kultureller Kontakt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen nicht mehr nur als Konfrontation, sondern vielmehr als cultural encounter innerhalb einer kulturellen Kontaktzone verstanden, in der ein kultureller Austausch in beide Richtungen stattfindet. Seit den 1990er Jahren spielte deshalb der Begriff der Transkulturation (vgl. Pratt 1992; Fitz 2001) bzw. der kulturellen Hybridität (vgl. Bhabha 1994) eine zunehmend wichtige Rolle. Seit den 1960er Jahren hat sich in den USA als Folge der Einwanderung aus Lateinamerika18, insbesondere aus Mexiko, ein gewaltiger demographischer Wandel vollzogen, der von Wissenschaftlern als »demographische Revolution« bezeichnet wird (vgl. Gutiérrez 2004, ix). Diese Entwicklung, die eine explosionsartige Latinisierung nach sich zog, hat bald auch ihre politischen und kulturellen Spuren hinterlassen. Die Volkszählung (U.S. Census) von 2010, der letzten, von der die kompletten Erhebungsdaten vorliegen, dokumentiert diesen Latinisierungsprozess nachdrücklich (vgl. U.S. Census Bureau 2011a und 2011b): War der Anteil der afroamerikanischen und der lateinamerikanischen Bevölkerung in der Volkszählung von 2000 noch nahezu gleich (12,3 % bzw. 12,5 %), so stieg die Zahl der Latinxs von 35 Mio. im Jahr 2000 auf 50,5 Mio. im Jahr 2010 (und damit auf 16,3 % der U.S.-Gesamtbevölkerung) an, während der Anteil der afroamerikanischen Bevölkerung mit 12,6 % vergleichsweise stabil blieb (vgl. U.S. Census Bureau 2011b, 4). Mehr als die Hälfte des Gesamtbevölkerungswachstums zwischen 2000 und 2010 von 27,3 Mio. Menschen entfiel auf die LatinxBevölkerung (15,2 Mio.). Das heißt, dass die lateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen in den USA binnen nur einer Dekade mit 43 % um gut das Vierfache im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (10 %) wuchsen. Unter den Latinxs war das Wachstum der »Mexican Americans«, die sich selbst seit den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre meist als Chicanxs bezeichnen, in absoluten Zahlen besonders hoch: Der Anstieg von 20,6 auf 31,8 Mio. Menschen machte somit allein schon drei Viertel des Wachstums unter der Latinx-Bevölkerung aus (vgl. U.S. Census Bureau 2011a, 2–4). Derzeit liegt der Anteil der Bevölkerung, der sich der sich per Selbstzuschreibung als mexikanisch bezeichnet, bei 63 %, also bei fast zwei Dritteln der Latinx-Bevölkerung (gegenüber 58 % im Jahr 2000).

17 »Die Metapher des Schmelztiegels ist unglücklich und irreführend. Eine genauere Analogie wäre eine Salatschüssel, denn obwohl der Salat eine Einheit ist, kann der Salat dennoch vom Chicorée, den Tomaten und vom Kohl unterschieden werden« (Übers. K.F.). 18 Die folgenden Abschnitte zur Latinisierung der USA beziehen sich weitgehend auf Fitz (2017).

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Da Latinxs zudem vergleichsweise jung sind und eine deutlich höhere Geburtenrate aufweisen als zum Beispiel der angloamerikanische Bevölkerungsteil, sprechen Wissenschaftler von einem inhärenten Multiplikator-Effekt, der zur Folge hat, dass Latinxs selbst dann das Bevölkerungswachstum in den USA am nachhaltigsten prägen würden, wenn die Einwanderungsraten in Zukunft abnähmen. Hatten weiße Amerikaner in der Volkszählung von 2010 mit 63,7 % noch eine solide Mehrheit, so werden Nicht-Weiße nach aktuellen Schätzungen des U.S. Census Bureaus im Jahr 2044 die neue Mehrheit im Land sein (vgl. Frey 2015). Und danach dürfte es bei den anhaltenden demographischen Trends nicht mehr lange dauern, bis Latinxs die absolute neue Mehrheit bildeten. Nach dem Chicano Movement, also der Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre, die das Ziel verfolgte, die »Mexican Americans« / Chicanxs in ihren Rechten und ihrem Selbstbewusstsein zu stärken, wurden Einwanderungs- und Integrationskonzepte nochmals weitergedacht. Es war eine Gruppe von ChicanaFeministinnen um Norma Alarcón, Gloria Anzaldúa, Cherríe Moraga und Chela Sandoval, die mit ihrer radikalen Kritik am Kulturnationalismus und Machismo des Chicano Movement den Weg wiesen für ein neues Verständnis für den Umgang mit hybriden, transkulturellen und postkolonialen Identitäten. Diese feministische Bewegung gipfelte 1987 literarisch in der Publikation von Anzaldúa mit dem Titel Borderlands / La Frontera: The New Mestiza, die zugleich zu einer wegweisenden neuen Theorie der kulturellen Identität in den Borderlands als ein hybrides, dynamisches Konstrukt avancierte. Mittlerweile werden die Borderlands in den Literatur- und Kulturwissenschaften sowie in den Ethnic / Diversity Studies schon lange nicht mehr nur als die sprichwörtliche, physische Grenze von ca. 3.000 Kilometern zwischen den USA und Mexiko verstanden, sondern als Theorie über die kulturelle Bedeutung der Schnittmengen zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen, Geschichte(n), Gender-Konzepten und sexuellen Orientierungen, innerhalb derer neue, hybride kulturelle und soziale Räume entstehen, die selektiv verschiedene Elemente aller beteiligten Kulturen adaptiert und in sich aufgesogen haben (Anzaldúa 1987, 77). In ihrem Vorwort beschreibt Anzaldúa den spannungs- und konfliktgeladenen kulturellen Raum der Borderlands wie folgt: I am a border woman. I grew up between two cultures, the Mexican (with a heavy Indian influence) and the Anglo (as a member of a colonized people in our own territory). I have been straddling that tejas-Mexican border, and others, all my life. It’s not a comfortable territory to live in, this place of contradictions. Hatred, anger and exploitation are the prominent features of this landscape. However, there have been compensations for this mestiza, and certain joys. Living on borders and in margins, keeping intact one’s shifting and multiple identity and integrity, is like trying to swim in a new element, an ›alien‹ element. There is an exhilaration in being a participant in the further evolution of humankind, in being ›worked‹ on. I have the sense that certain

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›faculties‹ — not just in me but in every border resident, colored or noncolored — and dormant areas of consciousness are being activated, awakened. Strange, huh? And yes, the ›alien‹ element has become familiar — […] not comfortable but home.19 (Anzaldúa 1987, Preface o. S.)

Nach heutiger Definition befinden sich kulturelle Borderlands nunmehr überall dort, wo größere Gruppierungen von ethnischen Minderheiten in einem kulturellen und sozialen Spannungsverhältnis zum Mainstream der Gesellschaft stehen (vgl. Anzaldúa 1987, Preface o. S.). Der Kampf in der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs um die Interpretation, ob diese kulturellen Borderlands eine Bereicherung oder eine Belastung sind, dauert freilich an. Auf wissenschaftlicher Ebene bekennt man sich in den USA, unter anderem inspiriert durch die europäische Nordamerikaforschung, in den American Studies allerdings spätestens seit dem sogenannten Transnational Turn um die Jahrtausendwende zu multiund transnational ausgerichteten Ansätzen.20

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Wo stehen wir heute? – DREAMers gegen Wall-Builders

Bereits im September 2015 hatten die Bilder des zweijährigen Alan Kurdi, eines syrischen Jungen kurdischer Abstammung, dessen Leichnam nach einem Versuch der Überquerung des Mittelmeers an der türkischen Mittelmeerküste in der Nähe von Bodrum angeschwemmt worden war, weltweit für Betroffenheit gesorgt und die Politik zum Handeln in der Flüchtlingskrise veranlasst.21 Ein ähnliches Entsetzen, wenn auch keinesfalls ein ähnliches Handeln, rief ein Foto von Julia Le 19 »Ich bin eine Frau der Grenze. Ich bin zwischen zwei Kulturen aufgewachsen, der mexikanischen (mit einem starken indigenen Einfluss) und der anglo-amerikanischen (als Angehörige eines kolonialisierten Volkes in unserem eigenen Territorium). Ich habe mich mein ganzes Leben lang in diesem texanisch-mexikanischen Grenzland bewegt. Es ist kein bequemer Lebensraum, dieser Ort der Widersprüche. Hass, Wut und Ausbeutung sind die hervorstechenden Merkmale dieses Kulturraums. Es gab jedoch gewisse Entschädigungen für mich als Mestizin und manche Freuden. An Grenzen und an Rändern zu leben, seine sich stets verschiebende und multiple Identität und Integrität zu bewahren, ist wie der Versuch, in einem neuen Element, einem ›fremden‹ Element, zu schwimmen. Es ist eine Art Hochgefühl, auf diese Art und Weise an der weiteren Entwicklung der Menschheit teilzuhaben, Teil eines stets voranschreitenden Prozesses zu sein. Ich habe das Gefühl, dass bestimmte ›Fähigkeiten‹ – nicht nur in mir, sondern in jedem Grenzbewohner, dunkelhäutig oder nicht – und schlummernde Bereiche des Bewusstseins aktiviert, geweckt werden. Seltsam, nicht wahr? Und ja, das ›fremde‹ Element ist vertraut geworden – […] nicht bequem, aber Heimat« (Übers. K.F.). 20 Shelley Fisher Fishkins Presidential Address bei der American Studies Association 2004 mit dem Titel »Crossroads of Cultures: The Transnational Turn in American Studies« wurde somit zu einem breit angelegten wissenschaftlichen Programm. 21 Allerdings muss man sich fragen, wie nachhaltig das Entsetzen über das tragische Unglück war (vgl. Knaus 2019; Schulte von Drach 2017).

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Duc hervor (s. Abb. 4), welches die Leichname des salvadorianischen Migranten Oscar Alberto Martinez Ramirez und seiner fast zweijährigen Tochter Valeria am Ufer des Rio Grande in Matamoros, Mexiko, zeigen. Vater und Tochter ertranken am 24. Juni 2019 beim Versuch, den Rio Grande zu überqueren und in die USA zu gelangen. Wie das Foto zeigt, versuchte sich die Tochter an der Schulter der Vaters festzuklammern und der Vater hatte das Kind offensichtlich innerhalb seines T-Shirts an seinen Rücken fixiert, damit das Kleinkind nicht in den starken Strömungen des Rio Grande abtreibt und ertrinkt. Am Ende hat es beiden das Leben gekostet.

Abb. 4: Die Leichen des salvadorianischen Migranten Oscar Alberto Martinez Ramirez und seiner fast zweijährigen Tochter Valeria am Ufer des Rio Grande in Matamoros, Mexiko, am 24. Juni 2019 (Julia Le Duc / Associated Press, Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/tragoedie -am-grenzfluss-dokumentiert-mit-einem-erschuetternden-foto-100.html, 31. 12. 2020).

Dies war in jüngster Zeit bisher der Tiefpunkt einer langen Entwicklung an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, die durch die Wahl Donald Trumps und seine radikalen Maßnahmen zur Eindämmung der legalen und illegalen Einwanderung ihren negativen Höhepunkt fand. Der amerikanische Präsident erschwerte unter anderem Asylantragsverfahren, stufte Mexiko als sicheres Drittland ein, um Massenausweisungen dorthin anordnen zu können, ließ Eltern von minderjährigen Kindern trennen und zwang Migranten in überfüllte Auffangund Abschiebelager mit zum Teil menschenunwürdigen Hygienebedingungen. Um sein Wahlversprechen, die illegale Einwanderung zu stoppen, umzusetzen,

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setzte er zudem den Mauerbau fort, den Präsident George W. Bush einst zaghaft begonnen hatte, und entsandte tausende Soldaten an die Grenze. Der kanadische Karikaturist Michael de Adder nahm das oben erwähnte Foto von Le Duc in seiner mittlerweile wohl bekanntesten Karikatur auf (s. Abb. 5), indem er Donald Trump beim Golfspielen zeichnete, der direkt an den Leichnamen der beiden Migranten vorbei sein Golfspiel fortsetzt mit der Frage »Do you mind if I play through?« (Macht es Euch etwas aus, wenn ich [über Euch hinweg / an Euch vorbei] weiterspiele?, Übers. K.F.). Diese beißende Kritik an der Einwanderungspolitik Donald Trumps ging in Windeseile viral und kostete dem Karikaturisten seinen Vertrag als freier Mitarbeiter bei der Brunswick News Inc. (vgl. Liao 2019).

Abb. 5: Michael de Adder, »Do you mind if I play through?«, Karikatur, Quelle: CNN.com und https://twitter.com/deAdder/status/1143931384265883650/photo/1, 31. 12. 2020).

Am Fallbeispiel des so tragisch gescheiterten Einwanderungsversuchs von Oscar Alberto Martinez Ramirez und den Reaktionen darauf zeigt sich das ganze Dilemma der derzeitigen Debatte, in der die Positionen unvereinbar scheinen. Präsident Trump, dem hier wie in vielen anderen Situationen gänzlich das Empathievermögen fehlt, machte umgehend die Demokraten im Kongress dafür verantwortlich, weil diese gegen eine von Trump geforderte Verschärfung der Asylpolitik gestimmt hatten, welche seiner Meinung nach den Ansturm von Migranten an der Grenze – und somit dieses tragische Unglück – verhindert hätte (vgl. Thebault / Velarde / Hauslohner 2019).

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Damit sind wir in der schwierigen unmittelbaren Gegenwart angekommen. Die polarisierende Haltung zum Thema Einwanderung zeigt sich auch deutlich, wenn man die Entwicklungen rund um den DREAM Act, der erstmals 2001 im Senat eingebracht wurde, sowie den Build the Wall, Enforce the Law Act von 2018 näher beleuchtet. Auch in diesem Fall prallen die um Integration bemühten Kräfte in der Einwanderungsdebatte auf die nativistisch ausgerichteten, wobei letztere zumindest vorübergehend die Oberhand behalten. Hier ist die Trennlinie ziemlich deutlich längs der Parteilinien zu ziehen, wobei es selbstverständlich immer einzelne Grenzgänger gibt. Der Development, Relief, and Education for Alien Minors Act (DREAM Act, zu Deutsch in etwa Gesetz zur Entwicklung, Unterstützung und Ausbildung für minderjährige, illegale Ausländer), war ein Gesetzesvorschlag für ein Verfahren zur Gewährung eines Aufenthaltsstatus für qualifizierte Einwanderer, die als Minderjährige in die Vereinigten Staaten eingereist sind. Er hätte zunächst einen bedingten Aufenthaltsstatus und, bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen, einen Daueraufenthaltsstatus gewährt. Der Gesetzesentwurf wurde erstmals im August 2001 in den Senat eingebracht und seither mehrfach erneut vorgeschlagen, jedoch stets erfolglos (vgl. NAID 2010). Im September 2017 ließ die Trump-Administration die Gesetzeseingabe auf Drängen des Präsidenten endgültig fallen. Während der Zeit, in der das DREAMGesetz im Kongress vorangetrieben wurde, entstand die DREAMers-Bewegung, die sich mit genau diesen gesellschaftlichen, politischen und juristischen Fragen der Einwanderung, der Ausbildung und der Staatsbürgerschaft auseinandersetzt. Sie besteht hauptsächlich aus Studierenden bzw. Jugendlichen ohne Papiere. Ihre Forderungen sind nach der Einstellung des DREAM Act in den von den Demokraten im American Dream and Promise Act, der im Juni 2019 im U.S. Repräsentantenhaus verabschiedet wurde (vgl. National Immigration Forum 2019), eingegangen.22 Den eher integrativen Positionen derer, die den Dream Act und den American Dream and Promise Act, die ja beide bereits in der Bezeichnung selbst das Bekenntnis erhalten, dass der amerikanische Traum unmittelbar mit dem Thema Einwanderung verbunden ist, unterstützen, stehen also die Mauerbauer gegenüber. Da Donald Trump als Kandidat der Republikaner seinen Präsidentschaftswahlkampf 2016 stark auf das Versprechen des Mauerbaus ausgerichtet hatte, um Amerika wieder großartig zu machen (»to make America great again«), waren die endgültige Einstellung des DREAM Act sowie ein neues Gesetz zur Regelung des Mauerbaus, und damit eine Begrenzung bzw. Unterbindung ille22 Dies war erst möglich, nachdem die Demokraten in den midterm elections, den Zwischenwahlen, im U.S. Repräsentantenhaus die Mehrheit errungen hatten. Zumindest solange die Republikaner im Senat die Mehrheit innehatten, konnte diese Gesetzesvorlage nicht Realität werden.

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galer Einwanderung über die südliche Grenze, mit seinem Amtsantritt zu erwarten gewesen. Dieses Gesetz wurde dann auch mit dem Build the Wall, Enforce the Law Act von 2018 erlassen. Das Gesetz gewährt über 23 Milliarden U.S. Dollar für den Mauerbau, stellt Mittel für Inhaftierungen und Abschiebungen bereit, setzt das Kate’s Law23 in Kraft und entzieht den sogenannten Sanctuary Cities (Zufluchtsstädte)24 die finanzielle Basis. Es schreibt also eine Zerreißprobe in der Einwanderungsdebatte fort, die so alt ist wie die Nation selbst.

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Schlusswort

Zurück zum Beginn dieses Beitrags: Migration, das finde ich zentral für die kulturelle, wirtschaftliche und politische Weiterentwicklung dynamischer Gesellschaften. Nach dieser sehr komprimierten und überaus eklektischen Reise durch etwa zweieinhalb Jahrhunderte an Aushandlungen amerikanischer Einwanderungskonzepte dürfte klar sein, dass die Vereinigten Staaten von Amerika derzeit keine Vorbildfunktion mehr haben. Erst wenn man sowohl in der Breite als auch in der Tiefe die dunklen Seiten der amerikanischen Kulturgeschichte aufarbeitet und ernsthaft den strukturellen und institutionellen Rassismus als Kernproblem eingesteht und bekämpft, werden die Vereinigten Staaten wieder eine Vorbildrolle als Einwanderungsland einnehmen können. Zurzeit geschieht dies zwar durchaus an den Universitäten und wird auch in den Lehrplänen vieler Bildungseinrichtungen reflektiert, aber in der breiten Öffentlichkeit und in gesellschaftlichen Institutionen beherrschen nach wie vor kulturelle Narrative den Diskurs, die das kollektive Selbstbild der Einzigartigkeit verklären. Dies wiederum verhindert bzw. verschleppt die kritische Auseinandersetzung. Lernen kann man vom amerikanischen Beispiel freilich dennoch. Aber vielleicht ist es 23 Kate’s Law (oder House Resolution 3004, kurz: H.R. 3004) ist Kate Steinle gewidmet, einer 32jährigen Frau, die 2015 in San Francisco erschossen wurde, als sie mit ihrem Vater an einem Pier entlang spazieren ging. Bei dem mutmaßlichen Schützen, Francisco Sanchez, handelte es sich um einen illegalen Einwanderer, der bereits fünfmal abgeschoben worden und siebenmal vorbestraft war. H.R. 3004 erhöhte die Strafen für kriminelle Ausländer, die wegen illegaler Wiedereinreise verurteilt wurden, und soll so von der Wiedereinreise abschrecken und kriminelle Illegale von amerikanischen Straßen fernhalten. Der Gesetzentwurf steht im Einklang mit den Maßnahmen der Regierung, die Durchsetzung der amerikanischen Einwanderungsgesetze zu stärken (vgl. White House 2017). 24 Sanctuary Cities ist ein Sammelbegriff für Städte und Kommunen, die verschiedene Maßnahmen implementiert haben, mit denen sie die Zusammenarbeit mit der U.S.-Regierung bei Fällen illegaler Einwanderung reduziert oder ganz eingestellt haben. Manche Städte / Kommunen geben statusunabhängig allen Bewohnern Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und weigern sich beispielsweise, an Deportationen und Inhaftierungen mitzuwirken (vgl. Cooke / Hesson 2020).

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mittlerweile auch eher umgekehrt und Deutschland ist ein besseres Beispiel für ein modernes Einwanderland als die USA, denn Deutschland ist seit der sogenannten Flüchtlingswelle von 2015 wiederholt als »gelobtes Land« (Coen / Sußebach 2016) oder »neues Land der Verheißung« (O’Brien 2015) beschrieben worden – also als das, was die Vereinigten Staaten spätestens seit der puritanischen Besiedlung im 17. Jahrhundert in der kulturellen Selbst- und Fremdimagination immer waren. Machen wir uns nichts vor: Die USA befinden sich seit den 1960er Jahren in einem culture war, einem Kulturkampf, der in der Präsidentschaft Trump einen vorübergehenden, traurigen Höhepunkt erreicht hat. Dieser kulturelle Konflikt zwischen sozialen oder politischen Gruppen und der Kampf um die Vorherrschaft über ihre Werte, Überzeugungen und Praktiken konzentrierte sich lange Zeit auf Themen – zum Beispiel Abtreibung, Homosexualität / LGBT(Q), Multikulturalismus (Einwanderung eingeschlossen), Feminismus, Waffenbesitz –, bei denen es seit Jahren grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in der Gesellschaft gab und mit Blick auf die politische Positionierung eine Polarisierung der gesellschaftlichen Werte zu beobachten war. Mit diesen Themen wurden Werte, Moralvorstellungen und Lebensstile verknüpft, die unvereinbar schienen. Aber es gab auch Themen, die unverdächtig, also nicht unmittelbar Teil dieses Kulturkampfes waren, die man überparteilich lösen konnte. Dazu gehörten beispielsweise Themen wie Wirtschaft und Handel, die nationale Verteidigung, die Rolle der USA in der Welt, Freiheit von übermäßiger Einmischung der Regierung, das Gesundheitssystem, die Energiepolitik, das Bildungswesen und die Infrastruktur. Diese Zeiten sind vorbei, denn im polarisierten und ideologisierten Amerika wird alles zum Gegenstand des Kulturkampfes gemacht (vgl. Grunwald 2018). Zuletzt geschah dies, wie die Journalisten Lisa Lerer (2020) unlängst in der New York Times festgestellt hat, auch im Umgang mit Corona: »You’re either a liberal snowflake controlled by big government or a greedy conservative willing to sacrifice Grandma for the economy. It took less than two months for Americans to get here.«25 Ohne Zweifel wird das Thema Einwanderung auch in den kommenden Jahren besonders weit oben im Themenrepertoire des andauernden Kulturkampfes stehen, zumal das Thema Mauerbau und dessen Finanzierung die Amerikaner auch weit über die Präsidentschaft Trumps hinaus aufwühlen – und ganz handfest Steuergelder kosten – wird. Erste Signale des neuen Präsidenten sind vielversprechend: Unter den siebzehn Verfügungen (executive orders), die Joe Biden am ersten Tag seiner Amtszeit unterzeichnet hat, betreffen immerhin fünf 25 »Sie sind entweder ein liberales Weichei, das von einer großen Regierung kontrolliert wird, oder ein gieriger Konservativer, der bereit ist, seine Großmutter für die Wirtschaft zu opfern. Es dauerte weniger als zwei Monate, bis die Amerikaner soweit waren« (Übers. K.F.).

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das Thema Migration. Dazu zählt unter anderem der Stopp des Mauerbaus an der Grenze zwischen den USA und Mexiko und die Aufhebung des Einreisestopps für Menschen aus vorwiegend muslimischen Ländern. Und dass hinter dem Resolute Desk des Präsidenten im Oval Office nun eine Büste von César Chávez (vgl. Cassidy 2021, 2), dem mexikanisch-amerikanischen Arbeiterführer und Bürgerrechtler steht, der sich in den 1960er und 1970er Jahren vor allem für die Rechte von Landarbeitern einsetzte, die hauptsächlich aus Mexiko stammten, ist ein deutliches Zeichen der neuen Wertschätzung von Migranten. Dass nun zudem mit der Senatorin Kamala Harris erstmals eine afroamerikanische Politikerin, deren Eltern in den 1960er Jahren aus Jamaika und Indien in die USA eingewandert sind, zur Vizepräsidentin gewählt wurde, lässt darauf hoffen, dass sich die Vereinigten Staaten in Zukunft wieder ein wenig mehr ihres Vermächtnisses als Einwanderungsland – und eventuell ja sogar als Land der (un)begrenzten Möglichkeiten – bewusst werden. Die Erklärung von Präsident Biden, angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine 100.000 ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen (vgl. Hesson / Cooke 2022), ist jedenfalls ein deutliches Zeichen in diese Richtung.

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Daniela Wawra

»Managing Migration« – Diskurse von EU-Institutionen und US-Regierung zur Migration: Eine kritische Analyse

1

Fragestellung sowie theoretische und methodische Verortung der Studie

Migration, das finde ich, ist ein multi- und interdisziplinärer Forschungsgegenstand, zu dem die Linguistik wichtige Beiträge leisten kann, z. B. durch die Analyse von Diskursen über Migration, da diese gleichzeitig widerspiegeln und mit beeinflussen, wie Menschen über Migration denken und welche Haltung sie ihr gegenüber einnehmen. Zum Thema Migration gibt es zahlreiche Studien, auch in der Linguistik, wobei Analysen von Mediendiskursen und politischen Diskussionen überwiegen (vgl. z. B. Wodak 2019, auch Maletzky de García in diesem Band). In diesem Beitrag soll anhand einer Fallstudie zu Diskursen auf Webseiten der EU und der US-Regierung zur Migration vergleichend untersucht werden, was und wie von offizieller, regierungsverantwortlicher Seite über Migration kommuniziert wird. Methodisch basiert die Studie auf der Kritischen Diskursanalyse. Aus der Vielzahl von Diskursdefinitionen sollen die nachfolgenden herausgegriffen werden, die dem Vorhaben zugrunde liegen: Zum einen ist dies das Verständnis von Diskursen als »sprachliche[n] Ereignisse[n]« bzw. Handlung[en], durch die ideelle und symbolische Konstrukte in der sozialen Welt aktualisiert und ›realisiert‹ werden. […] [Diskurse sind damit] alle Formen sozialen Dialogs, wie er innerhalb und zwischen Institutionen, zwischen Individuen und sozialen Gruppen, Organisationen und den politischen Institutionen im Besonderen stattfindet. (Donati 2011, 161)

Diskurs ist ferner eine »Form der Rede […], in der Sprecher ›in ihrer Funktion als Stellvertreter einer Gruppe oder von Institutionen […] auftreten‹« (Rein 1986, 12; zit. n. Donati 2011, 161). Zum anderen kann ein Diskurs nach Link (1983, 60) zudem verstanden werden als »eine institutionell verfestigte Redeweise, insofern eine solche Redeweise schon Handeln bestimmt und verfestigt und also auch […] Macht ausübt«.

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Daniela Wawra

Der kritischen Diskursanalyse liegt ein konstruktivistischer Ansatz zugrunde. Diskurse konstruieren eine »spezifische Ordnung von Sinn und Bedeutung« (Hirseland / Schneider 2011, 419). Sie stellen eine »Entscheidung für oder gegen andere (dadurch unterdrückte und ausgeschlossene) […] Ordnungsmöglichkeiten« (ebd.) dar und üben so Macht aus. Außerdem werden »bestimmte Formen der Problemlösung institutionalisiert und damit zugleich andere Möglichkeiten ausgeschlossen« (ebd.). »In diesem Sinne sind Diskurse […] hegemoniale Artikulationen von bestimmten Interessen und Bedürfnissen« (Hirseland / Schneider 2011, 424). Bei der kritischen linguistischen Diskursanalyse geht es vor allem darum, die sprachlichen Mittel offenzulegen, mit denen bestimmte Wirkungen zur Interessensdurchsetzung, oder man könnte auch sagen Machtausübung, erzielt werden (vgl. Jäger 2011, 92f.). Die spezifischen Zwecke eines Diskurses können dabei nur erschlossen werden, wenn nicht nur der Diskurs untersucht wird, der Untersuchungsgegenstand sein soll, sondern auch der Kontext, in den dieser eingebettet ist und der diesen beeinflusst. Wichtig ist bei dieser Art von Diskursanalyse außerdem, offenzulegen, was nicht gesagt wird, was ausgeklammert bzw. verborgen wird. Beachten sollte man, dass Diskurse »eine immer nur perspektivische Repräsentation ihres durch sie konstruierten Gegenstandes [liefern], der ›objektiviert‹ und als ›so und nicht anders‹ institutionalisiert werden soll« (Hirseland / Schneider 2011, 424). Diskurse stellen »Identifikationsangebote« und »Integrationsprozeduren« dar, »aber auch […] Ausschluß- und Ausgrenzungsprozeduren« (Hirseland / Schneider 2011, 425). Diskurse bilden also nicht »die Welt ›an sich‹ ab […, sondern drücken] eine bestimmte […] Vorstellung von Welt« (ebd.) aus. Das gezeichnete Bild kann insofern »nicht per se als ›wahr‹ oder ›falsch‹« (ebd.) eingeordnet werden, es kann »aber aus der Perspektive anderer [alternativer] Diskurse« (ebd.) hinterfragt und kritisiert werden. Insbesondere sollen im Rahmen dieser Fallstudie folgende Fragen adressiert werden: Welches Bild von Migration, der Situation in der EU bzw. den USA sowie der Aktivitäten der Regierungen wird entworfen? Auf welche Aspekte von Migration wird eingegangen, welche gesellschaftlichen Herausforderungen, Rahmenbedingungen und politischen Maßnahmen werden herausgestellt und welche Zukunftsentwürfe werden vorgestellt? Wie wird über Migration, die betroffenen Menschen und die gesellschaftliche Situation gesprochen? Welche Leerstellen gibt es? Welche diskursiven Strategien werden dabei angewendet, welche Funktionen haben sie und welche Ziele sollen damit erreicht werden? Welche alternativen gesellschaftlichen Diskurse gibt es? Mit einem komparativen Ansatz sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im EU- und US-Diskurs herausgearbeitet, kontextualisiert und kritisch hinterfragt werden.

»Managing Migration«

2

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Die Fallstudie: Eine kritische Analyse der Diskurse von EUund US-Institutionen zur Migration

Wenn jemand etwas über die Migrationspolitik der EU oder der USA wissen möchte, ist das Internet potentiell eine gute Informationsquelle. Entweder gibt man in eine Suchmaschine einen passenden Suchbegriff ein oder man geht zunächst auf die offizielle Webpräsenz der EU- bzw. der US-Regierung.1

2.1

EU-Diskurs

Auf der Startseite der offiziellen Webpräsenz der EU (2020) erfährt man nichts über Migration. Auch in der Navigationsleiste oben, unter der Rubrik »EU nach Thema«, findet sich kein Hinweis zum Thema. Es sind dort aufgeführt »Politikfelder der Europäischen Union« bzw. auf der englischsprachigen Seite »Topics of the European Union«. Migration kommt jeweils nicht vor. Gibt man als nächstes in der Suchfunktion auf der EU-Seite das Stichwort Migration ein, in der Hoffnung, einen informativen Überblick zum Thema zu bekommen, insbesondere über die konkrete EU-Politik in diesem Bereich, wird man ebenfalls enttäuscht. Es werden einige Dokumente angezeigt, die hierfür jedoch wenig hilfreich sind. Unter Public-Relations-Gesichtspunkten ist zu kritisieren, dass ein für die EU so zentrales Thema wie Migration, das die Menschen bewegt, nicht prominent platziert wird auf der offiziellen Website. Gerade für die EU als supranationale Institution ist die Kommunikation und Erklärung ihrer Politik besonders wichtig für die Integration nach innen. Einschlägige Kommunikate sollten leicht zu finden und problemlos zugänglich sein. Als nächstes wurde eine Google-Suche mit dem Stichwort »EU (on) migration« durchgeführt.2 Die Trefferliste der ersten Seite mit folgenden offiziellen englischsprachigen Seiten ergibt das Untersuchungskorpus für den vorliegenden Beitrag: 1. »Priority migration« (European Commission) (EC 2019a) https://ec.europa.eu/commission/priorities/migration_en 2. »Migration and asylum« (European Commission) (EC 2019b) https://ec.europa.eu/info/topics/migration-and-asylum_en 3. »How the EU manages migration flows« (European Council) (ECou 2019) https://www.consilium.europa.eu/en/policies/migratory-pressures/managin g-migration-flows/ 1 Die im Folgenden beschriebenen Internetrecherchen wurden am 11. April 2019 durchgeführt. 2 Eine Suche mit den Schlagworten »EU migration« oder »EU; migration« ergibt dieselbe Trefferliste.

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4. »European agenda on migration« (European Commission) (EC 2019c) https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-mi gration_en Nicht aufgenommen ins Untersuchungskorpus wurden jene Websites, die entweder nur Links zu weiterführenden Dokumenten enthielten oder keine englischsprachige Version zur Verfügung stellten.3 Verfasserin der ersten beiden sowie der vierten Webseite des Untersuchungskorpus ist die Europäische Kommission. Die dritte Seite verantwortet der Europäische Rat (Staats- und Regierungschefs) und der Rat der Europäischen Union (Minister der Mitgliedstaaten). Im Folgenden werden die Texte der vier EU-Webseiten der Reihe nach im Detail analysiert.4 Priorität Migration Auf der ersten Webseite des Untersuchungskorpus (EC 2019a) heißt es unter der Kategorie »Priorities« – »Migration«: Migration wird also als prioritäres Thema gesetzt. Die Überschrift des Texts lautet: »Towards a European agenda on migration«. Dies klingt zunächst sehr bürokratisch und verwaltungstechnisch. Auffallend ist die Verwendung der Präposition »towards« (»a[n] agenda«). Dies drückt aus, dass bis dato noch keine Agenda existiert. Dem Cambridge Dictionary (2020) zufolge versteht man unter einer Agenda »a list of matters to be discussed at a meeting« oder »a list of aims or possible future achievements«. Sicherlich müsste die EU nach all den Jahren, in denen verstärkt Migration nach Europa stattgefunden hat, mittlerweile doch mindestens Punkte identifiziert haben, über die man politisch beraten sollte oder Ziele formuliert haben, wie mit 3 Untersucht werden in diesem Beitrag, auch für die EU, englischsprachige Websites, zum einen, da Englisch in der EU – wie weltweit – als Lingua franca fungiert, zum anderen, da so eine bessere Vergleichbarkeit mit den US-Websites gegeben ist. Nicht in das Untersuchungskorpus aufgenommen wurden aus folgenden Gründen die nachstehend genannten Seiten, die auch zur Trefferliste der ersten Seite der Google-Suche gehörten: https://ec.europa.eu/home-affai rs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/background-information_en, da sie keinen zusammenhängenden Text enthält, sondern nur eine Auflistung zahlreicher weiterführender Links zu einer Reihe von Fact-Sheets, die chronologisch geordnet sind. Auch auf der Seite der Generaldirektion der Europäischen Kommission, »Migration und Inneres«, war(en) kein Fließtext, sondern nur Links zu finden, sodass sie ebenfalls nicht ins Korpus aufgenommen wurde (https://ec.europa.eu/info/departments/migration-and-home-affairs_en). Weiter ist herausgefallen die Seite der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, da es keine englischsprachige Version gibt (https://ec.europa.eu/germany/refu gees_de). Dies traf ebenfalls zu auf die Seite des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Deutschland (http://www.europarl.europa.eu/germany/de/europa-und-europawah len/migrations-und-asylpolitik). 4 Kursivdruck in den folgenden Textauszügen ist jeweils meine Hervorhebung.

»Managing Migration«

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Migration künftig umgegangen werden soll? Dies kann man klar positiv beantworten: Die EU hat selbstverständlich Diskussionspunkte identifiziert und Ziele formuliert, wie z. B. die Verteilung von Migrantinnen und Migranten5 in den EUStaaten besser zu steuern oder die Bedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern, sodass weniger Anlass für Migration aufgrund schlechter Lebensverhältnisse besteht. Da also naheliegt, dass man schon von einer »agenda on migration« sprechen kann, die die EU hat, suggeriert die Formulierung mit »towards« etwas Falsches, da der Eindruck entsteht, dass die EU in dieser Hinsicht noch recht planlos ist. Weiter heißt es auf der EU-Seite: The plight of thousands of migrants putting their lives in peril to cross the Mediterranean has shocked. It is clear that no EU country can or should be left alone to address huge migratory pressures.

In dieser Passage wird die Situation klar benannt: Die Migrantinnen und Migranten6 befinden sich in einer Notlage, setzen ihr Leben aufs Spiel. Durch diese Wortwahl, und vor allem auch durch die Verwendung von »shocked«, erfolgt eine Emotionalisierung des Diskurses. Die Formulierung wird nicht eingeschränkt; man könnte fragen »has shocked whom?«: Alle, manche – z. B. Politikerinnen und Politiker, die Menschen in Europa, …? Dass hier keine Spezifizierung erfolgt, unterstreicht, dass die EU explizit, unmissverständlich und ohne Einschränkung das Elend und die Notlage der Migrantinnen und Migranten, die versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, anerkennt und als selbstverständlich voraussetzt, dass dies allgemein so gesehen wird. Allerdings bezieht sich die Aussage nur auf die genannte spezifische Gruppe von Migrantinnen und Migranten, nämlich 5 In diesem Beitrag wird der Terminus »Migrant« bzw. »Migrantin« als Sammelbegriff für Menschen verwendet, die ihre Heimatländer verlassen und nach einer Existenz in einem anderen Land streben. Die Gründe können vielfältig sein. Beim jeweils ersten Vorkommen des Begriffs »migrant« auf den analysierten Webseiten der EU- / US-Regierung wird über eine Fußnote außerdem jeweils erläutert, wie die betreffenden Regierungen den Begriff auf ihren Seiten erklären. 6 Sucht man danach, wie die EU den Begriff »Migrant« bzw. »Migrantin« definiert, wird man nicht so leicht fündig. Eine Suche über Google mit dem Stichwort »EU definition of migration« führt zu einem Glossar der Europäischen Kommission (vgl. EC 2020). Bei der Definition von »migrant« wird hier unterschieden zwischen dem globalen und dem EU- / EFTA-Kontext: »In the global context, a person who is outside the territory of the State of which they are nationals or citizens and who has resided in a foreign country for more than one year irrespective of the causes, voluntary or involuntary, and the means, regular or irregular, used to migrate.« Im EU/ EFTA-Kontext versteht die EU unter ›Migrant‹ »a person who either: (i) establishes their usual residence in the territory of an EU / EFTA Member State for a period that is, or is expected to be, of at least 12 months, having previously been usually resident in another EU / EFTA Member State or a third country; or (ii) having previously been usually resident in the territory of the EU / EFTA Member State, ceases to have their usual residence in the EU / EFTA Member State for a period that is, or is expected to be, of at least 12 months.« Der Migrantenstatus ist also jeweils abhängig von der Dauer des Aufenthalts außerhalb des Heimatlandes.

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diejenigen, die die Mittelmeerroute wählen. Was ist aber z. B. mit den Migrantinnen und Migranten, die über den Landweg kommen, mit Arbeitsmigrantinnen und -migranten etc.? Angesichts des angesprochenen Leids der Migrantinnen und Migranten würde man nun eigentlich erwarten, dass eine Aussage folgt, wie man dieses mildern und wie man die Migrantinnen und Migranten unterstützen oder künftig verhindern könnte, dass Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu kommen. Stattdessen heißt es im nächsten Satz, dass kein EU-Land allein gelassen wird, um dem großen Migrationsdruck zu begegnen. Es scheint, als wäre die Notlage der Länder größer als die der Migrantinnen und Migranten. Diese Notlage der Länder wird expliziert als »huge migratory pressures«. Die Formulierung ist sehr vage – was oder wer sind Ursachen dieser »migratory pressures« – die Migrantinnen und Migranten selbst? Gegen wen oder was genau entsteht Druck? Die Wortwahl lässt das Bild entstehen von Ländern, die sich kaum zu helfen wissen angesichts einer sehr hohen Anzahl von Migrantinnen und Migranten. An dieser Stelle wird eine für den Migrationsdiskurs typische Metapher von Ländern als Containern bedient, die nur begrenzt aufnahmefähig sind: Der Container ist eigentlich schon voll und der Deckel soll zugemacht werden, es wird aber immer noch mehr hinzugefügt, sodass der Inhalt ›zusammengepresst‹ wird. Es wird so das Bild einer Bedrohung und eines Kontrollverlusts gezeichnet. Betont wird in der Passage zudem, dass der Umgang mit Migration eine Gemeinschaftsaufgabe für die EU-Länder ist. Die EU präsentiert sich insgesamt als Organisation, die die Länder unterstützt und die Kontrolle wiederherstellen möchte. Weiter heißt es auf der EU-Webseite: The Commission’s agenda on migration outlines an immediate response to the crisis situation in the Mediterranean and sets out longer term steps to manage migration in all its aspects.

Dies widerspricht klar der Überschrift »towards […] a[n] agenda«, denn hier heißt es nun, dass die Europäische Kommission eine Agenda hat, die konkrete Anweisungen darüber enthält, was es angesichts der Krisensituation im Mittelmeer zu tun gilt. Zudem ist die Rede von längerfristigen Planungen der EU, wie mit Migration in jeder Form umgegangen werden soll. Zum einen ist dabei auffällig, dass zunächst wiederum nur die Migration übers Mittelmeer als »Krisensituation« (»crisis situation«) herausgegriffen wird. Zum anderen soll Migration gemanagt werden (»manage migration«), d. h. gesteuert im Sinne von kontrolliert und in eine bestimmte Richtung gelenkt. Die EU, hier die Europäische Kommission, präsentiert sich damit als Institution, die wohlüberlegt und strukturiert handelt und die Kontrolle innehat, im Gegensatz zu den einzelnen EU-Ländern, die einem ›Migrationsdruck‹ ausgesetzt sind (s. o.).

»Managing Migration«

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In dem Text werden dann mehrere politische Ziele als stichwortartige Überschriften formuliert. Als Erstes: »Saving lives and securing external borders« – also Leben retten und die Außengrenzen sichern. Durch die sprachliche Koordination (»and«) wird ein Zusammenhang zwischen Lebensrettung und Grenzsicherung hergestellt. Die EU präsentiert sich als Retterin und Beschützerin. Ausgeführt wird dann: Ensuring strong and shared management of the external borders through the full operationalisation of the European border and Coast Guard, new proposals on smart borders and financing initiatives in North Africa to help the region become stronger in search and rescue activities.

Hier deutet sich schon an, dass »manage(ment)« und »migration« eine starke Kollokation aufweisen. Dies bestätigt sich duch das wiederholte Auftreten auch in weiteren Textauszügen. So wird immer wieder unterstrichen, dass die EU einen Plan und alles unter Kontrolle habe. Im Textauszug wird dies zudem durch »ensure« transportiert: Die EU ist verlässlich und sorgt für Sicherheit. Zudem kommt »strong« auch in folgenden Textausschnitten immer wieder vor. Die EU präsentiert sich so als stark und handlungsfähig und damit wiederum als eine Institution, die alles im Griff hat. Durch die ebenfalls wiederholt verwendeten Adjektive »common« und »shared« wird immer wieder in Erinnerung gerufen, dass Migration ein Thema ist, das von den EU-Ländern gemeinsam angegangen werden muss. Des Weiteren wird eine »volle Operationalisierung« (»full operationalisation«) der europäischen Grenze und Küstenwache angestrebt. Dies ist ein recht bürokratischer und inhaltsleerer Ausdruck – was bedeutet das konkret? Warum ist es bis jetzt nicht gemacht worden? Und was sind »smart borders«? Dies klingt gut und modern (analog zu »Smartphone«, »Smart Home«), dürfte aber den meisten Leserinnen und Lesern kein Begriff sein. Mit Finanzinitiativen soll zudem Nordafrika geholfen werden. Nicht, um die Lebensbedingungen dort zu verbessern, sondern um das Land zu Such- und Rettungsmissionen zu befähigen. Weiter heißt es: »Reducing the incentives for irregular migration«. Dies wird ausgeführt wie folgt: Investigating, disrupting and prosecuting smugglers networks and helping align EU countries’ return practices. The Commission will also aim to build stronger partnerships with key countries outside the EU.

Die EU wird präsentiert als Organisation, die wieder Helferin ist, für Recht und Ordnung sorgt und dabei selbst aktiv die Dinge in die Hand nimmt (»investigating«, »disrupting«, »prosecuting«). Es stellt sich die Frage, was genau unter »irregular migration« verstanden wird. Im Text ist von Schleppernetzwerken die Rede, sodass als regelwidrige Migration hier diejenige angesehen wird, die über Schlepperbanden erfolgt. Auch hier wird Migration als Gemeinschaftsaufgabe

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eingeordnet, diesmal in Zusammenarbeit mit externen Partnerinnen und Partnern. Die nächste Überschrift auf der Webseite lautet »A strong common asylum policy«. Erneut wird die eigene Stärke beschworen und die Gemeinschaftsaufgabe betont: Completing the reform of the Common European Asylum System to ensure a fully efficient, fair and humane asylum policy with a common and harmonised set of rules at EU level, including a more sustainable system for allocating asylum applications among Member States.

Die wiederholte Verwendung von »common« sowie »harmonised« beschwört einmal mehr die Gemeinschaft, »ensure« stellt die EU wieder als alles im Griff habend dar. »Effizient«, »fair« und »human« sollen die Asylverfahren sein, und damit rückt sich die EU selbst in eben dieses Licht. Mit der Formulierung »allocating asylum applications« wird an den Wirtschaftsdiskurs angeknüpft, dem ›Allokation‹ entlehnt wurde. Die Formulierung ist bürokratisch und unpassend, wenn man bedenkt, dass es letztlich um Menschen geht, die ›alloziert‹ werden sollen. Schließlich wird eine neue Politik bezüglich legaler Migration (»legal migration«) angestrebt. Auffällig ist, dass zuvor von »irregular migration« die Rede war, nicht von »illegal migration« (s. o.): A new policy on legal migration Keep Europe an attractive destination for migrants in a time of demographic decline, through actions such as reviewing the Blue Card scheme, re-prioritising integration policies, and making migration policy work better for countries of origin, for example by easing remittances.

Während zuvor die EU-Länder als unter Druck stehend beschrieben wurden aufgrund von Migration, wird jetzt betont, dass die EU Migration wegen des Bevölkerungsrückgangs braucht und dass sie für Migrantinnen und Migranten attraktiv bleiben soll. Dies wirkt widersprüchlich in der Botschaft. Der Diskurs ist wieder sehr bürokratisch (vgl. z. B. die Formulierungen »re-prioritising« und »easing remittances« sowie die Verwendung des Fachausdrucks »Blue Card scheme«). Lesbarkeitstests, also Analysen dazu, wie schwer das Dokument zu verstehen ist, ergeben eine Bandbreite von »sehr schwer zu lesen« (nach dem Flesch Reading Ease: 20.9) über »schwer zu lesen« (Gunning Fog: 20.4) bis hin zu »überwiegend mindestens Collegeabschluss notwendig« (Flesch-Kincaid Grade Level: 18).7 Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass die Tests auch bei allen 7 Vgl. z. B. »Flesch Reading Ease scored your text: very difficult to read.«, »Gunning Fog: 20.4 Gunning Fog scored your text: difficult to read«, »Flesch-Kincaid Grade Level: 18 Grade level:

»Managing Migration«

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anderen untersuchten Texten der EU und der USA durchgeführt wurden und jeweils zu vergleichbaren Ergebnissen geführt haben. Was die Adressatenorientierung in puncto Lesbarkeit angeht, sind die Webseiten also alle verbesserungsfähig. Migration und Asyl Die Überschrift der zweiten EU-Webseite des Untersuchungskorpus lautet »Migration and asylum« (EC 2019b). Weiter heißt es »What the Commission is doing«. Der Gebrauch der Verlaufsform indiziert eine starke Handlungsorientierung; die EU-Kommission wird als sehr aktiv in Sachen Migrationspolitik dargestellt. Die Verlaufsform wird auch im weiteren Text beibehalten: »The Commission is developing a common migration and asylum policy to manage the refugee crisis«. Während auf der ersten Webseite ausschließlich von Migrationspolitik die Rede war, wird hier zwischen Migrations- und Asylpolitik differenziert. Die Verlaufsform (»is developing«) führt auch die Unmittelbarkeit der Aktivitäten vor Augen. Gleichzeitig kann man wiederum kritisch fragen, warum diese Politik erst im Entstehen ist. Ein gewisser Widerspruch liegt zudem zwischen dem »is doing« in der Überschrift und dem »is developing« im Text vor: »is doing« suggeriert, dass bereits etwas Konkretes gemacht wird, man sich im Umsetzungsstadium befindet; »is developing« bleibt jedoch noch unkonkret und verweist darauf, dass etwas erst im Entwicklungsstadium ist. Die Verwendung von »common« und »manage« sticht wie im zuvor analysierten Text hervor und hat die bekannten Konnotationen: Migrationspolitik, hier ergänzt um die Asylpolitik, wird wiederum als Gemeinschaftsaufgabe beschrieben. Auch werden Maßnahmen anvisiert, um die Flüchtlingskrise unter Kontrolle zu bringen. Die EU gesteht hier immer noch eine Krise ein, gegen die Maßnahmen entwickelt werden. Kritisch kann wieder angemerkt werden, dass man noch nicht weiter und die Krise nicht schon behoben ist. Weiter geht es im Text wie folgt: »It [the Commission] will help Europe both to take advantage of the opportunities and to tackle the challenges of increased cross-border mobility«. »[C]ross-border mobility« wird hier als Umschreibung von Migration verwendet. Diese wird nun auch als Chance und nicht mehr nur als Herausforderung bezeichnet. Allerdings werden die Chancen nicht weiter benannt. Die Kommission stilisiert sich wiederum als Helferin Europas, allerdings erst für die Zukunft (»will help«). Dies erweckt den Eindruck, als ob die EU-Länder gegenwärtig noch nicht unterstützt würden. College Graduate and above.«, »Automated Readability Index: 19.6 Grade level: College graduate«, »Linsear Write Formula : 23.1 Grade level: College Graduate and above.« (MBM 2020).

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Im Anschluss wird in Stichworten aufgelistet, wie die Kommision die EULänder unterstützen möchte: – – – – – –

protecting those in need of shelter curbing irregular migration saving lives at sea and securing the EU’s external borders8 guaranteeing free movement of people within the Schengen area better organisation of legal migration better integration of non-EU nationals into EU societies

Die EU stilisiert sich abermals als zuverlässige Beschützerin und Retterin (»protecting«, »shelter«, »saving«, »guaranteeing«), die für Recht und Ordnung eintritt (»curbing irregular migration«). Neu ist der Hinweis auf die Freizügigkeit im Schengenraum, wobei unklar bleibt, auf welche Personengruppe genau sich diese bezieht. Auch wird erstmals Integration erwähnt. Die EU unterstreicht in den letzten beiden Statements, dass sie in diesen Bereichen besser werden möchte. Allerdings sind die Formulierungen mit »better« im Rahmen der Auflistung inkonsistent. Sie kommunizieren explizit eine Verbesserung des Ist-Zustands. Bei einem close reading entsteht dadurch jedoch der Eindruck, als wären jene Unterstützungsmaßnahmen, die vor den mit »better« eingeleiteten Aktivitäten stehen, neu, da sie nicht das Ziel der Verbesserung beinhalten. Die EU präsentiert sich auf dieser Webseite als aktiv handelnde Instanz und verwendet mehr positiv konnotierte Termini – hier zudem gehäuft in der Form von Tätigkeitsverben, die die Aktivität und Kontrolle der Institution unterstreichen – als im ersten Text (»protect«, »save«, »secure«, »guarantee«). Als Ziele werden formuliert: Objectives ensure all EU countries fully implement the Common European Asylum System (CEAS) reduce the incentives for irregular migration, fight smuggling and increase the effectiveness of return policies protect our external borders better, thanks to increased funding and a more prominent role for the European border agency Frontex safeguard the functioning of the internal border-free Schengen zone promote legal migration of persons with skills needed in Europe cooperate more closely with non-EU countries to smooth repatriation of irregular migrants 8 Wiederum werden die Rettung von Leben auf dem Mittelmeer und die Sicherung der EUGrenzen in einem Atemzug genannt. Letzteres schwächt Ersteres ab und lässt es als eher egoistisches Ziel erscheinen.

»Managing Migration«

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Die Darstellung der EU als Beschützerin und Kämpferin für Recht und Ordnung wird also fortgesetzt (»ensure«, »protect«, »safeguard«, »reduce […] incentives for irregular migration«, »fight smuggling«). Wiederum geht es um den Schutz der externen Grenzen und die Kooperation auch mit externen Partnerinnen und Partnern. Menschen mit bestimmten Fähigkeiten, die in Europa gebraucht werden, werden als Migrantinnen und Migranten explizit willkommen geheißen (vgl. zu dieser utilitaristischen Perspektive auf Migration auch die Analyse von Maletzky de García in diesem Band). Management von ›Migrationsflüssen‹ Die dritte EU-Webseite des Untersuchungskorpus (ECou 2019) wird eingeleitet mit »How the EU manages migration flows«. Es ist also die Rede von »Migrationsströmen« oder »-flüssen«. Die Verwendung solcher Flut-/ Wasser-Metaphern ist in Migrationsdiskursen häufig anzutreffen und vielfältig kritisiert worden (vgl. z. B. Mai 2015, 24; Arcimaviciene / Baglama 2018; Mujagic´ 2018; Frouws 2021). Was passiert aus metapherntheoretischer Sicht? Eine Quell- oder Ursprungsdomäne, hier ein Wasserstrom, wird angewendet auf eine Zieldomäne, hier Migration. Dadurch werden Eigenschaften der Quelldomäne auf die Zieldomäne übertragen (vgl. dazu z. B. Goatly 2007, 11–12). Die Metapher inkludiert vielfältige Übertragungen, darunter wiederum die, dass die Zielländer Behältnisse oder Auffangbecken sind, sog. ›Container‹ (s. o.). Wasserströme sind potentiell gefährlich – damit auch Migrationsbewegungen. Wasserströme sind nicht so leicht zu stoppen, somit auch nicht die Migration. Steigern sich Ströme zu Fluten, sind sie bedrohlich, können Hab und Gut sowie Leben kosten. All diese Eigenschaften der Quelldomäne können unbewusst das Denken über die Zieldomäne beeinflussen (vgl. Saric / Felberg 2019, 217). In der Folge wird zwischen verschiedenen Arten von Migrantinnen und Migranten differenziert, für die die EU Maßnahmen zur legalen Einwanderung eingeführt hat: »The EU has adopted various sets of rules and frameworks to manage legal migration flows for: […]« »asylum seekers«, »highly skilled workers«, »students and researchers«, »seasonal workers«, »family reunification«. Wiederholt ist die Rede von »migration flows«, so auch im folgenden Absatz, in dem zudem angesprochen wird, dass man gemeinsame Regeln für die Bearbeitung von Anfragen auf Asyl eingeführt hat: »Regarding other migration flows, the EU has adopted: […]«, »common rules for processing asylum requests«, »a decision to relocate thousands of asylum seekers from Greece and Italy«, »readmission agreements for returning illegal migrants.« Darüber hinaus stellt sich die EU wieder als tatkräftig dar, mit bürokratischer Färbung (»decision«, »readmission agreements«).

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Wie der nachfolgende Textausschnitt belegt, präsentieren sich die EU bzw. hier konkret der Europäische Rat und der Rat der EU, in den folgenden Passagen der Webseite als starke, mächtige und durchsetzungsfähige Organisationen, die einiges erreicht bzw. auf den Weg gebracht haben. Dies wird durch Formulierungen wie »has implemented«, »control«, »effective«, »setting the strategic priorities«, »establishes lines of action«, »provides the mandates« und »strong« ausgedrückt. Zudem wird als Ziel wiederum eine menschliche (»humanitarian«) Migrationspolitik genannt. Die EU wird einmal mehr als Organisation präsentiert, die aktiv ist, die die Kontrolle über Migration behält und die für Sicherheit und Ordnung sorgt. Wieder ist die Rede von Migrationsströmen (»migration flows«) und Migrationsdruck (»migratory pressure[s]«) mit den bereits ausgeführten Implikationen: Since the height of the migration crisis in 2015, the EU has implemented measures to better control external borders and migration flows. As a result, irregular arrivals to the EU have been reduced by more than 90%. The EU and its member states are intensifying efforts to establish an effective, humanitarian and safe European migration policy. The European Council plays an important role in this effort by setting the strategic priorities. Based on these priorities, the Council of the EU establishes lines of action and provides the mandates for negotiations with third countries. It also adopts legislation and defines specific programmes. Over the past years the Council and European Council have build up a strong response to migratory pressure. The timeline on migratory pressures provides an overview of the key developments in the work of the Council and the European Council: Timeline: response to migratory pressures

Der Diskurs wirkt durch Formulierungen wie »has implemented«, »setting the strategic priorities«, »establishes lines of action and provides the mandates«, »adopts legislation«, »defines […] programmes« und »timeline« abermals bürokratisch und verwaltungstechnisch. Die europäische Migrationsagenda Auf der letzten Webseite des Untersuchungskorpus zum EU-Diskurs (EC 2019c) lautet die Überschrift »European Agenda on Migration«. Dies knüpft an die vorherigen bürokratischen, verwaltungstechnischen Diskurse an. Im Unterschied zur ersten Webseite wird die Agenda hier nun aber als gegeben und nicht erst als im Stadium der Entwicklung präsentiert. Es wird ausgeführt, dass mit der Agenda angestrebt wird »to better manage migration« im Bereich der »irregular«

»Managing Migration«

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und »legal migration«. Damit wird eingestanden, dass dies bisher noch nicht so gut gelungen ist. Letztliches Ziel soll es sein, Europa auszustatten mit »futureproof means of managing migration responsibly and fairly«. Wiederum präsentiert sich die EU als verantwortungsvolle und gerechte (»responsibly and fairly«) Institution. Im – häufig sehr bürokratischen – Diskurs der EU-Webseiten finden sich also zusammenfassend einige Leerstellen, Ungenauigkeiten und Widersprüche. Zum Teil wird zu wenig differenziert. Die EU versucht insgesamt überwiegend, sich in Bezug auf Migration als handlungsstarke, planvoll vorgehende und gerechte Institution zu präsentieren, die alles unter Kontrolle hat. Dies gelingt nicht immer. Die EU stellt sich Migrantinnen und Migranten gegenüber als Retterin und Beschützerin dar. Zudem sieht sie sich als Unterstützerin der EU-Mitgliedstaaten, die als hilfsbedürftig und durch die Migration unter Druck stehend charakterisiert werden. Schließlich wird hervorgehoben, dass die Migrationspolitik eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Sehen wir uns nun im Vergleich an, wie die US-Regierung zu Migration kommunziert.

2.2

US-Diskurs

Geht man auf die Seite der US-Regierung (US 2020), findet sich in der Navigationsleiste eine Rubrik »Travel and Immigration«. Hier sind weiterführende Links zusammengestellt zu praktischen Themen rund um die Einwanderung in die USA, wie zur Green Card und zu den Anforderungen an eine Staatsbürgerschaft (»U.S. residency, green cards, and citizenship requirements and related issues«).9 Allgemeiner zu Migration findet sich kein Hinweis auf der Seite. Eine Google-Suche zu »US (on) migration«10 führt zur Website des US-Department of State, des Außenministeriums. Die weiteren Treffer auf der ersten Seite des Suchergebnisses führen alle zu nichtstaatlichen Websiten, die jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung sein sollen. Die folgende Analyse beschränkt sich daher auf die Seite des Außenministeriums (US 2019). Dort heißt es: Diplomacy in Action PRM’s Office of International Migration (PIM) works to protect the world’s most vulnerable migrants11 through targeted programs and cross-cutting efforts to shape in9 https://www.usa.gov/immigration-and-citizenship. 10 Eine Suche mit den Schlagworten »US(A) migration« oder »US(A); migration« ergibt dieselbe Trefferliste. 11 Ein Glossar zu Migrationstermini findet man auf den Seiten des US-Außenministeriums nicht so leicht. Gibt man in die Suchfunktion der Seite »migration glossary« ein, erhält man allerdings einen Treffer und gelangt so zu einem Lexikon (https://www.uscis.gov/tools/glossa

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ternational migration policy. Specifically, it seeks to protect and assist vulnerable migrants and to advance effective and humane international migration policies by origin, transit, and destination countries in order to promote safe, orderly, and regular migration.

Die Migrationspolitik wird zunächst als diplomatisches Instrument eingeordnet (»Diplomacy in Action«). Die US-Regierung präsentiert sich dabei bereits prominent in der Überschrift als aktiv. Es wird außerdem gleich eingangs deutlich gemacht, dass es eine eigene Abteilung für Migrationspolitik gibt, das PRM (»Bureau of Population, Refugees and Migration«).12 Die US-Regierung stellt sich wie die EU als Beschützerin (»protect«, »safe«) und Helferin (»assist«) dar. Im Unterschied zur Kommunikation der EU, die die Perspektive der EU-Länder in den Vordergrund gestellt hatte, liegt der perspektivische Fokus hier allerdings auf den Migrantinnen und Migranten. Diese werden als verletzlich beschrieben. Dies wird mehrmals wiederholt, was dem noch mehr Nachdruck verleiht. Ebenfalls im Unterschied zu den untersuchten Seiten der EU wird von Anfang an eine internationale Perspektive gegenüber Migration eingenommen und als Ziel formuliert, die internationale Migrationspolitik formen zu wollen.13 Dies soll erreicht werden, indem effektive und humane politische Maßnahmen umgesetzt werden, um eine geordnete und reguläre Zuwanderung zu fördern. Dieses Ziel, wie die Erwähnung von Effektivität und Humanität, fand sich auch in der Kommmunikation der EU. Analog präsentieren sich die USA als Hüterin von Recht und Ordnung. Es folgt dann als Überschrift die Frage: »Why is Migration Significant to the United States?«. Folgende Antworten werden gegeben: Migrants have made immeasurable contributions to the United States since the nation was established. More than 40 percent of our high-tech companies were founded by immigrants or their children. First and second-generation immigrants to the United States have won 65 percent of Nobel Prizes awarded for work here, and account for one-third of our physicists, engineers, and doctors. Migrants also make up 60 percent of our construction workers and the majority of our agricultural workers. ry). Unter »migrant« ist ein Eintrag gelistet und die Definition »A person who leaves their country of origin to seek residence in another country.« (https://www.uscis.gov/tools/glossa ry?topic_id=m#alpha-listing). Diese Definition ist weniger spezifisch als die der EU. Auf verschiedene Arten von Migrantinnen und Migranten wird nicht verwiesen. 12 »The Bureau of Population, Refugees, and Migration provides aid and sustainable solutions for refugees, victims of conflict and stateless people around the world, through repatriation, local integration, and resettlement in the United States. PRM also promotes the United States’ population and migration policies.« (https://www.state.gov/j/prm/). 13 Die Verortung der Migrationspolitik im internationalen Kontext mag vielleicht nicht überraschen, da die Webseite vom Außenministerium verantwortet wird. Andererseits ist es doch erwähnenswert, da diese Seite diejenige der US-Regierung ist, die bei einer Google-Suche am prominentesten platziert ist.

»Managing Migration«

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Hier wird die historische Dimension von Migration berücksichtigt. Die vielfältigen Leistungen von Migrantinnen und Migranten werden herausgestellt und gewürdigt (»immeasurable contributions«). Verschiedenste gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft (»high-tech companies«), Wissenschaft (»Nobel Prizes«), Bauwesen (»construction workers«) und Landwirtschaft (»agricultural workers«) werden erwähnt. Damit wird die Bandbreite der Beiträge von Migrantinnen und Migranten hervorgehoben. Migrantinnen und Migranten, so letztlich die Botschaft, haben die USA geprägt und tragen in zentralen Bereichen wesentlich zur öffentlichen Versorgung und zum Wohlstand der Nation bei. Diese Dimension fehlte in der EU-Kommunikation, es wurde lediglich am Rande erwähnt, dass Migration auch Chancen bieten kann. Weiter wird nochmals betont, dass die Migrationspolitik effektiv und menschlich sein soll, sowie, dass den USA die internationale Einbettung wichtig ist: »To promote effective and humane migration policies and advance U.S. foreign policy, the Bureau participates in a wide variety of international migration forums.« Man tauscht sich zu »best practices« bezüglich des Umgangs mit Migration aus. Wie im EU- ist auch im USDiskurs die Rede von »migration management« mit der bekannten Konnotation. Als Migrationspolitik wird beschrieben: […] migrant integration and returns to country of origin; protection of asylum-seekers, refugees, and other vulnerable migrants; combating migrant smuggling and trafficking; human rights of migrants; and the links between migration and development.

Im Vergleich zur EU werden erstmals auch die Menschenrechte von Migrantinnen und Migranten angesprochen. Außerdem wird der Schutz der Migrantinnen und Migranten (»protection«) hervorgehoben und wiederum ihre Verletzlichkeit. Allerdings passt die hier ebenfalls angeführte Rückführung in die Heimatländer (»returns to country of origin«) nicht ins gezeichnete Bild der USA als Beschützerin. Zudem wird expliziert, dass Bedrohungen für Migrantinnen und Migranten sowohl in den Ursprungsländern, unterwegs, sowie in den Zielländern existieren können und man diese angehen möchte (»address migration vulnerabilities in origin, transit, and destination countries«). Es wird also ein umfassender Blick auf Migration angestrebt, inklusive der Migrationsursachen. Letztlich sollen die Bedrohungen reduziert werden: The Bureau supports a wide range of programs that seek to reduce the inherent vulnerabilities in both irregular and regular migration, including by addressing the needs of the world’s most vulnerable migrants. PRM programs provide technical assistance to help build the migration management and protection capacities of origin, transit, and destination countries. In addition, we support efforts to directly assist the world’s most vulnerable migrants, such as unaccompanied children, persons rescued at sea, and stateless persons.

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Es wird nun auch differenziert zwischen verschiedenen Migrantengruppen, hier denjenigen, die als am verletztlichsten angesehen werden. Nicht zur überwiegenden Positionierung der USA auf Seiten der Migrantinnen und Migranten passt die Aussage, dass die Ursprungsländer dabei unterstützt werden sollen, ihre Schutzkapazitäten auszubauen, wohl in Form eines besseren Grenzschutzes (»help build […] protection capacities of origin […] countries«). Dies ist nicht im Interesse der Migrationswilligen und dient vielmehr der Verhinderung von Migration. Im Anschluss werden konkrete und individuelle Beispiele dafür angeführt, wie die implementierten Programme wirken: Examples of the impact of our programs include: – A young woman – victim of human trafficking. Once she is freed, our programs provide assistance for her to return in safety (to home country in Central America where she starts her own business). This reduces her economic imperative to travel to the United States to provide for her family. – A young man from the Horn of Africa is kidnapped and taken to the Sinai Peninsula. He is held captive and tortured: electrocuted, burned, and threatened with organ extraction. His captors extract a significant ransom from his family back home. Barely alive, he manages to escape to a nearby hospital where he is detained by local officials. Funds from our program assist with urgent and lifesaving medical assistance, and then assist him in returning home. – A group of 39 Ethiopian children who were being smuggled to South Africa are imprisoned in Zambia, where they suffer severe overcrowding, poor health conditions, and limited food. After Zambia pardons the children, our programs help to fund the children’s return to Ethiopia.

Der Opferdiskurs steht dabei im Vordergrund, es werden dramatische Einzelschicksale geschildert, die eine Emotionalisierung des Diskurses bewirken. Sogar die Folterarten werden ausgeführt und plastisch dargestellt. Es entstehen entsprechende Bilder in den Köpfen der Adressatinnen und Adressaten (»electrocuted«, »burned«, »threatened with organ extraction«). Alle ›Opfer‹ – und dies ist typisch für den Opferdiskurs – werden als passiv dargestellt. Es heißt nie, dass diese aktiv migrierten. Letztlich ist unklar, ob die Betroffenen gegen ihren Willen in andere Länder gebracht wurden, oder ob ihnen das Geschilderte während ihrer Migration widerfuhr (zumal die Fälle auf einer Webseite zum Thema Migration aufgelistet sind). Die USA werden als Retterin und Helferin (»assistance«, »assist«, »lifesaving«, »help«), Beschützerin (»safety«) und Befreierin (»freed«) dargestellt. So ergibt sich insgesamt die diskursive komplementäre Konstruktion von ›Opfer‹ und ›Retter‹. Die ›Rettung‹ impliziert – unabhängig vom jeweiligen Einzelfall –, dass die ›Opfer‹ in ihr Heimatland zurückgebracht werden, also eine angenommene Ordnung wiederhergestellt wird. Im ersten Beispiel wird explizit angeführt, dass durch die Maßnahme der wirtschaftliche Anreiz für eine Ein-

»Managing Migration«

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wanderung in die USA reduziert wird. Dadurch wird deutlich, dass die Hilfe nicht uneigennützig ist, sondern im staatlichen Eigeninteresse der USA gewährt wird. Analoges gilt, so auch die Betroffenen in den anderen Fällen die Migration in die USA angestrebt hatten. Zudem kann aus der Perspektive der in ihre Heimatländer rückgeführten Betroffenen nicht von einer nachhaltigen ›Rettung‹ die Rede sein, zumal sie dort weiterhin den gleichen Bedrohungen ausgesetzt sein dürften. Werfen wir zudem einen genaueren Blick auf die Personenbeschreibungen. Sie liegen zwischen einer generischen Charakterisierung, die nur lauten würde ›a man‹, ›a woman‹ und ›children‹ und einer starken Individualisierung, die z. B. die Namen oder Vornamen der Betroffenen beinhalten könnte oder noch mehr Informationen wie den familiären Status oder Beruf der Betroffenen. Hier wird also ein Mittelweg gewählt. Wir erfahren über die Frau und den Mann, dass sie jung sind und woher sie kommen. Wir erfahren die Anzahl der Kinder und ebenfalls ihre Herkunft. Dies macht die Schilderungen auf der einen Seite persönlicher, konkreter und damit glaubwürdiger. Auf der anderen Seite sind sie genügend unspezifisch, damit sie als stellvertretende Schicksale gelten können. Als Letztes wird auf die Frage eingegangen, was Menschen zur Migration bewegt. Dies ist auf den untersuchten EU-Seiten ebenfalls nicht adressiert worden. Why do People Migrate? The world is on the move – with over 244 million migrants, including refugees and internally displaced persons, representing three percent of the world’s population, moving across borders in 2015 to seek out employment opportunities, join their families, study, conduct cutting-edge research and development, and invest in companies and people in all corners of the globe. While recent crises and conflicts continue to focus attention on the plight of refugees and forcibly displaced persons who are among the most vulnerable, human migration is an inexorable process that predates the drawing of current borders and boundaries. The majority of migrants in the world are migrant workers.

In dieser Passage erfolgt eine Einordnung des Phänomens der Migration. Sie wird quantifiziert und als zwangsläufiger Prozess (»inexorable process«) beschrieben, den es immer schon gab. Außerdem werden unterschiedliche Migrationsursachen expliziert, wobei die freiwilligen, nicht lebensbedrohlichen Migrationsgründe in den Vordergrund gerückt werden, wie z. B. die Suche nach besserer Arbeit oder die Familienzusammenführung. Im Unterschied zur EU mutet der US-Diskurs schließlich insgesamt empathischer an sowie weniger bürokratisch und verwaltungstechnisch.

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Die Deutungsrahmen (frames) des EU- und US-Diskurses sowie politische Karikaturen als alternative Diskurse

In den einleitenden Ausführungen zur kritschen Diskursanalyse wurde deutlich, dass es wesentliches Ziel eines solchen Unterfangens ist, die Wirkungen aufzuzeigen, die durch die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel erzielt werden. Diese Wirkungen ergeben in der Summe einen frame oder Deutungsrahmen. Dieser soll abschließend zusammenfassend für den EU- wie US-Diskurs festgehalten werden. Das gewählte Vokabular, Schlagwörter, Metaphern und andere rhetorische Mittel, Beispiele und Anekdoten aktivieren bestimmte mentale Repräsentationen und definieren einen frame. Er beruht auf Selektion und lenkt die Wahrnehmung und die Interpretation der Ereignisse durch die Adressatinnen und Adressaten (vgl. Donati 2011, 164–166). Diesen »Identifikationsangebote[n]« (Hirseland / Schneider 2011, 425; vgl. auch Kap. 1) sollen zur Verdeutlichung des konstruierten Diskurscharakters nachfolgend einige alternative Entwürfe gegenübergestellt werden. Hierfür wurden politische Karikaturen gewählt. Sie greifen in der Regel gesellschaftliche Debatten in zugespitzter Form auf und sind häufig sehr regierungskritisch. Sie können damit ›Alternativen‹ oder ›Gegendiskurse‹ zu den vorgestellten, weitgehend positiven, grundlegenden Perspektiven auf die Migrationspolitik der EU und der USA darstellen. Welche Deutungsrahmen ergeben sich also zunächst aus den vorgestellten Analysen des EU- und US-Diskurses zu Migration? Im EU-Diskurs entsteht der frame, dass die EU im Migrationskontext grundsätzlich als Helferin, Beschützerin und Retterin agiert und zwar in zweifacher Richtung: den Migrantinnen und Migranten gegenüber wie auch gegenüber den EU-Mitgliedstaaten. Es wurde etwa häufig wiederholt, unter welchem Migrationsdruck die EU-Länder leiden. D. h. es wird ein ›Opfer-Retter‹-Deutungsrahmen aktiviert, mit sowohl den Migrantinnen und Migranten wie den EU-Staaten als Opfern und der EU als Retterin. Dem sollen im Folgenden Karikaturen als alternative Diskurse bzw. Gegendiskurse gegenübergestellt werden. Wie wird in den Karikaturen EU-Migrationspolitik im Jahr 2020 bewertet? In der ersten Karikatur (s. Abb. 1) ist die Abweisung von Migrantinnen und Migranten (aus Auffanglagern in der Türkei) durch die EU mit Griechenland als Exekutive dargestellt. In der zweiten Karikatur (s. Abb. 2) steht eine syrische Mutter mit ihren Kindern – als Symbol für verletzliche Migrantinnen und Migranten – gehindert an der Fortbewegung, vor einer unüberwindbaren Grenze von EU-Staaten. Die Situation ist statisch. Die Migrationssituation wird als Spiel kontextualisiert, wie auch in der dritten Karikatur (s. Abb. 3): Eine Migrantin mit Kind ist zum Spielball zwischen der EU und der Türkei geworden; Griechenland fungiert als Exekutive seitens der EU, dargestellt durch den Tennisschläger. Statt eines Netzes ist in der Mitte des Tischtennistischs ein Stacheldraht als Grenze

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Abb. 1: Europe and migrants (Quelle: Daukantas 2020).

Abb. 2: Syrian refugees (Quelle: Hajjaj 2020).

zwischen der EU und der Türkei gezogen. Eine Verletzung der Migrantinnen und Migranten wird demnach beim ›Grenzspiel‹ von beiden Seiten in Kauf genommen. Die Karikaturen zeigen jeweils nur einzelne Migrantinnen und Migranten, von einem ›Migrationsdruck‹, wie im offiziellen EU-Diskurs, kann hier also nicht die Rede sein. Zudem wird die EU nicht wie im offiziellen Diskurs als Retterin

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Abb. 3: Politicial game (Quelle: Bertrams 2020).

von Migrantinnen und Migranten dargestellt, sondern als abweisende Bastion (s. Abb. 1 und 2) bzw. sogar als deren Gefährderin (s. Abb. 3). In den ersten beiden Karikaturen (s. Abb. 1 und 2) wird die EU – entgegen der offiziellen Selbstdarstellung – nicht als handlungsorientierte Institution geframt; sie delegiert die Abwehr von Migrantinnen und Migranten vielmehr an Griechenland, das dafür bezahlt wird bzw. bilden die EU-Staaten einen passiven Abwehrwall gegen Migrantinnen und Migranten (s. Abb. 2). Dass Griechenland allein die Abwehr der Migrantinnen und Migranten übertragen wird, steht dem offiziellen Diskurs, dass das Thema Migration eine Gemeinschaftsaufgabe der EU-Mitgliedstaaten ist, diametral gegenüber. Gerade die dritte Karikatur (s. Abb. 3) stellt einen Gegendiskurs zur Konstruktion der EU als Institution dar, die alles unter Kontrolle hat, für Sicherheit und Ordnung sowie für Effizienz, Fairness und Humanität steht. Auch der Deutungsrahmen des offiziellen US-Diskurses beinhaltet die Darstellung einer aktiven Regierung, die Beschützerin, Helferin und außerdem Befreierin ist. Die USA haben wie die EU alles unter Kontrolle, sie sind wie die EU Hüterin von Recht und Ordnung, dabei effektiv und human. Der Deutungsrahmen ist allerdings vollständig auf einen internationalen Kontext ausgerichtet, nicht wie bei der EU auf einen vorwiegend EU-internen. Zudem wird Migration

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anders als im EU-Diskurs als immer schon dagewesenes und normales Phänomen verortet. Dies kann auf die Geschichte der USA als Einwanderungsland zurückgeführt werden (vgl. dazu auch den Beitrag von Fitz in diesem Band). Ferner wird mehr die positive Seite von Migration für das Zielland hervorgehoben und skizziert, inwiefern das Land davon profitiert. Auch der US-Diskurs entwirft einen ›Opfer-Retter‹-Deutungsrahmen, allerdings klar und ausschließlich mit Migrantinnen und Migranten als Opfern und den USA als Retterin. Wiederum lassen sich leicht alternative Diskurse zur aktuellen Migrationspolitik der USA finden. In der folgenden ersten Karikatur (s. Abb. 4) ist dargestellt, wie Trumps Administration auch legale Immigrantinnen und Immigranten wieder ausweist. Damit wird explizit die Rückführungspolitik kritisiert, die im untersuchten US-Diskurs als Mittel der Wahl angeführt wurde. Die zweite Karikatur (s. Abb. 5) prangert eine strikte Abwehrhaltung der USA unter Trump gegen Migration an. Von Bemühungen um den Schutz von Migrantinnen und Migranten, wie es im offiziellen US-Diskurs heißt, kann den Karikaturen zufolge also gerade nicht die Rede sein.

Abb. 4: Legal immigration (Quelle: Zyglis 2019).

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Abb. 5: Trump wants to halt immigration (Quelle: Chappatte 2020).

3

Schlussbetrachtung

Die untersuchten Diskurse von offizieller Seite bieten einen Einblick, welches Bild die EU und die USA der Öffentlichkeit von ihrer Migrationspolitik vermitteln möchten. Erwartbar war, dass Regierungsinstitutionen auf ihren offziellen Websites versuchen, sich und ihre Migrationspolitik in ein möglichst gutes Licht zu rücken. Im EU- wie US-Diskurs wurden beim close reading und der kritischen Dekonstruktion der Diskurse diesbezüglich allerdings Schwächen offenbar. Ergänzend wurden mit den Karikaturen alternative Diskurse bzw. Gegendiskurse zur Public Relations-Kommunikation der Institutionen skizziert. Aus PR-Sicht ist der offizielle US-Diskurs insgesamt stimmiger als der EU-Diskurs. Im EUDiskurs finden sich mehr Auffälligkeiten, die dem Versuch, ein positives Bild der eigenen Migrationspolitik zu zeichnen, entgegenstehen: Dies sind zum einen die teilweise festgestellten Inkonsistenzen in der Botschaft.14 Zum anderen sticht hervor, dass immer wieder der Druck angesprochen wurde, unter dem die EUStaaten stehen und dass man das Thema Migration gemeinschaftlich angehen müsse. Das spiegelt vor allem das beständige und andauernde Ringen der EU14 Die Europäische Kommission hat 2019 einen Aufruf an »die führenden Vertreter der EU und der Mitgliedstaaten« gestartet, ihre Kommunikation zu verbessern und besser abzustimmen (EU 2019, 51). Dabei wird z. B. mehr Emotionalisierung der Kommunikation eingefordert und es sollen mehr Beispiele und auch Storytelling-Elemente eingesetzt werden, um den Menschen die EU und ihre Politik nahezubringen und sie besser mitzunehmen (vgl. EU 2019, 39–47). Die Analyse hat gezeigt, dass genau diese Mittel im US-Diskurs sehr prominent eingesetzt worden sind, kaum jedoch im EU-Diskurs.

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Mitgliedstaaten um eine gemeinsame Migrationspolitik wider, die von allen Staaten solidarisch getragen wird. Dies rüttelt an den Grundfesten der EU. Die EU als Zusammenschluss souveräner Staaten ist eine supranationale Formation, in der es noch schwieriger ist als in einem Nationalstaat, gemeinsame Politikrichtlinien festzulegen und, gerade in schwierigen Situationen, Solidarität einzufordern. Die Kommunikation nach außen beruht auf dem (minimalen) gemeinsamen Nenner der in Bezug auf Migration sehr heterogenen Positionen der Mitgliedstaaten und mahnt nach innen den Zusammenhalt an. Die EU und viele EU-Staaten haben zudem nicht so viel Erfahrung mit Einwanderung wie die USA (vgl. dazu auch den Beitrag von Fitz in diesem Band). Seit 2015 ist jedoch die Zahl der in Europa Schutzsuchenden so stark angewachsen wie nie zuvor. Allein in Deutschland überstieg die Anzahl der bis Ende 2019 aufgenommenen Menschen mit anerkanntem Schutzstatus (1,4 Millionen) deren Anzahl in den USA (1,1 Millionen) (vgl. UNHCR 2019, 9). Seit Trumps Präsidentschaft hat die Aufnahme von Flüchtlingen in den USA hingegen historische Tiefstände erreicht. Die USA planten 2020 nur noch 18.000 Flüchtlinge aufzunehmen, 2019 waren es 30.000. Dies ist die niedrigste Anzahl seit 1980. Die USA sind damit nicht mehr das Land, das die meisten Flüchtlinge weltweit aufnimmt, wie dies in den Jahrzehnten zuvor der Fall war (vgl. Krogstad 2019). Die längere Erfahrung der USA mit Immigration hat bereits zum Aufbau von vergleichsweise etablierten Strukturen für den Umgang mit Migration geführt. Man muss zudem nicht so viele unterschiedliche Interessenslagen unter einen Hut bringen wie die EU. Dies führt dazu, dass sich die USA nicht so viel mit sich selbst und den eigenen Strukturen auseinandersetzen müssen wie in der EU. Diese Unterschiede spiegeln sich in den Diskursframes wider.

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Bernhard Stahl / Anna Felfeli

Deutsche Außenpolitik, nationale Identität und Migration – das erschütterte ›Weiter-so‹

Vorbemerkung: Migration als globales und allzeitiges Phänomen Migration, das finden wir normal – mit Blick auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Europäische Nationen, aber auch die vorstaatlichen regionalen Einheiten und das heutige geographische Deutschland waren immer schon durch Aus- und Abwanderung gekennzeichnet. Bereits im 15. Jahrhundert begannen die Europäer1 in die Welt zu ziehen und läuteten damit das Zeitalter des Kolonialismus ein (vgl. Oltmer 2012). Seitdem wird von ›Migration‹ im globalen Maßstab gesprochen. Circa zehn Mio. Menschen sind zwischen dem Eintreffen von Kolumbus 1492 und 1820 nach Nord- und Südamerika gezogen. Davon kamen rund zwei Mio. aus Europa und acht Mio. unfreiwillig durch Sklaverei aus Afrika. Gleichzeitig dezimierte sich die einheimische Gesamtbevölkerung in Süd- und Mittelamerika, vor allem durch Krankheiten, von 40 Mio. zur vorkolumbianischen Zeit auf vier Mio. 1620. Es ist demnach bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein zu einem weitreichenden Wandel in der Zusammensetzung der Bevölkerung gekommen. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine massive europäische Emigration, bedingt durch ein Missverhältnis von Bevölkerungswachstum und Erwerbsangebot in der europäischen Heimat. Es wanderten circa 55 bis 60 Mio. Europäer aus. Auch in anderen Teilen der Welt emigrierten die Menschen. Zwischen 1846 und 1932 verließen ca. 28 Mio. Inder und ca. elf Mio. Chinesen ihre Heimat, um den hohen Bedarf an Arbeit z. B. in europäischen Kolonien abzudecken. Im 20. Jahrhundert war der Zweite Weltkrieg ein zentrales Ereignis für Flucht und Vertreibung. Die Zahl der Flüchtlinge, Deportierten und Vertriebenen während dieser Zeit wird auf ca. 50 bis 60 Mio. Menschen geschätzt – 10 % der damaligen europäischen Bevölkerung (vgl. Oltmer 2012). Seit 1945 gab und gibt es verschiedene, große Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland (zunächst Westdeutschland). Dabei unterschieden sich die 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Inhaltlich schließen diese Formulierungen alle Personen ein.

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Gruppen der sogenannten Flüchtlingswellen in Bezug auf den Rechtsstatus und die Bleibeperspektive sehr stark voneinander: Es gab die Vertriebenen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, die »Gastarbeiter« (1955–1973), die Flüchtlinge der Jugoslawienkriege (frühe 1990er Jahre) und später Deutschstämmige (»Aussiedler« und »Spätaussiedler«) sowie die Neuzugewanderten während der sog. ›Flüchtlingskrise‹ der 2010er Jahre (vgl. Bade 2000, 8). Insbesondere nahm in den 1970er und 1980er Jahren die Bedeutung von nicht-europäischen Asylsuchenden für Deutschland und Europa zu. Zu dieser Zeit zählten zu den Schutzsuchenden u. a. politische Flüchtlinge aus Griechenland, Chile, den Palästinensergebieten / dem Libanon / Jordanien, der Türkei und dem Iran, die vietnamesischen »boat people« sowie polnische Zuwanderer, die aufgrund innenpolitischer Konflikte auswanderten (vgl. ebd.; Prantl 1993, 301). Ab den 1980er Jahren war der Großteil der Asylanträge in Mittel- und Westeuropa den politischen und wirtschaftlichen Krisen in Osteuropa zuzuschreiben (vgl. Oltmer 2020, 26f.). Insbesondere Deutschland spürte in den 1990er Jahren mit 60 % aller Asylsuchenden aus osteuropäischen Staaten eine »Regionalisierung des Flüchtlingsproblems« (Prantl 1993, 307). Diese geographische Nähe zu Staaten, aus denen primär Menschen nach Deutschland einwanderten, änderte sich 2015 / 2016. Denn seit Beginn des 21. Jahrhunderts emigrierten die Menschen hauptsächlich aus Ländern, in denen Krieg herrschte oder bis heute herrscht: Syrien, Afghanistan, der Südsudan, Somalia, der Sudan, die Demokratische Republik Kongo und die Zentralafrikanische Republik sind die führenden Herkunftsländer von Flüchtlingen in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts (vgl. UNHCR 2017, 17). Die Menschen flohen zwar erstrangig in die Nachbarstaaten wie die Türkei, Pakistan, den Libanon, den Iran, Uganda oder Äthiopien. Dennoch stand Deutschland Ende 2016 auf der Liste der Aufnahmeländer an achter Stelle direkt hinter Jordanien. Allein im Jahr 2015 kam ca. eine Mio. Menschen hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus afrikanischen Staaten über verschiedene Routen in Europa an; davon mehr als 800.000 Menschen in Griechenland (vgl. IOM 2015). Jüngst bewertete das Europäische Parlament diese Migrationsbewegungen in die EU als eine »der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg« (EU-Parlament 2020).

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Einleitung

Der Umgang mit Migration spielt in der Außen- und Innenpolitik für Staaten eine große Rolle – sei es für die Rekrutierung von Soldaten, den Arbeitsmarkt oder die ländliche Entwicklung. Daher begannen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg damit, Migrationsziele zu definieren und eine spezifische Migrationspolitik zu entwerfen. So sollte und soll Zuwanderung politisch gesteuert

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werden. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive kann Migrationspolitik als ein Teil von Außenpolitik begriffen werden, definiert doch Außenpolitik solche Maßnahmen eines Staates, die sich in Form von festgelegten Zielen, Verpflichtungen oder Richtlinien auf Bedingungen oder Akteure richten, die außerhalb ihrer territorialen Legitimität liegen (vgl. Carlsnaes 2002, 335). Beispielsweise versuchte Deutschland nach der Flüchtlingskrise 2015 Einfluss auf das internationale Umfeld zu nehmen, um aus deutscher Sicht zu besseren Lösungen (d. h. weniger Immigration) zu kommen. Deutsche Migrationspolitik ist zu einem wichtigen Teil der Außenpolitik des Landes geworden, beispielsweise durch aktive Politik innerhalb der EU, durch eine Reformulierung der Entwicklungspolitik oder durch Ministerreisen nach Nordafrika zur sogenannten Fluchtursachenbekämpfung. Was sind nun die gesellschaftlichen Bedingungen und Triebkräfte der Außenpolitik in diesem Feld? Um Kontinuität und Veränderung der deutschen Migrationspolitik von 2015 bewerten zu können, vergleichen wir die ›Flüchtlingskrise 2015‹ im vorliegenden Beitrag mit einem weiteren zentralen Ereignis der jüngeren Migrationsgeschichte Deutschlands: dem ›Asylkompromiss 1993‹ sowie der Debatte um die ›brennenden Asylantenheime‹ Anfang der 1990er Jahre. Historisch betrachtet entfallen auf die Untersuchungszeiträume von 1990 bis 2018 in Summe 84 % der insgesamt 5,9 Mio. Asylanträge seit 1953 (vgl. BAMF 2020). Dabei gab es genau zwei Spitzen, zum einen im Jahr 1992 mit 438.191 und zum anderen im Jahr 2016 mit 745.545 Asylanträgen (vgl. ebd.). Zu Beginn der 1990er Jahre hatten die Auflösung der UdSSR und der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien stark steigende Flüchtlingszahlen zur Folge. Deutschland nahm in den 1990er Jahren mit 350.000 Schutzsuchenden die meisten Flüchtlinge (knapp 50 %) aus Jugoslawien auf (vgl. efms 1997). Die zweite starke Flüchtlingswelle ereignete sich 2015 / 2016, wiederum ausgelöst durch Staatskollapse und Bürgerkriege, mit Flüchtlingen aus u. a. Syrien, Afghanistan, dem Irak und dem Iran. In Deutschland waren 2015 stark wachsende Flüchtlingszahlen zu verzeichnen, was allein die Anzahl der Asylanträge indiziert: Bis August 2015 waren es 33.447 Asylanträge (vgl. BAMF 2016), dann stieg die Zahl auf über 440.000 Erstanträge bis zum Ende des Jahres und erreichte mit 745.600 Anträgen allein im Jahr 2016 einen neuen Höchstwert (vgl. BAMF 2020). Den deutschen Behörden gelang es in dieser Zeit nicht, die ankommenden Menschen zu registrieren und unmittelbar angemessen zu versorgen, was weithin als Staatsversagen wahrgenommen wurde. Auf der Bundespressekonferenz vom 31. August 2015 wurde Angela Merkel mit dem Statement »Wir schaffen das« zitiert – ein Satz, für den sie im Nachgang viel kritisiert und der mit einer Grenzöffnung gleichgesetzt wurde. Diese Kritik verkennt allerdings, dass die Grenzen bereits offen waren und ein befestigter Grenzschutz im Schengen-System nicht vorgesehen ist. Internationale Verpflichtungen und Verträge bedingten die vermeintlich nationale

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Entscheidung zur Einwanderung von Asylsuchenden. Insofern kann der Satz so interpretiert werden, dass die Bundeskanzlerin erkannt hatte, dass sie im August 2015 nur reagieren konnte, indem sie versuchte, die politischen Energien zu sammeln, um eine Bearbeitung der Staatskrise vorzunehmen. Somit stellten die ›Flüchtlingskrise 2015‹ und die ›brennenden Asylantenheime‹ von 1992 / 1993, die wir später analytisch als »Schocks« bezeichnen werden, historisch betrachtet die beiden größten Herausforderungen für die deutsche Immigrationspolitik beziehungsweise für die Asylpolitik der Nachkriegszeit dar. Auffällig dabei ist, dass Deutschland weder 1993 noch 2015 über ein Immigrationsgesetz verfügte. Genauso wie die übrigen Staaten Europas verhielt sich Deutschland während dieser Zeiträume nicht wie ein Land, das Einwanderung – und zwar weder in Form von Asylmigration noch als Arbeitsimmigration – erlaubte oder gar wünschte. Bis heute verfolgt Deutschland lediglich eine Asylpolitik, die entsprechend internationaler Verpflichtungen nur für politisch Verfolgte einen zeitweiligen Aufenthalt in Deutschland vorsieht. Die zweite legale Möglichkeit eines zeitweiligen Aufenthaltes in Deutschland ist die Arbeitsimmigration, die aber sehr starken Beschränkungen unterworfen ist (vgl. das Greencard-Gesetz vom 1. August 2000 und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom 1. März 2020, vgl. auch den Beitrag von Maletzky de García in diesem Band). Diese ›Null-Immigrationspolitik‹ ist mit Blick auf die weltweiten Migrationsentwicklungen und Wachstumsprognosen der Weltbevölkerung erstaunlich. Dabei ist vor allem die sehr unterschiedliche regionale Bevölkerungsverteilung zu betrachten. Anfang der 1990er Jahre war die Bevölkerung Afrikas zum ersten Mal seit den 2000er Jahren größer als die Bevölkerung Europas (vgl. Vereinte Nationen 2019). Lebten 1950 noch 2,5 Mrd. Menschen auf der Erde, so werden es 2050 etwa 9,7 Mrd. und 2100 ca. 10,9 Mrd. sein (vgl. DSW 2017). Es wird davon ausgegangen, dass die Bevölkerung Afrikas auf über vier Mrd. Menschen im Jahr 2100 ansteigen wird (knapp 40 % der Weltbevölkerung), während die europäische Bevölkerung stagniert oder zurückgeht (vgl. ebd.). Zugleich bleiben eine Industrielle Revolution und hohe ökonomische Wachstumsraten in Afrika aller Voraussicht nach aus, was den demographischen Druck auf die stark wachsenden Gesellschaften etwa in Nigeria, im Kongo und in Ägypten noch erhöht. Umgekehrt war die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bereits zwischen 1991 und 2016 von einem sogenannten »Gestorbenen-Überschuss« gekennzeichnet ist. Die deutsche Bevölkerung schrumpft im Jahr etwa um 100.000 Menschen (vgl. BIB 2021a). Das Phänomen alternder Gesellschaften existiert auch in anderen Staaten wie Italien, Spanien oder Japan. Diese Staaten bräuchten massive Immigration, wenn sie ihre Bevölkerungszahl halten wollten. Zusammengefasst heißt das: Auf der einen Seite gibt es einen großen Überschuss an Menschen, insbesondere in Afrika und Südasien, die eine Lebensperspektive durch Emi-

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gration suchen. Auf der anderen Seite gibt es Staaten des Globalen Nordens wie Deutschland, die demographisch auf Zuwanderung angewiesen sind. Wie kann vor diesem Hintergrund die deutsche Migrationspolitik verstanden werden? Warum veränderte sich die deutsche Immigrationspolitik trotz der beiden Schocks von 1993 (›brennende Asylantenheime‹) und 2015 (›Flüchtlingskrise‹) nicht? Um dieses Rätsel aus theoretischer Perspektive erklären zu können, bedienen wir uns der Diskursgebundenen Identitätstheorie. Diese Theorie geht davon aus, dass außenpolitisches Verhalten von der nationalen Identität geprägt ist. Die Elemente einer nationalen Identität, die hier keinesfalls als gegebene nationale Charaktereigenschaften, sondern als diskursive Konstruktionen des Selbst verstanden werden, führen beispielsweise zu sehr verschiedenen Migrationspolitiken in den USA und Deutschland (vgl. dazu auch die vergleichende Diskursanalyse der offiziellen Webpräsenzen der EU- bzw. der USRegierung von Wawra in diesem Band). Bei unseren weiteren Betrachtungen gehen wir entsprechend davon aus, dass jedes politische Handeln gerechtfertigt, von der Gesellschaft akzeptiert und angenommen werden muss. Diesen Rechtfertigungsprozess spiegelt der Diskurs wider. Der Diskurs wird einerseits durch die jeweilige Identität gedeckt und gibt andererseits einen Rahmen vor, der zugleich einen Möglichkeitsraum für das außenpolitische Verhalten eines Staates bildet. Dieser Möglichkeitsraum kann durch formative Ereignisse verändert werden. Zu formativen Ereignissen zählen Schocks, also Ereignisse, die so gravierend sind, dass sie den Diskurs und damit das außenpolitische Verhalten verändern. Aus theoretischer Perspektive ist anzunehmen, dass ein sehr starkes formatives Ereignis mit einem Politikwechsel bzw. Kurswechsel einhergeht. So hat beispielsweise der Fukushima-Schock im Jahr 2011 dazu beigetragen, dass sich der Möglichkeitsraum der deutschen Energiepolitik veränderte: Ein Abschied vom Nuklearprogramm wurde durch Fukushima politisch möglich. Warum aber reagierte Deutschland nicht mit einem Politikwandel auf die migratorischen Ereignisse in 1992 / 1993 und 2015 / 2016, die durchaus als Schocks in der deutschen Immigrationsgeschichte gelten könnten? Wir stellen die These auf, dass die deutsche Migrationspolitik ein Ausdruck der Diskurshegemonie der ›Null-Immigrationspolitik‹ ist.2 Diese Diskurshegemonie wurde zwar durch die beiden Schocks 1992 / 1993 und 2015 / 2016 herausgefordert, ist aber bis heute intakt. Dies würde dann auch erklären, warum die beiden Schocks (›brennende Asylantenheime‹ und ›Flüchtlingskrise 2015‹) es nicht vermocht haben, einen Politikwechsel zu generieren. Im vorliegenden Beitrag wird das deutsche Verhalten 1992 / 1993 und 2015 / 2016 analysiert, indem die politischen Maßnahmen als Reaktion auf die migratorischen Herausforderungen beschrieben und miteinander verglichen werden 2 Im Wesentlichen nehmen wir dies auch für die meisten anderen EU-Staaten an.

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(deskriptive Analyse). Um stabiles oder geändertes Akteursverhalten über einen längeren Zeitraum hinweg verstehen zu können, wenden wir die Identitätstheorie an und ergänzen sie um Elemente der Diskurstheorie. Dabei erfolgt die Analyse in Anlehnung an die Grundannahmen und Erkenntnisse im »Projekt für die vergleichende Analyse von Außenpolitiken in Europa« (PAFE) an der Universität Trier.3 In der Diskursanalyse dieses Beitrags vergleichen wir die Migrationsdiskurse der wichtigsten politischen Akteure 1992 / 1993 und 2015 / 2016 miteinander: Welche Argumentationsmuster und Handlungsempfehlungen dominieren? Sind es jeweils dieselben oder gibt es eine Verschiebung der Begründungen für die politischen Antworten auf die Krisen? In der Diskussion um die deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik soll die eingehende Analyse helfen, auch die Erwartungen für die Zukunft abzustecken: Wird die deutsche Migrationspolitik auch in Zukunft eher konstant sein bzw. unter welchen Bedingungen könnte es gegebenenfalls einen Kurswechsel geben?

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Analytischer Zugriff: Migration und Flucht

Für eine bessere Einordnung der politischen Debatten 1992 / 1993 und 2015 / 2016 über die Migrationsbewegungen und den sogenannten Flüchtlingsstatus definieren wir zunächst die Termini »Migration«, »Migrant« und »Flüchtling«. Die wissenschaftliche Betrachtung der Termini löst sich dabei von der medialen und politisierten Verwendung der Begriffe (vgl. Crawley / Skleparis 2018, 49, 51). Als Oberbegriff bezeichnet Migration die räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen oder Kollektiven (Familien, Gruppen, Bevölkerungen). Migrantinnen und Migranten streben danach, ihre Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten sowie Bildungschancen durch räumliche Bewegungen zu verbessern bzw. sich andernorts neue Chancen zu erschließen […] Migration stellt auch eine mögliche Reaktion auf Krisen dar, etwa dort, wo Abwanderung Ergebnis von Umweltzerstörung, akuter wirtschaftlicher Notlagen oder von Kriegen ist (Oltmer 2015, 20f.).

Im obigen Zitat und auch in der Literatur im Allgemeinen werden verschiedene Faktoren angeführt, die die Migrationsentscheidung beeinflussen. Diese Faktoren reichen von Flucht und Vertreibung, wirtschaftlichen Krisensituationen bis hin zu dem Wunsch nach einer Ausbildungsperspektive und einer Verbesserung des Lebensstils (vgl. Oltmer 2012, 23). Diese Faktoren können als Push- oder als 3 Das Forschungsprojekt im Bereich Diskursanalyse und Außenpolitikforschung des Lehrstuhls fu¨ r Internationale Beziehungen / Außenpolitik an der Universität Trier lief von 1998–2002. Fu¨ r die vorliegende Arbeit wurde in diesem Zusammenhang folgende Literatur verwendet: Nadoll 2000; Boekle / Nadoll 2003; Stahl / Harnisch 2009; Stahl 2017.

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Pull-Faktoren kategorisiert werden. Pull-Faktoren beziehen sich auf die Attraktivität des Ziellandes, während Push-Faktoren eher vom Ursprungsort ausgehen – ein Beispiel für letzteres wäre Krieg (vgl. Lee 1966, 47–57). Verschiedene Push-Faktoren fließen in eine Unterkategorie ein, die als »Flucht« bezeichnet wird: Flucht ist selten ein linearer Prozess, vielmehr bewegen sich vor der Androhung oder Anwendung von Gewalt ausweichende Menschen meist in Etappen […]. Muster von (mehrfacher) Rückkehr und erneuter Flucht finden sich ebenfalls häufig. Hintergrund ist dabei nicht nur die Dynamik der sich stets verändernden und verschiebenden Konfliktlinien, sondern auch die Unmöglichkeit, an einem Fluchtort Sicherheit oder Erwerbs- oder Versorgungsmöglichkeiten zu finden (Oltmer 2020, 31).

Die Definition von Flucht sowie die Konzepte der »Zwangsmigration« und Gewaltmigration« werden in der Migrationsforschung kontrovers diskutiert (vgl. Oltmer 2019). Dabei wird beispielsweise erörtert, inwiefern sich eine politisch motivierte Migration von einer ökonomisch motivierten Migration in ihrem Zwangscharakter unterscheidet und ob sich eine Dichotomie von Zwang und Freiwilligkeit überhaupt operationalisieren lässt (vgl. a. a. O., 53f.). In der definitorischen Zuordnung wird auch kritisch hinterfragt, ob die Beweggründe und Erfahrungen der Menschen, die 2015 nach Europa gekommen sind, nicht zu vielschichtig sind, um sie der einen oder anderen Kategorie (politisch vs. ökonomisch) zuordnen zu können (vgl. Crawley / Skleparis 2018). Die völkerrechtliche Grundlage für einen verbindlichen Umgang mit Migranten, die aus politischen Gründen fliehen (»Flüchtlinge«), bildet die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das ergänzende Protokoll von 1967. Als Flüchtlinge werden demnach Menschen anerkannt, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Dabei sind Flüchtlinge dann Asylsuchende, wenn sie »entweder einen Asylantrag nach der Genfer Flüchtlingskonvention gestellt haben, als Flüchtlinge anerkannt wurden oder ein Bleiberecht erhalten haben« (Angenendt 2009). Flüchtlinge genießen u. a. folgende Rechte: – Schutz vor Diskriminierung wegen Rasse, Religion oder Herkunftsland (Art. 3); – Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge (Art. 28); – Straffreiheit der illegalen Einreise, sofern sich der Flüchtling umgehend bei den Behörden meldet und er direkt aus dem Fluchtland kommt (Art. 31 Abs. 1); – Das Non-Refoulement-Gebot (Art. 33) verbietet die Zurückweisung, Auslieferung, Ausweisung oder Rückschiebung einer Person in ein anderes Land, falls Grund zu der Annahme besteht, dass für die betreffende Person im Zielland ein ernsthaftes Risiko von Folter bzw. unmenschlicher Behandlung oder einer anderen sehr schweren Menschenrechtsverletzung besteht.

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Hervorzuheben ist zum einen der Schutz vor Diskriminierung und zum anderen das Non-Refoulement-Gebot. Staaten dürfen Flüchtlinge an der Grenze weder ausliefern, noch ausweisen oder zurückschieben, es sei denn, die Fluchtgründe wurden geprüft und für nichtig befunden. Im Umkehrschluss heißt dies, dass es unzulässig ist, einen Flüchtling an der Grenze ohne Prüfung zurückzuweisen. Rechtlich betrachtet konnte Deutschland im Jahr 2015 also nicht anders als zu sagen: »Wir schaffen das!«, da aufgrund des Aufkommens an der Grenze eine Einzelprüfung an dieser Stelle nicht möglich war und sich daher alle Personen auf den Flüchtlingsstatus und das Non-Refoulement-Gebot beziehen konnten. Das individuelle Asylrecht ist in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen in Artikel 14, Absatz 1 festgehalten: »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen« (vgl. Resolution 217 A, 1948). Deutschland nimmt mit Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetztes von 1948 / 1949 eine internationale Sonderrolle mit Blick auf das Thema Asylrecht ein. Es verpflichtet sich damit zu einem Grundrecht auf dauerhaften Schutz für politisch Verfolgte. Dieses nationale Asylrecht geht über das individuelle Asylrecht hinaus. Da es im Grundgesetz allerdings keine gesonderte Erklärung dafür gibt, wie »politische Verfolgung« und damit das Recht auf Asyl definiert wird, war das Asylrecht von Beginn an umstritten (vgl. Oltmer 2020, 23). Das führte dazu, dass Deutschland auf die erhöhten Asylanträge seit den 1970er / 1980er Jahren zunehmend mit einschränkenden gesetzlichen Maßnahmen und Verordnungen reagierte (vgl. a. a. O., 27). Durch den Wegfall der Binnengrenzen und Personenkontrollen im SchengenRaum 1995 war eine europäische Asylpolitik funktional erforderlich und auch vorgesehen (vgl. Vertrag von Amsterdam 1999). Allerdings haben seitdem die EU-Mitgliedstaaten die Entwicklung einer kohärenten gemeinsamen Asyl- oder Migrationspolitik trotz des wiederholten Appells der Europäischen Kommission verweigert. Schon damals ging es bei der EU-Asylpolitik nicht primär um die Aufnahme von Flüchtlingen, sondern eher darum, wie man sie abwehrt (vgl. Prantl 1993, 319). Es gab zwar keine Immigrationspolitik in der Europäischen Union, aber gemeinsame Außengrenzen und einen Konsens über eine ›NullImmigrationspolitik‹. Beides kam im »Dubliner Übereinkommen« (1997) zum Ausdruck, welches 2003 in die Dublin-Verordnung (Dublin II) und 2013 in Dublin III modifiziert wurde. Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags innerhalb der EU zuständig ist. Dadurch sollte jeder Antrag innerhalb der EU nur einmal geprüft werden. Dazu wird von Flüchtlingen verlangt, dass sie in demjenigen Staat um Asyl bitten, in dem sie erstmals EU-Territorium betreten haben. Wenn sie dies nicht tun und weiterreisen, können sie in den Staat der ersten Einreise auch zwangsweise zurückgeschickt werden. Darüber hinaus folgten viele Staaten der deutschen Konstruktion

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eines ›sicheren Herkunftslandes‹, die es ermöglicht, Flüchtlinge in vorgeblich sichere Staaten außerhalb der EU zurückzuschicken.4

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Zur Erklärung: Diskursgebundene Identitätstheorie

Um eine Deutung und Erklärung vornehmen zu können, warum sich die deutsche Migrationspolitik seit Jahrzehnten trotz der dynamischen Entwicklung internationaler Migration nicht verändert hat, bedienen wir uns des theoretischen Modells der Diskursgebundenen Identitätstheorie, die innerhalb der Theorien der Internationalen Beziehungen dem Sozial-Konstruktivismus zuzuordnen ist. Trotz der unterschiedlichen Strömungen kann man all diejenigen Ansätze zum Sozial-Konstruktivismus zählen, die die intersubjektive Qualität der sozialen Welt und die gegenseitige Konstituierung von Akteur und Struktur betonen und dabei die Rolle von Ideen, konstitutiven Regeln und Normen sowie die endogene Herausbildung von Interessen und Identitäten in den Vordergrund ihrer Analysen stellen (Ulbert 2010, 430).

Methodisch ist hierbei reizvoll zu erklären, wie diese Konstruktionen entstehen und sich verändern (vgl. Ulbert 2010, 428f.). Das Grundmodell der Diskursgebundenen Identitätstheorie wurde im Rahmen der vergleichenden Außenpolitikforschung mit dem Ziel entwickelt, die Verschiedenheit nationaler Sicherheitspolitiken (vgl. Stahl / Harnisch 2009) und das Auftreten und die Verarbeitung von außenpolitischen Krisen in einzelnen Ländern zu erklären (vgl. Stahl 2006). Wir nutzen dieses Modell und wenden es auf die deutsche Migrationspolitik an (s. Abb. 1). Unter »außenpolitischem Verhalten« verstehen wir allgemein »alle außenpolitischen, willentlichen Handlungsweisen von Mitgliedstaaten, die von internationalen Akteuren als außenpolitisch relevant erachtet werden« (Jóhannesdóttir / Nadoll / Stahl 2003, 14); im speziellen Fall der Migrationspolitik also das Ergebnis einer bestimmten Politik (policy) mit ihrer Außenwirkung. Es wird angenommen, dass jedes Land eine spezifische nationale Identität hat, die außenpolitisches Verhalten charakterisiert und somit Gründe dafür liefert, warum und wie sich die deutsche Migrationspolitik von der Migrationspolitik anderer Staaten unterscheidet. Die nationale Identität ist »eine relativ stabile soziale Konstruktion, die das Selbstverständnis einer national verfassten Gesellschaft zum Inhalt hat« (Nadoll 2003, 168). Sie umfasst ein sozial (re-)konstruiertes Verständnis einer gemeinsamen Geschichte, ein geteiltes Verständnis von Zugehörigkeit (belonging) zu 4 Aus der Sicht eines Flüchtlings stellen sich die ›sicheren Herkunftsländer‹ zumeist als unsichere Transitländer dar.

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I D E N T I T Ä T

Außenpoli"sches Verhalten ermöglicht, legi#miert provoziert

strukturiert, rahmt

›triggern‹ Verhalten

Diskurs wirkt zurück, verändert

werden (nicht) aufgenommen und verarbeitet

Forma#ve Ereignisse

Abb. 1: Diskursgebende Identitätstheorie: Grundmodell (Quelle: Nadoll 2003, 181, mit kleinen Änderungen).

einer Gruppe, zu einem Territorium oder / und zu einer Zivilisation oder Kultur sowie gemeinsame Werte und Erwartungen über das außenpolitische Verhalten des eigenen Staates. Die Betonung von nationalen Charakteristika und Besonderheiten hilft dabei die eigene Nation von anderen zu unterscheiden und abzugrenzen. Dies erfolgt zum Beispiel durch die soziale Konstruktion von Grenzen und Unterschieden zu Nachbarländern (a. a. O., 172). Jede nationale Identität setzt sich aus Identitätselementen zusammen – Anfangsglieder einer Argumentationskette, die nicht weiter begründet werden müssen (a. a. O., 168). Identitätselemente variieren und je nach Kontext können unterschiedliche Identitätselemente ›aktiv‹ sein, während andere ›passiv‹ bleiben, d. h. im speziellen Diskurs argumentativ nicht erkennbar sind (vgl. Boekle / Nadoll 2003, 165f.). Bevor Diskurse anhand der Argumentation auf aktive Identitätselemente hin analysiert werden können, bedarf es i. d. R. Vorstudien zu Migrationsdiskursen, um alle in Frage kommenden Identitätselemente zunächst zu identifizieren. Da dies im Vorlauf zu diesem Beitrag nicht zu leisten war, werden die Identitätselemente aus anderen außenpolitischen Diskursen herausgearbeitet (vgl. Stahl 2017) und durch heuristische Identitätselemente angereichert, die bei der Sichtung von Sekundärliteratur und Textkorpora auftauchten. Solche Identitätselemente, die die deutsche außenpolitische Identität speisen, haben sich in vergangenen politischen Debatten, die auch weit zurückliegen können, durchgesetzt und fungieren bis heute als argumentative Anker. Bis ins 19. Jahrhundert reicht etwa die Vorstellung von »Deutschland als Kulturnation« mit einem eher ethnisch homogenen Volk und mit kulturell besonderen Leistungen zurück. »Deutschland als Auswanderungsland« spiegelt jene soziale Tatsache des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wider, dass Millionen von Menschen ihre Heimat auf der Suche nach einer Lebensperspektive verließen und ihr Glück

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z. B. in der Neuen Welt suchten. Wie in der Vorbemerkung dargelegt, deckt sich dies mit den übrigen europäischen Gesellschaften; Europa war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts immer ein Auswanderungskontinent. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern entwickelte sich in Deutschland unter dem Einfluss Preußens ein »starker Staat« mit einer mächtigen, sehr präsenten Verwaltung, die Gesetze schnell und effektiv exekutiert. Die Identitätselemente »das verantwortungsbewusste Deutschland« oder »das europäische Deutschland« bringen zum Ausdruck, wie die deutsche Identität von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägt ist (vgl. Swoboda 2009, 137). Verantwortungsbewusstsein hat eine moralische Dimension, die das Schicksal anderer Staaten und Menschen mitdenkt und sich in europäischen politischen Strukturen und Werten eingebettet sieht. »Das christliche Deutschland« ist im Vergleich zu den beiden letzten ein eher schwaches Identitätselement, da politische Debatten in Deutschland – vielleicht eingedenk der Katastrophe des 30-jährigen Krieges – eher säkularisiert sind. Im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001, der Diskussion um eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU und der Flüchtlingskrise lässt sich jedoch eine Aktivierung dieses Elements in verschiedenen europäischen Ländern (z. B. Italien, Frankreich) – und eben auch in Deutschland – beobachten. Mit Artikel 16 des Grundgesetzes verpflichtet sich Deutschland dazu, politisch Verfolgten dauerhaft Schutz zu gewähren – so wurde Deutschland zum »Schutzland für Asylsuchende«. Der Artikel wird den Fluchterfahrungen von Millionen von Deutschen während des Dritten Reiches gerecht, die in vielen Staaten Asyl erhielten. Wir gehen also von folgender Identitätskonstruktion bzw. von folgenden Identitätselementen für in Deutschland geführte Migrationsdiskurse aus (s. Abb. 2):

Deutsche außenpolitische Identität D als Kulturna#on

Das verantwortungsbewusste D

Das europäische D D als Schutzland für Asylsuchende Das christliche D

D als starker Staat

D als Auswanderungsland

Abb. 2: Identitätselemente der deutschen außenpolitischen Identität mit Blick auf Migration (eigene Darstellung).

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Grundsätzlich stehen Identität und Verhalten in keinem kausalen Zusammenhang zueinander, sondern beeinflussen sich konstitutiv wechselseitig. Die Identität gibt weniger Aufschluss u¨ ber die Ursache von Verhalten, sondern liefert vielmehr Gru¨ nde und Legitimationen fu¨ r bestimmte Verhaltensweisen (vgl. Boekle / Nadoll 2003, 172). Dabei ist der Diskurs eine kommunikative Interaktion, in der Identitätselemente und Handlungspräferenzen im Rahmen einer konsistenten Argumentationsführung verbunden werden. Somit sind Diskurse in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft wichtig, weil sie politische Diskussionen formen, Ereignisse erklären, Handlungen rechtfertigen, historische Erinnerungen interpretieren und historische Identitäten konstruieren oder rekonstruieren (vgl. Stahl / Harnisch 2009, 42f.). In Diskursen spiegelt sich auch die Vernunftauffassung einer Gesellschaft, der sog. common sense, der vom Gros der Bevölkerung geteilt wird. Durch Diskursanalysen kann verdeutlicht werden, wie eine Gesellschaft politische Handlungsoptionen strukturiert und limitiert, sodass Entscheidungsträger nur ganz bestimmte Optionen »angemessen finden bzw. als vertretbar darstellen« (ebd.). Die Analyse deutscher Migrationsdiskurse gibt Aufschluss über die Konflikte in der Gesellschaft und darüber, welche Politik in der Gesellschaft vertretbar ist und welche hingegen nicht mehrheitsfähig wäre. Diskurse sind Kämpfe um Deutungshoheit, in denen Argumentationsmuster und politische Handlungsempfehlungen um Dominanz ringen. Erlangen sie diese über eine längere Zeit, kann man von einer Diskurshegemonie sprechen: Die damit verbundenen politischen Handlungsempfehlungen werden in der operativen Außenpolitik nicht mehr hinterfragt und bilden die Legitimationsgrundlage für zukünftige, aber auch vergangene Politik (also die Geschichts- oder Erinnerungspolitik einer Nation). Um Diskurse zu strukturieren, werden – einer Idee von Foucault folgend (vgl. Larsen 1997) – ähnliche Identitätselemente, Argumentationsmuster und Handlungsempfehlungen in sogenannten Diskursformationen kategorisiert. Eine Diskursformation dient somit der Operationalisierung von Identität. Sie entspricht einer außenpolitischen Traditionslinie eines Landes; sie ist relativ stabil im Zeitablauf, wird von bestimmten gesellschaftlichen und politischen Akteuren (»Diskursträgern«) getragen und kann institutionell eingebettet werden. Ein Identitätswandel, der eine Veränderung im Verhalten erklären könnte, ist wie folgt konzeptualisiert: Zum einen kann eine neue Diskursformation entstehen; dann wären neue Handlungsempfehlungen, Argumentationsmuster und mit ihnen auch andere Identitätselemente im Diskurs erkennbar (vgl. Stahl / Harnisch 2009, 47). Zum anderen könnte sich eine neue Diskursallianz mit neuen politischen Bewertungen und Handlungsempfehlungen formieren, indem sich vormals getrennte Diskursformationen zusammenschließen. Folgende Faktoren können mit einem Identitätswandel einhergehen bzw. ihn hervorrufen: ein Regierungswechsel, eine drastische Veränderung des Parteiensystems, Verände-

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rungen des Regierungsapparats, Stimmungswechsel in der Bevölkerung – die erwähnten formativen Ereignisse und das wahrgenommene veränderte Verhalten von internationalen Partnern (vgl. a. a. O., 48). Insofern können auch Schocks wie z. B. politische oder ökonomische Krisen prägend wirken, wenn sie die Gemeinschaft davon u¨ berzeugen, alte Ideen und Grundsätze zu verwerfen, um neuen Denkansätzen Platz einzuräumen (vgl. ebd.). Dabei muss bedacht werden, dass die außenpolitische Orientierung eines Staates relativ stabil und entsprechend im politischen Diskurs tief verankert ist (vgl. Waever 1989, 189f.). Die dazugehörige Konstruktion gilt für einen längeren Zeitraum und ist sehr beständig. Soll ein Schock zum formativen Ereignis werden, bedarf es daher einer »traumatic injection from the outside« (a. a. O., 189), d. h. die Identitätskonstruktion muss in den Augen vieler Diskursträger gänzlich gescheitert sein. Historische Beispiele sind die Neutralitätspolitik Luxemburgs oder der Niederlande, die durch den Angriff der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg völlig diskreditiert wurde. Auch die vormals so populäre Appeasement-Politik des Vereinigten Königreichs als Reaktion auf die Forderungen Hitlers geriet durch die deutsche Aggressionspolitik gegenüber der Tschechoslowakei und Polen auf die diskursive Verliererstraße.

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Formative Ereignisse und Deutschlands Verhalten in der Migrationsfrage in den Jahren 1992 / 1993 und 2015 / 2016

Bevor wir deutsche Migrationsdiskurse in den Blick nehmen, um die politischen Antworten auf Krisen erklären zu können, wird zunächst das außenpolitische Verhalten in der Migrationsfrage 1992 / 1993 und 2015 / 2016 skizziert und miteinander verglichen (Verhaltensanalyse). Dabei zählen die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren und die Flüchtlingskrise in den 2010er Jahren zu formativen Ereignissen in der deutschen Migrationsgeschichte: Es handelte sich in der Wahrnehmung der Gesellschaft jeweils um eine Krise, die eine politische Antwort erforderte. Anfang der 1990er Jahre prägten Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen Asylsuchende die Migrationskrise. Dies zeigte sich an einem Angriff von Neonazis auf eine Flüchtlingsunterkunft im September 1991 in Hoyerswerda (Molotov-Cocktails, Steinwürfe), an tagelangen Ausschreitungen durch Rechtsextreme (Brandsätze, Baseballschläger, Steine) im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen sowie an Brandanschlägen auf zwei Häuser von türkisch-stämmigen Familien in Mölln im November 1992. Letzteres war der erste rassistische Anschlag mit Toten in der Geschichte der Bundesrepublik (vgl. Grimmer 2015). Parallel zu diesen Ereignissen warnte Bundeskanzler Kohl auf dem Parteitag der

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CDU vor einem »Staatsnotstand« (Kohl 1992). Als Reaktion auf die gewalttätigen Übergriffe auf ausländische Mitbürger kam es zum sogenannten ›Asylkompromiss‹. Der Bundestag änderte am 26. Mai 1993 Artikel 16 und 18 des Grundgesetzes: 521 Abgeordnete der CDU / CSU, SPD und FDP votierten für eine Beschleunigung der Asylverfahren sowie für eine Einschränkung des Artikels 16 GG (vgl. Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993). Ziel der Grundgesetzänderung war es, dass weniger Asylsuchende nach Deutschland kommen. Die Neuregelung sah vor, dass Menschen aus sogenannten ›sicheren Herkunftsstaaten‹ keinen Asylanspruch mehr in Deutschland haben; dies bot die Grundlage für das DublinAbkommen der Europäischen Union. Flüchtlinge, die über den Landweg nach Deutschland einreisten, erhielten ab dato kein individuelles Prüfverfahren mehr, sondern wurden direkt an der Grenze abgewiesen und in das »sichere Herkunftsland« abgeschoben. Damit wurde Asyl in Deutschland nahezu unerreichbar (vgl. Prantl 1993, 335). Aus Perspektive der Bundesregierung war der Politikkurs sehr erfolgreich: Abschiebungen nahmen zu und es kam zu einem starken Abfall bei den Asylanträgen bzw. bei Erstanträgen von 438.000 im Jahr 1992 und 322.000 im Jahr der Grundgesetzänderung 1993 auf 127.000 im Jahr 1994. Seit Mitte der 1990er Jahre verringerten sich die Anträge kontinuierlich und sanken auf nur 19.000 im Jahr 2007 (vgl. BIB 2021b). Insofern war Deutschland auf die große Migrationswelle nicht vorbereitet, die das Land dann 2015 erwarten sollte, obwohl bereits seit 2013 wieder spürbar deutlich höhere Antragszahlen zu verzeichnen waren (vgl. ebd.) Auch darüber hinaus gab es im Vorlauf zur ›Flüchtlingskrise 2015‹ bereits politische Krisenerscheinungen, die als Warnsignale hätten gelten können. Dennoch reagierten die EU-Staaten nicht mit einer gemeinsamen und nachhaltigen Strategie, die dann auch für Deutschland im Jahr 2015 hätte greifen können: Bereits im Jahr 2011 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Zustände in Griechenland für »unmenschlich« erklärt (vgl. Die Presse 2011). Im Dezember 2011 hoben der Europäische Gerichtshof (EuGH) und auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Dublin-Vereinbarung für Griechenland auf, da sie das Land nicht dazu in der Lage befanden, ordentliche Asylverfahren durchzuführen (vgl. Zeit Online 2011). Somit waren die EU-Mitgliedstaaten gezwungen, jegliche Abschiebung nach Griechenland auszusetzen. Im Jahr 2013 kam es dann zu tragischen Ereignissen vor der italienischen Insel Lampedusa. Ein Schiff mit 550 Menschen an Bord sank und mehr als 360 von ihnen ertranken. Italien setzte ein Seenot-Rettungsprogramm (»Mare Nostrum«) ein, welches später auf deutschen Druck hin wieder ausgesetzt wurde (vgl. DLF, 31. 10. 2014). In den Dublin III-Verhandlungen 2013 forderten die EU-Kommission und das Europäische Parlament einen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge in der Europäischen Union, aber Deutschland lehnte einen solchen Solidaritätsmechanismus zu diesem Zeitpunkt ab. Im Oktober 2014 änderte sich

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die Haltung Deutschlands, als Innenminister Thomas de Maizière die Einführung von EU-Flüchtlingsquoten vorschlug (vgl. de Maizière 2014). Im September 2015 einigten sich die EU-Innenminister nach schwierigen Verhandlungen schließlich auf einen Versuch mit einer Flüchtlingsquote zu arbeiten: 120.000 Flüchtlinge sollten verteilt werden. Gegenstimmen kamen von Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien, die später auch gegen den Beschluss klagten. Die vereinbarte Flüchtlingsverteilung in der EU wurde jedoch nicht umgesetzt: Bis Mai 2018 wurden nur 34.689 Flüchtlinge umverteilt (vgl. European Migration Law 2018). Die EU-Kommission verklagte daraufhin mehrere Staaten wegen fehlender Aufnahme von Flüchtlingen (vgl. EU-Kommission 2017). Im Dezember 2020 verurteilte das EU-Parlament das europäische Asylsystem in einem Bericht und erklärte die Dublin-III-Verordnung, die eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge vorsah, für gescheitert (vgl. EU-Parlament 2020). Interessanterweise sind die verschiedenen nationalen und internationalen Maßnahmen als Reaktion auf die ›Migrationskrisen‹ 1992 / 1993 und 2015 / 2016 relativ ähnlich (s. Tab. 1). Auf die Asylkrise Anfang der 1990er Jahre wurde mit einer Verschärfung im Grundgesetz bzw. mit einer Grundgesetzänderung reagiert. In der Folge wurde auf Betreiben der Bundesregierung die weitergehende Dublin-Verordnung in der EU verabschiedet und es wurden Investitionen in die europäische Grenzsicherung (Frontex) getätigt. Für die Jahre 2015 / 2016 zeigt sich ein ähnliches Verhaltensmuster: Die Immigration wurde mittels vermehrter Ablehnungsbescheide und Abschiebungen bürokratisch bearbeitet und zukünftige Immigration nach Deutschland verhindert. Auch wenn es zu einer Suspendierung der Dublin-Verordnung kam und Immigration zeitweise geduldet wurde, forcierte man eine Rückkehr zum status quo ante: Auf internationaler Ebene wurden die Grenzen zum Balkan geschlossen, es wurde ein Rückführungsabkommen mit der Türkei verhandelt und es wurden verstärkt Investitionen in der »Fluchtursachenbekämpfung« im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit getätigt. Ein Immigrationsgesetz blieb weiterhin aus. Am 25. Februar 2016 kam es im Bundestag zur Abstimmung für das sogenannte Asylpaket II der Regierungsfraktion von CDU / CSU und SPD. Es votierten insgesamt 429 Abgeordnete der CDU / CSU und SPD für den entsprechenden Gesetzentwurf »zur Einführung beschleunigter Asylverfahren« (vgl. Deutscher Bundestag, 25. 02. 2016). Des Weiteren sieht das Gesetz vor, dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für einen Zeitraum von zwei Jahren ausgesetzt wird.

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Tab. 1: Nationale und europäische Maßnahmen zu Migrationsfragen im Vergleich (eigene Darstellung). ›Brennende Asylantenheime‹ 1992 / 1993 Nationale ›Asylkompromiss‹: Maßnahmen – Änderung des Grundgesetzes durch eine Einschränkung des Artikels 16 GG – Beschleunigung der Asylverfahren – Drittstaatenregelung – Kein Asylanspruch für Personen aus ›sicheren Herkunftsländern‹ – Asylbewerberleistungsgesetz – Eigenständiger Kriegsflüchtlingsstatus

›Flüchtlingskrise‹ 2015 / 2016 – Suspendierung und dann Weiterentwicklung des Dublin-Verfahrens – Nur zeitweilige Duldung der Immigration – Abwicklung der Immigration über bürokratische Institutionen (BAMF) – Erhöhung der Ablehnungsbescheide – Kein Immigrationsgesetz – Beschleunigte Asylverfahren – Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte Europäische – Investitionen in Grenzsicherung – »Fluchtursachenbekämpfung«, Stärkung der EntwicklungszuMaßnahmen (Frontex) sammenarbeit – Widerstand gegen Verteilungsmechanismus in der EU – Investitionen in Grenzsicherung – Dublin-Verordnung (Frontex) – Versuch der Etablierung eines EU-Verteilungsmechanismus – Schließung der Balkan-Grenzen – Rückführungsabkommen mit der Türkei (EU-Türkei-Abkommen)

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Deutsche Migrationsdiskurse 1992 / 1993 und 2015 / 2016 im Vergleich

Im außenpolitischen Verhalten Deutschlands ist trotz zweier Schocks keine Veränderung in der Migrationspolitik erkennbar. Um erklären zu können, warum die politischen Krisen 1992 / 1993 und 2015 / 2016 keinen Verhaltenswandel bewirkt haben, obwohl sie eindeutig als formative Ereignisse kategorisiert werden können, richten wir den Blick auf die zugrundeliegenden Diskursformationen in den Untersuchungszeiträumen. Diese Diskursformationen werden von bestimmten Diskursteilnehmern getragen und sind institutionell eingebettet (z. B. durch die Regularien des BAMF als zuständige Behörde). Welche Diskursformation ist es also, die die deutsche Migrationspolitik 1992 / 1993 und 2015 / 2016 bestimmt bzw. anders gefragt: Gibt es eine Diskurshegemonie?

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Wurden 2015 / 2016 dieselben Argumentationsmuster genutzt und dieselben Handlungsempfehlungen ausgesprochen wie 1992 / 1993 und wurden damit dieselben Identitätselemente wirksam oder gab es eine Verschiebung? Bereits in den 1980er Jahren hatten sich mehrere Unionspolitiker dafür eingesetzt, den, wie Franz Josef Strauß (CSU) es bezeichnete, »extrem und unvorhersehbar angestiegenen« Asylantenandrang mittels einer Einschränkung des Grundrechts auf Asyl zu stoppen (zit. n. Spiegel Politik, 17. 02. 1985). Mit einem Ausländeraktionsprogramm wollte die Bundesregierung die Einwanderung vornehmlich aus den sogenannten ›Dritte-Welt-Staaten‹ eindämmen, um laut Berlins Innensenator Heinrich Lummer die Bundesrepublik »vor einer Überflutung [zu] schützen« (ebd.). Auf dem Bundesparteitag 1992 bekräftigte Helmut Kohl, dass die überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden in ihrer Heimat »nicht aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt werden« und es Lösungen bedürfte, die »dem Missbrauch des Asylrechts wirksam einen Riegel vorschieben« (Kohl 1992). Laut Kohl war eine Grenze überschritten: »Die Situation hat sich dramatisch zugespitzt. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr […] eines Staatsnotstandes« (ebd.). Noch deutlicher positionierte sich Bärbel Sothmann (CSU / CDU) 1993: »Der Asylmissbrauch ist entsprechend hoch«, »(d)ieser Zustand ist unhaltbar« und »Deutschland ist kein Einwanderungsland. Wir können nicht alle Notleidenden dieser Welt in der Bundesrepublik aufnehmen« (Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993). Während sich Wolfgang Schäuble auf ein Zitat des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt von 1973 bezog, indem er sagte, »daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten« (ebd.), sprach auch der SPD-Abgeordnete HansUlrich Klose von »einer zunehmende[n] Angst vor Überforderung und Wohlstandsverlusten durch die massenhafte mißbräuchliche Inanspruchnahme des Asylrechts« (ebd.). Laut Hermann Otto (FDP) waren es die hohen Asylbewerberzahlen von 1992 und 1993, die seine Partei zu einer Reaktion zwangen: »Wir tun das aus Verantwortung fu¨ r die politisch Verfolgten. Wir tun es aus Verantwortung fu¨ r die Sicherung des Rechtsstaates. Wir tun es aus Verantwortung fu¨ r die Stabilität der demokratischen Ordnung. Wir tun es nicht zuletzt aus Verantwortung fu¨ r ein Zusammenwachsen in Europa« (ebd.). Dieses Zitat bedient gleich mehrere Identitätselemente: »das europäische Deutschland«, »Deutschland als starker Staat« und »das verantwortungsbewusste Deutschland«. Zudem wurde in der Debatte indirekt das Identitätselement »Deutschland als Schutzland für Asylsuchende« aktiv. Deutschland gewährt ausschließlich politisch Verfolgten Asyl, nicht aber jenen, die das Asylrecht fälschlicherweise in Anspruch nehmen oder den Schutz ausnutzen. Sowohl das Argument des Asylmissbrauchs, welches bereits im Jahr 1973 in den politischen Debatten verlautbart wurde (vgl. Prantl 1993, 301; Oltmer 2020,

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27), als auch die Betonung begrenzter Aufnahmekapazitäten in Zusammenhang mit einer Gefährdung für die Demokratie und den deutschen Rechtsstaat waren 1992 / 1993 gängige Argumentationsmuster. Diese identifizierten Muster und Identitätselemente lassen sich auf einer höheren Abstraktionsebene zur Diskursformation »Kein Einwanderungsland« bündeln. Gleichzeitig sind sie auch in der Debatte 2015 / 2016 wiedererkennbar. Stephan Mayer (CSU) bestätigte Anfang 2015 zwar einerseits, dass Deutschland »Fachkräfteeinwanderung« benötigte. Aber als Antwort auf den Antrag der Grünen in Bezug auf ein Einwanderungsrecht klagte er: »Ich finde es wirklich schade, dass Sie zwei Rechtsbereiche miteinander verbinden, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben: Sie verbinden das Zuwanderungsrecht mit dem Staatsangehörigkeitsrecht« (Mayer 2015). Obwohl Einwanderung zwar aus wirtschaftlichen Aspekten gewünscht war und ist (vgl. dazu auch den Beitrag von Maletzky de García in diesem Band), sollte an dem vorhandenen Zuwanderungsrecht (Asylpolitik) nicht gerüttelt werden. Entsprechend argumentierte Mayer 2015 ähnlich wie Bärbel Sothmann (CDU / CSU) im Jahr 1993: Deutschland ist zwar offen für Fachkräftezuwanderung, aber ist eben kein Einwanderungsland für alle. Parteikollege Charles M. Huber machte im Mai 2015 sogar »einen Unterschied zwischen Flüchtlingen aus Krisengebieten« aus (Deutscher Bundestag, 07. 05. 2015): Während »Wirtschaftsflucht« suggeriere, dass jemand seine »ohnehin akzeptable Situation verbessern möchte«, ginge es laut Huber bei dem aktuellen »Flüchtlingsstrom« (Mai 2015) um »Armutsflucht« (ebd.). »Uneingeschränkt Leute in unserer Gesellschaft aufnehmen«, so wie es Bündnis 90 / Die Grünen und Die Linke forderten, würde den »Flüchtlingsstrom« vergrößern und zu noch mehr Toten führen, da die sogenannten Armutsflüchtlinge »in der Wüste enden« oder »das Ufer nicht erreichen« würden (ebd.). Für Innenminister de Maizière war die »konsequente Rückführung der Menschen ohne Bleibeperspektive« ein zentrales Instrument, um »dieser großen Herausforderung gerecht zu werden« (Deutscher Bundestag, 15. 10. 2015). Er argumentierte weiter, »die Sorgen werden größer« und »die Zahl derer, die in diesem Jahr zu uns kommen, ist einfach zu hoch« (ebd.). Das erklärte Ziel war es, »den Flüchtlingsstrom in unser Land zu begrenzen« (Deutscher Bundestag, 19. 02. 2016). Dabei sollten beschleunigte Asylverfahren die Abschiebung von »Straftäter[n], Wirtschaftsflüchtlinge[n] und andere[n] Nicht-Schutzbedürftige[n]« sicherstellen (ebd.). Denn »Asyl- und Flüchtlingspolitik heißt auch, unterschiedliche Schicksale unterschiedlich zu behandeln« (ebd.). Auch die SPD machte deutlich, dass es nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2016 einzig um die »Handlungsfähigkeit des Staates« (Heiko Maas, SPD) ginge (ebd.). Dabei mahnte er Straftäter mit Migrationshintergrund, den deutschen Asylschutz nicht auszunutzen: »Wer vor Verfolgung, Krieg und Terror flieht, der findet bei uns Schutz. Aber wer hierherkommt und dabei diesen Schutz ausnutzt, um schwere Straftaten zu begehen, fu¨ r den ist bei uns kein Platz.

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Wir sind hilfsbereit, aber nicht blind« (ebd.). Nina Warken (CDU / CSU) sprach sogar von einem »Ausnahmezustand« in der Flüchtlingsfrage (Deutscher Bundestag, 15. 10. 2015), Horst Seehofer von »eine[r] nicht mehr zu beherrschende[n] Notlage« und Ex-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gab zu bedenken: »Wir haben die Kontrolle verloren« (Hildebrandt / Ulrich 2015). Die 2013 neu gegründete Partei Die Alternative für Deutschland (AfD) fokussierte sich mit ihrer »Herbstoffensive 2015« und dem Sechs-Punkte-Plan darauf, das »Asylchaos« zu stoppen. Als Reaktion auf die kalkulierte Anzahl von 800.000 Asylbewerbern in 2015 prognostizierte die Parteivorsitzende Frauke Petry eine »sich abzeichnende Katastrophe« im Land (Sirleschtov 2015). Für die AfD war der Staatsapparat nicht mehr handlungsfähig und man verlangte die »Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung« und den »Schutz der nationalen Sicherheit« (ebd.). Neben der Stabilität sahen einige Politiker auch die eigene Kultur und Identität in Gefahr: »Wir können nur so viele aufnehmen, wie wir integrieren können, ohne unsere Kultur, unsere Identität zu gefährden« (Hans-Peter Friedrich, CSU) (Deutscher Bundestag, 15. 10. 2015) oder wie Markus Söder (CSU) äußerte: »Wenn in diesem Jahr mehr Menschen zuwandern, als hier geboren werden, wirkt sich das auf die kulturelle Statik einer Gesellschaft aus« (Welt 2015). Damals wie heute warnten Politiker davor, dass Asylsuchende deutsche kulturelle und politische Werte gefährden könnten. Damit wurde indirekt der Wunsch geäußert, die deutsche Gesellschaft solle kulturell weitestgehend homogen sein und bleiben (s. Identitätselement »Deutschland als Kulturnation« in Abb. 2). Doch gab es 1992 / 1993 ebenso wie 2015 / 2016 auch konkurrierende Handlungsempfehlungen, also zusätzliche, durchaus gegenläufige Argumentationslinien, die in der politischen Debatte um Flüchtlinge und Asyl gewirkt haben. Diese Argumente speisen die zweite Diskursformation, die 2015 / 2016 auch neue Komponenten im Vergleich zu 1992 / 1993 aufweist. In den Aussagen von Konrad Weiss (Bündnis 90 / Die Grünen) von 1993 und von Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90 / Die Grünen) von 2015 wurde Deutschland als ein Land beschrieben, das Flüchtlinge willkommen heißen sollte. Es müssten »menschliche und solidarische Lösungen« gefunden werden und »Hilfe fu¨ r Verfolgte und Bedra¨ ngte [… sei] nicht nur eine Menschenpflicht, sondern auch eine christliche Tugend« (Konrad Weiss, Bündnis 90 / Die Grünen) (Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993). Die Grünen verlangten damals wie heute, dass Deutschland die Menschen willkommen heißt, entsprechend versorgt, ausbildet und ihnen eine Perspektive bietet, denn »[e]s geht um unsere Werte, es geht um Menschlichkeit« (GöringEckardt 2015). »Wir müssen schauen, dass wir die Flüchtlinge, die Recht auf Asyl haben, gut unterbringen« (Göring-Eckardt zit. n. Gaugele 2015). Das Identitätselement »Das christliche Deutschland« (s. auch Abb. 2) wurde auch in der 2018 von Beatrice von Weizsäcker, Sven Giegold und Ansgar Gilster (alle im

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Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages) initiierten Petition adressiert. Die Petition war gerichtet »an die Regierungen der Europäischen Union« mit dem Titel: »Erst stirbt das Recht – dann der Mensch! Für eine christliche, menschenrechtliche und solidarische Flüchtlingspolitik in Europa!« (Giegold / Gilster 2018). Diverse Politiker verwiesen damals wie heute auf »unsere[r] christliche[n] Tradition« (Matthias Schmidt, SPD) (Deutscher Bundestag, 07. 05. 2015); Gregor Gysi zitierte 1993 im Deutschen Bundestag aus der Bibel: »Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedru¨ cken. Er soll unter euch wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst ihn lieben wie dich selbst« und kommentierte: »Schauen Sie sich einmal an, was Jesus u¨ ber den Umgang mit Fremden gesagt hat« (Gregor Gysi, PDS / Linke Liste) (Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993). Die betonte »menschliche Pflicht, [die Flüchtlinge] aufzunehmen und willkommen zu heißen« (Barbara Hendricks, SPD) (Deutscher Bundestag, 15. 10. 2015) und der Bezug auf christliche Werte wurden ergänzt um die Identitätselemente »das verantwortungsbewusste Deutschland« und »Deutschland als Schutzland für Asylsuchende«. Wolfgang Schäuble zitierte 1993 den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag: Im Laufe der Woche berät der Deutsche Bundestag u¨ ber das Asylrecht. Wir du¨ rfen alle davon ausgehen, daß dies in tiefem Bewußtsein der leidvollen Erfahrungen geschieht, die uns unsere eigene Geschichte u¨ ber die elementare Bedeutung des Rechtes auf Asyl lehrt (Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993).

Bereits in den Asyldebatten zuvor hielt Hessens Innenminister Horst Winterstein jegliche Beschränkung des Asylrechts für »geschichtslos und unmenschlich« (Spiegel Politik, 17. 02. 1985). Gregor Gysi (PDS / Linke Liste) bezeichnete die Asyldebatte von 1993 als »gewaltig und deprimierend« und kritisierte: »All jene, die in der beschriebenen Art und Weise die Asyldebatte führten und führen, haben an rassistischen und ausländerfeindlichen Pogromen als intellektuelle Urheber ihren Anteil« (Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993). Im Jahr 2015 war für seinen Parteikollegen Dietmar Bartsch die Debatte »schlicht grundgesetzwidrig« (DLF, 18. 10. 2015). Auch er warb für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Flüchtlingskrise: »Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze« und »dass sie [die Geflüchteten] hierher kommen, liegt in unserer Verantwortung« (ebd.). Im Rahmen der Beratung des Antrags »Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik« kommentierte Ulla Jelpke (Die Linke): »[W]ir wollen eine Aufnahmepolitik in maßgeblicher Verantwortung des Bundes. Flu¨ chtlingsschutz ist eine internationale Verpflichtung« (Deutscher Bundestag, 07. 05. 2015). Bundeskanzlerin Angela Merkel benannte die Einzelschicksale der vielen Bürgerkriegsflüchtlinge und politisch Verfolgten für die »wir in der Verantwortung [sind]. Diese Verantwortung nehmen wir wahr.

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Sie fordert uns. Bund, Länder und Kommunen wollen das in guter Zusammenarbeit schaffen und arbeiten daran« (Deutscher Bundestag, 09. 09. 2015). Bei allen Parallelen in den Diskursen der beiden Krisen lassen sich aber auch Unterschiede konstatieren. So nahm das Thema Einwanderung 2015 / 2016 eine größere Bedeutung an als dies 1992 / 1993 der Fall war: »[W]ir können unseren Wohlstand, die Lebensqualität unserer Gesellschaft nur sichern, wenn wir Einwanderung haben. Einwanderung ist essenziell erforderlich fu¨ r unsere Gesellschaft« (Eva Högl, SPD) (Deutscher Bundestag, 08. 09. 2015). FDP-Parteichef Christian Lindner wollte zwar im Sinne der Diskursformation »Kein Einwanderungsland« einen »zeitlich befristeten Schutz für Kriegsflüchtlinge«, aber die FDP sah explizit die Möglichkeit, die hohe Zuwanderung an ein Einwanderungsgesetz zu koppeln. Damit sollten die Schutzsuchenden »die Chance erhalten, sich in Deutschland für dauerhaften Aufenthalt im Arbeitsmarkt zu bewerben« (Bangel 2015), was Lindner mit Blick auf die »Belastungsgrenze« als »pragmatische und humanitäre Antwort« (ebd.) auf die Flüchtlingskrise bewertete. Hier wird deutlich, dass die Debatte 2015 / 2016 im Vergleich zu 1992 / 1993 auch vor dem Hintergrund einer sehr geringen Arbeitslosenquote von 6,4 % im Januar 2016 (Januar 1993: 9 %), positiver Wachstumsprognosen für die Wirtschaft und des zunehmenden Fachkräftemangels, der mit der Notwendigkeit einherging, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben, geführt wurde (vgl. Statista 2021). Der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) erklärte: Ja, wir müssen aus Flüchtlingen möglichst rasch Bürger machen […]. Die Vielfalt der Kulturen, der Religionen und der Traditionen ist manchmal anstrengend – wir erleben es heute schon –, und sie wird in einer Einwanderungsgesellschaft, die wir sind und die wir noch mehr werden, auch nicht weniger werden (Deutscher Bundestag, 08. 09. 2015).

Ob Deutschland Einwanderungsland ist oder nicht, wurde zwar 1992 / 1993 ebenfalls debattiert, aber nicht so differenziert wie 2015 / 2016. Während CDU / CSU 1993 klarstellten, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, widersprach Konrad Weiss von den Grünen: »Unser Einwanderungsgesetz will der Tatsache Rechnung tragen, daß Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist und bleiben wird« (Deutscher Bundestag, 26. 05. 1993). 22 Jahre später wurden die neuen Zuwanderer eindeutig als »Chance für dieses Land« (Martin Gester, SPD) (Deutscher Bundestag, 09. 09. 2015), als »Geburtstag eines neuen Deutschland[s]« (Göring-Eckardt, Bündnis 90 / Die Grünen) (ebd.) und als »eine große Chance für eine alternde Gesellschaft, junge Fachkräfte zu gewinnen« gesehen, wobei »Deutschland von den Flüchtlingen profitier[t]« (Thomas Oppermann, SPD) (ebd.). Man bekennt sich zu einem Land, dass nicht nur Schutzsuchenden ihr Recht auf Asyl einräumt (Identitätselement »Deutschland als Schutzland für Asylsuchende«), sondern Flüchtlinge explizit willkommen

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heißt, weil sie u. a. als Chance für ein neues Deutschland wahrgenommen werden. Diese Argumentationslinien lassen sich zur jeweiligen Herausforderer-Diskursformation zusammenfassen: »Asyl als Menschenpflicht« (1993) und – transformiert – »Willkommenskultur« (2015). Die Bundeskanzlerin versuchte 2015 / 2016 einen rhetorischen Spagat zwischen den Schreckensszenarien ihrer Parteikollegen (»Kein Einwanderungsland«) und der neuen Willkommenskultur. Einerseits sah sie einen Gewinn für Deutschland, »wenn wir es mutig angehen« (Deutscher Bundestag, 09. 09. 2015) und war überzeugt davon, dass »Deutschland [die Herausforderung] bewältigen kann« (ebd.). Da Merkel eindeutig die Diskursformation der Willkommenskultur bediente, ist es nicht überraschend, dass sie mit dieser Haltung auf viel Widerstand in der eigenen Partei und darüber hinaus gestoßen ist – also bei all jenen Diskursträgern der Diskursformation »Kein Einwanderungsland«. Andererseits adressierte Merkel auch diejenigen, die sich vor einer Erosion deutscher Werte und Kultur fürchteten: »[e]in Land, das viele, die neu zu uns kommen, willkommen heißt, das auch viele willkommen heißt, die aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, muss auch deutlich machen, welche Regeln bei uns gelten« (Angela Merkel, CDU / CSU) (Deutscher Bundestag, 09. 09. 2015).

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Zusammenfassung

Die Flüchtlingsdebatten 1992 / 1993 und 2015 / 2016 weisen deutliche Parallelen auf. Die Argumente des Asylmissbrauchs, der begrenzten Aufnahmekapazitäten sowie die Gefahr des Staatsversagens und für die Stabilität Deutschlands wurden 1993 von CDU / CSU, SPD und FDP und 2015 wieder von der CDU / CSU, in starker Form von der AfD und in abgeschwächter Form von SPD und FDP genutzt. Zu beiden Zeitpunkten wurden die Migranten ausschließlich durch das Prisma der Asylsuchenden gesehen und es wurden Handlungsempfehlungen zur Begrenzung von Einwanderung sowie Einschränkungen für Asylsuchende formuliert (s. Tab. 2: Diskursformation »Kein Einwanderungsland«). SPD und FDP schlossen sich 2015 abermals an, brachten aber neue Argumente mit ein, die auch ein anderes Verhalten hätten begründen können. Obwohl sich die SPD rhetorisch eher zur »Willkommenskultur« bekannte, haben über 70 % der Abgeordneten im Deutschen Bundestag im Februar 2016 für die zwei neuen Gesetzentwürfe zur Einführung beschleunigter Asylverfahren, zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern sowie zum erweiterten Ausschluss der Flu¨ chtlingsanerkennung gestimmt. Dieser ›double speak‹ der SPD zeigt auf, dass sich die Partei zwar der Argumente einer Willkommenskultur bediente, dann aber ganz im Sinne der Diskursformation »Kein Einwanderungsland« gegenteilig handelte. Die FDP plädierte 2015 / 2016 zwar – analog zu den 1990er Jahren – aufgrund

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einer »Belastungsgrenze« (Bangel 2015) für eine zeitlich limitierte Aufnahme von Kriegsflüchtlingen, hatte diesmal aber auch den Arbeitsmarkt und den Bedarf an grundsätzlicher Einwanderung im Blick, was für Deutschland und für die Flüchtlinge gleichermaßen als Chance betrachtet wurde (»Willkommenskultur«). Neu ist 2015 das Erstarken der AfD, die noch vehementer als CDU / CSU die Einwanderung nach Deutschland zu verhindern suchte, indem die deutschen Grenzen geschlossen und konsequente Abschiebungen durchgeführt werden sollten. Interessanterweise galt die AfD als neu gegründete Partei gerade mit diesen eindeutigen Handlungsempfehlungen und Positionierungen (»Kein Einwanderungsland«) als »Profiteur der Flüchtlingsdebatte« (vgl. Häusler 2016; Neuerer 2015) – nach dem Euro- und Griechenlandthema wurde die Flüchtlingsfrage zu ihrem neuen politischen Markenkern. Die oben genannte Kontinuität in den Debatten spiegelt sich auch in der konkurrierenden Diskursformation wider, die vornehmlich in den Anträgen von Bündnis 90 / Die Grünen zum Ausdruck kommt. Sie haben 1993 ein Flüchtlingsgesetz und ein Einwanderungsgesetz in den Bundestag eingebracht und stellten auch am 04. 02. 2015 einen Antrag: »Für ein modernes Einwanderungsgesetz« (18/3915). Insgesamt wurde die Debatte 2015 im Vergleich zu 1993 differenzierter geführt – analytisch betrachtet transformierte sich die Diskursformation »Asyl als Menschenpflicht« der 1990er Jahre, die vornehmlich von den Parteien Die Linke und Bündnis 90 / Die Grünen getragen wurde, nun in die stärker gewordene Diskursformation »Willkommenskultur« (s. Tab. 2). Abgeordnete der Parteien Die Linke, Bündnis 90 / Die Grünen und SPD begrüßten 2015 die Willkommenskultur in der deutschen Bevölkerung ausdrücklich und sahen in der Zuwanderung eine Chance für Deutschland. Auffällig ist, dass die CDU-Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel zunächst an einen Gewinn und Nutzen für Deutschland rhetorisch angeknüpft und damit neue Argumente eingebracht hat, die es so in den 1990er Jahren von konservativer Seite nicht gegeben hatte. Nichtsdestotrotz hat Merkels Partei in der Regierungsverantwortung das Asylpaket II auf den Weg gebracht und damit Zuwanderung beschränkt. Tab. 2: Tabellarische Zusammenfassung der Ergebnisse aus der Diskuranalyse. Diskursformation Kein Einwanderungsland

Identitätselemente

Diskursformation Asyl als Menschenpflicht / Willkommenskultur (2015) »D als Kulturnation«, »D als »das christliche D«, »das starker Staat«, »das europäi- verantwortungsbewusste D«; sche D«, »D als Schutzland »D als Schutzland für Asylfür Asylsuchende«, »das ver- suchende« antwortungsbewusste D«

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(Fortsetzung) Diskursformation Kein Einwanderungsland Argumentationsmuster

Missbrauch des Asylrechts und die Gefahr des Staatsversagens beenden; ›AsylChaos‹ und begrenzte Aufnahmekapazitäten, Erosion der deutschen Kultur und Identität droht Handlungsempfehlungen Einwanderung reduzieren bzw. stoppen mittels beschleunigter Asylverfahren, konsequenten Abschiebungen und Rückführungen; besserer Schutz der EU-Außengrenzen

Diskursträger

1992 / 1993: CDU / CSU, SPD, FDP 2015 / 2016: CDU / CSU, AfD, Teile der SPD und FDP

Diskursformation Asyl als Menschenpflicht / Willkommenskultur (2015) Menschenpflicht Asylsuchenden zu helfen; historische Verantwortung und internationale Verpflichtung; Migration als große Chance für Deutschland modernes Einwanderungsgesetz und solidarische Lösungen vonnöten; gute Unterbringung und Bleibeperspektive; keine Obergrenze für Asylsuchende 1992 / 1993: PDS / Linke Liste, Bündnis 90 / Die Grünen, 2015 / 2016: Die Linke, Bündnis 90 / Die Grünen, Teile der SPD und abgeschwächt Teile der FDP

Zusammenfassend kann die Diskursformation »Kein Einwanderungsland« mit den altbekannten Argumenten ihre Diskurshegemonie verteidigen, obwohl die Stärke der »Willkommenskultur« 2015 / 2016 zugenommen hat. Im Ergebnis erlaubte die Diskurshegemonie sogar noch drastischere außenpolitische Maßnahmen als 22 Jahre zuvor, wie z. B. konsequentere Abschiebungen oder das Rückführungsabkommen mit der Türkei (s. Tab. 2). Für eine erfolgversprechende contestation der herrschenden Diskurshegemonie wäre sicher der Bezug auf das »europäische Deutschland« (s. auch Abb. 2) nützlich gewesen. Doch diese rhetorische Ressource fiel aus, da die europäischen Partner ebenfalls keine Zuwanderung wollten. Die europäische Zusammenarbeit basiert also auf der geteilten Wahrnehmung von ›Europa als kein Einwanderungskontinent‹, was eine Verschärfung von Abschreckung und Zurückweisung erlaubt, aber keine effektive Verteilung von Flüchtlingen. Obwohl also das Identitätselement »Deutschland als Auswanderungsland« im Diskurs keine Rolle spielte, verband es die europäischen Staaten latent in Bezug auf ihre gemeinsame Auswanderungsgeschichte. Die diskursive Belebung und Umdeutung dieses Identitätselements wäre nötig, um eine europäische Immigrationspolitik überhaupt möglich zu machen.

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Ausblick

Die deutsche Migrationspolitik ist ein Beispiel für eine Politik, die trotz globaler Trends und gegen eigene wirtschaftliche Erfordernisse über Jahrzehnte hinweg stabil blieb und bleibt. Null-Immigration mit Hilfe der EU, Grenzsicherung, Abweisung, Abschreckung, Abschiebungen und »Fluchtursachenbekämpfung« sind Eckpunkte dieser Politik. Formative Ereignisse wie brennende Asylunterkünfte (1992 / 1993) und Staatsversagen (2015 / 2016) suggerierten zwar ein Scheitern dieser Politik, doch die zentrale legitimatorische Begründung wurde und wird aufrechterhalten: Deutschland ist identitär kein Einwanderungsland. Kommt Zuwanderung trotzdem vor, wurde und wird sie nur zeitweilig und über Ausnahmen akzeptiert (Asyl); sie war und ist aber politisch nicht gewollt – im Prinzip ein Versehen, das in einem Kraftakt bewältigt wird (»wir schaffen das«). Der starke Staat Deutschland versucht(e), eine Anpassung an globale Realitäten zu vermeiden und umgekehrt die globalen Realitäten an die deutsche Identität anzupassen. Zwar hat die neue Diskursformation »Willkommenskultur« das Potential, die Diskurshegemonie langfristig aufzubrechen. Die rhetorischen Ressourcen für Einwanderung (europäische Ansprüche, christliche Werte und Barmherzigkeit, ökonomische Nützlichkeit, Verantwortung für ›one world‹) sind vorhanden, waren bislang aber noch nicht stark genug, um die Diskurshegemonie der ›Null-Immigration‹ zu brechen. Im Gegenteil: Der Regierung gelang im Nachgang der Debatte noch der Coup, die ökonomischen Argumente für Immigration aus dem Lager der Willkommenskultur herauszubrechen, indem ein »Fachkräfteeinwanderungsgesetz« beschlossen wurde. Der Umgang mit den beiden formativen Ereignissen zeigt, wie schwer es ist, eine stabile Diskurshegemonie aufzubrechen, um einen Politikwandel zu generieren. Ein Trost für die Vertreter einer strukturierten Immigration ist, dass die jetzige Politik nicht nachhaltig ist. Weder verspricht das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ökonomische Erfolge (da die Anreize für die gewünschten ausländischen Fachkräfte zu gering sind), noch geben die internationalen demographischen und klimatischen Entwicklungen Anlass zur Entwarnung – vielmehr wird der Migrationsdruck weiter zunehmen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist der seit Februar 2022 in der Ukraine währende Krieg, der die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg auslöste. Dieses formative Ereignis ermöglichte, dass am 03. März 2022 die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie (Richtlinie 2001/55/EG) aus dem Jahr 2001 erstmals einstimmig in der EU aktiviert wurde. Ukrainische Flüchtlinge erhielten damit eine sofortige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis ohne aufwendiges Asylverfahren. Dies gilt in Deutschland auch für Drittstaatsangehörige, die in der Ukraine lebten. Somit wurden die Forderungen aus dem Lager der ›Willkommenskultur‹ im Ukraine-Fall überraschenderweise realisiert. Ob dieser drasti-

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sche plötzliche Politikwandel allerdings eine Chance bietet, die alte Diskurshegemonie der Nicht-Immigration zu überwinden, ist zumindest zweifelhaft. Darüber hinaus offenbaren die plötzliche politische Einigkeit und der neue Handlungsspielraum auch einen rassistischen und kulturfeindlichen Charakter des vergangenen Umgangs mit Flüchtlingen. Solange die ›MassenzustromRichtlinie‹ eine Ausnahme bleibt, kann man in Deutschland und der EU von keinem Verhaltens- oder Identitätswandel in der Immigrationspolitik sprechen. Die Verabschiedung eines Immigrationsgesetzes – theoretisch gesprochen wäre dies das Ende der Diskurshegemonie – wäre auch für die neue Bundesregierung ein Kraftakt, der mehrjähriger diskursiver Vorbereitung bedürfte. Mittelfristig führt das erschütterte ›Weiter-so‹ deshalb weiterhin zu einer Politik der höheren Zäune für die deutsche und europäische ›Wohlfühlinsel‹.

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Martina Maletzky de García

»Shukri hatte im Praktikum goldene Hände«1: Erfahrungsberichte über die Anstellung von Geflüchteten als Instrument von Institutional Work

1

Einleitung

Migration, das finde ich, ist (k)eine Frage des Blickwinkels. Zuwanderung und Arbeitsmigration werden in Deutschland kontrovers diskutiert. Es ist beobachtbar, dass sich dominante Diskurse über die Zeit verändern und unterschiedliche Interessen widerspiegeln (vgl. Hell 2005; Maletzky 2017). Die Einstellungen für und gegen Zuwanderung im politischen Diskurs sind dementsprechend eine Frage des Blickwinkels und der daran gekoppelten Interessen. Zeiten mit geringem wirtschaftlichen Wachstum gehen dabei oft mit einer zurückhaltenden Einstellung gegenüber Migration einher (vgl. Zolberg 1991; Sniderman / Hagendoorn / Prior 2004; Kuntz / Davidov / Semyonov 2017). Umgekehrt sind wirtschaftliche Argumente oft ein Zugpferd für die Veränderung von Einwanderungsgesetzen (vgl. Hell 2005; Maletzky 2017). Resultat dieser utilitaristischen Sichtweise ist die in der kritischen Migrationsforschung vielfach diskutierte soziale Stratifizierung nach Fähigkeiten (vgl. Ellermann 2020), die wirtschaftlich gewinnbringende Migranten und Migrantinnen favorisiert. Während deren Immigration erleichtert und durch gezieltes Zuwanderungsmarketing gefördert werden soll, zeigt man sich gegenüber anderen Migrationsgruppen restriktiv. Hierzu zählen Geflüchtete, die im populistischen Diskurs aufgrund ihres vermeintlich geringen wirtschaftlichen Nutzens und einer Gefahr der Nichtintegrierbarkeit aufgrund von großer kultureller und religiöser Distanz abgelehnt werden. In der Diskussion pro und kontra Zuwanderung versuchen verschiedene Anspruchsgruppen den Diskurs zu ihren Gunsten zu beeinflussen. So ist es um das Jahr 2000 vor allem Wirtschaftsakteuren gelungen, ein Bewusstsein dafür zu kreieren, dass gesteuerte Zuwanderung notwendig zur Adressierung von Herausforderungen des demographischen Wandels sowie des 1 Gekürztes Zitat aus einer Veröffentlichung aus dem Untersuchungskorpus (Quelle: https:// www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendische-arbeit nehmer/kochen-mit-biss-4075190, 05. 05. 2021).

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Martina Maletzky de García

Fachkräftemangels ist. Das Image von Zuwanderern und Zuwanderinnen wie Geflüchteten, die ungesteuert einwandern und als weniger ›nützlich‹ wahrgenommen werden, hat sich jedoch in diesem Zusammenhang seit der starken Erhöhung ihrer Zahl um 2015 im eher konservativen Milieu verschlechtert. Entsprechend bestand von Seiten der damaligen Regierungsmehrheit ein hoher Druck, die große Zahl an Geflüchteten möglichst effektiv in den Arbeitsmarkt zu integrieren, um die liberale Geflüchtetenpolitik Angela Merkels zu rechtfertigen. Aus migrationssoziologischer Perspektive erscheint es hier aufgrund der Polarisierung des Diskurses besonders interessant, herauszuarbeiten, welche Strategien die Akteure und Akteurinnen anwenden, um ihre Ziele zu erreichen und den Diskurs um Zuwanderung zu beeinflussen (vgl. hierfür auch die Kritische Diskursanalyse der offiziellen Webpräsenz der EU- und US-Regierung von Wawra in diesem Band). Eine Strategie zur Minimierung der negativen Konsequenzen der hohen Einwanderungszahlen von Geflüchteten ist die im Vergleich zu anderen Perioden erhöhter Zuwanderung (z. B. der Gastarbeiterzeit) vermehrte und gezieltere Investition in integrationsunterstützende Maßnahmen. Adressaten der darauf ausgerichteten Fördergelder sind dabei bestimmte Organisationen, wie etwa die deutschen Kammern, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Vermittler zwischen Wirtschaftsakteuren, Politik und Geflüchteten und somit Multiplikatoren sind (vgl. Maletzky de García 2021) und eine möglichst erfolgreiche Umsetzung staatlicher Maßnahmen ermöglichen sollen. Ziel der entsprechenden Integrationsprogramme (z. B. Passgenaue Besetzung2) ist es, möglichst viele Geflüchtete in Arbeit zu bringen. Während in diesem Zusammenhang einerseits in ausbildungsunterstützende Maßnahmen und Anerkennung von ausländischen Abschlüssen investiert wird, ist auf der anderen Seite auch eine Vermittlung von Geflüchteten in Betriebe vorgesehen. Voraussetzung dafür ist ein gewisser Grad an Offenheit von potentiellen Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen gegenüber Geflüchteten. Hierfür ist aufgrund von Vorbehalten auf Arbeitgeberseite (z. B. Rump / Eilers 2017) vielerorts eine Aufwertung des Geflüchtetenimages notwendig, die in verschiedenen Maßnahmen zu beobachten ist. Als ein Beispiel dafür kann die Veröffentlichung von BestPractice-Beispielen der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten durch die deutschen Kammern gesehen werden, die die reservierte Haltung von Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen gegenüber Geflüchteten durch das Aufzeigen von positiven Beispielen adressiert. Die Verbreitung von Best Practices kann in diesem Fall – so die hier zugrunde liegende These – als eine Form von Institutional 2 https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Ausbildung-und-Beruf/passgenaue-besetzung.h tml#:~:text=1%20Schwerpunkt%20des%20Programms%20%E2%80%9EPassgenaue%20Bese tzung%E2%80%9C.%20Das%20Bundesprogramm,aus%20Mitteln%20des%20ESF%20und% 20des%20BMWi-Haushalts.%20 (06. 05. 2021).

»Shukri hatte im Praktikum goldene Hände«

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Work (vgl. Lawrence / Suddaby / Leca 2011) angesehen werden; durch sie soll eine Beeinflussung von gesellschaftlich verankerten Erwartungen, Denkmustern und sozialen Normen erfolgen (vgl. Scott 2001). Hier setzt die Forschungsfrage des vorliegenden Beitrages an: Er geht der Frage nach, welches Bild von Geflüchteten in den Best-Practice-Beispielen der beiden größten deutschen Kammern (Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern) präsentiert wird und wie dieses Bild mit dem gesellschaftlichen Diskurs um Geflüchtete im Zusammenhang steht. Dies geschieht auf Basis von Ergebnissen einer Metaphernanalyse. Für den späteren intertextuellen und diskursiven Rückbezug der analysierten Metaphern wird zunächst knapp die Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland beschrieben, ferner werden die daran gekoppelten dominanten Diskurse aufgezeigt. In einem zweiten Kapitel wird das organisationswissenschaftliche Konzept des Institutional Work vorgestellt. Es folgt die Erläuterung des methodischen Vorgehens und eine Beschreibung der Erfahrungsberichte über die Anstellung von Geflüchteten unter besonderer Berücksichtigung der gehäuft auftretenden Metaphern. In einer Diskussion werden die Ergebnisse mit dem Diskurs um Einwanderung und Geflüchtete verknüpft, um den interdiskursiven Bezug herzustellen. Der Beitrag schließt mit einem abwägenden Fazit.

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Deutschland als Einwanderungsland – von der Negierung zur Erkenntnis wirtschaftlicher Notwendigkeit von Einwanderung

Auch wenn Deutschland statistisch gesehen seit langem und spätestens mit den Anwerbeabkommen in den 1960er Jahren ein Einwanderungsland ist (vgl. Heckmann 1995), verfolgte die deutsche Migrationspolitik Jahrzehnte einen sehr restriktiven Kurs und leugnete es bis zur Jahrtausendwende ein solches Einwanderungsland zu sein (vgl. Constant / Bienvenue 2011). Legale Einwanderung war seit dem Auslaufen der Anwerbekommen 1973 lange Zeit v. a. durch Asylbeantragung und Familiennachzug möglich. Eine Änderung dieses Zustandes ist um die Jahrtausendwende beobachtbar. Im Jahr 2000 wird ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz erlassen, dass das bisher geltende ius sanguinis, nach dem nur der- bzw. diejenige die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten konnte, der bzw. die deutscher Abstammung war, durch das ius soli ersetzt. Das ius soli ermöglicht die Beantragung der Staatsbürgerschaft für Personen mit nicht-deutscher Abstammung, die sich über längere Zeit auf deutschem Boden angesiedelt haben und bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Mit der sozialdemokratisch-grünen Regierung unter Führung von Bundeskanzler Gerhard Schröder bekannte sich Deutschland Anfang der 2000er Jahre schließlich mit der Verabschiedung eines

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neuen Einwanderungsgesetzes dazu ein Einwanderungsland zu sein. Im August 2000 wurde eine befristete »Green Card«-Regelung (IT-ArGV3) umgesetzt, um die Immigration von hochqualifizierten Personen aus dem IT-Sektor nach Deutschland zu stimulieren. Einige der Beschränkungen wurden schließlich durch § 6 IT-ArGV gelockert und führten in der Folge zu Ausweitungen der Zuwanderungserleichterungen auf weitere Branchen und Berufe. 2005 traten die EU-Freizügigkeit und weitere Lockerungen im Zuwanderungsgesetz in Kraft (vgl. FreizügG / EU4). Damit wurden zum ersten Mal legale Wege für die dauerhafte Arbeitsmigration nach Deutschland geschaffen. Seit 2011 existiert eine erweiterte Freizügigkeit für Bürgerinnen und Bürger neuerer EU-Mitgliedstaaten. Die Anwerbung von hochqualifizierten Personen aus dem Ausland war in dieser Zeit nicht nur ein Anliegen der Bundes-, sondern auch der EU-Politik: Im Jahr 2012 wurde ein neues Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur hochqualifizierten Migration etabliert.5 Infolgedessen wurde eine »Blue Card« der EU für Hochschul- und Berufsbildungsabsolventen bzw. -absolventinnen, Personen, die in MINT-Berufen tätig sind, und Selbständige, die einen jährlichen Mindestlohn beziehen, eingeführt – zunächst als befristeter Aufenthaltstitel mit der Möglichkeit des Wechsels in eine unbefristete Niederlassungserlaubnis (vgl. Laubenthal 2014). Als Antwort auf den akuten Fachkräftemangel in vielen Ausbildungsberufen trat zum 01. 03. 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG6) in Kraft, was weitere Lockerungen für die Arbeitsmigration mit sich brachte und den Arbeitsmarktzugang auch für Fachkräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union erleichterte. Diese Änderung geht mit einer Öffnung des Arbeitsmarktes auch für ausländische Nichtakademikerinnen und Nichtakademiker, mit einer Erleichterung der Arbeitssuche für ausländische Personen sowie mit vereinfachten Visums- und Anerkennungsmöglichkeiten für Fachkräfte und verbesserten Bedingungen für deren Niederlassung in Deutschland einher.7 Auf die oben nachgezeichnete Weise hat sich das sehr restriktive deutsche Arbeitsmigrationsregime zu einem der liberalsten überhaupt entwickelt (vgl. OECD 2013) und in der Selbstpositionierung einen Wandel von einer Negierung 3 Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (siehe: https://www.buzer.de/gesetz/5370/in dex.htm) (08. 05. 2021). 4 https://www.gesetze-im-internet.de/freiz_gg_eu_2004/BJNR198600004.html#:~:text=Gesetz %20%C3%BCber%20die%20allgemeine%20Freiz%C3%BCgigkeit%20von%20Unionsb%C3% BCrgern%20%28Freiz%C3%BCgigkeitsgesetz%2FEU,Bescheinigung%20%C3%BCber%20das %20Daueraufenthaltsrecht.%20…%20Weitere%20Artikel…%20 (03. 05. 2021). 5 https://www.sachsen.de/en/download/Gesetzblatt8_Juni2012.pdf (03. 05. 2021). 6 https://fachkraefteeinwanderungsgesetz.de/wp-content/uploads/2019/12/Fachkraeftegesetz.p df (03. 05. 2021). 7 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Infothek – Fachkräfteeinwanderungsgesetz (03. 05. 2021).

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ein Einwanderungsland zu sein hin zu einer Akzeptanz dessen gezeigt. Die Veränderungen in der Selbstpositionierung auf migrationspolitischer Ebene stehen allerdings in engem Zusammenhang mit wirtschaftlichen Entwicklungen (vgl. z. B. Gosh 2011; Markus 1993; Hell 2005; Menz 2010) und erleichtern vor allem die Zuwanderung von Personen, die aus wirtschaftlicher Sicht gebraucht werden. Die Veränderungen im Einwanderungsregime gehen mit einem Wandel des Einwandererimages einher. Nachdem in den 1980er Jahren ein sogenanntes »Ausländerproblem« diagnostiziert wurde und ein negatives Bild von Einwanderern und Einwanderinnen gezeichnet wurde, das auf die geringen Sprachkenntnisse und die Separierung der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen abstellte, wurden Einwanderer und Einwanderinnen von verschiedenen Interessensgruppen um die Jahrtausendwende als Ressource propagiert, die für das Wirtschaftswachstum in Deutschland in Schlüsselbereichen notwendig sind und die Folgen des demographischen Wandels abmildern könnten. Smarte indische Softwareentwickler und Softwareentwicklerinnen strahlen dem Leser bzw. der Leserin in dieser Zeit aus Zeitungsberichten und Reports entgegen und wecken Sympathien. Parallel zur Aufwertung der Arbeitsmigration von Fachkräften, die mit Engpässen auf dem deutschen Arbeitsmarkt einhergeht, entwickelte sich in den Folgejahren von 2015 jedoch mit den stark gestiegenen Zahlen der ungesteuerten Fluchtmigration eine zunehmend ablehnende Haltung vorwiegend gegenüber muslimischen Zuwanderern und Zuwanderinnen (vgl. Holmes / Castaneda 2016). Zwar gab es eine anfängliche positive Stimmung in der deutschen Bevölkerung und Bilder mit Personen, die Banner mit dem Titel »Refugees Welcome« hochhalten, gingen um die Welt, jedoch erstarkt der populistische Diskurs, der die Nutzlosigkeit, Bildungsferne und Gefahr von muslimischen Zuwanderern bzw. Zuwanderinnern und Geflüchteten unterstreicht. Soziale Bewegungen wie PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) ziehen Tausende in ihren Bann und die relativ neue rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) erhielt bei den Bundestagswahlen 2017 einen bemerkenswerten Wahlerfolg. Sie wurde drittgrößte Partei im deutschen Bundestag. Zu der pauschal abwertenden Haltung gegenüber Geflüchteten und muslimischen Zuwanderern bzw. Zuwanderinnen durch populistische Gruppen beigetragen haben vereinzelte negative Ereignisse, wie etwa die Silvesternacht in Köln 2016 (vgl. Diehl / Blohm / Degen 2020), bei der es zu sexuellen Übergriffen durch Personen aus dem mittleren Osten kam, sowie verschiedene Terroranschläge in Europa. Diese trugen zu einer medialen Dämonisierung der Geflüchteten bei und das Bild von nicht integrationswilligen, das Christentum verachtenden muslimischen Einwandernden verhärtete sich zunehmend (vgl. Klemm 2017) und griff Argumente auf, die bereits in früheren Zeiten von verschiedenen Politikern wie Helmuth Kohl oder Markus Söder gegen

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Immigration herangezogen wurden. Der populistische Diskurs, dem sich auch auf europäischer Ebene zunehmend mehr Menschen anschließen (vgl. Vollmer / Karakayali 2017), schürt das negative Bild von Geflüchteten und geht einher mit der Idee von Geflüchteten, die aufgrund von Radikalisierungstendenzen keinen Schutz verdienten. (Muslimische) Religion und kriminelle Handlungen werden oft als zusammengehörig diskutiert und führten zur Bildung von antiislamischen sozialen Bewegungen, wie die Organisation PEGIDA, die in Artikel 3 ihres Programmes fordert: »Deutschland muss ein Zuwanderungsgesetz schaffen und umsetzen: nach demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten. Qualitative Zuwanderung statt ungeregelter Masseneinwanderung muss garantiert werden!« 8 Ungeregelte Masseneinwanderung bezieht sich dabei auf Fluchtmigration, die per definitionem schwer steuerbar ist. Zudem wird von denselben Akteuren und Akteurinnen ein Bild von Wirtschaftsflüchtlingen gezeichnet, das ebendiese als Personengruppe zeigt, die lediglich auf der Suche nach finanziellen Vorteilen ist und deswegen ebenfalls keines gesonderten Schutzes bedarf. So schreibt die AfD zum Beispiel: Das hohe Niveau der deutschen Sozialleistungen zieht sowohl aus anderen EU-Staaten als auch aus Drittstaaten zahlreiche Armutszuwanderer an. Hierbei werden die Freizügigkeit in der EU bzw. das Asylrecht missbraucht, um sich Zugang zum Sozialsystem zu verschaffen. Diesem Missbrauch wollen wir einen Riegel vorschieben.9

Auch der geringe Nutzen von Geflüchteten wird betont. Die Welt schreibt in diesem Zusammenhang am 21. 12. 2017: »Flüchtlinge passen nicht zum deutschen Ausbildungssystem«10 und CSU-Politiker Markus Söder unterstreicht 2017, dass die hohe Zahl an Geflüchteten aus anderen Kulturkreisen eine Gefahr darstelle, weil diese Personen nicht integrierbar seien.11 Nutzenbringende Zuwanderung wird hingegen auch in den Folgejahren zur sogenannten »Flüchtlingskrise« von Gruppen favorisiert, die Migranten und Migrantinnen gegenüber ansonsten wenig offen sind. So schreibt die AfD im gleichen Kontext: »Wir wollen selbst entscheiden, wer zu uns kommt, und ausschließlich qualifizierten Zuzug zulassen!«12 Geringe Nützlichkeit wird in diesem Diskurs oft mit kultureller und religiöser Distanz begründet, in dem muslimischen Personen pauschal ein geringerer Integrationswille zugeschrieben wird, der wiederum auch die Einglie-

8 https://www.pegida.de/ (unter dem Reiter »Programm« unter Punkt 3) (03. 02. 2021). 9 https://www.afd.de/zuwanderung-asyl/ (unter dem Stichwort: »Keine weitere Einwanderung in die Sozialsysteme«) (03. 02. 2021). 10 Berufsausbildung: Flüchtlinge passen nicht ins deutsche System – WELT (12. 05. 2021). 11 https://www.welt.de/wirtschaft/article171748044/Berufsausbildung-Fluechtlinge-passen-nic ht-ins-deutsche-System.html (05. 05. 2021). 12 https://cdn.afd.tools/wp-content/uploads/sites/111/2018/01/AfD_Bund_Flyer_8-Seiter_Zuw anderung_01-18_RZ_FLY.pdf (03. 02. 2021).

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derung in den Arbeitsmarkt erschwere und somit ihren wirtschaftlichen Nutzen minimiere. Es lässt sich dementsprechend seit der sogenannten Flüchtlingswelle um 2015 eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung beobachten (vgl. dazu auch die Diskursanalyse von Stahl / Felfeli in diesem Band), die das vergleichsweise positive Einwanderungsklima der letzten 20 Jahre wieder aufweicht. Während die einen Migration generell und unabhängig von ihrem Nutzen befürworten und am uneingeschränkten Recht auf Asyl festhalten, lassen sich zum anderen zunehmend auch Gegnerinnen und Gegner bzw. Skeptikerinnen und Skeptiker finden. So stehen z. B. Bündnis 90 / die Grünen zu Migration in all ihren Facetten und betonen, dass Zuwanderung auch jenseits von wirtschaftlichem Nutzen für diejenigen möglich sein muss, die Hilfe brauchen: Die Zahl der Menschen, die vor Krieg, politischer Vertreibung und Gewalt fliehen, steigt weltweit an, immer stärker auch die Anzahl derjenigen, die wegen Umweltzerstörungen und den Folgen der Klimakrise ihre Heimat verlassen müssen. […] Wir Grüne bekennen uns zum Grundrecht auf Asyl und zu einer Flüchtlingspolitik, die auf Menschenrechten und dem Schutz für Flüchtlinge gründet.13

Das negative Image von Geflüchteten, das sich in das kollektive Gedächtnis bzw. in die kognitiven Institutionen eines zunehmend größeren Teils der Bevölkerung eingeschrieben hat, geht auch mit einem gewissen Grad an Resistenz bei deutschen Unternehmen einher Geflüchtete einzustellen, da in Teilen eine Inkompatibilität mit der deutschen Arbeitskultur vermutet wird (vgl. Rump / Eilers 2017). So geben bei einer Umfrage des Instituts für Beschäftigung und Employability IBE 2016 22 % der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an keine Möglichkeit zur Beschäftigung von Geflüchteten zu sehen (Rump / Eilers 2017, 202). Sprachliche Barrieren sind dabei neben fehlenden fachlichen Qualifikationen die Hauptargumentationsmuster (vgl. a. a. O., 207). Aber auch negative Stereotype erschweren den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ca. ein Drittel der Befragten (36 %) sieht kulturelle Barrieren als gewichtige Hürde an (vgl. ebd.).14 Es ist jedoch ein großes Anliegen der Regierungsmehrheit ihre Asylpolitik zu legitimieren und dabei die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten voranzutreiben, um sozialen Frieden herzustellen und der Gefahr entgegenzuwirken, Wählerstimmen an rechtspopulistische Parteien zu verlieren. Entsprechend wurden Asylantragszahlen durch verschiedene Maßnahmen gesenkt und es wurde versucht mit integrationsunterstützenden Maßnahmen negative Konsequenzen der Einwanderung abzumildern. So gibt es in den Jahren nach 2015 13 https://www.gruene.de/themen/fluechtlinge (12. 05. 2021). 14 Mit steigender Größe der Unternehmen nimmt aber auch die wahrgenommene Problematik der Hürden ab und die Bereitschaft zur Einstellung von Geflüchteten zu (vgl. Rump / Eilers 2017, 207).

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vermehrt Fördergelder, die darauf ausgerichtet sind die Arbeitsmarktintegration voranzutreiben. Adressaten und Adressatinnen der Fördergelder sind meist Schlüsselakteure der deutschen Wirtschaft, die eine Multiplikator- und Vermittlerfunktion innehaben. Zu nennen sind hier zum Beispiel die deutschen Kammern, die im Fokus des vorliegenden Beitrags stehen. Ihre Aufgabe ist es zwischen Wirtschaftsakteuren und Geflüchteten zu vermitteln und eine Anstellung von Geflüchteten zu ermöglichen, indem sie gezielt mit verschiedenen Aktivitäten deren Qualifizierung, Bewerbung und Integration unterstützen. In diesem Zusammenhang werden von vielen Kammern Best-Practice-Beispiele veröffentlicht, die ein positives Image von Geflüchteten als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbreiten. Vor dem Hintergrund dessen, dass (v. a. bei kleineren Unternehmen) gewisse Vorbehalte und Ängste im Hinblick auf die Einstellung von Geflüchteten bestehen (siehe oben), kann also davon ausgegangen werden, dass deren Verbreitung darauf abzielt, das Bild von Geflüchteten positiv zu beeinflussen und die Anstellungsbereitschaft bei Unternehmen zu erhöhen. Dementsprechend kann dies als eine Form von Institutional Work betrachtet werden. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages steht die Frage, inwiefern Akteurinnen und Akteure über die Verbreitung von Best-PracticeBeispielen Institutional Work betreiben. Dazu ist es zunächst notwendig definitorische Grundlagen zu legen, was Ziel des folgenden Kapitels ist.

3

Institutional work

Innerhalb der Organisationsforschung ist die institutionentheoretische Auseinandersetzung mit Organisationen eine anerkannte Strömung, welche zunächst die theoretische Grundlage für ein makrosoziologisches Verständnis von Organisationsfragen geschaffen hat (vgl. Lawrence / Suddaby / Leca 2011). Aus einer erweiterten Perspektive heraus basiert Institutional Work auf der strukturationstheoretischen Annahme, dass Aktivitäten einerseits in institutionelle Strukturen eingebettet sind und Akteure und Akteurinnen diese umgekehrt aber auch neu produzieren und transformieren können (vgl. Lawrence / Suddaby / Leca 2011, 52). Dementsprechend geht der Ansatz nicht wie andere theoretische Perspektiven (z. B. der Neo-Institutionalismus) von einer Determination durch Institutionen aus, sondern beinhaltet auch eine Bottom-up-Perspektive. The study of institutional work takes as its point of departure an interest in work – the efforts of individuals and collective actors to cope with, keep up with, shore up, tear down, tinker with, transform, or create anew the institutional structures within which they live, work, and play, and which give them their roles, relationships, resources, and routines. (Lawrence / Suddaby / Leca 2011, 53)

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Institutionen können dabei als sozial konstruierte Handlungsvorlagen definiert werden (vgl. Barley / Tolbert 1997, 94), die sich in vorstrukturierten Erwartungen, Denkmustern und sozialen Normen widerspiegeln, aber auch in gesellschaftlichen Strukturen, politischen und rechtlichen Ordnungen sowie kulturellen Praktiken etc. (vgl. Hasse / Krücken 2008). Nach Scott (2001) setzen sich Institutionen aus kulturell-kognitiven, normativen und regulativen Elementen zusammen. Als kognitive Institutionen können kulturell verfestigte Deutungsmuster beschrieben werden, auf deren Basis Akteurinnen und Akteure vorwiegend unbewusst agieren, indem diese Institutionen als Wahrnehmungsfilter agieren. Sedimentiert sind diese Institutionen in kollektiven Gedächtnissen einer Gesellschaft (vgl. Halbwachs 1991). Normative Institutionen umfassen Normen und Werte einer Gesellschaft und vermitteln ein Bild über wünschenswerte Zustände. Regulative Institutionen begrenzen dabei Verhaltensmöglichkeiten von Akteurinnen und Akteuren, indem sie formale Regeln beinhalten, die die Basis von Sanktionen sind. Zusammen mit den damit verbundenen Aktivitäten und Ressourcen verleihen Institutionen dem sozialen Leben Stabilität und Sinn. Institutional Work befasst sich dabei mit (dem Versuch) der aktiven Veränderung von Institutionen durch involvierte Akteurinnen und Akteure (vgl. Lawrence / Suddaby 2006). Institutional Work kann durch verschiedene Strategien wie z. B. Lobbyismus, Veränderung normativer Assoziationen oder Bildung vorangetrieben werden (vgl. Lawrence / Suddaby 2006, 221), welche im Einzelfall auf empirischer Basis ausgemacht werden müssen. Analog zur Unterteilung von Scott (2001) können sich diese Veränderungen auf regulative Richtlinien und Gesetze, Normen oder kulturell-kognitive Annahmen des kollektiven Gedächtnisses beziehen. Es ist anzunehmen, dass vor allem kollektive Akteurinnen und Akteure wie Organisationen aufgrund der Ressourcenzusammenlegung erfolgreich Institutional Work betreiben können. Dementsprechend wird sich hier mit den Strategien der deutschen Kammern auseinandergesetzt, die die Hauptempfänger von staatlichen Fördermitteln zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten sind und aufgrund ihrer Reichweite als mächtige Akteure im Feld angesehen werden können, die aktiv Lobbying betreiben und gezielt Einfluss nehmen – so auch bei der Verbreitung der oben genannten Best-Practice-Beispiele. Aufgrund ihrer besonderen Organisationsform haben Kammern eine vermittelnde Position zwischen Staat und Unternehmen: Sie übernehmen Aufgaben des Staates und sind Ansprechpartner für Politik und Verwaltung, sammeln und vertreten aber auch die Interessen und Anliegen der Mitgliedsunternehmen. Sie sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und weisen eine besondere Form von Mitgliederorganisation mit einer Pflichtmitgliedschaft auf (vgl. Thieme 1977), d. h. alle Unternehmen sind in einer der deutschen Kammern registriert.

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Kammern vertreten die Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen und bieten Dienstleistungen wie z. B. Beratung in technischen, finanziellen oder rechtlichen Fragen sowie berufliche Aus- und Weiterbildung durch eigene Berufsbildungszentren an. Neben der Dienstleistungsfunktion haben sie auch eine Aufsichtsfunktion. Sie prüfen und überwachen die gesetzlichen Regelungen und verwalten die Lehrlingsrolle, indem sie neue Auszubildende registrieren, dokumentieren und deren Ausbildung begleiten. Ihre Aktivitäten im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten spiegeln aufgrund ihrer Spezifika sowie aufgrund des Beziehens von öffentlichen Fördergeldern politische Ziele wider, sind jedoch aufgrund der intermediären Position zwischen Staat und Wirtschaft auch auf die Bedürfnisse ihrer Mitgliedsunternehmen ausgerichtet (vgl. Maletzky de García 2021). An die Fördergelder sind spezifische Vorgaben der jeweiligen Integrationsprogramme gekoppelt; sie beinhalten klare Anforderungen an die Umsetzung der Maßnahmen. So wurden im Rahmen des Regierungsprogramms »Passgenaue Besetzung« (vgl. Fußnote 2) rund 180 Stellen für sogenannte »Willkommenslotsen« geschaffen, die größtenteils bei den Kammern angesiedelt sind und von der Bundesregierung finanziert werden. Die Aufgabenbeschreibung der Willkommenslotsen bezieht sich auf die Verbesserung der Chancen zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten: Diese werden mit Betrieben zusammengebracht und der Prozess der Eingliederung in eine Berufsausbildung wird unterstützt. Um Unternehmen zu überzeugen, werden vielfach Beispiele gelungener Arbeitsmarktintegration herangezogen. Es kann dabei angenommen werden, dass diese Veröffentlichungen das Ziel haben einerseits die Integrationskraft von Wirtschaftsorganisationen aufzuzeigen und andererseits den Diskurs um geflüchtete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Seiten der Mitgliedsorganisationen positiv zu beeinflussen und somit Institutional Work zu betreiben.

4

Methodische Erläuterungen

Der vorliegende Beitrag basiert auf einer Analyse von Erfahrungsberichten über die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, die von den deutschen Industrieund Handelskammern sowie den Handwerkskammern veröffentlicht wurden. Der Fokus auf Geflüchtete begründet sich dabei aus dem Interesse an Institutional Work. Aufgrund des an diese Migrantengruppe gekoppelten polarisierten Diskurses, eignet sich dieser Kontext insbesondere dafür, Strategien zur Beeinflussung desselben zu betrachten. Im Hinblick auf den Akteursfokus (die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern) lässt sich Folgendes konstatieren: Diese beiden Kammertypen sind die größten deutschen Kammern. Sie gehören, wie oben

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bereits erwähnt, zu den wichtigen Akteuren der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten und sind Empfänger von öffentlichen Geldern zum selben Zweck. Aufgrund ihrer intermediären Position zwischen Staat und Wirtschaft haben sie eine Multiplikator- und Mittlerfunktion inne und dienen als Sprachrohr für öffentliche und wirtschaftliche Anliegen, was sie zu interessanten gesellschaftlichen Akteuren macht. Einerseits vertreten sie aufgrund der Finanzierung durch öffentliche Geldgeber zu einem gewissen Grad Regierungsinteressen, andererseits betreiben sie aber auch durch die Interessensvertretung ihrer Mitgliedsorganisationen Lobbying (vgl. Maletzky de García 2021). Somit lässt sich nicht zuletzt aufgrund ihrer Eigenschaft als gewichtige kollektive Akteure eine Relevanz im Kontext von Institutional Work vermuten. Zum Zweck der Untersuchung wurde auf den Internetseiten aller 79 deutschen Industrie- und Handelskammern sowie der 53 Handwerkskammern mit den Schlagworten »Geflüchtete« und »Flüchtlinge« nach Veröffentlichungen und Dokumenten zu Geflüchteten gesucht. Alle Veröffentlichungen wurden im Kontext eines breiteren Forschungsprojektes analysiert und kategorisiert. Neben Informationen zu rechtlichen Rahmenbedingungen zur Anstellung und zu Weiterbildungsmöglichkeiten von Geflüchteten fanden sich auf den Internetseiten der Kammern Erfahrungsberichte. Diese hoben sich von den anderen Dokumenten ab, da sie über reine Informationsweitergabe hinausgingen und auf Erzählungen basierten, die aufgrund einer blumigen Sprache oft metaphorisch ausgeschmückt waren, sodass hier eine andere Intention und empirische Relevanz vermutet werden konnte als bei den anderen Dokumenten. Aufgrund der an Erzählungen orientierten Textform zeigte sich in diesen Texten eine metaphorische Relevanz, sodass sich neben der Methode der reinen Inhaltsanalyse eine Metaphernanalyse anbot. Die Metaphernanalyse ist eine offene, rekonstruktive Analysemethodik mit der »Grundfrage, wie durch die An- bzw. Verwendung sprachlicher Zeichen bzw. Symbole (sozialer) Sinn konstruiert wird.« (Kruse / Biesel / Schmieder 2011, 8). Die Verbreitung von durchweg positiven Erfahrungsberichten wird hierbei als eine Strategie der Beeinflussung und somit als Instrument von Institutional Work angesehen, indem gezielt Bilder verbreitet werden, die sich im kollektiven Gedächtnis der Empfängergruppen verankern und so vermutlich deren Entscheidung für eine Anstellung von Geflüchteten beeinflussen sollen. Die Analyse dieser Veröffentlichungen bietet sich an, da ausgehend von einer konstruktivistischen Ontologie vorausgesetzt werden kann, dass Sprache ein wichtiges Element bei der Konstruktion von Wirklichkeit ist. In diesem Zusammenhang schreibt Hülsse (2003, 215):

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Doch Wirklichkeit wird nicht nur auf der Textoberfläche konstruiert, sondern auch unterhalb dieser, durch die Art und Weise, wie etwas gesagt wird. […] Es ist also nicht nur bedeutsam (im Sinne von Bedeutung schaffend), welche Argumente ich gebrauche, sondern auch, wo ich Pausen setze, in welchem Tonfall und welcher Lautstärke ich spreche, was für rhetorische Fragen ich stelle und – neben vielem anderen – eben auch, was für Metaphern ich auf welche Weise verwende.

Eine Metaphernanalyse ist im Kontext dieser Studie sinnvoll, da Metaphern die menschliche Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewertung durch Bilder beeinflussen (vgl. ebd.). Eine Metapher ist dabei das Phänomen des bildhaften Sprechens und kann eine primäre semantische Texteinheit durch eine sekundäre ersetzen oder erweitern (vgl. Niedermair 2001; Schmitt 1995). Metaphern sind z. B. wichtiger Bestandteil des politischen Diskurses, indem sie Wirklichkeit konstruieren (vgl. ebd.). Vor allem die kritische Metaphernanalyse geht davon aus, dass der intentionale Gebrauch bestimmter Metaphern diskursive Strukturen verändern kann und dass Metaphern sozio-politische Machtstrukturen reflektieren, die es zu entschlüsseln gilt (vgl. z. B. Charteris-Black 2004). Dementsprechend eignet sich die Metaphernanalyse insbesondere um Prozesse des Institutional Work nachzuzeichnen, bei denen die Veränderung diskursiver Strukturen als eine grundlegende Strategie von Lobbying und Überzeugungsarbeit angesehen werden kann (vgl. Lawrence / Suddaby 2006, 221). Zur Korpuserstellung für die Analyse wurden die relevanten Veröffentlichungen aus den Jahren 2016–2020 zusammengetragen und mit der Software MAXQDA analysiert. In die Analyse mit eingeflossen sind alle Dokumente, die konkrete Beispiele für die Anstellung von Geflüchteten enthielten (n = 54 Erfahrungsberichte der IHKs, n = 45 Erfahrungsberichte der Handwerkskammern). Da eine Metaphernanalyse als alleinige Methode nicht zielführend ist (vgl. Kruse / Biesel / Schmieder 2011; Hülsse 2003), wurde ein offenes Kodierverfahren angewendet, um die Texte induktiv aufzubrechen und metaphorische Stellen herauszuarbeiten sowie mit dem weiteren Kontext in Beziehung zu setzen. So schreibt Hülsse (2003, 222): Als intertextuelle Elemente sind Metaphern textübergreifende Referenzpunkte und stellen als solche eine gewisse Einheitlichkeit des Diskurses sicher, sie stabilisieren die Bedeutungen, die durch den Diskurs hergestellt werden. […] Die besondere Bedeutung von Metaphern erschöpft sich jedoch nicht in ihrer intertextuellen Funktion. Metaphern verknüpfen nämlich nicht nur verschiedene Texte innerhalb eines Diskurses, sondern sind zugleich auch Scharniere zwischen verschiedenen Diskursen.

Dabei wurden alle Textstellen mit Aussagen zur Arbeitsmarktintegration in einem induktiven Prozess kodiert. Die Liste umfasste insgesamt 613 Codings und 193 Codes und Obercodes. Metaphorische Stellen wurden in MAXQDA mit sog. »Invivo Codes« versehen. Diese Invivo Codes wurden in einem zweiten Schritt in

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übergeordnete Kategorien gruppiert. Unter Herstellung einer »künstlichen Dummheit« (Hitzler 1993, 230) wurden relevante Textstellen und Metaphern identifiziert und interpretiert. In einem zweiten Schritt wurden Metaphergruppen gebildet und es wurde eine intertextuelle Verarbeitung der Einzelergebnisse (vgl. Hülsse 2003) durchgeführt, die diese Metaphern in den größeren Kontext – den breiteren Immigrations- und Geflüchtetendiskurs (vgl. Kap. 2 »Deutschland als Einwanderungsland«) – ›zurück‹-bettet und mit dessen Inhalten vergleicht. Zu den identifizierten Oberthemen gehörten Textpassagen mit Bezug zu den Gründen für Einstellungen von Geflüchteten, Kritik an politischen Maßnahmen und Hürden bei der Einstellung von Geflüchteten, mitleiderregende Passagen mit Bezug zum Heimatland sowie mit Gründen für die meist unfreiwillige Auswanderung, die Darstellung der Deutschen als Helfer, Chancengeber und als Vorreiter (Heldenreise) sowie die durchweg hohe Zufriedenheit der deutschen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Tab. 1: Überblick über die wichtigsten Obercodes, Codes und Metaphern (Quelle: eigene Darstellung). Themen Allgemeine Informationen zur Anstellung von Geflüchteten

Obercodes

Codes

Gründe für EinstelUtilitarismus / Fachlung von Geflüchteten kräftemangel Hürden und Kritik an Politischen Maßnahmen Zufriedenheit der deutschen Arbeitgeber

Beispiele für Metaphern »Flüchtlingswelle … ein Segen«

Kritik an Abschiebung komplizierte Einstellungsverfahren ein Glück für den Be- »… dass Sie zueinantrieb der gefunden haben« für Mitarbeiter kämp- »Flagge zeigen« / Türfen öffner sein Offen sein

Deutsche als Helfer und Chancengeber

Bild der deutschen Akteure

Betrieb als »Familie« »Unter die Arme greifen« »klare Spielregeln vereinbaren« »sich in unbekannte Entgegen dem Gewässer begeben« negativen Diskurs das »Über den Tellerrand Risiko der Anstellung schauen« Deutsche als Vorreiter von Geflüchteten »Gegen den Strom und Abenteurer eingehen schwimmen« »richtete den Kompass neu aus« »etwas vormachen« Begleiten / Helfen/ Fürsorge

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(Fortsetzung) Themen

Obercodes

Codes

Hervorhebung der Einzelschicksale durch Mitleid erregende Passagen

Bezug zu Heimat und Verlust, Bomben, Krieg, Zerstörung Hilfsbedürftigkeit eine Entwicklung durchmachen

Verniedlichung

Kindliche / verniedlichende Eigenschaften der Geflüchteten

Begeisterungsfähigkeit / Emotionalität

Bild von den Geflüchteten

Beispiele für Metaphern

Geflüchteter als Familienmitglied »Vom IT Bastler zum Fachinformatiker«, Geflüchteter als »Rohdiamant«, etwas meistern, auf neuen Routen in die Ausbildung »Fuß fassen« »sich pudelwohl fühlen«, »in etwas hinein schnuppern«, »büffeln«, , »frisch gebackene Fachkraft« etwas »ergattern« »um etwas fiebern«

Mut Passivität Dankbarkeit Verlorenheit Fleiß Strebsamkeit

Hohe LeistungsbereitPerseveranz schaft der Geflüchteten Engagement / Eigeninitiative

Bildungsnähe der Geflüchteten

»kämpfen« »das sprichwörtliche Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht« »langer Atem« Feuereifer

Macher- Mentalität Motivation gute Vorbildung Schnelle Auffassungsgabe

»Nägel mit Köpfen machen« »charmanter Nerd auf Erfolgskurs«

Talent

»goldene Hände«

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(Fortsetzung) Themen

Obercodes

Codes

Kreativität Freundlichkeit Dankbarkeit Verlässlichkeit Sorgfalt Positive Eigenschaften Höflichkeit gute Sprachkenntnisse der Geflüchteten Kundenorientierung Chancen nutzen Herzlichkeit Charisma Pünktlichkeit

Beispiele für Metaphern »arabische Gastfreundschaft«

Beschreibungen der Geflüchteten wiesen zumeist eine Betonung kindlicher / verniedlichender Eigenschaften sowie eine generelle Betonung positiver Eigenschaften der Geflüchteten (wie eine hohe Leistungsbereitschaft und Bildungsnähe) auf. Gerade in Textstellen, in denen Geflüchteten kindlich-verniedlichende Eigenschaften zugeschrieben werden und in denen auf deren hohe Leistungsbereitschaft rekurriert wird, häufen sich die Kodierungen sowie die metaphorischen Darstellungen, was auf ihre Wichtigkeit hindeutet. Tabelle 1 gibt einen Überblick über Oberthemen und -kategorien, Unterkategorien und Beispielmetaphern.

5

Erfahrungsberichte über die Einstellung von Geflüchteten

Die analysierten Erfahrungsberichte auf den Websites der deutschen Kammern spiegeln durchweg eine ähnliche Logik wider: Im Mittelpunkt der Beschreibungen stehen einzelne Geflüchtete und ihre Geschichte sowie deren deutsche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die sich über die Zusammenarbeit äußern. Betont werden immer wieder individuelle Geschichten und Einzelschicksale, die vereinzelt auch Bezüge zur Fluchterfahrung aufweisen. »Die Taliban haben mein Leben unmittelbar bedroht«, berichtet er mit leiser Stimme. Von Afghanistan aus überquerte er in wenigen Monaten acht Landesgrenzen, bis er in Deutschland landete. Diese organisatorische Leistung und sein handwerkliches Talent kamen bei Küchler gut an.15 (Herv. M. MdG.)

15 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/auf-neuen-routen-in-die-ausbildung-3932308 (11. 02. 2021).

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Die emotionalen Konnotationen dieses beispielhaften Schicksals eines Geflüchteten werden durch die Betonung der Erzählung mit einer »leise[n] Stimme« verstärkt. Durch den Bezug zwischen dem allgemeinen Organisationstalent und arbeitsbezogenen Ressourcen werden die gemachten Erfahrungen gewürdigt und in den Arbeitskontext transferiert. Dies kommt vielfachen Rufen nach, dass man auch informelle Qualifikationen betrachten müsse und nicht nur formale Abschlüsse, deren Berücksichtigung oft zu dem Schluss führt, dass Geflüchtete keine nützlichen Kompetenzen mitbrächten. Auch im folgenden Zitat wird die erzwungene Auswanderung thematisiert: Durch die Flucht verliert er seine sorgfältig aufgebaute Existenz und ein beruflicher Neuanfang bietet sich nun in Deutschland als einzige Möglichkeit zur Integration.16

In der Darstellung der Akteure sind Muster erkennbar, die im Folgenden genauer beschrieben werden.

5.1

Inhaber und Inhaberinnen des Betriebs als Abenteurer und verantwortungsbewusste Vorreiterinnen und Vorreiter

Im Kontext des Verhältnisses zwischen Geflüchteten und deutschen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern folgen die Berichte vielfach einer Logik, die der Grundstruktur einer Heldenreise ähnelt: Ein deutscher, aufgeschlossener und vielfach abenteuerlustiger Arbeitgeber nimmt entgegen einer grundlegend vorherrschenden Skepsis im Umfeld und den damit verbundenen bürokratischen und kulturellen Hürden das Risiko der Beschäftigung eines Geflüchteten auf sich und wird positiv überrascht. Beispielhaft spiegelt das folgende Zitat diese Logik wider: Kaum Deutschkenntnisse, unsicherer Aufenthaltsstatus: Flüchtlinge scheinen keine idealen Bewerber um Ausbildungsplätze zu sein. Völlig andere Erfahrungen macht derzeit das Landhotel »Am Zault« am Unterbacher See in Düsseldorf mit einem jungen Syrer, der dort zum Koch ausgebildet wird.17

Adressiert wird hier die allgemeine Skepsis gegenüber der Einstellung von Geflüchteten; das negative Image, das in einigen Bevölkerungsgruppen gegenüber Geflüchteten vorherrscht, wird aufgegriffen und mit einem Gegenbeispiel widerlegt. 16 https://www.sihk.de/servicemarken/projekte/integration-von-fluechtlingen2/best-practice2/ erco-3831502 (06. 05. 2021). 17 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/fluechtling-wird-fachkraft-ausbildung-im-landhotel-am-zault-3624048 (08. 02. 2021).

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Bei der Beschreibung der Unternehmerinnen und Unternehmer wird oft die Aufgeschlossenheit für Neues betont und vielfach mit Abenteuermetaphern ausgeschmückt. Im Folgenden steht der Kompass für das sprichwörtliche Betreten von Neuland: Eine junge Digital Agentur und Unternehmensberatung suchte dringend Nachwuchs, richtete den Kompass neu aus und wurde fündig.18 (Herv. M. MdG.)

Ein anderer Erfahrungsbericht weist in dieselbe Richtung: Anderen Betrieben rät Clemens, keine Angst zu haben. »Zu Beginn kann Integration in unbekannte Gewässer führen und eine neue unternehmerische Herausforderung darstellen. Aber das Engagement und der Einsatz lohnen sich, denn die Flüchtlinge danken es mit Motivation, Engagement und Treue zum Unternehmen.«19 (Herv. M. MdG.)

Die Begriffe »Kompass« und »unbekannte Gewässer« wecken Assoziationen von Pfadfindertum und Abenteuer. Vielfach wird indirekt eine Vorbildfunktion der Betriebe angesprochen: »Wir haben diskutiert und uns dann dafür entschieden, Flagge zu zeigen und zu helfen. Das ist unser soziales Projekt für die nächsten drei Jahre.«20

Die Formulierung »Flagge zeigen« steht dabei für den Versuch Sichtbarkeit herzustellen und die eigene Positionierung deutlich zu machen. In diesem Kontext wird auch mehrfach die eigene gesellschaftliche Verantwortung thematisiert. So sagt ein anderer Unternehmer: Für uns ist es eine gesellschaftliche Pflicht, Flüchtlinge zu unterstützen.21

Weitere Gründe für die Einstellung von Geflüchteten sind oftmals strukturelle Zwänge wie Fachkräftemangel, die neue Wege notwendig machen. »Kleine und mittelständische Unternehmen haben es im Zeitalter des demographischen Wandels und der Akademisierung zunehmend schwer Bewerber für die duale Ausbildung zu finden. Der Fachkräftemangel bleibt ein Topthema und Geschäftsrisiko für die Betriebe. Flüchtlinge können diese Lücke zumindest verkleinern«, so Willkommenslotse El Mellah.22 (Herv. i. O.)

18 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/ein-fachinformatiker-aus-afghanistan-3647110 (11. 02. 2021). 19 https://www.ihk-trier.de/p/Willkommen,_Kollege-13-17978.html (03. 05. 2021). 20 https://www.hwk-magdeburg.de/artikel/flagge-zeigen-16,0,3940.html (03. 05. 2021). 21 https://www.ihk-niederrhein.de/topnavigation/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung en2019/ihk-bringt-firmen-und-gefluechtete-ins-gespraech-4421276 (03. 05. 2021). 22 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/auf-neuen-routen-in-die-ausbildung-3932308 (08. 02. 2021).

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»Es wird immer schwieriger, geeigneten Nachwuchs zu finden. Unser Engagement für Geflüchtete ist somit auch eine Chance, dem drohenden Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen«, erklärte Klaus Maas, Geschäftsführer der Unternehmensgruppe.23

In den Erfahrungsberichten werden durchweg die positiven Erfahrungen beschrieben, ferner wird aber auch auf die notwendige Überwindung von (bürokratischen, sprachlichen und teilweise kulturellen) Hürden hingewiesen. Hervorgehoben wird in diesem Kontext in einigen Beiträgen die wertvolle Unterstützung durch Kammervertreterinnen bzw. Kammervertreter oder andere Helferinnen und Helfer mit Verweis auf bundes- oder landesweite Integrationsprogramme, die diese Unterstützung vorantreiben. Zugleich wird konstant auf die sich lohnenden Mühen verwiesen, die mit der starken Betonung der positiven Eigenschaften der Geflüchteten (z. B. Freundlichkeit, Fleiß, Dankbarkeit, Arbeitswille) gerechtfertigt werden und welche vielfach mit kulturellen Zuschreibungen wie etwa der arabischen Gastfreundschaft, einer kulturell bedingten Affinität zu Gründung und Unternehmertum oder mit ausgeprägter Dankbarkeit in Verbindung gebracht werden. Die Win-Win-Situation für Unternehmen und Geflüchtete wird hervorgehoben: Seine gute Auffassungsgabe und große Eigeninitiative überzeugten die beiden Geschäftsführer. »Er ist einfach gut«, freut sich CEO Peter Kühn. »Junge und kompetente Bewerber zu finden, ist seit Jahren ein schwieriges Feld«, so COO, Diana Beer. »Majd spricht bereits gut Deutsch. Er ist freundlich und zurückhaltend – aber was er sagt, hat Hand und Fuß.« Nach seinem erfolgreichen Praktikum bekam Othman bei WMDB Systems die Chance, am 1. September eine Ausbildung zum Fachinformatiker Anwendungsentwicklung zu beginnen. Er lebt seit zwei Jahren in Düsseldorf und ist über das Angebot einfach nur glücklich: »Ich lerne sehr viel von meinen netten Kollegen und freue mich über die Ausbildung«, sagt der junge Mann. Eine Win-Win-Situation für den jungen Flüchtling und das Unternehmen.24 (Herv. i. O.)

Die Anstellung von Geflüchteten wird dabei von Geschäftsführern bzw. Geschäftsführerinnen oft als »Glücksfall«25, »Gewinn«26 oder »Segen«27 beschrieben. Wie die Metapher »Segen« verdeutlicht, tragen die Beschreibungen teilweise auch eine religiöse Konnotation. So verdeutlicht das folgende Zitat das transaktionale Verhältnis der Arbeitsaufnahme schon beinahe in einem schicksalhaften Duktus. 23 https://www.ihk-niederrhein.de/topnavigation/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung en2019/maas-gruppe-findet-fachkraefte-unter-zuwanderern-4374130 (08. 02. 2021). 24 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/charmanter-nerd-auf-erfolgskurs-3901860 (03. 05. 2021). 25 https://www.hwk-muenchen.de/artikel/dachdeckerei-spindler-in-ingolstadt-74,0,7401.html (11. 02. 2021). 26 https://www.hwk-konstanz.de/artikel/halbzeit-fuer-spanische-auszubildende-im-handwerk -64,0,697.html (11. 02. 2021). 27 https://www.ihk-trier.de/p/Willkommen,_Kollege-13-17978.html (11. 02. 2021).

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Die Verwendung der Wortwahl »zueinanderfinden«, die oft im Kontext der Schilderung von Liebesbeziehungen verwendet wird, verdeutlicht die Innigkeit sowie die Unwegsamkeit der Situation. Dass sie zueinander gefunden haben und ein Ausbildungsvertrag zustanden gekommen ist, haben beide auch der 3 + 2 Regelung zu verdanken, die Rechtssicherheit für Asylbewerber während und nach der Ausbildung gewährleistet.28 (Herv. M. MdG.)

Die Beschreibung der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung wird summa summarum auf emotionaler Ebene als überaus positiv betont; beide Seiten werden als »überglücklich« dargestellt. Den emotionalen Charakter der Verbindung verdeutlicht auch eine weitere Metapherngruppe, die oft vorzufinden ist: die Familienmetaphern.

5.2

Der Betrieb als Familie

Betriebe werden explizit als Familie bezeichnet – eine Wortwahl, die oftmals aus den Mündern der zu Wort kommenden Geflüchteten stammt. Dabei werden die deutschen Akteure und Akteurinnen und vor allem wird das Verhalten der Vorgesetzten mit elterlich-erziehenden Metaphern beschrieben, während die Geflüchteten und ihr Verhalten oftmals eher durch Kindheitsmetaphern und verniedlichende Beschreibungen versinnbildlicht werden. Betont werden in diesem Zusammenhang v. a. Lernwille, Freundlichkeit und überdurchschnittlich starke Begeisterungsfähigkeit. Die Analogie von Betrieb und Familie wird im folgenden Textauszug exemplarisch deutlich: Abed El Kader Alabdullah selbst fühlt sich mittlerweile pudelwohl im Autohaus Storz: »Wir sind wie eine kleine Familie.« Ob der Syrer nach der Ausbildung übernommen wird, entscheidet allerdings wie bei allen Auszubildenden die Leistung, denn einen Freibrief habe bei Storz niemand, so der Chef.29

Die Wortwahl »pudelwohl« vermittelt einen vertrauten, kindlichen Eindruck vom Geflüchteten und weckt Assoziationen zu einem jungen, ausgelassenen Hund. Die Metapher »Freibrief« steht in Zusammenhang mit der Rolle des Vorgesetzten. Im Kontext eines Betriebes wird hier auf ein strenges paternalistisches Regiment angespielt. Ursprünglich stammt das Wort Freibrief aus dem Kontext mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse, bei denen Leibeigene in die Freiheit entlassen wurden. Betont wird oft eine väterlich-strenge Rolle der deutschen Vorgesetzten, die in den Beispielen oft männlich sind und den Mitarbeiterinnen 28 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/auf-neuen-routen-in-die-ausbildung-3932308 (05. 05. 2021). 29 https://www.hwk-konstanz.de/artikel/ein-guter-anfang-64,0,956.html (11. 02. 2021).

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und Mitarbeitern Regeln setzen oder ihnen dabei helfen sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Hier spiegelt sich die grundlegende Idee des aktivierenden Sozialstaates »Fordern und Fördern« wider, die auch eine integrationspolitische Grundlage darstellt (vgl. das Integrationsgesetz vom 25. Mai 201630). Dabei liegt der Schwerpunkt in der Darstellung eher auf dem Fördern, da Fordern aufgrund des hohen Commitments in der Regel nicht notwendig erscheint. So schreibt die IHK Ulm: »Die guten Abschlüsse zeigen, dass sich unsere Bemühungen um die Integration von Flüchtlingen in der IHK-Region Ulm gelohnt haben«, zeigt sich IHK-Hauptgeschäftsführer Otto Sälzle erfreut über die positiven Prüfungsergebnisse.31 (Herv. M. MdG.)

Deutsche Akteure und Akteurinnen (Unternehmen, Kolleginnen und Kollegen, Kammermitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Helferinnen und Helfer) nehmen, wie hier zu sehen, in den Beschreibungen zumeist den aktiven Part ein, Geflüchtete dabei eher den passiven. Geflüchtete werden ausgebildet, unterstützt, integriert, ihnen wird geholfen, sie profitieren von Türöffnern, sie werden vermittelt, werden »auf das richtige Gleis gesetzt«32 und »sprachlich […] fit gemacht«33. Geflüchtete, die insgesamt etwas seltener als Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberinnen zu Wort kommen, betonen ihr Angewiesensein auf Hilfe und die Suche nach Halt, was z. B. durch den Willen »Fuß [zu] fassen«34 ausgedrückt wird. Das Erreichte wird oft unter Verweis auf die Hilfe von außen hervorgehoben. In Gera lebt der 25-jährige seit April 2015. Er ist sehr stolz auf das, was er bereits mit Unterstützung der Ostthüringer IHK erreicht hat.35 (Herv. M. MdG.)

Nicht der Akteur an sich ist seines Glückes Schmied, sondern die Co-Akteure, die hierbei als sehr engagiert dargestellt werden. Das Bild einer gewissen Hilfsbedürftigkeit und Unsicherheit der Geflüchteten ist vielfach an Kindheits- und Reifemetaphern gekoppelt. So erinnern in einigen Beispielen ein ausgeprägter Stolz auf eine erreichte Leistung und das starke Lob für dasselbe an Schulkinder, die für erste Erfolge übermäßig gelobt und konstant gestärkt werden müssen. Dies spiegelt zum Beispiel die folgende Beschreibung wider: 30 https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl#__bgbl__%2F%2F *%5B%40attr_id%3D%27bgbl116 s1939.pdf%27 %5D__1620234980709 (11. 02. 2021). 31 https://www.ulm.ihk24.de/servicemarken/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-juli-b is-september2019/neuer-inhalt26-neue-fachkraefte-fuer-die-region-4527338 (11.02. 2021). 32 https://www.sihk.de/servicemarken/projekte/integration-von-fluechtlingen2/best-practice2/ nodes-pumpen-filtertechnik-gmbh-4007326 (11. 02. 2021). 33 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/mit-einer-punktlandung-in-die-ausbildung-3934864 (11. 02. 2021). 34 https://www.hwk-bls.de/artikel/integrationsprojekt-erfolgreich-abgeschlossen-22,0,1179.ht ml (06. 05. 2021). 35 https://www.gera.ihk.de/share/flipping-book/3827002/flippingbook.pdf (28. 07. 2021).

»Shukri hatte im Praktikum goldene Hände«

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Mahmoud Kaptoul, ein Flüchtling aus Syrien, ist überglücklich. Einen Tag lang hat er seine Fähigkeiten im Karrosserie- und Fahrzeugbauerhandwerk (Fachrichtung: Karosserieinstandsetzung) bei der Handwerkskammer gezeigt und dafür viel Lob bekommen.36 (Herv. M. MdG.)

Die Wortwahl »überglücklich« als Reaktion auf »viel Lob bekommen« lässt den Akteur von einer kindlichen Emotionalität und Dankbarkeit erscheinen, die für die Charakterisierung von Erwachsenen eher unüblich ist. Hier würde man eher davon sprechen, dass Kompetenzen unter Beweis gestellt werden. Ebenso würde bei einer Fachkompetenz statt Lob eher eine Anerkennung erwartet oder diese als normal vorausgesetzt werden. Viele Beschreibungen erwecken ähnliche Konnotationen und drücken eine Machtasymmetrie zwischen Deutschen und Geflüchteten aus. Geflüchtete werden des Weiteren als mutig dargestellt, sie »trau[en …] sich«37 etwas zu tun bzw. eine Ausbildung anzufangen und »meistern«38 diese. Hierdurch wird wiederum eine gewisse Unsicherheit vermittelt, deren Überwindung zu großer Freude und Stolz beiträgt. So wird zum Beispiel vom Stolz über den Ausbildungsplatz berichtet: Dass er eines Tages auf der weltbekannten Shopping- und Geschäftsmeile Königsallee einen Ausbildungsplatz ergattern würde, hätte er selbst nie für möglich gehalten.39

Auch Metaphern, die Analogien zum Schulkontext aufweisen, werden vermehrt eingesetzt: Geflüchtete »punkten«40 und »büffeln«41 zum Beispiel. Eine Ausbildung im deutschen Betrieb wird dabei oft mit einem Reifeprozess assoziiert. So erlangen Geflüchtete durch ausbildungsvorbereitende Maßnahmen die »[A]usbildungs- beziehungsweise [E]instellungsreif[e]«42 (Herv. M. MdG.) und sind »frisch gebackene Fachkräfte«43. Die Kammern unterstreichen den evolutiven Charakter einer Ausbildung, der sich vom relativ ungeformten Flüchtlingsdasein abhebt; der Flüchtlingsstatus wird dem ›Ausgebildetsein‹ dichotom gegenübergestellt: Das Dasein als Geflüchteter ist der Anfangspunkt, die Fachkraft der 36 https://www.hwk-trier.de/artikel/facharbeiter-aus-syrien-54,0,256.html (11. 02. 2021). 37 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/machen-statt-warten-vom-it-bastler-zum-fachinformatiker-3773436 (06. 05. 2021). 38 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/mit-einer-punktlandung-in-die-ausbildung-3934864 (11. 02. 2021). 39 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/kochen-mit-biss-4075190 (08. 05. 2021). 40 https://www.ihk-niederrhein.de/topnavigation/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung en2019/gefluechtete-lernen-berufsfelder-vor-ort-kennen-4432598 (08. 05. 2021). 41 https://www.ihk-trier.de/p/Willkommen,_Kollege-13-17978.html (08. 05. 2021). 42 https://www.frankfurt-main.ihk.de/presse/meldungen/2017/19526/index.html (11. 02. 2021). 43 https://www.ulm.ihk24.de/servicemarken/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-jul i-bis-september2018/fluechtlinge-werden-zu-fachkraeften-bc-4156998 (08. 05. 2021).

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›zivilisierte‹ Ziel- bzw. Endpunkt. Bei der IHK Schwaben heißt es etwa: »Gestern Flüchtling – heute Fachkraft«44 oder bei der IHK Düsseldorf »wenn aus Geflüchteten Fachkräfte werden sollen«45. Ein Willkommenslotse betont das Potential der Geflüchteten: Im Wettbewerb um Fachkräfte und Auszubildende müssen die Betriebe neue Wege gehen. Dazu gehört es auch, die Potentiale von geflüchteten Menschen stärker in den Blick zu nehmen, um den Rohdiamanten für sich zu entdecken.46

Die Metapher des »Rohdiamanten« symbolisiert die Notwendigkeit eines aufwendigen Formungsprozesses, der jedoch ein positives Endergebnis hat. Dies schließt an Vorwürfe an, Geflüchtete hätten keinen wirtschaftlichen Nutzen (vgl. Kap. 2) und zeigt, dass es unter Einsatz möglich ist einen wirtschaftlichen Nutzen zu generieren. Den deutschen Akteuren und Akteurinnen und vor allem den Unternehmern und Unternehmerinnen, die durchweg als Chancengeber bzw. Chancengeberinnen charakterisiert werden, wird über die gewählte Metaphorik implizit eine elterliche Gegenrolle zugeschrieben. Die Wortwahl unterstreicht diesen fürsorglich-erzieherischen Charakter: Die Unternehmen »greifen unter die Arme«47, »flankier[en]«48, begleiten und unterstützen. Auf beiden Seiten wird »Geduld«49 hervorgehoben. Analog zur Familienmetapher sind die Vorgesetzten – ebenso wie Eltern – Vorbilder und legen Regeln fest. So schreibt die IHK Trier über einen Unternehmer: »Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten«, räumt Clemens ein. Wichtig sei, gleich von Beginn an unmissverständlich zu kommunizieren und klare Spielregeln zu vereinbaren.50

Dass hier von »Spielregeln« die Rede ist, nimmt wieder Bezug auf einen kindlichen Kontext. Die Hilfsbereitschaft wird mit Dankbarkeit quittiert, die vielfach betont wird und altruistische Motive der Adressaten und Adressatinnen an-

44 https://www.schwaben.ihk.de/produktmarken/berufliche-bildung/projekte/junge-fluechtlin ge-in-ausbildung/gestern-fluechtling-heute-fachkraft-4138302 (11. 02. 2021). 45 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/mit-zahlen-zum-erfolg-4075224 (11. 02. 2021). 46 https://www.ihk-schleswig-holstein.de/news/ihk-flensburg/erfolgsgeschichten-gefluechtetearbeitsmarkt-4547878 (11. 02. 2021). 47 https://www.ihk-schleswig-holstein.de/news/ihk-flensburg/der-wille-zaehlt-4524278 (08. 05. 2021). 48 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/mit-zahlen-zum-erfolg-4075224 (11. 02. 2021). 49 https://www.bergische.ihk.de/servicemarken/aktuell-presse/bergisches-ihk-tv/integration-g efluechteter-in-den-arbeitsmarkt-3945380 (11. 02. 2021). 50 https://www.ihk-trier.de/p/Willkommen,_Kollege-13-17978.html (11. 02. 2021).

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spricht. Dankbarkeit stellt dabei einen der meistvergebenen Codes dar. Beispielhaft zeigt sich das im folgenden Textauszug: Dass ich mit meiner Vorgehensweise nicht ganz falsch liege, sieht man auch daran, dass ich vor einiger Zeit einen Blumenstrauß auf meinem Schreibtisch vorfand. Daneben lag eine Karte, auf der stand: Ich bin froh, dass ich hier arbeiten darf.51 Er hilft und engagiert sich, wo er nur kann. Denn der junge Mann möchte nicht nur nehmen, sondern der Firma Mecu und allen Mitarbeitenden etwas zurückgeben.52

Es zeigt sich eine allseitige emotionale Verbundenheit, auch der Kammermitarbeitern und Kammermitarbeiterinnen: Sie fieberten ebenso wie die Ausbildnerinnen und Ausbildner selbst bei Prüfungen mit53, die die Geflüchteten aufgrund ihrer angeblichen Kämpfernatur meist (überraschend) gut meistern. Jahrgangsbeste werden gefeiert, aber auch einfach bestandene Abschlüsse werden als eine Leistung hervorgehoben, da sie einen hohen Grad an Integrationswillen voraussetzen, der bei allen Protagonisten und Protagonistinnen betont wird. Dies schließt an die dritte Metapherngruppe an, die Geflüchtete als beharrliche Kämpfer und Kämpferinnen für ihre Ziele darstellt. Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt.

5.3

Geflüchtete als lernwillige und gebildete Kämpferinnen und Kämpfer

Aufgrund der vielen Hürden und Erschwernisse im neuen Land ist das Ankommen, wie die Berichte zeigen, nicht immer einfach. In diesem Zusammenhang werden die Geflüchteten als Personen dargestellt, die sich durchkämpfen, die Perseveranz aufweisen und die viel investieren, um sich im Aufnahmeland zu integrieren. »Wir waren überwältigt davon, wie gut sein Deutsch nach so kurzer Zeit schon war«, sagt Ausbilder Torge Knuth. »Das zeigt seinen Ehrgeiz und seine hohe Lernbereitschaft, und die ist uns extrem wichtig.« Auch, dass Bhatia allein zum Bewerbungsgespräch kam, sei nicht selbstverständlich. »Das sagt einiges über ihn als Person aus.« Sein Engagement hat sich ausgezahlt: Die Ausbildung schloss Bhatia in diesem Sommer als einer der Besten seines Jahrgangs ab. »Er hat sich das ganz alleine erarbeitet, ohne Nachhilfe«, so Knuth.54

51 https://www.ihk-trier.de/p/Willkommen,_Kollege-13-17978.html (08. 05. 2021). 52 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/mit-einer-punktlandung-in-die-ausbildung-3934864 (08. 05. 2021). 53 https://www.ulm.ihk24.de/servicemarken/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-jul i-bis-september2018/fluechtlinge-werden-zu-fachkraeften-bc-4156998 (11. 02. 2021). 54 https://www.ihk-schleswig-holstein.de/blueprint/servlet/resource/blob/4536060/1b84cd9e6d b65d806908d24a992de467/oktober-flensburg-data.pdf (11. 02. 2021).

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Zur Untermalung des starken Willens und des Durchhaltevermögens werden vereinzelt Kampfmetaphern herangezogen. So lautet eine Überschrift: »Ali gibt sich größte Mühe und kämpft«55. In einem anderen Statement wird auf die Herausforderungen im Umgang mit gesetzlichen Vorgaben eingegangen: In einem Schulterschluss mit dem Willkommenslotsen der IHK Trier, Larson Arend, gelang es schließlich, dem jungen Mann den Einstieg in das Unternehmen zu ermöglichen.56

Die Schulterschlussmetapher erinnert an frühmittelalterliche Kampftechniken, bei dem alle füreinander einstehen und nur gemeinsam die Herausforderungen gelöst werden können. Neben einem überdurchschnittlichen Durchhaltevermögen werden auch die gute Vorbildung, die schnelle Auffassungsgabe, Lernbereitschaft, Social Skills und Geschicklichkeit hervorgehoben und metaphorisch untermauert. »Shukri war uns sehr sympathisch, hatte im Praktikum goldene Hände und passte einfach gut ins Team. Außerdem arbeitet er sehr gründlich und achtet sehr auf die Details«, so der Personalverantwortliche Herr Michael Kratz.57 (Herv. M. MdG.) Nach dem erfolgreichen Praktikum hatte Rajab schnell den Arbeitsvertrag in der Tasche – und ist über den Job einfach nur glücklich. »Ich kann mit einem wunderbaren Team meine Kreativität freien Lauf lassen, möchte das Beste geben und mit unseren Kunden Projekte auf den Weg bringen.« Dabei sind die Sprachprobleme – für viele Flüchtling [sic] eine der höchsten Hürden – bei ihm gemeistert. »Obwohl Englisch die Geschäftssprache in den meisten Teams ist, kann Samer Rajab sich beachtlich gut auf Deutsch ausdrücken. Außerdem ist eindrucksvoll, wie weitgehend er die technische Seite seines Jobs im Griff hat«, sagt Witzmann. Damit ist das sprichwörtliche Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht: »Samer Rajab möchte sich als ›Software Engineering‹ weiterbilden und nach zwei Semestern mit seiner Magisterarbeit beginnen«, weiß El Mellah.58 (Herv. i. O. und M. MdG.)

Die Hervorhebung positiver Eigenschaften ist oft gekoppelt an die Betonung, dass der bzw. die Geflüchtete zuvor ein Studium angefangen oder absolviert hat und jetzt eine Ausbildung macht. Suggeriert wird also eine gewisse Bildungsnähe, die im deutschen Kontext mit einem stark ausgeprägten bürgerlichen Bildungsideal (vgl. Goodman 2011) positiv konnotiert ist und Geflüchtete als Humanressource ausweist. 55 https://www.sihk.de/servicemarken/projekte/integration-von-fluechtlingen2/best-practice2/ nodes-pumpen-filtertechnik-gmbh-4007326 (11. 02. 2021). 56 https://www.ihk-trier.de/p/Junger_Syrer_auf_dem_Weg_in_die_Ausbildung-13-17565.html (11. 02. 2021). 57 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendisch e-arbeitnehmer/kochen-mit-biss-4075190 (05. 05. 2021). 58 https://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/ausbildung/fluechtlinge-und-auslaendische-a rbeitnehmer/softwareentwickler-mit-gelassenheit-und-kreativitaet-4169904 (08.05. 2021).

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Die Voraussetzungen waren in diesem Fall gut: Die Firma Scheba ist unter anderem auf Elektromotoren spezialisiert und Mohamad Ayas war jemand, der praktische Erfahrung in diesem Bereich mitbrachte.59 Nach zweiwöchigem Praktikum Anfang September 2015 Beginn der Ausbildung zum Bankkaufmann. Der Auszubildende hatte im syrischen Homs bereits ein betriebswirtschaftliches Studium abgeschlossen und in einer Bank gearbeitet. Da das Bankenwesen und der Berufsalltag in Deutschland seiner Erfahrung nach aber komplett anders sind, hat er sich entschieden, hier noch eine zusätzliche Ausbildung in dem Bereich zu absolvieren.60

Insgesamt wird also vor allem der Unterstützungsbedarf der Geflüchteten und das familiär-unterstützende Verhältnis zum Arbeitgeber bzw. zur Arbeitgeberin unterstrichen, das ambitionierten Geflüchteten alle Türen öffnet.

6

Diskussion

Die zugrundeliegenden Erfahrungsberichte betonen im Kontext der Beschreibung von positiven Erfahrungen bei der Anstellung von Geflüchteten durchweg den wichtigen Einfluss der Kammervertreter und Kammervertreterinnen sowie Willkommenslotsen und Willkommenslotsinnen auf den Erfolg. Auf verschiedene Regierungs- und Förderprogramme wird regelmäßig Bezug genommen. Die Berichte dienen also neben der Informationsvermittlung auch der Außendarstellung der Kammern, ihrer Mitglieder und der Integrationsprogramme der jeweiligen Länder oder des Bundes. Das lässt den Schluss zu, dass sie somit auch Teil von Institutional Work sind. Dies kann im Hinblick auf zwei Institutionen beobachtet werden: 1) regulative Institutionen und 2) kognitive Institutionen. 1) In den Darstellungen kritisch betrachtet werden vor allem die politischen Rahmenbedingungen, die die Einstellung von Geflüchteten mit unklarem Aufenthaltsstatus erschweren. Unternehmen beklagen hier eine fehlende Rechtssicherheit sowie bürokratische Hürden, die eine Einstellung von Geflüchteten sowie die Übernahme nach einer Ausbildung zu einem langwierigen und komplexen Unterfangen machen. Die Darstellungen können somit als Teil von Institutional Work auf regulativer Ebene verstanden werden. Durch öffentliche Kritik erhöht sich der Druck auf die Regierung. Kammern sind dabei wichtige Sprachrohre für die Interessen ihrer Mitglieder und betreiben aktiv Lobbying. So waren sie maßgeblich an der Einführung verschiedener wirtschaftsfreundlicher Änderungen im institutionellen Setting des Migrationsregimes beteiligt, wie etwa 59 https://www.hwk-ufr.de/downloads/6-2019-vom-29-maerz-2019-78,5973.pdf (11. 02. 2021). 60 https://www.ihk-oldenburg.de/geschaeftsfelder/ausbildungweiterbildung/fluechtlinge-integ rieren/serie-integration/vereinigte-volksbank-3589334 (03. 04. 2021).

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der Einführung der 3+2-Regelung oder Ausbildungsduldung. Diese besagt, dass Asylsuchende während und bis zu zwei Jahre nach der Ausbildung nicht abgeschoben werden können. Diese Regelung ist auf massive Kritik durch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu Stande gekommen, die betonten, dass sie wichtige »Integrationsarbeit« leisten und bei einer Abschiebung kein Return on Investment erzielt werden kann. Dennoch wird in diesem Zusammenhang noch immer Unzufriedenheit geäußert: So erfreulich das gute Abschneiden der ersten Prüflinge ist, so unerfreulich sind oft die Rahmenbedingungen mit denen Flüchtlinge in ihrer Ausbildung kämpfen müssen. Die Umsetzung der sogenannten »3+2 Regelung« wird bundesweit noch sehr unterschiedlich gehandhabt, was zu einer massiven Verunsicherung der Unternehmen und natürlich auch der Auszubildenden führt. Dazu kommt der oftmals verwehrte Zugang zu wichtigen Ausbildungsförderinstrumenten der Bundesagentur für Arbeit. Diese für den Ausbildungserfolg so wichtige Unterstützung sollte allen Auszubildenden, unabhängig von Aufenthaltsstatus und Herkunft, zur Verfügung stehen.61

Die wiederholte öffentliche Kritik hat zum Ziel hier Veränderungen anzustoßen, was auch mit Hilfe von Positionspapieren wiederholt getan wird. 2) Da alle Erfahrungsberichte im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Geflüchteten und deren Anstellung positive Aussagen treffen, unterstreichen sie Angela Merkels viel zitierten und auch kritisierten Ausspruch: »Wir schaffen das!« (Bundespressekonferenz vom 31. August 2015). Es werden Ängste und Bedenken aus dem Kontext der Wirtschaftsakteure aufgegriffen, indem gängige Klischees und erlebte Hürden thematisiert und entkräftet werden. Folgt man der Argumentationslogik, entsteht der Eindruck, dass die Berichte darauf ausgerichtet sind, Skeptikerinnen und Skeptiker davon zu überzeugen, dass Integration gelingen kann. Sie wirken auf eine Veränderung normativer Assoziationen hin und können als Institutional Work im kognitiven Sinn verstanden werden. Das Ziel Skeptikerinnen und Skeptiker zu beeinflussen wird an verschiedenen Stellen explizit betont und ist auch Motor für die vielfältigen durch Bund und Länder geförderten Integrationsmaßnahmen, durch die möglichst viele Geflüchtete in Arbeit gebracht werden sollen. So lautet die Überschrift eines Berichts der HK Ulm: »›Warum beweisen wir nicht den Zweiflern, dass es funktioniert?‹ Dass berufliche Integration gelingen kann, zeigt Friseur Scavo in Ulm«62; und im weiteren Verlauf desselben Beitrags heißt es: Wir brauchen Multiplikatoren, die diese Ideen vertreten. Wir müssen mit den Menschen arbeiten, die wir haben.

61 https://www.ulm.ihk24.de/servicemarken/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-jul i-bis-september2018/fluechtlinge-werden-zu-fachkraeften-bc-4156998 (08. 05. 2021). 62 https://www.hwk-ulm.de/2018-07-31-e-vergabe-kommt-2/ (11. 02. 2021).

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An anderer Stelle wird betont: Die Betriebe hätten die Chance erkannt und seien bereit, ihren Teil zu einer dauerhaften Integration beizutragen. »Die Erfahrungen, die diese Vorreiter jetzt sammeln, werden auch anderen den Weg ebnen«, ist sich Reiner sicher.63

Analog zu den Ausführungen von Hülsse (2003) eignen sich metaphorische Darstellungen zur Beeinflussung kognitiver Institutionen bzw. normativer Assoziationen, insbesondere, da sie einerseits aufgrund ihrer Unschärfe ein verhältnismäßig ungefährliches rhetorisches Mittel sind (vgl. Hülsse 2003). Andererseits lassen sie einen gewissen Interpretationsspielraum zu und machen somit ggf. eine Distanzierung von derselben möglich, indem man sich im Zweifelsfall als missverstanden darstellen kann (vgl. ebd.). Zudem wirken Metaphern entpolitisierend und handlungsermöglichend. Sie lassen betonte Aspekte selbstverständlich erscheinen (vgl. Hülsse 2003, 223ff.): Durch die Projektion von etwas Bekanntem auf ein abstraktes politisches Phänomen bewirken Metaphern die Entstehung einer als Normalität erlebten, und daher nicht weiter hinterfragten Realitätsordnung. Die Selbstverständlichkeiten der Alltagswelt werden von der Metapher auf das betreffende abstrakte Phänomen übertragen. […] Damit geht von Metaphern zugleich eine entpolitisierende Wirkung aus: Wenn etwas durch Metaphern erst einmal als normal und selbstverständlich konstruiert wurde, dann ist es der politischen Auseinandersetzung weitgehend entzogen.

Übertragen auf die hier vorliegenden Erfahrungsberichte zeigt sich, dass in diesen anhand von Einzelschicksalen und -darstellungen die anonyme, als bedrohlich wahrgenommene Masse oder Welle an Geflüchteten aufgelöst und ein positiveres Bild von Geflüchteten verbreitet wird. Dieses dockt an den utilitaristischen Diskurs zu Einwanderung im Allgemeinen an, welcher Zuwanderer und Zuwanderinnen als Humanressource und Notwendigkeit für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands erachtet. Geflüchtete werden in den Erfahrungsberichten in den positiv utilitaristischen Diskurs ›zurück‹-gebettet und als Potential dargestellt, das den Fachkräftemangel abmildern und nach Arbeitsmarktbedürfnissen geformt werden kann. In diesem Zusammenhang erfolgt oftmals eine Betonung des jungen Alters der Geflüchteten (nicht zuletzt auch durch Kindheitsmetaphern) als etwas, das der überalterten deutschen Bevölkerung gegenübersteht – ebenso wie auf die schlummernden Potentiale hingewiesen wird, wie die oben genannte Metapher des »Rohdiamanten« es versinnbildlicht. Gleichzeitig wird der vorwiegend utilitaristische Diskurs mit einem altruistischen unterfüttert: Es wird an die gesellschaftliche Pflicht appelliert und darauf verwiesen, dass jeder bzw. jede eine Chance verdient habe. Dies wird durch Referenz auf die ausweglose Situation im Heimatland unterstrichen. Es 63 https://www.hwk-konstanz.de/artikel/ein-guter-anfang-64,0,956.html (11. 02. 2021).

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kann angenommen werden, dass die Kombination der altruistischen und utilitaristischen Argumente eine verstärkende Wirkung hat und eine breite Zielgruppe anspricht. Die mögliche Aussicht auf die Behebung des Fachkräftemangels stößt bei einer breiten Gruppe von Akteuren und Akteurinnen auf ›offene Ohren‹; altruistische Motive, die noch parallel dazu angesprochen werden, helfen, die Gewichtigkeit einer nicht 100 %-igen Passung zu minimieren. Dabei werden die altruistischen Orientierungen durch die Verweise auf das freundliche Wesen und die Dankbarkeit auf Seiten der Geflüchteten zusätzlich ›getriggert‹. au"rausender impulsgesteuerter Täter Kindheitsmetaphern (Unterordnung/ Hilfebedür!igkeit, freundlich, dankbar, emo#onal)

Kampfmetaphern (Umschiffen großer Hürden um sich zu integrieren, Perseveranz) »Sozialschmarotzer«

Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt

Rohdiamant/Leistungsbereitschaft (strebsam, arbeitsam, engagiert, hochmo#viert, leistungsbereit)

Utilitarismus (gleichen Fachkrä!emangel aus, nehmen keine Arbeitsplätze weg)

Erfahrungsberichte als Gegenentwurf

Immigra#onsskep#sche/Populis#sche kulturell-kognitive Institu#onen

(religiös bedingt )Nich#ntegrierbar

Bildungsferner Zuwanderer Bildungsnähe (Fachkenntnisse, lernwillig)

Abb. 1: Populistischer Diskurs und Erfahrungsberichte als interdiskursiver Gegenentwurf.

Da Diskurse einen gewissen Grad an Intertextualität und -diskursivität aufweisen (vgl. Hülsse 2003), liegt an dieser Stelle jedoch auch ein Zusammenhang zum populistischen Diskurs um Zuwanderung nahe, den sie konterkarieren, indem sie ein Gegenbild zu den folgenden Vorurteilen präsentieren: So steht die Formbarkeit und die zurückhaltend freundliche, integrationswillige und höfliche Art der geflüchteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Erfahrungsberichten der Kammern dem aufbrausenden, impulsgesteuerten Täter etwa der Silvesternacht in Köln oder islamistisch motivierten Attentäterinnen und Attentätern gegenüber. Abbildung 1 verdeutlicht den interdiskursiven Gegenentwurf, der durch die Erfahrungsberichte gezeichnet wird. Die Betonung des bzw. der strebsamen, arbeitsamen, engagierten, hochmotivierten und leistungsbereiten Geflüchteten entkräftet das Bild des ›Sozialschmarotzers‹ bzw. der ›Sozialschmarotzerin‹ oder des Wirtschaftsflüchtlings. An einigen Stellen wird explizit darauf hingewiesen, dass Geflüchtete niemandem etwas wegnähmen und bestrebt seien etwas zurückzugeben:

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»Keiner muss Angst haben, dass ihm der Arbeitsplatz weggenommen wird. Integrationswillige Flüchtlinge helfen uns, beim Kunden unsere Arbeit machen zu können«, fasst Krimmer zusammen.64

Ferner wird teilweise die Unfreiwilligkeit der Ausreise betont. Auch dies bildet den Gegenpol zum populistischen Bild von Immigrantinnen bzw. Immigranten, die unverdient Asyl beantragen und es gar nicht abwarten können, den deutschen Sozialstaat ›auszunutzen‹: »Wichtig ist«, erzählt Hadri uns, »dass ich meine Familie und mich selbstständig ernähren kann. Schließlich wollen wir hier bleiben und uns in Deutschland eine neue Existenz aufbauen.«65

Die Kampfmetaphern verdeutlichen den eisernen Willen zur Integration, das Umschiffen sämtlicher Hürden und die hohe Bereitschaft, etwas dafür zu tun, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Somit wird ein systematisches Adressieren vorherrschender Stereotype erkennbar, das aufgrund der großen Reichweite der Kammern66 dazu beitragen kann, die Bereitschaft zu erhöhen, Geflüchtete einzustellen und schrittweise die kognitiven gesellschaftlichen Institutionen zu verändern. Festzuhalten ist, dass trotz der Nennung von Hürden ein einseitig positives Bild gezeichnet wird, das Abweichungen wenig Raum lässt und ebenfalls zu einer Polarisierung beitragen kann, da es Gefahr läuft von Skeptikern bzw. Skeptikerinnen durch existente Gegenbeispiele als unrealistisch abgetan zu werden.

7

Fazit: Zuwanderung sollte keine Frage des Standpunktes sein

Die Entwicklung des Immigrationsdiskurses in Deutschland und die dichotome Einteilung von Immigranten bzw. Immigrantinnen als nützliche und weniger nützliche Gesellschaftsmitglieder zeigt auf, dass die Befürwortung oder Ablehnung von Zuwanderung eine Frage des Standpunktes ist, bei dem utilitaristische Argumente mitunter eine Befürwortung mit sich bringen und Zweck-Nutzenrelationen das Ziel haben, den skeptischen Diskurs um Geflüchtete positiv zu beeinflussen. Das in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerte Recht auf Unversehrtheit ist jedoch keine Frage des Blickwinkels. Unabhängig vom ökonomischen Nutzen haben auch Personen einen Anspruch auf Asyl, die nicht direkt als »Rohdia-

64 https://www.hwk-ulm.de/2018-07-31-e-vergabe-kommt-2/ (12. 02. 2021). 65 https://www.ihk-trier.de/p/Willkommen,_Kollege-13-17978.html (05. 05. 2021). 66 Am 31. 12. 2018 waren in den Handwerkskammern in Deutschland 1.001.748 Betriebe registriert; die IHKs hatten im Jahr 2018 5.537.764 Mitgliedsunternehmen.

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manten« für die Wirtschaft erkenntlich sind. Nichtsdestotrotz zeigt eine Zwischenbilanz, dass Deutschland aus den Defiziten der Gastarbeiterintegration gelernt hat. Integrations- und v. a. Qualifizierungsprogramme erleichtern die Arbeitsmarktintegration und können das Sozialsystem daher langfristig schonen. Wie die vielen positiven Beispiele zeigen, mangelt es seltener am Willen der Geflüchteten, sondern vielmehr an den oftmals als unüberwindlich angesehenen bürokratischen, bildungssystemischen und kulturell-kognitiven Hürden der Aufnahmegesellschaft. Hier setzen die Versuche des Institutional Work der analysierten Organisationen an. In Analogie zu ihrem Integrationsauftrag, der durch Förderprogramme der deutschen Regierung zugewiesen wurde, ist der Beweis des Gegenteils ein erster Schritt, um die hier vorliegende Skepsis zumindest bei noch unentschlossenen Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen zu minimieren.

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»Shukri hatte im Praktikum goldene Hände«

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Marina Ortrud M. Hertrampf

Migration als (Krisen-)Narrativ: Inszenierungen französischer Migrationsnarrative in Literatur und Film La France d’aujourd’hui est le produit d’une histoire dont l’immigration est une dimension, parfois décisive, et les migrants des acteurs. Penser l’immigration uniquement comme un problème, un phénomène récent, ou une perturbation extérieure du cours normal de l’histoire du pays, c’est se condamner à ne rien comprendre du monde dans lequel nous vivons et oublier que l’immigration est prise dans notre histoire. (Rygiel 2010, 25)1

1

Vorbemerkung

Migration, das finde ich mit Blick auf Frankreich vor allem in zweifacher Hinsicht ein zentrales Gesellschaftsphänomen. Zum einen ermöglich(t)en unterschiedliche Zuwanderungsbewegungen gesellschaftliche Dynamisierung und kulturelle Weiterentwicklung bereits seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich. Inwiefern Migration als integraler Teil der exception française (französischen Ausnahme) zu betrachten ist,2 illustriert ein schlichtes Beispiel aus der französischen Alltagskultur: Taboulé gilt als beliebtes Gericht der französischen Küche, der CouscousSalat kam aber erst mit den Migrantinnen und Migranten aus dem Maghreb und Maschrik nach Frankreich.3 Zum anderen macht Migration aber immer auch insofern Geschichte(n), als Migration von Erzählungen begleitet wird. Die sich dabei herausbildenden Narrative sind gerade aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht zuletzt deshalb von herausragender Relevanz, als sie sich u. a. stimulierend auf die Produktion von literarisch-künstlerischen und

1 »Das heutige Frankreich ist das Produkt einer Geschichte, in der Einwanderung eine manchmal entscheidende Dimension ist und Migranten und Migrantinnen ihre Akteure sind. Einwanderung nur als ein Problem zu betrachten, ist ein neueres Phänomen oder eine äußere Störung des normalen Verlaufs der Geschichte unseres Landes; und es bedeutet uns selbst dazu zu verurteilen, nichts von der Welt, in der wir leben, zu verstehen und zu vergessen, dass Einwanderung ein Teil unserer Geschichte ist.« Soweit nicht anders angegeben, stammen die recht freien Übersetzungen in diesem Beitrag von der Autorin und werden mit der Abkürzung M.O.H. ausgewiesen. 2 Zum Verständnis von Migration als exception française vgl. z. B. Lindemann (2001, 27). 3 Die französisierte Variante des Gerichts unterscheidet sich dabei von denen der Ursprungsländer beispielsweise dadurch, dass anstatt von Bulgur Couscous verwendet wird.

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filmischen Werken in Frankreich auswirken. Just dieser Wirkzusammenhang steht im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen. Nach einem einleitenden Kommentar zu den verwendeten Begriffen Narrativ und Narration wird ein blitzlichtartiger Überblick über Frankreich als Einwanderungsland gegeben. Dabei wird besonders herausgearbeitet, inwiefern Immigration nach Frankreich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend als krisenhaft wahrgenommen wurde. In diesem Kontext leben die positiven republikanischen Migrations-Narrative als nationale Mythen zwar fort, werden aber immer häufiger von Narrativen verdrängt, die Migration als Krise darstellen. Im Weiteren werden ausgewählte französische Narrationen vorgestellt, die seit der Jahrtausendwende im Kontext von Migrationsphänomenen entstanden sind und in unterschiedlichen Spannungsverhältnissen zu den Narrativen von Krise im Allgemeinen und der ›Migrations-Krise‹ im Speziellen stehen. Der Fokus wird dabei also weder auf den in Politik und Medien allgegenwärtigen MigrationsNarrativen liegen noch auf den faktualen, biographischen Narrativen Migrierter und Geflüchteter, die im Kontext der qualitativen Sozialforschung ›entstanden‹ bzw. erzählt worden sind.4 Vielmehr stehen ästhetisierte Formen von Migrationsnarrativen, d. h. literarisch-künstlerische und filmische, im weitesten Sinne also fiktionalisierte Erzählungen im Mittelpunkt. Hierbei wird jeweils ausgelotet, in welchem Verhältnis (kollektives) Narrativ und (literarisch-filmische, d. h. individuelle) Narration stehen; es wird folglich untersucht, inwieweit in Frankreich etablierte Migrations-Krisen-Narrative durch die literarisch-künstlerische 4 Für eine empirische Studie medial verbreiteter Narrative über Migration vgl. z. B. Bakamo Public / FES (2019). Für biographische Migrationsnarrative im französischen Kontext vgl. z. B. Maitilasso (2014). Daneben thematisieren aber auch einige französische Autorinnen und Autoren derartige Narrative in ihren Werken. So präsentiert etwa die französische Schriftstellerin Violaine Schwartz in ihrem Buch Papiers (2019; Ausweispapiere) eine ganze Fülle von Fluchtnarrativen, die sie in Interviews mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern selbst gesammelt hat, um ausgehend davon ein Textgeflecht von anonymisierten Fluchtnarrativen, kritischen Reflexionen über Asylverfahren und in ihrer verdichteten Aussageprägnanz an Prosagedichte erinnernde Textfragmente zu verfassen. Mit der Problematik von Migrationsnarrativen, die im Kontext von offiziellen Anhörungen bei Anerkennungsverfahren erzählt werden, beschäftigt sich Shumona Sinha in ihrem Erfolgsroman Assommons les pauvres (2011; Erschlagt die Armen, 2015), einem Buch einer Migrantin über die Narrative von Migranten und Migrantinnen. Migration ist ein Geschichten-Generator, aber die administrativen Migrationsverfahren, so stellt die Autorin eindrücklich dar, sind Generatoren gefakter Ego-Berichte, die sich ganz bewusst in die Narrative einschreiben, die einen positiven Bescheid bewirken: »Die Erzählungen dort waren einander ähnlich. Immer dasselbe, abgesehen von einigen Details, Daten, Namen, Akzenten und Narben. Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen: Vergewaltigungen, Morde, Übergriffe, politische und religiöse Verfolgung. […] Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme. Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.« (Sinha 2015, 8–9; Sinha 2011, 10–11)

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Transposition perpetuiert und damit verstärkt werden bzw. inwiefern in den literarischen und filmischen Diegesen mögliche Gegennarrative konstruiert werden.

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Narrativ und Narration

Erzählungen, die innerhalb einer kulturellen Region in einem bestimmten historischen Moment etabliert sind, sinnstiftend wirken und emotionale bzw. ideologische Inhalte transportieren, werden gern als ›Narrative‹ bezeichnet. Es wird dabei ein Begriff verwendet, den man insofern als Modebegriff bezeichnen kann, als er sich seit der Jahrtausendwende den Weg aus der Soziologie und den Literaturwissenschaften heraus in breite politische und mediale Diskurse gebahnt hat und dabei auch inflationär verwendet wird (vgl. z. B. Heine 2016 und Kreis 2016). Dabei scheint der Mehrwert des Narrativ-Terminus im Gegensatz zu dem der Narration zunächst kaum erkennbar, beschreiben sie doch beide die sprachlich dargestellte Wiedergabe eines Geschehens. Während aber bei der Narration der fiktionale Charakter Teil des Paktes mit dem Leser bzw. mit der Leserin ist, weisen sich Narrative nicht explizit als Fiktionen aus; und doch ist ihr epistemologischer Status überaus prekär, denn »[i]n gewisser Weise sind sie nämlich alle falsch. Sie verändern das, wovon sie berichten, schlicht dadurch, dass sie ihm eine Bedeutung unterlegen, die damals ganz unbekannt war.« (Müller-Funk 2019) Während alle Narrative stets Narrationen sind, weist der Begriff Narrativ eine besondere Zusatzbedeutung auf, die über den der Narration hinausgeht und seine Verwendung insbesondere im literatur- und kulturwissenschaftlichen Kontext legitimiert: »Bei Narrativen handelt es sich weniger um einzelne gelungene oder misslungene Erzählungen, sondern vielmehr um Erzählkomplexe, -muster und Genres« (Müller-Funk 2019), die m. E. durch plakative Schlichtheit und verallgemeinernde Reduktion gekennzeichnet sind. Im Unterschied zu (individuellen) Alltagserzählungen und künstlerisch elaborierten Erzählungen weisen Narrative insofern eine kollektive Wirkweise auf, als sie für Gesellschaften von maßgeblicher Bedeutung hinsichtlich der (Re-)Konstruktion und Stabilisierung kollektiver Identität sind. Narrative sind also integraler Teil der Geschichte einer Nation.5 Dabei werden Narrative nicht nur über unterschiedliche Medien transportiert, immer wieder aufgerufen und somit im kollektiven Den5 Dass dies aber nicht allein für die großen und etablierten Narrative gilt, sondern auch für die unzähligen individuellen ›Familien-Romane‹ zeigen Aderhold / Davisse (2019) auf, indem sie die Geschichte Frankreichs als Summe einer Vielzahl ganz persönlicher Erzählungen neu erzählen. Dabei zeigt sich, dass die Geschichte Frankreichs eine Geschichte der Migration ist, sei es die der Binnenmigration, sei es die von Ein- und Auswanderungsbewegungen.

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ken, Handeln und Erinnern präsent gehalten, sondern können als »erzählte Erzählung [auch als] das Medium ihrer selbst« (Müller-Funk 2007, 171) betrachtet werden: In einem sehr viel umfassenderen Sinn kann man freilich Narrative generell als Medien betrachten. Als Mittel nämlich der symbolischen Ausgestaltung einer Gesellschaft, die sich ihre Kultur einrichtet und so erst zu einem kollektiven Ensemble wird. In diesem Fall werden die Narrative in ihrer umfänglichsten Bedeutung aus dem soziologischen Blickwinkel als Instrumente einer symbolischen Vergemeinschaftung angesehen. (Müller-Funk 2007, 171)

Interessant ist dabei, dass es sich bei Konstruktion, Perpetuierung bzw. Dekonstruktion um einander bedingende, reziproke Prozesse handelt. So bilden sich nationale Narrative durch die von den jeweils geltenden Denkweisen und dominanten Ideologien beeinflussten Interpretationen und Inszenierungen realer Fakten und Ereignisse aus. Zugleich prägen diese Narrative aber auch kollektive Denkweisen und damit auch die Narrationen, die in der betreffenden Gesellschaft hervorgebracht werden. Denn ästhetische Erzählungen verarbeiten (bewusst oder unbewusst) stets auch etablierte Narrative, wobei dies für faktuale wie fiktionale Narrationen ebenso wie für selbst- und fremdbildliche Erzählungen gilt. Narrative sind also kultur- und zeitspezifische Narrationen, die für eine bestimmte kulturelle Region, einen Kulturraum oder ein Land kennzeichnend sind und zugleich auch identitätsstiftend wirken. Ein historisierender Blick zeigt dabei, dass sich Form und Geltungskraft derartiger Narrative im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stark verändert haben. So geht der poststrukturalistische Philosoph Jean-François Lyotard (1924–1998) in La condition postmoderne (1979; Das postmoderne Wissen, 1986), davon aus, dass die großen, von der optimistischen Moderne ausgebildeten Meta-Narrative (metarécits)6 einer Gemeinschaft wie etwa der Glaube an den beständigen Fortschritt oder die Werte der Republik durch den massiven gesellschaftlichen Wandel und den damit stark veränderten Lebensrealitäten an Glaubwürdigkeit verloren haben. In der Folge kam es nicht nur zu einer Krise des Narrativs, sondern auch der Gesellschaft als Kulturgemeinschaft. Lyotard (1993, 14) beschreibt diesen epistemologischen Krisenzustand als das Zeitalter der Postmoderne: »In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ›Postmoderne‹ bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.« Die Folge der Krise der Meta-Narrative ist das Auseinanderfallen der gesamtgesellschaftlichen Einheit, was sich an der Herausbildung einer überschaubaren Fülle von Mikro-Narrativen spiegelt, unter 6 Der französische Originalbegriff metarécit wurde in der englischen Fassung mit meta-narrative übersetzt. Der Neologismus Narrativ kam folglich als Lehnwort in den deutschen Sprachgebrauch.

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denen die Krise selbst ein recht ausgeprägtes ist.7 Ein ganz wesentlicher Unterschied der postmodernen Narrative ist in gesellschaftlicher Hinsicht vor allem, dass diese nicht mehr global für das gesamte gesellschaftliche Kollektiv sinnstiftend wirken, sondern nur noch partikular für bestimmte Teilgruppen. Dieses Phänomen lässt sich anhand der Miko-Narrative von / über Migration, die von unterschiedlichen politisch-ideologischen Lagern ›erzählt‹, d. h. produziert, lanciert und medial verbreitet werden, recht anschaulich beobachten.8 Dabei zeichnet sich eine Differenzierung zwischen solchen Migrations-Narrativen ab, die Migration im Sinne der republikanischen Ideale positiv darstellen, und solchen, die Einwanderung als Bedrohung der inneren Ordnung und folglich als Krise verstehen. In L’immigration en France. Mythes et réalité (2017; Immigration in Frankreich. Mythen und Realität) fasst El Mouhoub Mouhoud die gegenwärtig verbreiteten Mikro-Narrative über Immigration zu den folgenden 15 Migrations-Narrativen zusammen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

La France est un grand pays d’accueil La France est généreuse dans l’accueil des réfugiés humanitaires. La France accueille ›toute la misère du monde‹. L’immigration familiale est improductive. Les migrants qui arrivent ne sont ni qualifiés ni utiles à l’économie française. L’immigration sélective répond aux besoins du marché du travail. La France n’envoie pas de travailleurs détachés mais en reçoit beaucoup. Les immigrés font baisser les salaires et dégradent le marché de travail. Les immigrés profitent des budgets sociaux.

7 Obwohl man gegenwärtig zweifelsohne von einer global beobachtbaren Krisenkonjunktur sprechen kann und die Krise als Narrativ in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen allgegenwärtig ist, ist das Narrativ der Krise an sich indes kein neues. Mit Blick auf Frankreich ist sicherlich Paul Valérys Crise de l’ésprit (1919; Krise des Geistes) eines der einprägsamsten Beispiele aus der Zeit der Hochmoderne, der das Ende des bis dato (in Frankreich wie in Europa) geltenden Meta-Narrativs der Moderne und des Fortschritts verkündet. Zur Krise als Narrativ der Moderne vgl. Fenske / Hülk / Schuhen (2013) und Meyer / Patzel-Mattern / Schenk (2013). Valéry ist es aber auch, der in seinem Essay »Images de France« (1927; Bilder Frankreichs) Frankreich als ein Land beschreibt, das regelmäßig von Krisen erschüttert wird, diese aber stets zu meistern weiß: »Frankreich richtet sich auf, schwankt, stürzt, fängt sich wieder, schränkt sich ein, erhebt sich zur früheren Größe, zerfleischt sich im Innern, findet wieder seine Mitte; abwechselnd läßt es dabei Stolz, Resignation, Unbekümmertheit und leidenschaftliche Hingabe erkennen; und von allen Nationen unterscheidet es sich durch seine eigentümliche personale Prägung.« (Valéry 1995, 177). Valéry konstruiert damit letztlich ein Narrativ, das Angela Merkel 2015 mit ihrem viral gegangenen Ausspruch »Wir schaffen das« (vgl. Tagesschau 2015) angesichts der sogenannten Migrationskrise prägte und das Emmanuel Macron 2020 mit Bezug auf die Corona-Krise mit seinem »Nous y arriverons« wiederaufnahm (vgl. Rauzy 2020). 8 Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf Özkan Ezli, der Narrative der Migration und Integration in Literatur und Film (2022, i. V.) mit Blick auf Deutschland untersucht.

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10. L’immigration est la solution pour payer les retraites et contrecarrer le vieillissement de la population française. 11. C’est l’immigration qui tue l’intégration! 12. Le libre-échange de marchandises et le »codéveloppement« peuvent freiner l’incitation à émigrer vers les pays riches. 13. Les transferts d’argent des migrants ne servent pas le développement. 14. La fuite des cerveaux affecte peu les pays pauvres. 15. Les ›migrations circulaires‹ ne sont une solution pour réguler les migrations internationales.9

Interessant ist ferner, dass im Kontext gesellschaftlicher Diskurse über Migration auch ehemalige Meta-Narrative wie Nation, Rasse oder Christentum durchaus wieder machtvoll werden, allerdings eben nicht mehr integral und integrativ wirken, sondern, ganz im Gegenteil, vielmehr gesellschaftsspaltend.

3

Migration als beständiger (Krisen-)Prozess

Auch wenn es aufgrund des Migrationszustroms von 2015 so erscheinen mag, als sei Migration ein beispiellos aktuelles Thema, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Migrationsbewegungen schon immer gegeben hat und die Menschheitsgeschichte vor allem eine Geschichte der sich immer wieder in Schüben vollziehenden globalen Migrationen des Menschen ist (vgl. dazu auch den Beitrag von Fonk in diesem Band). Ganz besonders gilt dies für Frankreich, denn Frankreich ist das älteste Einwanderungsland Europas und die heutige französische Bevölkerung ist wesentlich von Einwanderung geprägt, so sind gegenwärtig rund 20 % der Franzosen und Französinnen im Ausland geboren oder haben Eltern mit Migrationshintergrund (vgl. Lacroix 2016, 74): Un quart de la population française d’aujourd’hui a ses racines à l’extérieur du territoire. Ce sont les enfants, petits-enfants, arrière-petits-enfants d’hommes et de femmes dont la destinée a rencontré celle de la France. Leurs romans familiaux tissent le récit d’une 9 »Frankreich ist ein wichtiges Aufnahmeland. / Frankreich ist großzügig bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen. / Frankreich nimmt das ›gesamte Elend der Welt‹ auf. / Einwanderung von Familien ist unproduktiv. / Die Migranten, die kommen, sind weder qualifiziert noch nutzen sie der frz. Wirtschaft. / Eine begrenzte Immigration entspricht den Erfordernissen des Arbeitsmarktes. / Frankreich entsendet keine unabhängigen Arbeiter, aber bekommt viele von diesen. / Immigranten senken die Löhne und Gehälter und schaden dem Arbeitsmarkt. / Immigranten profitieren von Sozialleistungen. / Immigration löst das Rentenproblem und wirkt der Überalterung der frz. Gesellschaft entgegen. / Immigration tötet Integration! / Freier Warenhandel und ›gemeinsame Entwicklungen‹ können den Einwanderungsdruck in reiche Länder bremsen. / Der Geldtransfer von Migranten dient nicht der Entwicklung. / Der Brain-Drain beeinflusst arme Länder kaum. / ›Zirkuläre Migration‹ ist keine Lösung für internationale Migration.« (Übers. M.O.H.)

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histoire revisitée, reliée à celle du monde et de ses soubresauts. (Aderhold / Davisse 2019, Klappentext)10

Frankreich ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Einwanderungsland, seine Einwanderungsgeschichte ist dabei überaus komplex und wechselhaft. Während die immigration de voisinage (Einwanderung aus den Nachbarländern) nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine gewünschte und überwiegend europäische war (Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus Italien, Spanien und Portugal), verstärkte sich die zwar kontrollierte, so doch massenhafte Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien infolge der Dekolonialisierungsprozesse ab Ende der 1950er Jahre auf bis dahin beispiellose Weise. Im Zusammenhang mit dem folgeschweren Ende der sogenannten Trente Glorieuses (vgl. Fourastié 1979), der Phase des Aufschwungs und Wohlstands, durch die Ölkrise 1973 / 74 wurde Einwanderung zunehmend als Belastung der krisengeschüttelten französischen Gesellschaft betrachtet. So wurde 1974 ein Aufnahmestopp verhängt und es folgten zahlreiche weitere Restriktionsmaßnahmen, um weitere Zuwanderung einzudämmen. Der Einwanderungsdruck konnte allerdings allein aufgrund der Familienzusammenführung – als zahlenmäßig bis heute wichtigste Form der Zuwanderung – nur geringfügig gesenkt werden. Infolgedessen wurde das Thema Migration spätestens in den 1980er Jahren zu einem der zentralen Themen der französischen Innenpolitik. Dabei zeichnete sich die Krise des republikanischen Integrationsmodells, das de facto ein Assimilationsmodell ist (vgl. Dubet 1993), immer deutlicher ab.11 Im Zentrum des französischen Einwanderungsmodells steht die Grundannahme, dass sich Einwanderer und Einwanderinnen im creuset français (vgl. Noiriel 2016), dem französischen Pendant des angloamerikanischen Idealkonzepts des melting pot (vgl. zu letzterem auch den Beitrag von Fitz in diesem Band), an die französische Gesellschaft assimilieren. Dieses optimistische Modell beruht auf den republikanischen Grundpfeilern (neben Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist dies insbesondere das Prinzip der Laizität12) des voluntaristi10 »Ein Viertel der heutigen französischen Bevölkerung hat seine Wurzeln außerhalb Frankreichs. Sie sind die Kinder, Enkel, Urenkel von Männern und Frauen, deren Schicksal das Frankreichs getroffen hat. Ihre Familienromane weben die Geschichte einer neu überarbeiteten Geschichte, die mit der der Welt und ihren Umwälzungen verbunden ist.« (Übers. M.O.H.) 11 Zunehmend problematisch wurde das Assimilationsprinzip nicht zuletzt auch angesichts der spätestens ab Mitte der 1970er Jahre überwiegend muslimisch geprägten Migration. Denn die Forderung der vollständigen Assimilation ist für einige Menschen muslimischen Glaubens insofern rein konzeptuell kaum nachvollziehbar, als der Gedanke der umma (Gemeinschaft aller Muslime) dem der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre und damit von religiösem und öffentlichem Leben quasi entgegensteht. 12 Mit der Loi relative à la séparation des Eglises et de l’Etat (Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat) von 1905 wurde die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich endgültig

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schen Nationenkonzepts Frankreichs.13 Frankreich steht damit im Grundsatz allen Zuwanderern und Zuwandererinnen für eine Aufnahme und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen System offen, die sich zu den republikanischen Werten und Traditionen bekennen, die Gesetze achten und sich mit der Republik identifizieren. Damit sind alle citoyens (Staatsbürger und Staatsbürgerinnen) Träger einer gemeinsamen nationalen und kulturellen Identität, die sich über die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Bekenntnis zu den republikanischen Grundwerten definiert. Sämtliche identitätsstiftende Merkmale der eigenen Persönlichkeit wie Rasse, Religion, Herkunft oder politische Anschauung gehören dabei zur Sphäre des Privaten (espace privé), werden damit also keineswegs ausgeschlossen, sind aber eindeutig von der Sphäre des Öffentlichen (espace public) abzugrenzen und der Identifikation mit der Republik unterzuordnen. Ein weiterer zentraler Pfeiler des französischen Assimilationsmodells besteht darin, dass Kinder von Einwanderern und Einwanderinnen durch das ius soli (Territorialprinzip) automatisch französischer Staatsangehörigkeit sind.14 Ab den 1980er Jahren war es nicht mehr zu übersehen, dass das Narrativ der égalité (Gleichheit) eben doch nicht für alle citoyens gleichermaßen galt: Die erste Generation, der in Frankreich geborenen Kinder von eingewanderten Eltern erlebte, dass sie trotz französischer Staatsbürgerschaft gesellschaftlich abgehängt wurde. Besonders deutlich zeigte sich dies in den banlieues, den satellitenartigen Vorstädten, in denen die überwiegend unqualifizierten und ökonomisch schwachen Migranten und Migrantinnen seit den 1970er Jahren in amorphen Hochhaussiedlungen (cités) ghettoartig angesiedelt worden waren. Schnell wurden die cités zu stigmatisierten Räumen der Peripherie, deren Bewohner und Bewohnerinnen sozial benachteiligt waren und deren Kinder kaum Zukunftschancen hatten. Es kam zu immer größeren sozialen Konflikten und rassistischen Ausschreitungen, die 1983 mit der marche des beurs einen ersten Höhe-

besiegelt und ist in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz zentraler Teil der französischen Verfassung der Fünften Republik, wo es in Artikel 1 heißt: »Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion.« (https:// www.conseil-constitutionnel.fr/de/verfassung-vom-4-oktober-1958, 15. 07. 2021). 13 Das Selbstverständnis Frankreichs als Willensnation (und nicht als Kulturnation) geht auf den französischen Historiker und Schriftsteller Ernest Renan zurück, der Frankreich in seiner 1882 gehaltenen Rede »Qu’est-ce qu’une nation?« (»Was ist eine Nation?«, 1996) als »eine große Solidargemeinschaft« versteht, die durch das »tägliche Plebiszit« seiner Bürger aufrechterhalten wird. 14 Für eine diachrone Darstellung des Rechtsstatus des ius soli neben dem ius sanguinis (Abstammungsprinzip) vgl. Weil (2002).

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punkt erreichten. Bei dieser Protestaktion gingen die beurs15, d. h. die in Frankreich geborenen Kinder der maghrebinischen Einwanderergeneration, erstmals gegen Rassismus und systemische Diskriminierung auf die Barrikaden. Quasi zeitgleich erreichte der extrem rechte Front National erste größere Wahlerfolge, insbesondere auch mit seiner Kampagne Être Français, cela se mérite (Franzose zu sein, muss man sich verdienen), mit der die automatische Vergabe der französischen Staatsangehörigkeit in Frage gestellt wurde. Tatsächlich entwickelte sich der Slogan insofern zu einem migrationskritischen Narrativ, als dieser bis heute m. E. auch seitens der eher gemäßigten Rechten weiterhin bedient wird. Während sich Frankreichs Gesellschaft ab der Jahrtausendwende insofern als postmigrantisch16 zeigte, dass Einwanderung zunehmend als integraler und bereichernder Bestandteil der französischen Gesellschaft verstanden wurde, und 2007 mit Rachida Dati zum ersten Mal eine Frau mit Migrationshintergrund einen Ministerposten erhielt, zeigten sich die konservativen Regierungen unter Jacques Chirac (1995–2007) und Nicolas Sarkozy (2007–2012) mit ihrer restriktiven Einwanderungspolitik und ihrem äußerst konfliktvollen Umgang mit den Themen Einwanderung und Integration hinsichtlich der Etablierung ebendieses Narrativs von Frankreich als postmigrantischer Gesellschaft als kontraproduktiv. Vor allem die Rhetorik von Sarkozy in seiner Zeit als Innenminister setzte 2005 die Vorstädte ganz wörtlich in Brand (vgl. Draï / Mattéi 2006), indem er die Vorstadtbewohner und -bewohnerinnen als »racaille« (INA 2005, Herv. M.O.H.; Übers.: Gesindel, Abschaum) bezeichnete und angekündigte, die Vorstädte mit einem Kärcher reinigen zu wollen.17 Sarkozys Präsidentschaft bestärkte das Narrativ der maîtrise des flux migratoires (Kontrolle der Migrationsströme), d. h. das Narrativ krisenhaft wahrgenommener irregulärer Migration nur noch weiter: Insbesondere sein erbarmungsloser Kampf gegen irreguläre Einwanderung, der sich in gewaltsamen Räumungen illegaler Roma-Siedlungen und der Abschiebung hunderter Roma 15 Der Begriff beur ist eine Selbstbezeichnung der Kinder und Jugendlichen mit arabischen Wurzeln und bedeutet im verlan, einer u. a. durch Silbenverdrehung geschaffenen und permanent neuerfundenen Sprache, die sich zuerst in den Pariser banlieues entwickelte, soviel wie Araber bzw. Araberin. Zur sogenannten Generation beur vgl. Barsali / Freland / Vincent (2003). 16 Zu Begriff und Bedeutung vgl. Foroutan (2019). 17 Nach der Ermordung eines Kindes durch Gangs in der cité von Courneuve bei Paris sagte Sarkozy: »Dès demain, on va nettoyer au Karcher la cité. On y mettra les effectifs nécessaires et le temps qu’il faudra, mais ça sera nettoyé. / Ab morgen werden wir die Vorstädte mit dem Kärcher reinigen. Wir werden die nötige Arbeitskraft und Zeit aufwenden, aber es wird aufgeräumt werden.« (Solé 2005, Übers. M.O.H.). Nach den Krawallen in Argenteuil einige Monate später verkündete er: »Vous en avez assez de cette bande de racaillles, on va vous en débarrasser. / Sie haben genug von diesem Gesindel, wir werden es Ihnen vom Leib halten.« (INA 2005, Übers. M.O.H.).

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nach Rumänien und Bulgarien (2010) manifestierte, bestärkte das Narrativ der durch Migration gefährdeten inneren Ordnung. Der Regierungswechsel brachte nur auf den ersten Blick einen Kurswechsel, denn schnell zeigte sich, dass François Hollande (2012–2017) immer stärker in das Fahrwasser der rechtsradikalen Marine Le Pen geriet (vgl. Carvalho 2019) und u. a. mit der Fortsetzung der Räumung illegaler Lager (Roma-Lager in ganz Frankreich; Flüchtlingscamp in Calais) das Narrativ der maîtrise des flux migratoires weiter etablierte. Verstärkt wurde dieser Kurs nicht nur durch die europäische ›Flüchtlingskrise‹ von 2015, sondern auch durch die islamistisch begründeten Terroranschläge auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo (2015), auf die Pariser Konzerthalle Bataclan (2015) sowie bei den Nationaltagsfeierlichkeiten in Nizza (2016).18 Die Verhängung des Ausnahmezustands 2015 (bis 2017) und die Zunahme von Kontrollen und Razzien im öffentlichen Raum verstärkten zudem den allgemeinen Eindruck der potentiell von Migranten und Migrantinnen ausgehenden Gefahr, sodass Migration infolgedessen in immer größeren gesellschaftlichen Kreisen der französischen Ursprungsgesellschaft als Ursache für die Krise der französischen Gesellschaft verstanden wurde. Emmanuel Macron (seit 2017 als Staatspräsident im Amt) zeigte sich mit seinem Zuspruch zu Angela Merkels Willkommenskultur zunächst sehr aufgeschlossen gegenüber Migration und fuhr einen deutlich humanistischeren Kurs als seine Vorgänger. Sein Innenminister, Bernard Cazeneuve, brachte Frankreichs Immigrationspolitik 2015 mit dem Slogan »Notre position vis-à-vis des migrants: humanité et fermeté« (Libération 2015)19 zum Ausdruck. Seither hat Macron in seiner Beurteilung von Migration allerdings einen deutlichen Rechtsschwenk vollzogen. So bestätigt er mit seiner Differenzierung des bon refugié (guter Flüchtling) vom mauvais migrant (schlechter Migrant) nicht nur seinerseits das Narrativ der maîtrise des flux migratoires, sondern stärkt zugleich das zutiefst problematische Narrativ der Migration als Krise, das zum Standardrepertoire von Marine Le Pen und ihrem Rassemblement National zählt. Vor dem Hintergrund, dass Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2022 (wie auch schon 2017) Macrons Herausforderin war, ist die seit 2019 zu beobachtende deutlich rigidere Einwanderungspolitik sowie die ab 2021 geltende Einführung von Quoten für Wirtschaftsmigranten und -migrantinnen zweifelsohne als Mittel eines Wahlkampfes zu betrachten, der mit den offensichtlichen Zugeständnissen an eine migrationskritische Position eine rechte Regierung zu verhindern suchte. Auch wenn Frankreich in der OECD eines der Hauptaufnahmeländer von Geflüchteten (etwa aus Syrien) ist, fallen die effektiven Aufnahmezahlen im Vergleich zu Deutschland, Österreich und Schweden weitaus geringer aus – und 18 Vgl. hierzu vertiefend Kepel (2015). 19 »Unsere Position gegenüber Migranten: Humanität und Entschlossenheit.« (Übers. M.O.H.)

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bleiben selbst noch hinter den Zahlen der maghrebinischen Immigrationswelle in den 1960er Jahren zurück (vgl. Lacroix 2016, 77). Doch lassen sich hinsichtlich der Migration gegenwärtig zwei massive Unterschiede zu anderen europäischen Ländern beobachten: Zum einen verzeichnet Frankreich seit einigen Jahren eine kontinuierlich steigende Zahl von Asylanträgen, während in allen anderen EUMitgliedsstaaten die Antragszahlen rückläufig sind. Dieser Schereneffekt ist vor allem den sogenannten Dublin-Fällen geschuldet, auf die 2019 jeder vierte Erstantrag zurückging (vgl. Krause 2020). Zum anderen unterscheidet sich die Situation in Frankreich hinsichtlich einer ungleich höheren Zahl der sans papiers, d. h. der nicht registrierten, ›illegalen‹ Migranten und Migrantinnen, die in Frankreich Schätzungen zufolge europaweit am höchsten ist. Für eine beispiellos große Gruppe (insbesondere Nicht-Frankophoner) ist Frankreich aber gar nicht das eigentliche Ziel der Migrationsbewegung, sondern lediglich ein Transitraum, von dem aus sie England oder Deutschland erreichen wollen. Die Tatsachen, dass sich französische Behörden erst nach Antragsstellung um die Unterbringung der Asylsuchenden kümmert und die Zahl der Unterkünfte darüber hinaus vollkommen unterdimensioniert ist, sowie die große Anzahl nicht registrierter Migranten und Migrantinnen begründen auch die Vielzahl illegaler Zeltlager in quasi allen großen Städten Frankreichs. Dass sich die zutiefst prekären Lebenssituationen seitens dieser Migranten und Migrantinnen zu einem eigenen Krisennarrativ der Migration verdichten, zeigt die Bewegung der gilets noirs, der Schwarzwesten, die im Juli 2019 im Fahrwasser der Gelbwestenbewegung entstanden ist und sich als ebenfalls soziale Bewegung gegen Ausbeutung versteht und mit der Besetzung des Pariser Panthéon als dem zentralen lieu de mémoire (Erinnerungsort) der französischen Nation ihren Höhepunkt erreichte: »On est des Gilets jaunes qui ont été noircis par la colère«, erklären die Initiatoren und Initiatorinnen und beklagen: »Nous sommes sanspapiers, sans-voix, sans-visages pour la République Française.« (Girard 2019).20

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Migration als Krisen- und Bedrohungsnarrativ

Das Narrativ der Migration als Krise und Bedrohung findet sich aber nicht nur in politischen und medialen Diskursen, sondern auch in den Schriften französischer Denker, insbesondere solcher der extremen Rechten. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Renaud Camus,21 der das Narrativ der Migrationskrise 20 »Wir sind Gelbwesten, die vor Zorn schwarz geworden sind«; »Wir haben keine Papiere, sind ohne Stimme, ohne Gesicht für die Französische Republik.« (Übers. M.O.H.) 21 Infolge der sogenannten Camus-Affäre wurde der Autor 2014 für seine rassenfeindlichen Äußerungen von einem Pariser Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, sein Verleger (Fayard)

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mannigfaltig bedient und dabei auch insofern an ›alte‹ Bedrohungsnarrative anschließt, als er sich explizit auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918–23) bezieht. In La grande déculturation (2008) und Le grand remplacement (2011), zwei stark kulturpessimistischen und zugleich ebenso deutlich antisemitischen wie antimuslimischen, ja grundsätzlich fremdenfeindlichen expositorischen Texten zur Lage der Nation, beklagt Camus einen Identitäts- und Kulturverlust Frankreichs (déculturation), der die ›fatale‹ Folge der Zuwanderung sei. Im Rahmen seiner nationalistischen Globalisierungs- und Migrationskritik führt Zuwanderung unweigerlich zu einem »großen Bevölkerungsaustausch« und einer »Umvolkung« zu Gunsten der Fremden (vgl. Camus 2011). Die seiner Meinung nach viel zu laxe staatliche Einwanderungspolitik interpretiert Camus als Verschwörung der französischen Regierung, die eine ›Auflösung‹ des französischen Volkes plane. Als intellektueller Vordenker des Front National (heute Rassemblement National) findet Camus’ migrationskritische Verschwörungstheorie aber nicht nur in nationalistischen Kreisen Anklang, sondern (wenn auch in nicht unkritischer Weise) mitunter auch in breiteren Teilen der französischen Publizistik und Literatur, wie z. B. bei Alain Finkielkraut oder Michel Houellebecq. Neben Oswald Spengler ist der französische Schriftsteller Jean Raspail ein Vorbild für Renaud Camus. Einem Visionär gleich scheint der antirepublikanisch eingestellte katholische Monarchist Raspail in seinem dystopischen Roman Le camp des saints (Das Heerlager der Heiligen, 2015) bereits 1973 die ›Migrationskrise‹ der Gegenwart antizipiert zu haben. Die neue Aktualität des Romans führte dazu, dass er 2015 in Frankreich neu ediert wurde und in Deutschland mit einer Neuübersetzung durch Martin Lichtmesz, einem führenden Vertreter der österreichischen Neuen Rechten, im ebenfalls der Neuen Rechten zugehörigen Verlag Antaios erschien. Die Eingangssequenz inszeniert das Narrativ der über das Mittelmeer über Frankreich hereinbrechenden Migrantenflut: Man konnte aus der Ferne die luxuriösen Alleen, die Spitzen der grünen Palmen und die weißen Bungalows am Strand erkennen. Das Meer war ruhig und blau, ganz nach dem Geschmack der Reichen. Und doch war all der Überfluß, der normalerweise den Schauplatz erfüllte, an diesem Tage wie weggefegt. Verschwunden waren die verchromten Yachten, die muskelbepackten Wasserschifahrer, die sonnengebräunten Mädchen, die dicken Bäuche, die es sich auf den Decks der behäbigen Segelschiffe gemütlich machten. Es war kaum zu glauben: Auf dem verlassenen Meer lag stattdessen eine verrostete Flotte vom anderen Ende der Welt, die keine fünfzig Meter vom Ufer entfernt auf Grund gelaufen war. Der Professor hatte sie seit dem frühen Morgen zog seine Werke zeitweise vom Verkauf zurück. Im deutschsprachigen Raum wird Camus vor allem im Umfeld der Neuen Rechten und der Identitären Bewegung positiv aufgenommen. Zu Camus vgl. z. B. Weigel (2009).

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beobachtet. Der beißende Latrinengestank, der ihre Ankunft angekündigt hatte wie der Donner das Gewitter, hatte sich inzwischen komplett verflüchtigt. Durch das Objektiv seines Teleskopes betrachtet, wimmelten die unwirklichen Invasoren so nahe vor seinen Augen, als wären sie bereits die Hänge heraufgekommen und in sein Haus eingedrungen. […] Dann preßte er sein Auge erneut auf das Guckloch. Er wollte die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ausnutzen, die noch einmal das unwahrscheinliche Schauspiel erhellten, ehe die Nacht hereinbrach. Wie viele mochten es wohl sein dort unten, an Bord ihrer gestrandeten Wracks? Die knappgehaltenen Rundfunkmeldungen hatten seit dem frühen Morgen immer wieder eine schier unglaubliche Anzahl genannt. Wenn es stimmte, mußte es sich um gewaltige Menschenmassen handeln, die dort in den Laderäumen und auf den Decks zusammengepfercht waren und den Schiffsboden bis hin zu den Kommandobrücken und Schornsteinen bedeckten. Diejenigen, die noch lebten, wurden demnach von schichtweise gestapelten Leichenbergen getragen, ähnlich wie man es bei Ameisen in Marschbewegung beobachten kann, deren sichtbarer Teil den Anschein eines lebendigen Gewimmels erweckt, unter dem aber eine mit Millionen von Kadavern gepflasterte Ameisenstraße liegt. […] Das Schiff war nahe am Strand abgesackt […]. Vielleicht hielt es auch niemand an Bord für nötig, sich noch um irgendetwas zu kümmern, da nun der Exodus an den Toren des neuen Paradieses sein Ende gefunden hatte. […] An diesem Karsamstagabend belagerten 800000 Lebende und Tote friedlich die Grenze des Abendlandes. […] Er schaltete sein Radio an, das auf den Nachrichtensender eingestellt war. Rockmusik, Popsternchen, Berufsschwätzer, schwarze Saxophonspieler, Gurus, Filmstars, Entertainer, Spezialisten für Gesundheit, Herzschmerz und Sex, dies alles war aus den Rundfunkwellen verschwunden, wurde plötzlich als unangemessen empfunden. Es schien, als ob das Abendland in der Stunde seines Untergangs besondere Sorgfalt auf sein letztes akustisches Gesicht legte. Sämtliche Sender spielten nun nichts anderes mehr als Mozarts »Kleine Nachtmusik«, immer wieder. […] Gab es auf der Welt etwas Abendländischeres, Zivilisierteres, Vollkommeneres als Mozart? (Raspail 2015, 9–10, 10–11, 13, 14)

Der durch die »Invasion« der Migranten und Migrantinnen vermeintlich drohende Untergang des christlichen Abendlandes wird hier geradezu pathetisch inszeniert: Neben der deutlichen Kontrastierung des wohlhabenden und schönen Europas mit dem armen und hässlichen Fremden und dem Vergleich der Migranten und Migrantinnen mit Ameisen, der diese zu einer animalischen Masse entindividualisiert und entmenschlicht, fallen besonders die Bezüge zu zwei großen europäischen Narrativen auf, derer sich Raspail bedient, um das Bedrohungspotential der Migranten und Migrantinnen besonders wirkstark zu gestalten. Da ist zum einen das Narrativ von Mozart als dem Inbegriff abendländischer Kunst und Kultur. Zum anderen ist da die Inszenierung der christlichen Auferstehungsmetaphorik ex negativo, denn was hier aufzuerstehen ›droht‹, ist das, was Camus (2011) als »großen Bevölkerungsaustausch« und »Umvolkung« bezeichnet. Das Narrativ der Migrantenflut und der auf dem Meer in Seenot geratenen Migranten und Migrantinnen wird aber nicht nur von migrationskritischen,

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nationalistischen Schriftstellern der französischen Ursprungsgesellschaft bedient, sondern findet sich beispielsweise auch in dem bereits genannten Roman Assommons les pauvres (2011) der im westbengalischen Kalkutta geborenen französischen Autorin Shumona Sinha, hier allerdings in einem interessanten Vexierspiel zwischen dem unter Migranten und Migrantinnen verbreiteten Narrativ von Europa als traumhaftem Paradies und dem großen französischen Narrativ des Untergangs der Medusa, auf das über die Polysemie des Begriffs méduse (zoologisch »Qualle«) angespielt wird:22 Le rêve est cette volonté qui nous fait traverser des kilomètres, des frontières, des mers et des océans, et qui projette sur le rideau dris de notre cerveau l’éclaboussure des couleurs et des teintes d’une autre vie. Et les hommes envahissent la mer comme des méduses mal-aimées et se jettent sur les rives étrangères. (Sinha 2011, 11)23

Es gehört zweifelsohne zu den besonders befremdlichen Phänomenen der Gegenwart, dass das Narrativ der Migration als Krise und Bedrohung auch in Bevölkerungsteilen mit Migrationshintergrund Verbreitung ist. Dieses Phänomen ist mit Blick auf Frankeich insofern ganz besonders paradox, als es sich im Kontext von Gleichheits- und Assimilationsprinzip um eine Art Gradmesser für Integration handelt: Wer assimiliert lebt, ist gleichberechtigter citoyen und in sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsteilen, in denen populistische und migrationskritische Narrative verfangen, gilt dies für alle gleichermaßen, ungeachtet der Tatsache, dass einige unter ihnen selbst einen Migrationshintergrund haben. Somit wird das Narrativ vom guten (assimilierten) und vom schlechten Migranten bzw. von der guten und von der schlechten Migrantin auch aus der Selbstperspektive heraus perpetuiert. Sinha beschreibt das Phänomen eines regelrechten Hierarchiekampfes zwischen Franzosen und Französinnen mit Migrationshintergrund und neu zugewanderten Migranten und Migrantinnen um die Legitimität in Frankreich frei leben und handeln zu dürfen, z. B. in ihrem Roman Apatride (2017a; Staatenlos, 2017b). Die aus Indien kommende Protagonisten Esha unterrichtet an einer Schule in der Pariser banlieue und erfährt als Migrantin immer wieder diskriminierende Ablehnung seitens ihrer Schüler und Schülerinnen, so etwa in einer Schulstunde, in der sie einen Dokumentarfilm zeigt:

22 Die französische Fregatte Méduse war 1816 vor der Küste Westafrikas auf Grund gelaufen; die überlebenden Schiffbrüchigen bauten ein Floß, mit dem sie tagelang hilflos auf dem Meer trieben. Als Narrativ ging die Katastrophe vor allem über Théodore Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa (1819) ins kollektive Gedächtnis Frankreichs ein. 23 »Der Traum ist der Wille, der uns Kilometer, Grenzen, Meere und Ozeane überwinden lässt und auf den grauen Schleier unseres Gehirns die Farbgischt eines anderen Lebens sprüht. Und diese Männer befallen das Meer wie ungeliebte Quallen und werfen sich an fremde Ufer.« (Sinha 2015, 9)

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Mitten im Film rief die Klassensprecherin, Svetlana, eine junge Schwarze, die das weiße Verlangen ihrer Eltern vor sich her trug. »Aber sie war doch Jüdin?« Einige Mädchen zuckten zusammen. »Ja. Na, und?« Esha drückte die Pausentaste und beobachtete ihre Klasse. Die verschwörerischen Blicke, die sich Svetlana, Amina, Tiffany und ein paar andere zuwarfen, beruhigten sie nicht wirklich. »Aber die Juden benutzen am Freitag keinen Strom. Und die in dem Film trägt weite Kleider, weil Juden keine engen Kleider tragen.« Sehr bedächtig zählte Amina ihre Argumente auf. Ihre Klassenkameraden nickten. »Wir sollten Verallgemeinerungen meiden, oder? Die Juden sind so, die Arber sind so, die Inder sind so…« »Aber Sie haben doch gesagt, dass wir nicht über Juden reden sollen, und jetzt reden wir doch wieder über sie.« »Ich habe nicht gesagt, dass wir nicht über Juden sprechen, ich habe gesagt, dass wir nicht verallgemeinern sollen, weder bei Juden, noch bei irgendwem.« Ihre Stimme ging in den Schreien der Mädchen unter. Svetlana sprang auf. »Sind Sie Lehrerin oder was? Was soll das? Das ist Gehirnwäsche.« Sie reckte ihren Hals, ihren ganzen Körper zu Esha, ihre schwarzen Augen waren voller Wut. »Sie können das gar nicht entscheiden! Sie sind Ausländerin! Ich bin hier geboren. Ich bin hier zu Hause.« (Sinha 2017b, 126–127; auch: Sinha 2017a, 131–132)

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Die banlieue als Krisen-Narrativ

Spätestens ab Ende der 1980er Jahre werden die banlieues zunehmend zu quartiers sensibles (Brennpunktviertel), die von hoher Arbeitslosigkeit, perspektivlosen Jugendlichen, Drogenhandel, Prostitution, Kriminalität und Gewalt geprägt sind (vgl. z. B. Dubet / Lapeyronnie 1994). Mit den 2000er Jahren verschärft sich die Situation und eskaliert immer wieder: Vielfach kommt es dabei zu heftigen Gewaltausbrüchen, bei denen Franzosen und Französinnen der zweiten und dritten Einwanderergeneration in Konflikt untereinander oder / und mit französischen Ordnungshütern geraten und ganze Stadtviertel in bürgerkriegsartige Ausnahmezustände versetzen. Tatsächlich ist die banlieue längst zu einem Narrativ geworden, das untrennbar mit der Krise der französischen Migrations- und Integrationspolitik verbunden ist. Dabei ist das Narrativ der Krise der Vorstädte nicht nur in öffentlichen und politischen Diskursen fest etabliert, sondern bildet ab den 1990er Jahren auch die Grundlage des neuen französischen Filmgenres des cinéma de banlieue (vgl. Giesenfeld 2001; Milleliri 2011; Tarr 2005). Einer der ersten großen Erfolge dieses Genres ist Mathieu Kassovitz’ ebenso kontrovers diskutierter wie vielfältig gelobter Schwarzweißfilm La Haine (1995; Hass), in dem das ›WutNarrativ‹ der Vorstädte am Beispiel dreier ungleicher Jugendlicher überaus in-

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tensiv inszeniert wird. Die Bandbreite der ästhetisch-stilistischen Gestaltung sowie die eingenommene (Fremd- bzw. Selbst-)Perspektive der einzelnen zum Subgenre gezählten Produktionen ist indes sehr groß und reicht von Luc Bessons dystopischem Actionfilm Banlieue 13 (2004; Ghettogangz – Die Hölle vor Paris) und seiner Fortsetzung Banlieue 13 – Ultimatum (2009; Ghettogangz 2 – Ultimatum) bis zu der ungleich realistischeren Netflixproduktion Banlieusards (2019; Banlieusards – Du hast die Wahl). Das Regisseurduo Leïla Sy und Kery James, die beide selbst aus der banlieue stammen, zeichnen hierin die problematische Entwicklung unterschiedlicher Vorstadtjugendlicher quasi aus der Innenperspektive nach, bedienen sich dabei aber ebenfalls des etablierten Narrativs der banlieue als einem multinationalen Konfliktraum außerhalb der französischen Normgesellschaft. Wie bereits erläutert, ist vor allem Sarkozys migrationskritische Rhetorik dafür verantwortlich, dass sich das Narrativ der émeutes de 200524, der brennenden Vorstädte als Sammelbecken kriminellen »Gesindels« (INA 2005, Übers. M.O.H.), etablierte. Der staatliche Umgang mit dem Polizeieinsatz und seinem tragischen Ausgang führte zu einer zunehmend kritischen Betrachtung des französischen Polizei- und Rechtssystems. Durch den engagierten und unerschrockenen Einsatz der beiden Pariser Anwälte Emmanuel Tordjman und JeanPierre Mignard, die alles daran setzten, die unangemessene und unrechtmäßige polizeiliche Vorgehensweise sowie die Vertuschungsversuche seitens der staatlichen Institutionen aufzudecken, bildete sich im Anschluss an ihre Dokumentation über die Affäre von Clichy-sous-Bois (L’Affaire Clichy, 2006) ein weiteres Mikro-Narrativ der banlieue heraus: das einer von strukturellem Rassismus dominierten Polizeigewalt, die mit ihrem racial profiling-Vorgehen das republikanische Ideal der égalité missachtet und damit das Scheitern der Assimilationspolitik auch in institutioneller Hinsicht unterstreicht. In der Arte-Fernsehproduktion L’embrasement (2006; Wut in den Städten, 2007) bearbeitet Philippe Triboit die Clichy-Affäre auf der Basis des Tatsachen24 Auslöser dieser monatelangen Unruhen war der Unfalltod zweier Jugendlicher in dem Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle versteckten sich im Oktober 2005 drei Jugendliche in einer Trafostation, wobei zwei von ihnen durch einen Stromschlag ums Leben kamen, der dritte überlebte mit starken Verbrennungen. Da Polizei und Regierung die Aussagen von Zeugen und dem überlebenden Jugendlichen kategorisch dementierten, es sei zu dem Unfall gekommen, weil Polizisten die jungen Männer verfolgt hätten, reagierten diese mit massiven Gewaltausbrüchen, bei denen zahllose Autos und Häuser in Brand gesteckt wurden. Wie ein Lauffeuer breiteten sich die Krawalle auf andere Vorstädte und schließlich auch auf andere französische Städte wie Lille, Rouen, Rennes, Dijon, Toulouse und Marseille aus. Das harte Vorgehen der Polizei, die eindeutig rassistische Kampfrhetorik Sarkozys sowie seine (Verschwörungs-)Theorie, es handele sich um organisierte Krawalle, ließen die Lage derart eskalieren, dass sie nur schwer wieder befriedet werden konnte (vgl. Lagrange / Oberti 2013).

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berichts von Emmanuel Tordjman und Jean-Pierre Mignard als Dokufiktion, was die Einblendung im Vorspann deutlich unterstreicht: »Ce film est une fiction inspirée de faits réels. Excepté les victimes, leurs familles et leurs avocats, tous les personnages sont imaginaires.« (00:15)25. Im Mittelpunkt des Films steht ein belgischer Investigativjournalist, der zusammen mit einem Anwalt den wahren Hintergründen des Todes der beiden Jugendlichen in Clichy-sous-Bois auf den Grund gehen will. Die fiktionalen Passagen werden in geschickten Ein- und Überblendungen mehrfach mit Nachrichtenberichten verschmolzen, wobei vor allem die erste Einbindung eines TV-Berichts zu den Ereignissen – zunächst als Voice-Over-Einblendung (03:03–03:36) und dann als komplette Montage (03:36– 03:49) – insofern besonders interessant ist, als darin die offizielle Bewertung von Sarkozy im Original und damit in maximaler Distanz von der Position des Filmemachers wiedergegeben wird (s. Abb. 1).

Abb. 1: L’embrasement (03:36).

In drastischer Direktheit gibt der Film die hasserfüllte Atmosphäre der banlieue wieder und zeigt die schier unbegrenzte Gewaltbereitschaft ihrer Bewohner und Bewohnerinnen. Ohne explizit moralisch urteilende Bewertungen der Ereignisse vorzunehmen, wird die Sympathie doch recht eindeutig auf die Jugendlichen gelenkt, denen bei den Ermittlungen letztlich nur widerwillig zugehört und gezielt versucht wird, sie zu verunsichern und zu widersprüchlichen Aussagen zu provozieren. So etwa bei der Befragung des schwer verletzten und im Grunde kaum vernehmungsfähigen Jugendlichen im Krankenhaus (05:29–07:40): Der stark verängstigte Jugendliche ist den beiden unfreundlichen Polizeibeamten, die

25 »Bei diesem Film handelt es sich um eine Fiktion, die von wahren Begebenheiten inspiriert wurde. Mit Ausnahme der Opfer, ihrer Familien und ihrer Anwälte, sind alle Personen frei erfunden.« (Übers. M.O.H.)

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sich nicht nur deutlich über seinen Soziolekt mokieren, sondern ihm auch noch das Wort im Mund herumdrehen, hilflos ausgeliefert (s. Abb. 2).

Abb. 2: L’embrasement (06:19).

Das Machtverhältnis wird dabei über den implizit wertenden Schwarz-WeißKontrast auch symbolisch hervorgehoben: Die beiden dunkel gekleideten, geradezu martialisch auftretenden Beamten umlagern (sitzend und stehend) den unschuldigen und schwachen Jungen, der in seinem weißen Krankenhausbett liegt. Die Inszenierung der unmissverständlichen Machtdemonstration der Polizeibeamten kritisiert das neokolonial-hegemonial anmutende, rassistische Gebaren der französischen Polizisten bzw. Polizistinnen und Politiker bzw. Politikerinnen, ohne dabei aber die Bewohner und Bewohnerinnen der banlieue pauschalisierend von jedweder Mitteilhabe an den verheerenden Verhältnissen freizusprechen. Und so wird dem vor allem bei der französischen Mehrheitsbevölkerung verbreiteten Narrativ des unkontrollierten Hasses sowie der grenzenlosen Gewaltbereitschaft vollkommen gleichgültiger Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein anderes Narrativ entgegengesetzt, nämlich das der versagenden Instanzen der Republik. Der vielfach ausgezeichnete26 Spielfilm Les misérables (2019; Les misérables. Die Wütenden) verarbeitet ebenfalls diese beiden mit der banlieue verknüpften Narrative, nimmt dabei aber in doppelter Weise die Perspektive der ›Betroffenen‹ ein: Zum einen wuchs der Filmemacher Ladj Ly nicht nur selbst in der banlieue von Montfermeil auf, die auch das Setting des Films darstellt, sondern er geriet selbst wiederholt mit der Polizei in Konflikte und wurde 2011 sogar zu drei 26 Ladj Lys Spielfilmdebüt wurde u. a. bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2019 mit dem Preis der Jury ausgezeichnet sowie für die Goldene Palme und die Goldene Kamera nominiert. Bei der Oscarverleihung 2020 wurde er als bester internationaler Film nominiert, beim Golden Globe Awards 2020 als bester fremdsprachiger Film.

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Jahren Gefängnis verurteilt. Zum anderen wird der authentische Realismus in diesem Film nicht über die Montage dokumentarischer Filmelemente hergestellt, sondern darüber, dass der überwiegende Teil der Schauspielerinnen und Schauspieler aus Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern aus Montfermeil besteht. Obwohl die 2018 spielende Filmhandlung an sich fiktiv ist, so basiert sie doch auf eigenen Erfahrungen: Ly hielt die Gewaltexzesse zwischen Polizei und Bewohnern bzw. Bewohnerinnen seiner banlieue nicht nur in dem Dokumentarfilm 365 jours à Clichy-Montfermeil (2007; 365 Tage in Clichy-Montfermeil) fest, sondern filmte auch danach – meist allerdings eher per Zufall – brutale Polizeieinsätze mit einer Drohne. Ein Element, dass Ly mit einer Art alter-egoFigur, dem Jungen Buzz (der indes von Lys Sohn Al-Hassan verkörpert wird), eins zu eins in den Spielfilm einbaut. Der Wechsel von der mittels Handkamera realisierten Detaildarstellung der Ereignisse auf Augenhöhe der jeweils fokussierten Personen zu den Sequenzen, die mittels der Drohne eine überblickende Aufsicht auf das Viertel und ein Heranzoomen an den zentralen Polizeiübergriff auf den Jungen Issa ermöglichen, verleihen Les misérables auf filmischer Ebene eine Polyperspektivität, die sich im Laufe des Films ebenfalls auf inhaltlicher Ebene spiegelt. Zunächst scheint Ly allerdings etablierte Narrative zu bedienen. Die Eröffnungssequenz bedient das euphemistische Narrativ des creuset français27: 15. Juli 2018 – Les Bleus, Frankreichs Nationalmannschaft, die aufgrund ihrer multiethnischen Zusammensetzung seit der WM 1998 in Anlehnung an die Landesflagge auch als Équipe Tricolore black-blanc-beur28 bezeichnet wird, schlägt Kroatien im WM-Finale. Beim Fußball verfängt das republikanische Ideal der Gleichheit: Farbige Migrantenkinder wie Kyl ian Mbappé können wie Weiße zu Nationalhelden werden. Beim Feiern des Sieges kommen die Menschen aus der Peripherie zu den zentralen Orten der französischen Nationalidentität (Eiffelturm, Champs-Elysée), die umgebundene Trikolore eint Franzosen und Französinnen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft und Klasse (s. Abb. 3). Doch diese Einheit der Nation, die ihren Ausdruck in einem zwar chaotischexzessiven, aber doch friedlichen Miteinander im Zentrum findet, ist ein höchst temporärer Ausnahmezustand. Dass das Narrativ des creuset français nur noch Makulatur ist, zeigt der Blick an die Stadtränder: Hier ist ein zwar ähnlich chaotisch-exzessiver, aber latent aggressiver Ausnahmezustand die Regel. Um der allgegenwärtigen Kriminalität und Gewalt zu begegnen, patrouillieren Poli27 Interessanterweise scheint dieses Narrativ nur noch in Mainstream-Erfolgskomödien wie in Philippe de Chauverons Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu? (2014; Monsieur Claude und seine Töchter) erfolgreich zu sein. 28 Zum Neologismus »Schwarze, Weiße, Kinder von Maghrebinern« und seiner Bedeutung bzgl. der Identitätskonstruktion unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilgruppen vgl. z. B. Doering / Osthus (2002).

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Abb. 3: Les misérables (01:38).

zeibeamte der BAC (= brigades anti-criminalité; Anti-Kriminalitätseinheiten) Tag und Nacht durch die quartiers sensibles; im Film ist hierfür ein ungleiches Trio zuständig, bestehend aus dem blonden, abstoßend-arroganten und latent rassistischen Chris, dem ruhigeren, selbst aus Montfermeil kommenden, farbigen Gwada und dem neu zugezogenen Stéphane, der die stereotype Rolle des good cop einnimmt und eine Art Antagonist zu dem bad cop Chris darstellt. Inwiefern willkürliche Polizeischikane den Alltag der banlieue kennzeichnet, illustriert bereits einer der ersten Einsätze des Teams, bei dem drei an einer Bushaltestelle stehende Mädchen kontrolliert werden (20:38–21:52). Chris zeigt sich hier als weißer Mann, der es für vollkommen selbstverständlich hält, sich den Körper der schwarzen jungen Frau anzueignen zu dürfen (s. Abb. 4). Indem er sie in pöbelnder Weise des Kiffens bezichtigt, sie dabei grob anfasst und einem anderen Mädchen, das die Szene mit ihrem Handy filmt, das Telefon zerstört, offenbart er sein Selbstverständnis, mit dem er sein Verhalten rechtfertigt: »C’est moi, la loi« (01:07:08; »Das Gesetz bin ich«).

Abb. 4: Les misérables (21:13).

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Der zentrale Konflikt der Handlung wird aber dadurch ausgelöst, dass der Junge Issa, vom kollektiven Jubeltaumel über den WM-Sieg übermütig geworden, aus einem in der banlieue gastierenden Zirkus ein Löwenbaby klaut. Dabei werden zwei weitere pejorative Narrative über männliche Migranten bedient, zum einen das der kriminellen und gewaltbereiten ramboartigen Roma-Männer und zum anderen das der sich in der banlieue bekriegenden Clans und Gangs. Die ridikülisierend als »Gypsy Kings« (31:38) bezeichneten Zirkusleute werden zwar von allen Seiten als Fremde verachtet,29 die allen immer nur Ärger verursachen, doch macht sich die BAC-Einheit dennoch pflichtbewusst auf die Suche nach dem entwendeten Tier. Wohlwissend, dass in der banlieue die Gesetze der lokalen Gangs sehr viel größere Gültigkeit haben als die des Staates, werden die beiden rivalisierenden Bandenführer Le Maire 9330, ein Drogen- und Puffbetreiber und zugleich der selbsternannte ›Bürgermeister von Montfermeil‹, sowie Salah, der Anführer der Muslimbrüdergemeinde, in die Suche einbezogen. Als die Polizisten den Löwendieb Issa finden, rennt dieser weg. Nach einer wilden Verfolgungsjagd, bei der eine gewaltbereite wilde Meute Jugendlicher den Verfolgern Issas auf den Fersen ist, kommt es zur Katastrophe: Ausgerechnet der bis dahin vergleichsweise so sympathische Gwada verliert die Nerven und die Kontrolle über sich und über die Situation und schießt mit einem Gummigeschoss auf den Jungen, der schwer verletzt wird. Die Tatsache, dass Buzz dies mit seiner Drohne filmt, verschärft die Situation der Polizisten, insbesondere die Gwadas, der seinen Job in Gefahr sieht. Der ›unbeteiligte‹ Stéphane ist es nun, dem es vermeintlich gelingt, die Situation zu deeskalieren. Die ›Ordnung‹ scheint wieder hergestellt, die Konflikte sind vordergründig befriedet und die Speicherkarte der Drohne ist in den Händen der Polizisten. Alles ist wieder beim Alten, die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt hat (wie auch schon 2005) letztlich gar nichts verändert. Doch Ly lässt es nicht dabei, sondern überrascht mit einem unerwarteten turn, der das Narrativ der sich gewaltsam erhebenden, wütenden Subalternen mit dem einer revoltierenden Jugend verknüpft, die für eine andere, bessere Zukunft eintritt. Issa, das Opfer der Polizeigewalt, wird zum Anführer einer immer größer werdenden Gruppe gewaltbereiter Jugendlicher, die ihre angestaute anarchische Wut in einem beispiellosen Gewaltexzess an den drei 29 Ly bedient damit ein uraltes europäisches Narrativ, das bis in die Gegenwart mit ungebrochener Vehemenz perpetuiert wird. Dabei wird die kategorische rassistische Diskriminierung kriminalisierter Roma seitens der französischen Mehrheitsgesellschaft (mit oder ohne Migrationshintergrund) wie seitens anderer Migranten und Migrantinnen gleichermaßen bedient: »Les Roms. À eux seuls, ils condensent aujourd’hui tous les fantasmes, toutes les haines.« (Aderhold / Davisse 2019, 294) / »Die Roma. Allein an ihnen verdichten sich heute alle Phantasmen, aller Hass.« (Übers. M.O.H.) 30 Die Überheblichkeit zeigt sich mitunter auch darin, dass sich der Bandenanführer als ›Bürgermeister‹ des gesamten Département Seine-Saint-Denis versteht, das die Ordnungsnummer 93 hat.

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Polizisten auslassen. Interessant ist dabei die zunehmende Raumverengung: Während die Polizisten die wütende Jugend im freien Raum der banlieue einigermaßen in Schach halten konnten, verlieren sie in dem engen Treppenhaus eines heruntergekommenen Hochhauses jede Kontrolle und sind dem Mob, der hier eindeutig über die ›Hausmacht‹ verfügt, vollkommen ausgeliefert. In dieser Situation zeigt sich die differenzierte Personenkonzeption von Ly, denn Stéphane fällt aus seiner Rolle als good cop, nun ist er es, der die Nerven verliert und mit seiner Pistole auf Issa zielt. Mit dem Narrativ der Verstrickung aus Elend und Gewalt schreibt Ly das Narrativ einer Narration weiter, das als lieu de mémoire Teil der französischen Identität ist: Denn auch Victor Hugos titelgebender Parisroman Les Misérables (1862) beschreibt, dass Armut zu gewalttätiger Kriminalität als dem einzig erreichbaren Betätigungsfeld führt. Die Tatsache, dass Montfermeil auch der Schauplatz des sozialen Aufruhrs bei Hugo ist, deutet auf zweierlei Dinge hin: Zum einen scheint hinsichtlich der Stigmatisierung dieses periurbanen Stadtteils von Paris das Phänomen der longue durée (lange Dauer; vgl. Braudel 1977) zu greifen. Zum anderen zeigt just dies zugleich, dass die banlieue letztlich immer schon integraler Teil der französischen Gesellschaft war – einer Gesellschaft, die spätestens seit der Französischen Revolution (1789) durch Revolutionen und Krisen gekennzeichnet ist. Doch jede Krise kann der Anfang eines Neubeginns sein und so ist auch das offene Ende zu verstehen, das mit einem Cliffhanger endet, bei dem unklar bleibt, ob Issa, der moderne Gavroche der banlieue, wie sein literarisches Vorbild stirbt oder ob er Stéphane tötet. In der konkreten Situation lässt das Ende zwar keinen positiven Lösungsweg mehr zu, wohl aber kann der Film im ganz traditionellen Sinne als kathartisches Lehrstück für die Zukunft gelten. Dies verdeutlicht auch der Abspann, der den intertextuellen Bezug zu Hugos Roman mit dem folgenden peu à peu eingeblendeten Zitat abschließend explizit herstellt: »Mes amis, retenez ceci, il n’y a ni mauvaises herbes ni mauvais hommes. Il n’y a que de mauvais cultivateurs.« (01:39:43– 01:39:58)31 Das Zitat verdeutlicht, was der Film zeigt: Die Realität ist so komplex, dass schlichte Gut-Böse-Dichotomien, wie sie in den gängigen Narrativen von weißem und schwarzem Franzosen, gutem und schlechtem Migranten, kultiviertem Zentrum und krimineller Peripherie transportiert werden, jede Lösung der Krise verhindern. Nur ein nicht per se polarisierendes Anerkennen, dass alle, Vertreter und Vertreterinnen staatlicher Institutionen wie Bewohner und Bewohnerinnen der banlieue, Teil der Gewaltspirale sind, kann Wege aus der Krise der banlieue eröffnen.

31 »Merkt Euch, Freunde, eines, es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt nur schlechte Gärtner.« (Übers. M.O.H.)

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Während sich die banlieue als Sinnbild des gescheiterten französischen Assimilationsmodells in Literatur und vor allem im französischen Film als Standard-Narrativ etabliert hat, bilden sich mit dem anhaltenden Migrationsdruck auch neue, nationale Migrationsnarrative heraus. Eines der bis dato literarisch produktivsten ist das des illegalen Migrantenlager bei Calais.

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Der Dschungel von Calais als paradigmatisches Narrativ der französischen Migrations-Krise

Vor dem Hintergrund der ›Migrationskrise‹ von 2015 / 2016 und der großen Anzahl an irregulären Migranten und Migrantinnen in Frankreich, die alles daran setzten, nach England zu gelangen, verdichtete sich die Überforderung Frankreichs, diese Herausforderung auf menschenwürdige Weise zu bewältigen, im illegalen Lager bei Calais, dem sogenannten Jungle de Calais.32 Aufgrund der verheerenden Zustände in dem Lager mit seinen zeitweise über 10.000 Bewohnerinnen und Bewohnern, improvisierten Schulen und Gebetsräumen sowie zahlreichen Imbissen und Verkaufsständen gelangte der Dschungel von Calais immer wieder in die (auch inter-)nationale Presse und wurde zu einem Sinnbild der gescheiterten französischen Migrationspolitik. Die wenig konstruktive Regierungspolitik führte zu einer beispiellosen Solidarisierung mit den Migrantinnen und Migranten. Während sich der Staat letztlich nur darum bemühte, die irregulären Migranten und Migrantinnen an der Weiterflucht über den Ärmelkanal nach Großbritannien mit meterhohen Zäunen und engmaschigen LKWKontrollen zu hindern, engagierten sich unterschiedlichste Sozial- und Menschenrechtsverbände, um den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Mindestmaß an Würde zu gewährleisten und sie mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten zu versorgen. In der Tat avancierte der Jungle de Calais in ungewöhnlich kurzer Zeit zu einer Art Meta-Narrativ der französischen ›Migrationskrise‹. Das Lager wird dabei als höchstprekärer Anti-Lebensraum und Inbegriff dessen präsentiert, was Marc Augé als non-lieu (Nicht-Ort) beschrieben hat, als einen sich beständig verändernden, ahistorischen und dynamischen Transitraum, der die in diesem Raum befindlichen Menschen psychisch negativ affiziert: »Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.« (Augé 1994, 121) Der Zufluchtsraum ist folglich kein Schutzraum, sondern eine Prolongation der Erfahrung von Verlorenheit und Heimatlosigkeit, die die meisten Migranten und Migrantinnen auf ihrem Weg bis 32 Für eine umfassende Darstellung des Lagers und dessen Zusammenhang mit globalen Migrationsbewegungen siehe die detailreiche sozialanthropologische Studie von Agier (2020).

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nach Frankreich in ganz ähnlicher Weise schon vielfach machen mussten (vgl. zur Bedeutung von Raum im Kontext von Migration auch den Beitrag von Hansen und Plank in diesem Band). Das Narrativ des Jungle de Calais als nonlieu untergliedert sich indes in zwei einander entgegengesetzte Sub-Narrative. Zum einen gilt der Dschungel als von Gewalt und Kriminalität geprägter, quasi rechtsfreier non-lieu. Die (vorwiegend männlichen) Migranten und Migrantinnen werden dabei als Akteure beschrieben, die sich aktiv über die Regeln und Gesetze Frankreichs hinwegsetzen. Zum anderen wird der Jungle de Calais (vielfach in Form politisch engagierter Systemkritik) als ein von Frankreichs Migrationspolitik wohlwissend in Kauf genommener, menschenunwürdiger non-lieu inszeniert, dem die Bewohner und Bewohnerinnen als Opfer des französischen Rechts- und Staatssystems ausgeliefert sind. Eine Besonderheit des Narrativs des Jungle de Calais liegt mitunter darin, dass es in ungewöhnlich schneller und frequenter Weise auch Eingang in literarische Produktionen fand. Die Fülle an (semi-)fiktionalen Narrationen, die das Narrativ des Jungle de Calais literarisch-künstlerisch bearbeiten, und die teilweise noch vor der endgültigen Räumung des illegalen Lagers auf den französischen Buchmarkt kamen, ist in der Tat erstaunlich und lässt die These zu, dass sich ein Subgenre der Jungle de Calais-Erzählung herausgebildet hat. Angefangen von dem kleinen ikono-textuellen Heftchen Bienvenue à Calais. Les raisons de la colère von Marie-Françoise Colombani und Damien Roudeau (2016) zu Lisa Mandels und Yasmine Bouaggas journalistischen Graphic Novel Les nouvelles de la Jungle (de Calais) (2017); von Delphine Coulins multiperspektivischem Roman Une fille dans la jungle (2017) über Olivier Noreks Spannungsroman Entre deux mondes (2017; All dies ist nie geschehen, 2019) bis hin zu Pascal Teulades Kinderbuch Le petit prince de Calais (2016), ist die Bandbreite literarischer Ausarbeitung recht groß. Die vielen unterschiedlichen Rezipientenkreise, die dabei angesprochen werden, zeigen weiter, welch großes Bedürfnis es den in ganz unterschiedlichen Kontexten verorteten Autoren und Autorinnen ist, größtmöglichen Kreisen der französischen Bevölkerung die Missstände des französischen Umgangs mit der sogenannten illegalen Migration kritisch aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass diese ›Normalität‹ eine nicht hinnehmbare Abnormalität darstellt. In der 2017 erschienenen Comic-Reportage Les Nouvelles de la jungle (de Calais) berichten die Zeichnerin Lisa Mandel und die Soziologin Yasmine Bouagga von ihren Eindrücken und Erlebnissen sowie vom Alltag und den Narrativen der Menschen im Lager. In den mit karikaturalem Strich wiedergegebenen Blick geraten dabei Migranten und Migrantinnen, aber auch die zahllosen Ehrenamtlichen und freiwilligen Helfer bzw. Helferinnen sowie Politiker bzw. Politikerinnen und Sicherheitskräfte. Der engagierte Appellcharakter des Albums spiegelt sich u. a. darin, dass die Einzelepisoden in einer Art Briefbericht

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an »Chère France« (Liebes Frankreich) gerichtet sind; so auch in dem ›Lage(r)bericht‹, in dem der erste Eindruck sowie die geographische Lage und Struktur des Jungle de Calais wenig einladend dargestellt werden (s. Abb. 5): Das nahe gelegene Meer ist nicht zu sehen, dafür die hermetische Abriegelung des Gebietes durch die CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité; franz. Form der Bereitschaftspolizei); statt von einer zarten Meeresbrise ist die Luft von einem abstoßend beißenden Gestank erfüllt, der alle Hoffnungen der Migranten und Migrantinnen auf ein besseres Leben im Keim erstickt – man erahnt sofort, so der Kommentar, dass dies ein von Lug und Trug geprägter Raum ist.

Abb. 5: Le Nouvelles de la jungle (de Calais) (2017, 40) © Casterman.

An der periurbanen Peripherie von Calais in unmittelbarer Nachbarschaft zu Industrieanlagen und nahe der Autobahn gelegen, ist dieser Ort in jeglicher Hinsicht ein Nicht-Ort: Während der eine Teil immerhin noch eine paraurbane Infrastruktur aufweist, ist ein großes Gebiet des anderen Teils ein Sumpfgebiet (marécage). Zudem verändert ›das‹ Lager seine räumliche Struktur beständig, sei es durch die zahlreichen Brände oder durch die Teil-Räumungen von offizieller Seite. Dass der non-lieu des Jungle de Calais ein entmenschlichend und zutiefst deindividualisierend wirkender Raum ist, wird von den beiden Autorinnen nicht ohne Sarkasmus dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das Meta-Narrativ von Gleichheit und Assimilation ad absurdum geführt wird (s. Abb. 6).

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Abb. 6: Le Nouvelles de la jungle (de Calais) (2017, 162) © Casterman.

Die Menschen werden ihrer Individualität, aber auch ihrer (sozialen) Kompetenzen und Qualifizierungen beraubt, entsprechend ihres aktuellen politischen Status werden sie schlicht zu Geflüchteten und Migranten bzw. Migrantinnen. In Frankreich – oder konkreter: in einem französischen Lager – angekommen sind alle ›gleich‹, ja sogar dahingehend gleichberechtigt, dass sie ohne Papiere gar keine Rechte haben und ganz wörtlich schutzlos im Regen stehen. Die farbige Vielfältigkeit verliert sich in einem nivellierenden Grau des Elends. Die einzige Differenzierung, die letztlich bleibt, betrifft die für das Anerkennungsverfahren relevante Altersgruppe der Migranten und Migrantinnen (Kind oder unbegleitete(r) Minderjährige bzw. Minderjähriger). Auch wenn der Grundton systemkritisch ist, bedienen die Autorinnen doch nicht nur das eine Narrativ des Jungle de Calais: So schockiert die beiden über die vorgefundene desolate Situation der heimatlosen Menschen sind und so schockierend die Einblicke sind, die sie geben, so vielschichtig und differenziert sind ihre Analysen der ›Gemengelage‹ und der komplexen Zusammenhänge. Damit werden kategorische Verurteilungen und Schuldzuweisungen ebenso vermieden wie ein oberflächlicher Betroffenheitsgestus oder simplizistische Beschönigungen. Der Jungle de Calais ist eben auch ein Raum, in dem es immer wieder zu gewalttägigen Auseinandersetzungen zwischen Migranten und Migrantinnen unterschiedlicher kultureller, ethnischer und religiöser Herkunft kommt.

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Just dieses Narrativ steht im Zentrum von Olivier Noreks mit dem Étoile du Parisien du meilleur polar ausgezeichneten spannenden Tatsachenroman33 Entre deux mondes (2017). Der polyperspektivische Roman erzählt zunächst in zwei parallelen Handlungssträngen. Da ist zum einen die Migrationsgeschichte von Adam Sakis, einem syrischen Polizisten, der im Untergrund für eine Rebelleneinheit der Freien Syrischen Armee arbeitete und der, kurz bevor seine Tarnung aufflog, seine Frau und Tochter Schleppern anvertraute, die sie nach Frankreich bringen sollten. Auch Adam gelingt die Flucht noch, aber als er im Dschungel von Calais ankommt, sind Frau und Tochter nicht aufzufinden – wie sich schließlich herausstellt, ertranken sie bereits bei der Mittelmeerpassage. Zum anderen wird die Geschichte einer Binnenmigration erzählt, die von Bastien Miller, der mit seiner Familie von Bordeaux nach Calais umzieht, um dort als Polizeiinspektor einen neuen Posten anzutreten. Mit den beiden Neuankömmlingen wird der Leser bzw. die Leserin aus der Außenperspektive Bastiens und der Innenperspektive Adams durch das Lager geführt. Dabei ist das Entsetzen über die Zustände identisch; das Lager ist ein unvorstellbarer Nicht-Ort: Von seinem Standort aus hätte er nicht sagen können, auf welcher Art von Boden die eng aneinandergedrängten Zelte und wackeligen Baracken aus rostigem Wellblech, Holzabfällen und Plastikplanen standen. Die Behausungen folgten den Krümmungen der Dünen, wodurch der Eindruck entstand, auf ein bewegtes Meer voller Müll zu schauen. […] Lagerfeuer. Wohnwägen ohne Räder, die man vom Schrott gerettet hatte. Tausende von Gesichtern, aus dem Maghreb, Schwarzafrika, Asien und dem Nahen Osten. Dazwischen streunende Hunde mit eingezogener Rute. Kindergesang. Pakistanische Popmusik von irgendwo weit her. Der Gestank von Abfall, der sich mit Essensgerüchen vermischte. (Norek 2019, 110–111; auch: Norek 2017, 126–127)

Während Bastien von der Überfülle der m. E. abstoßenden Eindrücke dieses gewaltigen Slums überwältigt ist, ist für Adam, der von dem Narrativ Frankreichs als dem Land der Menschenrechte getragen ist, besonders die Ähnlichkeit dieses non-lieu mit Flüchtlingslagern im Globalen Süden verstörend:34 Er hatte im Internet recherchiert, um sich auf ihre Ankunft in Calais vorzubereiten, und dabei mehrere Lager angeschaut. Aber an den Anblick, den ihm jetzt der sogenannte Dschungel bot, konnte er sich dennoch nicht gewöhnen. Dabei hatte er die Hoffnung gehabt, in Frankreich eine Art Willkommenslogistik vorzufinden. (Norek 2019, 118; auch: Norek 2017, 135) 33 Gleichwohl der Roman als Kriminalroman gehandelt wird, handelt es sich de facto um einen auf Tatsachen beruhenden Spannungsroman, dessen Authentizität mitunter daher rührt, dass der Autor selbst eine Zeitlang im Lager lebte. 34 Im französischen Original heißt es in dieser Passage zusätzlich: »Adam hatte bereits ein Lager für Vertriebene gesehen. Viele sogar angesichts der Lage seines Heimatlandes.« (Übers. M.O.H.)

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Doch sind nicht nur die katastrophalen Lebensbedingungen an sich zutiefst schockierend, sondern auch die allgegenwärtige Gewalt. Über die Inszenierung des Narrativs des Jungle de Calais als quasi rechtsfreiem Raum, in den die Polizei nicht eindringt und Vergewaltigung, Mord und Todschlag ungestraft geschehen lässt, führt Norek die beiden Handlungsstränge zusammen. Initialereignis ist die brutale Vergewaltigung eines sudanesischen Kindes, in die Adam eingreift: Ein etwa zehnjähriger, schwarzafrikanischer Junge lag da auf dem Bauch. Ein Mann stand über ihm und hielt die Hände des Jungen auf seinem Rücken fest, während er ihn mit einem Knie zwischen den Schulterblättern fixierte. Ein anderer Mann stand mit heruntergelassener Hose vor dem Jungen und hielt ihn an der Hüfte fest. Zwei überraschte Augenpaare richteten sich auf Adam, und bevor sie überhaupt verstanden wie ihnen geschah, hatte der Vergewaltiger schon die Klinge am Hals. […] Adam zwang sich, mit dem Schlagen aufzuhören, bevor er ihn noch umbringen würde. (Norek 2019, 136–137; auch: Norek 2017, 157)

Adam bringt das Kind zu den CRS-Posten und fährt mit ins Krankenhaus, wo er auf Bastien trifft. Es zeigt sich schnell, dass beide Protagonisten ein außergewöhnlich ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und Menschlichkeit eint. Diese Triebfeder macht sie letztlich auch stark genug, das Gefühl der Ohnmacht, das die Mehrzahl der Migranten, Migrantinnen, Polizisten, Polizistinnen, Anwohner und Anwohnerinnen resignieren ließ, zu überwinden. Dadurch, dass sie allen Konflikten zum Trotz nicht wegsehen, ihnen das Schicksal der Menschen im Camp nicht gleichgültig ist und sie sich gegen die alltäglichen Vergewaltigungen, Misshandlungen und Morde auflehnen, werden sie zu Vorbildfiguren humanitären Verhaltens. Am Ende des Romans wird ein Teil des Lagers geräumt. Dass dies aber letztlich nur ein weitere Verschlechterung der Zustände und eine erneute Verschiebung der provisorischen Behausungen zur Folge hat, beschreibt Delphine Coulin in ihrem Roman Une fille dans la jungle (2017), in dem das Schicksal von sechs unbegleiteten Minderjährigen aus ihren jeweiligen Perspektiven heraus erzählt wird, auf sehr anschauliche Weise: Cela ressemblait moins que jamais à une jungle, ou alors une jungle froide, de bois et de boue, avec des animaux crottés, et des monstres de métal au loin, sous le crachin. Pas le genre qui fait rêver, avec les perroquets et les feuilles vertes et grasses, où on transpire dans une odeur d’humus. Une jungle du pauvre. Ici, il n’y avait pas un arbre, pas une feuille, pas de chaleur. Rien n’avait de couleur. C’était gris. Ça puait la fumée et les ordures. Et aujourd’hui, c’était silencieux. Cette jungle qui avait été un chaos où des milliers de personnes vivaient, mangeaient, parlaient, se battaient, était devenue un désert, où ils étaient seuls, tous les six. (Coulin 2017, 15)35

35 »Es ähnelte weniger denn je zuvor einem Dschungel; oder aber einem kalten Dschungel aus Holz und Schlamm mit dreckigen Tieren und Metallmonstern im Sprühregen in der Ferne.

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Coulin zeigt, wie das Narrativ des Dschungels durch die Auflösung des Lagers weiter ad absurdum geführt wird. Denn nach der Räumung der Hütten und Zelte ist das Tertium comparationis der Dschungelmetapher, das ›Wilde‹ und ›Undurchdringliche‹, aufgelöst worden; was bleibt ist eine öde Brachfläche, ein die Verlorenheit betonender Nicht-Ort und gerade kein natürlicher Raum überbordenden Lebens.

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Schlussbemerkung

Migration, das finde ich ein ganz zentrales Gesellschaftsphänomen Frankreichs, das als Narrativ nicht nur gesellschaftlich hochspannend ist, sondern auch hinsichtlich seiner Wirkkraft auf die literarische und filmische Produktion. Dabei zeigt sich, dass die unterschiedlichen gegenwärtig in Frankreich etablierten Mikro-Narrative ebenso vielfältig und heterogen, widersprüchlich und paradox sind wie das komplexe Phänomen Migration selbst. Neben Narrativen, die Einwanderung als Krise, als Destabilisierung des nationalen Gesellschaftsgefüges oder gar als Bedrohung der abendländischen Kultur erzählen, finden sich Narrative, die nicht das Phänomen der Migration als Krise darstellen, sondern vielmehr den Umgang Frankreichs mit Migranten und Migrantinnen als eine Geschichte des Scheiterns der republikanischen Ideale erzählen. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen werden unzählige weitere Mikro-Narrative von und über Migration weiter und neu erzählt. Vor dem Hintergrund, dass gegenwärtig in ganz Europa und in immer größeren gesellschaftlichen Kreisen solche Narrative zunehmend wirkmächtig werden, die Migration als Krise und Bedrohung darstellen, werden zugleich auch solche Appelle immer lauter, die, wie die junge tunesische Politikerin Imen Ben Mohamed anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz 2018, fordern: »Das Narrativ der Migration verändern«. Angesichts des zunehmenden Populismus ist dies sicher richtig, allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch positive Migrations-Narrative nicht unproblematisch sind. Dies gilt indes auch für all die systemkritischen Narrative, die Migranten und Migrantinnen per se als Opfer präsentieren und aus einem allerdings nicht uneingeschränkten altruistischen Humanismus heraus zu ›Helden‹ stilisieren (vgl. Friese 2017; Giglioli 2016). Viktimisierende Narrative von (insbesondere nicht-europäischer, irregulärer) Nicht die Art, die träumen lässt, mit Papageien und üppigen grünen Blättern, wo man eine von Humusgeruch durchtränkte Luft atmet. Ein Dschungel der Armut. Hier gab es keinen Baum, nicht ein Blatt, keine Wärme. Nichts war farbig. Es war grau. Es stank nach Rauch und Müll. Und heute war es still. Dieser Dschungel, der ein Chaos gewesen war, wo tausende von Menschen gewohnt, gegessen, gesprochen, sich geschlagen hatten, war eine Steppe geworden, in der sie alle sechs alleine waren.« (Übers. M.O.H.)

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Migration deuten letztlich ebenso von einem ethnozentristischen Superioritätsdenken wie kriminalisierende. Ganz unabhängig davon, ob es um Migration positiv oder negativ darstellende Narrative geht, muss man sich bewusst vor Augen halten, dass allen Narrativen zwar immer auch Realitäten zugrunde liegen, sie selbst aber stets Narrationen bleiben und zwar solche, die wie Stereotype komplizierte Sachverhalte einfach und greifbar machen, pauschalisierend und reduktionistisch vereinfachen und zudem noch einseitig perspektivieren und bewerten. Narrativen allein zu glauben verstellt den Blick auf die komplexen und vielschichtigen Realitäten. Nur die kritische Auseinandersetzung mit den realen Gegebenheiten ermöglicht letztlich einen vorbehaltlosen und offenen Umgang mit Migration. Und nur ein solcher kann Migration tatsächlich zu einem zukunftsfähigen und reziprok bereichernden Phänomen werden lassen.

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Ursula Reutner

Migration – Auslöser für die Entstehung neuer Wörter, Varietäten und Sprachen

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Einleitung

Migration, das finde ich bereichernd. Migration bedeutet Veränderung. Veränderung macht vielen Menschen Angst. Und Veränderung schafft Neues. Zum Neuen gehören auch Wörter, sprachliche Varietäten und Sprachen, die ohne Migration nicht entstanden wären. Den verschiedenen Migrationsbewegungen zwischen Europa und anderen Kontinenten sind nicht unerhebliche Teile unseres Wortschatzes zu verdanken und darüber hinaus die interkontinentale Ausbreitung des anglo-, franko-, hispano- und lusophonen Kulturraums sowie damit einhergehend die weltweite Ausdifferenzierung des Englischen, Französischen, Portugiesischen und Spanischen. Häufig in Verbindung mit der erzwungenen Migration aus Afrika führte die überwiegend freiwillige Migration aus Europa zudem zur Herausbildung neuer Sprachen. Das Ergebnis sind Kreolsprachen, die im Falle der romanischbasierten Varianten die Entwicklung vom Latein zu den romanischen Sprachen systematisch fortführen und bei zugleich teilweise anhaltendem Stigma als ehemalige Sklavensprachen in vielerlei Hinsicht überaus kohärent und ökonomisch konstruiert sind. Migration bereichert damit in sprachlicher Hinsicht zumindest auf dreierlei Art: durch die Entstehung neuer Ausdrücke, neuer Varietäten und neuer Sprachen. Der Beitrag zeigt diese drei Formen der Bereicherung am Beispiel der großen romanischen Sprachen und des Englischen sowie der aus diesen Sprachen hervorgegangenen Kreolsprachen auf. Die ausgewählten Sprachen bieten sich zur Illustration der Entstehung neuer Wörter, Varietäten oder Sprachen durch Migration geradezu an, denn die großen europäischen Sprachen haben sich insbesondere durch Migration als Weltsprachen mit neuen Wörtern und Varietäten entwickelt und die Kreolsprachen sind geradezu Paradebeispiele für Sprachen, die in den vergangenen Jahrhunderten durch Migration neu entstanden sind. Sie erlauben es damit par excellence, etablierte sprachliche Veränderungen in Folge von Migration aufzuzeigen, denen der vorliegende Beitrag denn auch gilt. Eine solche Fokussierung auf eine gewisse Festigung des Neuen impliziert zugleich,

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dass ephemere und transitorische Kontaktphänomene, die in den derzeit durch Globalisierung und Migration immer neu entstehenden transkulturellen Räumen aufkommen, sinnvollerweise nicht betrachtet werden. Abgesehen wird an dieser Stelle auch von der Diskussion einzelner Neuerungen, die sich auf Lernervarietäten aufgrund unzureichenden Spracherwerbs beschränken oder sich aus der jüngsten Migration von Minderheiten in Mehrheitsgesellschaften ergeben. Minderheiten interessieren im Hinblick auf die aktuelle Sprachensituation damit weniger als allochthone, also jüngst zugewanderte Gruppen, sondern primär in ihrer autochthonen, also bodenständigen Form, was nicht ausschließt, dass die Ausführungen zugleich Einsichten zur Einordnung mancher bei allochthonen Minderheiten zu beobachtenden Sprachphänomenen erlauben. Trotz der Einschränkung auf gefestigte neue Wörter und Varietäten werden selbst diese in sprachpuristischer Denkweise nicht immer als Bereicherung gesehen, sondern aufgrund ihrer Normabweichung häufig auch negativ betrachtet. Ebenso zogen gerade die Kreolsprachen als ehemalige Sklavensprachen viel Kritik auf sich. Der Beitrag meidet eine solche laienlinguistische Sicht wo immer möglich, geht wenn nötig aber knapp darauf ein und konzentriert sich zugleich auf die in ihrer Wertung als Bereicherung möglichst unstrittigen Aspekte. Dabei werden zunächst Beispiele aus dem Wortschatz aufgeführt, die inzwischen alltäglich sind, ursprünglich aber auf Migrationsbewegungen zurückgehen, wie z. B. die Tomate, die in Wort und Sache aus der Neuen Welt nach Europa kam (vgl. Kap. 2). Im Anschluss wird die sprachliche Ausdifferenzierung als Folge der territorialen Ausbreitung von Sprachräumen dargestellt. Führte diese primär zu neuen Varietäten von Einzelsprachen und nicht zu neuen Sprachen (vgl. Kap. 3), so sind Letztere im Kontext der Kreolisierung entstanden, die denn auch ausführlicher behandelt wird. Vorgestellt werden die wichtigsten Kreolsprachen, die zugleich exemplarisch in ihrer Entstehungsgeschichte, ihren typischen Merkmalen sowie in ihrer früheren Stigmatisierung und späteren Aufwertung skizziert werden. Dies erlaubt es Kreolsprachen abschließend als migrationsbedingte Phänomene der sprachlichen Bereicherung definitorisch zu fassen und damit von anderen migrationsbedingten Sprachveränderungen abzugrenzen, die im allgemeinen Sprachgebrauch immer wieder mit Kreolisierung in Verbindung gebracht werden (vgl. Kap. 4).

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Bereicherung des Wortschatzes

Auf in die Neue Welt – Nicht Kolumbus hat Amerika entdeckt. Bereits vor dem italienischen Seefahrer in spanischen Diensten legten u. a. in den Jahren 1000 / 1001 Wikinger unter dem Isländer Leif Eriksson in Nordamerika an und nannten das Gebiet um Neufundland Vinland (vermutlich ›Weideland‹, auch als ›Wein-

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land‹ interpretiert, da in der Gegend weinbeerenähnliche Früchte wuchsen). Bis zu seinem Tod hatte Kolumbus keine Vorstellung davon, dass er einen neuen Kontinent betreten hatte. Als er am 12. Oktober 1492 auf einer Insel der Bahamas an Land ging, erklärte er, Indien erreicht zu haben, und gab den einheimischen Menschen vor Ort denn auch den Namen Indianer. Auf seiner zweiten Reise verkündete er in Kuba, nun auf dem asiatischen Festland in China angekommen zu sein. Nach zwei weiteren Reisen ins vermeintliche Asien verstarb er in der Überzeugung, den Seeweg nach Indien entdeckt zu haben. Bereits 1497 landete mit Giovanni Caboto ein weiterer italienischer Seefahrer in Neufundland, diesmal in englischen Diensten, und 1502 sprach der Florentiner Amerigo Vespucci erstmals von einem neuen Kontinent, der denn auch nach ihm benannt wurde. Abgesehen davon, dass Kolumbus weder der erste Europäer war, der Amerika betrat, noch wusste, wo er denn überhaupt angelangt war, ist das Konzept der ›Entdeckung‹ nur aus eurozentrischer Perspektive haltbar. Für die Menschen, die dort lebten, war der Kontinent schließlich immer schon bekannt. Und so wird der 12. Oktober, der Tag, an dem Kolumbus Amerika ›entdeckte‹, heute zwar mancherorts immer noch als Columbus Day bzw. Discovery Day, Discoverer’s Day gefeiert, immer stärker aber unter Ausdrücken wie engl. Indigenous People’s Day, Native American Day oder sp. Día de la Raza, Fiesta de la Hispanidad, Día de las Américas oder Día de la Diversidad Cultural unterschiedlich ausgerichtet begangen (vgl. Reutner 2009, 314). Dies dürfte sich im Zuge der Black Lives MatterBewegung nur noch verstärken, deren Anhängerinnen und Anhänger nach der gewaltsamen Tötung des Afroamerikaners Georges Floyd durch den weißen Polizeibeamten Derek Chauvin im Mai 2020 auch Kolumbus-Statuen von ihren Podesten stürzten und eine verstärkte Sensibilisierung beim Umgang mit der Kolonialgeschichte und ihren Auswirkungen auf die gegenwärtige Gesellschaft fordern. Neue Fauna, Flora und Realien – Doch auch wenn Kolumbus nicht der erste Europäer war, der seinen Fuß auf den nordamerikanischen Boden setzte, so kam Europa doch erst in Folge seiner Reisen wirklich mit der Neuen Welt in Kontakt und damit u. a. auch mit neuer Fauna und Flora, die es zu benennen galt. Die Seefahrer lernten die Ananas kennen, die sie an einen Pinienzapfen erinnerte und die sie daher piña ›Pinienzapfen‹ (+ dann ›Ananas‹) nannten, was sich im Spanischen bis heute neben dem später entlehnten Ausdruck ananá(s) als Bezeichnung für die Frucht hält. Sie trafen auf Leguane und Kaimane, die sie an Schlangen und Eidechsen denken ließen und so zunächst die entsprechenden spanischen Bezeichnungen sierpe ›Schlange‹ (+ dann ›Leguan‹) bzw. lagarto ›Eidechse‹ (+ dann ›Kaiman‹) erhielten. Die fehlende semantische Differenzierung erwies sich bald als verhängnisvoll, sodass mit iguana und caimán spezifischere Wörter aus den indigenen Sprachen ins Spanische gelangten. Entlehnung ist generell eine ganz natürliche Antwort auf einen Bezeichnungsnotstand.

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Kolumbus berichtet in seinem Bordbuch zum Beispiel auch von Kanus, Hängematten und einem Kaziken und benannte all dies durch Entlehnung der von den Indigenen verwendeten Wörtern als canoa ›Kanu‹, hamaca ›Hängematte‹ beziehungsweise cacique ›Häuptling‹. Die entsprechenden Ausdrücke hielten denn auch in andere Sprachen Einzug hielten und wurden zum Beispiel zu fr. canot, hamac und cacique. Nur die Deutschen suchten auch gleich noch einen Sinn in dem ihnen unbekannten, über das ndl. hangmat vermittelten sp. hamaca (engl. hammock, it. amaca) und gestalteten den Ausdruck sprachlich durchsichtig, indem sie ihn als Hängematte (< hängend + Matte) remotivierten (zum Phänomen vgl. Harnisch 2010; Reutner 2020). Neben der Belegung eines bereits vorhandenen Wortes mit einer neuen Bedeutung und der Entlehnung aus den Kontaktsprachen lässt sich das Bedürfnis nach neuen Ausdrücken auch durch die Kombination bestehender Wörter stillen. So schufen die Deutschen zur Bezeichnung einer ihnen zuvor unbekannten Frucht den Ausdruck Erdnuss (< Erde + Nuss), der ihnen neuen Tomate zunächst Goldapfel (ähnlich bei it. pomodoro < pomo ›Apfel‹ + di ›aus‹ + oro ›Gold‹) sowie der ihnen neuen Kartoffel Erdapfel und Grundbirne (< Erde + Apfel, Erde + Birne, so noch in frz. pomme de terre < pomme ›Apfel‹ + de ›aus‹ + terre ›Erde‹), bevor sie die Wörter Tomate und Kartoffel entlehnten. Diese wenigen Beispiele für Neologismen durch Bedeutungstransfer, Entlehnung und Komposition mögen genügen, um zu illustrieren, wie Migration den Horizont auf neue Fauna, Flora und Konzepte lenken kann, was sich sprachlich in der Bildung neuer Wörter spiegelt. Migration erweitert damit unseren Wortschatz um viele Ausdrücke, die umgekehrt wiederum die Bereicherung unserer kulinarischen und kulturellen Welt durch Migration illustrieren (vgl. u. a. Buesa Oliver / Enguita Utrilla 1992, 51–72; López Morales 1998, 11–41).

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Bereicherung der sprachlichen Variation

Kolonialreiche – Migration ist nicht nur für die Erweiterung des standardsprachlichen Wortschatzes verantwortlich, sondern auch für die Entstehung mancher regionaler Varietäten. Betrachten wir dies am Beispiel Frankreichs, das über kleinere und größere Migrationsbewegungen zwei Kolonialreiche aufbaute. Die erste transkontinentale Expansion erfolgte im 17. und 18. Jahrhundert, wo Frankreich u. a. Akadien (1604), Québec (1608), Louisiana (1682), Martinique (1635), Guadeloupe (1635), La Réunion (1638 / 1665), Guyana (1643), Haiti (1697), Mauritius (1715) und die Seychellen (1756) für sich beanspruchte. Eine zweite koloniale Welle erfasste im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Teile Afrikas, Asiens und des Südpazifiks. Sie führte in Afrika zur Annexion der Maghrebstaaten Algerien (1830), Tunesien (1881) und Marokko (1912), der Ge-

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biete der derzeit 18 subsaharischen Staaten, Benin (1863), Burkina Faso (1896), Burundi (1922–BE), Côte d’Ivoire (1843), Dschibuti (1884), Gabun (1839), Guinea (1849), Kamerun (1919), Kongo-Brazzaville (1880), Kongo-Kinshasa (1885–BE), Mali (1880), Mauretanien (1903), Niger (1900), Ruanda (1922–BE), Senegal (1864), Togo (1922), Tschad (1900) und die Zentralafrikanische Republik (1889), sowie die Inseln des Indischen Ozeans Mayotte (1841), die Komoren (1886) und Madagaskar (1895). In Asien kamen Länder wie Vietnam (1862–1884), Kambodscha (1863) und Laos (1893) zu Frankreich, im Südpazifik Französisch-Polynesien (1843), Neukaledonien (1853), Wallis und Futuna (1837 / 1887) sowie Vanuatu (1906). Migration ohne Annexion – Neben der territorialen Annexion sind auch einfache Migrationsbewegungen aus bereits etablierten Frankophonien für die Verbreitung des Französischen in der Welt und damit für die Entstehung neuer Varietäten verantwortlich. Frankophone aus dem Osten Kanadas wanderten zum Beispiel westwärts bis an den Pazifik, und arbeitssuchende Frankokanadier zog es in die Fabriken der Neuenglandstaaten, wo sie zur Französierung der USamerikanischen Gesellschaft beitrugen. Akadier, die von den Engländern im Grand Dérangement (1755–1764) aus der Akadie vertriebenen worden waren, machten sich auf den Weg in den Süden und verstärkten gemeinsam mit den Frankophonen, die vor der haitianischen Revolution geflohen waren, den französischen Charakter Louisianas. Bis heute steht cajun dort für die französische Tradition der Gegend und leitet sich letztendlich von acadien ›akadisch‹ ab (vgl. Reutner 2017, 21–27). Die Entstehung sprachlicher Varietäten – Ob mit oder ohne Annexion führte die Ausbreitung der Frankophonen zur Ausdifferenzierung des Französischen. Je nach Zeitpunkt der Auswanderung und dem weiteren Verlauf der Kontakte zwischen den Ausgewanderten und dem Mutterland, den jeweiligen Kontaktsprachen und der nachfolgenden Sprachen- und Sprachpolitik veränderte sich das Französische und ist heute reich an regional definierten Varietäten, was sich in Phonetik, Morphosyntax und Lexik niederschlägt. Als geläufig bewahrt bleiben in der ›Neuen Welt‹ dabei manchmal Aspekte, die im französischen Mutterland inzwischen als veraltet gelten und Archaismen darstellen. Andere Besonderheiten wurden erst geschaffen, um den veränderten Bedingungen Rechnung zu tragen und stellen damit Neuerungen bzw. vom Mutterland unabhängige Weiterentwicklungen der Sprache dar, und wieder andere ergeben sich aus dem Kontakt mit den einheimischen Sprachen, die zur Entlehnung einluden. Heute ist sprachlich erkennbar, ob jemand aus Belgien, Kanada oder dem Senegal stammt, und viele Aspekte der damit verbundenen Sprachvielfalt stellen aus varietätenlinguistischer Sicht eine klare Bereicherung für das Französische dar (vgl. Reutner 2017, 35–52). Weltsprachen – Die am Beispiel des Französischen aufgezeigte Entwicklung gilt mutatis mutandis für die englische, portugiesische und spanische Sprache,

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die ebenfalls weltweit jeweils regionale Varietäten ausbildeten und damit durch Migration angereichert wurden. Einer sprachpuristischen Deutung von Normabweichung als Fehler stellen zum Beispiel die martinikanischen Autoren Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant den Stolz auf die eigene sprachliche Einflussnahme gegenüber, die denn auch explizit als enrichissement ›Bereicherung‹ gesehen wird: La créolité […] a marqué d’un sceau indélébile la langue française. Nous nous sommes approprié cette dernière. Nous avons étendu le sens de certains mots. Nous en avons dévié d’autres. Et métamorphosé beaucoup. Nous l’avons enrichie tant dans son lexique que dans sa syntaxe. Nous l’avons préservée dans moult vocables dont l’usage s’est perdu. Bref, nous l’avons habitée (Bernabé / Chamoiseau / Confiant 1990, 46, Herv. i. O.).1

Varietäten im Unterschied zu Sprachen – Derartige Abweichungen können letztendlich dazu führen, dass sich neue Sprachen entwickeln. Ein Beispiel bieten die romanischen Sprachen selbst, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ausreichend weit vom Latein entfernt haben, dass sie keine Varietäten des Lateins mehr darstellten, sondern eigene Sprachen (vgl. Reutner 2014, 201ff.). Dies ist trotz der sprachlichen Ausdifferenzierung und teilweisen Etablierung eigener Standards beim Englischen, Französischen, Portugiesischen und Spanischen derzeit in den meisten Fällen nicht gegeben. Die jeweiligen europäischen und amerikanischen Orientierungsnormen stellen zum Beispiel immer noch Varietäten von Einzelsprachen dar, bei denen eine mit den Auswirkungen des Zusammenfalls des Römischen Reichs vergleichbare Entwicklung derzeit nicht zu beobachten ist. Vielfältige Kontakte zwischen beiden Kontinenten stehen dem Zerfall in weitere Einzelsprachen tendenziell ebenso entgegen wie die schulische Sprachsteuerung, moderne Massenmedien und normierende Instanzen.

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Bereicherung der Sprachenvielfalt

Sprachen im Unterschied zu Varietäten – Migration führt aber nicht nur zur Entstehung neuer Wörter und Varietäten. Auch ganze Sprachen würden ohne sie nicht existieren. Hierzu zählt zum Beispiel das Afrikaans, eine Ausbausprache des Niederländischen, die sich in der Kapkolonie durch die Migration der Trekburen ins Landesinnere und damit verbundene Sprachkontakte entwickelte und heute eine der elf offiziellen Sprachen Südafrikas darstellt. Manchmal 1 Englische Übersetzung: »Creoleness left its indelible mark on the French language […]. We made the French language ours. We extended the meaning of some of its words, deviated others. And changed many. We enriched the French language, its vocabulary as well as its syntax. We preserved many of its words which were no longer used. In short, we inhabited it« (Bernabé / Chamoiseau / Confiant 1990, 107, Herv. i. O.).

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werden auch bestimmte migrationsbedingte Varietäten des Englischen wie z. B. Singlish (< Singaporean + English, klar zu trennen von Singaporean English)2 als eigene Sprachen betrachtet, die aber meist weder genügend Abstand zum internationalen Englischen haben, um als Abstandssprache gelten zu können, noch ausreichend Ausbau im Sinne einer Kodifizierung und nennenswerten schriftlichen wie offiziellen Verwendung erfahren haben, um den fehlenden Abstand auf diese Weise zu kompensieren (vgl. Kloss 1978), auch wenn in einzelnen Fällen der Status zwischen Sprache und Varietät umstritten sein mag (vgl. z. B. Szmrecsanyi / Röthlisberger 2020 und generell Schneider / Hundt / Schreier 2020). Kreolsprachen – In sehr speziellen Sprachkontaktsituationen etablierten sich jedoch auch Formen der europäisch basierten Weltsprachen, die sich so weit von diesen entfernen und zugleich als Erstsprachen etablieren konnten, dass ihr Status als eigene Sprachen zumindest aus sprachwissenschaftlicher Sicht eindeutig ist, und die zugleich bereits definitorisch mit Migration verbunden sind. Es handelt sich um Kreolsprachen, die im kolonialen Kontext des 17. bis 19. Jahrhunderts durch Kontakt zwischen jeweils einer europäischen und einer Vielzahl nicht-europäischer Sprachen entstanden sind. Bei den Kreolsprachen Afrikas betrifft die Migration insbesondere die Sprecher der europäischen Basissprache, weshalb sie teilweise auch als endogene Kreolsprachen bezeichnet werden, während bei den Kreolsprachen beispielsweise der Karibik alle am Sprachkontakt beteiligten Personen migrierten, was sie für manche zu exogenen Kreolsprachen werden lässt (vgl. z. B. Versteegh 2008, 180; Holm 2000, 40f.). Ob nun durch Migration aller oder nur mancher Beteiligter: Ohne Migration gäbe es weder exogene noch endogene Kreolsprachen. Nur im weiteren Sinne werden zu Kreolsprachen manchmal auch Sprachen gezählt, die im genannten Zeitraum durch den Kontakt zwischen Menschen nicht-europäischer Herkunft ohne europäische Basis aufkamen, wie z. B. das auf der Bantusprache Kikongo basierende Kituba in Zentralafrika oder das arabischbasierte Nubi in Uganda. Exogene und endogene Kreolsprachen im engeren Sinne basieren auf Englisch, Französisch, Portugiesisch, Niederländisch, Spanisch und (inzwischen beinahe ausgestorben) Deutsch. 2 »There is a recognizable standard form of Singaporean English, spoken by educated society leaders in formal situations and marked by a few features primarily on the levels of lexis […] and phonology […]. In addition, there is Singlish, a strongly dialectal contact variety […] for use in informal situations amongst locals. Both the labels applied to these two forms of English and the varieties themselves are often confused. […] Singlish is being adopted as symbolic capital both by immigrant migrant workers and by a community of outwardly migrant cosmopolitan Singaporeans abroad. […] the speakers are clearly able to produce complex English expressions […]. Their use of informal language is a matter of deliberate style choice and identity projection, not inability« (Schneider 2020, 168f.).

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Verbreitung – Englischbasierte Kreolsprachen werden gemeinhin in eine atlantische und eine pazifische Gruppe unterteilt, die sich durch ihren soziohistorischen Kontext und die einwirkenden Kontaktsprachen voneinander unterscheiden. Die atlantischen Kreolsprachen finden sich zum einen in der Karibik, zum Beispiel auf den Bahamas, den Jungferninseln, in Jamaika, Guyana und Surinam (Sranantongo mit niederländischem Einfluss und Saramakanisch mit einem Portugiesischanteil), zum anderen in Afrika, vor allem in Liberia, Sierra Leone (Krio), Ghana, Kamerun und Nigeria (Ghanaian, Cameroonian und Nigerian Pidgin). Zur pazifischen Gruppe gehören die Kreolsprachen von Papua Neuguinea (Tok Pisin) und Hawaii (vgl. Holm 2000, 91–101; Romaine 2012, 1771f.; Sand 2012, 2121f., 2125f.). Französischbasierte Kreolsprachen werden in der Karibik und auf Inseln im Indischen Ozean gesprochen: in der Karibik in den französischen Überseegebieten Guadeloupe, Martinique und Französisch-Guyana sowie im US-amerikanischen Bundesstaat Louisiana und in Haiti, im Indischen Ozean in den französischen Überseegebieten La Réunion und Mayotte sowie in den Seychellen und in Mauritius (vgl. Patzelt 2014). Portugiesischbasierte Kreolsprachen sind insbesondere in Afrika verbreitet, einerseits in Oberguineau auf den Kapverden (Kapverdisch), in Guinea-Bissau sowie in der Casamance, andererseits im Gebiet des Golfs von Guinea in São Tomé und Príncipe (Angolar, Principensisch, Saotomensisch / Forro) sowie in Äquatorialguinea (Annobonensisch / Fa d’Ambu); darüber hinaus gibt es weitere portugiesischbasierte Kreolsprachen in Asien und Amerika (vgl. Bartens 2014). Spanischbasierte Kreolsprachen werden vor allem in Aruba, Bonaire und Curaçao (Papiamentu mit niederländischem und iberoromanischem Einfluss), Kolumbien (Palenquero) und auf den Philippinen (Chabacano) gesprochen (vgl. Maurer 1998; Muneanu Colán 2014). Als einzige deutschbasierte Kreolsprache wird manchmal das in der Herz-Jesu-Mission Vunapope in Papua Neuguinea entstandene Unserdeutsch angeführt, das unter Kindern einheimischer Mütter und zugewanderter Beamter, Händler oder Abenteurer aufkam und heute nur noch von etwa hundert Menschen gesprochen wird, die nach der 1975 erfolgten Unabhängigkeit Neuguineas nach Australien auswanderten und meist zugleich Englisch und Tok Pisin sprechen (vgl. Lindenfelser / Maitz 2017). Status – Die weltweit am stärksten verbreitete Kreolsprache ist das französischbasierte haitianische Kreol mit über zehn Millionen Sprecherinnen und Sprechern. Auch einige englischbasierte Kreolsprachen in Afrika (Ghana, Kamerun, Liberia) und der Karibik (Jamaika) werden von jeweils mehr als einer Million Menschen gesprochen. Das haitianische Kreol ist neben Französisch zudem offizielle Amtssprache, das Seychellenkreol neben Englisch und Französisch ebenfalls (vgl. Fattier 2017, 609ff.; Kriegel 2017, 687f.). Papiamentu genießt hohes Ansehen in Aruba, Bonaire und Curaçao, wo selbst im Menü mancher Bankautomaten eine kreolische Sprachversion verfügbar ist. Andere

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Kreolsprachen sind noch nicht ausreichend normiert, um in die Schriftlichkeit vorzudringen, dominieren aber deutlich die Mündlichkeit in der jeweiligen Region (vgl. Patzelt 2020). Bedeutungsentwicklung – Das Wort Kreol hat sich aus pg. / sp. criar ›aufziehen‹ entwickelt, das zu crío ›Säugling‹ mit dem Diminutiv criuelo wurde. Im Mund der Sklavenbevölkerung entwickelte sich daraus criollo, das wiederum in verschiedene Sprachen entlehnt wurde. Der Ausdruck bezeichnete zunächst ein Sklavenkind, das im Haus der Weißen aufgezogen wurde, dann jegliches Sklavenkind, das in den Kolonien geboren wurde, und später auch in den Kolonien geborene Kinder der Kolonialbevölkerung. Nach der Ausweitung des Begriffs auf Tiere nahm er immer mehr die Bedeutung ›in den Kolonien geboren, aus den Kolonien‹ an und wurde dementsprechend auch auf die dort entstandenen Sprachen angewandt (vgl. u. a. Holm 2000, 9; Reutner 2005, 8). Bedeutungsabgrenzung – Klar zu unterscheiden von Kreolsprachen sind Pidgins, die in der Regel in Handelskolonien als Behelfssprachen im Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher Erstsprachen für bestimmte kommunikative Funktionen aufkamen, von keiner der beteiligten Sprachgruppen aber als Erstsprache verwendet wurden. Kreolsprachen hingegen nahmen ihren Ursprung überwiegend in Siedlungskolonien, in denen für harte körperliche Tätigkeiten wie den Zuckerrohranbau eine große Anzahl an Arbeitskräften benötigt und aus unterschiedlichen afrikanischen Ethnien zusammengeführt wurde (vgl. u. a. Holm 2000, 6f.; Romaine 2012, 1769). Sie können sich über eine PidginZwischenstufe entwickelt haben, müssen es aber nicht, was zum Beispiel die ohne vorherige Pidginisierung entstandenen französischbasierten Kreolsprachen im Indischen Ozean zeigen (vgl. u. a. Bollée 2007a, 150; 2007c, 184). So wie manche Früchte das Element Beere im Namen tragen, obwohl sie aus botanischer Sicht keine Beeren sind (Erd-, Him-, Holunder- und Wacholderbeeren zählen in der Botanik z. B. zur Familie der Rosen-, Moschuskraut- und Zypressengewächse und nicht zu der der Beeren), soll auch der Umstand, dass bestimmte Kreolsprachen (siehe z. B. oben bei den englischbasierten Beispielen) als Pidgins bezeichnet werden, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine Pidgins (mehr) darstellen, sondern (bereits) Kreolsprachen oder zumindest den Kreolsprachen strukturell ebenbürtige erweiterte Pidgins (expanded pidgins) sind, deren kommunikative Funktionen gegenüber klassischen Pidgins ergänzt sind (vgl. Mufwene 2015; 2020).3 Ein besonders

3 »Pidgins are defined as reduced second-language forms which are not anybody’s mother tongue but used only in interethnic contacts where there is no other shared language. […] Creoles, in contrast, are fully fledged but newly emerged languages, with all the potential functions of any human language […]. The distinction between the two has come to be increasingly blurred, because many pidgins, spoken for centuries in a region, have expanded

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spannender Fall ist das Tok Pisin, das als offizielle Sprache Neuguineas und erweitertes Pidgin die Lingua franca des Landes darstellt und sich zugleich immer mehr als Erstsprache verbreitet (vgl. Sand 2012, 2126). Entstehung – Betrachten wir die Entstehung von Kreolsprachen am Beispiel des martinikanischen Kreols genauer. Ab 1635 fassten die Franzosen auf der karibischen Insel Fuß, wo sie etwa 2000 Einheimische vorfanden und bis 1660 ausrotteten oder vertrieben. Gemeinsam mit aus Afrika eingeführten Sklaven kämpften sie zunächst ums Überleben. Das quantitative Verhältnis zwischen beiden Gruppen war anfangs relativ ausgeglichen, im Jahre 1664 kamen zum Beispiel 2660 Sklaven auf 2772 Europäer. Die Sklaven hatten in dieser Zeit der Siedlergesellschaft (1635–1685) sehr guten Zugang zum Französischen der weißen Siedler. 1685 wurde die Rassentrennung durch den Code Noir offiziell verankert. In der darauffolgenden Pflanzergesellschaft (1685–1848) wurde Zuckerrohr dann in großem Ausmaß angebaut; hierfür wurden viele weitere Sklaven eingeführt. Aufgrund der wachsenden Zahl von Sklaven im Verhältnis zu den Weißen hatten viele von ihnen bald keinen direkten Zugang mehr zum Französisch der Weißen, sondern nur zum Französischen der anderen Sklaven. Da sie unterschiedliche Erstsprachen hatten, waren sie zugleich auf die Kolonialsprache als gemeinsames Kommunikationsmittel angewiesen, sodass sich diese immer weiter kreolisierte (vgl. Chaudenson 1995, 50–67; Reutner 2005, 5–8; Bellonie / Pustka 2017, 626). Merkmale – Auch wenn sich keine für alle Kreolsprachen gültigen Merkmale beschreiben lassen, die sie von allen anderen Sprachen trennscharf abgrenzen würden, erweisen sich etwa die Frankokreolsprachen gegenüber ihrer Basissprache Französisch als ausgesprochen ökonomische Sprachen, die die Entwicklung vom Latein zu den romanischen Sprachen systematisch fortführten. Die Nominalflexion des Lateinischen wurde zum Beispiel bereits in den romanischen Sprachen stark reduziert, erhalten blieb aber zum Beispiel die Markierung von Genus und Numerus in der Endung (z. B. fr. idée ›Idee‹, feminin Singular). In den Kreolsprachen ging das Genus dann konsequenterweise ganz verloren und der Plural wurde aus der jeweiligen Endung in meist vorangestellte Partikeln verlagert, im Kreol von Martinique in die Partikel sé (kr. sé lide ›Ideen‹). Die Verbalflexion, die in den romanischen Sprachen Verben immer noch je nach Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi verändern lässt (z. B. sp. cantas, 2. Person Singular Präsens Indikativ aktiv), wurde durch unveränderliche Verbformen abgelöst, die den semantischen Inhalt tragen, während die grammatikalische Information etwa zu Person, Numerus und Tempus konsequent in Pronomina und Tempusmarker ausgelagert ist. Die antillenkreolischen Verbtheir ranges of use and become native languages, thus, strictly speaking, creoles« (Schneider 2020, 29).

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formen mwen chanté ›ich habe gesungen‹ und ou chanté ›du hast gesungen‹ unterscheiden sich somit nur durch die Pronomina zur Indizierung von Person und Numerus, die Zeitformen mwen chanté (Perfekt), mwen ka chanté (Präsens), mwen te chanté (Imperfekt) und mwen ke chanté (Futur) nur durch die jeweiligen Tempuspartikeln voneinander, die in Kombination auch dem Ausdruck des Modus dienen können: mwen te ke chanté (Konditional). Das Kopulaverb être ging ebenfalls im Sinne der Sprachökonomie in den meisten Frankokreolsprachen verloren: mwen (pa) lekol ›ich bin (nicht) in der Schule‹, mwen (pa) malad ›ich bin (nicht) krank‹, bagay-la (pa) bon ›die Sache ist (nicht) gut‹. Wie bei der Integration von Lehnwörtern aus dem Arabischen (vgl. z. B. sp. azucar ›Zucker‹ oder dt. Algebra, Alchemie, Alkohol) kam es zudem häufig zur Agglutination des Artikels (loto ›Auto‹, lide ›Idee‹, zami ›Freund‹ < l’auto, l’idée, les amis), der als grammatikalische Kategorie zugleich aufgegeben wurde. Stigmatisierung – So positiv ökonomisch diese Formen aus linguistischer Sicht erscheinen mögen, so sehr ändert dies nichts an ihrer negativen Wertung in der Gesellschaft. Denn die Bewertung von Sprachen und Sprachvarietäten erfolgt nur teilweise auf der Basis linguistischer Merkmale und spiegelt bisweilen mehr eine Bewertung derjenigen, die sie nutzen, werden die bestimmten Bevölkerungsgruppen zugeschriebenen Stereotypen doch häufig auf deren Sprache projiziert. Die sprachökonomische Effizienz der kreolischen Formen rückt daher gegenüber dem Stigma, dass sie unter versklavten Farbigen aufkamen, in den Hintergrund. Aus muttersprachlich französischer Sicht dominiert so zunächst die Einordnung frankokreolischer Formen als Zeugnisse eines unzureichend erfolgten Spracherwerbs. Die Sprachen erhielten denn auch stigmatisierende Bezeichnungen wie zum Beispiel niederländisch Negerengels ›Negerenglisch‹, sranantongo Taki-Taki ›Blabla‹ (< talkee-talkee < engl. talk-talk), französisch baragouin ›Kauderwelsch‹, français banane ›Bananenfranzösisch‹ (vgl. Romaine 2012, 1771; Bellonie / Pustka 2017, 638). Werden Kreolsprachen jedoch als korrumpierte Formen der jeweiligen Basissprache gesehen, so wären konsequenterweise auch die romanischen Sprachen als korrumpiertes Latein zu betrachten. Sie aber konnten sich im Laufe der Geschichte von solchen pejorativen Zuschreibungen lösen, während dieser Wandel bei den Kreolsprachen unter anderem aufgrund ihrer speziellen Entstehungsgeschichte in der Kolonialzeit noch nicht durchweg erfolgt ist. Distanzierten sich in den meisten Gegenden zunächst die Weißen von der Sklavensprache (weniger aber zum Beispiel beim karibischen Papiamentu, dessen hohes Prestige auch mit der fehlenden Distanzierung der Bourgeoisie zu erklären ist), so taten dies nach der Abschaffung der Sklaverei in vielen Gegenden auch die Farbigen, die nun darauf aus waren, den Weißen möglichst ähnlich zu werden. Pariser Französisch zu sprechen war ein Ziel, das wenige erreichten, aber die meisten anstrebten, und zugleich nur ein Aspekt eines größeren Versuchs der Verdrängung eigener identitärer Merkmale im Sinne

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einer Angleichung an die Weißen, die der Psychologe Frantz Fanon (1952) mit seinem Buchtitel Peau noir, masques blancs ›Schwarze Haut, weiße Masken‹ auf den Punkt bringt. Aufwertung – Erst im Rahmen der Dezentralisationsbewegung in den 1960er und vor allem 1980er Jahren wurde den Regionalsprachen mehr Aufmerksamkeit der Französischen Republik zuteil. Langsam wurde eingestanden, dass das höhere Schulversagen in den Überseegebieten auch daran liegen könne, dass Unterricht auf Französisch für kreolisch erzogene Kinder schwerer verständlich ist und von einer an den lokalen Kontext angepassten Didaktik begleitet werden müsse, die auch die vormals überwiegend auf Frankreich bezogenen Unterrichtsinhalte im Geschichts- und Geographieunterricht überdenken ließ. In den Jahren 2000 und 2001 kam es zu entscheidenden Änderungen in der Sprachpolitik: Kreolisch wurde als französische Regionalsprache anerkannt, der Lehrplan im Fach Geschichte und Geographie an die lokalen Gegebenheiten angepasst, eine Lehramtsprüfung für Kreolisch (CAPES de créole) eingeführt und ebenso die Möglichkeit, zweisprachige Schulen oder Schulzweige zu eröffnen (vgl. Reutner 2005, 64–130). Diachronie und Definition – Aus dem oben Dargestellten wird klar: Kreolsprachen sind in der Synchronie nicht als solche identifizierbar, d. h. nicht anhand bestimmter kreoltypischer Sprachstrukturen erkennbar. Die Sprachwandelprozesse, die bei der Herausbildung der Kreolsprachen ablaufen, sind die gleichen wie bei anderen Sprachen. Mufwene (1996, 5) hält fest: »Creoles are defined sociohistorically, but not structurally«, und Bollée (2007b, 151): »Kreolsprachen […] lassen sich nicht typologisch, sondern nur soziolinguistisch definieren«. Ihre Bestimmung ist damit nur aus einer diachronen Perspektive möglich. Aus dieser lassen sie sich als Sprachen definieren, die in einer multilingualen Gesellschaft mit sozialem Gefälle entstanden sind, was zu einem unzureichenden Erwerb der Sprache der quantitativen Minderheit durch die multilinguale quantitative Mehrheit führte. Das zugrundeliegende Konzept ist in der Kolonialzeit entstanden und bis heute eng mit der Sklaverei verbunden; aktuelle Sprachkontaktsituationen sind damit in der Regel nicht vergleichbar. Abgrenzung zu migrationsbedingten Varietäten – Dessen ungeachtet wird auch die Sprache der nach Deutschland gezogenen Migrantinnen und Migranten bisweilen unreflektiert als Kreol oder Pidgindeutsch bezeichnet. Denn das unvollständig erworbene Deutsch von beispielsweise russischen oder türkischen Einwanderern und Einwandererinnen oder das als Sozio- oder Ethnolekt klassifizierbare Kiezdeutsch türkischer Jugendlicher sind ebenso wie Kreolsprachen Produkte des Sprachkontakts. Dieser führt bei den genannten Gruppen zu neuen Varietäten des Deutschen, nicht aber zu neuen Sprachen und schon gar nicht zu Pidgins oder Kreols. Zwar sind bestimmte Einwanderervarietäten teilweise auch mit geringem Sozialprestige versehen, doch ist die im bildungswissenschaftli-

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chen und soziolinguistischen Kontext relevante Stigmatisierung für die linguistische Beschreibung nicht definitorisch relevant und damit randständig für die Bestimmung als Kreolsprache. Ein soziales Gefälle, das mit der Situation im Kontext der Sklaverei vergleichbar wäre und den direkten Zugang zur Basissprache ausschließt, ist nicht gegeben, vor allem aber fehlt eine ausreichende Heterogenität der am Entstehungsprozess der jeweiligen neuen Sprache beteiligten Sprachgruppen.

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Schlussbemerkung

Positive Auswirkungen – Durch Migration kamen Menschen mit neuer Fauna, Flora und neuen Gegebenheiten in Berührung, die es zu benennen galt. Migration ist daher erstens für die Ausdifferenzierung des Wortschatzes vieler Sprachen verantwortlich und bereichert dort selbst den Standard. Durch Migration kam es aber auch zur Ausbreitung von Sprachräumen in Gegenden, in denen sich durch eine veränderte Sprachgeschichte, bestimmte Sprachkontakte und eine spezifische Sprach- wie Sprachenpolitik neue Varietäten ausbildeten. Somit erweitert Migration zweitens auch die sprachliche Variation. Nicht zuletzt führte Migration zur Herausbildung neuer Sprachen und vergrößert auf diese Weise die Sprachenvielfalt. Der Beitrag wirft damit einen in dreierlei Hinsicht positiven Blick auf sprachliche Veränderungen durch Migration. Negative Auswirkungen – Dabei steht außer Zweifel, dass alle drei Perspektivierungen auch jeweils gegenteilige Auswirkungen haben. Denn natürlich werden durch Migration Wörter, sprachliche Varietäten und Sprachen nicht nur auf der einen Seite neu geschaffen, sondern gehen auf der anderen Seite auch verloren, schließlich löst Neues in der Regel auch Altes ab. Migration mag neue Wörter einführen, die zur Aufgabe bereits vorhandener Wörter führen, oder bestimmte Wörter, die in der ›Alten Welt‹ wichtig waren, aufgeben lassen, da das Bezeichnete in der ›Neuen Welt‹ keine Bedeutung mehr hat. Migration mag zum Verzicht auf den eigenen Dialekt führen, um sich jenseits der Heimat besser in die Gesellschaft zu integrieren, und damit die sprachliche Variation verringern. Und Migration ist für das immense weltweite Sprachensterben mitverantwortlich. Denken wir nur an die vielen indigenen Sprachen und Völker, die von europäischen Migrationswellen bedroht und teilweise ausgelöscht wurden. Oder denken wir an kleinere Sprachen wie das Bündnerromanische oder das Dolomitenladinische, die aufgrund der Migration aus den Bergtälern in die Städte heute teilweise ums Überleben kämpfen. Doch gründet die Bedrohung der Sprachenvielfalt nicht ausschließlich in Migration, sondern in verschiedenen Gegebenheiten der modernen Gesellschaften.

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Fazit – Menschen aus Europa und Afrika wurden durch die oben beschriebenen Migrationsströme in eine ungewisse Zukunft geschickt. Während Erstere (wenn auch nicht immer und teilweise nur bedingt) freiwillig aufbrachen, wurden Letztere zur Migration und anschließend zu einem Leben in Abhängigkeit gezwungen. Entsprechend brachte die Migration Ersteren manchmal ein besseres Leben, während Letztere teilweise sogar bereits auf der Überfahrt den Tod fanden, ebenso wie viele Einheimische, die von den Neuankömmlingen mit vor Ort unbekannten Krankheiten und militärischen Auseinandersetzungen konfrontiert wurden. Gerade die durch Sklaverei bewirkte Zwangsmigration vieler Menschen soll keinesfalls beschönigt werden, wenn die verschiedenen europäischen Auswanderungswellen entsprechend der obigen Ausführungen im Hinblick auf die romanischen Sprachen letztendlich insgesamt weniger mit Verarmung verbunden werden als vor allem mit Bereicherung, die bei allen mit Neuem zwangsweise einhergehenden Verlusten für diese Sprachen insgesamt überwiegt. Denn tempora mutantur et nos mutamos in illis. Migration heißt Veränderung und Veränderung ist Leben.

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Christina Hansen / Kathrin Eveline Plank

(Bildungs-)Raum zwischen transnationaler Mobilität und Mauerbaufieber: Migration vor dem Hintergrund räumlicher Re-Figuration

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Einleitung

Migration, das finden wir, ist zunächst ›Bewegung‹ im weitesten Sinn und es ist etwas, das alle Menschen betrifft – die einen mehr, die anderen weniger. Einmal bleibt eine solche Bewegung weitgehend im gewohnten sozialen Raum, wenn wir z. B. für einen Arbeitsplatz von einer bekannten in eine andere bekannte Stadt ziehen. Das andere Mal ist die Veränderung größer: Menschen ziehen in Länder und Regionen, die ihnen bislang un- oder allenfalls wenig bekannt waren. Viele tun das, weil sie aus ihrem alten Lebensumfeld fliehen müssen. Diese ›Bewegungen‹ verändern aber nicht nur den Lebensraum von Migrantinnen und Migranten – sondern sie hinterfragen auch das Raumverständnis jener, die schon ›da‹ waren. Vor dem Hintergrund räumlicher Re-Figuration finden Aneignungsund Ausgrenzungspraxen statt, wird der gemeinsame Lebensraum also neu ausgehandelt. Es wird deutlich: Migration betrifft unser aller Verständnis über einen gemeinsamen Lebensraum sowie die Reflexion darüber. Wie widersprüchlich – fast schon verstörend – gemeinsamer Lebensraum genutzt, interpretiert und gelebt werden kann, zeigt folgendes Foto (s. Abb. 1), das José Palazón 2014 auf dem Golfplatz »Golf Melilla« in der gleichnamigen spanischen Enklave in Marokko aufgenommen hat – es ging um die Welt: Während Menschen mit allen Mitteln versuchen die »Festung Europa« zu erreichen, schwingen ein paar makellos gekleidete Golfspielerinnen und Golfspieler unbedarft ihre Schläger. Nicht im Bild: Die in den Büschen wartenden Grenzpolizisten. Dieses Foto eines insbesondere auch von Europäerinnen und Europäern genutzten und durch Millionen-Beiträge der EU mitfinanzierten ›Golfmekkas‹ in unmittelbarer Nähe zur EU-Außengrenze verbildlicht einen Aspekt des gegenwärtig feststellbaren Wandels räumlicher Logiken, den Martina Löw und Hubert Knoblauch (2019) als Re-Figuration von Räumen beschreiben. Entsprechende Veränderungen sind in diesem Kontext nicht nur durch die schlichte Zunahme von Migrationsbewegungen gekennzeichnet, sondern unter anderem auch durch

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Abb. 1: Shifting Borders: Luxustourismus trifft Fluchtroute am Golfplatz in Melilla (Quelle: José Palazón / Reuters).

die in der Fotografie nahezu greifbare Gleichzeitigkeit von Phänomenen, die ein Spannungsverhältnis evozieren: So scheinen die beiden Golfspielenden eine im höchsten Maß privilegierte, auf die ein oder andere Weise nahezu vollkommen entgrenzte Bewegungsfreiheit zu verkörpern, die auf eine sich zur gleichen Zeit vollziehende, deutliche Ausdifferenzierung von Abschottungsprozessen und existenzbedrohenden Ausschlüssen trifft. Die Zunahme und Veränderung von Migrationsbewegungen kennzeichnen Löw und Knoblauch (2019) zufolge Prozesse räumlicher Neuordnungen im Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Post- oder Spätmoderne. Gegenwärtige Phänomene wie Verinselung, Globalisierung und insbesondere das Entstehen von virtuellen Räumen stellen bislang geltende Raumkonzepte infrage respektive konfligieren mit diesen, denn »Raum wird nun auch als diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren« (Lo¨ w 2001, 266). Phänomene wie die erwähnten Migrationsbewegungen, aber auch eine verstärkte raumzeitliche Entgrenzung durch die Bedeutungszunahme virtueller Räume oder die weltweite Zirkulation von Waren treffen derzeit auf »Mauerbaufieber« (Brown 2017, 22), Brexit, ›Eat Local‹ und Co: Das Aufeinanderprallen von Phänomenen einer globalisierten Vernetzung auf gegenläufige Bewegungen kreiert ein konfliktrei-

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ches Spannungsfeld. Diese spannungsgeladene Dynamik unterschiedlicher bis gegensätzlicher räumlicher Logiken resultiert Löw und Knoblauch (2019) zufolge in einer Re-Figuration von Räumen. Diese wird beschrieben als »prozesshafte und vielfach mit Konflikten verbundene Umformung räumlicher Anordnungen und Verflechtungen« (Löw / Knoblauch 2019, 6). Mit dem Begriff werden demnach räumliche Neuordnungen und die Irritationen, die diese durchaus hervorrufen können, ebenso erfasst wie Kämpfe um den Erhalt bestehender Deutungs- und Nutzungsgewohnheiten. Raum wird in diesem Zusammenhang als Medium (zunehmend konfliktreicher) gesellschaftlicher Transformationen beschrieben. Diese Transformationsprozesse verändern nicht nur die menschliche Wahrnehmung von Räumen, sondern wirken sich darauf aus, wie diese Raum schaffen und gestalten, wie sie sich also den Raum aneignen und sich darüber subjektivieren können. Die auf der räumlichen Spielfläche dieser Re-Figuration ablaufenden Mechanismen von Ausgrenzung und ein entsprechendes Ungleichverhältnis in den Mobilitätsoptionen finden sich nicht nur im Zusammenhang mit vorgelagerten oder tatsächlichen Grenzkontrollen – sie können auch innerhalb eines Landes, in einer Region oder in einer Stadt zum Tragen kommen. Auf der Grundlage eines relationalen Raumverständnisses werden im vorliegenden Beitrag Migration, Exklusion und (Bildungs-)Raum betrachtet. Es wird diskutiert, wie Raum und Aneignung relational zusammenhängen bzw. welches Verständnisses von Aneignung es bedarf, um (Bildungs-)Raum relational zu denken und sozialen Raum inklusiv für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu öffnen.

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Abschied vom Container? Zur Normalitätsfalle Raum

Der Stadtforscher Dieter Läpple hat bereits 1991 festgestellt, [es müsse] das Raumproblem gleichermaßen ein konstitutives Moment jeglicher Form menschlicher Vergesellschaftung und dementsprechend auch Bestandteil einer Gesellschaftstheorie sein (La¨ pple 1991, 162).

Eine entsprechende ›Wiederentdeckung‹ des Raums durch die Kultur- und Sozialwissenschaft beschrieb der Geograph Edward Soja (1989; 1996) als Spatial Turn. Eine solche, mittlerweile vielfach rezipierte Wende scheint sich derzeit allerdings weder in der Migrationsforschung noch in der Bildungs- und Erziehungswissenschaft merklich abzuzeichnen – von vereinzelten Vorstößen abgesehen. So unterstellt Ivonne Fischer-Krapohl (2007) der Migrationsforschung eine gewisse »Ortlosigkeit«.

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In den genannten Disziplinen lässt sich aber nicht nur eine Raumblindheit im Sinn des Negierens oder Ausblendens des Raums als analytischer Kategorie feststellen, sondern auch das Festhalten an tradierten Raumvorstellungen (vgl. Deinet 2005). Im letztgenannten Fall wird Raum vornehmlich als unbeweglicher und ursprünglich leerer Behälter begriffen, der unabhängig und unberührt von menschlichen Handlungen existiert: Raum wird so als euklidisch bemessener Container gezeichnet, der nach Belieben und austauschbar mit Menschen und Gegenständen aufgefüllt wird. Agierende können sich in ihrem Handeln dann zwar durchaus auf den Raum beziehen, allerdings nur im Sinne materiell vorgegebener Tatsachen: Sie leben im Raum (vgl. Löw 2001, 19) und fühlen sich diesem quasi ausgeliefert. Im Rahmen einer derart deterministischen Auslegung vollführen sie entsprechend »bewegte Handlungen in einem an sich unbewegten Raum« (a. a. O., 18). Während Körper und Raum nach absolutistischer Vorstellung als Dualismus beschrieben werden, gelten beide Größen in einem relativistischen Raumverständnis als miteinander verwoben (vgl. Löw 2001, 17f.). Bereits Anfang der 1970er Jahre beschreibt der Stadtforscher Henri Lefebvre ([1974] 1991) den Raum als hergestellt durch spezifische soziale Prozesse. Im Gegensatz zu anderen Waren ist er aber gleichzeitig materielles Objekt und Medium, in dem andere Waren und gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden.

Daran knüpft Martina Löw vor dem Hintergrund der Strukturationstheorie nach Anthony Giddens (1984) an und fasst Raum als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln und damit als Ergebnis eines Prozesses der (An-) Ordnung. Menschliches Handeln ist demnach dem Raum nicht einfach ausgeliefert, sondern wird vielmehr als raumbildend begriffen. Der Raum wird wiederum nicht länger als unbeweglicher Container erfasst, sondern als dynamisches Gebilde erachtet, das in Handlungsabläufe integriert wird. Entsprechend gilt der absolute, der einheitliche und unabhängig von materiellen Verhältnissen existierende Raum als bloße Illusion – stattdessen wird er im Löwschen Denkgebäude als sich relativ zum Bezugssystem der Beobachtenden verhaltend beschrieben (vgl. Löw 2001, 33f.). Die Klammersetzung im Begriff der (An-)Ordnung spielt mit dieser Dualität zwischen Struktur und Handlung, wobei sich die Ordnungsdimension von Räumen als gesellschaftliche Struktur und die Handlungsdimension als Prozess des Anordnens verstehen lässt (vgl. Löw 2001, 131). Der Terminus zeigt somit auf, dass dem Raum sowohl strukturierende (›ordnende‹) als auch handlungsorientierte (›anordnende‹) Dimensionen inhärent sind (a. a. O., 166). Strukturen begreift Löw (2001, 226) dabei als »Regeln und Ressourcen, die rekursiv in Institutionen eingelagert sind und die unabhängig von Ort und Zeitpunkt Geltung

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haben«. In diesem Theoriegebäude vollzieht Handeln sich im Rahmen der räumlichen Ordnungsstruktur – als Prozess des Spacings im Sinne des Platzierens sozialer Güter, Menschen und symbolischer Markierungen (auch in Relation zu anderen Platzierungen) sowie – als Syntheseleistung in Form von Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozessen, über die Räume konstituiert und abgegrenzt werden.

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Mein Raum, dein Raum, unser Raum? Zum relationalen Verhältnis zwischen Raum und Aneignung im Kontext von Migration

Aus dieser relationalen Perspektive wird ersichtlich, dass Raum sich über die subjektive Handlung, über Prozesse der Aneignung konstituiert: Raum wird in Aneignungspraxen durch Subjekte hervorgebracht, während diese in einem Verhältnis wechselseitiger Gleichzeitigkeit als ›Aneignungssubjekte‹ subjektiviert werden. (Trescher / Hauck 2020, 1)

Der Sozialwissenschaftler Ulrich Deinet (2014) beschreibt im Anschluss an die Kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie das handelnde Erschließen der gegenständlichen und symbolischen Umwelt ebenso als Raumaneignung wie die »Inbesitznahme eines Ortes«. Dadurch thematisiert er nicht nur eine materielle Aneignung des physischen Raums, sondern auch eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten (vgl. Deinet 2014, 75). Eine immaterielle Aneignung von Raum mittels sozialer Interaktion beinhaltet insofern auch ein Hinterfragen wirkmächtiger räumlicher Logiken sowie das Potential, diese umzuschreiben, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Dies markiert auch den Bezug zum handelnden Subjekt als Individuum, von dem die Aneignung abhängig ist. Raum wird so nicht mehr länger nur im Rahmen bestehender Regeln und Gewohnheiten genutzt, Normen der (An-)Ordnung werden nicht einfach reproduziert – kurzum: Akteurinnen und Akteure sind dem Raum nicht länger einfach nur ausgeliefert. Mit der Aneignung des Raums befreien sie sich stattdessen aus einer deterministischen Raumvorstellung; sie handeln also nicht nur im, sondern mit und durch Raum. Ein in diesem Zusammenhang interessantes Beispiel räumlicher Aneignung im Kontext von Migration und Flucht liefern unter anderem die Arbeiten von Anna Marie Steigemann und Philipp Misselwitz (2020), die sich im Rahmen des Projekts »Architectures of Asylum« mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern Geflüchtete sich den Raum in den Transitzentren und Lagern aneignen können, denen sie zugeordnet werden – ein Prozess, den sie als »Homemaking« be-

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schreiben. Diese Prozesse ereignen sich im Spannungsfeld zwischen einer Topdown-Planung der Behörden und der Akteurinnen und Akteure in den Unterkünften, die den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner vergleichsweise rigide strukturieren, auf der einen Seite und dem Wunsch nach Adaption und Umfunktionierung der Gegebenheiten entlang der Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen der Betroffenen auf der anderen Seite. Den Ergebnissen Steigemanns und Misselwitz’ zufolge stellt sich ein »Gefühl des Ankommens« in den Lagern – trotz feststellbarer Anpassungen des Raumes – weniger bis nicht ein; stattdessen wird dieses erst durch den Kontakt zur Umgebung erzeugt, das heißt durch Kontakt zu Anwohnerinnen und Anwohnern der jeweiligen Quartiere, des Stadtteils oder der Stadt, in denen die Lager lokalisiert sind. Möglichkeiten des »Homemakings« und zur Aneignung des öffentlichen Raums werden durch die vorherrschenden räumlichen Logiken zentralisierter und hermetisch abgeriegelter Lager allerdings massiv beschnitten – beispielhaft für derartige »NichtOrte« (Auge´ 1994; 2012) oder Heterotopien (Foucault [1967] 1991) sind die sogenannten Ankerzentren Bayerns – auf sie werden wir an späterer Stelle im Beitrag noch einmal zurückkommen. Aneignung vollzieht sich also im Spannungsfeld sozialer (An-)Ordnung, das heißt die Zuordnung zu und die Aneignung von Raum sind Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Der Zugang zu Prozessen räumlicher Aneignung unterliegt dabei entlang gesellschaftlicher Machtverhältnisse einer separierenden Logik. Hendrik Trescher und Teresa Hauck (2020) sprechen in einem Beitrag zum relationalen Verhältnis zwischen Inklusion und Raum beispielsweise davon, dass sich Menschen, denen der Zugang zu spezifischen »Ausprägungsformen« räumlicher Aneignung, der anderen grundsätzlich offensteht, verwehrt bleibt oder erschwert wird, diesen in erster Linie als »Raum der Anderen« aneignen müssen (vgl. Trescher / Hauck 2020, 1). Gesellschaftliche Strukturprinzipien schreiben sich nicht nur in die Körperlichkeit ein, sondern finden auch einen Ausdruck im entsprechenden Habitus (vgl. a. a. O., 176). Norm(alitäts)vorstellungen entlang gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse leiten im Hinblick auf soziale Rollen und kollektive Normen den sich ständig in Bewegung befindlichen Prozess der (An-)Ordnung. So vollziehen sich auch Prozesse der Abwertung und Ausgrenzung über räumliche Platzierungen, beispielsweise über den Ausschluss von Personen(gruppen) durch eine Art Einlasskontrolle oder durch den Ausschluss aus der öffentlichen Sphäre durch eine Zuweisung zu spezifischen Räumen, wie im Folgenden am Beispiel der Migration aufgezeigt wird.

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Von Nicht-Orten und Shifting Borders: Wie ungleiche Verteilung globaler Mobilität und Nicht-Teilhabe räumlich determiniert wird

Vor dem Hintergrund des relationalen Verhältnisses zwischen Aneignung und Raum gehen wir im Folgenden exemplarisch auf zwei Phänomene ein, durch die sich veranschaulichen lässt, inwiefern exkludierende Prozesse im Kontext von Migration räumlich determiniert sind. Zum einen wird die ungleiche Verteilung globaler Mobilität durch sog. »Shifting Borders« (Shachar [2007] 2020), zum anderen wird der Ausschluss von Menschen mit Fluchthintergrund von gesellschaftlicher Teilnahme über den Verweis auf den »Nicht-Ort« (Augé 1994; 2012) Durchgangslager thematisiert. So wird also ein Beispiel für einen separierenden Ausschluss durch eine Grenzziehung im ursprünglichen Wortsinn eingebracht und darüber hinaus auch eines, dass sich in einem Staat, einem Land, einer Stadt oder einer Community nachvollziehen lässt. Im Rahmen einer Veranstaltung des Sonderforschungsbereichs 1265 beschreibt der Sozialwissenschaftler Fabian Gülzau (zit. n. Meier 2020) die ReFiguration von Grenzen aus globaler Perspektive und nimmt dabei unter anderem Bezug darauf, inwiefern Grenzen als semi-permeable, das heißt nicht für alle Passierenden gleichermaßen (un)durchlässige Filter unterschiedliche Mobilitätspotentiale hervorbringen und auf diese Weise ganz spezifische Personen(gruppen) räumlich ausgrenzen: Gülzau spricht in diesem Zusammenhang unter Rückbezug auf Ayelet Shachar ([2007] 2020) auch von »Shifting Borders«: Grenzen werden nicht als statische und alle Personen betreffende Einschränkungen praktiziert. So laufen beispielsweise derzeit gleichzeitig Prozesse des De-Borderings (u. a. Massentourismus, internationaler Warenverkehr) und ReBorderings (u. a. Nationalisierung, partielles Aufheben des Schengen-Abkommens, Zunahme von Grenzkontrollen) ab. Gülzau (zit. n. Meier 2020) expliziert in diesem Zusammenhang drei Entwicklungslinien, die ein höchst widersprüchliches und konfliktreiches Spannungsfeld zeichnen: Mit der Exterritorialisierung ist eine Art räumliche Vorverlagerung der Grenzkontrolle gemeint, beispielsweise über Visa: Diese Vergabe gestaltet sich je nach Staatsbürgerschaft höchst unterschiedlich und wirkt sich in Form einer massiv ungleich verteilten globalen Mobilität bzw. in drastischen Unterschieden hinsichtlich der Bewegungsfreiheit und der damit verknüpften Verwirklichung von Lebensentwürfen und Teilnahmemöglichkeiten aus. Mit Fortifzierung wird das aktuell ebenfalls feststellbare »Mauerbaufieber« (Brown 2017, 22) beschrieben, das den verstärkten Ausbau von Grenzanlagen und -kontrollen, aber auch die Zunahme entsprechender bürokratischer Hürden und gesetzlich festgeschriebener Barrieren erfasst, von dem wiederum Migrantinnen und Migranten auf ganz unterschiedliche Weise

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betroffen sind. Und selbst wer sowohl die vorverlagerte als auch die tatsächliche Grenzanlage der sog. ›Festung Europa‹, um diese als Beispiel für eine derartige Fortifizierung zu nennen, passiert hat, ist vor weiteren Grenzkontrollen in der EU oder in einem Mitgliedsstaat keineswegs gefeit – dies beschreibt Gülzau (zit. n. Meier 2020) als Flexibilisierung. Während Grenzen für privilegierte EU-Bürgerinnen und -Bürger aus West- und Mitteleuropa innerhalb der EU quasi nicht mehr existent sind und auf dem Weg nach Südafrika oder zum Golfplatz in Melilla auch außerhalb der EU eine allenfalls geringe bürokratische Hürde darstellen, manifestieren sich dieselben Grenzen zur gleichen Zeit für andere als existenzbedrohende und kaum überwindbare Ab- und Ausgrenzung. Letzteres zeigt sich zum Beispiel, wenn Menschen auf der Flucht unter unzumutbaren Zuständen in Übergangslagern im griechischen Moria oder im bosnischen Lipa quasi vor den Toren Europas festhängen, aufgrund eines Dublin-Verfahrens nach Ungarn zurückgedrängt werden oder als einzigen Einreiseweg die lebensbedrohliche Mittelmeerpassage sehen. Die in Bayern gültige Residenzpflicht für Menschen in einem Asylverfahren, die Zuweisung zu zentralen Aufnahmestellen sowie entsprechende, daran geknüpfte Kontrollen wirken als Verlängerung der Außengrenzen der EU. Es zeigt sich ein deutliches Bild ungleicher Mobilitätsoptionen – Grenzen manifestieren sich je nach Staatsbürgerschaft auf unterschiedliche Weise und determinieren die Ausschlüsse von bestimmten Migrantinnen und Migranten räumlich. Zudem sehen sich Menschen mit einer spezifischen Migrationsgeschichte auch innerhalb eines Landes respektive einer Stadt oder eines Stadtteils mit exkludierenden Prozessen und Zuweisungen konfrontiert. Im Folgenden wird dies am Phänomen des Nicht-Ortes beziehungsweise der Heterotopie »Ankerzentrum« veranschaulicht. Im Unterschied zu anthropologischen Orten, die Marc Auge´ (1994; 2012) als historisch gewachsen sowie identitäts- und beziehungsstiftend begreift, schafft »[d]er Raum des Nicht-Ortes […] keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit« (Auge´ 2012, 104). Es handelt sich dabei um Orte im (sub)urbanen Raum, die sich neben Anonymität und Einsamkeit auch dadurch auszeichnen, dass die Kommunikation mehr oder minder verroht beziehungsweise auf die wesentlichsten funktionalen Abläufe verknappt wird (vgl. Augé 1994, 71, 94, 116ff.). Das betrifft virtuelle und andere Kommunikations- sowie Transiträume, Orte, die im Zusammenhang mit mobiler Infrastruktur stehen ebenso wie Orte, die ausschließlich für den Zweck des Konsums entworfen werden – und Orte, an denen sich geflüchtete Menschen aufhalten müssen (vgl. Auge´ 1994, 94). Folgt man dem Ethnologen, dann kennzeichnet eine Zunahme sogenannter Nicht-Orte die Übermoderne insbesondere dort, wo die Phänomene Raumbeschleunigung und -zerfall auftreten. Das Übermaß an verfügbarem Raum, beispielsweise durch die Ausdifferenzie-

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rung virtueller Bezüge, führt nach Auge´ (1994, 38f.) zu einer räumlichen Verengung auf individueller Ebene: »Die Kluft der Vielfalt der dargestellten Räume und der Enge der dem Individuum effektiv verfügbaren Räume wächst«. Dabei wird nicht nur auf den jeweils konkreten Ort Bezug genommen, sondern auch auf die Beziehung(en), die ein Individuum über Codes, Regeln oder Textelemente zu diesem einnimmt. Die Kommunikation beruht vor allem auf Ge- und Verboten, die nicht das Individuum, sondern dessen Rolle(n) am Nicht-Ort und damit den ›Durchschnittsmenschen‹ adressieren: Der Passagier der Nicht-Orte findet seine Identität nur an der Grenzkontrolle, an der Zahlstelle oder an der Kasse des Supermarkts. Als Wartender gehorcht er denselben Codes wie die anderen, nimmt dieselben Botschaften auf, reagiert auf dieselben Aufforderungen (a. a. O., 135).

Insofern entwickeln Nicht-Orte auch keine Kohäsionskraft und wirken nicht integrierend (vgl. Thiesen 2018, 5). Michel Foucault ([1967] 1991) entwirft mit den »anderen Räume[n]« seine Vorstellung einer Heterotopie – ein Konzept, das die Vorstellung des »NichtOrtes« im vorliegenden Kontext sinngemäß zu ergänzen vermag: Heterotopien befinden sich Foucault zufolge außerhalb gesellschaftlich erwünschter Räume und können beispielsweise krisenhaft (Handeln in gesellschaftlich nicht geordneten Räumen) oder abweichend (Sanktionsorte für Personen, die abweichendes Verhalten gezeigt haben) charakterisiert werden (vgl. Foucault 1991, 68ff.). Als Heterotopien können auch Orte für Menschen in Extremsituationen beschrieben werden, zu denen dann nur ein beschränkter Zugang möglich ist, der über Genehmigungen geregelt wird oder verpflichtend ist – beispielsweise für Menschen auf der Flucht, die dazu gezwungen werden können, sich über einen gewissen Zeitraum in Übergangslagern aufzuhalten. Die sogenannten »Ankerzentren« als zentrale Lager für Menschen, die sich in einem Asylverfahren befinden, lassen sich als solche Nicht-Orte, als Heterotopien, beschreiben, die Migrantinnen und Migranten aus dem öffentlichen Raum und damit auch aus gesellschaftlicher Teilnahme ausschließen. Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus werden in Bayern derzeit dazu verpflichtet, sich während eines nicht näher definierten Zeitraums in einem solchen Ankerzentrum aufzuhalten. Dieses darf nur unter strikten Vorgaben verlassen und betreten werden, wobei gleichzeitig auch der Zugang von Personen, die nicht in den Lagern arbeiten oder dort wohnen, streng geregelt und größtenteils untersagt ist – der so wichtige Kontakt, der für das bereits erwähnte »Gefühl des Ankommens« (vgl. Steigemann / Misselwitz 2020; vgl. auch Kap. 3) und für die Aneignung des öffentlichen Raums so wichtig ist, wird dadurch enorm beschnitten, wenn nicht sogar gänzlich verunmöglicht. Über diese Platzierung erfolgt auch eine RollenZuschreibung. Nur über diese Rollen werden die Bewohnerinnen und Bewohner

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am Nicht-Ort Ankerzentrum dann auch adressiert: An die Stelle des Individuums tritt das Stereotyp »Flüchtling«. Die Zuweisung zum Aufenthalt in diesen Transiträumen setzt die Betroffenen also in mehrfacher Hinsicht in abgrenzende Relation zur umgebenden Mehrheitsgesellschaft. Menschen mit Migrations- und insbesondere mit Fluchthintergrund werden auch in anderen Situationen ausgegrenzt und diese Ausgrenzung determiniert sich teils räumlich – wie im Folgenden exemplarisch am halböffentlichen Bildungsraum Schule aufgezeigt wird. Die Einrichtung wird als Beispiel gesetzt, da an Schule nicht nur exkludierende Mechanismen (re)produziert werden, sondern der Institution aufgrund zentraler Struktur- und Prozessmerkmale inklusives Potential innewohnt, insofern es gelingt, Schule als Befähigungsraum zu gestalten. Uns interessiert der Bildungsraum Schule insofern nicht nur hinsichtlich der Frage, inwiefern auch an Schulen Ausgrenzungspraktiken in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund räumlich determiniert werden, sondern insbesondere mit Blick auf das grundlegend inklusive Potential: Inwiefern kann Schule zu einer Aneignung des (öffentlichen) Raums befähigen und lässt sich dies über die Einrichtung hinweg auch für die umgebende Region nutzen?

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Wie Schule von einer ›Separationsschleuse‹ zum Aneignungsraum für alle werden kann – ein Gedankenspiel

2018 hat Ministerpräsident Markus Söder für die Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an bayerischen Schulen sogenannte »Deutschklassen« samt »Wertekunde« vorgeschlagen, die nach einem ähnlichen Prinzip wie die Berliner »Willkommensklassen« funktionieren sollten. Diese Sonderklassen treten in die separierenden Fußstapfen der sogenannten »Ausländerklassen« der 1960er Jahre: Die Besonderung und Exklusion von Lernenden mit Migrationshintergrund wird so an Schule auch räumlich determiniert – dabei knüpft die schulische Praxis fast nahtlos an räumliche Ausschlüsse im gesamtgesellschaftlichen Kontext an. Statt gemeinsam mit allen Schülerinnen und Schülern an einem Ort lernen zu können, werden die betreffenden Schülerinnen und Schüler herausgenommen und einem Sonderort zugeordnet. Diese Kinder und Jugendlichen erfahren eine Besonderung, die ihnen den Kontakt zu den ›Anderen‹ über die räumliche Ausweisung erschwert. Eine Exklusion, die – im Falle einer Fluchtmigration – durch die außerschulische Zuweisung zu einem Ankerzentrum noch potenziert wird und die Aneignung des öffentlichen Raums weiter erschwert.

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Dabei hat Schule als zentrale Sozialisationsinstanz nicht nur den Auftrag, sondern hinsichtlich zentraler Struktur- und Prozessmerkmale auch das Potential Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichstem Hintergrund zu Aneignung und Teilnahme, und insofern zu einem selbstbestimmten Leben in Würde zu befähigen (vgl. Nussbaum 1999; Sen 2010). Um dieses Potential der Schule als Befähigungsraum hinreichend analysieren zu können, bedarf es unter anderem einer bislang noch ausstehenden, umfassenden bildungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Topos Raum. Erst wenn wir Raum als sozial konstruiert begreifen lernen, können wir auch die Konsequenzen räumlicher Zuordnungen hinsichtlich Aneignung, Selbstbestimmung und Partizipation nachvollziehen. Gerade mit Blick auf die Eröffnung authentischer Erprobungsfelder vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationen (vgl. OECD 2019), insbesondere aber auch mit Blick auf die Schlüsselrolle von Schule als Befähigungsraum für alle Akteurinnen und Akteure einer Gemeinschaft oder eines Stadtteils darf die Implementierung eines demokratischen Handlungsraums nicht auf das Schulgebäude respektive -gelände begrenzt bleiben. Schule muss stattdessen eine »durchlässige Außenhaut« (Sliwka / Klopsch 2020) entwickeln und sich ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld gegenüber öffnen. Dies zielt vor allem auch auf die Implementierung von Bildungsräumen für all jene ab, die mehrheitsgesellschaftlich aus dem öffentlichen Raum ausgegrenzt werden, wie beispielsweise Migrantinnen und Migranten, die dem Nicht-Ort ›Flüchtlingslager‹ zugeordnet wurden. Ausgehend von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und Schlüsselproblemen hat Christina Hansen die Idee der israelischen Education City im Sinne der Entwicklung eines regionalen Bildungsnetzwerks (vgl. Hecht 2017) sowie das Konzept des Service Learning als besondere Form des Projektunterrichts (vgl. Sliwka / Frank 2004) aufgegriffen und daraus den Ansatz des »transformativen Bildungsraums« (vgl. Hansen / Plank 2018) abgeleitet. Im Fokus des Konzepts steht die Entwicklung eines für alle gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure einer Region gleichermaßen zugänglichen Bildungsraums, in dem gegenwärtige und künftige gesellschaftliche Anforderungen diskutiert, Umgangsmöglichkeiten damit entworfen, erprobt und reflektiert werden können. Schule bleibt dabei weiter ein fixierter Lernort, erweitert sich aber zu und um regionale »Projektzonen«. Diese Zonen werden wiederum mit den virulenten Zukunftsthemen verbunden (s. Tab. 1). Durch diese Neuordnung des schulischen Raums wird der Bildungsraum Schule in einem »zirkulären Transformationsprozess von relevanten Themen zwischen Region und Schule« zum »Kristallisationspunkt für den regionalen Bildungsraum« (Hansen / Plank 2018, 50f.) weiterentwickelt.

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Wenn in diesem Zusammenhang von »durchlässiger Außenhaut« die Rede ist, beschreibt dies zum einen das Hereinholen außerschulischer Realität und das Schaffen von authentischen Handlungsräumen für Kinder und Jugendliche über den systematischen Einbezug außerschulischer Lernorte und Expertinnen und Experten. Das Konzept bleibt aber nicht an dieser Stelle stehen, sondern es setzt Schule als zentralen Motor regionaler Bildungsraumentwicklung, das heißt ausgehend von der zentralen Einrichtung Schule findet eine Vernetzung von Bildungsorten und Akteurinnen und Akteuren statt, um für alle Mitglieder eines Stadtteils oder einer Gemeinschaft Bildungsräume in der Region zu schaffen und / oder zugänglich zu machen. Zukun!sthemen (z.B. trends sharping educa!onBericht, OECD 2016)

Dimensionen Schule als transforma"ver Befähigungsraum

z.B. Digitalisierung Lern- und Entwicklungsraum Life-long-learning Umwelt und Nachhal#gkeit Globalisierung und Migra#on

Erfahrungs- und Erprobungsraum Mitgestaltungs- und Par#zipa#onsraum Sozialer Raum und Beziehungsraum (demokra#scher) Gesellscha!sraum

Soziales und Gerech#gkeit

Gesellscha!liche »Projektzonen« des Bildungsraums Digitale Zonen z.B. Virtuelle Welt(en) und virtual reali!es Ökonomische Zonen (z.B. Handel, Wirtscha!, Fer#gung) Ökologische Zonen (z.B. Parks, Spiel- und öffentliche Plätze) Kulturelle Zonen (z.B. Theater, Sprachen und Musik, Vereine) Individuelle Zonen (z.B. Familie, soziale Einrichtungen)

Tab. 1: Schule als transformativer Befähigungsraum (Quelle: Hansen / Plank 2018, 51, leicht angepasst).

Eine entsprechende Erweiterung des Lernraums Schule über die physischen Grenzen und die gedanklichen Vorstellungsgrenzen von Klassenzimmer und Schulgelände hinweg stellt einen ersten Schritt in Richtung einer aneignungsoffenen, inklusiven Bildungsregion dar. Es entstehen nicht nur verstärkt Bildungsangebote im öffentlichen Raum, sondern eng damit verknüpft auch Begegnungs- und Partizipationsflächen, die zu einer gemeinsamen Aushandlung, Nutzung und letztlich Aneignung des Raums einladen. Entsprechend verfügbare Ressourcen und Akteurinnen und Akteure der Region können zudem auf einer ganz pragmatischen Ebene durch den Einbezug in Unterricht und Schulleben beispielsweise gerade auch jene Bedarfe im Bereich der Sprachförderung aufgreifen und bearbeiten, die unter anderem als Legitimation der Einrichtung separierender Sonderklassen eingebracht wurden.

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Fazit

Auf der Grundlage des Aneignungskonzepts, in dem Entwicklung als tätige Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt verstanden wird, ging es im vorliegenden Beitrag um die Frage, inwiefern sich gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen im Zusammenhang mit Migration auch räumlich determinieren können, aber auch um die Frage, welche Aneignungsmöglichkeiten Migrantinnen und Migranten in einem neuen Lebensraum vorfinden. Im Fokus des Beitrags stand entsprechend die Befähigung zur Aneignung öffentlichen Raums und zu gesellschaftlicher Teilhabe, expliziert am Beispiel des Bildungsraums Schule. Der Terminus »Befähigung« rekurriert dabei auf einen theoretischen Ansatz, der maßgeblich von Martha Nussbaum (1999) und Amartya Sen (2010) entwickelt wurde. Er beschreibt im Kern das Zusammenspiel des individuellen Vermögens und der institutionellen Rahmenbedingungen bei der subjektiven Verwirklichung eines »good life« (vgl. Nussbaum 1999; Sen 2010). Mit diesem aneignungsorientierten Blick auf den Lebensraum kann schließlich auch der Bildungsort Schule selbst anders gesehen werden. In dieser Perspektive werden auch Schul-Räume als Teile sozialer Lebenswelten verstanden, die sich Kinder und Jugendliche durch individuelle Aneignungsprozesse erschließen. Schulen sind dabei wesentliche Bestandteile öffentlicher Räume; ihre Bedeutung geht insofern weit über den Unterricht hinaus. Die konkrete Ausgestaltung eines Bildungssystems als nicht unwesentlicher Part institutioneller Rahmenbedingungen kann die bestmögliche Verwirklichung eines Individuums und dessen Möglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen gleichermaßen fördern wie auch hemmen (vgl. Sen 2010, 47). Schulen sind auch Orte des informellen Lernens bzw. findet das Lernen von Schülerinnen und Schülern auch außerhalb formaler Lernorte statt. Der Ort Schule als »transformativer Bildungsraum« bestimmt dabei durch seine architektonischen und strukturellen Gegebenheiten, in welchem Umfang informelle und formale Bildungsprozesse verbunden werden und Aneignungsprozesse möglich sind.

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

Anna Felfeli ist Doktorandin an der Professur für Internationale Politik der Universität Passau. Felfeli arbeitete in der internationalen Not- und Katastrophenhilfe und leitete dabei verschiedene Projekte im Kontext von Flucht und Migration. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Außenpolitikforschung, Securitization, Identitätstheorie und Humanitarian Diplomacy. Karsten Fitz ist Professor für Amerikanistik / Culture and Media Studies an der Universität Passau. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Native American Studies, kulturelles Gedächtnis, Visual Culture Studies, politische Kultur (u. a. in den transatlantischen Beziehungen); ferner befasst er sich mit Konzepten der Vermittlung amerikabezogener Themen im Englischunterricht. Peter Fonk ist emeritierter Professor für Theologische Ethik an der Universität Passau. Er war Leiter des berufsbegleitenden Masterstudiengangs Caritaswissenschaft und werteorientiertes Management sowie des Instituts für Angewandte Ethik in Wirtschaft, Aus- und Weiterbildung. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen interdisziplinäre und interreligiöse Ethik, philosophische Ethik, Medizinethik, Sozialethik, Friedensethik und Ethik der Wohlfahrtspflege. Christina Hansen ist Professorin fu¨ r Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Diversita¨tsforschung an der Universita¨ t Passau. Hansen war bis August 2020 Vizepra¨ sidentin fu¨ r Studium und Lehre, seit September 2020 ist sie Vizepra¨ sidentin fu¨ r Internationalisierung, Europa und Diversita¨ t. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diversita¨ tsforschung, Architektur und Bildungsraum, Professionalisierung und Internationalisierung der Lehrer*innenbildung.

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

Marina Ortrud M. Hertrampf ist Professorin für frz. und span. Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Passau. Sie ist Präsidentin der Gesellschaft der Freunde Romain Rollands in Deutschland e.V. und (Mit-)Herausgeberin zahlreicher Schriftenreihen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Intermedialität, Raumtheorien, Transkulturalität, Migration, Romani Studies und Literaturdidaktik. ORCID: https://orcid.org/0000-0001-8 932-2193 Britta Kägler ist Professorin für Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen kultureller Transfers, Migration, Bau- und Wirtschaftsgeschichte des Barock sowie internationale Vernetzungen und ihre regionale Relevanz. Zeitlich arbeitet sie vor allem zur Frühen Neuzeit und zur Nachkriegsgeschichte nach 1945. Martina Maletzky de García ist akademische Rätin am Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Passau. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen interkulturelle Organisationsforschung und Interkulturalität in Migrationskontexten sowie Soziologische Grundlagen der Interkulturellen Kommunikation. Kathrin Eveline Plank ist Erziehungswissenschaftlerin und derzeit im Rahmen der akademischen Lehrkräftebildung der Universität Passau tätig. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen demokratischer Bildung, Bildungsraumforschung und Internationalisierung in der Lehrkräftebildung. Ursula Reutner ist Professorin für Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Universität Passau. Von 2014 bis 2018 war sie Vizepräsidentin für Internationale Beziehungen, 2018 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universidad del Salvador in Buenos Aires. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschaftliche Zwei- und Mehrsprachigkeit, Sprache und Identität, Sprachtabu, Interkulturelle Kommunikation und Kulturkontakt. Julia Ricart Brede ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache / Deutsch als Fremdsprache an der Universität Passau. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik, Migration, Lernersprachentwicklung und Sprache im Fach.

Angaben zu den Autorinnen und Autoren

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Bernhard Stahl ist seit 2010 Professor für Internationale Politik an der Universität Passau. Seine Forschungsinteressen umfassen Vergleichende Außenpolitikforschung, Südosteuropa und diskursgebundene Identitätstheorie. Daniela Wawra ist Professorin für Englische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Universität Passau. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Soziolinguistik auf der kulturvergleichenden politischen, Wirtschafts- und digitalen Kommunikation.