Mies van der Rohe im Diskurs: Innovationen - Haltungen - Werke. Aktuelle Positionen [1. Aufl.] 9783839423059

Die Arbeiten von Mies van der Rohe haben bis heute nicht an Aktualität verloren. Dieser Band versammelt Beiträge, die wü

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Mies van der Rohe im Diskurs: Innovationen - Haltungen - Werke. Aktuelle Positionen [1. Aufl.]
 9783839423059

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Ludwig Mies van der Rohes frühe moderne Architekturentwürfe und Hans Vaihingers Philosophie des Als ObModellbildung als Technik der Invention
Filmkämpfer Mies
Zur Klärung des WohnwillensLudwig Mies van der Rohe und die Strategien des Zeigens auf dem Stuttgarter Weißenhof
Die deutsche Seidenindustrie als Auftraggeber der Moderne
Reflexionen im Spiegelglas…Ludwig Mies van der Rohe, Philip Johnson und die Glashäuser. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung
Die An- und Abwesenheit der Villa Tugendhat im Kontext der tschechischen Architektur
Baukunst und ZeitwilleDie Nachkriegsarchitektur der BRD im Lichte Mies’scher Architekturethik
Duschen mit MiesZu Jeff Walls Morning Cleaning
Autorinnen und Autoren

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Kerstin Plüm (Hg.) Mies van der Rohe im Diskurs

Architekturen | Band 17

Die Publikation ist die Dokumentation des Symposiums, das 2011 anlässlich des 125jährigen Geburtstages Mies van der Rohes von der Hochschule Niederrhein, Fachbereich Design, unter der Leitung von Prof. Dr. Kerstin Plüm initiiert wurde: Mies125 – Kulturspeicher und Imagefaktor. Bei dieser international und interdisziplinär besetzten Veranstaltung präsentierten und diskutierten acht Wissenschaftler ihre aktuellen Forschungsansätze. Organisation und Konzeption: Kerstin Plüm, Kerstin Meincke, Simon Hombücher. Kooperationspartner: Hochschule Niederrhein, Stadt Krefeld, Kunstmuseen Krefeld, Verein MIK Mies van der Rohe in Krefeld, Verseidag-Gebäude www.hochschule-niederrhein.de www.krefelder-baukultur.de

Kerstin Plüm (Hg.)

Mies van der Rohe im Diskurs Innovationen – Haltungen – Werke. Aktuelle Positionen Unter Mitarbeit von Kerstin Meincke

Die Publikation wurde gefördert durch:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Konzeption: Kerstin Plüm, Kerstin Meincke Lektorat & Satz: Kerstin Meincke Koordination: Kerstin Meincke Umschlagabbildung: Ludwig Mies van der Rohe: Landhaus in Backstein, 1924, axonometrische Zeichnung, Rekonstruktion, Marina Budnitskaya, 2012 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2305-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort Kerstin Plüm | 7

Einleitung Kerstin Meincke | 9

Ludwig Mies van der Rohes frühe moderne Architekturentwürfe und Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob Modellbildung als Technik der Invention Paul Weber | 13

Filmkämpfer Mies Lutz Robbers | 63

Zur Klärung des Wohnwillens Ludwig Mies van der Rohe und die Strategien des Zeigens auf dem Stuttgarter Weißenhof Theres Rohde | 97

Die deutsche Seidenindustrie als Auftraggeber der Moderne Christiane Lange | 117

Reflexionen im Spiegelglas… Ludwig Mies van der Rohe, Philip Johnson und die Glashäuser. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung. Ole W. Fischer | 139

Die An- und Abwesenheit der Villa Tugendhat im Kontext der tschechischen Architektur Vendula Hnídková | 159

Baukunst und Zeitwille Die Nachkriegsarchitektur der BRD im Lichte Mies’scher Architekturethik Arne Schmitt | 171

Duschen mit Mies Zu Jeff Walls Morning Cleaning Anselm Wagner | 193

Autorinnen und Autoren | 221

Vorwort

„Wir erschaffen eine neue Gesellschaft, die braucht neue Gebäude.“ Dies war der Anspruch Mies van der Rohes in den 1920er Jahren. Im September 2011, im 125sten Geburtsjahr Mies van der Rohes, wurde von der Hochschule Niederrhein, Fachbereich Design, dem Stadtmarketing Krefeld, den Kunstmuseen Krefeld und dem Verein MiK das öffentliche Symposium ‚Mies125: Kulturspeicher oder Imagefaktor‘ veranstaltet. Die Vorträge und Diskussionen des Symposiums kreisten darum, welche der Haltungen, ästhetischen Standpunkte und Innovationsprozesse Mies van der Rohes sich bis heute interdisziplinär als besonders überlebensfähig und fruchtbar erwiesen haben. In den Beiträgen wurde die Medialität und die Performativität der Architektur Mies van der Rohes diskutiert und aktuelle Neubewertungen, Kontextualisierungen und werkimmanente Untersuchungen zu seinem Werk vorgestellt. Die Arbeiten und Aussagen Mies van der Rohes stehen exponiert im Kanon der Architektur- und Kulturgeschichte. Sie können in ihrer konsequenten Ästhetik und Doktrin als Endpunkte der modernen Architektur gedacht werden, sie sind Symbole der Macht, und sie können in ihrer Überhöhung durchaus als Kunstwerke gesehen werden, bzw. profaner als kommerzialisierte Marke. Mies van der Rohes Architekturen sind Landmarks der Städte, Denkmäler einer vergangenen Avan garde und formale Solitäre. In Krefeld werden die Häusern Lange und Esters nicht mehr als Wohnhäuser, sondern als Museum genutzt, das Verseidag-Gebäude wie zur Zeit der Erbauung als Betriebsgebäude. Durch die kulturelle Umnutzung als Museum der Häuser Lange und Esters wird die MiesArchitektur all- und tagtäglich im Speicher des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, bei der Verseidag ist die Wertschätzung in der Architekturgeschichte der Nutzung als Firmengebäude untergeordnet. Gleichwohl dienen beide Architekturen der Stadt Krefeld als Imagefaktor. Das Symposium hat gezeigt,

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dass Mies Architektur und seine innovativen Verfahren bis heute Anlass zur Forschung und Potential zur künstlerischen und wissenschaftlichen Reflektion und Übertragung auf aktuelle ästhetische Phänomene und Fragen der Stadtentwicklung bieten. Der Eröffnungsabend fand im Haus Lange statt: Dafür danke ich den Kunstmuseen, vertreten durch Frau Dr. Sylvia Martin sehr herzlich. Günter Nauck ermöglichte uns, den zweiten Tag im Verseidag-Gebäude stattfinden zu lassen. Ihm und dem Architekten Karl-Heinrich Eick danke ich für diese seltene Gelegenheit. Das 125. Geburtsjahr Mies van der Rohes ist nun das Geburtsjahr der Initiative Krefelder Baukultur, unter der kooperativ Themen entwickelt werden. Der Leiter des Fachbereichs Marketing und Stadtentwicklung, Ulrich Cloos, initiierte und finanzierte dieses Projekt, das derzeit mit Aktivitäten zum Architekten Bernhard Pfau seine Fortsetzung erlebt. Ich danke Ulrich Cloos und seiner Mitarbeiterin Claire Neidhardt für die professionelle und harmonische Zusammenarbeit. Bedanken möchte ich mich auch beim Verein MiK, der, vertreten durch seine Vorsitzende Christiane Lange, den Weg von Anfang an inhaltlich aber auch finanziell begleitet hat. Ermöglicht haben die Kollegen und Mitarbeiter der Hochschule Niederrhein das Projekt Mies125: Prof. Nicolas Beucker, der als Dekan des Fachbereichs Design immer zur Seite stand, Simon Hombücher, der mit koordinierte und nicht zuletzt Kerstin Meincke, die mit konzipierte, Ansprechpartnerin für die Autoren war und vor allem das Lektorat verantwortete. Durch die vorliegende Publikation Mies van der Rohe im Diskurs. Innovationen – Haltungen – Werke. Aktuelle Positionen, wird sowohl das Symposium ‚Mies125: Kulturspeicher oder Imagefaktor‘ dokumentiert, als auch den Teilnehmern ermöglicht, Überlegungen fortzuführen und Anregungen aus der Diskussion mit zu verarbeiten. Ermöglicht hat dies die finanzielle Beteiligung der Hochschule Niederrhein. Unserem Präsidenten, Herrn Prof. Dr. HansHennig von Grünberg, spreche ich ausdrücklich meinen besonderen Dank für seine Unterstützung und vertrauensvolle Begleitung aus. Kerstin Plüm, als Herausgeberin

Einleitung

In Krefeld ist das Erbe Mies van der Rohes bis in die Gegenwart präsent. Das einstige Zentrum der deutschen Seidenindustrie am Niederrhein war Schauplatz für sechs Bauprojekte des Architekten, beginnend im Jahr 1927 mit der Planung der heute als Museen für zeitgenössische Kunst international beachteten Häuser Lange und Esters, die zunächst als Wohnhäuser für die Familien der Textilfabrikanten Hermann Lange und Josef Esters konzipiert und genutzt wurden. 1930 realisierte Mies mit dem Färberei- und HE-Gebäude der Vereinigten Seidenwebereien AG (Verseidag) einen weiteren Auftrag der beiden Fabrikanten – Mies’ einziges Fabrikgebäude. Es folgten Planungen für ein Bürohaus (1937–1939), das jedoch nicht realisiert wurde. Im Umfeld Mies van der Rohes entstand 1932 in der Krefelder Gemeinde Hüls das Haus Heusgen. Nach jahrelangen Spekulationen wird es mittlerweile Mies’ ehemaligem Mitarbeiter Willi Kaiser zugeschrieben, der in zahlreiche Projekte Mies van der Rohes involviert war.1 Nicht realisiert blieben Mies’ Entwürfe für den Krefelder Golfclub (1930) und für das Wohnhaus Ulrich Langes (1934–1935). Aus diesem unmittelbaren lokalen Bezug leitete sich die Idee ab, anlässlich des 125. Geburtstags Mies van der Rohes, aktuelle und innovative Perspektiven auf das Erbe eines Architekten zusammenzubringen, der die Architektur des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Die Beiträge von Vendula Hnídková, Ole W. Fischer, Christiane Lange, Lutz Robbers, Theres Rohde, Arne Schmitt, Anselm Wagner und Paul Weber präsentieren einen „Mies van der Rohe im Diskurs“ – aktuelle Forschungsergebnisse aus Architekturtheorie, Kunstgeschichte, bildender Kunst, Medien- und Kulturwissenschaft.

1 | Christiane Lange: Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie. Berlin 2011.

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In ihrer rezeptionshistorischen Untersuchung skizziert die Architekturhistorikerin Vendula Hnídková „Die An- und Abwesenheit der Villa Tugendhat im Kontext der tschechischen Architektur“ und konturiert das Bauwerk als Schlüsselobjekt ideologischer Kontroversen. Ausgehend vom lokalen Bauwesen in Brünn analysiert sie –vor dem Horizont der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen – Wahrnehmung, Nutzung und Bewertung der 1930 fertig gestellten Villa von der Bauphase, über die Neubewertung in den 1960er Jahren und ihrer Aufnahme in das tschechische Denkmalregister 1963 bis in die Gegenwart. Die direkte Bezugnahme zum Tagungsort findet sich in Christiane Langes Untersuchung „Die deutsche Seidenindustrie als Aufraggeber der Moderne“. Die Kunsthistorikerin rekonstruiert die Rolle der Krefelder Fabrikanten Hermann Lange und Josef Esters im Hinblick auf Mies van der Rohes architektonische Praxis in den 1920er und 1930er Jahren. Hierfür untersucht sie sowohl Mies’ Bauvorhaben in Krefeld als auch seine von hier aus in Auftrag gegebenen überregionalen und internationalen, mehrheitlich in Zusammenarbeit mit Lilly Reich entstandenen Projekte für Messen und Werbeschauen der Seidenindustrie. Ganz unabhängig von Auftraggebern präsentiert die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Theres Rohde den Architekten selbst als Medienstrategen, der sich gezielter didaktischer Kunstgriffe bediente, um seine Vorstellungen vom „Neuen Wohnen“ nicht nur wirkungsvoll, sondern auch nachhaltig gesellschaftlich zu verankern. Ihr Beitrag „Zur Klärung des Wohnwillens. Ludwig Mies van der Rohe und die Strategien des Zeigens auf dem Stuttgarter Weißenhof“ spürt den „Wohnwillen“ in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts nach. Anhand von Dokumenten und Medien, die im Kontext der Stuttgarter Ausstellung von 1927 als Werbe- oder Infomaterialien in Umlauf gebracht wurden, entwickelt Rohde hier eine neue Perspektive auf die Funktion des Architekten und Ausstellungsleiters Mies van der Rohe. Für Mies van der Rohe bildeten die reproduzierbaren Medien Instrumente, um seine Vorstellungen verbreiten zu können. Die Mystifizierung des Barcelona-Pavillons etwa steht in direktem Zusammenhang mit der medialen Verbreitung fotografischer Bilder. In der Phase seiner physischen Abwesenheit zwischen Abriss und Wiederaufbau prägten die zeitgenössischen Fotografien Sasha Stones sein imaginäres Image.2 Die stark retuschierten Bilder, die im Auftrag des Architekten entstanden und gezielt in Umlauf gebracht worden waren, antizipieren Motive von erhabener Reinheit, Hygiene und Präzision, die die kollektive Imagination des Bauwerks prägen sollten. Diese Mediengeschichte

2 | Vgl. Rolf Sachsse: Medium und Moderne als Enigma. In: Mies und das neue Wohnen. Räume, Möbel, Fotografie. Helmut Reuter, Birgit Schulte (Hg.), Ostfildern 2008, S. 252-263.

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skizziert der Kunsthistoriker Anselm Wagner in seinem Beitrag „Duschen mit Mies. Zu Jeff Walls Morning Cleaning“, ausgehend von Jeff Walls monumentalem Großbilddia von 1999. Während Mies also den mimetischen Charakter fotografischer Bilder gezielt ausschöpfte, um perfektionierte, gestylte Zwillinge seiner Bauwerke massenmedial zu verbreiten, hielt der Film auf anderer Ebene Einzug in seine Entwürfe – und umgekehrt, Mies’ Entwurfstechnik in den abstrakten Film. So perspektiviert Lutz Robbers in seinem Beitrag „Filmkämpfer Mies“ den avantgardistischen abstrakten Film und Mies’ architektonisches Schaffen als wechselseitige Inspirationsquelle innerhalb des zeitlich bis in die frühen 1920er Jahre zurückreichenden Beziehungsgeflechts aus Architekten, Intellektuellen und künstlerischer Avantgarde, das sich um die Pioniere des abstrakten Films Hans Richter und Viking Eggeling, die 1923 gegründete Zeitschrift G: Material zur elementaren Gestaltung und die „Liga für den unabhängigen Film“ entwickelte. Auch der Kunsthistoriker Paul Weber widmet sich Mies’ Entwurfstechniken. In seinem Beitrag „Ludwig Mies van der Rohes frühe moderne Architekturentwürfe und Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob. Modellbildung als Technik der Invention“ untersucht Weber, wie Mies zu einem der bedeutendsten und wegweisenden Architekten der Moderne werden konnte. Die im gegenwärtigen Diskurs nur marginal berücksichtigten Untersuchungen des Kant-Forschers Vaihinger zur Funktion von Fiktionen im Erkenntnisprozess bilden den Ausgangspunkt für Webers Überlegungen zu Mies’ innovativen Entwürfen und Modellbildungen, wobei das Hochhaus Friedrichstrasse von 1922 und das Landhaus in Eisenbeton aus dem Jahr 1923 als Schlüsselprojekte gedeutet werden. Mit seiner vergleichenden Studie zu Mies van der Rohes Farnsworth House in Plano, Illinois (1945–51) und Philip Johnsons Glass House in New Canaan, Connecticut (1946–1949) fokussiert der Architekturtheoretiker Ole W. Fischer zwei in den USA realisierte paradigmatische Bauprojekte, die als Ausdruck der späten Moderne gehandelt werden. Sein Beitrag „Reflexionen im Spiegelglas… Ludwig Mies van der Rohe, Philip Johnson und die Glashäuser. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung“ stellt dabei ebenso wechselseitige Bezugnahmen und Einflüsse wie relevante Unterschiede zwischen beiden Projekten heraus. Ausgehend von den Charakteristika der verwendeten Materialien liegt ein Schwerpunkt dabei auf der Verhandlung politischer Inhalte und Symbolbildung. Diese Frage ist auch für die Arbeit Arne Schmitts zentral. Im Gegensatz zu den gefeierten Markenzeichen des Neuen Bauens geht es dem Künstler jedoch um architektonische Stiefkinder. Seit 2010 dokumentiert er Zweckbauten, Hochhäuser, Verwaltungs- und Geschäftsgebäude, die zwischen 1945 und 1970 entstanden sind. Diese fotografische „Essaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD“, aus der Schmitt hier Auszüge präsentiert, widmet sich der kontroversen Quint-

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essenz des Erbes einer Architektengeneration, deren Karrieren nicht selten im Nationalsozialismus begonnen hatten und die nun, nach dem Ende des 2. Weltkriegs, das neue Profil deutscher Städte entwickeln und definieren sollten. Sein Beitrag „Baukunst und Zeitwille? Die Nachkriegsarchitektur der BRD im Lichte Mies’scher Architekturethik“ verknüpft diese Debatte künstlerisch-essayistisch mit der geistig-programmatischen Hinterlassenschaft des „Urvaters der Moderne“, Ludwig Mies van der Rohe. Kerstin Meincke

Ludwig Mies van der Rohes frühe moderne Architekturentwürfe und Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob Modellbildung als Technik der Invention Paul Weber

Einführung Diese Untersuchung wirbt für ein neues Verständnis der von Ludwig Mies van der Rohe zwischen 1922 und 1924 vorgelegten modernen Entwürfe zweier Hochhäuser, eines Bürohauses und zweier Landhäuser. In den letzten Jahren habe ich zusammen mit Andreas Marx Mies’ Bürotätigkeit vor und während der Zeit der ersten modernen Projekte ab 1922 untersucht. Ein Ergebnis der Forschungen war die Erkenntnis, dass Mies’ beispiellos neuartigen Entwürfe in seiner bis zu diesem Zeitpunkt konventionellen Arbeit unvermittelt auftreten und eine schlüssige Erklärung hierfür fehlt. So konnte infolgedessen für das Hochhaus Friedrichstrasse, Mies’ erstes modernes Projekt überhaupt, eine Neudatierung plausibel gemacht und aus der daraus resultierenden Quellensituation eine konkrete Entstehungsbedingung abgeleitet werden. Auch die Neudatierung des Landhauses in Eisenbeton, des ersten modernen Landhausentwurfs in Mies’ Werk, erlaubt nun Einblicke in seine Entwicklung. Was jedoch zur Einschätzung der Tragweite des neuen Ansatzes und damit zu seiner Plausibilität aussteht, ist eine vertiefte Kenntnis der Vorgehensweise von Mies bei der Konzeption seiner modernen Projekte. Hierzu werden zunächst die beiden Neudatierungen und ihre Konsequenzen rekapituliert, sowie ihr Potential für eine neue Herangehensweise freigelegt. Anschließend wird die für Mies’ Denken überragende Bedeutung des Philosophen Heinrich Scholz aus dem Kreis um Mies’ ersten Auftraggeber herausgestellt und auf diesem Weg Hans Vaihingers damals einflussreiche Untersuchung zum Mechanismus fiktionaler Kunstgriffe

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in die Untersuchung einbezogen. Abschließend wird eine systematische Anwendung dieses Ansatzes auf Mies’ innovative Entwürfe unternommen. Um eine Mies’ frühe moderne Projekte übergreifende Technik der Invention geht es daher im Folgenden.

Hochhaus Friedrichstrasse (1922): Zur Neudatierung 1 Dass Mies mit dem heute bekannten Entwurf zum Hochhaus Friedrichstrasse (Abb. 1), der wegen seiner kompletten Verglasung als innovativ2 gilt, an dem im November 1921 von der Turmhaus AG ausgeschriebenen „Ideenwettbewerb“ teilgenommen hat, ist entgegen allen Überzeugungen, besonders Mies’ späterer Darstellung von 1964, nicht plausibel.

1 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhaus Friedrichstrasse, Berlin, 1922, Ansicht von Norden, Mischtechnik auf Gelatine-Silber-Abzug

Vor allem zwei Gesichtspunkte sind ausschlaggebend. Einerseits fehlen dem Material alle Eigenschaften, die für eine Beteiligung am Wettbewerb sprechen. Vollständig erhaltene Plansätze anderer Architekten aus dem Wettbewerb geben eine Vorstellung von dem, was zu erwarten wäre. Mies’ Material ist aber weder

1 | Andreas Marx; Paul Weber: Konventioneller Kontext der Moderne. Mies van der Rohes Haus Kempner 1921-23. Ausgangspunkt einer Neubewertung des Hochhauses Friedrichstraße. In: Jürgen Wetzel (Hg.): Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2003. Berlin 2003, S. 65-107, hier: S. 80-87. 2 | Vgl. Dietrich Neumann: [Katalogbeitrag] Hochhaus an der Friedrichstrasse, Wabe, Projekt, Berlin-Mitte, 1921. In: Terence Riley; Berry Bergdoll (Hg.): Mies in Berlin. München, London, New York 2001, S. 180.

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vollständig noch ist es formal korrekt. Anforderungen an die beiden verlangten Schaubilder etwa wurden von Mies’ perspektivischen Ansichten nicht eingelöst. Hinzu kommt die relativ späte Veröffentlichung des Entwurfs. Obwohl alle Beiträge in einer Ausstellung Anfang Februar 1922 allgemein zugänglich waren, wurde Mies’ Beitrag in keiner der direkt nachfolgenden Veröffentlichungen erwähnt oder abgebildet; auch nicht von dem Architekten Hans Soeder, der selbst am Wettbewerb teilgenommen hatte und aufgrund seiner Präferenzen eine Erwähnung von Mies hätte erwarten lassen. Eine von Mies’ unterstellte unvorteilhafte Hängung seines Entwurfs bietet jedoch, wegen des rationalisierten Verfahrens, die Beiträge zu hängen, keine Erklärung. Erstmalig erwähnt und gezeigt wurde Mies’ Entwurf Ende Mai 1922 in einer Nachlese zum Wettbewerb vom Breslauer Stadtbaurat Max Berg – in Form einer Perspektive und des frühesten Grundrisses. Nur hier wird das Kennwort (Wabe) genannt. Zwar treten Abweichungen von den Wettbewerbsbedingungen aus verschiedensten Gründen auch bei anderen Entwürfen auf. Es sind jedoch alle Indizien zusammengenommen, die gegen eine Teilnahme von Mies mit diesem uns heute bekanntem Entwurf auf dem Wettbewerb sprechen. Ob Mies mit einem konventionelleren Entwurf am Wettbewerb teilgenommen haben könnte, ist für die folgende Argumentation nicht von Bedeutung.

Konsequenzen: Die Bedeutung von Soeders Perspektive Wenn Mies’ erster moderner Entwurf aber erst nach dem Wettbewerb entstanden ist, eröffnen sich völlig neue Perspektiven der Erklärung. Dann lässt sich in Form der frühen perspektivischen Kohlezeichnung der Entwurf aus dem New Yorker Museum of Modern Art auf Soeders formal nahestehendes „Schaubild B“ des Plansatzes aus dem Berliner Bauhaus-Archiv beziehen, dessen Originalversion Mies mit der öffentlichen Ausstellung zum Wettbewerb Anfang Februar 1922 zugänglich war (Abb. 2, 3). Entscheidend an Soeders Hochhausentwurf ist nun folgende Besonderheit. Soeder hatte in den Schaubildern seinen sternförmigen Entwurf mit einem Linienraster überzogen, das von allen Details der Fassadenstruktur, wie sie in den Aufrissen widergegeben wurden, absah. Nur die horizontale Geschosseinteilung und die vertikalen Gliederungen sind angegeben. Seine Gründe für diesen ungewöhnlichen Schritt sind hier nicht weiter relevant; aber im Kontext des Plansatzes wird klar, dass die Schaubilder nicht das tatsächliche Gebäude mit kleinteiligen Sprossenfenstern (Abb. 4) sondern nur eine Massenstudie mit abstrahierter Fassadenstruktur zeigen. Damit sollten die Schaubilder eindeutig gegen ihre Konvention, das tatsächliche Gebäude widerzugeben, analytisch gelesen werden. Die Besonderheit an Mies’ Perspektive ist nun, dass sie nicht nur Soeders Baukörper vereinheitlichend aufnimmt, sondern auch sein Linienraster wiedergibt.

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Aber in Mies’ Entwurf bedeutet das Linienraster, anders als es in Soeders Darstellung der Fall ist, nicht eine abstrahierte Fassadenstruktur, sondern eine tatsächliche. Der ursächliche Vorgang scheint also einem Lesefehler vergleichbar gewesen zu sein. Soeders Schaubilder wurden von Mies außerhalb ihres Kontextes offenbar wörtlich genommen, wie es der Konvention von Schaubildern entspricht. Wollte Mies das von Soeder vorgegebene Linienraster demnach als etwas Tatsächliches verstehen und nicht nur als ein Symbol für eine Verkürzung, musste er es neu interpretieren. Fotos der Stahlkonstruktion von im Bau befindlichen Hochhäusern konnten hierbei keine Hilfe sein, da Soeders Gebilde eine geschlossene Fassade ohne eine Andeutung von Transparenz vorstellte. Sinnvoll konnte dieses Linienraster nun nur noch als eine Abfolge von Glasplatten, als Glasfassade missverstanden werden. Entsprechend berühren zeitgenössische Publikationen das Thema einer großflächigen Verglasung von Soeders Gebäude gerade nicht. Im Kontext dieses Entwurfs gab es keinen Anlass hierzu, vor allem aber noch keine technische Tradition, eine abstrahierende Rasterfassade als Glasfassade aufzufassen. Aber genau diesen Schritt unternahm Mies, wie sich an seinem Entwurf nun detailliert zeigen lässt.

2 Hans Soeder: Turmhaus am Bahnhof Friedrichstrasse, Berlin, 1921, Tusche 3 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhaus Friedrichstrasse, Berlin, 1922, Kohle und Bleistift

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4 Hans Soeder: Turmhaus am Bahnhof Friedrichstrasse, Berlin, 1921, seitl. Aufriss, Tusche

Hochhaus in Glas (1922): Variante auf der Grundlage von Soeders Perspektive Ein gleicher Schritt dürfte auch dem auf der Großen Berliner Kunstausstellung (GBK) 1922 gezeigten Projekt eines Hochhauses aus Glas zugrundeliegen, welches als Weiterentwicklung des Entwurfs zum Hochhaus Friedrichstrasse gilt3 (Abb. 5). Denn auch hier ist von dem bestimmenden Einfluss der perspektivischen Zeichnungen Soeders auszugehen. Hatte Mies bei seinem ersten Projekt für sämtliche 20 Etagen den das gesamte Grundstück füllenden Baukörper des Erdgeschosses aus Soeders Wettbewerbsbeitrag übernommen, so wäre nun der schlanke zentrale Stern dieses Entwurfs Ausgangspunkt für die Form des Glashochhauses. Da es sich bei diesem aber um ein erheblich höheres, auf 30 Geschosse geplantes und im Umriss unregelmäßiges Gebilde handelt, fehlt eine direkte Vergleichsmöglichkeit. Die Unterschiede lassen sich jedoch problemlos als Ergebnis insbesondere von Verschleifungen des ursprünglichen Baukörpers verstehen (Abb. 6, 7). Das von Mies durch den Hinweis auf „Versuche an einem Glasmodell“4 gerechtfertigte Ergebnis der fließenden Form des Grundrisses zeigt, dass er auf eine rationale Begründung der Formfindung Wert legte. Sie bedeutet aber nicht zwingend, dass diese tatsächlich 3 | Ibid.: [Katalogbeitrag] Hochhaus aus Glas, Projekt. Unbekannter Standort, 1922. In: Riley; Bergdoll 2001 (Anm. 2), S. 186. 4 | Ludwig Mies van der Rohe: O. T. [Hochhäuser]. In: Frühlicht 1, 1921/22, H. 4, wieder abgedr. in: Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986, S. 298.

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rational war. Da es wegen der gezeigten Abhängigkeit des ersten Hochhausprojekts wahrscheinlich ist, dass auch dieses zweite Hochhausprojekt von Soeders Entwurf ausging, darf seine außergewöhnliche, in Mies’ Werk singuläre Form eher im Bedürfnis nach einer deutlicheren Modifikation des Vorbilds gesucht werden als in „den Bedingungen eines gegebenen Bauplatzes“5, welcher keineswegs fließende Formen verlangte.6 Damit können Mies’ Projekte zweier Hochhäuser mit der Übernahme von Soeders Linienraster als innovativ identisch, formal aber als unterschiedliche Lösungen aufgefasst werden.

5 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhaus aus Glas, 1922, Modell, zeitgen. Foto

5 | Carl Gotfrid: Hochhäuser. In: Qualität. Internationale Propaganda für Qualitätserzeugnisse, 3. Jg., Schluss Heft 5, 12. August 1922, März 1923, S. 63-66, hier: S. 65. 6 | Eine Untersuchung des Autors zusammen mit Andreas Marx zur „Lokalisierung des Hochhauses aus Glas (1922) und des Bürohauses in Eisenbeton (1923)“ ist in Vorbereitung.

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6 Hans Soeder: Turmhaus am Bahnhof Friedrichstrasse, Berlin, 1921, Ausschnitt 7 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhaus aus Glas, 1922, Modell, zeitgen. Foto, Ausschnitt

Landhaus in Eisenbeton (1923): Zur Neudatierung Auch für Mies’ Entwurf eines Landhauses in Eisenbeton steht ein komplexer Argumentationsgang zur Neudatierung7 am Ausgangspunkt von Erkenntnissen über seine Entwicklung (Abb. 8). Dieses Projekt, dessen Struktur der Wohnhalle und des Eingangsbereichs als innovativ gilt,8 scheint nämlich erst kurz vor seiner Publikation Anfang Oktober fertiggestellt worden zu sein – und nicht, wie bislang behauptet, für die GBK vom Mai 1923. Der abweichende Datierungsvorschlag erklärt sich aus der Tatsache, dass sich die Existenz des Landhausentwurfs vor seiner Publikation im Herbst nicht ohne komplizierte Zusatzhypothesen nachweisen lässt. Wir hatten in unserem Aufsatz zur Neudatierung darauf hingewiesen, dass Mies’ eigene Aussage vom 14. Juni, die als Beweis der Existenz des Landhauses in Eisenbeton auf der GBK gesehen wird, isoliert dasteht, wenn man Gropius’ Bericht von dieser Ausstellung so unverstellt liest, wie er sich präsentiert. Ein aufwendiger Indizienbeweis sollte außerdem zeigen, dass auf der Weimarer Internationalen Architekturausstellung (IAA) vom 7 | Vgl. Andreas Marx; Paul Weber: Zur Neudatierung von Mies van der Rohes Landhaus in Eisenbeton. In: architectura, Jg. 38, 2008, H. 2, S. 127-166. 8 | Vgl. Dietrich Neumann: [Katalogbeitrag] Landhaus aus Beton, Projekt. Unbekannter Standort, 1923. In: Riley; Bergdoll (Anm. 2), S. 190.

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8 Ludwig Mies van der Rohe: Landhaus in Eisenbeton, 1923, Gartenansicht des Modells, retuschiertes Foto Curt Rehbein, 1923

August 1923 als einziges der von Mies angebotenen Exponate dieser Entwurf nicht ausgestellt war. Ein Beleg, in dem Mies die dort aufgestellten Modelle, und nur diese rückblickend als „meine Arbeiten“ bezeichnete, unterstreicht dies nochmals eindrücklich. Aus dem Beleg geht auch hervor, dass Mies wohl kompensatorisch für die angekündigte Landhaus-Zeichnung die nicht verlangte große Kohlezeichnung des Hochhauses Friedrichstrasse eingeliefert hatte, die aber nicht gehängt wurde.9 Somit spricht außer Mies’ Eigenaussage nichts für die Existenz des Landhausentwurfs vor dessen Publikation im Herbst. Zudem ist Mies’ entscheidende Aussage ungemein kompliziert. Er dürfe „das Gipsmodell des Wohnhauses in Eisenbeton (Eisenbahnkragträgerkonstruktion) nicht von der Ausstellung fortnehmen“, ließ Mies am 14. Juni Gropius wissen. Dieser hatte aber für die IAA ein völlig anderes Modell erbeten. Er nannte es „das flache Fabrik- oder Bürogebäude mit der Eisenbetonkragträgerkonstruktion“. Den Zusatz „beton“ hatte Gropius handschriftlich eingefügt, so dass Mies’ eigener Ausdruck, der unüblich war, nur aufgrund eines Lesefehlers zustande gekommen sein konnte, was noch von Bedeutung sein wird. Die Forschung verstand Mies’ Passus als implizite Korrektur einer fehlerhaften Funktionsbezeichnung durch Gropius, schien sie doch eindeutig auf ein Konstruktionsmerkmal des Landhauses aus dem Eisenbahnhochbau hinzuweisen. 9 | Es handelt sich um Mies’ Einverständnis vom 26. September 1923, „dass meine Arbeiten“ auf weiteren Stationen der IAA „gezeigt werden“, er es aber „für unbedingt erforderlich halte, meinen Arbeiten die kleinen Gipsmodellchen beizufügen. […] Die nicht ausgestellte Zeichnung des Hochhauses Friedrichstrasse hätte ich gern zurück erbeten“. Brief [Durchschlag] Ludwig Mies van der Rohe an Walter Gropius vom 26.09.1923, Library of Congress, Washington (LoC), Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G (Hervorhebung d. V.). Freundliche Überlassung, auch weiterer Unterlagen aus dem LoC, Magdalena Droste.

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Gropius habe wohl irrtümlich das heute von Fotos bekannte Modell des Landhauses für ein Fabrik- oder Bürogebäude gehalten, war daher die naheliegende, aber dennoch falsche Schlussfolgerung. Wir hatten in unserer Forschungsarbeit auf diesen bedeutenden Nebenschauplatz der Datierungsfrage hingewiesen und festgestellt, dass es durchaus jenes von Gropius beschriebene Bürohaus-Modell auf der GBK hätte geben können. Nicht nur, dass Gropius kaum so realitätsfern gewesen wäre, ein Landhaus-Modell, das den Fotos zufolge in eine für Fabriken ungewöhnlich aufwendig gestaltete Umgebung mit Rabatten eingebettet war, im unterstellten Fall verwechselt zu haben. Die Forschung hatte auch übersehen, dass es sich mit dem im Katalog genannten Bürohaus-Modell nicht um den Entwurf der heute bekannten Kohlezeichnung handeln konnte. Denn dieses Modell ist nicht nur auf der die GBK überschneidenden IAA, sondern schon zuvor in der Ausstellung in Magdeburg,10 nachweisbar. Zudem war es in einer von Mies favorisierten „Platzsituation“ zusammen mit dem Modell des Glashochhauses gezeigt worden. Daher muss das Modell auf der GBK einen zweiten, Gropius’ Angaben zufolge, flachen Bürohausentwurf dargestellt haben. Hinzu kommt, dass Gropius eine bestimmte Erwartungshaltung hatte, als er Mies’ Exponate auf der GBK aufsuchte, ein Gesichtspunkt, der in der gemeinsamen Publikation nicht zum Zuge kam.11 Mies hatte sich nämlich sofort nach einer Aufforderung durch Gropius zur Beteiligung an der IAA12 breit erklärt, „ein Landhaus aus Eisenbeton, ein Bürohaus und das gläserne Hochhaus“ einzureichen, letztere als Modelle.13 Gropius kannte von Mies’ Angebot bisher aber nur das publizierte Modell des Hochhauses und suchte sich auf der GBK einen Überblick zu verschaffen. Bemerkenswert ist nicht nur, was er erwähnt, 10 | In der Ausstellung der „Arbeitsgemeinschaft für neue Kunst und Dichtung“, „Die Kugel“ in Magdeburg von Mitte Juni bis 11. Juli 1923, vgl. Marx; Weber 2008 (Anm. 7), S. 131f. 11 | Im Vertrauen auf die im Nachhinein als unzureichend erkannte Dokumentation des Briefwechsels zwischen Mies und Gropius in: Wolf Tegethoff: Die Villen und Landhausprojekte von Mies van der Rohe. Essen 1981. 12 | Gropius bat Mies „mir Ihre besten Arbeiten, Fotos (Vergrößerungen), gute geometrische Blätter und wenn möglich auch Modelle zur Verfügung zu stellen“ und „vorher Angaben zu machen, wie viel Sie schicken wollen“. Brief Gropius an Mies vom 04.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. 13 | Brief [Durchschlag] Mies an Gropius vom 05.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. Der Stellplatz für die Modelle sollte 3 x ½ m beanspruchen. Das Format der Landhaus-Zeichnung betrug 2,20 x 0,80, was aber ohne weitere Beweisführung keine Entwurfsidentität mit dem heute bekannten Landhaus-Zeichnungen gleichen Formates bedeutet. Bemerkenswert ist, dass Mies ergänzend zum Bürohaus-Modell eine zweite, nicht erhaltene BürohausZeichnung mit abweichendem Format von 3,30 x 1,50 m in Aussicht stellt – die erhaltene, auf der GBK gezeigte Bürohaus-Zeichnung misst 2,89 x 1,39 m – aber nicht liefern wird. Außerdem verspricht er, die Grundrisse in kleinerem Maßstab anfertigen zu wollen. Auch hiervon wird keine Rede mehr sein. Dies zeigt, wie vorsichtig Mies’ Ankündigungen zu interpretieren sind.

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sondern auch, was er auslässt. An dem im Katalog publizierten, noch zu schematisch erscheinenden Geschäftshaus, fehlte ihm eine Gliederung; das neuartige Modell eines flachen Fabrik- oder Bürogebäudes fand hingegen seine volle Zustimmung.14 Weder über die Innenraum-Zeichnung noch einen der gezeigten Landhausentwürfe in Backstein oder Eisenbeton verlor er ein Wort; Im Fall einer Verwechslung müsste Gropius sich zumindest gefragt haben, weshalb das ihm von Mies angebotene Landhaus in Eisenbeton nicht auf der Ausstellung zu sehen sei.15 Das tat er aber nicht. Er bat lediglich um „kleine Fotos oder Skizzen“ zur Auswahl, weil nicht alle Arbeiten in der eigenen Ausstellung untergebracht werden könnten.16 Damit dürfte die Verwechslungsthese endgültig erledigt sein. Gropius hatte auf der GBK sowohl ein flaches Büro-oder Fabrikgebäude als auch den von Mies angebotenen Entwurf eines nicht überlieferten Eisenbeton-Wohnhauses gesehen, welcher ihm aber nicht zu gefallen schien. Hingegen schätzte er den heute als „Landhaus in Eisenbeton“ bekannten, späteren Entwurf sehr wohl und publizierte ihn in seinem Buch Internationale Architektur. Mit der Haltlosigkeit der Verwechslungsthese steht nunmehr Mies’ eigene Aussage auf dem Prüfstand, einzige Grundlage für eine frühe Datierung des Landhauses.

Konsequenzen: Die Bedeutung des Lesefehlers für die Idee der Bahnsteighalle Gropius konnte also kaum irren, und so ist auch eine implizite Richtigstellung seines Irrtums durch Mies nicht denkbar. Diese Situation verlangt daher ein völlig neues Verständnis von Mies’ Verhalten. Auch rückt der Lesefehler damit in den Mittelpunkt. Wir hatten schon im Rahmen der Neudatierung auf eine konstitutive Rolle des Lesefehlers hingewiesen. Dietrich Neumann stellte zwar erstmalig einen Bezug des Entwurfs auf Dachformen im Eisenbahnhochbau fest;17 aber der Lesefehler schien ohne weitere Bedeutung zu sein, da er Mies offenbar nur

14 | „Könnten Sie mir dies Modell [des flachen Fabrik-oder Bürogebäudes] nicht nach hier senden?“ Brief Gropius an Mies vom 07.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. Das Landhaus in Eisenbeton war laut Katalog auf der Ausstellung auch als Zeichnung vertreten. Gropius hätte dann aber im Verwechslungsfall nur das Modell dieses Landhauses als Modell eines Fabrik-oder Bürogebäude erwähnt, nicht aber die Zeichnung. 15 | Sollte Gropius die GBK mit einem Katalog besucht haben, hätte er ihn spätestens dann konsultiert. 16 | Brief Gropius an Mies vom 07.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. 17 | Dietrich Neumann: Three Early Designs by Mies van der Rohe. In: Perspecta, Bd. 27, 1992, S. 76-97, hier: S. 94.

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9 Fa. Dyckerhoff & Widmann: Bahnsteighalle in Sonneberg, 1907, Reproduktion 1911

10 Ludwig Mies van der Rohe: Landhaus in Eisenbeton, 1923, nach CAD-Rekonstruktion der Wohnhalle, Shutaro Nagata, 1994

unterlaufen war, weil seinem von Gropius missverstandenen Landhausentwurf tatsächlich Hallen aus dem Eisenbahnhochbau als Vorbild dienten (Abb. 9, 10). Nun scheint umgekehrt der Lesefehler am Anfang eines neuen Landhausentwurfs zu stehen und sogar Einsichten in Mies’ Ideenfindung vermitteln zu können. Wie ist aber zu verstehen, dass ein Lesefehler, der Bahnsteighallen ins Bewusstsein rückt, zu einem innovativen Landhausentwurf führen kann? Diese Frage möchte ich neu aufrollen. Einem realistischen Bild von Mies’ Hinwendung zur modernen Wohnhausplanung im Jahr 1923 entspräche, dass Mies, ganz im Sinn der formal sehr verschiedenen Hochhausentwürfe von 1922, dieses Prinzip weiterverfolgte und auf der GBK 1923 nicht nur vermutlich zwei verschiedene Bürohaus- sondern auch zwei Landhausentwürfe präsentierte, auf die Gropius aber nicht einging. Bislang war Mies nur mit der Planung und Ausführung konventioneller Villen hervorgetreten und als einziger Anhaltspunkt für die Zeit vor der GBK vermittelt das von Neumann wiederentdeckte Haus Ryder18 nur die sehr eingeschränkte Vorstellung eines modernen Entwicklungsstandes. Offenbar mit Blick für die Schwierigkeit, erstrangige innovative Ideen zu finden, hatte Mies die Entwürfe eines Innenraums und eines Wohnhauses in Backstein wohl bald nach Schließung der GBK zurückgezogen, denn beide sind nicht einmal überliefert.19 18 | Vgl. Ibid.: Das Haus Ryder in Wiesbaden (1923) und die Zusammenarbeit zwischen Ludwig Mies van der Rohe und Gerhard Severain. In : architectura 36, H. 2 (2006), S. 199-220. 19 | Als Bruno Taut im Dezember 1923 wegen „Abbildungen neuer Innenräume“ Mies um Hilfe bat, hatte der selbst „kein Material, was sich für Ihre Zwecke eignet, sonst hätte ich das Ihnen gern

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Und da dieses Wohnhaus in Backstein nicht als früher Entwurf des bekannten Landhauses in Backstein gesehen wird, wäre auch ein Präzedenzfall für das strittige Landhaus in Eisenbeton gegeben. Folglich könnte eine für Mies’ kreativen Prozess maßgebliche Gleichzeitigkeit zweier Phänomene unterstellt werden. So hätte Mies ein Übergehen seiner neuen Landhausentwürfe durch Gropius, vor allem des Angebots vom 5. Juni eines Landhauses in Eisenbeton, selbstkritisch wahrgenommen. Beim Lesen von Gropius’ diesbezüglich enttäuschender Antwort vom 7. Juni hätte er aber durch den Zufall eines Lesefehlers die Idee der Verwendung von Kragträgern im Eisenbahnhochbau und damit Bahnsteighallen als eine mögliche Lösung seines Problems verstanden, nun auch für seine Landhausentwürfe ähnlich kreative Schritte zu vollziehen, wie sie in beiden Hochhausentwürfen mit der Übernahme von Soeders Linienraster gelungen waren. Mies hätte daher aus seinem ersten Angebot eines Landhauses in Eisenbeton für die IAA entsprechende Konsequenzen gezogen und in der Folge versucht, Gropius implizit einen völlig neuen Landhausentwurf zu vermitteln. Er hätte das von Gropius erbetene Exponat eines flachen Fabrik- oder Büroentwurfs mit Kragträgerkonstruktion kurzerhand zum Wohnhaus mit Eisenbahnkragträgerkonstruktion bestimmt, auch wenn bisher nur die Idee der Bahnsteighalle als einer modernen Wohnhalle existierte.20 Zu ihrer Klärung hätte es dann mehrerer Tage bis zum Antwortbrief vom 14. Juni bedurft: Denn nun erst beanspruchte Mies, wovon am 5. Juni noch keine Rede war, nämlich mit den Exponaten auf der IAA zeigen zu wollen, wie sich, fern jeder formalen Verwandtschaft, „an drei so verschiedenen Aufgaben dasselbe konstruktive Prinzip auswirkt.“21

Neue Fragestellung Eine besondere Schwierigkeit dürfte in dem Versuch liegen, Mies’ Weg in die Moderne in Zusammenhang mit der Psychologie von „Lesefehlern“ zu bringen, da angesichts der Bedeutung der frühen modernen Projekte ein solches Vorgehen unangemessen erscheint. Aber gerade Mies’ außerordentliche Fähigkeit zur Innovation kann nicht isoliert gesehen werden von der Tatsache, dass er als konventioneller Villenarchitekt, ohne besondere Nähe zur Avantgarde vor 1922, überlassen“, Brief [Durchschlag] Mies van der Rohe an Bruno Taut vom 17.12.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 2, Folder T. 20 | Gropius bezeichnete diesen Entwurf, dessen „Pläne“ er nun erwartete, fortan nicht mehr als Fabrik- oder Bürogebäude, sondern als Haus, aber unbeirrt „mit der Kragträgerkonstruktion“, ohne auf Mies’ Ausdruck einzugehen. Brief Gropius an Mies vom 15.06.1923, LoC, Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. 21 | Brief [Durchschlag] Mies an Gropius vom 14.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe, Box 1, Folder G.

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den Schritt in die Moderne wagte. Darstellungen der Entwicklung des Architekten übersehen gemeinhin, dass Mies erst wegen seiner beiden ersten Projekte Anschluss an die Avantgarde fand.22 Aber auch die später von Mies gegebene Erklärung, seine Neuorientierung sei darauf zurückzuführen, dass er während der Militärzeit „viel Zeit zum Denken“ hatte,23 ist nicht nur viel zu allgemein, sondern verkennt auch seine beruflichen Ambitionen in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg. Daher sind solche Erklärungen ungeeignet, wenn es darum geht, zu verstehen, wie Mies der entscheidende Schritt in die Moderne gelang. Die neuen Ergebnisse bieten hierzu erste Einblicke abseits gewohnter architekturhistorischer Denkweisen. Sie ließen sich aber noch akzentuieren. Denn Mies hat nicht nur missverständlich das Linienraster aus Soeders besonderer perspektivischer Darstellung als Glasfassade gedeutet, sondern die falsche Annahme auf zwei Hochhausentwürfe übertragen. Aber damit wäre, außerhalb aller Erwägungen konstruktiver Machbarkeit, ein Linienraster bewusst so eingesetzt worden, als ob es sich um eine Glasfassade handelte. Ebenso ungewöhnlich war wohl auch der Schritt, offene Hallen aus dem Eisenbahnhochbau mit einem Landhausentwurf zu verbinden. Zu diesem Schritt bedurfte es offenbar erst eines auslösenden Lesefehlers. Wie signifikant dieser Schritt gewesen sein muss, lässt sich an der Beharrlichkeit ablesen, mit der Mies, alle Schwierigkeiten am Modell überwindend, nicht nur an der so von ihm nicht mehr verwendeten, ungewöhnlichen Dachform der Bahnsteighalle festhielt, sondern diese sogar mit dem Hinweis auf eine effizientere Dachentwässerung zu rechtfertigen versuchte.24 Damit deutet sich auch hier an, dass Mies die Idee der Bahnsteighalle so eingesetzt haben könnte, „als ob“ sie eine geeignete Struktur für neuartige Wohnhallen sei. Die sprachlichen Form „als ob“ soll hier nur den nicht durch Regeln vorgegebenen Schritt innovativer Modellbildung innerhalb der vorgestellten Projekte kennzeichnen. Indem sie damit aber eine im Anschluss an Vaihinger als „Philosophie des Als Ob“ bezeichnete, fiktionale Theorie aufgreift, versucht sie generell für Mies’ frühe moderne Entwurfstechnik einen neuen und zugleich historischen Zugang zu gewinnen. 22 | Vgl. die diesbezüglich verzerrende Darstellung, insbesondere der frühen Beziehung von Mies zu van Doesburg bei Detlef Mertins: Architektonik des Werdens: Mies van der Rohe und die Avantgarde. In: Riley; Bergdoll 2001 (Anm. 2), S. 106-133 u. 375-377, hier: S. 115. Zur Kritik siehe Paul Weber; Andreas Marx: Ludwig Mies’ unrealisierte Teilnahme an der ‚Ausstellung für unbekannte Architekten‘ (1919). Materialien zur Entwicklungsgeschichte Mies van der Rohes. In: Werner Breunig; Uwe Schaper (Hg.): Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2009. Berlin 2010, S. 195-263. 23 | Ibid., S. 376. 24 | „Die durch die Schrägstellung der beiden Dachflächen gebildete Rinne ermöglicht die denkbar einfachste Entwässerung des Daches. Alle Klempnerarbeiten kommen hierdurch in Fortfall.“ Ludwig Mies van der Rohe: Bauen. In: G, Nr. 2, September [erschienen Oktober] 1923, S. 1, wieder abgedruckt in: Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 300-301.

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In verschiedener Hinsicht ist ein solches Unternehmen heikel. Vaihingers erstmals 1911 erschienenes Hauptwerk Die Philosophie des Als Ob25 ist heute, außerhalb spezialisierter Kreise, nahezu vergessen.26 Schon bei ihrem Erscheinen war sie das Werk einer anderen Epoche, da ein wesentlicher Teil des Buches auf einer 1876/77 entstandenen, unveröffentlichten Habilitationsschrift zur wissenschaftlichen Fiktion beruhte,27 die nicht mehr revidiert wurde. In der philosophischen Diskussion nach dem 2. Weltkrieg spielte Vaihingers Philosophie vermutlich wegen ihrer Ablehnung durch den nun herrschenden logischen Positivismus keine Rolle mehr.28 Eine historische Einordnung des Werks mit dem heute eher befremdenden Titel steht daher immer noch aus. Auch war Mies kein Philosoph, weshalb es schwierig ist, zu sehen, unter welchen Bedingungen und wie weitgehend er diese Philosophie kennen konnte; vor allem aber, welchen Platz sie in seinem Denken hätte beanspruchen sollen.

Mies, Riehl, Scholz und Vaihingers Philosophie des Als Ob Doch zunächst zur Bedeutung der Philosophie des Als Ob. Tatsächlich war sie zu ihrer Zeit eine berühmte Untersuchung zur Funktion von Fiktionen im Erkenntnisprozess, die man nun erst wieder als herausragenden Beitrag zur wissenschaftlichen Modelltheorie zu würdigen beginnt.29 Direkt nach dem 1. Weltkrieg hatte sie eine auch für heutige Vorstellungen ungewöhnliche Resonanz, die sich nicht nur in mehreren Auflagen, zahllosen Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln und einer Volksausgabe niederschlug. Bemerkenswert ist, dass ab 1919 mit den Annalen der Philosophie eine als Diskussionsforum für

25 | Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Berlin 1911. 26 | Trotz des Rückgriffs auf Vaihingers Fiktionalismus durch die literarische Anthropologie, siehe etwa Wolfgang Iser, Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Dieter Henrich; Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 121-151, und Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt a. M. 1991, sowie des Rehabilitierungsversuchs durch Arthur Fine: Fictionalism. In: Midwest Studies in Philosophy, XVIII, 1993, S. 1-18, wieder abgedruckt in: Mauricio Suárez (Hg.): Fictions in Science: Philosophical Essays on Modeling and Idealization. London 2009, S. 19-35. Zu Vaihingers Biographie vgl. Gerd Simon: Vaihingers Leben und Werk [Vortragsmanuskript], Tagung 100 Jahre „Philosophie des Als Ob“, Tübingen, 17.-18. Dezember 2011 (Veröffentlichung in Vorbereitung). Freundliche Überlassung Gerd Simon. 27 | An der Universität Straßburg bei Ernst Laas. Die (unbekannte) Habilitationsschrift wurde mehrfach erweitert. Das Konvolut blieb aber liegen, bis Vaihinger nach seiner Emeritierung eine Publikation vorbereiten konnte. 28 | Vgl. Fine 1993 (Anm. 26). 29 | Ibid., S. 35.

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Einzelwissenschaften speziell diesem Werk gewidmete Zeitschrift herauskam.30 Im gleichen Jahr wurde sogar eine „Gesellschaft der Freunde der Philosophie des Als Ob“ gegründet, die 1920 den mit prominenten Preisrichtern besetzten Einstein-Vaihinger-Preis ausschrieb,31 dessen Preisschrift in der Reihe Bausteine zu einer Philosophie des „Als-Ob“ erscheinen sollte. Auch zwei „Als-Ob“-Kongresse wurden 1920 und 1922 in Halle abgehalten. Sogar Albert Einstein war zu dem ersten Kongress eingeladen, sagte aber ab.32 Kaum ein philosophisches Werk erregte außer Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes in diesen Jahren ein vergleichbares öffentliches Interesse. Darüber hinaus verfügte Mies durch seine langjährige, persönliche Bindung zu seinem ersten Auftraggeber, den Philosophen Alois Riehl und dessen Schülern, über einen direkten Zugang zu Vaihingers Philosophie. Überwiegend aus diesen Schülern rekrutierte Riehl einen Kreis von sogenannten Haussöhnen, die regelmäßig privat bei ihm zusammenkamen.33 Zu diesen Haussöhnen gehörte auch Mies, der bei den Riehls unter anderem seine Frau kennenlernte. Aus diesem Personenkreis unterhielten Riehl selbst und der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger kollegiale Beziehungen zu Vaihinger.34 Für eine direkte Vermittlung an Mies dürfte aber weder Spranger, noch der heute als Vorläufer des logischen Positivismus geltende Riehl in Frage kommen35 sondern nur der Religionsphilosoph und Logiker Scholz.36 Scholz hatte unter Adolf von Harnack und Riehl studiert und sich 1910 in den Fächern Religionsphilosophie und systematische Theologie habilitiert. 1914 war er zusammen mit dem ihm eng befreundeten Spranger Herausgeber der Festschrift zu Riehls 70. Geburtstag. Auch zehn Jahre später unterzeichnet er zusammen mit Spranger und dem klassischen Philologen Werner Jaeger, einem

30 | Der vollständige Titel war „Annalen der Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung der Als-Ob-Betrachtung.“ Die Annalen existierten bis 1929 und wurden vom ‚Wiener Kreis‘ unter dem neuen Namen „Erkenntnis“ weitergeführt. 31 | Zu den Preisrichtern zählten der Physiker Max von Laue und der Philosoph Moritz Schlick. 32 | Auf Anraten des Physikers Paul Ehrenfest mied Einstein den „Hexensabbat der Als-ob-ologie“, Albrecht Fölsing, Albert Einstein. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1993, S. 543 u. S. 892, Anm. 36. 33 | Vgl. Fritz Neumeyer: Der Erstling von Mies: Ein Wiedereintritt in die Atmosphäre vom ‚Klösterli‘. In: Riley; Bergdoll 2001 (Anm. 2), S. 309-317 u. 378. 34 | In der Bibliothek der Hansestadt Bremen befinden sich 20 Briefe von Riehl an Vaihinger zwischen 1881 und 1912, sowie 14 Briefe von Spranger an Vaihinger zwischen 1912 und 1923. 35 | Vgl. Michael Heidelberger: Kantianism and Realism: Alois Riehl (and Moritz Schlick). In: Michael Friedman; Alfred Nordmann (Hg.): The Kantian Legacy in Nineteenth-Century Science. Cambridge, Mass. 2006, S. 227-247. 36 | Erwähnung findet Scholz weder in: Franz Schulze: Mies van der Rohe. A Critical Biography. Chicago, London 1985, noch in: Neumeyer 1986 (Anm. 4), dem immer noch umfassendsten geisteshistorischen Überblick zu Mies, auch nicht in: Neumeyer 2001 (Anm. 33).

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weiteren der Haussöhne, den Spendenaufruf zu Riehls 80. Geburtstag.37 Inzwischen hatte er durch Vermittlung seines in Kiel lehrenden Jugendfreundes Jaeger dort eine Professur für Philosophie erhalten38 und einen zweiteiligen Aufsatz zur „Religionsphilosophie des Als-ob“ publiziert,39 der 1921 auch als Buch herauskam.40 Da neben offiziellen Zusammenkünften bei Riehl auch informelle Treffen stattfanden, gab es für Mies während der Jahre 1919/21 ausreichend Gelegenheiten, von Scholz in Vaihingers Theorie der Fiktion eingeführt zu werden und, wie sich zeigen lässt, von ihm die notwendigen Impulse für ein neues Denken zu erhalten. So war Scholz etwa im Oktober 1920 anlässlich eines eigenen Vortrags über Georg Wilhelm Friedrich Hegel41 in Berlin und könnte bei dieser Gelegenheit auch Mies getroffen haben. Dies legt nicht nur Mies’ Besitz der Publikation eines schon im Mai gehaltenen Vortrags von Scholz über Spenglers Untergang des Abendlandes nahe.42 Da Mies sich offenbar erst ab 1920 mit Spengler beschäftigte, könnte er von Scholz hierzu überhaupt erst den Anstoß erhalten haben.43 37 | Weitere Unterzeichnende des Aufrufs waren Hans Lindau (Staatsbibliothek Berlin) und Heinrich Maier (Universität Berlin), LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder R. Mies’ Name war in das ihm gehörende Exemplar der Ehrenadresse handschriftlich eingetragen, vgl. auch Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 65f. 38 | Vgl. Hubert Luthe: Die Religionsphilosophie von Heinrich Scholz. Dissertation München 1961, S. 11. 39 | Heinrich Scholz: Die Religionsphilosophie des Als-ob. In: Annalen der Philosophie. Mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als-Ob-Betrachtung. Erstes Stück: Bd. 1 (1919), S. 27113; Zweites Stück: Bd. 3 (1923), S. 1-73. 40 | Heinrich Scholz: Die Religionsphilosophie des Als-Ob. Eine Nachprüfung Kants und des idealistischen Positivismus. Leipzig 1921. 41 | Scholz hielt seinen Vortrag am 21.10.1920 vor der Berliner Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft, vgl. den erweiterten Abdruck: Heinrich Scholz: Die Bedeutung der Hegelschen Philosophie für das philosophische Denken der Gegenwart. Berlin 1921. 42 | Der am 12. Mai 1920 vor der Kieler Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft gehaltene Vortrag wurde noch vor dem Oktober publiziert (und als „systematisches Referat“ gelobt, Hallische Nachrichten vom 29.09.1920). Eine zweite, neubearbeitete und ergänzte Auflage erschien 1921. Mies’ Exemplar von Heinrich Scholz: Zum ‚Untergang‘ des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler. Berlin 1920, ist Teil der Mies van der Rohe Collection, Special Collections, University of Illinois at Chicago (UIC), zeigt aber „no annotations, marks, or other physical indications of how the book may have been used“, Mittteilung Valerie Harris, Special Collections, UIC. 43 | Arthur Drexler zog aus Mies’ Geschick in der Darstellung von Spenglers Thesen die falsche Schlussfolgerung, dass dies nur auf die Lektüre des Originals zurückzuführen sei, vgl. Schulze 1985 (Anm. 36), S. 91. Eher deutet dies darauf hin, dass Mies eine fundierte Einführung erfahren haben könnte. Mies besaß nämlich nicht, wie Schulze, S. 91, irrtümlich behauptet, die Erstausgabe von Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd.1: Wien 1918 und Bd.2: München 1922, sondern die 11.-14. Auflage (1920) des ersten Bandes (sowie allerdings die 1.-15. Auflage des zweiten Bandes (1922); auch Spenglers „Preussentum und Sozialismus“ besaß Mies in einer Ausgabe von 1920. Die Exemplare befinden sich in der Mies van der Rohe Collection, UIC. Obwohl

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Wie sehr Spenglers „kopernikanische Wendung“44 des Geschichtsbildes auf sein weiteres Denken Einfluss hatte,45 unterstreicht der Leitsatz vom Juli 1923, „Baukunst ist raumgefaßter Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu“.46 Der Ausdruck „Zeitwille“ spiegelt den ganzen Anspruch der von Spengler postulierten Wirklichkeitsforderung an ein unsentimentales Leben „im Dienste der Zivilisation“ und somit im Dienste „praktischer Zwecke“.47 Noch vierzig Jahre später war Mies der Auffassung, „wer Baukunst will“, habe sich „objektiven Forderungen der Zeit unterzuordnen“.48 Aber mehr noch zeigt dieser Satz die geistige Anziehung durch den um zwei Jahre älteren Scholz. Denn Mies nimmt hier eine Reflexion auf, mit der Scholz im Oktober 1920 der „narkotisierenden Wirkung Spenglers“49 die positive Bedeutung Hegels für die Gegenwart gegenüberzustellen suchte.50 Das war nicht akademisch gemeint. Nur wenige Tage nach der Selbstversenkung der deutschen Hochseeflotte in Scapa Flow hatte Scholz bekundet, sich u. a. nur durch diese Tat und durch Hegels Metaphysik in den Tagen „moralischer Verelendung“ und „beispielloser Selbsterniedrigung“ vor der Versailler Vertragsunterzeichnung „aufrecht“ erhalten zu haben.51 Scholz sah Hegels eigentliche Bedeutung aber nicht in dessen Dialektik oder System, sondern in der grundsätzlichen „Ansicht über das Verhältnis von Philosophie und Leben“, der zufolge die „Philosophie das in Gedanken gefasste Bewusstes Riehl war, der 1904 in Halle Spenglers Dissertation betreut hatte, weckte offenbar erst Scholz im Herbst 1920 Mies’ Interesse an dessen Werk. Auch Mies’ Interesse an Romano Guardini und seinem Werk verdankt sich einer persönlichen Beziehung zu der Auftraggeberin von Haus Kempner (1921-23), Franziska (Fanny) Kempner, die zu Guardini in enger Beziehung stand, vgl. Marx; Weber 2003 (Anm. 1), S. 88f; vgl. auch Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 250f. 44 | Scholz 1920 (Anm. 42), S. 7. 45 | Vgl. Schulze 1985 (Anm. 36), S. 91-93. Auch Scholz ließ sich noch Jahre später von Spenglers Fragestellung leiten, vgl. Heinrich Scholz: Warum haben die Griechen die Irrationalzahlen nicht aufgebaut? In: Kant-Studien 33, 1928, S. 35–72. 46 | Ludwig Mies van der Rohe: Bürohaus. In: G, Nr.1, Juli 1923, S. 3, wieder abgedruckt in: Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 299. 47 | Scholz 1920 (Anm. 42), S. 23. Dieser Forderung, sich in den Dienst praktischer Zwecke zu stellen, spiegelt sich in Mies’ Denken: „Wir kennen keine Form-, sondern nur Bauprobleme“. Mies van der Rohe 1923 (Anm. 27), S. 300. Den „Bauproblemen“ entsprechend gab es, so ein Publikationstitel, „gelöste Aufgaben“, Ludwig Mies van der Rohe: Gelöste Aufgaben. Eine Forderung an unser Bauwesen. In: Die Bauwelt, Jg. 14, 1923, H. 52, S. 719, wieder abgedruckt in: Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 301-303. 48 | Ludwig Mies van der Rohe, [Rohmanuskript], o. D. [um 1960], LoC, nach Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 99f, hier: S. 100. 49 | „Das Buch ist ein Ereignis und ein Verhängnis zugleich. Es schärft den Verstand und narkotisiert den Willen“, Scholz 1920 (Anm. 42), S. 3. 50 | Siehe Scholz 1921 (Anm. 41). 51 | Brief Heinrich Scholz an Unterstaatssekretär Carl Heinrich Becker vom 25.06.1919, nach: Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bde. Berlin 2002, S. 93.

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sein ihrer Zeit“52 sei – Scholz‘ Formulierung eines Hegelschen Gedankens, den Mies offensichtlich in dieser Version aufnahm und auf die Baukunst übertrug,53 weil er trotz seiner Vereinnahmung durch Spengler neu gedeutet wurde. Denn Scholz hatte den „temporären Charakter der Philosophie“ gegen jeden, etwa auf Spengler sich berufenden Relativismus, als „temporäre Verjüngung“ verstanden, nämlich „daß jedes Geschlecht die Aufgabe des Philosophierens mit neuen Kräften in Angriff nehmen muß“.54 So wird auch der Zusatz „Lebendig. Wechselnd. Neu“ in Mies’ Übertragung dieses Gedankens auf die Architektur von Scholz‘ Impuls her verständlich.55 Wie Scholz die Verjüngung der Philosophie verstand, zeigt sein zupackendes Handeln. Schon für das (im Oktober) beginnende Wintersemester 1920/21 hatte er „Praktische Übungen zur Logik und Methodenlehre im Anschluß an Jevons Leitfaden der Logik“, der Übersetzung von William Stanley Jevons’ Elementary Lessons in Logic, angekündigt.56 Auch privat verbesserte er nun seine Kenntnisse der Differentialrechnung, indem er sich „die partiellen Ableitungen“ erarbeitete.57 Im folgenden Jahr stieß er, nach eigener Darstellung durch einen „Glücksfall“58 begünstigt, wohl aber in Zusammenhang mit dem im

52 | Scholz 1921 (Anm. 41), S. 44. Vgl. auch Volker Peckhaus: Scholz als Metaphysiker. In: HansChristoph Schmidt am Busch; Kai F. Wehmeier (Hg.): Heinrich Scholz. Logiker, Philosoph, Theologe. Paderborn 2004, S. 69-83. 53 | Hegels Diktum „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit, so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1821. Zit. n. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 7. Frankfurt a. M. 1979, S. 26, legt nahe, dass Mies’ Formulierung von Scholz‘ Fassung ausgeht. Dies unterstreicht auch Mies’ Aneignung des Gedankens der Spekulation aus Scholz‘ prägnanter Zuspitzung: „Was ihn [Hegel] von der Romantik so sehr unterscheidet, ist der unerbittliche Wirklichkeitssinn, auf den sich sein Idealismus aufbaut. Er hält sich ans Reale und verzichtet auf alle Spekulationen, die sich auf bloße Möglichkeiten beziehen“. Scholz 1921 (Anm. 41), S. 57. Mies machte sich diese Haltung zu Eigen: „Jede ästhetische Spekulation, jede Doktrin und jeden Formalismus lehnen wir ab. Baukunst ist raumgefaßter Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu.“, Mies van der Rohe 1923 (Anm. 46), S. 299. Einige Monate später heißt es: „Es liegt uns gerade daran, die Bauerei von dem ästhetischen Spekulantentum zu befreien“, Mies van der Rohe 1923 (Anm. 24), S. 300. 54 | Scholz 1921 (Anm. 41), S. 45. 55 | Vgl. hingegen die Deutung als „Willensmetaphysik“, Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 137. 56 | Verzeichnis der Vorlesungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Winterhalbjahr 1920/21, Kiel 1920, S. 22. 57 | Brief Heinrich Scholz an Adolf von Harnack vom 25./26.12.1920. Zit. n. Arie L. Molendijk: Aus dem Dunkeln ins Helle. Wissenschaft und Theologie im Denken von Heinrich Scholz. Amsterdam, Atlanta 1991, S. 44. 58 | Ibid., S. 43f. Zur Kontinuität in Scholz‘ Denken vgl. Eberhard Stock: Die Konzeption einer Metaphysik im Denken von Heinrich Scholz. Berlin, New York 1987, einen Bruch sieht Peckhaus 2004 (Anm. 52).

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Sommersemester 1921 fortgesetzten Seminar über Jevons,59 auf die moderne mathematische Logik der Principia Mathematica (1910-13) von Alfred North Whitehead und Bertrand Russell. Er erkannte in ihr ein „vergeblich so lange gesucht(es)“60, langfristig neues Philosophieren61 , „das an dem Paradigma der Mathematik und modernen exakten Logik orientiert“ und durch ein „Streben nach kontrollierbaren Aussagen und präzisierten Begriffen gekennzeichnet“62 war. Neben seiner fortlaufende Lehrtätigkeit und Publizistik versuchte er nun zunehmend die neuen Themen aus Mathematik und Logik in seine Arbeit zu integrieren. Schon 1921/22 hielt er zusammen mit einem Mathematiker ein Seminar über „Raum und Zeit (Newton, Kant, Riemann, Einstein)“63 und im folgenden Semester mit dem späteren Begründer des Wiener Kreises, Moritz Schlick ein Seminar über „Philosophische Analysis der Relativitätslehre“, das auch bei den Physikern angezeigt wurde.64 Im Zusammenhang mit dem Weggang Schlicks 1922 nach Wien kündigte er eine Konzentration seiner Lehrtätigkeit auf die Naturwissenschaften an.65 Tatsächlich hielt Scholz nun entsprechende Übungen ab66 und studierte zusätzlich Mathematik und theoretische Physik. Von 1928 an lehrte er in Münster Philosophie, ab 1936 mit einem Lehrauftrag für mathematische Logik und Grundlagenforschung. Als einer ihrer führenden Vertreter in Deutschland erreichte er schließlich 1943 die Umwandlung seines

59 | Als „Philosophisches Seminar: Übungen zur Lehre vom Urteil und Schluß, im Anschluß an den Leitfaden von Jevons“. Verzeichnis der Vorlesungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Sommerhalbjahr 1921. Kiel 1921, S. 25. 60 | Heinrich Scholz: Personalia [autobiographische Skizze], o. D. [1943]. Zit. n. Stock 1987 (Anm. 58), S. 31. 61 | Scholz sah die Möglichkeit, „dass an dieser Logik sich eine neue Art des Philosophierens entzündet“. Heinrich Scholz: Geschichte der Logik. Berlin 1931, S. 64. 62 | Heinrich Scholz: Personalia [Charakteristik des philosophischen Standpunktes von Heinrich Scholz], 28.05.1932, abgedruckt in: Luthe 1961 (Anm. 38), S. 453f, hier: S. 453. 63 | Verzeichnis der Vorlesungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Winterhalbjahr 1921/22. Kiel 1921, S. 24. 64 | Ibid., S. 25, 27. Offensichtlich durch diese Übung veranlasst sprach Scholz im folgenden Jahr Vaihinger auf das Einstein-Vaihinger-Preisausschreiben an und fragte, ob und wo der der erste Preis der „mich sehr interessierenden Beziehungen der Relativitätslehre zur Philosophie des Als ob“ zugänglich sei. Brief Heinrich Scholz an Hans Vaihinger vom 15.09.1923, Bibliothek der Hansestadt Bremen, Autograph XXIII 51. 65 | Tilitzki 2002 (Anm. 51), S. 96. 66 | Etwa zum Aufbau des Zahlbegriffs (WS 1923/24) und zu Richard Dedekinds „Was sind und was sollen die Zahlen?“ (SS 1924). Noch im WS 1919/20 hatte Scholz „Religionsphilosophie“ und im SS 1920 „Schopenhauer, Wagner, Nietzsche“ gelesen. Doch ab dem WS 1920/21 waren die Schwerpunkte zunehmend Logik und Mathematik (etwa zusammen mit den Mathematikern Ernst Steinitz, Julius Stenzel und Otto Toeplitz). Siehe Einzelbände Verzeichnis der Vorlesungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Kiel, 1919-1928.

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Lehrstuhls in ein Institut für mathematische Logik und seinen Fortbestand „in dem Zustand, in dem ich es habe emporarbeiten können“.67 Die Radikalität, mit der Scholz nur ein Jahr nach seiner Berufung im Herbst 1920 eine Verjüngung des Philosophierens nicht nur postulierte, sondern auch konkret, zunächst mit Jevons’ exakt wissenschaftlicher68 , dann mit Russells mathematischer Logik identifizierte, könnte für Mies Richtschnur einer ähnlich kompromisslosen Neuorientierung als Architekt gewesen sein – fernab baukünstlerischer Strömungen. Entsprechend hätte Mies eine Verjüngung der Baukunst zunächst vage mit ihrer „logischen Struktur“ identifiziert, was auch seine kaum von konstruktiven Fragen motivierte Präferenz für Soeders analytisches Linienraster erklären würde. Was er demnach begriffen haben könnte, wäre etwa mit einem Gedanken zu umschreiben, den Ludwig Wittgenstein in einer glücklichen Formulierung die „Härte des logischen Muß“69 genannt hat. Dass Mies sogar eine gewisse Anschaulichkeit dieser „logischen Struktur“ gewinnen konnte, darf unterstellt werden.70 Scholz wird bei der Vorbereitung seiner Übung über Jevons eine von dessen bekanntesten Schriften zu einer „logischen Maschine“ nicht entgangen sein. Beigefügt waren auch Illustrationen zur Veranschaulichung der Funktionsweise dieser Maschine, die Jevons als „Verkörperung“ eines logischen Kalküls bezeichnete.71 Sollte Mies mit diesen Illustrationen, insbesondere der ersten Abbildung von insgesamt dreizehn, durch Scholz‘ Vermittlung in Berührung gekommen sein, könnte schlagartig eine Eigentümlichkeit der ersten modernen Entwürfe verständlich werden, die Gropius als „schematisch“ weil ohne Gliederung, qualifiziert hatte.72 67 | Brief [Durchschlag] Heinrich Scholz an Eduard Spranger vom 25.06.1953, Nachlass Scholz, Bibliothek des Mathematischen Instituts, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Mit seinen lang jährigen Freunden Spranger (Tübingen) und Jaeger (Cambridge, Mass.) stand Scholz bis an sein Lebensende in Verbindung. 68 | „Seine [Jevons’] wissenschaftliche Stellung ist gekennzeichnet durch die Auffassung der Logik als einer exakten Wissenschaft, ähnlich der Mathematik“. Hans Kleinpeter: Vorwort des Übersetzers. In: William Stanley Jevons: Leitfaden der Logik. Leipzig 1906, S. V-VI, hier: S. V. 69 | Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Hg. v. G.E.M. Anscombe, Rush Rhees; Georg Hendrik von Wright. Frankfurt a. M. 1984, S. 84. 70 | Eine eingehende Darstellung durch den Autor ist an anderer Stelle geplant. 71 | „The machine is thus the embodiment of a true symbolic method or Calculus“. William Stanley Jevons: On the Mechanical Performance of Logical Inference. In: Philosophical Transactions of the Royal Society, Bd. 160, 1870, Illustrationen 1-13, Plate XXXII-XXXIV, S. 497-518, hier: S. 517. 72 | „Das Geschäftshaus finde ich noch zu schematisch. Es fehlt mir eine Gliederung“, Brief Gropius an Mies van der Rohe vom 07.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. Mies wehrte sich gegen diese Abqualifizierung und bot mit der „Platzbildung“ eine Aufstellungsform an, die verstehen ließe, „weshalb das Geschäftshaus nur die Horizontal-Gliederung hat“. Brief [Durchschlag] Mies van der Rohe an Gropius vom 14.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G. Der Grund hierfür war, dass das dem Büro- bzw. Geschäftshaus zugeordnete Hochhaus aus Glas nur eine Vertikal-Gliederung hatte.

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Tatsächlich sind die Modelle des Hochhauses aus Glas und des Bürohauses in Eisenbeton in ihrer beträchtlichen, ganz ohne Sockelgeschoss, horizontal oder vertikal ungegliederten Erstreckung, schematisch zu nennen. Was aber in Gropius’ Urteil als gestalterisches Defizit erscheint, hat Mies offensiv zu vertreten versucht, etwa mit einer Kohlezeichnung des Hochhauses aus Glas auf dem Titelblatt der Zeitschrift G,73 die der Illustration aus Jevons’ Aufsatz in ihrem Schematismus vergleichbar wäre (Abb. 11, 12). Denn in dieser, sowohl vertikal als auch horizontal zu lesenden Zeichnung viereckiger (hölzerner) Stangen, die in Jevons’ logischer Maschine entsprechende Kombinationen vertreten,74 könnte ein generelles Schema für Mies’ Versuche gesehen werden, sich von Beginn an unabhängig von baukünstlerischen Strömungen zu positionieren (Abb. 13, 14). Unter dieser Voraussetzung wären die von Gropius monierten Fehler Bestandteil einer als „logisch“ verstandenen visuellen Prägung, die Mies vor 1922 aus einer Quelle erhalten hätte, über die Architekten gemeinhin nicht verfügten.

11 William Stanley Jevons: „Logische Maschine“, Reproduktion, 1870 12 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhaus aus Glas, 1922, Kohlezeichnung, Reproduktion G, 1924

73 | G, Nr. 3, Juni 1924. Eine Version dieser Kohlezeichnung und eine ähnlich schematische Ansicht zum Hochhaus Friedrichstrasse wurden erstmals publiziert in: Philip Johnson: Mies van der Rohe. New York 1947, Abb. S. 27 u. S. 23. 74 | „The Machine, which has been actually finished, is adapted to the solution of any problems not involving more than four distinct positive terms (…) and each combination is represented by a pair of square rods of baywood (Plate XIII. fig.1), united by a short piece of cord“. Jevons 1870 (Anm. 71), S. 509.

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Mies’ entscheidender Schritt in die Moderne könnte somit als eine von Scholz angestoßene Suche nach einer „logischen Verjüngung“ der Architektur verstanden werden, was nun auch eine Vermittlung des von Scholz attestierten „radikalen Pragmatismus“75 Vaihingers wahrscheinlich macht, mit dem sich womöglich ein solches Ziel für Mies hätte erreichen lassen.

13 William Stanley Jevons: „Logische Maschine“, 1870, Reproduktion, Drehung 90° 14 Ludwig Mies van der Rohe: Bürohaus in Eisenbeton, 1923, Kohlezeichnung, zeitgen. Foto

75 | Weil er die „positive Bedeutung“ der „denk- und lebensnotwendigen Fiktionen“ sehe, Heinrich Scholz: Religionsphilosophie. Zweite, neu verfasste Ausgabe. Berlin 1922, S. 261.

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Vaihingers Hauptwerk hat eine Vorgeschichte. Folgt man der Darstellung des Autors, wollte er, durch eine „stilistische Beobachtung veranlasst“76, zeigen, dass Annahmen mit der sprachlichen Form „als ob“ keine Hypothesen, sondern lediglich Fiktionen ohne Anspruch auf Wirklichkeit seien. Dies entsprach zeitgenössischen Entwicklungen in der Physik von einer mathematisch erklärenden zu einer „bloß“ beschreibenden Wissenschaft, die mechanische Fiktionen oder Modelle, als Anstoß für „weitere Forschungen“77 sahen, ohne dass sie mehr sein sollten als „blosse Bilder oder Analogien“.78 Die philosophische Verallgemeinerung dieser Gedanken führte zu der Ansicht, Erkenntnis mit der „Auffindung von Analogien“ überhaupt gleichzusetzten.79 Entsprechend untersuchte Vaihinger Fiktionen aus der Mathematik, Physik, Philosophie und Psychologie, aber auch der Ethik, Ökonomie und dem Recht auf den „Mechanismus“ hin, wie „mit bewusstfalschen Vorstellungen doch Richtiges“80 erreicht werden könne. Das Ergebnis war eine umfassende Theorie der Fiktionen als Kunstgriffe des Denkens, die auf paradoxe Weise zu geregelten Verfahren des Denkens wie der logischen Induktion verstanden wurden. Die zu entwickelnde „logische Theorie der Fiktionen“ war gedacht als „eine ausgeführte Mechanik des Denkens“ – Vaihinger spricht sogar, ganz in der Ausdrucksweise der Entstehungszeit des Werks, von einer „Maschinenlehre des Denkens“, bzw. einer „Technologie der logischen Funktion“.81 Ihre Aufgabe war es, „die Handhabung dieser Denkmaschine und Denkmittel zu lehren“.82 Um deren Mechanismen zu ergründen, unterschied Vaihinger eine Vielzahl von Verfahren;83 so kontrastieren etwa abstraktive Fiktionen, die wichtige „Wirklichkeitselemente“84 vernachlässigen, mit schematischen Fiktionen, die das Studium der Wirklichkeit „an einfacheren Modellen“85 darstellen. In ersteren werde ein „Teil der Wirklichkeit gleichsam weggeschnitten“, in letzteren „das Knochen76 | Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. Mitteilungen über ein unter diesem Titel soeben erschienenes neues Werk. Von dessen Herausgeber H. Vaihinger. In: Kant-Studien, Bd. 16, 1911, S. 108-115, hier: S. 109. 77 | Ludwig Boltzmann: Über die Methoden der theoretischen Physik. In: Walther Dyck (Hg.): Katalog mathematischer und mathematisch-physikalischer Modelle, Apparate und Instrumente. München 1892, S. 89-98, hier: S. 96. 78 | Ibid., S. 94. 79 | Ibid., S. 97. 80 | Vaihinger 1911 (Anm. 25), S. VIII 81 | Ibid., S. 180. Kurz vor Abfassung von Vaihingers Habilitationsschrift (1876/77) war das Standardwerk von Franz Reuleaux: Theoretische Kinematik. Grundzüge einer Theorie des Maschinenwesens. Braunschweig 1875, erschienen. 82 | Ibid., S. 181. 83 | Vaihinger unterschied klassifikatorische, abstraktive, schematische, analogische, juristische, personifikative, summatorische, heuristische, praktische und mathematische Fiktionen. 84 | Vaihinger 1911 (Anm. 25), S. 28. 85 | Ibid., S. 7 u. S. 36.

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gerüst eines bestimmten Komplexes herausgestellt“.86 Entsprechend würden in der Nationalökonomie Modellstädte (schematisch) fingiert oder alle wirtschaftlichen Handlungen der Gesellschaft unter dem (abstraktiven) Gesichtspunkt der „künstliche Methode“87 gesehen, „als ob sie einzig und allein vom Egoismus diktiert wären“.88 Juristische Fiktionen wiederum wurden als Subsumptionen eines Einzelfalls unter einen Allgemeinbegriff verstanden, die wegen der Begrenztheit der Gesetze „besondere Fälle abnormer Natur“ so betrachten, „als ob sie unter jene gehörten“.89 Auch die strukturell ähnliche mathematische Fiktion, die eine „krumme Linie als aus einer unendlichen Anzahl gerader Linien bestehend“ denke, sah Vaihinger als Subsumption. Folgerichtig waren Grundbegriffe der Mathematik „widerspruchsvolle Fiktionen“, was Einstein kritisierte.90 Auf Fragen der Ästhetik ging Vaihinger in seiner Darstellung nur aus Gründen der Abgrenzung ein, obwohl er durchaus Berührungspunkte mit seiner Theorie91 sah und auch so verstanden wurde, wie Emil Utitz‘ Gedanke der Simulation als einer bewussten „Vorspiegelung nicht vorhandener Sachverhalte“ zeigt.92 Hingegen spielt die Architektur keine Rolle. Auch weist nichts darauf hin, dass Architekten sich auf diese Philosophie berufen hätten. Von Paul Schultze-Naumburg ist nur bekannt, dass er einen Beitrag zur Philosophie des Als Ob verfasste.93 Er sah die „neue Einsicht in die Mechanik

86 | Ibid., S. 36. 87 | Ibid., S. 30. 88 | Ibid., S. 344. 89 | Ibid., S. 46. 90 | Ibid., S. 71. Einstein bestritt, dass die Grundbegriffe der Mathematik, „widerspruchsvolle Fiktionen“ seien, weil es sich z.B. mit dem Begriff Punkt „nicht um einen Gegenstand der Anschauung“ handele und nicht zu sehen sei, wie dieser als Begriff „innerhalb des Systems, dem er angehört, zu einander widerspruchsvollen Urteilen führt“. Brief Albert Einstein an Hans Vaihinger vom 03.05.1919, Bibliothek der Hansestadt Bremen, Autograph XXI 7 c. Aus der Rechtswissenschaft kam der Einwand, in juristischen Fiktionen trete „niemals ein Widerspruch zur Wirklichkeit“ auf, da „eigentlich eine Wirklichkeit geschaffen werden soll“. Hans Kelsen: Zur Theorie der juristischen Fiktionen. Mit besonderer Berücksichtigung von Vaihingers „Philosophie des Als Ob“. In: Annalen der Philosophie, Bd. 1 (1919), S. 630-658, hier: S. 639. 91 | Im Prinzip der „bewussten Selbsttäuschung“ aus Konrad Lange: Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer illusionistischen Kunstlehre. Berlin 1907, einer „mustergültigen (…) Ästhetik des Als Ob“, Vaihinger 1911 (Anm. 76), S. XIII. Vgl. auch Konrad Lange: Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. In: Annalen der Philosophie, Bd. 1 (1919), S. 424-472. 92 | Emil Utitz: Zur ‚Als-Ob-Theorie‘ in Der Kunstphilosophie. In: Kant-Studien 27, 1922, S. 470495, hier: S. 477.. Vgl. auch Ibid.: Psychologie der Simulation. Stuttgart 1918. 93 | Paul Schultze-Naumburg: Die Philosophie des „Als ob“. In: Umschau., 28. Jg. H.20, vom 17. Mai 1924, S. 353-355. Schultze-Naumburg korrespondierte mit Vaihinger zwischen 1923 und 1926, lernte ihn persönlich kennen und lud ihn zu sich nach Saaleck ein. In Paul Schultze-Naumburg: Vom Verstehen und Geniessen der Landschaft. Rudolstadt 1924, wurde auf die „Philosophie des Als Ob“ hingewiesen (S. 100, Anm. 9), da die Schrift „für junge Menschen bestimmt ist, die für

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unseres Denkvorganges“,94 die den „unbekannten Gebilden der Wirklichkeit solche [substituiert], denen keine Wirklichkeit entspricht“95 sehr wohl; für ihn als Architekt scheint dieser, für das „das gesamte Geistesleben“ – auch das „künstlerische“96 – relevante Gedanke jedoch ohne spezifische Bedeutung gewesen zu sein. Welche Bedeutung konnte eine solche pragmatische Philosophie für Mies’ Werk und eine von Scholz vermittelte Idee „logischer Verjüngung“ haben? Wir wissen nicht sehr viel über Mies’ Denken vor 1922. Jedoch lässt das, was ab diesem Zeitpunkt bekannt ist, gewisse Rückschlüsse zu auf die Bedingungen seiner Neuorientierung; etwa Mies’ Affinität zu biologischen Werken, die ihn prädestiniert haben könnte, eine den „Methoden“ der Natur adäquate künstliche Antwort für die Herausforderungen der Architekturentwicklung zu suchen. Insbesondere Vaihingers Philosophie des Als Ob war die Untersuchung einer solchen „künstlichen Methode“ und verstand sich als Kompendium einer „Technologie der logischen Funktion“. Um die hieraus resultierenden Möglichkeiten zu erfassen, dürfte sich als Vorteil erwiesen haben, dass Mies relativ wenig vorbelastet war durch stilistische Festlegungen und offen für Ideen anderer.97 Tatsächlich bekannte Mies im Juni 1923 Gropius gegenüber, dass er „jeden Formalismus welcher Art er auch sei, ablehne und aus dem Wesen der Aufgabe heraus ihre Lösung versuche“.98 Im Unterschied zu Le Corbusier, dessen lösungsorientierten Ansatz er grundsätzlich teilte,99 bezog sich Mies jedoch nicht auf das Paradigma des Ingenieurs, sondern der Natur: „Eine Landschaft oder ein Wald besteht auch nicht aus formal gleichen Gebilden und ein Wacholderstrauch steht sehr gut zu einem Rosenstrauch.“100 Angesichts der von Mies mit bewirkten „Verengung der architektonischen Formensprache“ fand Winfried solche Ideen, wie Ihre Philosophie sie bietet, aufnahmefähig sind“. Brief Paul Schultze-Naumburg an Hans Vaihinger vom 11.03.1924, Bibliothek der Hansestadt Bremen, Autograph XXIII 5 q. 94 | Schultze-Naumburg 1924 (Anm. 93), S. 353. 95 | Ibid., S. 354. 96 | Ibid. 97 | Vgl. Dietrich Neumann: „…Eislandschaften zeigende Tapeten…“. Mies van der Rohes Patente zur Wandgestaltung und Drucktechnik von 1937-1950. In: Helmut Reuter; Birgit Schulte (Hg.): Mies und das neue Wohnen. Räume. Möbel. Fotografie. Ostfildern 2008, S. 265-279, hier: S. 272. 98 | Brief Ludwig Mies van der Rohe an Walter Gropius vom 14.06.1923, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder G, siehe auch Marx; Weber 2008 (Anm. 7), S. 134. 99 | Le Corbusiers an Problemlösungen des Ingenieurberufs orientierte Architektur, die „sachlich und logisch konzipiert“ sein sollte, kannte Mies spätestens 1922 durch Paul Westheim: Architektur in Frankreich. Le Corbusier-Saugnier. In: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 7. Jg. 1922/23, Heft 3/4, S. 69-82, hier: S. 73, sowie Adolf Behne: Junge französische Architektur. In: Sozialistische Monatshefte, 28. Jg. 1922, H.9 (18.09.1922), S. 542-545. 100 | Brief Ludwig Mies van der Rohe an Walter Jakstein vom 13.09.1923 (LoC), nach Winfried Nerdinger, Le Corbusier und Deutschland. Genesis und Wirkungsgeschichte eines Konflikts 19101933. In: Arch+, 1988, S. 80-86, S. 97, hier: S. 85.

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Nerdinger einen solchen Gedanken „paradox“.101 Mies war aber in den frühen zwanziger Jahren offenbar so überzeugt von der Vielfalt eigener Lösungen, dass er, nur wenige Wochen vor der Fertigstellung des Modells seines Landhauses in Eisenbeton, den Vergleich mit der Natur nicht scheute: „Wäre die Natur formal so langweilig wie unsere architektonischen Gebilde, so wäre auch hier längst eine Revolution ausgebrochen.“102 Aber was machte Mies so sicher, eine der Natur vergleichbare Lösungsvielfalt nicht nur zufällig erzeugt zu haben, sondern konstant generieren zu können? Die These ist, dass Mies für ein solches Programm formaler Diversifikation in der Architektur tatsächlich Vaihingers pragmatischen Fiktionalismus genutzt hat. Wie dies geschehen konnte, wird noch im Einzelnen zu zeigen sein. Der Kern des Gedankens ist, dass Mies die von der Philosophie des Als Ob beschriebene „künstliche Methode“ des sinnvollen Gebrauchs „falscher“ Vorstellungen zur Grundlages seines eigenen Verfahrens gemacht hat. Für Mies’ Projekte zweier Hochhäuser dürfte genau dies zutreffen, selbst wenn ihre formale Verschiedenheit nicht direkt aus der Methode zu resultieren scheint. Auch für Mies’ ersten modernen Landhausentwurf soll nun gezeigt werden, dass er innerhalb dieses theoretischen Rahmens verstanden werden kann. Denn die Frage, wie der für das Landhaus als konzeptuell erkannte Lesefehler vor dem 14. Juni 1923 überhaupt die Vorstellung einer Bahnsteighalle als Wohnhalle generieren konnte, blieb bislang unbeantwortet.

Landhaus in Eisenbeton (1923): Zu Mies' Interpretation des großen Empfangssaals von Shimizu, Gumi &Co Zu Beginn der zwanziger Jahre gab es Mies’ zufolge eine Veröffentlichung in Wasmuths Monatsheften, die „ihn und seine Architektenfreunde wirklich aufgerüttelt und zu heißen Diskussionen angeregt hätte“.103 Tatsächlich brachte Wasmuth 1921/22 eine größere Anzahl Fotos von Innenräumen „eines modernen japanischen Wohnhauses“ ohne erklärenden Text,104 da die Abbildungen aus sich selbst heraus durch ihre „völlig fremde, dabei großartige Raumbehand101 | Ibid. 102 | Brief Ludwig Mies van der Rohe an Walter Jakstein vom 13.09.1923 (LoC), nach ibid. 103 | Karin Kirsch: Die neue Wohnung und das alte Japan. Architekten planen für sich selbst. Stuttgart 1996, S. 12-13. Vgl. allg. Manfred Speidel: Träume vom Anderen. Japanische Architektur mit europäischen Augen gesehen. Einige Aspekte zur Rezeption zwischen 1900 und 1950. In: archimaera, 2008 (Januar), S. 79-96. 104 | O.A.: O.T. [Abbildungen von Innenräumen eines modernen japanischen Wohnhauses]. In: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 6. Jg. 1921/22, Heft 7/8, S. 249-260. Speidel stellt die Frage, ob es sich mit den Abbildungen um Innenräume nur eines Wohnhauses handelt, vgl. ibid., S.96.

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lung“, europäische Architekten anregen sollten.105 Eine unmittelbare Wirkung auf Mies’ Werk wurde aber nicht gesehen. Dreimal wurden diese Fotos des Architektur- und Konstruktionsbüros Shimizu, Gumi & Co aus Tokyo publiziert.106 Nach der Erstpublikation veröffentlichte Hans Schiebelhuth im März 1923 vier der Wasmuth-Klischees mit einer Einführung in der Monatsschrift Qualität.107 Erneut wurde im selben Jahr eine Version dieses Textes im Septemberheft von Innen-Dekoration unter anderem Titel veröffentlicht, diesmal allerdings mit sehr viel mehr Abbildungen und erstmaliger Nennung des japanischen Büros.108 Außer der Wasmuth-Publikation kannte Mies wohl auch die anderen Veröffentlichungen durch Publikationen eigener Arbeiten, besonders das Qualität-Heft vom März 1923, da es noch einen, den eigenen Hochhausentwürfen gewidmeten Beitrag vom Vorjahr brachte;109 Es erschien nur wenige Monate vor der unterstellten Planungsidee seines ersten modernen Wohnhausprojekts im Juni und war von einem einführenden Text begleitet. In diesem wurde der „bewegliche Charakter des Wohnsystems“, als zentrales Element des japanischen Wohnens und seiner Idee des ‚reinen Raums‘ anschaulich beschrieben.110 Der Autor Schiebelhuth richtete sich damit an „die europäischen Innenarchitekten“ in der Hoffnung, sie mögen „sinn- und gesetzverstehend“ aus der japanischen Wohnkultur lernen; vor allem solle dies „nicht äußerlich nachahmend, sondern praktisch und geistig zugleich aus der Erkenntnis der Grundlagen der eigenen und der fremden Wohnkultur“ geschehen, was eine erstaunliche Aufforderung zu einer strukturellen Aneignung darstellt.111 Die anregende Beschreibung in Qualität hinterließ bei Mies konkrete Spuren, wie der zusammen mit seinem Landhausentwurf publizierte Text zeigt. 105 | E[rnst] W[asmuth Verlag, d.i. Schriftleitung Günther Wasmuth], Innenräume. In: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 6. Jg. 1921/22, Heft 7/8, S. 199. 106 | Das 1804 von Kisuke Shimizu in Kanda Kajicho, Edo (Tokyo) gegründete Konstruktionsbüro wurde 1915 in das Unternehmen Shimizu Gumi umgewandelt, 1948 in Shimizu Construction Co., Ltd, umbenannt und ist heute als Shimizu Corporation ein internationaler tätiger Konzern mit Sitz in Tokyo. 107 | Hans Schiebelhuth: Japanische Innenräume. In: Qualität. Internationale Propaganda für Qualitätserzeugnisse, 3. Jg. Schluss Heft 5, 12 August 1922/März 1923, S. 70-73. 108 | Hans Schiebelhuth: Wohnungskunst des Ostens. Das Wesen der östlichen Baukunst. In: Innen-Dekoration, 34. Jg. 1923, H. 9, S. 253-265. Schiebelhuths Text S. 253-56, gefolgt von einem Abschnitt (S. 258) aus: Kakuzo Okakura: Das Buch vom Tee. Leipzig 1919. 109 | Siehe Gotfrid 1923 (Anm. 5). Dieser zusammen mit der März-Nummer 1923 publizierte Schluss des August-Heftes von 1922 war ein eigens Mies’ modernen Hochhausentwürfen von 1922 gewidmeter Beitrag, der von einem Mitarbeiter aus Mies’ Büro verfasst war und sicherlich nicht ohne Zustimmung wenn nicht sogar auf Betreiben von Mies veröffentlicht wurde, vgl. Marx; Weber 2003 (Anm. 1), S. 76-79. 110 | Schiebelhuth 1923 (Anm. 107), S. 73. 111 | Ibid.

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Der Hinweis, dass „der Japaner keine festen, starren Flügel-Fenster, sondern bewegliche Schiebe-Fenster verwendet“, und „fast alle Wände im innern [sic!] Hause (…) ganz oder teilweise beweglich“ sind, weil sie als Schiebetüren „exakt gefügt auf unsichtbaren Rollen geräuschlos laufen“,112 wurde von Mies offenbar konkret aufgenommen. Er beabsichtigte nämlich für seinen Entwurf der „große(n) Schallleitbarkeit“ von Eisenbeton durch den Ausschluss möglicher Geräuschquellen zu begegnen: „Ich denke hier an Gummiböden, Schiebefenster und -türen und ähnliche Vorkehrungen“.113 Gerade Schiebelhuths Hinweis auf die Geräuschlosigkeit der Vorrichtung könnte Mies veranlasst haben, die Schallleitbarkeit von Eisenbeton als Begründung für seine dem Text entlehnte Konzeption zu nennen. Hierfür spricht auch, dass „Schiebefenster und -türen“ bei Mies sonst keine Erwähnung mehr finden. Somit kann Schiebelhuths Aufforderung zur strukturellen Aneignung japanischer Wohnkultur als jene Ausgangslage beschrieben werden‚ die Mies kannte, als er Anfang Juni 1923 irrtümlich den von Gropius brieflich wiedergegebenen Fachausdruck als „Eisenbahnkragträgerkonstruktion“ las. Das ist deshalb von Bedeutung, weil sonst nicht zu verstehen wäre, wie Mies vor dem Hintergrund einer persönlich als notwendig erachteten Innovation auch im Landhausentwurf durch einen Lesefehler auf seine ungewöhnliche Idee kommen konnte. Denn wie sollte ein Lesefehler zeigen, auf welche Weise es Mies gelang, den aus damaliger Perspektive gewaltigen, innovativen Schritt zu vollziehen, Bahnsteighallen als Modelle für Wohnhallen zu sehen? Dazu bedurfte es einer weiteren Komponente. Entscheidend ist deshalb die in allen Publikationen zum japanischen Wohnhaus gezeigte Abbildung eines, auch „Grosser Empfangssaal“114 genannten, Empfangszimmers.115 Der angeschnittenen Blickwinkel dieses Raumes erzeugt eine zunächst frappierende Ähnlichkeit in Konstruktion, räumlicher Offenheit, Erstreckung und Leere zu Bahnsteighallen, die Mies womöglich an eine zweistielige Bahnsteighalle aus einer damaligen Fachpublikation hat denken lassen116 (Abb. 15, 16).

112 | Ibid., S. 70, 71. 113 | Mies van der Rohe 1923 (Anm. 24), S. 300. 114 | Schiebelhuth 1923 (Anm. 108), S. 260. 115 | O.A.: Empfangszimmer, 1921, S. 255, sowie Schiebelhuth 1923 (Anm. 107), S. 72. 116 | E[mil] von Mecenseffy: Die künstlerische Gestaltung der Eisenbetonbauten, Berlin, 1911, S. 135, Abb. 95. Eine 2. Auflage erschien 1922. Die Bahnsteigüberdachungen des ab 1905 neu errichteten Bahnhofs in Sonneberg waren durch die Firma Dyckerhoff & Widmann als erste in Deutschland in Stahlbeton ausgeführt worden.

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15 Fa. Dykerhoff & Widmann: Bahnsteighalle in Sonneberg, 1907, Reproduktion 1911

16 Shimizu, Gumi & Co: Wohnhaus in Japan, Große Empfangshalle, Reproduktion 1923

Doch handelt sich damit eben nur um Ähnlichkeiten zweier Abbildungen, die Mies veranlasst haben könnten, die Konstruktion einer Bahnsteighalle als das Modell einer japanischen Empfangshalle zu sehen und durch Schiebelhuths Veranschaulichung als praktikables Wohnen zu verstehen. Da Mies nun für seinen Entwurf des Landhauses einen zweiten Typ Bahnsteighallen aus derselben Publikation (Abb. 17) verwendet hat,117 könnte sich der Weg der Modellbildung tatsächlich auf diese Weise zugetragen haben. Aufgrund dieser Überlegung wäre der innovative Schritt in der Planung des Landhauses als gezielte, für moderne Wohnhausarchitektur intendierte Verwendung einer „Fehlinterpretation“ zu verstehen. Er hätte nämlich darin bestanden, Bahnsteighallen zu betrachten, als ob sie moderne Wohnhallen seien, weil sie kontrafaktisch mit einem japanischen Empfangszimmer assimiliert worden waren.

117 | Dieser zweite Typus, der die charakteristische Dachform des Landhauses aufweist, aber nicht seine zweistielige Konstruktion, wurde ebenfalls in Mecenseffy 1911 (Anm. 116), S. 135, Abb. 94, publiziert.

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17 Emil von Mecenseffy: Die künstlerische Gestaltung der Eisenbetonbauten, Berlin, 1911

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Landhaus in Backstein (1924): Kontra-Konstruktion und japanischer Innenraum Eine vergleichbare Rekonstruktion innovativer Modellbildung wäre auch für den erstmals 1924 auf der GBK in Berlin gezeigten, zweiten modernen Entwurf eines Landhauses in Backstein möglich. Der in einem zeitgenössischen Foto von Grundriss und Ansicht überlieferte Entwurf schlug eine neue Richtung ein (Abb. 18). Türen und Fenster waren als „pure Öffnungen zwischen uniformen Wandscheiben“ vorgesehen – ein Prinzip, das auch im Inneren des Hauses als „offene räumliche Anordnung“ zueinander versetzter Wandscheiben fortgeschrieben wurde.118 Auch dieser innovative Schritt könnte nun ebenfalls vor dem Hintergrund der Publikation japanischer Innenraumfotos neu erklärt werden.119 Zunächst ein Blick auf die im Herbst 1923 von Theo van Doesburg und Cornelis van Eesteren im Rahmen einer Pariser Ausstellung vorgestellten Zeichnungen, die aus dem für die Architektur neu entdeckten Darstellungsmittel der Axonometrie entstanden waren.120 Wohl auf Drängen van Doesburgs hatte van Eesteren die Axonometrien zu dem Projekt einer maison particulière ausgeführt,121 aus denen dieser nun seinen Zeichnungstyp ableiten konnte, der in analytisch wirkender Darstellungsweise offenbar willkürlich ausgewählte, vertikale oder horizontale Flächen zu einer rhythmisch gegliederten Raumvorstellung verband. Diese aus den „realistischeren“ Axonometrien122 entwickelten Kontra-Konstruktionen wurden von ihrem Urheber als Veranschaulichung der 118 | Dietrich Neumann, [Katalogbeitrag] Landhaus in Backstein. Projekt, Potsdam Neubabelsberg, 1924. In: Riley; Bergdoll 2001 (Anm. 2), S. 194. 119 | Alfred H. Barr Jr. (Hg.): Cubism and Abstract Art. New York 1936, Nr. 162 u. Nr. 163, hat den Landhaus-Grundriss mit van Doesburgs Gemälde „Rhythmus eines russischen Tanzes“ (1918) verglichen. Von diesem Vergleich hat man sich nur mit neuen, ebenfalls problematischen Bezügen, etwa auf El Lissitzkys Prounen und Hans Richters „Filmmomente“ lösen können; letztere seien als Bilder schwebender Ebenen „in der Lage, die Phantasie eines Architekten zu beflügeln“, Bruno Reichlin: Mies’ Raumgestaltung: Vermutungen zu einer Genealogie und Inspirationsquellen, in: Ausst. Kat. Das Haus Tugendhat. Brünn 1930. Wien 1999, S. 53-61, hier: S. 59. Siehe auch Mertins 2001 (Anm. 22), S. 124-28, sowie Jean-Louis Cohen: Mies van der Rohe. Basel, Berlin, Boston 1994, S. 35 und zweite erweiterte Aufl. 2004, S. 39. Keiner dieser Ansätze vermag aber den Mechanismus der Innovation zu klären. Offenbar setzten Reichlin, Mertins und Cohen als ausgebildete Architekten die Fähigkeit zu einem Transfer aus heutiger Praxis und Routine einfach zu sehr voraus. 120 | Vgl. Yves-Alain Bois: Metamorphosen der Axonometrie. In: Daidalos, Nr. 1, 1981, S. 41-58, hier: S. 42-44. 121 | Van Eesteren teilte Yves-Alain Bois 1978 mit, dass er die Axonometrie „auf der Schule erlernte habe, dass er sich jedoch weder 1923 noch heute besonders für sie interessierte“. Ibid., S. 58, Anm. 6. 122 | Van Eesteren erinnerte sich, „van Doesburg habe seine eigenen, viel „realistischeren“ Axonometrien nachgeahmt, um die „Gegen-Konstruktionen“ von 1923 (…) zu zeichnen“. Ibid., S. 58,

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„elementaren Ausdrucksmittel der Architektur“ verstanden.123 Sie erlaubten ihm darüber hinaus, farbige Versionen herzustellen und damit in eine, von El Lissitzkys Proun-Konzept neu erschlossene, malerische Dimension vorzustoßen.

18 Ludwig Mies van der Rohe: Landhaus in Backstein, 1924, Perspektive und Grundriss, zeitgen. Foto

Dennoch war der kausale Zusammenhang zwischen den Axonometrien und den aus ihnen entwickelten Kontra-Konstruktionen schon seit der ersten Präsentation des Projekts in der Ausstellung „Les Architectes du groupe De Stijl“124 ersichtlich, auch wenn er erst in späteren Publikationen, etwa als „Zerlegung in architektonische Elemente“ direkt greifbar wurde125 (Abb. 19). Wenig wahrscheinlich ist, dass Mies die Kontra-Konstruktionen von der Pariser De StijlAusstellung her kannte, auf der er mit zwei Fotos seines Entwurfs eines Hochhauses aus Glas vertreten war;126 aber spätestens Mitte Dezember kam van Doesburg anlässlich der Eröffnung seiner Weimarer Retrospektive, in der drei

Anm. 6, nach Nancy Troy: De Stijl‘s Collaborative Ideal: The Colored Abstract Environment 19161926. Phil. Diss. Yale University, 1979, S. 132. 123 | Theo van Doesburg: Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst. Frankfurt a. M. 1925, Abb. 3. 124 | In der Pariser Galerie „L’Effort Moderne“ von Léonce Rosenberg war vom 15. Oktober bis 15. November 1923 auch die maison particulière mit 15 Plänen und 1 Modell, darunter 3 Axonometrien von unten und von oben, 1 „Architekturanalyse (Kontrakonstruktion)“ und 3 „Farbkonstruktionen“ ausgestellt, siehe Giovanni Fanelli: Stijl-Architektur. Der niederländische Beitrag zur frühen Moderne. Stuttgart 1983, S. 142. 125 | Theo van Doesburg: Die neue Architektur und ihre Folgen. In: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 9. Jg. 1925, H. 12, S. 503-518, hier: S. 508, Abb. 14-15. Es handelt sich um die Abbildung der Axonometrie von oben in Nordwestausrichtung der maison particulière und die entsprechende Kontra-Konstruktion. 126 | Vgl. Marx; Weber 2008 (Anm. 7), S. 145-146.

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19 Theo van Doesburg und Cornelis van Eesteren: maison particulière, 1923, axonometrische Zeichnungen, Reproduktion 1925

farbige Versionen der Kontra-Konstruktionen hingen, auch nach Berlin und traf Mies, wie dieser Bruno Taut berichtete.127 Mies hatte hierdurch wohl erstmals Gelegenheit, die neuen Zeichnungen und ihren Entstehungszusammenhang kennenzulernen und daraus für den entscheidenden innovativen Schritt seines neuen Landhausentwurfs Nutzen zu ziehen. Tatsächlich zeigt vor allem der Grundriss des neuen Landhausentwurfs eine offene, den Kontra-Konstruktionen vage ähnliche, räumliche Anordnung versetzter Wandscheiben, was sich mit einer entsprechenden Axonometrie des Landhauses anschaulich machen lässt (Abb. 20, 21). Mit dieser Idee hat Mies dann weiter gearbeitet, und seine gesamte spätere Wohnhausentwicklung ist von ihr geprägt. Als Beispiel kann etwa das Musterhaus auf der Deutschen Bauausstellung 1931 dienen, an dem er nach einigem zeitlichen Abstand, die Prinzipien der Kontra-Konstruktionen deutlich sichtbar umsetzte und verbreitete128 (Abb. 22).

127 | Brief Mies an Taut 1923 (Anm. 19). Die Retrospektive im Weimarer Landesmuseum lief vom 16.12.1923 bis zum 23.01.1924. Das Treffen zwischen van Doesburg und Mies war daher kurz vor der Eröffnung oder Tags darauf, am 17. Dezember. 128 | Vgl. das Titelblatt von „Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit“, 6. Jg. 1931, H. 6 (15. Juni).

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20 Theo van Doesburg und Cornelis van Eesteren: maison particulière, 1923; Theo van Doesburg: „Kontra-Konstruktion“, axonometrische Zeichnung, Reproduktion 1925

21 Ludwig Mies van der Rohe: Landhaus in Backstein, 1924, axonometrische Zeichnung, Rekonstruktion Marina Budnitskaya, 2012

Aber wie konnte Mies diese aus Axonometrien der maison particulière abgeleiteten, aber nicht selbst als Architektur verstandenen Kontra-Konstruktionen129 überhaupt als Modell eines konkreten architektonischen Raums auffassen? Ein dem Fall des ersten modernen Landhausentwurfs vergleichbares Szenario könnte dies erklären. Denn zeitgleich zu den neuen De Stijl-Entwicklungen wurde im 129 | Sigfried Giedion beschreibt (1949) den Vergleich einer Kontra-Konstruktion mit dem Inneren von Le Corbusiers Haus La Roche (1923) mit folgenden Worten: „Raumstudie, 1923. Das Haus wird aufgefaßt als eine Durchdringung und als ein Beziehungsspiel horizontaler und vertikaler Flächen“. Sigfried Giedion: Malerei und Architektur. In: Werk, Jg. 36, H. 2, 1949, S. 36-42, hier: S. 40, Abb. 8 und 9. Sollte van Doesburg tatsächlich nach van Eesterens Auffassung die Absicht gehabt haben, mit solchen Zeichnungen „die neue Raumauffassung des Hauses zu veranschaulichen“ (ibid., S. 42), so war die „Durchdringung“ nicht ein erfahrbarer Raum, sondern ein Prinzip. Beide haben übrigens als Architekten ihr Prinzip nie konkret umsetzten können. Da Giedions Darstellung aber eine Rückübersetzung der Beziehung der Kontra-Konstruktion zur Architektur vom Ergebnis der Aneignung her darstellt, vermag sie den entscheidenden Schritt der Modellbildung gar nicht erst zu fassen.

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September 1923, als in Japan das Große Kanto-Erdbeben stattfand,130 Schiebelhuths Text erneut, nun in Innen-Dekoration, der Mies vertrauten Zeitschrift,131 publiziert. Diesmal waren seine Erläuterungen anhand von sehr viel mehr Abbildungen gut nachzuvollziehen.132 Die japanische Wohnung wird von Schiebelhuth als „ein luftiges und lustiges Ineinander“, als „beweglicher und bequem handhablicher [sic!] Gesamt-Organismus“ geschildert; will nämlich ein Japaner ein Zimmer betreten, dann bleibt er „stehen und öffnet sich eine Wand. Denn fast alle Wände im inneren Hause sind teilweise beweglich, sie sind Schiebetüren (…) In manchem Zimmer ist es möglich, zwei oder drei Wände oder Fensterwände aufzuziehen (…) Auch an Vorrichtungen, den Raum beliebig zu verringern, fehlt es nicht, da fast durch jedes Zimmer, die Decke aufteilend, eine Brüstung läuft, von der sich eine Wand einziehen läßt“.133 Entsprechende Fotos der Innenräume konnten dies veranschaulichen.

22 Ludwig Mies van der Rohe: Musterhaus und Wohnung für einen Junggesellen, Deutsche Bauausstellung, Berlin, 1931, zeitgen. Foto 130 | Am 1. September 1923 zerstörten das Beben und verheerende Folgebrände Yokohama und Teile von Tokyo. 131 | In der von Alexander Koch herausgegebenen „Innen-Dekoration“ waren zu Mies’ Arbeiten erschienen: Anton Jaumann: Vom künstlerischen Nachwuchs. In: Innen-Dekoration, 21.1910 (Juli), S. 265-274 (zu Haus Riehl); Adolf Vogt: Ein Landhaus in Neubabelsberg. In: Innen-Dekoration, 31.1920 (Juni), S. 182-198, Text S. 184 (zu Haus Urbig). In Alexander Kochs „Handbuch neuzeitlicher Wohnkultur“ von 1921 hatte Mies zudem Fotos der Küche von Haus Urbig publiziert. 132 | „Innen-Dekoration“ brachte mit 13 Abbildungen mehr Innenraumfotos als „Wasmuths Monatshefte“ mit 10 Abbildungen. 133 | Schiebelhuth 1923 (Anm. 108), S. 253.

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23 Theo van Doesburg: „KontraKonstruktion“, 1923, Umzeichnung Dominik Lengyel, 2012

24 Shimizu, Gumi & Co: Wohnhaus in Japan, Empfangszimmer mit Veranda-Vorraum, Reproduktion 1923

Damit ist die Ausgangslage des erwähnten Gesprächs gegeben, das Mies mit van Doesburg Mitte Dezember 1923 führte. Ein überliefertes Anliegen des Treffens war, dass Taut Mies angetragen hatte, ihm aus dem „Material der Stijlgruppe“ durch van Doesburg „Abbildungen neuer Innenräume zu verschaffen“, was aber nicht gelang; auch Mies selbst schien kein Material besteuern zu können, wie er Taut schrieb.134 Der Entwicklungsstand zum Thema Innenraum muss zwangsläufig ein Thema dieses Gesprächs gewesen sein. Ein zweites Thema waren wohl die Mies noch unbekannten Axonometrien der maison particulière sowie die neuartigen Kontra-Konstruktionen, die nicht zur Innenraumthematik gehörten. Vor dem Hintergrund der wegen der tragischen Vorgänge in Japan besonders bedeutsamen Publikation der japanischen Innenräume wird nun erst verständlich, weshalb Mies Kontra-Konstruktionen als Modelle für Innenräume

134 | Vgl. Brief Mies an Taut 1923 (Anm. 19).

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angesehen haben könnte.135 Denn Mies ging nun womöglich erheblich über die bloße Erwähnung vorgesehener „Schiebefenster und -türen“ seines Beitrages zum Landhaus in Eisenbeton hinaus und assimilierte die Neuentwicklung der Kontra-Konstruktionen mit dem, was er den Abbildungen und der Beschreibung bei Schiebelhuth entnehmen konnte (Abb. 23, 24).136 Ein solcher Prozess lässt sich nicht rational beschreiben, da in ihm nur selektiv und missverständlich „bildhafte“ Elemente der japanischen Raumkonzeption aufgenommen sein

25 Katsura-Villa, Kyoto, Japan, Anfang 17. Jahrh., „Interior of the Old Shoin Viewed from the East“, Foto Ishimuto Yashuhito, 1960

26 Ludwig Mies van der Rohe: Glasraum in der Stuttgarter Werkbundausstellung, 1927, zeitgen. Foto

135 | Taut wünschte in seiner neuen Publikation, an der er zu dieser Zeit schrieb, dass die Japaner beim Neuaufbau „versuchen, die Kultur ihres Wohnhauses auf die neuen feuerfesten Materialien wie Eisenbeton zu übertragen und weiter zu entwickeln“. Bruno Taut: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin. Leipzig 1924, S. 28. 136 | Ob eine bestimmte Kontra-Konstruktion mit einer bestimmten japanischen Innenraumabbildung von Mies assimiliert wurde, muss offenbleiben. Unklar ist auch, ob Mies weiteres Material zur Verfügung stand. Abbildungen etwa der Katsura Villa gab es „in Japan erst 1926“. Speidel 2008 (Anm. 103), S. 83.

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könnten – nicht aber ihre Funktionsweise. Die Beweglichkeit von Wand- und Fensterelementen des flexiblen japanischen Raums, sowie das hinter ihr stehende konstruktive Denken der Vorrichtung dürften bei diesem Vorgang verlorengegangen sein (Abb. 25). Über die Struktur der Kontra-Konstruktionen hätte sich nur mehr die Idee einer Konfiguration planer Wandflächen und Öffnungen zu einem „fließenden“ Raum vermittelt, wie sie von ihm erstmals mit dem Glasraum für die Stuttgarter Ausstellung „Die Wohnung“ (1927) realisiert wurde (Abb. 26). Somit könnte auch in diesem Fall der innovative Schritt in der Planung dieses Landhauses auf einer bewussten „Fehlinterpretation“ beruhen. Er hätte darin bestanden, Kontra-Konstruktionen zu betrachten, als ob sie ein neuer Modus konkreter Raumgenerierung seien, weil sie kontrafaktisch mit japanischen Innenräumen assimiliert worden waren.

Bürohaus in Eisenbeton (1923): Zur Bedeutung des Speichers von Andrae Die Relevanz von Vaihingers Philosophie für die Mies’ Entwürfen zugrunde liegenden Innovationschritte konnte nur durch eine Verkürzung greifbar gemacht werden. Die Unterstellung, Mies habe Soeders Linienraster als Glasfassade, die Sonneberger Bahnsteighalle als Empfangszimmer oder eine KontraKonstruktion van Doesburgs als Innenraum „missverstanden“, ist aber für das Verständnis des innovativen Verfahrens der Entwürfe grundlegend – obwohl es im Kern nicht um „Fehlinterpretationen“, sondern um die Frage nach der Rechtfertigung der Entwürfe geht. Die Erkenntnis, dass eine Fiktion nicht verifiziert werden kann, sondern „gerechtfertigt werden“137 muss, weil sie „eine imaginäre Annahme zum Zweck der Bewältigung von selbstgestellten Aufgaben“ sei, hatte Scholz eigens hervorgehoben.138 Aus Mies’ Perspektive war nur die Rechtfertigung maßgeblich. Eine Rechtfertigung der Entwürfe ist jedoch nicht die Intention dieser Untersuchung. Ihr Ziel ist es vielmehr die den Entwürfen zugrunde liegende Technik der Invention in den Umrissen als die einer Modellbildung nachzuzeichnen und in ihrer Entwicklung anzudeuten. Wie effizient Mies die erstmals 1922 angewandte Technik der Modellbildung bald zu handhaben wusste, ließe sich mit dem dritten der modernen Projekte, dem auf der GBK 1923 in einer perspektivischen Ansichtszeichnung vorgestellten Entwurf eines Bürohauses in Eisenbeton abschließend andeuten.139 Denn mit dem Entwurf zu einem Speichergebäude des Dresdner Architekten K. Paul 137 | „Der Verifizierung der Hypothese entspricht nach einem glücklichen Ausdruck Vaihingers die Justifizierung der Fiktion“. Scholz 1921 (Anm. 40), S. 93. 138 | Ibid. 139 | Vgl. Marx; Weber 2008 (Anm. 7), bes. S. 131-133.

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Andrae140 könnte erstmals die ungewohnte Innenraumplanung des Bürohauses und seine durch „radikale Horizontalität“141 gekennzeichnete Form aus der Funktion des Vorbildes als Speicher erklärt werden (Abb. 27, 28).

27 K. Paul Andrae: Speicher, perspektivische Zeichnung, Repr. 1923, Ausschnitt, gespiegelt 28 Ludwig Mies van der Rohe: Bürohaus in Eisenbeton, 1923, Kohlezeichnung, zeitgen. Foto

140 | [Herbert] Conert: Dresdner Baukünstler. In: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 7. Jg., H. 11/12, 1922/23, S. 355-393, hier: Abb. S. 385. 141 | Dietrich Neumann, [Katalogbeitrag] Bürohaus aus Beton. Projekt, Unbekannter Standort, 1923. In: Riley; Bergdoll 2001 (Anm. 2), S. 192.

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Obwohl unklar ist, auf welche Weise Mies diesen Entwurf kennengelernt haben könnte,142 spricht doch einiges für eine Anlehnung, etwa die konsequente, horizontale Ausrichtung des mit Bändern aus kleinteiligen Sprossenfenstern belichteten, ungegliederten Baukörpers, dessen Erschließung durch umlaufende Galerien erfolgen sollte. Auch die Zahl der Geschosse spricht dafür; besonders aber die etagenweise zunehmenden Ausdehnung der Deckenplatten, die auf der Zeichnung des Bürohauses zwar nur zu erschließen, auf dem Foto des verlorenen Modells hingegen deutlich zu sehen ist.143 Andraes Entwurf könnte eine gezielte Neuinterpretation durch Mies erfahren haben, die aufwendiger hätte sein müssen, als die seiner Hochhausentwürfe. Zu nennen wäre die Umwandlung der Sprossenfenster-Reihung in eine durchgehende Verglasung. Mit ihr hätte die Möglichkeit bestanden, die im Erdgeschoss des Speichers angelegte Sichtbarkeit der Stützen im Bürohausentwurf zu einem durchgehend erkennbaren Konstruktionsprinzip eines zweistieligen Rahmens „von 8m Spannweite mit beiderseitigen Konsolauskragungen“ umwandeln, den Mies bekanntlich als ökonomischstes Prinzip zu rechtfertigen versucht hat.144 Der offenen gestaltete Eingangsbereich des Bürohauses, der den Blick auf die Konstruktion freilegt, sowie das „Herauswachsen“ der Stützen aus dem angehobenen Kellergeschoss müssten dann als Zitat der Stützen des Speichers aufgefasst werden. Auch hob Mies in seiner Beschreibung besonders hervor, dass der zweistielige Rahmen eine Deckenplatte tragen sollte, „die, am Ende der Kragarme hochgewinkelt, Außenhaut wird“.145 Diese konstruktive Idee hätte dann auf die Wirkung der umlaufenden Galerien des Speichers mit ihrem schlichten Geländer zurückgehen können. Der Entwurf des Speichers 142 | Das Wasmuth-Heft 11/12 (1922/23) kommt als Quelle für Mies’ Planung wohl nicht in Frage, da die Datierung des mit einem Abbildungsteil zu Gropius’ Werk einführenden Heftes durch die im gleichen Druckprozess hergestellte und durch Widmungsexemplare auf Ende 1923 zeitlich eingegrenzte Monographie Walter Gropius; Adolf Meyer: Walter Gropius mit Adolf Meyer, Weimar, Bauten. Berlin o. D. [1923], festgelegt scheint (freundliche Hinweise Roland Jaeger und Magdalena Droste). Offen ist, ob Mies über persönliche Kontakte zu Conert oder zu Andrae verfügte. Die mit Mies gleichaltrigen Dr. Ing. Herbert Conert (1886-1946), der 1911 in Aachen promoviert wurde, vgl. Herbert Conert: Die sächsischen Terraingesellschaften und ihr Einfluss auf die Stadterweiterung. Dissertation Aachen 1911 (eine Promotionsakte fehlt jedoch, Auskunft RWTH Aachen) u. Karl Paul Andrae (1886-1945) vom Stadtplanungsamt Dresden waren in den dreißiger Jahren ausführende Architekten bei der Neugestaltung des Neustädter Königsufers (1933-36). Mies wurde möglicherweise auf Andraes Arbeiten schon 1919 aufmerksam, vgl. Weber; Marx 2009 (Anm. 22), S. 223-26. 143 | Abbildung in Marx; Weber 2008 (Anm. 7), S. 131. Der Ansichtszeichnung ist die Flächenausdehnung der Deckenplatten im Gesamteindruck kaum anzusehen, aber der zunehmenden Breite der Fenster an der Ecke dennoch zu entnehmen, siehe schon Neumann 1992 (Anm. 17), S. 87. 144 | Mies van der Rohe 1923 (Anm. 46), S. 299. 145 | Ibid.

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wäre demnach in Teilbereiche zerlegt worden, die einer Übersetzung in eine logisch wirkende architektonische Sprache zugänglich gewesen wären. Der innovative Schritt des Bürohausentwurfs hätte schließlich darin bestanden, die konstruktiven und räumlichen Eigenschaften eines Speichers als Eigenschaften eines Bürogebäudes zu sehen und damit einen Speicher zu betrachten als ob er ein Bürogebäude sei. Dass dieser Entwurf eines Bürogebäudes von einem zeitgenössischen Architekten tatsächlich als Lagerspeicher aufgefasst werden konnte, zeigt eine Anfrage des Mannheimer Stadtbaudirektors Gustav Adolf Platz vom Dezember 1925 für die von ihm geplante Publikation Die Baukunst der neuen Zeit. Platz bat um Material zu vier der modernen Projekte, darunter ein „Lagerhaus in Eisenbeton und Glas“, eine Bezeichnung, die Mies handschriftlich in Bürohaus korrigierte.146 Mit dieser Deutung des Bürohauses in Eisenbeton würde eine Weiterentwicklung gegenüber den beiden Hochhausentwürfen sichtbar, in denen Innovationsschritt und Entwurf noch weitgehend identisch waren. Es ließe sich nämlich zwischen grundlegender Innovation, d.h. der modellhaften Übertragung eines Speichers auf eine Bürohauskonzeption und einzelnen, formalen Modernisierungsschritten unterscheiden. Allem Anschein nach hat sich Mies hier die Möglichkeit eröffnet, mit Vaihingers „künstlicher Methode“ die Idee einer Umformung der Architektur aufzugreifen, die von dem holländischen Architekten Hendrik Petrus Berlage noch vor dem 1. Weltkrieg in öffentlichen Vorträgen propagiert worden war.147 Mies’ Wertschätzung für Berlage, den er schon früh in Zusammenhang mit dem Projekt einer Villa für die Familie Kröller kennengelernt hatte, ist bekannt. Sie zeigte sich mitunter als beinahe wörtliche Übernahme von dessen Gedanken,148 und ging bis zur Imitation des Vortragsstils.149 Umso plausibler ist daher, dass Mies’ ab 1923 146 | Aufstellung vom 07.12.1925 zum Brief Gustav Adolf Platz an Ludwig Mies van der Rohe vom 05.12.1925, LoC, Ludwig Mies van der Rohe Papers, Box 1, Folder P. 147 | Vgl. Hendrik Petrus Berlage: Gedanken über den Stil in der Baukunst. Leipzig 1905. Vortrag vom 22. und 23. Januar 1904 vor dem Museumsverein in Krefeld, woraus etliche Formulierungen eingingen in: Hendrik Petrus Berlage: Grundlagen und Entwicklung in der Architektur. Vier Vorträge gehalten im Kunstgewerbemuseum zu Zürich. Berlin 1908. 148 | Wie etwa 1924 die Passage zum überpersönlichen Status epochaler Schöpfungen: „Wer fragt angesichts solcher Bauten nach Namen“. Mies van der Rohe: Baukunst und Zeitwille! In: Der Querschnitt, 1924, H. 4, S. 31-32, hier: S. 31; ein Gedanke, der entweder Berlage 1905 (Anm. 147), S. 48, oder Berlage 1908 (Anm. 147), S. 118, entnommen wurde: „Denn wer fragt schliesslich nach dem ersten Baumeister einer mittelalterlichen Kathedrale.“ Vgl. Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 98. 149 | So ließ Mies eine eigenen Rede in Anlehnung an Berlages Schlusszitat seiner Zürcher Vorträge von 1907 ebenfalls mit einem Zitat Ulrich von Huttens enden, vgl. Berlage 1908 (Anm. 147), S. 120; vgl. Ludwig Mies van der Rohe: Dankrede anlässlich der Verleihung der Goldmedaille des Royal Institute of British Architects, London, Mai 1959, LoC. In: Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 39596, hier: S. 396. Diese Rede berührte auch die Beziehung zwischen Zivilisation und Kultur, für die

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manifeste, antiformalistische Konzeption architektonischer Mannigfaltigkeit im Kern mit Berlages Bestreben nach einer, in Analogie zur Natur grundlegend erneuerten Kultur zusammenhängt.150 Dem eingangs erwähnten, 1964 geführten Interview zufolge will Mies schon 1912 seinen damaligen Arbeitgeber Peter Behrens auf Berlages Bedeutung hingewiesen haben.151 Diese Darstellung ist jedoch unglaubwürdig, da Behrens dessen wegweisende Arbeit auch schon zu diesem Zeitpunkt kaum unterschätzt haben dürfte.152 Wahrscheinlicher ist, dass Mies rückblickend versucht hat, Berlages Bedeutung für die eigene Entwicklung durch die Fiktion einer frühen Parteinahme herunterzuspielen. Berlage verstand nämlich, an Gottfried Semper anknüpfend, Kunst und Architektur als „unendliche Mannigfaltigkeit“ nur „wenige(r) Normalformen und Typen“ so wie die Natur „ihre Entwicklungsgeschichte hat, innerhalb welcher die alten Motive bei jeder Neugestaltung wieder durchblicken“.153 Mit dieser Analogie war jedoch die Einsicht verbunden, dass es innerhalb einer solchen Gesetzmäßigkeit keine rationale Wahl gebe, denn „wie die Natur ihre Urtypen umformt“, so könne man „selbst auch nur die ursprünglichen Kunstformen umformen.“ Neue Typen könne man nicht hervorbringen und wer dies versuche, der werde „unnatürlich, d.h. unwahr“.154 Das bedeute aber nicht, dass man das Formale kopieren solle, denn damit habe man „nichts Besonderes“ getan. „Hat man aber das Formale umgeformt“, so Berlages Folgerung, „dann hat man etwas Originelles zustande gebracht, so wie die Natur, und zwar mit einfachsten Mitteln, dasselbe tut und daher immer originell ist.“155 Unter dieser Bedingung wäre Mies’ Entwurf des Bürohauses originell zu nennen; nicht etwa, weil er einen neuen Typus hervorgebracht, sondern weil er einen alten Typus „mit einfachsten Mitteln“ umgeformt hätte – mit den Mitteln innovativer Modellbildung und einer neuen Formensprache. Die Einbindung von Vaihingers „künstlicher Methode“ in eine Berlage entlehnte, allgemeine Theorie architektonischer UmforMies eine Passage in Berlages Vortrag „Over de waarschynlike ontwikkeling der architectuur“ von 1905 herangezogen haben könnte, der auch wegweisende Gedanken zum Eisenbeton enthielt und in einem Sammelband 1922 neu erschien, siehe Hendrik Petrus Berlage, Studies over bouwkunst, stijl en samenleving. Rotterdam 1910, 2. Aufl. 1922, dt. Übers. des Vortrags: „Über die wahrscheinliche Entwicklung der Architektur“. In: Hendrik Petrus Berlage: Über Architektur und Stil. Aufsätze und Vorträge 1894-1928, hg. von Bernhard Kohlenbach. Basel 1991, S. 79-101. 150 | In Berlages Entwurfspraxis gab es, gemessen an der Theorie, befremdliche kunstgewerbliche Entwürfe für Linoleum, Fayence, Bleiverglasung und Schmuck nach Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, o. J. [1899-1904], auch eines elektrischen Kronleuchters nach der „Natuurvorm“ einer Discomedusae. Ibid., Abb. S. 107. 151 | Interview Ulrich Conrads und Horst Eiffler mit Ludwig Mies van der Rohe: Mies in Berlin, Schallplatte, Bauwelt Archiv 1, 1966. 152 | Auf die Diskrepanz zu Mies’ Darstellung hat Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 96 hingewiesen. 153 | Berlage 1908 (Anm. 147), S. 5. 154 | Ibid., S. 90. 155 | Ibid, S. 92.

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mung hätte dann bedeutet, die Philosophie des Als Ob als wesentlichen Faktor der Erneuerung in die Architektur zu integrieren.

Epilog Um Vaihinger in die philosophische Debatte zurückzubringen wurde darauf verwiesen, wie sehr er die bestimmende Rolle von Modellbildung, Simulation und verwandter konstruktiver Techniken in der Wissenschaft bewusst mache.156 Entsprechend könnte mit dem Nachweis seines Einflusses auf Mies die bestimmende Rolle der Modellbildung auch in der Architektur gezeigt werden. Mies war sich der Notwendigkeit einer totalen Durchdringung seiner Tätigkeit durch diese Methode bewusst. So hielt er 1927, nach der Lektüre von Die Technik und der Mensch mit der Forderung nicht nach „weniger, sondern mehr Technik“, nach mehr Wissenschaft, aber einer, die geistiger und geformter sei,157 für sich fest: „Technik überall, auch im Geistigen“.158

156 | Vgl. Fine 1993 (Anm. 26), S. 35. 157 | Romano Guardini: Die Technik und der Mensch. Briefe vom Comer See, Mainz 1927, Neuauflage 1981, S. 75. Die Erstveröffentlichung erschien als: Romano Guardini: Briefe aus Italien. In: Die Schildgenossen, 1924/25. 158 | Mies van der Rohe: o. T. [Notizheft 1927/28]. In: Neumeyer 1986 (Anm. 4), S. 328-359, hier: S. 330.

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Filmkämpfer Mies Lutz Robbers

1 . Filmisches Wissen und Architektur Anfang 1931 erscheint in der Branchenzeitschrift Film-Kurier ein kurzer Artikel mit der Überschrift „Filmkämpfer von außen“ (Abb. 1). Im einleitenden Satz fragt der anonym bleibende Autor: „Wie Mies van der Rohe zum Film kommt? – Keine schwer zu beantwortende Frage: Als Mensch, der zu den geistigen Dingen der Zeit Stellung nimmt, befasst er sich selbstverständlich auch mit Fragen des Films.“1 Doch klärt der Artikel weder auf, worin das Engagement von Mies für den Film bestand, noch wie es dazu kam, dass sich der Architekt und damalige Bauhausdirektor für den Film interessierte. Und auch heute ist die Annahme einer Affinität zwischen Mies und dem Film alles andere als ‚selbstverständlich‘. Weder die Mies-Forschung, noch jenes von Architekturtheoretikern und Filmwissenschaftlern bearbeitete Forschungsfeld ‚Architektur und Film‘ hat die Frage nach einer möglichen Beziehung zwischen Mies und dem neuen Bildmedium bislang eingehend behandelt.2 Dieses Versäumnis lässt sich vor allem durch die Tatsache erklären, dass sich in seinen Bauten, Zeichnungen und veröffentlichten Schriften keine direkten Bezüge zum Film finden lassen. Obwohl er scheinbar ein regelmäßiger Kinogänger war, baute Mies weder Kinotheater noch Filmkulissen.3 Auch beteiligte er sich nicht an Filmproduktionen oder schrieb-

1 | O.A.: Filmkämpfer von außen. In: Film-Kurier, 1. Januar 1931. 2 | Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Detlef Mertins dar, der Mies’ Beziehungen zu den unterschiedlichen Avantgardeströmungen untersucht hat. Detlef Mertins: Architectures of Becoming: Mies van der Rohe and the Avant-Garde. In: Ausst.-Kat. Museum of Modern Art: Mies in Berlin. Hg. v. Barry Bergdoll; Terence Riley. New York 2001, S. 124-33. 3 | Mies’ Tochter Georgia schreibt in ihrer Biografie, dass sie regelmäßig mit ihrem Vater ins Kino ging. Siehe Georgia van der Rohe: La donna è mobile. Berlin 2002, S. 35, S. 54.

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Drehbücher.4 Genau das taten viele andere Vertreter der Avantgarde in den zwanziger Jahren: Hans Poelzig und Robert Mallet-Stevens entwarfen Filmkulissen; Bruno Taut integrierte Filmprojektoren in einigen seiner Bauten, baute innovative „Tageslichtkinos“, patentierte ein vertikales Kino für liegende Zuschauer und schrieb Drehbücher; Le Corbusier nutzte den Film als Propagandainstrument für die Verbreitung seiner architektonischen und städtebaulichen Ideen.5 Aus dieser Diskrepanz zwischen dem „Filmkämpfer“ Mies und dem vermeintlichen Mangel an Evidenz sollen zwei Fragestellungen entwickelt werden. Erstens ist zu klären, welche konkreten Beziehungen tatsächlich zwischen Mies und dem Film bestanden haben. Besonderes Augenmerk verdient dabei die bislang nur unzureichend untersuchte Verbindung zwischen Mies und den Pionieren des abstrakten Films Hans Richter und Viking Eggeling, die beide maßgeblich für die Gründung der Zeitschrift G: Material zur elementaren Gestaltung im Jahr 1923 verantwortlich waren. Welche Stellung hatte Mies in jenem diskursiven Feld der frühen zwanziger Jahre in Berlin, in dem das Medium Film eine wesentliche Rolle spielte? Und wie lässt sich erklären, dass gerade Mies als einziger Architekt in Verbindung mit jenen Künstlern und Intellektuellen stand, die im kinematographischen Bild fundamental neue Möglichkeiten des Denkens und Gestaltens entdeckten? Zweitens soll die angesprochene Diskrepanz als Anlass genommen werden, um bestimmte Apriori und damit verbundene Beschränkungen kunst- und architekturgeschichtlicher Forschung zu hinterfragen und den intermedialen Charakter architektonischen Wissens zu unterstreichen. Die Nichtberücksichtigung des „Filmkämpfers“ Mies ist exemplarisch für den problematischen Umgang, nicht nur der Geschichtswissenschaften, mit zeitbasierten Bildmedien.6 4 | Die einzige Ausnahme bildet ein 16-mm Filmprojektor, der in der Villa Tugendhat in einem eigens für ihn vorgesehenen Raum neben dem Treppenabgang installiert war. Der Projektor wurde von den Bewohnern des Hauses „Lokomotive“ genannt. Bei Filmvorführungen verwandelte sich der Wohnraum, wie Daniela Hammer-Tugendhat sich erinnert, in einen „Kinosaal“. Siehe Daniela Hammer-Tugendhat: Leben im Haus Tugendhat. In: Ibid.; Wolf Tegethoff (Hg.): Ludwig Mies van der Rohe: Das Haus Tugendhat. Wien 1998, S. 21. 5 | Zum Thema Architektur und Film siehe François Penz; Maureen Thomas (Hg.): Cinema & Architecture: Méliès, Mallet-Stevens, Multimedia. London 1997; Mark Lamster (Hg.): Architecture and Film, New York 2000; Mikhaïl Iampolski: Le cinéma de l‘architecture utopique. In: Iris, Nr. 12, 1991, S. 39-46; Andres Janser: Die bewegliche kinematographische Aufnahme ersetzt beinahe die Führung um und durch einen Bau. Bruno Taut und der Film. In: Winfried Nerdinger (Hg.): Bruno Taut: 1880-1938: Architekt zwischen Tradition und Avantgarde. Mailand 2001, S. 267-274. François Arnault: La cinématographie de l‘œuvre de Le Corbusier. In: Cinémathèque, Nr. 9, 1996, S. 39-55. 6 | Thomas Meder: Die Verdrängung des Films aus der deutschen Kunstwissenschaft 1925-1950. In: Joachim Paech (Hg.): Film, Fernsehen, Video und die Künste: Strategien der Intermedialität. Stuttgart 1994. Siehe auch Horst Bredekamp: A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft. In: Critical Inquiry 29, Nr. 3, 2003, S. 418-28; Marc Ferro: Cinéma et histoire. Paris 1993.

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Die Frage nach der Bedeutung des Films für die Architektur lässt sich nicht auf formanalytische oder ikonologische Beschreibungen von Filmbildinhalten, apparative Erweiterungen des architektonischen Objektes oder pauschale Stilisierungen des Kinos als Chiffre der Moderne reduzieren. Vielmehr verweist schon die Tatsache, dass Mies in den frühen zwanziger Jahren – jener Periode, in der er versuchte „Architektur zu verstehen“7 – die Nähe zu jenen Künstlern suchte, die das Potential des Films gerade nicht in seiner Fähigkeit identifizierten, wirklichkeitsgetreue Abbilder oder spektakuläre Traumbilder zu generieren, sondern die im zeitbasierten Medium Film die Möglichkeit einer grundlegend neuen, abstrakten – wie Hans Richter und Viking Eggeling es formulierten – „universellen Sprache“ erkannten, auf eine bislang unerschlossene Perspektive, die das Kino auf die moderne Architektur eröffnet. Mit dem Film erweiterte sich nicht bloß der Horizont des Sichtbaren, vielmehr nahm das, was denkbar, erfahrbar und letztendlich auch gestaltbar war, neue Formen an. Indem der Film nicht bloß als Repräsentationsmedium, sondern als Dispositiv auftritt, eröffnen sich Fragestellungen, die über das begrenzte Forschungsfeld Architektur/Film hinausgehen. Durch dieses erweiterte Verständnis des Films werden jene für die Architektur konstitutiven Beziehungen zur eigenen Bildlichkeit sichtbar. In anderen Worten, der Fall des „Filmkämpfers“ Mies macht deutlich, dass das Verständnis der Architektur immer an die Erkenntnis ihrer Bilder gebunden ist. Auch wenn es bislang an einer systematischen Untersuchung fehlt, so finden sich in der Mies-Literatur doch einzelne Verweise auf den Film, meist in Form suggestiver Metaphern. So beschreibt Detlef Mertins die Erfahrung des Barcelona-Pavillons als „cinematic poesis“. Genau wie die kinematographische Apparatur mit ihren Möglichkeiten der zeitlichen und räumlichen Manipulation durch Zeitlupen, Zeitraffer, Wiederholung und Montage, sei auch der Pavillon in der Lage, so Mertins, offenbarende Momente im Alltäglichen zu generieren.8 Spyros Papapetros wiederum deutet das Glashochhaus Modell von Mies als „an early cinematographic machine, creatively engineered for the projection of other architectures.“9 Bezüglich der konkreten Beziehungen und möglichen theoretischen Interferenzen zwischen Mies und den Filmmachern Richter und Eggeling belässt es die Literatur bei meist oberflächlichen Aussagen. Philip Johnson macht beispielsweise einen formalen Vergleich zwischen dem geschwungenen Grundriss des Glashochhauses und „certain abstract filmdesigns

7 | Mies zit. in Peter Blake: A Conversation with Mies. In: School of Architecture, New York (Hg.): Four Great Makers of Modern Architecture: Gropius, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Wright. New York 1970, S. 101. 8 | Mertins 2001 (Anm. 2), S. 133. 9 | Spyros Papapetros: Malicious Houses: Animation, Animism, Animosity in German Architecture and Film–From Mies to Murnau. In: Grey Room, Nr. 20 (2005), S. 27.

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of Viking Eggeling.“10 Reyner Banham wiederum schreibt, ohne genauer ins Detail zu gehen, dass die Filme von Richter und Eggelings „would obviously appeal“, weil Abstraktion und das Raum-Zeit-Thema bei den Avantgarden beliebt gewesen seien.11 Auch Bruno Reichlin verbleibt im Allgemeinen wenn er schreibt, dass die „Raum-Zeit-Effekte“ der abstrakten Filme von Richter „sicherlich in der Lage [waren], die Phantasie eines Architekten zu beflügeln.“12 Manfredo Tafuri und Francesco Dal Co gehen einen Schritt weiter und setzen Mies’ Nähe zur Avantgarde in direkte Beziehung zum Film. In den frühen zwanziger Jahren habe

1 Film-Kurier, 1. Januar 1931

10 | Philip Johnson: Mies van der Rohe. New York 1947, S. 26: „The prismatic plan of the first is rather Expressionistic in its oblique angles, whereas the second plan has a free curvilinear form of astonishing originality. The form bears some resemblance to certain abstract film designs of Viking Eggeling and to the biomorphic shapes of the painter Jean (Hans) Arp“. 11 | Reyner Banham: Theory and Design in the First Machine Age. London 1960, S. 187. 12 | Bruno Reichlin: Mies’ Raumgestaltung: Vermutungen zu einer Genealogie und Inspirationsquellen. In: Adolph Stiller (Hg.): Das Haus Tugendhat: Ludwig Mies van der Rohe – Brünn 1930. Salzburg 1999, S. 59.

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Mies zwar „die Lektion der elementaren Erfahrung“ übernommen, sein „Gespräch“ mit der Avantgarde sei jedoch auf den Zeitraum seiner Mitarbeit in der Zeitschrift G (1923-1924) beschränkt gewesen. Und auch sei seine Architektur dabei nicht jener Entwicklung gefolgt, die die Filme von Walter Ruttmann in der Folge nahmen.13 Mit Verweis auf die Mies’sche Glasarchitektur argumentieren sie, dass „Verzerrung eine Form des Dialogs, eine Technik der Avantgarde“ sei – genau wie Eggelings Film Diagonal Symphonie, der aus „Deformationen und Trennungen“ bestehe.14 Alle diese Referenzen zum Film bleiben jedoch auf der Ebene suggestiver Andeutungen, die sowohl eine genauere historische als auch eine theoretische Verortung des Mediums Film in Mies’ architektonischem Denken schuldig bleiben. Dazu benötigt es einer Analyse jener Diskursfelder in denen er sich in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre bewegte und selbst als Akteur auftrat. Erst dann lassen sich Aussagen über die mediale Verfasstheit der Mies’schen Architektur ableiten und alternative Perspektiven auf die Moderne entwickeln.

2 . Liga für unabhängigen Film In welchem konkreten Kontext steht der „Filmkämpfer“- Artikel von 1931? Sehr wahrscheinlich bezieht er sich auf Veranstaltungen, die Ende 1930 von der „Deutschen Liga für unabhängigen Film“ organisiert wurden. Die erste konstituierende Sitzung der als deutscher Ableger der 1929 in La Sarraz gegründeten „Internationalen Liga für unabhängigen Film“15 fand am 16. November 1930 im Veranstaltungssaal und Filmtheater „Rote Mühle“ in Berlin-Halensee statt.16 Neben Stellungnahmen von Hans Richter, der das Publikum aufforderte, sich gegen den „Film-Kitsch“ zu wenden sowie Bertold Brecht und Kurt Weill, die die Methoden der kapitalistischen Filmindustrie kritisierten, wurden folgende Filme gezeigt: Erde von Alexandre Dowschenko (1930), Étoile de mer von

13 | Manfredo Tafuri; Francesco Dal Co: Modern Architecture. Bd. 1. London 1986, S. 132. 14 | Ibid. 15 | Der erste Congrès international du cinéma indépendant fand vom 3.-7. September 1929 im Schloss von Hélène de Mandrot in La Sarraz statt, ein Jahr nachdem dort das erste CIAM Treffen abgehalten wurde. Zu den Teilnehmern gehörten neben Filmemachern (u.a. Sergej Eisenstein, Hans Richter, Walter Ruttmann und Albero Cavalcanti) auch Kritiker wie Béla Balázs und der Architekt Alberto Sartoris. Siehe Antoine Baudin: Hélène de Mandrot et la Maison des Artistes de La Sarraz. Lausanne 1998. 16 | Die ‚Rote Mühle‘ hatte ungefähr 800 Plätze und befand sich in direkter Nachbarschaft zum berühmten ‚Lunapark‘ in Berlin-Halensee.

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Man Ray (1928) sowie Wsewolod Pudowkins Dokumentation über Pavlovs physiologisches Labor Mechanik des Gehirns (1925).17 Wenngleich nicht feststeht, ob Mies die Veranstaltung besuchte, so gilt es als sicher, dass er während ihrer Gründungsphase im Jahr 1930 aktiv an der Liga beteiligt war. Im Juli 1930 wird er Vorstandsmitglied und auf einem Pamphlet aus dieser Zeit erscheint sein Name als Mitglied der „Zentrale“ (Abb. 2). Unter dem Titel „Filmfreunde!“ kritisiert das Flugblatt, dass „die Fabrikation von Kitsch“ anstelle der Filmkunst getreten sei und der „technische Fortschritt [...] zur Reproduktion wesensfremder Schaubunden-Erzeugnisse mißbraucht“ werde.18 Neben Mies gehörten weitere Persönlichkeiten zu den Unterzeichnern des Pamphlets, die alle direkt oder indirekt mit dem Film in Verbindung standen: Die Filmemacher Hans Richter und Walter Ruttmann, der ehemalige Mitarbeiter der Zeitschrift G Werner Graeff, die Schauspielerin Asta Nielsen, die Pionierin des Animationsfilm Lotte Reininger, der Dokumentarfilmer Carl Junghans, der Schriftsteller Arthur Holitscher,19 der Gallerist Karl Nierendorf, der Komponist Paul Hindemith, der Theaterkritiker Herbert Ihering, der Herausgeber der Branchenzeitung Film-Kurier Hans Feld und der Rechtsanwalt Otto Blumenthal. Es ist anzunehmen, dass das Engagement von Mies über die rein repräsentative Unterstützung der Liga hinausging. Aus seinem Schriftverkehr mit Blumenthal im Juli 1930 geht hervor, dass Mies aktiv an der Formulierung des Pamphlets beteiligt war.20 Und tatsächlich erinnern Wendungen wie „Für den künstlerischen, unabhängigen Film als Ausdruck der Zeit“ oder die Betonung der „Gestaltung der Wirklichkeit“ an Ausdruckweisen, die sich bereits in Mies’ 17 | L.H.E.: Film Kritik. 1. Matinee der Liga für unabhängigen Film. In: Film-Kurier, Jg. 12, Nr. 272, 17.11.1930. Hinter dem Kürzel L.H.E. verbirgt sich sehr wahrscheinlich Lotte Eisner, ehemalige Wölfflin Schülerin und spätere Filmwissenschaftlerin. Auf einem Programmblatt der ersten Veranstaltung der Liga, das im Mies van der Rohe Archiv in der Library of Congress zu finden ist, sind noch eine Reihe von anderen Filmen von u.a. Méliès, Ivens, Richter, Wertow, Cavalcanti, Eggeling gelistet, von denen einige in den darauf folgenden Veranstaltungen gezeigt wurden. 18 | Siehe das Pamphlet „Filmkämpfer“, o.D., Archiv, Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin. 19 | Holitscher war als Reiseschriftsteller bekannt und veröffentlichte 1911/12 den außerordentlich erfolgreichen Reisebericht „Amerika heute und morgen“ in der Neuen Rundschau. 1912 erschien der Text in Buchform. Besonders interessant sind seine Beschreibungen der New Yorker Wolkenkratzer, die Mies’ spätere Hochhausentwürfe zu antizipieren scheinen. Während er die Skyline als unwirklich bezeichnet, als „dünne Kulisse mit nichts dahinter, wahrhaftig“, begeistert er sich für das „Eisengerüst“ des sich gerade im Bau befindlichen Municipal Buildings: „Das Gerüst ist schön und das Fertige ist häßlich. Das heißt die Energie, die unter diesen Ungetümen steckt, geht mich näher an, als die Resultate, die sie hervorgebracht hat.“ Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen. Berlin 1919, S. 39, S. 41. 20 | In einem Brief vom 22. Juli 1930 erkundigt sich Blumenthal bei Mies, ob der Text des Pamphlets nun seinen Wünschen entspreche. The Papers of Mies van der Rohe, Library of Congress, Washington D.C., Box 2, Folder R.

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ersten Veröffentlichungen in den frühen zwanziger Jahren finden lassen. Aktiv beteiligte er sich an der Propagierung der Liga. Im November 1930 schickte Mies beispielsweise Informationen über die Liga an Gustav Stotz, Organisator der Werkbundausstellungen Die Wohnung (1927) und Foto und Film (1929).21 In den Unterlagen des Mies-Archivs findet sich ein Bericht über ein weiteres Treffen der Liga am 20. November 1930, der eine Liste mit Namen von Personen enthält, die entweder anwesend waren oder die als mögliche Mitglieder betrachtet wurden. Scheinbar ist die Liste von Mies selbst verfasst worden, da die genannten Personen alle in direkter Beziehung zu ihm standen: Dr. Wolfgang Bruhn (Kunsthistoriker und Bruder von Mies’ Ehefrau Ada Bruhn), Emil Nolde (den Mies bereits 1911 oder 1912 in Dresden-Hellerau kennengelernt hatte), der Kunsthändler Hugo Perls (für den Mies 1911 ein Haus entworfen hatte) sowie Bruno und Max Taut. In den beiden folgenden Jahren blieb Mies Mitglied der Liga, doch scheint seine aktive Beteiligung abgenommen zu haben.22 Gleichwohl erkundigte er sich noch Ende 1931 bei „den Düsseldorfer Herren wegen des Stahlfilms“ – gemeint ist sehr wahrscheinlich der Film Ein Riese aus Stahl (Originaltitel des Dokumentarfilms Making of a Skyscraper (Steel) aus dem Jahr 1930, der den Bau des Empire State Buildings zeigt), der im Rahmen einer Veranstaltung der Liga zum Architekturfilm unter dem Titel „Neues Wohnen – Neues Bauen“ gezeigt wurde.23 Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten scheint das Interesse von Mies am Film weiter bestanden zu haben. Im Dezember 1934 wurde Mies vom Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste in München zu einem Diskussionsabend mit Filmschaffenden eingeladen. Als einer der Programmpunkte war das Thema „Architektur und Film“ vermerkt. Mies nahm die Einladung dankend an.24

21 | Siehe Brief von Mies an Stotz, 27. November 1930. Mies van der Rohe: Research Papers, Documents and Tape Recordings Related to Mies van der Rohe and the Establishment of the Museum of Modern Art‘s Mies van der Rohe Archive, compiled by Ludwig Glaeser. Canadian Center of Architecture (CCA), Montreal. 22 | Im Mies-Archiv findet sich ein Brief, in dem der ungenannt bleibende Verfasser sich darüber beschwert, dass der gesamte Vorstand der Liga das Interesse an der Liga vermissen lässt. 23 | Die Veranstaltung Neues Wohnen – Neues Bauen fand am 31. Januar 1932 im Kino ‚Alhambra‘ in Berlin statt. Gezeigt wurden: Wo wohnen alte Leute von Ella Bergmann-Michel (1931), Die neue Wohnung von Hans Richter (1931), Hier wird gebaut (Animationsfilm). Eine Einladung zu dieser Veranstaltung findet sich im Mies Archive, Library of Congress, Box 2, Folder S. 24 | „Ich bin gern bereit daran teilzunehmen und erwarte noch die Angabe des genauen Termins. Heil Hitler.“ Brief von Mies an den Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, 18. Dezember 1934. The Papers of Mies van der Rohe, Library of Congress, Box 1, Folder R.

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2 Pamphlet, Deutsche Liga für unabhängigen Film, ca. 1930

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Bemerkenswert ist im Zusammenhang seiner Mitarbeit in der Liga für den unabhängigen Film ein Schreiben des Grafikers Paul Renner vom September 1930. Renner, bekannt als Gestalter des Schrifttyps Futura, beschwerte sich im Namen des Münchner Ablegers der Film-Liga bei Mies, dass man „in München überhaupt nichts mehr von der deutschen Liga“ höre.25 Interessanterweise regt Renner, wie Mies Mitglied im Vorstand des Werkbunds, in seinem Brief die Gründung einer von „Krakauer [sic] geleiteten und von Reckendorf verlegten kleinen billigen Wochen- oder Monatszeitschrift“ an. Zweifelslos meint er hier den Feuilletonisten und späteren Filmwissenschaftler Siegfried Kracauer. Dieser hatte 1926 in der Frankfurter Zeitung von der Jahresversammlung des Werkbundes in Essen berichtet und in diesem Artikel besonders die Wahl von Mies zum zweiten Vorsitzenden positiv hervorgehoben.26 Als Sonderkorrespondent reiste Kracauer 1927 zur Werkbund-Ausstellung Die Wohnung in Stuttgart. In einem ersten kurzen Beitrag zitiert er aus der Eröffnungsrede von Mies, der als künstlerischer Leiter fungierte. Er betont dessen Grundverständnis moderner Architektur: Rationalisierung und Typisierung seien nur „Mittel zum Zweck“ und letztendlich gehe es um die „Herausbildung neuer Lebensformen.“27 In der kurz darauf erschienenen ausführlichen Rezension der Ausstellung zeigt sich Kracauer, der zu diesem Zeitpunkt der modernen Architektur skeptisch gegenüberstand, tief beeindruckt vom „merkwürdigen“ Glasraum von Mies und Lilly Reich, den er als entkörperlichenden, enigmatischen Vorboten einer vollkommen neuen Architektur beschreibt. Dieser kinematische Raum, der aus sich selbst Bilder und Lichtreflexionen produziere, besitze eine eigene magische Handlungsmacht und zeige, dass die funktionale Architektur „nicht die letzte Erfüllung bedeutet“. Tatsächlich eröffne der Glasraum, indem der Besucher hier „die Trauer“ über den Verzicht auf jegliche Dekoration und „Restkompositionen“ der gegenwärtigen Gesellschaft verspürt, die Möglichkeit eines messianisch konnotierten „Durchgangs zu einer Fülle, die keiner Abzüge mehr bedarf und heute nur negativ durch die Trauer bezeugt werden kann.“28 Diese positive Beschreibung des Glasraums als potentiell erlösende Erfahrung ist umso 25 | Brief von Paul Renner an Mies, 19. September 1930. The Papers of Mies van der Rohe, Library of Congress, Washington D.C., Box 2, Folder R. 26 | Siegfried Kracauer: Der Deutsche Werkbund. Rhein-Ruhr Tagung. In: Frankfurter Zeitung, 27.6.1926. 27 | Siegfried Kracauer: Werkbundausstellung: „Die Wohnung“. Die Eröffnung. Frankfurter Zeitung, 24.7.1927. In den undatierten Vortragsnotizen von Mies finden sich jene Wendungen wieder, die Kracauer in seinem Artikel benutzt: „Von einer neuen Baukunst wird erst dann die Rede sein können, wenn neue Lebensformen sich gebildet haben.“ Mies zitiert in Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe: Das kunstlose Wort. Berlin 1986, S. 330. 28 | „In der Hallen-Ausstellung befindet sich ein merkwürdiger von Mies van der Rohe und Lilly Reich erdachter Raum. Seine Wände sind aus milchigen und dunkelfarbigen Glasplatten zusammengesetzt. Ein Glaskasten, durchscheinend, die Nachbarräume dringen herein. Jedes Gerät

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bemerkenswerter wenn man bedenkt, dass der gelernte Architekt Kracauer sich in den frühen zwanziger Jahren von seinem „Brotberuf“29 abgewendet hatte, weil er gerade in der Architektur das Potential vermisste, jenen die gesellschaftliche Realität offenlegenden „Zeitzauber“ zu entfachen, den er in den Oberflächenphänomenen und Raumbildern der Weimarer Massenkultur ausmachte.30

3 . Absoluter Film Die Antwort auf die einführende Frage – wie Mies zum Film kam – findet sich jedoch nicht in den frühen dreißiger Jahren, sondern in früheren Perioden seiner Karriere. Sein Engagement für die Liga für den unabhängigen Film steht in direkter Beziehung zu seinen Verwicklungen mit dem abstrakten Film in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre. Von zentraler Bedeutung erscheint dabei seine Bekanntschaft mit dem Begründer des abstrakten Films Hans Richter. Ihr erstes Zusammentreffen hatte sehr wahrscheinlich im Jahr 1921 auf Vermittlung von Theo van Doesburg in der Wohnung von Mies Am Karlsbad 24 stattgefunden. In seinen Erinnerungen schildert Richter die Begegnung als unerwartete Offenbarung:

und jede Bewegung in ihnen zaubert Schattenspiele auf die Wand, körperlose Silhouetten, die durch die Luft schweben und sich mit den Spiegelbildern aus dem Glasraum selber vermischen. Die Beschwörung dieses ungreifbaren gläsernen Spuks, der sich kaleidoskopartig wandelt wie die Lichtreflexe, ist ein Zeichen dafür, daß das neue Wohnhaus nicht eine letzte Erfüllung bedeutet. […] Wahrscheinlich sind die neuen Häuser ihrem Gehalt nach Reste, das heißt, zeitgemäße konstruktive Fügungen der von schlechtem Überfluß gereinigten Elemente; und gewiß sind diese Restkompositionen allein in der gegenwärtigen Gesellschaft zu verantworten. Aber es wäre gut, wenn aus ihnen mehr noch, als es heute geschieht, die Trauer über die Entsagung spräche, die sie üben müssen; jene skurrile Trauer, die an den in die Glasfläche gebrannten Erscheinungen haftet. Denn die Hausgerippe sind sich nicht Selbstzweck, sondern der notwendige Durchgang zu einer Fülle, die keiner Abzüge mehr bedarf und heute nur negativ durch die Trauer bezeugt werden kann. Sie werden erst Fleisch ansetzen, wenn der Mensch aus dem Glas steigt.“ Siegfried Kracauer: Das Neue Bauen. Zur Stuttgarter Werkbund Ausstellung „Die Wohnung“. In: Frankfurter Zeitung, 31.7.1927. 29 | Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist: Über Siegfried Kracauer. In: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1965, S. 85. 30 | Siehe Gerwin Zohlen: Schmugglerpfad: Siegfried Kracauer, Architekt und Schriftsteller. In: Michael Kessler; Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer: Neue Interpretationen. Tübingen 1990, S. 325-334. Von den ungefähr zweitausend Artikeln, die Kracauer bis 1933 verfasste – Filmkritiken, Buchrezensionen, politische Kommentare, Reisebeschreibungen, feuilletonistische Essays – finden sich nur wenige Architekturkritiken. In diesen nimmt Kracauer eine distanziert kritische Position zur modernen Architektur ein.

F ILMKÄMPFER M IES Ich hatte Mies durch Doesburg kennengelernt, als Doesburg während der Goldwertsuche in der Uhlandstraße bei mir wohnte. Er forderte mich eines Tages auf, mit ihm zu einem jungen Architekten zu gehen, den er gerade kennengelernt hatte. Ich versicherte ihm, daß mich Architekten und Architektur nicht besonders interessieren. Mein Vater hatte lange Zeit auf einen ordentlichen Beruf [den des Architekten] für mich bestanden… ehe ich Maler wurde. Ich sei daher noch immer allergisch gegen dieses Gebiet. ‚Aber die Pläne seiner Häuser ähneln den Zeichnungen von Mondrian oder deinen eigenen aus deiner Präludiumrolle‘, verführte mich Doesburg. Das war natürlich etwas anderes. So ging ich also mit Doesburg zu dem jungen Architekten, der Mies van der Rohe hieß und in der feinsten Gegend des Alten Westen von Berlin, Am Karlsbad 24 wohnte. Die Grundrisse und Pläne [eines Hauses, das er gerade in Neu-Babelsberg baute] sahen in der Tat nicht nur aus wie Mondrians oder meine Zeichnungen, sondern wie Musik, eben jene visuelle Musik, von der wir sprachen, über die wir diskutierten, an der wir arbeiteten und die wir im Film realisierten. Das war nicht nur ein Grundriß, das war eine neue Sprache, eben jene, die unsere Generation zu verbinden schien. 31

Es ist nicht zu rekonstruieren, welchen Grundriss Richter im Atelier von Mies tatsächlich zu sehen bekam. Von den bekannten Projekten kommen das Haus Petermann (1921) und das Haus Lessing (1923) infrage (Abb. 3), deren Grundrisse aus L-förmigen und rechteckig-orthogonalen Elementen bestehen und damit Ähnlichkeiten mit den Rollenbildzeichnungen aufweisen, die Richter und Eggeling zu jener Zeit als Vorstudien für spätere Filme produzierten. Mit dieser Ähnlichkeit zwischen den Grundrissen von Mies und beispielsweise Richters serieller Zeichnung Präludium (1919, Abb. 4) ist jedoch nicht eine formale Entsprechung zweier starrer Bilder gemeint. Vielmehr ist Richters Zeichnung als Momentaufnahme eines Vorgangs zu betrachten, der in Bewegung gedacht werden muss. Die Ähnlichkeit erschließt sich somit erst in der Betrachtung in der Dauer. Es ist bemerkenswert, dass Richter die Beziehung zwischen seinen Filmexperimenten und dem Film nicht im Sinne des Paragone-Modells herleitet. Weder der Film noch die Architektur erscheinen hier als Leitkunst. Auch fungieren weder Film noch Architektur als Gesamtkunstwerk. Tatsächlich gehörte die strikte Trennung „der verschiedenen Gebiete des Gestaltens“ zu den Prämissen jener Gruppe von Künstlern, die sich um die Zeitschrift G: Material zur elementaren Gestaltung versammelten, wie Theo van Doesburg in seinem programmatischen Artikel in der ersten Ausgabe von G betont.32 31 | Hans Richter: Köpfe und Hinterköpfe. Zürich 1967, S. 9. 32 | Theo van Doesburg betont die Notwendigkeit einer scharfen Trennung der gestaltenden Künste, um „aus dem Chaos eine Ordnung zu schaffen und die elementaren Gestaltungsmittel kennen zu lernen.“ Ibid.: Zur elementaren Gestaltung. In: G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1 (1923), o.S.

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3 Ludwig Mies van der Rohe: Grundriss Haus Lessing, 1923

4 Hans Richter: Präludium, Zeichnungen, 1919

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Sowohl der Film als auch die Architektur erscheinen als zwei unabhängige Ausdrucksformen eines „Zeitwillens“ – um einen Ausdruck von Mies zu verwenden, der sich in einer neuen, verschiedene Formen annehmenden Sprache manifestierte. Richter und Eggeling hatten bereits 1919 angefangen, mittels sequentieller Formkompositionen ein visuelles Zeichensystem zu entwerfen, das sich an abstrakten, kontrapunktischen Musikkompositionen orientierte. Diese „universelle Sprache“ bestand nicht aus symbolischen Zeichen, sondern aus sich in der Zeit entwickelnden Sequenzen abstrakter „Kontrast-Analogien“. Die Intention war, dass der Betrachter das Dargestellte nicht als statisches Objekt oder Tatsache wahrnimmt, sondern als einen sich in der Zeit entfaltenden Prozess rhythmisch-dynamischer Beziehungen. Dabei fungiert die Polarität, wie Richter in seinem 1921 erschienen Artikel Prinzipielles zur Bewegungskunst schreibt, „als generelles Lebensprinzip“, dem sich die verschiedenen Künste gleichermaßen zu unterwerfen haben.33 Sinnhafte Präsenz solle erzeugt werden – und zwar im „Vorgang selbst“. Der Film, aber auch die Architektur oder andere Formen elementarer Gestaltung, machen ein „reines Material“ als „Spannung und Auflösung“ erfahrbar, dessen Sinn, „weil alle materiellen Vergleiche und Erinnerungen wegfallen, elementar-magisch ist.“34 Jene neue Sprache, die er in den Plänen von Mies wiedererkannte, basiert auf der Annahme eines prälinguistischen Ur-Zustandes. Tatsächlich ist Richter nicht der einzige, der zu dieser Zeit den Versuch unternimmt, nach neuen Sprachformen zu suchen, die in der Lage sind, Verbindungen zwischen der Welt der modernen Technologie und einem magischen, prälinguistischen Urgrund herzuleiten. Walter Benjamin, der 1924 für die dritte Ausgabe von G die Übersetzung eines Artikels von Tristan Tzara beigesteuert hat, beschäftigte sich in seiner Trauerspiel-Arbeit (begonnen 1923/24) eingehend mit sprachlichen Figuren, die sich von Bedeutung generierenden Strukturen emanzipiert haben. Ihn interessieren Sprachfragmente, die nicht mehr der „bloßen Mitteilung“ dienen, sondern als „neugeborener Gegenstand“ die Macht von „Naturgestalten“ erlangen.35 Dabei zitiert Benjamin den Physiker und Philosophen der Frühromantik Johann Wilhelm Ritter, der die „Ur- oder Naturschrift auf electrischem Wege wiederfinden oder doch suchen“ wollte.36 In Ritters allegorischer Anschauung findet Benjamin die Bestätigung für seine These, dass die Welt durch das Wort geschaffen ist und dass selbst das Bild weniger Abbild eines Realen als vielmehr 33 | Hans Richter: Prinzipielles zur Bewegungskunst. In: De Stijl, Jg. 4, Nr. 7 (1921), S. 110. 34 | Ibid., S. 109. 35 | Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Frankfurt a. M. 1974, S. 382. 36 | Ritter zitiert in Ibid. S. 388. Benjamin führt auch jene Passagen aus Ritters „Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur“ (1810) an, in der letzterer alle bildenden Künste „Architectur, Plastik, Malerey, u.s.w.“ als „Schift“ bezeichnet.

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„Schriftbild“ sei, „nur Signatur, nur Monogramm des Wesens, nicht das Wesen in seiner Hülle“.37 Die Grundrisse und Pläne, die Richter im Atelier von Mies entdeckte, sind genau wie seine eigenen Rollenbilder und Filme nicht als Repräsentation einer projizierten Wirklichkeit zu verstehen, sondern als elementar-magische Bilder, die mittels der Technik den Zugang zu einer den Begriffen und Bedeutungen vorgelagerten „Urzone der Gestaltung“ ermöglichen.38 Richter war sich sehr früh dieser notwendigen Differenzierung bewusst. Schon 1925 warnt er vor einem möglichen Missverstehen der Mies’schen Zeichnungen. In seinem Artikel Der neue Baumeister versieht er den Grundriss des Landhauses aus Backstein (1923) mit einer Bildunterschrift, die den Betrachter ermahnt, dass die Zeichnung „keine mathematische Abstraktion“, sondern „sinnlich lesbar“ sei.39 In anderen Worten, der Grundriss solle gerade nicht als technisches Bild verstanden werden, das dem Betrachter mittels projektiv-geometrischer Prozesse erlaubt, ein dreidimensionales Gebäude zu (re-)konstruieren. Vielmehr stehen die Zeichnungen von Mies im Einklang mit neuen perzeptiven und kognitiven Praktiken, die „in einem Strom von Bewegung, Lärm und Licht, den es vor 20 Jahren noch nicht gab“, entstanden seien.40 Der neue Baumeister habe mit einer „neuen Sinnlichkeit zu rechnen (er hat sie zu besitzen).“ Und Mies sei genau dieser neue Baumeister, dessen prinzipielle Fertigkeit weniger in der Projektierung materieller Welten besteht, sondern vielmehr in der Schaffung von „Körpern“, wie Richter sich ausdrückt, die die gegenwärtigen technischen und geistigen Bedingungen von ihm verlangen.41 Diese erste Begegnung zwischen Richter und Mies blieb nicht ohne Folgen. Mies beteiligte sich von Beginn an aktiv an der von Richter gegründeten Zeitschrift G – Material zur elementaren Gestaltung (1923-1926). Neben Richter, Werner Graeff, Theo van Doesburg und El Lissitzky gehörte Mies, als einziger Architekt, zum inneren Kreis der sogenannten „G-Gruppe“ – und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt lediglich einen Artikel in Bruno Tauts Frühlicht (Hochhäuser, 1922) veröffentlicht hatte und sich auch sonst nicht als Mitglied einer bestimmten Bewegung hervorgetan hatte.42 Es mag folglich überraschen, dass Richter ihn als „Hauptmitarbeiter“ bezeichnete, der die Zeitschrift „wesentlich 37 | Ibid. 38 | Siehe Siegfried Ebeling: Der Raum als Membran. Dessau 1926, S.24. Das von lebensphilosophischen und biologischen Einflüssen geprägte Werk ist der Versuch einer fundamentalen Neudefinition der Architektur und findet sich in Mies’ privater Bibliothek. 39 | Hans Richter: Der neue Baumeister. In: Qualität, Bd. 4, Nr. 1/2 (1925), S. 7. 40 | Ibid., S. 8. 41 | Ibid. 42 | Richter zitiert in Raoul Hausmann: More on Group ‚G‘. In: Art Journal, Bd. 24, Nr. 4 (1965), S. 352. Da die ‚G-Gruppe‘ sich als informeller Zusammenschluss verschiedener Künstler, Schriftsteller und Intellektueller um die Zeitschrift G herum verstand, existieren unterschiedliche Anga-

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beeinflusste“.43 Nicht nur seine insgesamt drei Artikel (Bürohaus; Bauen; Industrielles Bauen) und das berühmte Titelblatt der dritten Ausgabe mit dem roten, zur Seite gekippten Buchstaben G, der vor einer abstrakten Kohlestiftzeichung eines Hochhauses erscheint, sind Belege für Mies’ aktive Beteiligung. Tatsächlich zeigt er sich als energischer Verteidiger der programmatischen Ausrichtung von G: Nach der Rückkehr von seinem Besuch der Bauhausausstellung 1923 schreibt Mies einen Brief an den Altonaer Baurat Werner Jakstein, in dem er den „wüsten konstruktivistischen Formalismus“ und „künstlerischen Nebel“ beklagt, mit dem er in Weimar konfrontiert wurde. Diese Erfahrung habe ihn veranlasst, bei der nächsten Besprechung der „G-Leute“ seinen Standpunkt klar zu machen und die Bekenntnis einzuholen, „wer zu uns halten kann, und wer nicht,“ um dann „ein genaues Aktionsprogramm aufzustellen.“44 Es ist wichtig zu betonen, dass G nicht bloß als eine weitere konstruktivistische Avantgardezeitschrift bezeichnet werden kann, wie sie in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre in verschiedenen europäischen Metropolen entstanden – beispielsweise MA, Vesc‘ Objet Gegenstand oder Devětsil. Vielmehr ist G untrennbar mit dem Medium Film verbunden. Tatsächlich war die Zeitschrift ein Substitut für ein aufgrund finanzieller und technischer Schwierigkeiten nicht realisiertes Filmprojekt, an dem Richter und Eggeling seit 1920 arbeiteten. Van Doesburg sei es gewesen, so erinnert sich Richter später, der ihm den Vorschlag machte, das für die Filmherstellung vorgesehene Geld in die Produktion einer Zeitschrift zu investieren.45 Es ist daher kaum verwunderlich, dass der Film von zentraler Bedeutung für G war. Viele Autoren der ersten Ausgabe (mit Ausnahme von Mies) hatten sich bereits zuvor mit Fragen des bewegten Bildes auseinandergesetzt. Van Doesburg unterstreicht schon 1917 begeistert die Beziehung zwischen dem kinematographischen Film und der „Vierten Dimension.“46 Von 1921 an, nachdem er die Bekanntschaft mit Richter gemacht hatte, beginnt er über die Möglichkeit einer vom Film geschaffenen „Licht- und Zeit-Architektur“ zu reflektieren – die er 1928 mit dem Ciné-dancing Saal der Aubette in Straßburg zu verwirklichen versuchte.47 Werner Graeff veröffentlicht 1923 die Filmpartitur, eine visuelle Notation abstrakter Formen, die „den Zuschauern wuchtige Eindrücke von fast ben über deren exakte Zusammensetzung. Siehe Werner Graeff: Über die sogenannte ‚G-Gruppe‘. In: werk und zeit, Nr. 11 (1962), S. 5; Richter 1967, S. 69. 43 | Hans Richter: Begegnungen von Dada bis heute. Köln 1973, S. 54. 44 | Ludwig Mies van der Rohe: Brief an Werner Jakstein, 13. September 1923. Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. 45 | Richter 1973 (Anm. 43), S. 189. 46 | Theo van Doesburg zitiert in Tom Gunning: Modernity and Cinema: A Culture of Shock and Flows. In: Pomerance Murray (Hg.): Cinema and Modernity. New Brunswick 2006, S. 297. 47 | Theo van Doesburg: Abstracte Filmbeelding. In: De Stijl, Bd. 4, Nr. 5 (1921), S. 71-75. Ders.: Licht- en Tijdbeelding (Film). In: De Stijl, Bd. 6, Nr. 5 (1923), S. 62.

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körperlicher Wirkung“ geben sollten (Abb. 5).48 Und Raoul Hausmann hatte schon 1921 erklärt: „Unsere Kunst ist heute schon der Film! Zugleich Vorgang, Plastik und Bild!“49 In der ersten Ausgabe von G ist der Film sowohl auf inhaltlicher als auch auf visueller Ebene präsent (Abb. 6). In seinem Beitrag Vom sprechenden Film zur Optophonetik, der mit einem Filmstreifen illustriert ist, fordert Hausmann eine neue kinetische „Formverbindlichkeit.“50 El Lissitzky präsentiert seinen „parakinematischen“51 Prounenraum, der 1923 auf der Großen Berliner Kunstausstellung zu sehen war, mittels dreier Fotografien, die wie ein Storyboard eines Films die zeitliche Erfahrung der Raumbegehung simulieren. Zudem schlägt Lissitzky im Text selbst vor, eine „periskopische Vorrichtung“ mit einer Glasscheibe im Innern des Prounenraums zu verbinden, auf der „in jedem Augenblick die wirklichen Vorgänge in ihrer wirklichen Farbe und realen Bewegung“ gezeigt werden.52 Richters Beitrag wird illustriert von einem Filmstreifen, der Momente aus seinem Film Rhythmus 21 zeigt. Dieser verläuft entlang der Oberkante der gesamten inneren Doppelseite und bildet damit so etwas wie einen visuellen Rahmen. Der Text selbst liest sich als Versuch einer Neudefinition des Films und gleichzeitig als programmatisches Manifest des gesamten G-Projekts: Film ist ein Spiel von Lichtverhältnissen. […] Die auftretenden ‚Formen‘ sind de facto Begrenzungen von Vorgängen in verschiedenen Dimensionen (oder von Dimensionen in verschiedener Zeitfolge). Die Linie dient zur Begrenzung bei Flächenvorgängen (als Material der Flächenbegrenzung), die Fläche als Begrenzung bei Raumvorgängen. […]

▫ und

–––– sind Hilfsmittel. Das

eigentliche Konstruktionsmittel ist das Licht, dessen Intensität und Menge. Die Gestaltung der Lichtnatur im Sinne einer zusammenfassenden Anschaulichkeit ist die Aufgabe für das Ganze. […] Der einzelne sinnliche Gehalt der Fläche etc. – die ‚Form‘ (ob abstrakt oder natürlich) – ist vermieden. Die auftretenden Formen sind weder Analogien noch Symbole, noch Schönheitsmittel. Der Film vermittelt in seinem Ablauf (Vorführung) ganz eigentlich

48 | Werner Graeff: Anmerkungen zur Filmpartitur Komp. II 22. In: De Stijl, Bd. 6, Nr. 5 (1923), S. 56-57. 49 | Raoul Hausmann: PRÉsentismus: gegen den Puffkeismus der teutschen Seele. In: De Stijl, Bd. 4, Nr. 9 (1921), S. 3. 50 | Raoul Hausmann: Vom sprechenden Film zur Optophonetik. In: G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1 (1923), o.S. 51 | Maria Gough beschreibt Lissitzkys ‚Demonstrationsräume‘ als „paracinematic works“, die den passiven Zuschauer in einen aktiven Teilnehmer verwandeln sollen. Siehe Dies.: Constructivism Disoriented: El Lissitzky‘s Dresden and Hanover Demonstrationsräume. In: Nancy Perloff; Brian Reed (Hg.): Situating El Lissitzky: Vitebsk, Berlin, Moscow. Los Angeles 2003. 52 | El Lissitzky: Prounenraum. In: G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1 (1923), o.S.

F ILMKÄMPFER M IES die Spannungs- und Kontrastverhältnisse des Lichts. […] Es wird versucht, den Film so zu organisieren, dass die einzelnen Teile untereinander und zum Ganzen in aktiver Spannung stehen, sodaß das Ganze in sich geistig beweglich bleibt.53

Der Film ist folglich weder als Abbildmedium noch als Träger symbolischer oder ästhetischer Bedeutungsinhalte zu verstehen. Die Rechtecke und Linien stellen nichts dar, sind weder als Abstraktionen noch als sinnhafte Formen wahrzunehmen. Vielmehr seien sie „Hilfsmittel“, wie Richter sie nennt, die die elementaren Materialien des Films, das Licht und die Bewegung, unter Spannung halten bzw. zum Leben erwecken. In anderen Worten, Film ist kein Medium der Reproduktion von Wirklichkeit, sondern es ist der Film selbst, der die „Überwindung der Reproduktion“ ermöglicht.54

5 Werner Graeff: Filmpartitur Komp. II/22, 1923

53 | Hans Richter: Demonstration des Materials. In: G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1 (1923), o.S. Der Text trägt eigentlich keinen Titel. „Demonstration des Materials“ ist die Überschrift der Erläuterungen zur entlang der Oberkante der Doppelseite verlaufenden Bildsequenz. 54 | Siehe Hans Richter: The Film as an Original Art Form. In: College Art Journal, Bd. 10, Nr. 2 (1951), S. 157.

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Folglich sind die starren Zeichnungen, auch wenn sie als Sequenz dargestellt sind und die Perforationen einen Celluloidstreifen suggerieren, immer nur Verweise auf Vorgänge, „die in Bewegung gedacht sind.“55 Folglich ist auch die Zeitschrift G ein Surrogat, das nur die Absence dessen bekunden kann, was eigentlich gemeint ist. Während gerade in den ersten beiden Ausgaben noch versucht wird, die Texte, Abbildungen und grafischen Elemente so zu montieren, dass sie, ähnlich wie andere konstruktivistische Grafiken dieser Zeit, die sinnlich-kakofone Erfahrung von Bewegungen, Spannungen und schockhaften Kontrasten simulieren (z.B. Moholy-Nagys Dynamik der Gross-Stadt), so zeugt das ‚aufgeräumte‘ Erscheinungsbild der dritten Ausgabe von der Einsicht, dass eine Zeitschrift mit den eigenen „elementaren“ Mitteln zu gestalten ist. Der Artikel fasst die Grundpositionen jener film- und kunsttheoretischen Überlegungen zusammen, die er schon 1921 unter dem Begriff „Bewegungskunst“ erstmals in De Stijl veröffentlicht hatte.56 Tatsächlich umreißen diese Artikel jene Einsichten, die seit 1918 in seinen gemeinsam mit Eggeling vorangetriebenen Experimenten hervortraten und zuerst im heute verschollenen Pamphlet Universelle Sprache dargestellt wurden.57 Beide gehen von der utopischen Grundannahme aus, dass das polar-rhythmische Spiel abstrakter Formen eine universell gültige Sprache offenlege, die sich „above and beyond all language frontiers“ befinde.58 Durch die genaue Erkundung der Grundelemente dieser Sprache sei es möglich, die menschliche Kognition neu zu fassen und gerade den Körper als Ort einer kollektiven, unmittelbaren Bedeutungsproduktion wiederzuentdecken. Ihre generelle Kritik an einer transzendentalen Subjektivität, an jeglichem Formalismus und einem positivistischen Wissenschaftsbegriff stellen sie die Betonung des „Zeitproblems“ und der Polarität als

55 | Richter 1921 (Anm. 33), S. 109. 56 | Auch Adolf Behne (der Ende 1920 van Doesburg nach Berlin eingeladen hatte) und Ludwig Hilberseimer veröffentlichen 1921 Artikel, in denen sie die neue ‚Bewegungskunst‘ propagieren. Zudem publiziert Eggeling im selben Jahr einen Artikel in MA, der mit Richters Aufsatz weitestgehend identisch ist. Vgl. Adolf Behne: Bewegungskunst. In: Freiheit, Bd. 4, Nr. 452 (1921), S. 2. Ludwig Hilberseimer: Bewegungskunst. In: Sozialistische Monatshefte, Nr. 27 (1921), S. 467-468. Viking Eggeling: Elvi Fejtegetesek a Mozgomüveszetröl. In: MA, Nr. 8 (1921), S. 105-06. 57 | Bzgl. Richters und Eggelings ‚Universeller Sprache‘ siehe Eva Wolf: Von der universellen zur poetischen Sprache. In: Ausst. Kat. Deutsches Filmmuseum: Hans Richter: Malerei und Film. Hg. v. Justin Hoffmann. Frankfurt am Main 1989, S. 16-23. Malcolm Turvey: Dada Between Heaven and Hell: Abstraction and Universal Language in the Rhythm Films of Hans Richter. In: October, Nr. 105 (2003), S. 13-36. Bruce R. Elder: Hans Richter and Viking Eggeling: The Dream of Universal Language and the Birth of the Absolute Film. In: Alexander Graf; Dietrich Scheunemann: AvantGarde Film. Amsterdam 2007, S. 3-53. 58 | Hans Richter: My Experience with Movement in Painting and Film. In: Gyorgy Kepes (Hg.): The Nature and Art of Movement. New York 1965, S. 144.

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6 G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1, Doppelseite innen, 1923

„generelles Lebensprinzip“ entgegen, die die „Eindeutigkeit des Vielfältigen“ als sinnvoll erfahren lassen.59 Mies’ Bürohaus-Artikel – platziert zwischen Hausmanns und Richters Beiträgen – ist in diesem direkten diskursiven Kontext zu verstehen. Seine hier formulierte kryptische Definition der Baukunst als „raumgefaßter Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu.“60 dehnt das filmische Verständnis der neuen „Bewegungskunst“ auf die Architektur aus. Sie verliert ihr statisch-gegenständliches Wesen und wird nicht nur zu einem dynamischen Objekt, sondern zu einem animierten Akteur, der Kontrastrelationen in sich selbst und mit seinem urbanen Umfeld organisiert. Architektur schafft hier Spielräume für unvorhersehbare Resonanzen zwischen dem gestaltenden Subjekt und seiner lebendigen Umwelt. Und genau wie der Film bei Richter zuallererst als „Spiel von Lichtverhältnissen“ verstanden wird, bezeichnete auch Mies seine Architektur bereits in einem 1922 in Bruno Tauts Zeitschrift Frühlicht publizierten Artikel als ein „reiches Spiel von Lichtreflexen.“61 Genau wie der Filmzuschauer durch die Komposition der kontrastierenden Formen in ein Spiel von Spannungen ein59 | Richter 1921 (Anm. 33), S. 110. 60 | Ludwig Mies van der Rohe: Bürohaus. In: G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1 (1923), o.S. 61 | Ludwig Mies van der Rohe: Hochhäuser. In: Frühlicht, Nr. 4 (1922), S. 122.

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gebunden wird, verwickelt die gläserne Haut des Hochhauses den Passanten in das „Strassenbild“ der pulsierenden Großstadt.62 So wie im absoluten Film die sichtbaren Rechtecke und Linien als „Hilfsmittel“ fungieren, sind auch die in den existierenden Stadt- und Bildraum implantierten Bauten von Mies als ‚Medien‘ zu verstehen, die nicht Visionen einer zukünftigen Architektur abbilden, sondern die dem modernen Subjekt neue Spielräume zur Gestaltung einer kommenden, noch nicht existierenden Baukunst erfahrbar machen. Die Aufgabe des Architekten bestand somit darin, die „neue Ordnung“ zu erkennen und „in“ dieser zu bauen, und zwar so, dass sie „dem Leben freien Spielraum zu seiner Entfaltung läßt.“63 Und genau hierin bestand das grundsätzliche Anliegen von G: in der technisierten Welt die Keime einer „inneren Ordnung unseres Seins“ zu identifizieren, um „neues Leben“ zu schaffen, wie Richter und Graeff in ihrem programmatischen Editorial der ersten Ausgabe schreiben.64 Nun ließe sich einwenden, dass es trotz dieser diskursiven Parallelen einen deutlichen Unterschied auf der Ebene der visuellen Darstellung gibt. Im Gegensatz zu den seriellen Celluloidstreifen, die die Artikel von Richter und Hausmann illustrieren, erscheint die Bürohaus-Zeichnung von Mies als ein betont konventionelles Bild. Anstelle eines dynamischen Spiels rein abstrakter Formen in der Zeit präsentiert Mies die perspektivische Ansicht einer Straßenflucht, einen klassischen Bild- und Stadtraum, in den sich das horizontal geschichtete Bürohaus nahtlos einfügt. Dennoch scheint Mies hier die für Richter und Eggeling grundsätzliche Regel des kontrapunktischen Spiels der Gegensätze auf die Architektur in ihren spezifischen Bedingungen zu übertragen. Das Bürohaus steht in einem Raum, der „ganz anders“65 ist: Die Gebäude der bestehenden Stadt sind lediglich schwarze Silhouetten ohne identifizierbare Details, Ruinen eines überholten visuellen wie auch architektonischen Regimes; das leuchtende Bürohaus hingegen scheint geisterhaft in dieser Ruinenstadt zu schweben. Die Architektur des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit sprengt, um Benjamin zu paraphrasieren, den alten Raum und erlaubt dem Subjekt zwischen den Trümmern „abenteuerliche Reisen“ zu unterneh-

62 | Ibid. 63 | Ludwig Mies van der Rohe: Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens (1928). In: Neumeyer 1986 (Anm. 27), S. 365. Zum Begriff des ‚Spielraums‘ in Bezug auf die Architektur von Mies siehe Lutz Robbers: Espaces pour jeux de lumière: Mies van der Rohe, le cinéma, l‘innervation. In: Spielraum: Walter Benjamin et l‘architecture. Paris 2011, S. 87-114. 64 | Hans Richter; Werner Graeff: Ewige Wahrheiten. In: G: Material zur elementaren Gestaltung, Nr. 1 (1923). o.S. 65 | Werner Graeff berichtete später, wie Mies ihm erzählte, dass seine Entwürfe in dem Bewusstsein entstanden, dass seine Bauten in einer Umgebung stehen würden, die „ganz anders“ sei. Werner Graeff: Gespräch mit Werner Glaeser, 17. September 1972, Tonbandaufnahme. Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. Box 3, 4.

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men.66 Genau wie der Film neuen gemeinschaftlichen Sinn schafft, indem ihm „die Beherrschung des Materials in Übereinstimmung mit den Funktionen unseres Empfindungsapparates“67 gelingt, genauso entsteht bedeutende Architektur nicht in einer Tabula rasa-Situation, sondern in Abhängigkeit physiologischer, historischer und apparativer Bedingungen.

4 . Eggeling und Mies Deutlich werden in G gewisse Grundzüge des lebensphilosophischen Denkens Henri Bergsons sichtbar, das gerade für Eggeling von zentraler Bedeutung war. Überhaupt kann der schwedische Maler und Pionier des abstrakten Films, obwohl er selbst nicht an der Zeitschrift beteiligt war, als intellektuelle Leitfigur des G-Projektes betrachtet werden. Die Betonung der organischen Ganzheitlichkeit der gelebten Erfahrung, die Bedeutung des rhythmischen Körpers, die zentrale Rolle der durée und die Kritik an einem positivistischen Wissensbegriff bildeten die Grundlage für Eggelings Experimente mit seriellen Rollenbildern. Seinen Film Symphonie Diagonale (1924, Abb. 7) bezeichnete er als „Eidodynamik“, ein Begriff, den er von Bergson übernimmt.68 In L‘évolution créatrice definiert Bergson den Begriff eidos als „la vue stable prise sur l‘instabilité des choses“ und fügt damit dem aristotelischen Verständnis von eidos im Sinne von ‚Form‘ (als Gegenbegriff zur Materie) eine zeitliche Dimension hinzu.69 Eidos steht bei Bergson als Gegensatz zu jenem von ihm kritisierten „kinematografischen Mechanismus“ modernen Denkens und Wissens, der die kontinuierliche Bewegung des Lebens in quantifizierbare Sequenzen von „Schnappschüssen“ verwandelt. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, die Bergsons Kritik am Kino als Rechtfertigung ihrer eigenen Ablehnung des neuen Mediums nutzten,70 erkannte Eggeling den Film gerade als Möglichkeit, die kartesianischen Beschränkungen modernen Gestaltens, Denkens und Darstellens zu überwinden. Eggeling (genau wie Deleuze mehr als sechzig Jahre später in seinen KinoBüchern) entdeckt in Bergson eine neue Konzeption der Zeit: Im Gegensatz zum positivistisch-kartesianischen Denken, das die Zeit als verräumlichte Sequenz quantifizierbarer Einzelaufnahmen versteht und damit die Zeit der 66 | Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Tiedemann; Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. I.2. Frankfurt a. M. 1972, S. 499-500. 67 | Hans Richter: Die schlecht trainierte Seele. In: G: Zeitschrift für elementare Gestaltung, Nr. 3 (1924), o.S. 68 | Paul F. Schmidt: Eggelings Kunstfilm. In: Das Kunstblatt, Nr. 12, 1924, S. 381. 69 | Henri Bergson: L‘évolution créatrice. Paris 1908, S. 340. 70 | Jimena Canales: Movement before Cinematography: The High-Speed Qualities of Sentiment. In: Journal of Visual Culture, Nr. 3 (2006), S. 275.

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Repräsentation einer bestimmten Art von Bewegung unterordnet, versteht Bergson diese als heterogene Dauer zeitlicher Differenzen. Die metrische Zeit sei, so Deleuze in seiner Interpretation Bergsons, nichts anderes als „verkleideter“ Raum. Folglich erschließt sich, sowohl für Eggeling als auch für Deleuze, aus dem Begriff der durée die Möglichkeit eines neuen Raumverständnisses.71 Wenig ist über die Verbindung zwischen Eggeling und Mies bekannt. Es kann jedoch angenommen werden, dass eine persönliche Beziehung zwischen den beiden bestand: Anlässlich der ersten Eggeling-Ausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg ist es Mies, der einen kurzen Katalogbeitrag schreibt.72 Im Mies-Archiv findet sich ein Briefwechsel aus dem Jahr 1924 aus dem hervorgeht, dass Mies dem zu diesem Zeitpunkt in Armut lebenden Eggeling Geld geliehen hatte, das er nun zurückforderte. Eggeling schreibt in seiner Antwort: „Meine Situation ist geradezu verzweifelt; denn der Ertrag meiner Papiere reichte nicht aus mich von Neu-Babelsberg zu befreien. Immerhin besitze ich noch den kinematographischen Tricktisch – meine einzige Arbeitsmöglichkeit – ihn zu verkaufen würde ein vollständiges Abriegeln meiner Arbeit bedeuten.“73 Was Eggeling genau mit „Papiere“ und „Neu-Babelsberg“ meint, ist nicht klar. Möglicherweise meint er die UFA Studios, wo er gemeinsam mit Richter seine Filmexperimente durchführte. Dennoch geht aus dem Schriftverkehr hervor, dass Mies Eggeling finanziell unterstützte, möglicherweise um die Fertigstellung von Symphonie Diagonale zu ermöglichen, der am 5. November 1924 aufgeführt und Teil von der Novembergruppe organisierten Film-Matinee „Der absolute Film“ war, die am 3. Mai 1925 stattfand. Zudem war es Mies, der im Namen der Novembergruppe kurz nach dem Tod von Eggeling in einem Brief an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung darum bat, Eggelings Atelier seiner Assistentin Erna Niemeyer zu überlassen.74 Gemeinsam war beiden darüber hinaus das Interesse an Bergson. Für Eggeling scheint das Denken Bergsons, wahrscheinlich seit seinem Aufenthalt in Paris von 1911 bis 1915, von zentraler Bedeutung gewesen zu sein. Sein Notizbuch war gefüllt mit Zitaten aus L‘évolution créatrice.75 Mies besaß ebenfalls die deutsche Ausgabe von 1921 und zwei Anstreichungen beweisen, dass er das Buch zumindest teilweise gelesen hatte. Interessanterweise handelt es sich um jene Passage, 71 | Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeitbild. Frankfurt a. M. 1991. 72 | „Eggeling war einer der einsam Grossen an die Lionardo dachte als er sagte: ‚Der kehrt nicht um wer an einen Stern gebunden‘.“Ludwig Mies van der Rohe: Viking Eggeling. In: Carl Nordenfalk (Hg.): Viking Eggeling 1880-1925. Stockholm 1950, S. 11. 73 | Brief von Eggeling an Mies, 15. Februar 1924. The Papers of Mies van der Rohe, Library of Congress, Washington D.C., Box 1, Folder E. 74 | Brief von Mies an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 11. August 1925. Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. 75 | Louise O‘Konor: Viking Eggeling 1880-1925: Artist and Film-maker, Life and Work. Stockholm 1971, S. 79-80.

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in der Bergson einen Staubwirbel beschreibt, der vom menschlichen Auge als „beharrende Form“ wahrgenommen wird und damit eher wie ein „Ding“ denn als „Fortschritt“ erscheint. Tatsächlich sei jede Form nichts anderes als „die Nachzeichnung einer Bewegung,“ eine flüchtige Erscheinung, die weniger mit der materiellen Wirklichkeit des Gegenstandes zu tun habe als mit den unsichtbaren Kräften, die sie als solide Objekte erscheinen lassen. Wie seine Unterstreichungen beweisen, schien Mies von der Idee angetan gewesen sein, dass „jedes Lebewesen vor allem andern Durchgangspunkt“ ist und dass „das Leben in der Bewegung liegt.“76 Die Tatsache, dass sich in seiner Buchsammlung Schriften von Dilthey, Driesch und Klages finden deutet darauf hin, dass Mies’ Bergson-Lektüre mit einem generellen Interesse an der lebensphilosophischen Kritik abstrakter Rationalität und positivistischen Denkens einherging.77

7 Viking Eggeling, Diagonal Symphonie, Ausschnitt, 1923-1924

5 . Der Lichtraum in Hellerau Zwar erklärt die zentrale Rolle des Films in G das spätere Engagement von Mies als „Filmkämpfer“. Offen bleibt jedoch die Frage, warum er augenscheinlich für die von Richter und Eggeling entwickelten Ansätze empfänglich war. Eine mögliche Antwort führt zurück in die Periode zwischen 1910 und 1912. Zu dieser Zeit verbrachte der im Büro von Peter Behrens angestellte Mies aus privaten Gründen viel Zeit in Dresden-Hellerau, jener von Wolf Dohrn und Karl Schmidt seit 1908 vorangetriebenen Reformsiedlung, die sich am Vorbild der englischen Garden City orientierte. Wie wir aus den Erinnerungen der Tänzerin Mary Wigman

76 | Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Jena 1912, S. 153. Mies van der Rohe Collection. Special Collections Room, University of Illinois, Chicago. Im französischen Original verwendet Bergson den Ausdruck „un lieu de passage“ anstelle von „Durchgangspunkt“ und betont damit den räumlichen Charakter seiner Philosophie des Werdens. 77 | Mies besaß Ausgaben von Wilhelm Diltheys „Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin“ (1913 Ausgabe), Hans Drieschs „Philosophie des Organischen“ (1921) und „Ordnungslehre“ (1923) sowie „Persönlichkeit“ (1927) von Ludwig Klages. Mies van der Rohe Collection. Special Collections Room, University of Illinois, Chicago.

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wissen, kam Mies regelmäßig nach Hellerau, um dort seine spätere Frau Ada Bruhn zu besuchen.78 Bruhn zählte zur ersten Gruppe von Studenten, die an Émile Jaques-Dalcrozes Bildungsanstalt für rhythmische Erziehung eingeschrieben waren. Es ist anzunehmen, dass sich der junge, aufstrebende Architekt Mies für die Architektur der Modellsiedlung, an dessen Planung Heinrich Tessenow, Richard Riemerschmid und Hermann Muthesius beteiligt waren, interessierte. Die Tatsache, dass Mies 1910 nach London reiste, um dort die International Town Planning-Tagung zu besuchen (auf der Teile der von Werner Hegemann organisierten und vorher bereits in Berlin und Düsseldorf gezeigten Allgemeinen Städtebau-Ausstellung gezeigt wurden) belegt, dass er sich mit der Thematik eingehend beschäftigt hatte.79 In Hellerau war es sicherlich das Festspielhaus, jenes von Tessenow entworfene Herzstück der Reformsiedlung, das die Aufmerksamkeit von Mies erregte. Besonders der in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Bühnenbildner Adolphe Appia und dem georgischen Architekten Alexander von Salzmann entworfene Festsaal dürfte Mies kaum entgangen sein (Abb. 8). Dieser leere, vollkommen undekorierte Raum, dem Innern eines weißen Kubus ähnlich, stellte einen revolutionären Bruch in der Geschichte der Bühnenarchitektur dar. Zuschauerraum und Bühne waren nicht mehr mittels eines Proszeniums voneinander getrennt, sondern bildeten „ein unteilbares Ganzes“.80 An die Stelle eines illusionistischen Bühnenbildes samt naturalistischer Requisiten traten sogenannte abstrakte „Praktikablen“, flexible Bühnenelemente, die die rhythmischen Bewegungen von Körpern und Licht begrenzten. Von besonderer Bedeutung für den Festsaal war das aktive Licht, welches von einer speziell von Salzmann patentierten und von Siemens-Schuckert konstruierten, aus 3000 Lampen bestehenden Lichtanlage produziert wurde. Hinter einer transluzenten, mit Wachs getränkten Stoffverkleidung, als durchlässige Membran über alle vier Wände und die Decke gespannt, verbargen sich

78 | Mary Wigman, Interview mit Ludwig Glaeser, Tonbandaufnahme, 13.9.1972, Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. Die Namen von Bruhn und Wigman tauchen auf der offiziellen Schülerliste für das Jahr 1910/11 auf. Siehe Der Rhythmus. Ein Jahrbuch, Nr. 1. (Hellerau: Hellerauer Verlag: 1911). Das Reihenhaus ‚Am grünen Zipfel‘, in dem Bruhn und Wigman wohnten, war der Ort regelmäßiger Zusammenkünfte, bei denen Mies auch die Bekanntschaft mit dem Kunsthistoriker und späteren Psychiater Hans Prinzhorn machte. 79 | Siehe Franz Schulze: Mies van der Rohe – A Critical Biography. Chicago 1985, S. 41. Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin. Berlin 1911. Als ehemaliger Mitarbeiter des Dresdner Architekten Bruno Paul, der mit Hermann Muthesius zusammenarbeitete, war Mies sicherlich mit den Gartenstadt-Diskursen vertraut. 80 | Arthur Seidl: Die Hellerauer Schulfeste und die ‚Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze‘. Regensburg 1912, S. 31-32.

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in ihrer Lichtstärke beliebig regulierbare Lichtelemente (Abb. 9).81 Die Bedeutung, die dieser technischen Apparatur zugemessen wurde, wird schon durch die enormen Herstellungskosten von 70.000 Mark deutlich.82 Die Lichtanlage verwandelte den leeren weißen Raum in einen pulsierenden Lichtkörper, der „ein merkwürdig diffuses, immaterialisierend schattenloses Licht“ produzierte.83 Licht trat im Festsaal nicht mehr als unsichtbares Medium auf, das eine als leblos angenommene Objektwelt sichtbar machte. Vielmehr wurde das Licht selbst aktiv, lebendig und „gestaltend.“84 Aus dem „belichteten Raum“ wurde, wie von Salzmann schreibt, ein „leuchtender Raum“.85 Und tatsächlich verfehlte der in einen animierten Lichtkörper verwandelte Saal seine Wirkung nicht. Arthur Seidl, der nicht ohne Ironie berichtet, dass Tessenows Festspielhaus als „Kino-Festspielhalle“ verspottet wurde, schreibt voller Begeisterung: „Alles war hier eigentlich neu, und etwas ganz unbeschreiblich Einzigartiges war da auferstanden und lebendig geworden vor unseren Augen und Ohren.“86 Appia setzte damit mit den Mitteln der Architektur und der modernen Lichttechnik seine bereits im späten neunzehnten Jahrhundert theoretisch entwickelte Forderung nach einem bewegten Licht um. Dieses sei im Gegensatz zur Bühnenmalerei in der Lage, „das ewig wechselnde Bild der Erscheinungs-

81 | Seidl gibt die Zahl der Lampenelemente mit 3000 an. Andere Quellen sprechen von 10.000. Kenneth MacGowan: The Theatre of Tomorrow. New York 1921, S. 190. Appia hatte zuvor erwogen, das von Mariano Fortuny patentierte Beleuchtungssystem zu installieren. Dieses bestand aus einer mit Stoffen bespannten, als Drahtstruktur konzipierten, sphärischen Kuppel auf die farbiges, bewegtes Licht projiziert werden konnte. 82 | Damit wurde annähernd ein Zehntel der Gesamtbaukosten des Festspielhauses (800.000 Mark) für die Lichtanlage verwendet. Vgl. o.A.: Die Bildungsanstalt in Hellerau bei Dresden. In: Blätter für Architektur und Kunsthandwerk, Bd. 26, Nr. 5 (1913), S. 19. 83 | Karl Scheffler: Das Haus. In: Die Schulfeste der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze. Jena 1912, S.11. 84 | Adolphe Appia: Die Musik und die Inscenierung. München 1899, S. 84. 85 | Alexander von Salzmann: Licht Belichtung und Beleuchtung: Bemerkungen zur Beleuchtungsanlage des Grossen Saales der Dalcroze-Schule. In: Scheffler 1912 (Anm. 83), S. 70. 86 | Seidl 1913 (Anm. 80), S. 13. George Bernhard Shaw schreibt 1913 über die Lichtanlage: „Heute Nachmittag waren wir wieder dort und sahen uns die Beleuchtungsanlage an – die riesigen Flächen weißer Leinwand und die vielen Lichter dahinter und darüber. Man bräuchte nur noch einen durchsichtigen Boden mit Lichtern darunter, dann könnte man alles Himmlische aufführen.“ Shaw zitiert in Klaus-Peter Arnold: Vom Sofakissen zum Städtebau: Die Geschichte der Deutschen Werkstätten und der Gartenstadt Hellerau. Dresden 1993, S. 358. Auch Le Corbusier kam nach Hellerau um seinen Bruder Albert Jeannert besuchte, der bei Jaques-Dalcroze studierte. In seinem Notizbuch vermerkte Le Corbusier über den Festsaal: „Tatsache ist, daß der Theatersaal, den Tessenow, Jaques [sic] und Salzmann für Hellerau entwerfen, einen Meilenstein in der Entwicklung der Epoche darstellen wird.“ Le Corbusier zitiert in Kristiana Hartmann: Reformbewegungen. In: Werner Durth (Hg.): Entwurf zur Moderne. Hellerau, Stuttgart 1996, S. 31.

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welt voll und lebendig zu übermitteln, und zwar in seiner ausdrucksvollsten Gestalt.“87 Der pulsierende Lichtraum verwirklichte architektonisch, was JaquesDalcroze als generelles Ziel der eurythmischen Erziehung ausgab, nämlich „die Beziehungen zwischen dem Raum und der Dauer“ mittels des Körpers zu organisieren.88 Interessanterweise zeigt die Methode von Jaques Dalcroze deutliche Parallelen mit den später von Eggeling und Richter entwickelten kontrapunktischen Kompositionsprinzipien. Erstem ging es darum, „die Bewegungen des Lichtes, der Musik und der Körper im Raum gegeneinander auszugleichen oder zu kontrastieren und in jedem Fall zu einer Gestaltung zusammenwirken zu lassen.“89 Auch scheinen die immer wiederkehrenden diskursiven Grundmuster aus G bereits im ganzheitlichen Reformprojekt von Hellerau präkonfiguriert: die Verbindung lebensphilosophischer Begriffe mit einer affirmativen Haltung gegenüber der Technik, die „Erziehung zur Apperzeption“ bis zu einem Grad „automatischer Präzision“, „selbstständige Gestaltung rhythmischer wie melodischer ‚Kontrapunkte‘“, bis zum Bewusstsein, dass der Festsaal noch kein neues Theater präsentierte, sondern lediglich als Vorbereitung auf ein kommendes Neues gedacht war.90 Einiges deutet darauf hin, dass Mies den Festsaal sehr gut kannte. Nicht nur die Tatsache, dass Ada Bruhn mit großer Wahrscheinlichkeit bei den Aufführungen von Glucks Oper Orpheus und Eurydike 1912 mitwirkte, spricht dafür. In späteren Projekten verwendete Mies immer wieder stoffbezogene Wände oder Raumbegrenzungen: Für das „Café Samt und Seide“ hingen die Stoffe von geraden und geschwungenen Stahlrohren (1927, zusammen mit Lilly Reich); im Haus Tugendhat wirken die grau-silbernen Vorhänge wie Leinwände, auf denen sich das kaleidoskopische Spiel bewegender Schatten der vor dem Haus platzierten Trauerweide abbildete. Auch hatte Mies zumindest zeitweise die Wände einer der Räume seiner Bürowohnung Am Karlsbad 24 komplett mit weißem Seidenstoff verkleidet. Seinem damaligen Mitarbeiter Sergius Ruegenberg zufolge bestand Mies darauf, den Raum stets leer zu halten.91 Möglicherweise waren

87 | Ibid., S. 17. 88 | „Cette éducation devra régler les rapports de l‘espace et de la durée […]“. Émile JaquesDalcroze: „De la foule et du geste au théâtre“. In: Tribune de Génève, 23. April 1913. In einem späteren Aufsatz weitet Jaques-Dalcroze sein Argument auf den Kinematographen aus. Dieser könne „überlegene Effekte“ für die Erziehung des Körpers beitragen, dessen Ziel es ist Beziehungen zwischen „der Dynamik und der Zeit, zwischen der Dynamik und dem Raum zu entwickeln.“ Émile Jaques-Dalcroze: L‘art et le cinématographe. In: Tribune de Génève, 5. März 1921, S. 5. 89 | Émile Jaques-Dalcroze: Schularbeit und Schulfest. In: Scheffler 1912 (Anm. 83), S. 50. 90 | Seidl 1913 (Anm. 80), S. 46-48. 91 | Ruegenberg erinnert sich später, dass die Töchter von Mies den leeren Raum als Spielzimmer nutzten und die weißen Wände mit Kritzeleien beschmierten. Auch amüsierten sich die Mitglieder

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8 Festsaal, Bildungsanstalt für rhythmische Erziehung, Dresden-Hellerau, 1912

9 Lichtanlage, Festsaal, 1912

10 Ludwig Mies van der Rohe: Barcelona-Pavillon, erleuchtete Glaswand, 1929

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die Wände seiner Wohnung bereits zwischen 1917 und 1919 mit Stoffen verkleidet. Bekannte des Schriftstellers Rudolf Borchardt, der während dieser Zeit Untermieter bei Mies war, berichteten später, dass „das Weiss und die gerafften Stoffe ein schöner Bildhintergrund für Gruppen und Figuren“ gewesen seien.92 Auch die aus opakem Milchglas konstruierte Lichtwand im Barcelona-Pavillon (1929), die von Mies als einzige Lichtquelle vorgesehen war, scheint einen ähnlichen Effekt auf die Besucher ausgelöst zu haben wie der rhythmische Lichtraum in Hellerau (Abb. 10). Wie bei Appia und von Salzmann verliert das Licht seine Funktion als Mittel zur Sichtbarmachung der Objektwelt und wird vielmehr zum „expressiven Element“, das im Gegensatz zum visuell Erkennbaren steht.93 Das Licht selbst wird sichtbar, indem es „sich im Raum ausbreitet“ und dem Besucher hilft, den eigenen „Körper neu zu entdecken“.94 Genau dieser Effekt der Entsubjektivierung schien im Barcelona-Pavillon intendiert gewesen zu sein. Ruegenberg schilderte später, dass die Lichtwand kurz nach Eröffnung der Ausstellung abgestellt werden musste: Die Besucher, die sich als „Silhouetten“ wahrnahmen, empfanden das Licht als „psychologisch unangenehm“.95 Genau dieses Unbehagen deutet auf die kritische Dimension der Mies’schen Architektur der späten zwanziger Jahre: Anders als der Festsaal, der zwar als „durchlässiges Licht-Gebäude“96 erschien, tatsächlich jedoch ein monadischer Raum war, stand der radikal offene, leere Barcelona-Pavillon in einem nicht auflösbaren Kontrast zum ihn umgebenden heterotopischen Spektakel der Weltausstellung. Und während im Festsaal die verborgene Apparatur des Zehner-Rings über den mit Stoff ausgekleideten Raum: „Da war nachher diese Versammlung des ‚Rings‘ immer bei ihm, in diesem Zimmer, und da musste er sehr viel einstecken, dass er also so eine feminine Umgebung sich geschaffen hatte und sie haben furchtbar Witze gemacht.“ Interview mit Sergius Ruegenberg, Tonbandaufnahme. Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. 92 | Hugo Schaefer: Stunden mit Borchardt. In: Die literarische Welt, Nr. 2 (1926), S. 2. Zitiert in Andreas Marx; Paul Weber: Von Ludwig Mies zu Mies van der Rohe. In: Helmut Reuter; Birgit Schulte: Mies und das Neue Wohnen. Ostfildern 2008, S. 30. 93 | Adolphe Appia: La musique et la mis-en-scène. Bern 1963, S. 55. 94 | Émile Jaques-Dalcroze: „Was rhythmische Gymnastik Ihnen gibt und was sie von Ihnen fordert“. In: Der Rhythmus, Nr. 1 (1911), S. 46. 95 | „Uns fiel auf, dass nämlich die Menschen, die davor waren, als Silhouetten im Raum standen oder sich bewegten, was sehr unangenehm psychologisch war. […] Die Spanier, die haben das nicht gewusst und die fanden das nicht günstig und es ist nicht wiederholt worden nachher. Aber interessant war überhaupt, dass er dies Problem so angefasst hat und so radikal auch gemacht hat.“ Interview mit Sergius Ruegenberg, Tonbandaufnahme. Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. Interessanterweise benutzt Siegfried Kracauer für seinen Artikel über die Werkbundausstellung Die Wohnung genau die Metapher der körperlosen Silhouette für seine Beschreibung des Glasraums von Mies und Lilly Reich. Mies selbst platziert immer wieder schwarze Silhouetten in seine Zeichnungen (Siehe Anm. 27; Interview mit Ruegenberg, Mies van der Rohe: Research Papers, CCA. 96 | Seidl 1913 (Anm. 80), S. 31.

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mithilft, den Besucher bzw. Zuschauer im Rhythmus des Lichts, der Musik und der tanzenden Körper aufgehen zu lassen, konfrontierte der stete Schein der Lichtwand die Besucher nicht nur mit den Restbeständen ihrer eigenen Subjektivität, sondern durch seine „eigentümlich ungreifbare Materialität“97 auch mit den Möglichkeiten neuer Lebensformen. Die Antwort auf die Frage, wie Mies zum „Filmkämpfer“ wurde, findet sich somit in jenen Versuchen, das Kino als Praxis eines alternativen Denkens und Gestaltens zu begreifen. Sein Interesse am Kino ist letztendlich ein Interesse an den Bildern – und diese, so Deleuze, sind weniger Abbild von Welt als vielmehr der Schlüssel zum Verständnis von Subjektivität und unsere Beziehung zur Welt. Richter und Eggelings Filme und der rhythmische Lichtraum in Hellerau haben mit Mies’ Architektur gemeinsam, dass es gerade nicht um die Aufnahme und Wiedergabe einer Abbildwirklichkeit geht, sondern um Versuche, die wahrnehmende Physis des Kollektivs mit der neuen Technik zu vereinigen. Genau das meint Walter Benjamin, wenn er den Film als Beispiel dafür anführt, dass sich „Bildraum und Leibraum“ so durchdringen, dass es zu einem Moment kollektiver Innervation von Technik kommt.98 In diesem Moment tut sich ein neuer „Spielraum“ auf, der im Film am größten sei.99 Und genau diesen Spielraum, so meine ich, versuchte Mies für die Architektur zu öffnen. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns sowohl vom essentialistischen als auch vom phänomenologischen Architekturverständnis verabschieden und die Architektur als animierte, handlungsmächtige Entität verstehen, die Emotionen, Konzepte, Räume und Körper zu sinnhaften Gefügen zusammenbringt. Richter schreibt 1924 in G, dass die Zeitschrift sich an jenen Zeitgenossen richtet, der „mit all den modernen Instinkt-, Empfangs- und Absendungs-Apparaten ausgerüstet ist, die ihm Verbindung mit dem Leben sichern.“100 Film und auch Architektur gehören zu jenen Apparaten, die in der Lage sind, diese Verbindungen zu schaffen und neues Leben zu generieren.

97 | Justus Bier: Mies van der Rohes Reichspavillon in Barcelona. In: Die Form, Jg. 4, Nr. 16 (1929), S. 423. 98 | Mit Innervation meint Benjamin den neuro-physiologischen Vorgang der Inkorporation der Welt in den Körper - eine Praxis, die im Gegensatz zur rein optischen Wahrnehmung steht. Siehe Miriam Bratu Hansen: Room-for-Play: Benjamin’s Gamble with Cinema. In: October, Nr. 109 (2004), S. 3-45. 99 | „Was mit der Verkümmerung des Scheins, dem Verfall der Aura in den Werken der Kunst einhergeht, ist ein ungeheurer Gewinn an Spiel-Raum. Der weiteste Spielraum hat sich im Film eröffnet. In ihm ist der Scheinmoment ganz und gar zugunsten des Spielmomentes zurückgetreten.“ Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit. In: Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften Bd. VII.1. Frankfurt a. M. 1989, S. 369. 100 | Hans Richter: G. In: G: Zeitschrift für elementare Gestaltung, Nr. 3 (1924), o.S.

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Zur Klärung des Wohnwillens Ludwig Mies van der Rohe und die Strategien des Zeigens auf dem Stuttgarter Weißenhof Theres Rohde

Vielleicht weiß die neue Generation nur darum nicht, wie sie wohnen will, weil sie die Möglichkeiten gar nicht ahnt. Also zeige man ihr die neuen technischen Voraussetzungen des Wohnungsbaus, man mache sie mit den zweckmäßigsten Wohnungsausstattungen und Apparaten bekannt. […] So wird man der Klärung des Wohnwillens dienen. Und das ist der Sinn der Weißenhofsiedlung in Stuttgart.1

So umriss Werner Graeff 1927 die Zielsetzung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung: Es ging um das Zeigen des Neuen Bauens und Neuen Wohnens. Wohnen war zur Jahrhundertwende keine Selbstverständlichkeit, sondern viel debattiertes Thema. In Zeiten qualitativer wie quantitativer Wohnungsnot forderten verschiedene Institutionen dringliche Änderungen im Wohnungsbau. Ebenfalls wollte man die historistischen Salons des Bürgertums überwinden. Zur Vermittlung der „richtigen Wohnform“ nutzten Architekten und Verbände verschiedene Maßnahmen des Zeigens, um das Verhalten zu ändern und Verständnis für die Moderne und ihre Architektur zu gewinnen. Denn Zeigen, das bedeutet nicht nur den Blick auf etwas zu lenken, es heißt auch zu demonstrieren und zu überzeugen. Will man sich mit dem Einfluss Ludwig Mies van der Rohes auf künftige Architektur und kommendes Wohnen beschäftigen, ist es von Interesse zu beobachten, mit welchen Strategien er selbst versuchte das Zukünftige zu beeinflussen. Vorstellen möchte ich ihn in seiner Rolle als Zeigender, um der Anlage 1 | Werner Graeff: Zur Stuttgarter Weißenhofsiedlung. In: Deutscher Werkbund (Hg.): Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 8f.

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der „Marke Mies“ in seiner historischen Situation und mit seinen Strategien der Überzeugung im Rahmen der Wohndebatte Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen. Dazu bietet sich eine Betrachtung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung an, die unter der künstlerischen Leitung von Mies van der Rohe zu einem Meilenstein der Architektur der Moderne und – seit 1958 unter Denkmalschutz stehend – zu einem Aushängeschild der Stadt wurde. 1925 stellte ein erster vorläufiger Plan das Bestreben hinter der Siedlung heraus: Die letzten Jahre haben uns eine Fülle neuer Erfahrungen, neuer Methoden und Möglichkeiten für rationelles Bauen und Wohnen geschenkt. Aber leider ist bis heute noch keine der mannigfaltigen Gelegenheiten ergriffen worden, diese für die Entwicklung unseres Wohnungswesens so bedeutenden Ergebnisse in ihrer Höchstleistung und in einer gemeinsamen Kundgebung durch die Erstellung einer größeren Bautengruppe zusammenzufassen und damit der Allgemeinheit in vorbildlicher Weise vor Augen zu führen […] [Die Ausstellung soll] der gesamten Fachwelt zum Studium sowie der Allgemeinheit der Belehrung und Weiterbildung zugänglich gemacht werden können.2

Trotz des Fortschritts mangelte es noch an praktischen Durchführungen und der Zurschaustellung der neuen Ideen. Begriffe wie die „Kundgebung“, wie das „vor Augen führen“ unterstrichen den medialen Charakter der geplanten Veranstaltung: Zeigen wurde zum Auftrag. Doch es ging nicht allein darum, Wissenslücken zu schließen und eine Orientierungsleistung zu liefern: Um allen Missverständnissen vorzubeugen, soll hier gleich betont werden, dass es sich nicht um die Erstellung von ‚Ausstellungsbauten‘ in früherem Sinne handeln kann, sondern dass hier Wohnhäuser geschaffen werden müssen, die für Familien […] bestimmt sind und diesen nach Schluss der Ausstellung zum Bewohnen übergeben werden.3

Die Weißenhofsiedlung wollte nicht nur Bauen und Wohnen ausstellen; die Bauten zum Ausstellen sollten zu Bauten zum Wohnen werden. Am 23. Juli 1927 eröffnet (Abb.1), gab die Exposition zahlreichen Architekten die Möglichkeit, ihren Ideen nicht nur auf dem Papier Ausdruck zu verleihen. Hinter dem Medium der Bau-Ausstellung erwartete man enormes Potenzial, wie ein Brief J.J.P. Ouds an den Deutschen Werkbund im Januar 1926 belegt:

2 | Vorläufiger Plan zur Durchführung der Werkbundausstellung „Die Wohnung“ vom 27.06.1925, Stadtarchiv Stuttgart, Aktendepot B, CIV A 12, Bd. 46, Nr. 116. 3 | Ibid.

Z UR K L ÄRUNG DES W OHNWILLENS Wir haben der Ausstellungen von Photographien, Modellen usw. schon genug gehabt. […] Das tatsächlich gute und praktische der neuen Auffassung wird dem Publikum erst im täglichen Betrieb deutlich. Jede Verbesserung in der Zeichnung oder im Modell vorgeführt, ärgert uns, weil wir der Theorie schon lange überdrüssig sind, packend aber ist sie gleich, wenn man ihre Logik am Leibe erfährt. Wir brauchen die Gelegenheit, derartige Sachen in der Realität deutlich vorführen zu können und es wäre eine Tat, wenn das die Ausstellung machen könnte. 4

Oud präsentierte sich hier als Vertreter und Forderer einer Maxime, die einen Weg zum Neuen Bauen und Wohnen über Bilderbücher und Fotoausstellungen, Architekturzeichnungen oder Modelle hinaus verlangte. Eine Überzeugung des Laien, kaum fähig einen Grundriss zu lesen, erschien nur möglich, durch das Zeigen am realen Bau. Eine Besonderheit der Geste des Zeigens ist es, wie Gottfried Boehm herausstellt, dass mit ihr nicht nur das Gezeigte, sondern auch der Zeigende hervortritt.5 Es handelt sich dabei um eine doppelte Lesbarkeit, um ein „zeigendes Verweisen“6. So ist es interessant zu beobachten, auf wen die Weißenhofsiedlung hindeutete. Denn sie hatte weit mehr Urheber als Mies van der Rohe. Sie verwies auf komplexe Kontextbeziehungen: Verschiedene Akteure und Agenturen waren an der Genese der Bau-Ausstellung beteiligt, die versuchten an jenes Medium eine Erziehung zum Neuen Wohnen zu delegieren, und die darüber hinaus unterschiedliche Interessen vertraten.

1 Blick in die Weißenhofsiedlung, Stuttgart, 1927 4 | Abschrift des Briefes von J.J.P. Oud, Rotterdam, an die Württembergische Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbunds, Stuttgart, 26.01.1926, Stadtarchiv Stuttgart, Aktendepot B, CIV A 12, Bd. 46, Nr. 116. 5 | Denn „die Geste zeigt Etwas und sie weist zugleich den Körper vor, der sich zeigt.“ Gottfried Boehm: Die Hintergründigkeit des Zeigens. In: Heike Gfrereis; Marcel Lepper: Deixis – Vom Denken mit dem Zeigefinger. Göttingen 2007, S. 148. 6 | Ibid.

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Im Folgenden möchte ich Dokumente und Medien rund um die Ausstellung betrachten und mich mit den Modi des Zeigens auseinandersetzen: Was wurde gezeigt, wie wurde gezeigt und auf wen wurde gezeigt? So lässt sich entschlüsseln, was die Medien über die Akteure, die Netzwerke und die Prozesse zwischen ihnen mitzuteilen haben – auch von dem, was ihre Macher vielleicht gar nicht mitgeben wollten. Die Einladungskarte zur Ausstellung gestaltete Werner Graeff, Leiter der Presse- und Werbeabteilung, als Leporello (Abb. 2). Es war das erste, das viele Besucher von der Weißenhofsiedlung gezeigt bekamen. Stück für Stück möchte ich es hier entfalten.7

2 Werner Graeff: Leporello-Prospekt, 1927

Auf einer Doppelseite (Abb. 3) ist im oberen Abschnitt ein Modell der Siedlung, im unteren ein Lageplan mit Architektenporträts abgedruckt. Die Figur, die in Position und Größe hervorgehoben sowie durch die Pfeil- und Linienführung von der Fotografie zum Lageplan die Verbindung zwischen den beiden Abschnitten ist, zeigt Mies. Das Leporello stellt heraus, dass er 7 | Ich begrenze mich dabei auf den Abschnitt, der die Weißenhofsiedlung vorstellt. Das Leporello umfasst insgesamt acht Seiten und bewirbt neben der Siedlung die Hallenausstellung, das Versuchsgelände und eine Plan- und Modellausstellung, die gemeinsam die Werkbundausstellung „Die Wohnung“ ergaben.

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als Leiter der Siedlung sowie als Bindeglied zwischen all den großen Namen auftritt. Ihm gelang es, die bedeutenden Architekten des frühen 20. Jahrhunderts an einem Ort zusammenzuführen: 17 Baukünstler8 folgten Mies’ Aufruf in Stuttgart „zum Wohnproblem Stellung zu nehmen“9 . Modell und Lageplan zeigen auch: Das größte und zuoberst gelegene Gebäude stammt von ihm. Wie eine Stadtkrone thront sein Mietshausblock auf dem Gelände des Weißenhofs in der Höhenlage über Stuttgart. Die Gestaltung des Leporellos ist wie die Anordnung der Häuser ein Spiegelbild seiner Bedeutung bei dieser besonderen Exposition.

4 Mies van der Rohes Artikel in Bau und Wohnung, Stuttgart, 1927

3 Werner Graeff: Leporello-Prospekt, 1927

Bescheidener wirkt dagegen sein eigener Auftritt im Ausstellungskatalog Bau und Wohnung, den Werner Graeff und Willi Baumeister gestaltetet haben. Andere Architekten nutzen die Publikation, um auf mehreren Seiten das Konzept 8 | Auf dem Leporello sind nur 16 Architekten abgebildet. Es fehlt Pierre Jeanneret, mit dem Le Corbusier seine Bauten errichtete. 9 | Ludwig Mies van der Rohe: Vorwort. In: Deutscher Werkbund 1927 (Anm. 1), S. 7.

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ihres Gebäudes darzustellen. Mies van der Rohes Ausführungen bringen es lediglich auf 13 Zeilen (Abb. 4). Sein Artikel ist der knappste im ganzen Katalog; zu kurz kommt sein Mietsblock aber kaum: Er gehört zu den Häusern, die mit den meisten Abbildungen illustriert sind. Mies’ Vorschlag zum Neuen Bauen und Wohnen drückt sich weniger in Worten als in Bildern aus. Das mag ein Zeugnis seines zurückhaltenden Publikationswillens sein. Während Le Corbusier oder Walter Gropius neben ihrer gebauten Architektur für zahlreiche Schriften berühmt sind, musste Mies regelrecht dazu gedrängt werden, seine Ansichten in Worte zu fassen.10 Doch hinter dem unausgeglichenen Verhältnis aus Bild und Wort, sowie seinen Ausführungen in Bau und Wohnung, vermute ich mehr als die reine Abneigung gegen Textproduktion. Meine These ist, dass es Mies bewusst vermied das Wort zu ergreifen und eine Strategie verfolgte, die Andere argumentieren ließ. Um dies zu belegen, sollen seine 13 Zeilen betrachtet werden: Zu meinem Block Wirtschaftliche Gründe fordern heute beim Bau von Mietwohnungen Rationalisierung und Typisierung ihrer Herstellung. Diese immer steigende Differenzierung unserer Wohnbedürfnisse aber fordert auf der andern Seite größte Freiheit in der Benützungsart. Es wird in Zukunft notwendig sein, beiden Tendenzen gerecht zu werden. Der Skelettbau ist hierzu das geeigneteste Konstruktionssystem. Er ermöglicht eine rationelle Herstellung und lässt der inneren Raumaufteilung jede Freiheit. Beschränkt man sich darauf, lediglich Küche und Bad ihrer Installation wegen als konstante Räume auszubilden und entschließt man sich dann noch, die übrige Wohnfläche mit verstellbaren Wänden aufzuteilen, so glaube ich, dass mit diesen Mitteln jedem berechtigten Wohnanspruch genügt werden kann. 11

Was Mies verlangt, ist eine neue Form des Bauens seitens der Architekten und ein anderes Benutzen durch die Bewohner. Für beides soll der Mietshausblock Anregungen geben. Mit dem Skelettbau stellt er seine Ansätze zur Typisierung und Rationalisierung aus und auf die Probe.12 Wollte er der „Freiheit in der Benützungsart“ gerecht werden, dem Ausstellungsbesucher die Veränderbarkeit des Grundrisses, 10 | Vgl. Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort; Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986, S. 23, 26f. 11 | Ludwig Mies van der Rohe: Zu meinem Block. In: Deutscher Werkbund 1927 (Anm. 1), S. 77. 12 | Die Errichtung seines Skelettbaus sollte sich als problematisch herausstellen und zu zahlreichen Spannungen auf der Baustelle, zwischen Mies und dem Bauleiter Döcker, dem Bürgermeister oder den städtischen Ämtern führen. Ausführlich dargelegt wird dies in Karin Kirsch: Die Weißenhofsiedlung. Stuttgart 1987, S. 61ff.

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nach eigenen Ansprüchen oder Familiengröße, demonstrieren, galt es einen anderen Weg zu wählen, als selbst die Zeige-Geste auszuführen. Auf die 13 Zeilen folgt eine Doppelseite mit fünf Reihen, auf der alle Wohnungsgrundrisse des Gebäudes (Abb. 5-6) abgedruckt sind. Aufmerksamkeit generiert besonders die unterste in ihrer enormen Reduktion – nur mit den Pfeilern, die die Decken tragen, sowie vier Wänden pro Etage und Haus versehen. Das Treppenhaus wird durch drei Wände umgrenzt, das Geschoss durch eine Wand in eine größere und eine kleinere Wohnung geteilt. Die verschiedenen Grundrisse zeigen, welche Funktion diese Wände jenseits des Trennens und Stützens haben. Hier sind mit der Installation die konstanten Räume verortet: Bäder und Küchen. Die restliche Anordnung gestaltet sich flexibel. Die einzige der fünf Reihen, die in ihrer Gänze sicher aus Mies’ Hand stammt, ist demzufolge die unterste. Alles andere lässt sich verändern, bei allen anderen Reihen ist er nicht zwangsläufig der Gestalter. Informationen zu den einzelnen Grundrissen lassen sich in Bau und Wohnung nicht finden, jedoch im Amtlichen Katalog der Ausstellung. Dort sind alle 24 Wohnungen mit Gestaltern und Lieferanten aufgelistet. Die Publikation weist nach, dass nur drei von Mies eingerichtet wurden. Für die übrigen beauftragte er 29 Architekten und Innenraumgestalter. „Einrichten“ bekommt hier eine besondere Bedeutung: die Räume werden nicht nur möbliert, sondern sie werden mit der Festlegung der Wände erst gesetzt. Gestalter wie Ferdinand Kramer, Adolf Meyer oder Lilly Reich bekamen Gelegenheit ihre Ideen im Maßstab 1:1 vorzuführen – so auch eine Kollektivgruppe des Schweizer Werkbunds. 13 Köpfe formten unter der Leitung von Max Ernst Haefeli sechs Wohnungen und entlasteten damit Mies van der Rohe, der als künstlerischen Leiter mit seiner Vielzahl von Aufgaben auf der Ausstellung kaum in der Lage war 24 Wohnungen gewissenhaft auszustatten. Um dem Konzept der Verschiedenheit der Grundrisse gerecht zu werden, setzte die Gruppe von allen Vorschlägen diejenigen um, die am meisten auseinander gingen. Dies diente vor allem Mies’ strategischem Beweisverfahren. Überzeugend war das Konzept des Mietsblocks, wenn sich zeigte, dass neben ihm andere in der Lage waren eine sinnvolle Unterteilung der Wohnungen vorzunehmen. Dem Ausstellungsbesucher wurde dadurch die Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten vor Augen gestellt. Im besten Falle erkannte er sich so selbst als potenzieller Einrichter wieder.

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5 / 6 Grundrisse in Mies van der Rohes Mietshausblock, Stuttgart, 1927

Der Gestalter seiner vier Wände konnte der künftige Bewohner nicht nur durch die Wahl der Möbel werden, sondern indem er den Grundriss durch das eigene, einfache und veränderbare Setzen der Trennwände formte. Um das Prinzip zu erläutern, ließ Mies eine Wohnung unmöbliert; es ging allein um die Demonstration der flexiblen Trennwände (Abb. 7).13 13 | Dieses Prinzip hatte Mies van der Rohe für jede Wohnung des Blocks im Sinn, doch nicht alle Gestalter nutzten das System. Manche gliederten den Raum durch Schiebewände oder eingestellte Wandschränke.

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7 Flexible Trennwand, Stuttgart, 1927

In Wie bauen?, einer weiteren Publikation zur Ausstellung, wurde die Methode schriftlich dokumentiert: Die Zwischenwände von Mies van der Rohe bestehen aus 1 m breiten Sperrholztafeln. Die Tafeln stehen auf dem Boden in einem vernickelten Metallschuh und können in diesem mittels zweier Schrauben gehoben und gesenkt werden. Auf diese Weise werden die Platten zwischen Decke und Fußboden eingeklemmt und stehen fest. Die Dichtung wird durch Filzstreifen bewirkt.14

Nach der Vorstellung des Prozesses sollte die Überprüfung am Resultat folgen. Mies richtete zwei weitere Wohnungen ein. Beim Vergleich seiner Grundrisse15 mit anderen fällt die Offenheit, das Fließende und der fast vollkommene Verzicht auf Türen auf. Karin Kirsch beschreibt das Raumkonzept wie folgt: „mehr Abtrennung als Unterteilung, mehr grobes Ordnungsprinzip als Raumzuweisung, mehr Angebot als Diktat“16. Das Offene spiegelte sich auch in den Fotografien von Bau und Wohnung wider. Blättert man in dieser Publikation, gibt ein Aspekt unter all den Abbildungen zum Mietsblock Anlass zur Verwunderung: Trotz der 29 verschiedenen Gestalter, findet sich hier nur ein Raum, der nicht von Mies eingerichtet wurde.

14 | Heinz und Bodo Rasch: Wie bauen? – Bau und Einrichtung der Werkbundsiedlung am Weißenhof in Stuttgart 1927. Stuttgart o. J., S. 125. 15 | Folgende Wohnungen richtete Mies van der Rohe selbst ein: Haus 2, 1. Stock links, 2. Stock rechts (ohne Möbel) und 2. Stock links. 16 | Kirsch 1987 (Anm. 12), S. 77.

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Offensichtlich wurden die Ausführungen von Anderen nur vor Ort präsentiert. Die Räume, welche abgedruckt, somit nach Ausstellungsende erinnert werden konnten und heute noch nachvollziehbar sind, kommen von Mies, der als künstlerischer Leiter sicherlich auch Einfluss auf die Publikation zur Exposition nahm. Die Bildauswahl war vermutlich kaum dem Zufall geschuldet. Es ging für ihn – von dem man bisher vor allem Zeichnungen, kaum aber Bauten kannte – nicht zuletzt auch darum, sich im Diskurs des Neuen Bauens und Wohnens zwischen Namen wie Behrens, Gropius oder Le Corbusier zu positionieren. Dem aufmerksamen Besucher der Ausstellung und Betrachter der späteren Publikation musste auffallen, dass auf Seite 83 einer der präsentierten, jedoch nicht gekennzeichneten Räume von Lilly Reich eingerichtet wurde. Auch hier ist der Modus des Zeigens interessant: Jene Raumgestaltung (Abb. 8) ist über einem deutlich größeren Bild eines Zimmers von Mies abgedruckt. Durch das Bildformat und die eingezogene Wand wirkt ihr Vorschlag gedrängter als seiner. Dahinter steckt vermutlich Kalkül: Der Vergleich zwischen beiden Räumen stellt von all den vorbildlichen Lösungen des Ausstellungsbaus, seine eigene als nochmals vorbildlicher heraus. Die Anordnung auf Seite 83 ist symptomatisch für Mies’ Vorgehensweise: Andere Akteure und ihre Arbeiten werden genutzt, um die eigene Aussage zu bekräftigen. Das bedeutet, zurückzutreten und andere einrichten zu lassen. Gestaltungen wie die der Schweizer Kollektivgruppe präsentieren nicht nur sich, sondern das Konzept, welches die Unterschrift Mies van der Rohes trägt (Abb. 4). Dass dies vermutlich die Aufgabe war, die er für sie hauptsächlich im Sinne hatte, deutet sich in Bau und Wohnung an. Hier fallen weder die Namen der 13 Schweizer noch der von Lilly Reich. Dies gibt Anlass, sie als humanoide Medien zu betrachten: Sie machen etwas sichtbar, ohne selbst in Erscheinung zu treten; Informationen werden durch sie übertragen, ohne dass von ihnen etwas preisgegeben wird. Andere Akteure wurden zu Medien, die es Mies erlaubten, das Konzept zu überprüfen und dafür zu argumentieren. Sie schrieben an seinem gebauten Manifest mit, waren Teil seiner Zeige-Strategie: „Er ließ andere das Ihre ausführen, um damit zu zeigen, dass das Seine geglückt war!“17 Mit Hilfe von Bau und Wohnung lässt sich so Ludwig Mies van der Rohe als Architektenpersönlichkeit und medialer Stratege auf dem Weißenhof identifizieren. Doch wendet man sich erneut dem Leporello zu, zeigt sich weit mehr von seiner Rolle. Er war Teil weitgestreckter Verflechtungen, die auf dem Dokument Spuren hinterlassen haben. So tritt Mies hier als „2. Vorsitzender des Deutschen Werkbunds“ auf und stellt sich in den Dienst einer Agentur, die eigene Interessen vertrat. Meine These ist diesbezüglich, dass Mies Teil eines Ausstellungsprojekts war, mit dem weit mehr als nur eine Strategie verfolgt wurde. 17 | Ibid., S. 67.

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8 Darstellung der Innenräume von Lilly Reich (oben) und Mies van der Rohe (unten) in Bau und Wohnung, Stuttgart, 1927

1907 gegründet, hatte sich der Deutsche Werkbund als Vereinigung aus Künstlern, Architekten, Industriellen und Politikern der Veredlung der gewerblichen Arbeit durch Erziehung, Propaganda und Stellungnahme verschrieben.18 Durch die Nutzung verschiedener Kanäle des Zeigens, wie dem Deutschen Warenbuch oder dem Deutschen Museum für Kunst im Handel und Gewerbe, versuchte der Bund Einfluss auf Produzenten und Rezipienten zu nehmen, Wissenslücken zu schließen, verbunden mit der Hoffnung, sich selbst überflüssig zu machen – so, wie sich eine Zeige-Geste auch im besten Falle durch das Erreichen des jeweiligen Ziels selbst verbraucht.19 Mit der Bau-Ausstellung hatte sich ein weiteres Element im medialen Beweisführungsverfahren zum Neuen Bauen und Wohnen gefunden. Erfolgsversprechend schienen diese Unternehmungen durch die heterogene Zusammenmischung der Mitglieder. Der modus operandi des Werkbunds war das Vernetzen. Dass es Mies gelang, vielfältige Gestalter für seinen Mietsblock zu akquirieren, war auch ein Nachweis für das Agieren des Bunds – wie der gesamte Weißenhof: 21 Häuser wurden von 17 Architekten erbaut und von 55 Innenraumgestalter eingerichtet. Die Siedlung war damit nicht nur als Leistungsschau für die Baukünstler geplant, sondern ebenfalls 18 | Vgl. Deutscher Werkbund: Die Durchgeistigung der Deutschen Arbeit – Wege und Ziele in Zusammenhang von Industrie, Handwerk und Kunst. Jena 1912, S. III und die Satzung des Werkbunds in Teil VI. 19 | Vgl. Boehm 2007 (Anm. 5), S. 148.

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als Prestigeprojekt des Werkbunds. Ausdruck für die besondere Vernetzungsfähigkeit war – neben auffällig vielen eigenen Mitgliedern – Kräfte von außen zu gewinnen. Mies’ Block mit der Beteiligung der Schweizer mag dafür ein Beleg gewesen sein. Eine noch deutlichere Referenz sollte Le Corbusier werden. Doch gerade an dieser Person zeigt sich, dass Mies und der Werkbund nicht frei und im luftleeren Raum operierten. Das Leporello legt dar, wer die 60 Wohnungen auf dem Weißenhof baute: die Stadt Stuttgart. Sie stellte das Grundstück und finanzierte das Projekt. Städtische Gremien mussten über die wichtigen Schritte informiert werden und entschieden mit – auch bei der Wahl der Architekten. Mies konnte Le Corbusiers Teilnahme nicht alleine bestimmen, sondern stand in einer Abhängigkeit zur austragenden Stadt. Er war an andere Agenten und Agenturen gebunden. Im Netzwerk musste der gemeinsame Weg unter Einbezug der verschiedenen Begierden und Bedenken erst ausgehandelt werden. Auszüge aus den Protokollen von Gemeinderatssitzungen zeigen, welches Konfliktpotenzial hier schlummerte: „Bei der Abstimmung wird die Wahl des Architekten Corbusier, der Westschweizer ist, aus nationalen Gründen mit Stimmenmehrheit abgelehnt.“20 Aussagen von Zeitzeugen belegen, dass die westliche, die französisch sprechende Schweiz mit dem Erbfeind Frankreich assoziiert wurde.21 Mies konnte jedoch in einer Aussprache davon überzeugen, dass es strategisch unklug war, Le Corbusier nicht einzubeziehen: „Auf Corbusier dürfe nicht verzichtet werden, man schade dadurch der Sache ungemein; sein Name werde vor allem auch im Ausland seine sehr starke Wirkung haben.“22 Der Werbewirksamkeit einer Figur wie Le Corbusier konnte sich Stuttgart nicht verschließen. So ist es kaum verwunderlich, dass er schlussendlich nicht nur an der Ausstellung teilnehmen konnte, sondern auch einen prominenten Bauplatz bekam. Dies demonstriert, dass der Gemeinderat erheblichen Einfluss auf das Projekt hatte, doch selbst an die Regeln des Ausstellens gebunden war. Besondere Aufmerksamkeit ließ sich durch Persönlichkeiten generieren, die sich in der internationalen Architekturszene einen Namen gemacht hatten. Die Exposition sollte nicht nur auf den Werkbund verweisen, sondern auch auf die Stadt. Denn Deutschlands Ausstellungsstädte wie München, Düsseldorf, Dresden oder Stuttgart standen in Konkurrenz zueinander. Selbst Orte, die von außen die Vernetzung bedrohen konnten, hatten Einfluss auf das Agieren innerhalb des Netzwerks. Bruno Taut hielt 1926 in einem Brief an die Württembergische Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbunds fest: „Wenn die Stuttgarter Unternehmung der vorbildlich neuartigen Siedlung nicht zustande kommen soll-

20 | Auszug aus der Niederschrift der Bauabteilung des Gemeinderats vom 27. August 1926, § 2444, Stadtarchiv Stuttgart, Aktendepot B, CIV A 12, Bd. 46, Nr. 116. 21 | Vgl. Kirsch 1987 (Anm. 12), S. 101. 22 | Aussprache zwischen Mies van der Rohe, Gustaf Stotz und Vertretern der Stadt am 15.09.1926. Ludwig Mies van der Rohe zitiert in ibid., S. 56.

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te, so wird m. E. dieser Plan ganz sicher anderswo einmal verwirklicht werden und zwar durchaus in absehbarer Zeit.“23 Vor diesem Hintergrund lassen sich einige Entscheidungen aus der Planungsphase der Ausstellung erklären. Bei allen Streitereien zwischen der Stadt und dem Werkbund, die Mies durch sein bei weitem nicht immer strategisches wie diplomatisches Verhalten beinah die Leitung kosteten, musste eine Balance der Kräfte entstehen. So sehr Mies und der Werkbund auf Stuttgart angewiesen waren, so sehr bestand die Gefahr, dass sie sich bei zu großer Einmischung einen anderen Ausstellungsort suchten. Das bedeutete für alle Akteure und Agenturen im Sinne der Leistungsfähigkeit des Netzwerks Interessen zurückzusetzen oder anzugleichen. Diese kaum herkömmliche Schau brachte viele Risiken mit sich, doch vermutete man auch großes Potenzial: Im Protokoll der Sitzung der Bauabteilung des Gemeinderats vom 16. April 1926 stellte der Geheime Hofrat Peter Bruckmann, Landtagsmitglied, Vorsitzender der Demokratischen Partei in Württemberg und – nicht zu vernachlässigen – Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbunds, heraus, dass das Interesse an der Ausstellung weit über Deutschland hinausweisen würde: Es ist genau wie in der Industrie; wir glauben oft, noch auf der Höhe der Zeit zu sein, wir glauben immer noch einen Rang einzunehmen wie vor dem Krieg, aber während des Kriegs und nach dem Krieg haben sich in Ländern, an die man früher gar nicht gedacht hat, neue Industrien, neue Techniken entwickelt und wir stehen erstaunt vor dem, was dort geleistet wird. Und so sollte auch Stuttgart, gerade um den Ruf weiter zu wahren, eine der ersten Städte in Deutschland zu sein, in der gut gebaut wird, auf diesem Gebiet sich eine besondere Anstrengung leisten, indem sie nun zeigt, was tatsächlich das Neueste, das Beste, das Praktischste ist. 24

Ziel war es, in- wie ausländische Besucher und Fachleute in die Stadt zu locken. Damit galt es touristischen Regeln zu folgen, besonders bei der Wahl des Grundstücks: Vom Weißenhof ließ sich weit ins Neckartal blicken (Abb. 9). Diskutiert wurde auch über die Stöckachgegend, die dringlicher Wohnungen gebraucht hätte. Hier standen Behelfsunterkünfte und Baracken für Obdachund Arbeitslose – eine Nachbarschaft, die sich Mies und der Werkbund kaum

23 | Abschrift eines Briefs von Bruno Taut, Berlin, an die Württembergische Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbunds, Stuttgart, 1926, Stadtarchiv Stuttgart, Aktendepot B, CIV A 12, Bd. 46, Nr. 116. Tatsächlich existieren Dokumente, die belegen, dass auch anderen Städte während der Planungsphase Interesse an dem Ausstellungsprojekt hatten, bspw. ein Brief vom Geschäftsführer des Deutschen Werkbunds vom 27. Februar 1927 an Gustaf Stotz oder vom 20. Juli 1927 an das Stadtschultheißenamt, ibid. 24 | Protokoll der Sitzung der Bauabteilung des Gemeinderats der Stadt Stuttgart vom 16. April 1926, abgedruckt in Karin Kirsch: Briefe zur Weißenhofsiedlung. Stuttgart 1997, S. 58.

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für das Prestigeprojekt wünschten oder dem Fremdenverkehr förderlich gewesen wäre. Neben dem touristischen Aufschwung sollte die Exposition Stuttgart gegen die Wohnungsnot helfen. Ein Mietsblock, welcher nach der Ausstellung 24 neue Wohnungen lieferte, diente dem Eigeninteresse der Stadt.25 Dahinter verbarg sich ein weiterer Vorteil: Mit der Ausstellung ließ sich die notwendige Stadterweiterung von der „Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bauund Wohnwesen“ bezuschussen. Deren Gelder richteten sich an Versuchsarbeiten, die neue Wege der Rationalisierung zur Verbesserung und Verbilligung des Wohnungsbaus erforschten. Dem verschrieb sich die Siedlung und geriet in den Kreis der förderungswürdigen Projekte. Dass es zur Bezuschussung kam, lag sicherlich auch an einem weiteren Aspekt: Im Sachverständigenrat der Gesellschaft, welcher die Vergabe der Gelder beeinflusste, saßen Werkbundmitglieder wie Gropius, May oder Schmitthenner. Die Vernetzung des Bunds griff auch in staatliche Institutionen ein und machte damit die Weißenhofsiedlung als Versuchsanordnung möglich.

9 Blick von der Dachterrasse, Haus Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Stuttgart, 1927

Das vom Förderer verlangte und von den Baukünstlern durchgeführte Experiment brachte allerdings Nachteile mit sich. Die fehlenden Erfahrungen etwa zu Bauweisen und Material seitens der Architekten und der Stuttgarter Baufirmen 25 | Besonders der rechte Flügel des Gemeinderats kritisierte allerdings, dass auf der Weißenhofsiedlung zu viele Einfamilienhäuser gebaut wurden. Wunsch war es, zusätzliche Mietshausblöcke zu errichten, die der Stadt deutlich mehr Wohnungen gegen die Wohnungsnot geliefert hätten.

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waren weder dem Exponieren noch dem Bewohnen dienlich. Am 23. Juli wurde die Weißenhofsiedlung eröffnet, der Mietsblock konnte jedoch erst am 6. September 1927 als „ausstellungsfertig“ betrachtet werden.26 Als die Bauten zum Bewohnen überführt werden sollten, musste man zunächst renovieren. Die Mangelhaftigkeit der Häuser wurde von vielen Seiten kritisiert. Auch störte man sich an der kubischen Form und kargen Ausstattung, die mit den Gewohnheiten der Ausstellungsbesucher brachen. Viele Betrachter sahen sich nicht als potenzielle Bewohner der Gebäude. Mies’ beweglicher Grundriss war ein Angebot, aber auch eine Herausforderung. Die flexiblen Trennwände verlangten danach gesetzt zu werden. Der Laie wollte die Aufgabe kaum übernehmen und war verstört von dieser Idee zukünftigen Wohnens. Es besteht eine Differenz aus dem Bauen zum Ausstellen und dem Bauen zum Wohnen. Die Radikalität war der Exposition sicherlich förderlich, doch es ließ sich schwer nachvollziehen, wie die Ausstellungsräume zu Bauten des Wohnens werden konnten. International wurde die Schau gelobt; nicht so vor Ort, wo es tatsächlich zur Umsetzung kommen sollte. Aus lokaler Sicht war das Weißenhof-Projekt höchst problematisch. Auch darüber gibt das Leporello Aufschluss. Denn bei allem Zeigen erhält ein Aspekt hier kaum Ausdruck: der Boden, auf dem die Siedlung stand. Stuttgart war in der Welt der Architektur kein unbeschriebenes Blatt, sondern hatte eine Architekturschule hervorgebracht mit ähnlichem Zulauf wie das Bauhaus, doch mit anderer Ausrichtung. Paul Bonatz und Paul Schmitthenner, um die wichtigsten Lehrer der „Stuttgarter Schule“ zu nennen, waren dem Traditionalismus zugewandt und Mitglieder des Werkbunds, der kein homogenes Ganzes ergab – im Gegenteil: Mit den unterschiedlichen Akteuren im Netzwerk schwebte stets die Gefahr der Störung mit. Auf dem Leporello fehlen Bonatz und Schmitthenner. Durch das Sich-Nicht-Zeigen dieser Personen, verdeutlicht sich, dass die Ausstellung einer Selektion unterzogen war, die Konflikte mit sich bringen musste. Die Architektenauswahl begründete Mies van der Rohe während der Planungsphase wie folgt: „Ich habe die verwegene Idee, alle auf dem linken Flügel stehenden Architekten heranzuziehen, das würde ausstellungstechnisch glaube ich unerhört erfolgreich sein.“27 Mies’ Entscheidung für eine extrem moderne Exposition war gleichzeitig eine gegen die traditionalistischen Tendenzen im Werkbund. Als mit der Neubesetzung des Vorstands der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbunds im Juni 1926 Schmitthenner und Bonatz ihren bis dahin erheblichen Einfluss verloren, traten beide aus dem Werkbund aus. Am 23. Juli 1926, ein Jahr vor Ausstellungseröffnung, wurden hingegen Peter Bruckmann und Mies van der Rohe 26 | Vgl. Kirsch 1987 (Anm. 12), S. 66. 27 | Brief von Ludwig Mies van der Rohe, Berlin an Gustaf Stotz, Stuttgart, Berlin, 11. September 1925. Abgedruckt in Kirsch 1997 (Anm. 24), S. 24.

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zum ersten und zweiten Vorsitzenden des Werkbunds gewählt. Die Weißenhofsiedlung stand somit auf dem schmalen Grat zwischen der Bekräftigung und der Schwächung einzelner Mitglieder und dadurch des gesamten Netzwerks. Sie brachte die Stabilität ins Schwanken. Dieser Konflikt sollte sich auch im Stadtbild niederschlagen. 800 Meter vom Weißenhof entfernt steht seit 1933 die Kochenhofsiedlung – ein traditionalistisches Gegenmodell mit Satteldachpflicht (Abb. 10). Noch zu Beginn des Jahres 1933 als weitere Werkbundausstellung geplant, wurde im Zuge der politischen Veränderungen die Allianz zwischen Stadt und Bund gekündigt und Schmitthenner das Projekt übertragen. Anlass dafür gab die Weißenhofsiedlung, die man inzwischen als „Schandfleck“ der Stadt beschimpfte. Schien es während der Exposition als diente sie der Bekräftigung, sollte sie nun dem Werkbund schaden. In Schmitthenners Eröffnungsrede zur Kochenhofsiedlung zeigte sich aber, dass auch das neue Projekt kaum ohne sie zu denken war: Im Jahre 1927 wurde die Weißenhofsiedlung in Stuttgart gebaut. 1933 in nachbarschaftlicher Nähe die Holzhaus-Siedlung am Kochenhof. Beide Siedlungen haben in ihrer Entstehungsgeschichte manche Aehnlichkeit und könnten doch nicht grundverschieden sein in ihrer geistigen Grundlage und in ihrer Auswirkung. Beide wurden unter entscheidender Mitwirkung der Stadt Stuttgart errichtet, beide von einer größeren Anzahl Architekten unter einer künstlerischen Oberleitung erbaut. Beide liegen auf der Höhe von Stuttgart, und beide sollen für den Wohnungsbau richtunggebend sein. […] Auf dem Weißenhof – internationale Baukunst, die durch das Fremde auffallen will und dadurch in ‚Manier und Mode‘ versank, auf dem Kochenhof der ehrliche Wille ‚der Gesellschaft und dem allgemeinen Wachstum‘ zu dienen und damit der deutschen Baukunst. 28

Das Zitat beweist die inhaltliche, ideologische und gestalterische Distanz der beiden Projekte, aber auch ihre Nähe und Abhängigkeit. Schmitthenners Worte belegen, dass die Gegenseite an Ludwig Mies van der Rohe gebunden war. In ihrem „Andersmachenwollen“ musste letztlich auch sie in Mies’ strategische Visualisierungs- und Überzeugungsarbeit einsteigen. In diesem Falle durch einen ganz bestimmten Modus des Zeigens: Ein Beispiel neben ein Gegenbeispiel zu platzieren, einer gängigen Ausstellungspraxis Gustav Pazaureks und angelehnt an die Buchgestaltungen Paul Schultze-Naumburgs. Durch die Angrenzung des ‚Guten‘ neben dem ‚Schlechten‘ traten die Konturen des Vorbildlichen deutlich-

28 | Die Eröffnungsrede ist vermutlich identisch mit einem Artikel im NS-Kurier, aus dem das Zitat entnommen wurde: Paul Schmitthenner: Kochenhof – Weißenhof/Rückblick und Ausblick. In: NS-Kurier, Nr. 243 (1933), S. 2.

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hervor. Diese „Logik der Kontraste“29 wurde von den Stuttgarter Traditionalisten mit ihrer Zeige-Strategie auf eine neue Ebene gehoben: Spazierte man von der einen zur anderen Siedlung, hatte man den Eindruck auf eine Doppelseite im Buch zu blicken, nur war es fassbarer und damit für den Laien vermutlich überzeugender. Mit der Bebauung auf dem Kochenhof wurde ein sich abgrenzender Lösungsvorschlag zum verbesserten Wohnen und Bauen, ein Unterschied zu Mies’ Weißenhofsiedlung präsentiert und eine „andere Moderne“ erfahrbar. Damit zeigt sich, dass das Medium der Bau-Ausstellung zum Diskussionsgegenstand und zum Austragungsort im Wettkampf um die Durchsetzung von architektonischen Ideen wurde.

10 Blick in die Kochenhofsiedlung, Stuttgart, 1933

Die Weißenhofsiedlung und die Bebauung auf dem Kochenhof existieren kriegsgeschädigt und verändert bis heute. Beide sind in ihrer ästhetischen Distanz in geografischer Nähe zu Zeugnissen einer Zeitgeschichte geworden, zu Ikonen in der Architektur- und Designhistorie und zu touristischen Orten im Stadtprofil Stuttgarts. Durch die Siedlungen kann man noch immer spazieren; die Häuser sind jedoch heute bewohnt und damit dem Besucher verschlossen. Einlass gewährt nur das Doppelhaus von Le Corbusier. In der einen Gebäudehälfte wird im Informationszentrum die Geschichte der Weißenhofsiedlung erzählt; für die andere wurde die Raumaufteilung, Farbgebung und teils die Einrichtung wieder hergestellt, um ein begehbares Exponat zu bieten. „Der Be-

29 | Boehm 2007 (Anm. 12), S. 148.

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sucher erlebt so eine Momentaufnahme der damaligen Ausstellung“30, heißt es auf der Webseite des Weißenhofmuseums. Dieses Zitat lässt eine Verschiebung erkennen: Im Museum wird versucht, einen kleinen Teil von damals auf Dauer zu stellen. Was der Besucher findet, ist eine Ausstellung über die Ausstellung – jedoch nicht das, was die Weißenhofsiedlung 1927 selbst vorgab zu sein: eine Exposition zum Bauen und Wohnen, die wie Werner Graeff es herausstellte, „der Klärung des Wohnwillens“ dienen sollte. Ludwig Mies van der Rohe war der mediale Stratege dieser Unternehmung und in den verschiedenen Rollen, in denen er auftrat sowie den unterschiedlichen Auftraggebern, denen er verpflichtet war, selbst Spielball verschiedener Strategien. Das Leporello zeigt es deutlich: Die Weißenhofsiedlung war ein Hybrid, an dem zahlreiche Menschen, Dinge, Organisationen, Normen und Interessen mitbauten: Die Architekten, die eine Plattform für ihre Ideen und ihre Positionierung suchten, der Werkbund, der einen Beweis für seine Leistungsfähigkeit liefern wollte, der Gemeinderat, der die Stadterweiterung, den Ruf und touristische Ziele im Blick hatte oder die Reichsforschungsgesellschaft, die an der Prüfung neuer Materialien und Konstruktionen interessiert war. Jeder wollte zeigen. Ob diese Fülle jedoch dem Laien half, zu klären, wie er wohnen wollte, ist fraglich.

30 | www.stuttgart.de/weissenhof (November 2011).

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Bibliografie Boehm, Gottfried: Die Hintergründigkeit des Zeigens. In: Gfrereis, Heike; Lepper, Marcel: Deixis – Vom Denken mit dem Zeigefinger. Göttingen 2007, S. 144-155. Deutscher Werkbund: Die Durchgeistigung der Deutschen Arbeit – Wege und Ziele in Zusammenhang von Industrie/Handwerk und Kunst. Jena 1912. Graeff, Werner: Zur Stuttgarter Weißenhofsiedlung. In: Deutscher Werkbund: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 8-9. Kirsch, Karin: Die Weißenhofsiedlung. Stuttgart 1987. Kirsch, Karin: Briefe der Weißenhofsiedlung. Stuttgart 1997. Mies van der Rohe, Ludwig: Vorwort. In: Deutscher Werkbund: Bau und Wohnung, Stuttgart 1927, S. 7. Mies van der Rohe, Ludwig: Zu meinem Block. In: Deutscher Werkbund: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 76-85. Neumeyer, Fritz: Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort; Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986. Rasch, Heinz und Bodo: Wie bauen? – Bau und Einrichtung der Werkbundsiedlung am Weißenhof in Stuttgart 1927. Stuttgart o. J. Schmitthenner, Paul: Kochenhof – Weißenhof/Rückblick und Ausblick. In: NSKurier, Nr. 243, 1933, S. 2.

Abbildungen Blick in die Weißenhofsiedlung. In: Bau und Wohnung, Stuttgart 1927, S. 11 2,3 Werner Graeff: Leporello-Prospekt, 1927, Stuttgarter Gesellschaft für Kunst und Denkmalpflege e.V. 4 Mies van der Rohes Artikel in Bau und Wohnung. In: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 77 5,6 Grundrisse in Mies van der Rohes Mietshausblock. In: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 78-79 7 Flexible Trennwand. In: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 82 8 Darstellung der Innenräume von Lilly Reich und Mies van der Rohe in Bau und Wohnung. In: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 83 9 Blick von der Dachterrasse, Haus Le Corbusier und Pierre Jeanneret. In: Bau und Wohnung. Stuttgart 1927, S. 37 10 Blick in die Kochenhofsiedlung. In: Bauwelt, Heft 43, 1933, S. 1 1

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Die deutsche Seidenindustrie als Auftraggeber der Moderne Christiane Lange

1956 besprach der Architekturhistoriker und Leiter der Neuen Sammlung in München, Wend Fischer den Neubau der Textilingenieurschule von Bernhard Pfau in Krefeld und fand es „nicht verwunderlich, dass wesentliche Zeugnisse der neuen Architektur gerade dort entstanden sind, wo eine alte Tradition künstlerischen Gewerbes schon den Boden für die Einheit von Kunst, Technik und Industrie vorbereitet hatte.“ (Abb. 1) Er attestierte der Stadt Krefeld mit ihrer führenden Seidenindustrie die erfolgreiche Synthese von Kunst, Technik und industrieller Fertigung als Resultat der besonderen Eigenschaften und Anforderungen der Seidenfabrikation. 1 Implizit beschrieb er Krefeld als einen Ort, an dem die Ziele des Deutschen Werkbundes (DWB) Früchte tragen konnten. In der Wahl des jungen Architekten Bernhard Pfau für den Bau der Textilingenieurschule (TIS) erkannte er die logische Fortsetzung einer nachhaltigen Offenheit der ortsansässigen Seidenindustrie, „getragen von einem fortschrittlich gesinnten, der Kunst aufgeschlossenen Bürgertum“ gegenüber der „Moderne“, die sich seit den zwanziger Jahren in Aufträgen an Hans Poelzig, Bernhard Pfau, Egon Eiermann und im Besonderen an Ludwig Mies van der Rohe manifestiert habe. 2 Fischer erkannte den industriell–kulturellen Kontext dieser Auftragsserie sowie die Bedeutung der Krefelder Seidenindustrie mit ihrer wirtschaftspolitischen Repräsentanz und ihren Protagonisten in diesem Zusammenhang. Ludwig Mies van der Rohe führte zwischen 1927 und 1939 neun Aufträge für diesen speziellen Kreis Krefelder Auftraggeber aus, einige gemeinsam mit

1 | Wend Fischer: Vollkommener Einklang. In: Krefeld, Merian H 2, 9. Jg. (1956), S. 12-16. 2 | Ibid., S. 14.

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seiner beruflichen und privaten Partnerin Lilly Reich.3 Zu den erhaltenen undbekannten Projekten zählt sein Villenensemble in Backstein für die befreundeten Seidenfabrikanten Hermann Lange und Josef Esters von 1927–1930.4 Als private Wohnhäuser für Kunstsammler geplant wurden sie bereits seit 1955 bzw. 1981 Teil der Kunstmuseen Krefeld und waren wiederholt Ort legendär gewordener Ausstellungen von zeitgenössischen Künstlern (Abb. 2).5 Erhalten ist ebenfalls das sogenannte „Färberei und HE-Gebäude“ von 1931/1935, Mies’ einziger Fabrikbau, den er für das führende Seidenunternehmen des Deutschen Reiches errichtete, die Vereinigten Seidenwebereien Aktiengesellschaft (Verseidag) (Abb. 3). Lange und Esters hatten sie 1919 als Zusammenschluss mehrerer ortsansässiger Seidenwebereien, darunter auch die ihrer Vorfahren, gegründet. 1937 erhielt Mies noch einen weiteren Auftrag des expandierenden Unternehmens: die Planung der neuen Hauptverwaltung. Sie wurde jedoch nicht mehr ausgeführt.6 Für die Familie von Hermann Lange richtete Mies gemeinsam mit Lilly Reich 1930 eine Wohnung für die Tochter Mildred Crous in Berlin ein und entwarf 1934–1935 ein Hofhaus für den Sohn Ulrich Lange. Es wurde auf Grund der Neuauslegung des Gestaltungsgesetzes durch die Nationalsozialisten nicht realisiert. Als 1930 im Zuge der Verbreitung des Golfsports im Deutschen Reich der erste Golfclub der Stadt gegründet wurde erhielt Mies die Einladung, am Wettbewerb für das Clubhaus teilzunehmen. Mies’ Entwürfe und Perspektiven sind erhalten, der Wettbewerb wurde jedoch auf Grund der Wirtschaftskrise nicht mehr entschieden.7 Ausgangspunkt und Motor der Auftragsserie waren jedoch nicht die genannten Bauten, sondern Aufträge für ephemere Ausstellungsarchitekturen. Drei Mal beauftragte der in Krefeld ansässige Branchenverband „Verein deutschen Seidenwebereien“ (VdS) Mies mit repräsentativen Seidenausstellungen: 1927 entwarf er gemeinsam mit Lilly Reich das „Café Samt und Seide“ als erste öffentliche Selbstdarstellung des Verbandes, 1929 folgte die prämierte Schau „Deutsche Seide“ auf der Weltausstellung in Barcelona und 1937 – unter veränderten Vorzeichen – die „Reichsausstellung der deutschen Textilindustrie“, deren Planung Mies jedoch wenige Wochen vor der Eröffnung entzogen und Ernst

3 | Vgl. die zusammenhängende Darstellung in: Christiane Lange: Ludwig Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie. Berlin 2011. 4 | Ibid., Kat. Nr. 3. 5 | Zur Geschichte der Häuser Lange und Esters als Kunstmuseen siehe: Julian Heynen: Ein Ort für Kunst. Ludwig Mies van der Rohe Haus Lange – Haus Esters. Ostfildern 1995; Ders.: Ein Ort, der denkt. Haus Lange und Haus Esters von Ludwig Mies van der Rohe. Moderne Architektur und Gegenwartskunst. Krefeld 2000; Kent Kleinmann; Leslie van Duzer: Mies van der Rohe. The Krefeld Villas. New York 2005. 6 | Lange 2011 (Anm. 3), Kat. Nrn. 6 u. 8. 7 | Ibid., Kat. Nrn. 4, 5, 7.

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1 Bernhard Pfau: Textilingenieurschule Krefeld, 1950 – 1957, Ansicht des Audimax, ca. 1958

2 Ludwig Mies van der Rohe: Haus Lange Haus Esters, Krefeld, 1927 – 1930, Straßenfront, 2010

3 Ludwig Mies van der Rohe: Verseidag Färberei- und HE Gebäude, Krefeld, 1930/31 und 1935, Zustand 1931

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Sagebiel übertragen wurde.8 Ausstellungsaufträge von geringerem Umfang erhielten außerdem 1937 Bernhard Pfau im Rahmen der nationalsozialistischen Leistungsschau „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“9 und Lilly Reich 1937 im Rahmen der Weltausstellung in Paris.10 Alle genannten Aufträge, die privaten sowie die institutionellen, standen in Verbindung mit der Seidenindustrie. Krefeld war seit dem 18. Jahrhundert das Zentrum der deutschen Seidenindustrie, auch „Lyon des Nordens“ genannt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der Übergang vom Verlagswesen zur industriellen Fertigung vollzogen. Die sogenannten Seidenbarone wurden von modernen Seidenfabrikanten abgelöst, die sich zu Konsortien zusammenschlossen und über Fachverbände ihre wirtschaftspolitischen Belange organisierten. Mitte der zwanziger Jahre war die Seidenindustrie zu einem der mächtigsten Wirtschaftsfaktoren gereift. Die meisten und wichtigsten Unternehmen saßen in Krefeld, Barmen, Elberfeld und in Thüringen. Die Verlegung des Dachverbandes der Seidenindustrie von Düsseldorf nach Krefeld im Jahr 1919 besiegelte die räumliche und personelle Vormachtstellung der Krefelder Unternehmen und Unternehmer. Einer ihrer wichtigsten Vertreter, Hermann Lange organisierte zudem nach dem Ende des 1. Weltkrieges die Rückführung der Textilindustrie in die Friedenswirtschaft im Wirtschaftsministerium in Berlin. Dass Mies seit 1927 wiederholt Aufträge aus Krefeld erhielt, ist in der einschlägigen Forschung hinlänglich bekannt. Hermann Lange, Bauherr von Haus Lange, gilt als Schlüsselfigur dieser Auftragsserie und als Förderer des Architekten. Er wird als Mäzen bezeichnet, der als einer der wichtigsten deutschen Sammler für zeitgenössische französische und deutsche Kunst und als zentrale Figur der Seidenindustrie galt und über die notwendige Kenntnis und ausreichenden Einfluss verfügte, Mies auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung noch beauftragen zu können.11 Diese Einschätzung ist jedoch nur zum Teil zutreffend. Der Unternehmer und Sammler Hermann Lange hatte auf Grund seiner Kompetenz zweifellos eine zentrale Stellung im Kreis der Krefelder Auftraggeber von Mies. Bereits vor dem 1. Weltkrieg hatte er begonnen, die erwähnte Sammlung zeitgenössischer französischer und deutscher Kunst aufzubauen. Er engagierte sich darüber hinaus seit den zehner Jahren sowohl für die zeitgenössische Kunst als auch für den Werkbund. Dessen Ziele fanden durch Friedrich 8 | Ibid., Kat. Nr. 1 u. 2; Elaine Hochmann: Mies van der Rohe and the Third Reich. New York 1989, S. 271-273; 282-287; Ausst. Kat. Museum of Modern Art, New York: Lilly Reich Designer and Architekt, Matilda McQuaid (Hg.). New York 1996, S. 41. 9 | Julius Niederwöhrmeier: Das Lebenswerk des Düsseldorfer Architekten Bernhard Pfau 1902– 1989. Stuttgart 1997, W 69. 10 | McQuaid 1996 (Anm. 8), S. 42. 11 | Hochmann 1989 (Anm. 8), S. 58.

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Deneken, Gründungsdirektor des Krefelder Kunstgewerbemuseums und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, bereits vor 1907 in Krefeld Verbreitung und Anwendung. Seit 1898 bemühte dieser sich um die Zusammenführung des örtlichen Handwerks und der örtlichen Industrie mit Künstlern im Sinne der „Hebung des Geschmacks“. Lange gehörte zu einem seiner ersten Mitstreiter aus der Seidenbranche.12 Als Unternehmer und Vorstandsvorsitzender der Verseidag lenkte Lange eines der größten deutschen Seide produzierenden Unternehmen. Darüber hinaus engagierte er sich in führender Position als wirtschaftspolitischer Aktivist für seine Branche, ungeachtet der wechselnden politischen Systeme Monarchie, Demokratie und Diktatur. Seit 1910 war er im Vorstand des Vereins deutscher Seidenwebereien, seit 1930 dessen Vorsitzender, von 1933 bis 1938 hatte er die gleiche Funktion in der jetzt zentral gesteuerten „Fachgruppe Seide“ inne. Durch seine europaweite Vernetzung sowohl als Unternehmer und Verbandsrepräsentant wie auch als Sammler brachte er Impulse in seine Heimatstadt, die eine wichtige Voraussetzung für das Klima schufen, in dem Mies und Reich, später Bernhard Pfau und Egon Eiermann so erfolgreich arbeiten konnten. Er agierte jedoch nicht allein. Durch das Zusammenspiel der Krefelder Seidenindustrie und ihrer Vertreter mit der aktiven Ortsgruppe des Deutschen Werkbundes in Krefeld unter der Führung von Deneken (später vom Seidenfabrikanten Alex Oppenheimer und dem Deneken-Nachfolger Max Creutz) und der ebenso aktiven Gruppe von Sammlern und Museumsförderern war eine Szene entstanden, die sich mit großer personeller Konsistenz und Kohärenz über Jahrzehnte für die „gute Form“ engagierte. 13 Die Fokussierung auf die Person Hermann Lange übersieht den kulturellen Kontext der Krefelder Aufträge an Vertreter der Moderne und die besonderen Umstände, aus denen die Aufträge der Verseidag und des Verbandes der Seidenindustrie an Mies hervorgegangen waren. Diese Aufträge basierten nicht auf der individuellen Entscheidung eines kunstinteressierten, vermögenden Unternehmers, auch entsprangen sie keinem mäzenatischen Eifer. Sie konnten gar nicht von einer Einzelperson erteilt werden, sondern mussten den 12 | Gerda Breuer: Deneken und die Textilindustrie. In: Ausst. Kat. Von der Heydet-Museum, Wuppertal; Karl Ernst Osthaus Museum, Hagen: Der Westdeutsche Impuls 1900 – 1914. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Krefeld, Hagen 1984, S. 89-104. 13 | Der Krefelder Seidenfabrikant und Sammler Alex Oppenheimer (1867–1939) bemühte sich seit den 1910er Jahren um die künstlerische Ausbildung von Textilentwerfern und Musterzeichnern und wurde federführendes Mitglied des Textilausschusses des DWB unter der Leitung von Hermann Muthesius. Der Krefelder Seidenfabrikant Rudolf Oetker unterstütze Friedrich Deneken bei seinen Bemühungen, Industrie und Künstler im Sinne der Geschmackshebung zusammenzubringen. Seine Familie förderte darüber hinaus 1908 dessen Projekt einer Künstlerkolonie am Krefelder Stadtwald mit dem Bau eines Atelierhauses nach dem Entwurf von Josef Maria Olbricht, in dem bis 1910 Thorn Prikker wohnte.

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Vorstand des Verbandes bzw. der Verseidag passieren und waren anderen Zielsetzungen, Erwartungen und Interessen unterworfen als ein privater Bauauftrag. Beide Gremien versammelten auf Grund ihrer Genese höchst individuelle und dominanzgewohnte Personen.14 Was hatte diese beiden Gremien bewogen, Mies van der Rohe und Lilly Reich zu beauftragen? In den zwanziger Jahren hatte sich in der Folge des 1. Weltkrieges ein expandierendes Ausstellungs- und Messewesen im Deutschen Reich entwickelt, um „die gestörten Absatzwege und die Absatzorganisationen von neuem aufzubauen“, eine Entwicklung, die durchaus auch als schädliche „Messeinflation“ empfunden wurde. Bereits 1925 beklagte das Ausstellungs- und Messeamt der deutschen Industrie dessen chaotische Entwicklung und qualitativen Niedergang.15 Die deutsche Seidenindustrie entschloss sich erst verhältnismäßig spät, mit repräsentativen Produktschauen an die Öffentlichkeit zu treten. Man versprach sich davon keine direkte Umsatzsteigerung sondern reagierte auf die verstärkte „Propagandatätigkeit“ der französischen Konkurrenz. Die deutsche Seidenindustrie hatte seit dem 19. Jahrhundert ein Imageproblem. Französische Seidenprodukte galten im Deutschen Reich und im Ausland ungeprüft als künstlerisch und technisch hochwertig. Das Label „Französische Seide“ stand für Qualität und neueste modische Trends. Diese kritiklose Bevorzugung der französischen Produkte gegenüber der eigenen Produktion führte Mitte der zwanziger Jahre auch im Verband der Seidenindustrie zu der Erkenntnis, dass man Öffentlichkeitsarbeit betreiben müsse. Das Protokoll der Vorstandssitzung des Verbandes resümierte im Februar 1926, „dass die von der französischen Seidenindustrie in letzter Zeit in Deutschland in der Form von Ausstellungen (Leipzig 2x, Frankfurt 1x) betriebene, überaus lebhafte Propaganda unbedingt die Notwendigkeit einer planmäßigen Gegenwirkung auslöse. Die psychologische Wirkung dieser französischen Werbetätigkeit auf zahlreiche Kreise des deutschen Publikums sei nicht zu unterschätzen.“16 Mit Werbung und repräsentativen

14 | Der Vorstand der Verseidag setzte sich aus den ehemaligen Inhabern derjenigen Einzelunternehmen zusammen, die sich seit 1919 zur Verseidag zusammengeschlossen hatten. Sie saßen als Gesellschafter der Aktiengesellschaft und als Direktoren ihrer eingebrachten Betriebe im Vorstand. Der Vorstand des Vereins deutscher Seidenwebereien bestand ausschließlich aus Unternehmern der deutschen Seidenindustrie. Siehe: Aufstellung der Mitglieder des Vorstands, des Beirats, der Ausschüsse und der Unterverbände, des Vereins deutscher Seidenweberein, ca. 1922. Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln. Bestand VdS 338–640. 15 | Ausstellungs-und Messeamt der deutschen Industrie: Entwurf zur „Neuordnung des deutschen Ausstellungs- und Messewesens“, Dezember 1925, S. 1-6. Werkbundarchiv, Museum der Dinge: D 2611 (hier mit irreführendem Hinweis: „Autor: Mies van der Rohe“). 16 | Abraham Frowein, in: Protokoll der Ausschusssitzung 15.2.1926, Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln. Bestand VdS 338 „Ausschuss VdS 1.1.1927 – 30.4.1939“.

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Produktschauen wollte man die Konsumenten davon überzeugen, dass die deutsche Seide der französischen ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war. In der Folge ergriff der Verband mehrere Maßnahmen: Als Auftakt dieser ersten neuartigen Marketingüberlegungen wurde Lázló Moholy-Nagy um Beiträge für die Verbandszeitschrift Seide zur Gestaltung von Werbung gebeten. Im Februar und August 1926 erschienen seine Artikel „Photoplastische Reklame“ und „Werbearbeit“.17 Im März des selben Jahr gelang es Erich Raemisch, Geschäftsführer des Vereins Deutscher Seidenweberein, den Herausgeber der Form, Walter Rietzler, davon zu überzeugen, ein Sonderheft über die Seidenindustrie zu veröffentlichen, das der Verband für Werbezwecke nutzte.18 Rietzler war an Raemisch herangetreten, nachdem der Deutsche Werkbund anlässlich seiner „Rhein-Ruhr-Tagung“ im Mai 1926 in Essen einen Tagesausflug nach Krefeld unternommen hatte. Die rund dreihundert Gäste wurden in Krefeld mit Ausstellungen zum Kunstgewerbe und zur Seidenindustrie sowie mit Führungen und einer Theaterdarbietung empfangen. Der Besuch war aufwendig von der Krefelder Ortsgruppe des DWB, dem örtlichen Museum und Museumsverein sowie vom Verband der deutschen Seidenindustrie vorbereitet und von der Stadt finanziell unterstützt worden. Die Presse wertete diesen Besuch als „eindrucksvolle äußere Bestätigung“ der schon „lange bestehenden Beziehung der Krefelder Industrie zum Werkbund“.19 Günther von Pechmann fühlte sich nach seinem Besuch in Krefeld durch den Kontrast zur Essener Tagung mit dem Themenschwerpunkt Schwerindustrie darin bestätigt, dass sich „die Arbeit in Industrie und Gewerbe nicht erschöpfen können (wird) in den Zielen der Sachlichkeit“, solange „in dieser Fertigarbeit etwas ganz persönliches hinzu kommt, etwas vom Wesen, von der Gesinnung und der Begabung des Künstlers.“20 Nach dem Besuch des Deutschen Werkbundes wurde Raemisch von Rietzler gebeten, einen Beitrag über die Seidenindustrie für die Form zu schreiben. Raemisch konnte dieses Anliegen in ein vollständiges Themenheft zur Seidenindustrie umwandeln. Im Sinne des neuen Selbstverständnisses des Verbandes platzierte er mit dieser Veröffentlichung die deutsche Seidenindustrie im publizistischen Zentrum der „guten Form“. 21 Als das Themenheft der Form im März 1927 vor17 | Lázló Moholy-Nagy: Werbearbeit in der Seidenindustrie. In: Seide, Jg. 31, H2 (1926), S. 5556; ibid.: Photoplastische Reklame. In: Seide, Jg. 31, H8 (1926), S. 300-301. 18 | Form. Monatszeitschrift für Gestaltung, Jg. 2 H3 (1927): „Krefelder Sonderheft“. 19 | O.A.: Der Werkbund in Krefeld. In: Seide, Jg 31, H 7 (1926), S. 249. 20 | Rede von Freiherr von Pechmann anlässlich seines Besuchs in Krefeld. In: Niederrheinische Volkszeitung, Nr. 443, 26. 6.1926. 21 | Erich Raemisch führte seit 1923 die Geschäfte des Verbandes. Der promovierte Volkswirt war durch die familiäre Verbindung seiner Frau zum Berliner Sammler Eduard Arnhold in die Kunst eingeführt worden und engagierte sich seit Mitte der Zwanziger Jahre im Werkbund. Ab 1930 saß er in dessen Ausstellungsausschuss. 1932 übernahm er gemeinsam mit Mies die stellvertretende

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lag hatte der Vorstand bereits beschlossen, sich erstmals öffentlich mit einer Ausstellung darzustellen. Man folgte der Einladung der Berliner Ausstellung „Die Mode der Dame“, die im Oktober 1927 stattfinden sollte und beauftragte wenig später Mies, eine geeignete Form für diesen Anlass zu finden. Im Vorstandsprotokoll des VdS vom 13.6.1927 wurde festgehalten, dass „die architektonische und künstlerische Ausgestaltung der Herr Mies van der Rohe übernommen hat.“22 Es entstand das bereits genannte „Café Samt & Seide“ (Abb. 4).

4 Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich: Café Samt & Seide, Ausstellung „Die Mode der Dame“, Berlin, Oktober 1927

Gleichzeitig bemühte man sich um die gestalterische Verbesserung der Verbandzeitschrift selbst und bat Mies, sich ihrer Neugestaltung anzunehmen. Mies bot dem Verband nicht nur ein neues Layout für Titelseite und Vorblatt an, sondern auch die regelmäßige Betreuung des Anzeigenteils – ein Plan, der aus Kostengründen scheiterte.23 Leitung mit der Absicht, ein Jahr später den lang jährigen Vorsitzenden Peter Bruckmann abzulösen. Dieser Plan wurde dann aufgrund von internen Problemen des Werkbundes und der politischen Veränderungen nicht mehr realisiert. Mies und Raemisch zogen sich beide vom DWB zurück. 22 | Protokoll der Vorstandssitzung am 13.6.1927, Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln. Bestand VdS 338-702. 23 | Erich Raemisch an Mies am 8.8.1927: „ (...) erlaube ich mir Ihnen mitzuteilen, dass ich bereit bin, die Arbeit für September zu übernehmen.“ Mies van der Rohe, Angebot an die Kleinsche Druckerei am 20.8.1927. Korrespondenz „Café Samt & Seide“, Privatbesitz Deutschland. Für die Bearbeitung von Titelblatt und Vorblatt veranschlagte er 1500 RM, für die regelmäßige Betreuung der Anzeigen 2000 RM.

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Der Verband – insbesondere sein Geschäftsführer Erich Raemisch und die Vorstandsmitglieder – waren vertraut mit der gestalterischen Avantgarde, die sich im Werkbund und am Bauhaus versammelt hatte. Sie verfügten über Kontakte zu diesen Kreisen und konnten auf Beziehungen zurückgreifen, die ihren Ursprung teilweise schon in der Reformbewegung hatten und in den zwanziger Jahren zu einem etablierten Netzwerk ausgereift waren. Auf dieses Netzwerk griff der Verband nun zurück, als er das Personal für seine neue Kommunikationsstrategie suchte. Die Beauftragung von Mies mit dem Entwurf der ersten Repräsentationsschau der Branche bleibt trotz des aufgeschlossenen Krefelder Klimas erstaunlich, denn Mies konnte seinen potentiellen Auftraggebern im Juni 1927 noch kein realisiertes Projekt vorweisen, das seine Fähigkeiten als Ausstellungsgestalter belegt hätte. Die Stuttgarter Werkbundausstellung mit den Präsentationen der Glas- und Linoleumindustrie von Mies und Reich war zwar in Vorbereitung, wurde aber erst Ende Juli eröffnet. Als Ausstellungsdesignerin in Werkbundkreisen wohlbekannt war dagegen Lilly Reich. Sie hatte das Frankfurter Werkbundhaus geleitet und bereits mehrere Ausstellungen für den DWB realisiert.24 Obwohl der Auftrag für das „Café Samt und Seide“ offiziell nur an Mies ging, geht sowohl aus der projektbegleitenden Korrespondenz als auch aus den Presseberichten deutlich hervor, dass Mies und Reich den Auftrag gemeinsam bearbeiteten.25 Die erste Repräsentationsschau des Verbandes hatte die Funktion eines Cafés. In einer Vorankündigung der Ausstellung hieß es dazu, man wolle den „Charakter einer ermüdenden Schau“ vermeiden und werde die Ausstellung deshalb um ein Café gruppieren. Wie für die Glasindustrie entwickeln Mies und Reich auch für die Seidenindustrie ein fließendes Raumgefüge, dessen Wandelemente aus dem auszustellenden Material gebildet waren. Der Ausstellungsgegenstand wurde nicht präsentiert, sondern konstruktiv verwendet. In beiden Fällen erweiterten sie die reine Präsentation um eine Gebrauchsfunktion: Der Glasraum verwies auf das Wohnen, das „Café Samt & Seide“ erfüllte die Anforderungen eines Cafés. Eher beiläufig nahm der Betrachter den eigentlichen Anlass der Schau war. Diese Radikalität blieb einzigartig unter den noch folgenden Ausstellungsentwürfen. Bereits bei der Seidenschau für Barcelona stand trotz der außergewöhnlichen Gesamtkonzeption die klassische Warenpräsentation wieder im Vordergrund. Das „Café Samt & Seide“ wurde in der textilen Fachpresse als „Synthese aus edelstem Gewebe und kultivierter Ausstellungsform“ gelobt;

24 | Matilda McQuaid: Lilly Reich and the art of exhibition design. In: McQuaid 1996 (Anm. 8), S. 9-46. 25 | Korrespondenz „Café Samt und Seide“ (Anm. 23).

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die Wirkung derartiger „Propaganda“ könne nicht ausbleiben. 26 Im Juni 1928 beauftragte der Verband Mies und Reich erneut mit einer Ausstellungsplanung. Sie wurden gebeten, die Sonderschau Deutsche Seide im Textilpalast der Weltausstellung in Barcelona 1929 einzurichten (Abb. 5). Es war die erste internationale Präsentation der Branche seit Kriegsende, bei der die Seidenindustrie neben ihrer Konkurrenz, auch der französischen, vor die Öffentlichkeit trat. 27

5 Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich: Deutsche Seide, Weltausstellung Barcelona, 1929

Mies und Reich entwickelten einen geschlossenen, rechteckigen Pavillon von ca. 800qm Grundfläche, der die uneinheitlichen Darbietungen im Textilpalast vollständig ausblendete. Der Kubus war von geschlossenen Vitrinenwänden umfasst, mit einer breiten Öffnung zur Halle. Transparente Stoff bahnen schlossen ihn zur Decke hin ab und beleuchteten die Schau mit diffusem Licht. Drei freistehende Vitrinenwände im Inneren bildeten einen umlaufenden Vitrinengang, in dem verschiedene Zweige der Seidenindustrie – darunter auch die Kunstseide – ihre Produkte vorstellten. Auf der Freifläche in der Mitte präsentierten Mies und Reich Seiden- und Samtstoffe vor farbigen Spiegelglasscheiben in verchromten Rahmen. Ein Halbrund aus zehn gebogenen, schwarzen Glaselementen bildet den Höhepunkt der Schau.

26 | Die Seide, Jg. 32 (1927), S. 317-318. 27 | Lange 2011 (Anm. 3), Kat. Nr. 2.

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Die deutsche Fachpresse war mit dem Ergebnis außerordentlich zufrieden. Sie sprach von „schlechthin hervorragenden Dekorationsmethoden“, die die „Wirkung der ausgestellten Fabrikate nicht unerheblich erhöht“ habe, ganz im Gegensatz zu der „salopp-lieblosen Art“ der französischen Präsentation. Man war sich darüber im klaren, dass der „deutsche Pavillon für Seide und Samt (...) wohl der Höhepunkt dessen ist, was von der Seiden- und Samtindustrie aller Länder an Ausstellungen bisher geleistet worden ist.“28 Als die Seidenausstellung schließlich mit dem „Großen Preis der Weltausstellung“ prämiert wurde war das Ziel erreicht, endlich das „Schönste und Beste“ der französischen Konkurrenz geschlagen zu haben, bestätigt durch eine unabhängige internationale Jury. Mies und Reich hatten einen entscheidenden Beitrag geleistet zum Imagewandel der deutschen Seidenstoffe. Mit der erfolgreichen Seidenschau in Barcelona entwickelte Mies sich zum „Hofarchitekten“ dieser speziellen Klientengruppe, für die er nun gleichzeitig vier Aufträge bearbeitete, darunter auch die Planung und Errichtung des sogenannten „Färberei- und HE Gebäudes“ für die Verseidag (Abb. 3).29 Das genannte Gebäude beherbergte die erste eigene Färberei des Unternehmens sowie den Versand für Herrenfutterstoffe. Die Ingenieure der Verseidag hatten Volumen und Lage der Baukörper schon festgelegt, als Mies Ende 1930 hinzugezogen wurde. Seine Einbeziehung mag darauf zurückzuführen sein, dass man nach dem Erfolg von Barcelona die Chance nutzen wollte, auch im Erscheinungsbild der Firma eine fortschrittliche Gestaltung durchzusetzen statt nur einen Zweckbau zu errichten. Als Repräsentationsbau war das Färbereigebäude jedoch nie konzipiert. Diese Funktion hätte die 1937 bei Mies in Auftrag gegebene, nicht realisierte Hauptverwaltung erfüllen sollen. Der erste Bauabschnitt des „Färberei- und HE Gebäudes“ wurde im August 1931 fertig gestellt, der zweite 1935. Bis 1938 folgten mehrere Ergänzungsbauten, die von der Planungsabteilung der Verseidag entworfen wurden: Der sogenannte Uhrenturm, das Pförtnerhaus mit Aufenthaltsraum, das Schlichtereigebäude und die Filmdruckerei. Alle zitieren die von Mies für das Unternehmen entwickelte Formensprache. Inwieweit er Einfluss auf die Planung hatte, geht aus den Quellen jedoch nicht eindeutig hervor. Nur für die „Filmdruckerei“ ist belegt,

28 | O.A.: 25 Jahre Verein deutscher Seidenwebereien. In: Monatsheft für Seide und Kunstseide, o. Nr., 1935, S. 273. 29 | Mies bearbeitete 1930 mit Lilly Reich den Auftrag Wohnung Crous und die Fertigstellung der Häuser Lange und Esters. Alleine widmete er sich dem Wettbewerbsbeitrag zum Krefelder Golfclub und dem Verseidag „Färberei- und HE-Gebäude“. Siehe: Lange 2011 (Anm. 3), Kat. Nr. 6, S. 147-161; Wolf Tegethoff: Industriearchitektur und neues Bauen: Mies van der Rohes VerseidagFabrikgebäude in Krefeld. In: Archithese, H 13 (1983), S. 33-38.

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dass Mies die Pläne von den Architekten der Verseidag zur Ansicht zugeschickt worden waren und er sie ausführlich kommentierte.30 1931 nahm in Krefeld auch die neugegründete „Schule für Flächenkunst“ unter der Leitung von Johannes Itten ihre Arbeit auf, ein seit langem verfolgtes Projekt der Seidenindustrie, finanziert von Stadt, Industrie und Verband. Sie entstand im Kontext der Errichtung verschiedener Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen, die von den genannten Akteuren seit den frühen 1920er Jahren initiiert wurden.31 Die Suche nach einem passenden Leiter hatten Raemisch und Lange zuletzt persönlich durchgeführt. Wieder griffen sie auf ihre vielfältigen Verbindungen zum Werkbund und zum Bauhaus zurück. Auch Lilly Reich stand zur Wahl. „Vom Magistrat der Stadt und einem Teil der Industrie“ wurde eine weibliche Führungskraft jedoch abgelehnt.32 Johannes Itten baute die Schule nach seinen am Bauhaus entwickelten Lehrprinzipen auf. 1938 wurde sie in ihrer bestehenden Form geschlossen. Georg Muche übernahm 1939 die neugebildete Meisterklasse für Textilkunst an der aus Umstrukturierungen hervorgegangene „Höheren Fachschule für Textilindustrie“.33 Krefeld gehörte damit zu den wenigen Orten, „die im nationalsozialistischen Deutschland Reformkonzepte weiterverfolgen konnten.“34 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde das bestehende Verbandswesen aufgelöst, die Wirtschaft in abhängige Fachgruppen neu gegliedert und das „Führerprinzip“ eingeführt. Die Textilindustrie war früh von den nationalsozialistischen Interventionen in die Wirtschaft betroffen. Mit der Faserstoffverordnung von 1934 und dem Spinnstoffgesetz von 1935 wurde versucht, auf Ersatzfasern aus einheimischer Zellulose umzustellen, um auch auf diesem Sektor autark zu werden. Für die Seidenindustrie bedeuteten diese Verordnungen, dass sie die Produktion und Verarbeitung von Kunstseide, die bereits seit den zwanziger Jahren populär war, weiter zu steigern hatte.35

30 | Mies van der Rohe an die Verseidag am 6.3.1937, Museum of Modern Art, New York, Mies van der Rohe Archive, Dyework Building, Folder 7. 31 | Die offizielle Eröffnung fand im Februar 1932 statt. 1931 hielt Itten bereits Kurse in den Entwurfsateliers der Verseidag ab. Zur Geschichte der Ittenschule siehe Ausst. Kat. Textilmuseum Krefeld: Johannes Itten und die höhere Fachschule für textile Flächenkunst in Krefeld, hg. v. Karin Thönnissen, Krefeld 1992. Zu Textilausbildungsstätten siehe: Hermann Ostendorf: Aus der Region gewachsen. 40 Jahre Hochschule Niederrhein. Krefeld 2011. 32 | Lilly Reich an Richard Lisker am 22.9.1930, Privatbesitz, Deutschland. 33 | Angelika Rösner: Erziehung zum Geschmack. Ittens Schule für textile Flächenkunst. In: Textilkultur in Krefeld. Hg. v. Kunst in Krefeld e.V., Krefeld 2007, S. 187-213. 34 | Die zweite war die von Hugo Häring in Berlin weitergeführten Reimann-Schule in Berlin. Christopher Oesterreich: Gute Form im Wiederaufbau. Zur Geschichte der Produktgestaltung in Westdeutschland nach 1945. Berlin 2000, S. 376ff. 35 | Gerd Höschle: Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Stuttgart 2004, S. 31ff.

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Der Verein deutscher Seidenwebereien setzte seine Ausstellungstätigkeit in kleinem und größerem Umfang fort. Bereits vor der Machtübernahme Adolf Hitlers hatte er sich unter Wiederverwendung der Spiegelglasscheiben der Seidenschau von Barcelona im Rahmen der Berliner Bauausstellung 1931 in Peter Behrens’ Beitrag „Ring der Frau“ präsentiert.36 1934 nahm er nach anfänglicher Ablehnung mit einer von Georg Fischer gestalteten Kunstseidenschau an der ersten nationalsozialistischen Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ in Düsseldorf teil.37 Im selben Jahr richtete Johannes Itten eine Seidenschau auf der „Niederrheinischen Werkbundausstellung“ in Krefeld ein. 38 Auch wenn keine der Präsentationen große gestalterische Bedeutung hatte, belegen sie die konsequente Fortsetzung des 1926 eingeschlagenen Weges.

6 Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich: Reichsausstellung Textil, Grundriss der Haupthalle, Berlin, 1937

36 | Korrespondenz Verein Deutscher Seidenweberein mit Peter Behrens zwischen dem 4.4.1931 und dem 19.5.1931. In: Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln. Bestand VdS 338. 37 | Georg Fischer war einer der führenden Lehrer für Schaufensterdekoration der Reimann-Schule in Berlin. Zum Beitrag des VdS siehe: Protokoll der Vorstandssitzung vom 19.3.1934, Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln. Bestand VdS 338 – 1648 u. o.A.: Deutsche Kunstseide auf der Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“. In: Monatshefte für Seide und Kunstseide (1934), S. 185-197, Abb. S. 186. 38 | Die Ausstellung fand vom 16.6 bis 15.8.1934 im Kaiser-Wilhelm-Museum Krefeld statt. O.A.: Niederrheinische Werkbundausstellung in Krefeld. In: Monatszeitschrift für Seide und Kunstseide (1934), S. 181.

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Mit mehreren großen Propagandaschauen feierten die Nationalsozialisten 1937 ihre wirtschaftlichen Autarkiebestrebungen und den Vierjahresplan. In Berlin fand von Mai bis Oktober die Ausstellung „Schaffendes Volk“ statt. Bernhard Pfau realisierte hier seinen ersten Entwurf für die Krefelder Auftraggeber: Im Rahmen der Hallenschau richtete er eine Seidenausstellung ein. Hierbei orientierte er sich an Vitrinen von Lilly Reich. Auch seine raumhohen textilen Säulen können als direktes Zitat der Seidenschau von Barcelona interpretiert werden.39 Im März eröffnete die „Reichsausstellung der Deutschen Textil- und Bekleidungswirtschaft“ (Abb. 6). Im Mittelpunkt dieser Leistungsschau standen die „neuen deutschen Stoffe“ Zellwolle, Kunstseide und ihre Varianten. Im Protokoll der Vorstandssitzung der Fachgruppe vom Dezember 1936 wurde festgehalten, dass wieder Mies van der Rohe zum Ausstellungsleiter bestellt worden sei. Lilly Reich war maßgeblich an der Planung beteiligt, wurde aber nicht genannt. Die Berufung erfolgte nicht durch die Fachgruppe allein sondern im Auftrag mehrerer Wirtschaftsgruppen der Textilindustrie und hatte offiziellen Charakter. Es war vorgesehen, dass weder Firmen noch Fachgruppen in Erscheinung treten sollten.40 Hatte Mies sich jetzt als künstlerischer Akteur für die Ausgestaltung nationalsozialistischer Propaganda etabliert oder wirkte hier das Krefelder Netzwerk fort? Mies und Reich bearbeiteten das Projekt gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter Herbert Hirche. Nach der Übernahme der Schirmherrschaft durch Hermann Göring Ende 1936 entzog man ihnen den Auftrag jedoch und übergab ihn Ernst Sagebiel. Hirche schildert in einem Interview die Umstände: „In dem Moment (der Ernennung Görings zum Schirmherrn; Anm. d. V.) war Mies nicht mehr tragbar. Wir waren furchtbar unter Zeitdruck, es waren von jedem Details gezeichnet worden. Wir mussten innerhalb einer Woche die Sache übergabefertig machen. (...) Sagebiel wirkte wie ein General. (...) Sagebiel wollte mich übernehmen. Ich war ja der einzige, der alles im Kopf hatte. Aber ich habe abgelehnt.“41 Finanziert wurde die Ausstellung nicht von der Regierung sondern von den Wirtschafts- und Fachgruppen. Der Katalog zur Ausstellung eröffnete mit ideologisch geprägten Artikeln von Hermann Göring und Paul Schleich als Einleitung, gefolgt von sachlichen Beiträgen zur Kunstseide, Mode, Geschmacksbildung und anderen 39 | Die Seidenindustrie präsentierte sich der von Hans Hübbers und Hans Rouette entworfenen Halle 27, die Ausstellung gestaltete Bernard Pfau. Siehe: Stefanie Schäfers: Vom Werkbund zum Vierteljahresplan. Die Ausstellung „Schaffendes Volk“ Düsseldorf 1937. Düsseldorf 2001, Abb. Nr. 153, S. 231 u. S. 416, 420, 422. Sie ging im Kern auf das ehrgeizige Ausstellungsvorhaben „Neue Zeit“ des Werkbundes von 1926 zurück. An der Realisierung war der Werkbund zuletzt nicht mehr beteiligt. Vier Monate vor der Eröffnung wurde er aufgelöst. Ibid.: S. 88. Zu Bernhard Pfaus Entwurf siehe: Niederwöhrmeier 1997 (Anm. 9), W 69, S. 356. 40 | Protokoll der Vorstandssitzung der Fachgruppe Seide vom 22.12 1936 (Anm. 37). 41 | Herbert Hirche im Gespräch mit Ludwig Gläser, 1973. Museum of Modern Art, New York, Mies van der Rohe Archive. Ludwig Gläser Papers.

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Themen. Erich Raemisch und Johannes Itten waren unter den Autoren. 42 Ausstellung und Katalog dokumentieren die veränderte Situation, in der sich die Seidenindustrie und ihre Vertreter jetzt befanden. Die Seidenindustrie galt nicht als rüstungsrelevant, blieb aber auch nicht frei von Verstrickungen mit der Diktatur. 43 Herrmann Lange als Leiter der Fachgruppe, Erich Raemisch als Fachmann für Kunstseide und auch Johannes Itten als Lehrer und Künstler werden sich der Ambivalenz ihrer Position in diesem Umfeld bewusst gewesen sein. Die anfangs erfolgreiche Etablierung von Mies als Ausstellungsgestalter kann man als den Versuch deuten, erneut vom Image der Avantgarde zu profitieren, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Stand sie 1927 für Fortschritt und Auf bruch, war sie jetzt ein Zeichen des Bewahrens vergangener Werte. Der Auftragsentzug verdeutlicht jedoch, in welchem Umfang die Verbände – und so auch der Seidenverband – ihre Autonomie verloren hatten. Lilly Reich hatte zeitgleich den Auftrag erhalten, die Räume der Textilausstellung auf der Pariser Weltausstellung einzurichten, die auch eine Abteilung mit Krefelder Seide umfasste (Abb. 7).

7 Lilly Reich: Stand der deutschen Seidenindustrie, Weltausstellung, Paris, 1937

42 | Ausst. Kat. Berlin: Reichsausstellung der deutschen Textil und Bekleidungswirtschaft. Amtlicher Führer durch die Reichsausstellung der deutschen Textil und Bekleidungswirtschaft, Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrs GmbH (Hg.). Berlin 1937. 43 | So beschäftigte zum Beispiel die Rheinische Kunstseiden AG, die 1939 in Krefeld Uerdingen ihre Produktion aufnahm, Zwangsarbeiter. Siehe: Das Bundesarchiv, Zwangsarbeit im NS Staat, Außenkommando des Männerstrafgefängnisses und Frauenzuchthaus Anrath in Krefeld bei der Spinnerei Rheinische Kunstseide AG (Rheika): http://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/haftstaetten/index.php?action=2.2&id=100000683 (Oktober 2012)

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In ihren Planungen für Berlin und Paris griffen Mies und Reich auf ihre für Barcelona entwickelte Formensprache zurück. Das markanteste Element der Textilausstellung in Berlin war eine acht Meter lange, s-förmige Wand aus Glaselementen gewesen, die Ernst Sagebiel – neben diverser anderer Details – mit nur geringen Abweichungen übernahm. Der letzte Auftrag aus der Seidenindustrie vor Kriegsbeginn kam wieder von der Verseidag. Sie bat Mies, die Hauptverwaltung für das Unternehmen zu entwerfen (Abb. 8). Bereits 1930 bestand die Absicht, einen neuen Verwaltungsbau für das expandierende Unternehmen zu errichten, dessen Zentrale sich in der Innenstadt in den Gebäuden der ehemaligen Seidenweberei Deuss & Oetker befand. Finanzielle Gründe mögen dazu geführt haben, dass dieser Plan erst 1937 in Angriff genommen wurde.

8 Ludwig Mies van der Rohe: Modell der Verseidag Hauptverwaltung für Krefeld, 1937–1939

Mies’ Entwurf ist auf Grund des konischen Grundrisses und der gefächerten Anordnung der Baukörper in der Forschung wiederholt mit seinem Entwurf für die Reichsbank verglichen worden. Mit der wehrhaften, abweisenden Front des viel höheren Reichsbankgebäudes hat der Verseidag-Entwurf jedoch wenig gemein. Zwischen zwei langen Flügeln mit nur vier Geschossen sind zwei gebogenen Verbindungbauten mit getrennten Treppentürmen gespannt. Der vordere Verbindungsriegel auf Pilotis ist eingeschossig und vollständig verglast. Beide Riegel verbindet ein ebenfalls verglaster Gang. Mies nahm die schlichte Formensprache des „Färberei- und HE Gebäudes“ auf und schuf eine Haupt-

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verwaltung von lichter Offenheit und Transparenz. Auf Grund von Materialknappheit konnte der Bau jedoch nicht mehr ausgeführt werden. 44 Nach Kriegsende knüpften die Krefelder Textilindustrie und ihre Protagonisten scheinbar nahtlos an die Zeit vor 1933 an. Unter den frühesten Aktivisten, die die Tradition des Deutschen Werkbundes fortzusetzen versuchten, war der Krefelder Textilfabrikant Fritz Steinert, Bauherr von Hans Poelzig. Auf dem ersten zonenübergreifenden Treffen der neugegründeten Werkbundgruppen in Rheydt hielt er einen Vortrag zur Textilindustrie.45 Ebenfalls kurz nach Kriegsende beabsichtigte die Verseidag, sich an der ersten deutschen Exportschau in New York 1949 zu beteiligen und versuchte offensichtlich in alter Gewohnheit, Mies für die Mitarbeit zu gewinnen. 46 Kurz danach beauftragte man Egon Eiermann mit einer neuen Planung für die Verseidag Hauptverwaltung, die in zwei Abschnitten bis 1956 fertig gestellt wurde (Abb. 9). Der gläserne Verbindungsgang vom dreigeschossigen Verwaltungstrakt zum siebengeschossigen Hochhaus wirkt wie eine Referenz an die Mies’schen Planungen. Während der Bauzeit erhielt Eiermann auch einen privaten Bauauftrag in Krefeld: 1954 ließen Josef Esters und seine Frau einen Neubau für das Nachbargrundstück von Haus Esters planen, der aber nicht realisiert wurde. 47 Wie in den zwanziger Jahren flankierten private Aufträge eines Protagonisten der Krefelder Textilindustrie die unternehmerischen bzw. institutionellen. Auch Bernhard Pfau, der 1951 siegreich aus dem Wettbewerb um den Neubau der Textilingenieurschule in Krefeld hervor gegangen war, hatte zeitgleich ein privates Wohnhaus für den Textilingenieur Richard Vogelsang gebaut. 48 Man kann diese Koinzidenz als Indiz werten, dass es sich bei der konsequenten Beauftragung von Vertretern der Moderne durch die Seidenindustrie nicht um eine marketinggesteuerte Attitüde handelte, sondern dass sie vielmehr von eine tiefer gehenden Überzeugung und auch Kenntnis getragen wurde. Die Errichtung der Textilingenieurschule ist der letzte große Bauauftrag, den Textilindustrie, Seidenverband und die Stadt Krefeld, schließlich mit Unterstützung des Landes NRW, in diesem Sinne auf den Weg brachten. Man hatte 44 | Lange 2011 (Anm. 3), Kat. Nr. 8, S. 173-179. 45 | Oesterreich 2000 (Anm. 34), Anm. 81, S. 60. 46 | Kurt Engländer an Mies van der Rohe am 19.11.1948, Library of Congress, Washington Mies van der Rohe Archive, Box 38. Es handelt sich um die „Deutsche Industrie-Messe im Museum of Science and Industry vom 9. – 24.4.1949, die katastrophale Kritiken bekam und als Fanal wirkte, „dass der Entwicklung der Produktgestaltung großen Antrieb gab.“ Oesterreich 2000 (Anm. 34), S. 303. 47 | Annemarie Jaeggi: Egon Eiermann (1904 – 1970). Die Kontinuität der Moderne. Ostfildern 2004, S. 221. 48 | Siehe: Niederwöhrmeier 1997 (Anm. 9), S. 150-157 (Haus Vogelsang) u. S. 205-223 (Textilingenieurschule).

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beschlossen, die verteilten und teilweise stark beschädigten Schulgebäude der vielfältigen Institute der Textilausbildung nicht mehr aufzubauen, sondern einen Neubau zu errichten, der eine neue Struktur der Schule ermöglichte. Alle Abteilungen, die bislang auf verschiedene Gebäude verteilt waren, sollten jetzt zusammen geführt werden. „Der in Industrie und Verwaltung einheitliche Wille, mit dem Neubau der Krefelder Ingenieurschule etwas ganz Ungewöhnliches zu gestalten, eine Repräsentationsstätte zu schaffen, mit der sich der Ruf Krefelds als Seidenstadt einmal zu neuem Glanz entzündet, verlangt eine besondere Großlinigkeit der Bemühungen“ hieß es in der Presse. 49 Wieder wurde ein Vertreter der Moderne bemüht, ein Zeugnis abzulegen für die Seidenindustrie und ihre Fortschrittlichkeit. Man wünschte sich ein mutiges modernes Bauwerk, „das über die Grenzen der Stadt hinaus von sich Reden macht“ und lobte später, dass Pfaus Entwurf „wirklich den Geist unserer Zeit und nicht das bloße Geltungsbedürfnis öffentlicher oder privater Institutionen repräsentiert.“50 Man sah „eine wahre Fülle der Beziehungen zwischen der Modernität dieses modernen Gebäudekomplexes und dem immerwährend Fortschrittlichen im Textilsektor (...) wo es gilt, der Gesetzlichkeit des guten Geschmacks über alle Zeitenwirbel hinweg die Treue zu wahren!“51 Der Rückbezug auf die Krefelder Tradition, auf das Gedankengut des Werkbundes, das in Krefeld fortbestehen konnte, wurde schon im Vorfeld offen ausgesprochen und war mit der Hoffnung verbunden, dass „die Krefelder Schule ‚Schule macht‘.“ Im Bauausschuss und in der Jury saßen neben Vertretern der Stadt auch Textilfabrikanten: Paul Esters, der Bruder von Josef Esters sowie Richard Vogelsang, dessen Wohnhaus in Krefeld Pfau kurz zuvor entworfen hatte. Pfau konzipierte die Anlage hofartig unter Einbeziehung des bereits bestehenden Webereisaals mit großzügigen Grünflächen vor und zwischen den Gebäudeteilen. Zur Straße hin gestaltet er die Front mit einer Fassade aus Glasbausteinen im Erdgeschoss und einer Vorhangfassade im ersten und zweiten Geschoss als „Schaufenster der Seidenstadt“. Dem gläsernen gradlinigen Querriegel war das Audimax, ein geschlossener, amorpher Betonkorpus auf kräftigen Betonstützen als Kontrapunkt angefügt.52

49 | O.A.: Weitere 700.000 Mark für TIS. Industrie sorgt für neue Regierungsgelder zum Neubau der Textilingenieurschule. In: Westdeutsche Zeitung, Nr. 140, 21.6.1952. 50 | F.: Aus Beton und Glas. Bernhard Pfaus Entwurf für die Textilingenieurschule erhielt den 1. Preis. In: Westdeutsche Neue Presse, Rhein – Echo Nr. 28, 2.2.1952. 51 | O.A.: Saal für 500 auf 4 Sockeln. Kühne Planung des „Auditorium Maximum“ der Krefelder TIS. In: Westdeutsche Zeitung, 29.1.1955, Nr. 24. 52 | O.A.: Die Seidenstadt rief die Künstler. Krefelder Textilschule als Beispiel neuer Werksgesinnung. In: Rheinische Post, Nr. 48, 24.12.1947.

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9 Egon Eiermann: Verseidag Hauptverwaltung, Krefeld, 1950 - 1957

10 Bernhard Pfau: Textilingenieurschule 1950 – 1957, Ansicht der Glasfassade „Schaufenster der Seidenindustrie“, Krefeld, um 1960

Wend Fischer betonte die Bedeutung der neuen Baustoffe, die „eine von Glas umhäutete Aufschließung der Räume gestattet“. „Alles menschliche Bauen aber zielte in seiner Grundtendenz darauf hin, die Höhle aufzuschließen und eine Freiheit gewährende Geräumigkeit zu gewinnen, ohne die Geborgenheit zu verlieren.“53 Die konservative Kritik setzt genau an dieser Stelle an. Auch Pfaus Entwurf stieß trotz großer Unterstützung auf Kritik, die sich vordergründig an den unerprobten Materialien Glas und Glasbausteinen entzündete, aber ideologisch motiviert war.54 Pfau erhielt die Gelegenheit, seinen Entwurf in der Presse zu verteidigen und tat dies emphatisch: Er bezeichnete die Glasfront als „wahr“, „konstruktionsgerecht“, die sichtbaren Betonträger

53 | O.A.:Schaufenster der Seidenstadt. Beginn der Arbeiten am zweiten Bauabschnitt der neuen Krefelder Textilingenieurschule. In: Westdeutsche Zeitung, Nr. 257, 5.11.1952. 54 | Fischer 1956 (Anm. 1), S. 16.

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als „echt“und polemisierte gegen das „tümelnde“ Bauen der Vergangenheit.55 Die Presse unterstützte ihn und feierte den Neubau als „im besten Sinne Repräsentables für das immerwährend fortschrittliche technische wie modische Schaffen der Krefelder Textilindustrie.“56 Weniger die Rückbesinnung auf die Zeit vor 1933 im Sinne einer kulturellen Rekonstruktion und Identitätssuche prägte die Krefelder Akteure nach 1945, als vielmehr die konsequente Fortsetzung eines seit den zwanziger Jahren verfolgten Weges sowie ein ungebrochener Glaube an den Fortschritt, den künstlerischen eingeschlossen. „Wir waren sehr stolz auf unsere Schule, das war neu und modern, das war unsere Zeit und unsere Architektur.“57 Aber das Blatt wendete sich um 1960. Der letzte Bauabschnitt der Pfau‘schen Planung wurde nicht mehr realisiert „da die Landesregierung andere Ingenieurdisziplinen im Focus hat.“58 Durch die fehlende Fortsetzung des Glasriegels links des Audimax‘ ist der Bau in seiner architektonischen Ausgewogenheit gestört. Auch das neungeschossige Gebäude der Textilforschungsanstalt, das als städtebaulicher Akzent Teil der Pfau‘schen Campusplanung war, wurde nur bis zum dritten Geschoss errichtet und später durch Umbauten zusätzlich entstellt. Seine Funktion als vertikaler Gegenpol zum gläsernen Querriegel kann er nicht erfüllen. Der unvollendete Neuanfang darf als Sinnbild für den sich ankündigenden Niedergang der deutschen Seidenindustrie gelten. Auf Grund des veränderten Konsumentenverhaltens und wachsender globaler Konkurrenz verlor die traditionelle Seidenindustrie in den sechziger Jahren zunehmend an Bedeutung. Mit ihr verschwand auch das „fortschrittlich gesinnte, der Kunst aufgeschlossenen Bürgertum“ lokaler Prägung.59

55 | O.A.: „Symphonie in Grün“ erregt Widerspruch. Geteilte Meinung über den Neubau der TextilIngenieurschule. In: Rheinische Post, Nr. 1, 3.1.1955; O.A.: Wer im Glaskasten sitzt sollte nicht mit Steinen nach den Pressefotografen werfen! In: Neue Rheinzeitung, Nr. 3, 4.1.1955. Hinter der Kritik vermutete die Presse den Leiter des Hochbauamtes der Pfaus Bau für Vogelsang ebenfalls systematisch aber schließlich erfolglos zu behindern versucht hatte. 56 | WZ, Nr. 126, 2.6.1955. 57 | Bernard Pfau: Was bezweckt die geleitete Propaganda? Eine Antwort an die Kritiker des Neubaus der Textilingenieurschule. In: Rheinische Post, Nr. 18, 22.1.1955. 58 | Schüler der TIS 1958 im Gespräch mit der Autorin, Krefeld 2011. 59 | Ostendorf 2011 (Anm. 31), S. 105.

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Bibliografie Ausst. Kat. Berlin: Reichsausstellung der deutschen Textil u- Bekleidungswirtschaft. Amtlicher Führer durch die Reichsausstellung der deutschen Textil und Bekleidungswirtschaft, Gemeinnützige Berliner Ausstellungs-, Messeund Fremdenverkehrs GmbH (Hg.). Berlin 1937. Ausst. Kat. Museum of Modern Art, New York: Lilly Reich Designer and Architekt, McQuaid, Matilda (Hg.). New York 1996. Fischer, Wend: Vollkommener Einklang. In: Krefeld, Merian H 2, 9. Jg. (1956), S. 12-16. Heynen, Julian: Ein Ort für Kunst. Ludwig Mies van der Rohe Haus Lange – Haus Esters. Ostfildern 1995. Heynen, Julian: Ein Ort, der denkt. Haus Lange und Haus Esters von Ludwig Mies van der Rohe. Moderne Architektur und Gegenwartskunst. Krefeld 2000 Hochmann, Elaine: Mies van der Rohe and the Third Reich. New York 1989. Höschle, Gerd: Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Stuttgart 2004. Jaeggi, Annemarie: Egon Eiermann (1904 – 1970). Die Kontinuität der Moderne. Ostfildern 2004. Kleinmann, Kent; van Duzer, Leslie: Mies van der Rohe. The Krefeld Villas. New York 2005. Lange, Christiane: Ludwig Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie. Berlin 2011. Moholy-Nagy, Lázló: Werbearbeit in der Seidenindustrie. In: Seide, Jg. 31, H2 (1926), S. 55-56. Moholy-Nagy, Lázló: Photoplastische Reklame. In: Seide, Jg. 31, H8 (1926), S. 300-301. O.A.: Der Werkbund in Krefeld. In: Seide, Jg 31, H 7 (1926), S. 249. O.A.: Deutsche Kunstseide auf der Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“. In: Monatshefte für Seide und Kunstseide (1934), S. 185-197. O.A.: Niederrheinische Werkbundausstellung in Krefeld. In: Monatszeitschrift für Seide und Kunstseide (1934), S. 181. O.A.: Weitere 700.000 Mark für TIS. Industrie sorgt für neue Regierungsgelder zum Neubau der Textilingenieurschule. In: Westdeutsche Zeitung, Nr. 140, 21.6.1952. O.A.: 25 Jahre Verein deutscher Seidenwebereien. In: Monatsheft für Seide und Kunstseide, Jg. 40 ( 1935), S. 273. Oesterreich, Christopher: Gute Form im Wiederaufbau. Zur Geschichte der Produktgestaltung in Westdeutschland nach 1945. Berlin 2000.

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Ostendorf, Hermann: Aus der Region gewachsen. 40 Jahre Hochschule Niederrhein. Krefeld 2011. Rösner, Angelika: Erziehung zum Geschmack. Ittens Schule für textile Flächenkunst. In: Textilkultur in Krefeld. Hg. v. Kunst in Krefeld e.V., Krefeld 2007, S. 187-213. Tegethoff, Wolf: Industriearchitektur und neues Bauen: Mies van der Rohes Verseidag-Fabrikgebäude in Krefeld. In: Archithese, H 13 (1983), S. 33-38.

Abbildungen Bernhard Pfau, Textilingenieurschule 1950 – 1957, Ansicht des Audimax, ca. 1958, Stadtarchiv Krefeld 2 Ludwig Mies van der Rohe, Haus Lange Haus Esters, Krefeld 1927 – 1930, Straßenfront 2010 © Kristien Daem, Brüssel 3 Ludwig Mies van der Rohe, Verseidag Färberei- und HE Gebäude, 1930/31 und 1935, Zustand 1931. MoMA, Mies van der Rohe Archiv, New York 4 Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich, Deutsche Seide, Weltausstellung Barcelona 1929 © Sasha Stone 5 Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich, Café Samt & Seide, Die Mode der Dame, Berlin Oktober 1927 © Globophot 6 Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich, Reichsausstellung Textil, Berlin 1937, Grundriss der Haupthalle 1937. MoMA, Mies van der Rohe Archiv, New York 7 Lilly Reich, Stand der deutschen Seidenindustrie, Weltausstellung, Paris 1937, unbekannter Fotograf 8 Ludwig Mies van der Rohe, Modell der Verseidag Hauptverwaltung für Krefeld, 1937 – 1939. MoMA, Mies van der Rohe Archiv, New York 9 Egon Eiermann, Verseidag Hauptverwaltung, Krefeld 1950–1957. Stadtarchiv Krefeld 10 Bernhard Pfau, Textilingenieurschule 1950 – 1957, Ansicht der Glasfassade „Schaufenster der Seidenindustrie“, um 1960. Akademie der Künste, Baukunstarchiv, Berlin Nachlass Bernhard Pfau 1

Reflexionen im Spiegelglas… Ludwig Mies van der Rohe, Philip Johnson und die Glashäuser. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung. Ole W. Fischer

1 . Der Traum vom Glashaus Das Farnsworth House in Plano, Illinois (1945–51) markiert einen bedeutenden Punkt in Mies van der Rohes amerikanischem Werk: nachdem er 1938 unter Mithilfe von Philip Johnson nach Chicago emigriert war, um die Architekturfakultät am späteren Illinois Institute of Technology (IIT) zu leiten und dessen neuen Campus zu errichten, schien der Auftrag von Dr. Edith Farnsworth für ein luxuriöses Wochenendhaus in einem bewaldeten Grundstück am Fox River eine Autostunde außerhalb von Chicago ideal zu sein, um sein Programm einer Architektur der „Haut und Knochen“ exemplarisch auszuarbeiten und zu testen. Schließlich fragte die Auftraggeberin nach einem kontemplativen Gebäude mit minimalem Raumprogramm bei üppigem Budget, das der Architekt „wie für sich selbst“ planen sollte. Dass Mies die Bedeutung des an sich kleinen Projekts als Testfall seiner „amerikanischen“ Architekturvorstellungen betrachtete und intensiv durcharbeitete, beweist die Anzahl an Skizzen im Nachlass des Museum of Modern Art New York (MoMA) ebenso wie das reife Ergebnis eines rasch zur Ikone stilisierten Baus. Und doch, nicht nur die berüchtigte öffentlich ausgetragene Kontroverse mit der Auftraggeberin um Kostenüberschreitung und bauliche Mängel, samt der nachfolgenden Polemik anti-modernistsicher Stimmen, auch das Verhältnis zu seinem damaligen Bewunderer und Kurator Philip Johnson machen das Farnsworth House zu einem Testfall in einem ganz anderen Sinn: Während Mies den Auftrag nach einer legendären Dinner-Party in Chicago 1945 erhielt und das Projekt bis zu der von Johnson kuratierten Einzelausstellung „Mies van der Rohe“ am MoMA

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von 1947 fertiggestellt hatte – wie Pläne und Modell im Katalog beweisen 1 – entwarf Johnson in den folgenden Jahren selbst ein Glashaus für sich in New Canaan, Connecticut, welches er 1949, also zwei Jahre vor Mies, fertigstellte. Beide Gebäude scheinen das Ideal der (späten) Moderne nach völliger Auflösung der Raumgrenze zwischen Innen und Außen durch Transparenz zur Anschauung zu bringen. Beide Gebäude reduzieren die Architektur zu einem „Beinahe Nichts“, das mittels Proportion, konstruktiver Logik und klassischen Anklängen umso mehr mit Bedeutung von Zeitlosigkeit und Universalität aufgeladen wird. Deshalb wird das Glass House von Philip Johnson (1946–49) in der Architekturgeschichte der Moderne als Zwilling des Farnsworth House (1945–51) betrachtet – doch zu Recht?

1 Philip Johnson: Glass House, New Canaan, CT, 1946–49

2 Ludwig Mies van der Rohe: Edith Farnsworth House, Plano, IL, 1945–51

1 | Philip Johnson: Mies van der Rohe, New York: The Museum of Modern Art, 1947.

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2 . Reflexionen, Spiegelungen und Parallelwelten Beginnen wir mit der Ähnlichkeit: Offensichtlich handelt es sich bei beiden Bauten um Glas umhüllte, Pavillon artige Ein-Raum-Häuser im Grünen, Zweitwohnsitze im automobilen suburbanen Einzugsgebiet amerikanischer Großstädte (Chicago, New York City) kurz nach dem 2. Weltkrieg. Im Gegensatz zu vielen ähnlichen Wochenendheimen, die vernakuläre Motive (Cottage, Shinglestyle) aufnehmen, demonstrieren beide Bauten ihre modernistische Haltung mit der radikalen Artifizialität einer auf tragende Stahlnormprofile reduzierten Struktur, die mit großformatigen Glasflächen ausgefacht ist. Resultat ist eine Auflösung und Transparenz des Innenraumes zur Umwelt – das sprichwörtliche Leben im Glashaus, das damals vorherrschende Vorstellungen von Privatheit und Subjektivität des Wohnens radikal in Frage stellte und für öffentliche Aufmerksamkeit sorgte. Doch der oft angeführte Verdacht des Exhibitionismus entpuppt sich als psychologisierendes Vorurteil: denn beide Bauten sind durch private Parks und Mauern vor neugierigen Einblicken geschützt.2 Eine weitere Gemeinsamkeit ist die absolute Offenheit des Grundrisses, ermöglicht durch ein Acht-Stützen-Diagramm, in das ein Kern aus Sanitärzelle und Kamin eingestellt ist. Schränke gliedern linear den Raum, die durch den bewussten Abstand zur Decke immer als Möbel erkennbar bleiben. Der umgebende Innenraum wird streng durch (Mies’sche) Möbel zoniert.3 Glasarchitektur ist eine wiederkehrende Utopie der Moderne, der sich erst durch die Glashäuser von Mies und Johnson für den Wohnungsbau angenähert wurde. Die optische Auflösung der Wand ebenso wie die bewusst zur Schau gestellte Verwendung industrieller Materialien verweisen auf dieses Denken, wie auch die Transparenz gegenüber der Landschaft, die durch abstrahierte Decken- und Bodenplatten wie durch die Stahlprofile gerahmt – und damit erst zum Bild – wird.4

2 | Anfangs hatte Johnson noch einen direkten Nachbarn, er kaufte jedoch sukzessive weitere Grundstücke hinzu und nutzte das bestehende Gebäude als Lager und Wohnraum für die Bediensteten. 3 | Mies van der Rohe hat das Farnsworth House mit strenger Möblierung entworfen, wie die Pläne erkennen lassen, doch hat Edith Farnsworth nach der gerichtlichen Auseinandersetzung eine eigene, rustikale und weniger formelle Einrichtung bevorzugt. Erst mit dem Ankauf und der Sanierung durch Lord Palumbo 1972 wurden die Möblierungspläne von Mies verwirklicht. 4 | Mies über das Farnsworth House: „When one looks at Nature through the glass walls of the Farnsworth House it takes on a deeper significance than when one stands outside. More is asked for from Nature, because it becomes part of a greater whole.” Zit. n. Christian Norberg-Schulz: Talks with Mies van der Rohe. L‘Architecture d‘aujourd‘hui. V29, Nr. 79, September 1958, S. 100.

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Kunsthistorisch lässt sich hier eine direkte Verbindung zwischen beiden Protagonisten nachzeichnen: Philip Johnson war als Befürworter der Moderne in den USA und Bewunderer von Mies van der Rohe seit den späten 1920er Jahren bekannt, was unter anderem durch die von ihm 1932 am MoMA mitorganisierte, bahnbrechende Ausstellung The International Style dokumentiert ist.5 Auch zwischen den beiden Häusern besteht eine direkte Rezeptionslinie: Mies äußerte gegenüber Johnson die Idee eines Glashauses, welche dieser wegen des Problems der Trennwände bzw. Wandanschlüsse für unrealisierbar hielt. Ende 1945 folgte der Auftrag von Edith Farnsworth, worauf Mies mit der Ausarbeitung der Idee begann, die 1946 weit genug fortgeschritten war, um 1947 Modell und Pläne in die ersten Einzelausstellung Mies van der Rohes am MoMA einzubeziehen, die Johnson als Chief Curator for Architecture and Design leitete.6 Johnson sah den Entwurf, beschrieb ihn im Katalog und übernahm Anregungen für sein eigenes Haus, an dem er zwischen 1946 und 1947 gearbeitet hat und das er 1948/49 in New Canaan errichtete. Damit kehrte sich die Chronologie um, da Mies sein Glashaus für Edith Farnsworth erst 1950–51 realisieren konnte.

3 . Verzerrungen im Spiegel: Unterschiede und Fragezeichen Doch bei genauerem Blick treten auch wesentliche Differenzen in den Vordergrund: Nicht zuletzt hat Mies sich negativ zu Konzeption, Konstruktion und Details von Johnsons Glass House geäußert und betrachtete es als „schlechte Kopie“ seiner eigenen Arbeit (vor allem des Farnsworth House). Dies hielt Mies jedoch nicht davon ab, 1954–58 mit Johnson am Seagram Hochhaus in New York zusammenzuarbeiten. Offensichtlich verkörpern beide Häuser unterschiedliche Haltungen zur Umgebung: Das Farnsworth House ist 1,6 Meter über das Terrain angehoben, so dass der Eindruck des Schwebens erzeugt wird, der neben der Entmaterialisierung der Struktur zum Markenzeichen der späten Bauten Mies van der Rohes wurde – eine Trennung, die durch eine geländerlose Loggia auf der Hauptebene und eine Plattform auf halber Höhe noch unterstrichen wird, wobei sie ursprünglich eine (nicht ausreichende) Flutschutzmaßnahme darstellte. Johnson hingegen versuchte sein Glass House mit einem Backsteinsockel zu erden, aus dem ein Zylinder aus gleichem Material aufsteigt, der gut sichtbar über das Dachprofil ragt und so die Glas-Stahl-Struktur mit dem Boden verklammert. Ganz analog auch die Ebene: obschon ohne Trennwände, wie das Farnsworth House, gliedert Johnson den Raum in verschiedene Bereiche. Der ‚Teppich‘ aus 5 | Henry-Russell jr. Hitchcock; Philip Johnson (Hg.): The International Style: Architecture since 1922. New York 1932. 6 | Johnson 1947 (Anm. 1).

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Backstein grenzt das Haus klar gegenüber einem erweiterten Außenraum des Englischen Rasens als grünem Teppich (statt Loggia) ab, der die Wohnzelle bis zu den Bruchsteinmauern, dem Brick House, den Bäumen bzw. zur Hangkante ausdehnt. Im Inneren gliedert sich der Raum in weitere Inseln: Auf dem in Fischgrät-Muster verlegten, gewachsten Backsteinsockel ‚schwimmt‘ der weiße Wollteppich, auf dem wiederum Tisch, Liege und Sessel von Mies platziert sind, während Mies im Farnsworth House gerade Innen und Außen mit denselben, im Rechteckraster präzise verlegten Travertinplatten belegt. Zudem erzielt die runde Form des Backsteinzylinders eine objekthafte Verdichtung des Raumes innerhalb der transparenten Box, was bereits Arthur Drexler 1949 zum Vergleich mit einem Briefbeschwerer verleitete,7 während Mies Sanitärzelle, Kamin und Haustechnik in den rechteckig schrankartigen Kern integriert, der seinen nichttragenden Charakter durch die Beplankung aus Primavera verdeutlicht. Auch wenn beide Kerne asymmetrisch in den Raum gestellt sind und diese Binnengliederung von weiteren Elementen wie der Schrankzeile unterstützt wird (bei Johnson findet sich auch noch eine frei in den Raum gestellte Küchenzeile, die Mies konventionell in den Kern integriert), unterscheidet sich die Wirkung auf diesen radikal. Beide Häuser zelebrieren die industriellen Materialien Spiegelglas und Stahl, doch tun sie es auf unterschiedliche Weise: nicht nur farblich – Mies in weiß vs. Johnson in schwarz – sondern auch konzeptionell und konstruktiv. Johnson setzt die acht Profilstahlstützen außenbündig mit dem Glas, während Mies seine acht H-Träger vor die Glashaut setzt, wodurch sie Schatten auf das Glas werfen. Und während Mies mit der offenen, auskragenden Ecke den Eindruck der Leichtigkeit und des Schwebens unterstreicht, besetzt Johnson die vier Raumkanten mit Stützen. Signifikanterweise entpuppt sich die pädagogische Formulierung der Ecke bei Johnson – eine Kombination der StahlH-Stütze mit einem horizontalen umlaufenden C-Winkel als ‚Balken‘ und den Stahlflach- und Winkelprofilen als ‚Fensterrahmen‘? – als Anlehnung an die Eckdetaillierung von Mies’ IIT Gebäuden (I-Stütze zurückgesetzt in Backstein). Doch zeigt sich, dass sich beim Glashaus das Eckproblem anders stellt als bei den Gebäuden des IIT, da Johnson die Masse der gemauerten Wand fehlt (die beim IIT zwischen die H-Träger eingefacht ist), um eine symmetrische Lösung zu erzielen. Stattdessen stellt sich ein Eckkonflikt ein, da der Profilstahl gegenüber der Längsseite die geschlossene Ansicht mit dem Flansch zeigt, gegen die Schmalseite die offene Ansicht mit dem Steg.

7 | Arthur Drexler: Architecture Opaque and Transparent, in: Interiors & Industrial Design, Oktober 1949, S. 90–101; zit. n.: David Whitney; Jeffrey Kipnis (Hg.): Philip Johnson. The Glass House. New York 1993, S. 2–7, hier: S. 4.

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Philip Johnson: Glass House, Grundriss, New Canaan, CT, 1946–49 6

Ludwig Mies van der Rohe: Edith Farnsworth House, Grundriss, Plano, IL, 1945–51

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Philip Johnson: Glass House, Detail, Ecklösung, New Canaan, CT, 1946–49

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Philip Johnson: Glass House, Innenraum mit Sitzmöbeln von Mies van der Rohe, New Canaan, CT, 1946–49

Ludwig Mies van der Rohe: Edith Farnsworth House, Innenraum, Essplatz mit Blick zur Schrankküche, Plano, IL, 1945–51

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Ludwig Mies van der Rohe: Edith Farnsworth House, Plano, IL, Detail H-Stütze mit ausgebesserten Löchern der Bolzen, 1945–51 9 (rechts) Ludwig Mies van der Rohe: Edith Farnsworth House, Innenraum mit Blick auf Nicolas Poussins Das Begräbnis des Phocion (1648), Plano, IL, 1945–51

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Die Besetzung der Ecke rahmt das Glass House, schließt bei aller Transparenz den Raum gegenüber der Umgebung ab, gibt Definition und Halt, während Mies beim Farnsworth House die Raumgrenze bewusst auflöst. Denn obwohl Mies bei der Größe der Scheiben nicht auf Eckrahmen verzichten kann, versucht er sie durch die Unterdrückung von Details, minimale Maße und weißen Anstrich auf ein optisches Minimum zu reduzieren. Zudem wirken die Scheiben im Farnsworth House durch die einheitliche Fläche und den niedrigeren Reflexionsgrad – Johnson verwendet stärker reflektierendes Glas, das sich als solches zeigt – entmaterialisiert. Denn auch hier liegt ein Unterschied: Johnson teilt umlaufend die Glasfläche horizontal in ein niedriges unteres Feld und ein größeres oberes Feld durch eine Stuhlschiene (mit Ausnahme der Türen), die einen niedrigen Horizont in den Raum einfügt, analog zum Täfer traditioneller Wohnarchitektur. Mies hingegen zeigt die Glasflächen ungebrochen als Platte mit den größten damals lieferbaren Scheiben (einzige Ausnahme: Fensterflügel Längsachse), was Peter Eisenman in seiner Lektüre des Farnsworth House als „Absenz“ oder „Void“ des Glases bezeichnet,8 während Johnson das Glas als Ausfachung einsetzt, und dadurch dessen Materialität und Präsenz unterstreicht. Beide Architekten verfolgen auch unterschiedliche Strategien bei der Dosierung der Transparenz – der empfundenen Einblicke (denn, wie gesagt, beide Häuser waren durch Distanz, Bäume und Mauern vor Einsicht geschützt) und Ausblicke, besonders in den Abendstunden, wenn die Beleuchtung im Glashaus nicht nur Reflexionen auf den Scheiben verursachen, sondern das Haus selbst in eine Laterne verwandeln: Mies konzipierte leichte, naturfarbene Vorhänge aus Shantung Rohseide sowohl umlaufend an den Gläsern, als auch als Raumteiler im Innern, analog zum Tugendhat Haus. Ein Vorhaben, das aber nach dem Zerwürfnis mit Edith Farnsworth nicht mehr realisiert und nur teilweise mit der Renovierung der 1970er Jahre nachgeholt wurde. Johnson hingegen platzierte an strategischen Stellen flache Schirme aus Pandanus-Faser, die als Sicht- und Blendschutz an Schienen bewegt werden können, um bewusst ein bewegliches, textiles Element im Raum zu vermeiden. Wenn man sich der Konstruktion zuwendet, so versuchen beide Architekten die eigentliche Fügung zu unterdrücken: Nahezu alle sichtbaren Details des Stahlrahmens sind unsichtbar geschweißt, während die verborgenen Verbindungen im Boden oder im Dach mit Bolzen- oder Schraubverbindungen realisiert wurden. Mit dieser sowohl statisch als auch handwerklich anspruchsvollen Ausführung unterliefen Mies und Johnson ihre eigenen Vorgaben der industriellen Fertigung sowie den prototypischen Charakter der Bauten: Beide Häuser sind höchst aufwendige (und ebenso teure) Einzelanfertigungen von 8 | Peter Eisenman: The Umbrella Diagram – Ludwig Mies van der Rohe, Farnsworth House, 194651. In: Ibid.: Ten Canonical Buildings 1950–2000. New York 2008, S. 59.

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Spezialisten, keine industriellen Serienprodukte – und erinnern von daher an die heutige digitale Fabrikation, die auch entgegen der Ansprüche der 0-Serie oder des Rapid Prototyping eher zur Arts & Crafts Individualanfertigung tendiert, als dem Anspruch der Mass Customization in der Architektur gerecht zu werden. Doch auch hier offenbart ein genauerer Blick zahlreiche Unterschiede im Detail: Während Mies das Farnsworth House bewusst als biegesteifen Stahlrahmen konstruiert (wie im Baustellenfoto ersichtlich, Abb. 10), zeigt sich Johnson pragmatischer. Hinter dem weißen Deckenputz verbirgt sich eine Mischstruktur von I-Trägern und Holzsparren (!), während Bodenplatte und Streifenfundamente betoniert und mit Klinker verkleidet sind und so der Stahl auf die sichtbaren Bereiche limitiert bleibt.

10 Ludwig Mies van der Rohe: Edith Farnsworth House, Baustellenfoto der Stahlkonstruktion, Plano, IL, 1945–51

Aber auch bei Mies gibt es bedeutsame Detailentscheidungen: Beispielsweise dimensioniert er die Decke gleich stark wie die Bodenplatte, obwohl die Bodenplatte für höhere Lasten ausgelegt ist. Damit strebt er eine Symmetrie beider Platten aus formalen Gründen an, entgegen dem konstruktiv Notwendigen. Ebenso vermeidet er die für die Aufnahme von Schubkräften üblichen Aussteifungen (Auskreuzung), sondern verlässt sich auf aufwendigere (und teurere) biegesteife Rahmen: Auch hier, um ‚störende‘ nicht-rechtwinklige Linien zu vermeiden. Selbst die Wahl des Anstrichs dient dazu, Spuren des aufwendigen Konstruktionsablaufs zu überdecken. Um die ‚unsichtbaren‘ Schweißpunkte an

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den Verbindungsstellen von vertikalen H-Stützen und horizontalen C-Winkeln zu erzielen, mussten vorübergehende Sicherungsbolzen ins Metall getrieben werden, die nachträglich wieder abgetrennt, verspachtelt und geschliffen wurden und unter drei Lagen weißer Farbe verschwanden. Ebenso zeigen weder die perfekt homogene weiße Putzdecke noch der präzise verlegte Travertinboden sichtbare Hinweise auf ihren Produktionsprozess, sondern im Gegenteil: wenn Fugen notwendig wurden, sind sie nach Möglichkeit durch Schattenlinien verborgen worden. Kurz, Mies betreibt beim Farnsworth House – im Gegensatz zu den teilweise verborgenen Stahlkonstruktionen des früheren Barcelona Pavillons (1928–29) und des Tugendhat Hauses (1928–30) – eine Suche nach vollkommener Stahlarchitektur. Alle Schritte – inklusive der Inkaufnahme von Nutzungsproblemen und Bauschäden – verweisen auf eine Intellektualisierung der Stahlkonstruktion zum Kunstwerk analog zur Genese des griechischen Tempels aus archaischen Holzkonstruktionen.9 Das Bild des Tempels – als artifizielles Objekt im Kontrast zur Umgebung – führt nochmals zur Frage des Kontextes: Mies positioniert das Farnsworth House als Objekt im Raum, ein Fremdkörper, der nur vorsichtig und distanziert provisorisch auf der Schwemmwiese des Fox Rivers abgestellt wirkt. Deshalb verzichtet er auf Landschaftsgestaltung (abgesehen von der Platzierung direkt unter einem bestehenden mächtigen Ahornbaum), wie auch auf einen Zugangsweg. Man nähert sich dem Objekt durch die Wiese bzw. heute durch Gehölz parallel zum Fluss, umrundet den Pavillon, um über Treppe und Plattform die offene Loggia zu erreichen und über eine 90°-Drehung den Raum zu betreten.10 Bei Johnson hingegen bildet das Glass House von Beginn an den Gegenpart zum zeitgleich errichteten Brick House, das ursprünglich über alle Notwendigkeiten des Lebens (zwei Gästeschlafzimmer, ein Studio, ein Bad, Wandschränke und Heizkessel für beide Häuser) verfügte, aber bereits 1953/54 zu Gunsten eines Masterbedrooms – ausgelegt mit altrosa Teppich an Boden und Wänden und einem Altan im Camp-Look – umgestaltet wurde. Mehr noch, Johnson konzipierte das Glass House immer als ein Element einer Gruppe, als ein Zimmer eines über das Anwesen ausgebreiteten Wohnens (Glass House, Brick House, Lawn, Pool, Lipschitz Skulptur, Bruchsteinmauern, Bäume),11 was sich bis zum Beleuchtungskonzept der indirekten Strahler auf die Bäume zeigt, die nachts den Außenraum zum Innenraum des Glass House-Komplexes wandeln.

9 | Oder vielmehr der Vorstellung des 19. Jahrhunderts von diesem Wandel der Holzkonstruktion zur monumentalen Steinarchitektur, vgl. Karl Bötticher: Die Tektonik der Hellenen. Potsdam 1852. 10 | Lord Palumbo hat neue Bäume setzen lassen und die Schwemmwiese regelmäßig gemäht. Damit hat er die Umgebung mehr einem Englischen Park angeglichen, als von Mies ursprünglich konzipiert. 11 | Arthur Drexler: Architecture Opaque and Transparent 1949. Nachdruck: Whitney; Kipnis 1993 (Anm. 7), S. 3.

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Dass es sich bei diesen Unterschieden um bewusste Differenzierungen handelt und nicht nur um eine ungenaue Kopie, beweist die Selbsterklärung Johnsons aus dem Jahr 1950,12 also noch vor der Fertigstellung von Mies’ Farnsworth House. Im Architectural Review bespricht Johnson sein eigenes Werk – und verweist auf eine Vielzahl von Referenzen: Das diagonale Wegenetz führt er auf den Englischen Landschaftsgarten zurück (Fürst Pückler-Muskau), ebenso wie auf Le Corbusiers Städtebau, womit er der Lektüre des Glass House als Ensemble oder Folly im Landschaftsgarten zugleich Nahrung gibt und diese unterläuft. Die Anordnung der Baukörper (Glass House; Brick House) soll aber zugleich auf die freie räumliche Komposition der Moderne (Mies IIT; van Doesburg) verweisen. Bereits in der frühen Fassung des Anwesens unterstreicht Johnson die Bedeutung der prozessualen Annäherung über Eck und die perspektivische Verdeckung, die er auf die Interpretation der Akropolis von Athen von Auguste Choisy13 zurückführt (was ihn nicht daran hinderte, die Zufahrt später zu verändern). Zum Vergleich: Mies wählte ursprünglich eine Annäherung frontal zur Langseite, verschob aber den Eingang aus der Mittelachse hin zur Loggia (bei Johnson: symmetrisch mittig). Johnson sieht Beziehungen zum romantischen Klassizismus Karl-Friedrich Schinkels, insbesondere zu Schloss Glienicke, einem Referenzobjekt des jungen Mies, als er noch bei Peter Behrens arbeitete (1908–12). Die prismatische Form setzt Johnson in Beziehung zur „absoluten Form“ von Claude-Nicolas Ledoux, um gleich den Lektürehinwies auf Emil Kaufmans Ausführungen14 zum Zusammenhang von französischer Aufklärung und Moderne zu geben. Erst an sechster Stelle nennt Johnson das Farnsworth House, und weist auf die bereits erwähnte, von ihm kuratierte Mies van der Rohe-Ausstellung am MoMA von 1947 hin, für die er Modell und Pläne studiert habe,15 unterstreicht jedoch seine Hommage an Mies. Ebenfalls betrachtet Johnson sein Eckdetail in Standard-Profilstahl als eine Lösung analog zu Mies. Doch wie bereits dargelegt, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Ecke der IIT Gebäude (Stahl ausgefacht mit Backstein) und Mies’ offener Ecke für das Farnsworth House. Signifikant für Johnsons weitere Karriere als „Vater der Postmoderne“ (als Manierismus der Moderne) ist sein Kommentar: „Perhaps if there

12 | Philip Johnson: House at New Canaan, Connecticut. In: Architectural Review, V108, Nr. 645, September 1950, S. 152–159. 13 | Auguste Choisy: Histoire de l‘architecture. Paris 1899. Ein wichtiger Theoretiker der BeauxArts mit weitreichendem Einfluss auf Le Corbusier, der die von Johnson zitierte Abbildung in Vers une Architecture von 1923 abdruckt. 14 | Emil Kaufmann: Von Ledoux bis Le Corbusier: Ursprung und Entwicklung der Autonomen Architektur. Wien 1933. 15 | Johnson 1947 (Anm. 1).

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is ever to be ‚decoration‘ in our architecture it may come from manipulation of stock structural elements such as this (may not be Mannerism be next?).“16 Mit Blick auf den asymmetrisch gesetzten Backsteinzylinder sucht Johnson formale Parallelen zur abstrakten suprematistischen Komposition Rechteck und Kreis von Kasimir Malewitsch aber fügt hinzu, diese sei „malerischer, als Mies gutheißen würde.“17 Den Grundriss des Glass House führt Johnson ebenfalls auf Mies zurück, um den Plan des Brick House mit „barockem Korridor“ dialektisch dagegenzusetzen. Die Kreisfenster des Brick House betrachtet Johnson als Übernahme von Mies, die dieser bei seinen Backsteinhäusern verwendete habe, um die Geschlossenheit der gemauerten Wand zu wahren. Johnson fügt hinzu, dass er sie auch wegen des „kompositorischen Effekts“ genieße. Die Reflexionen im Spiegelglas als eigentliches Motiv der Glasarchitektur sei wieder eine Entdeckung von Mies, den Johnson im Bezug auf dessen frühe Entwürfe für das Glashochhaus zitiert: „I discovered by working with actual glass models hat the important thing is the play of reflections and not the effect of light and shadow as in ordinary buildings.“18 Im Kontrast dazu stehen Johnsons Überlegungen, ob die (Bi-)Axialität der vier Türen als „absolut“ im Sinne von Ledoux oder ob der mittige Eingang auf der Längsseite (Glass House und Brick House) als „barock“ zu werten sei. Aus dem Rahmen fällt die Bemerkung Johnsons zum Motiv des abgebrannten Dorfes: „The cylinder [...] forming the main motive of the house, was not derived from Mies, but rather from a burnt village I saw once where nothing was left but foundations and chimneys of brick. Over the chimney I slipped a steel cage with glass skin. The chimney forms the anchor.“19 Einige Kommentatoren wie Kenneth Frampton und Peter Eisenman haben einen Bezug zum 2. Weltkrieg hergestellt, und tatsächlich: Philip Johnson, der in den 1930er Jahren mit den Nazis sympathisierte, war 1939 als Reporter einer US-Tageszeitung in Deutschland und hat sowohl vom Reichsparteitag in Nürnberg als auch vom Überfall auf Polen berichtet. Sollte man also das Glass House als eine Ruine mit einer Abdeckung aus Stahl-Glas, also wie eine Vitrine lesen, als Ästhetisierung des Krieges? Die Farbe Schwarz als Hinweis auf verkohlte Balken? Oder verweist die Ruine wiederum auf den Englischen Landschaftsgarten, der mit falschen Ruinen zur Kontemplation über Zeit (und Tod) anregen wollte, aber auch malerische Bilder und gerahmte Blicke inszenierte? Ganz nach dem barocken Et in arcadia ego – Auch in Arkadien herrscht der Tod? Der letzte Punkt in Johnsons Selbstinterpretation betrifft die Dialektik aus figuraler Plastik (Nadelmann; Giacometti) gegenüber

16 | Ibid. 1950 (Anm. 12), S. 155. 17 | Ibid.: „[...] however more ‚painterly‘ than Mies would sanction.“ 18 | Johnson zitiert Mies im Bezug auf die Entwürfe für Glashochhäuser für Berlin. Johnson 1950 (Anm. 12), S. 157. 19 | Ibid.

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abstrakter Architektur, was dem Beispiel von Mies folge, der Skulpturen von Lehmbruck (Tugendhat) oder Kolbe (Barcelona Pavillon) prominent platzierte. So weit so gut, aber was soll man von Nicolas Poussins arkadischem Gemälde halten, das sicher nicht auf Mies zurückzuführen ist – und das wiederum auf den Landschaftsgarten (und den Tod) verweist? Mit dieser Sammlung historischer Referenzen folgt Johnson, der als Kunsthistoriker ausgebildet war, bevor er Architektur unter Gropius und Breuer in Harvard studierte, weder einer chronologischen Narration der Glasarchitektur (Crystal Palace; Glas in der Moderne; Farnsworth), noch sind die Referenzbeispiele als räumliche Elemente im Bau wiederzuerkennen (Zitat, Kopie). Vielmehr handelt es sich um eine Serie persönlicher Assoziationen,20 die locker den Maßstäben folgen – von der Landschaft zum Bau zum Detail zur Einrichtung und Kunst. Auffällig weiterhin sind die Begriffe, mit denen Johnson seinen Umgang mit Referenzbeispielen umschreibt: Termini wie „kopieren“, „ableiten“ und „übernehmen“ oder „Grammatik der Architektur“21 lassen auf eine postmoderne Vorstellung von Textualität der Architektur schließen – und das im Jahr 1950. Natürlich stellt Johnson seine Hommage an Mies nicht in Frage,22 aber bei genauerer Betrachtung ist diese gebrochen von anderen historischen Quellen, oftmals denen von Mies selbst: Karl Friedrich Schinkel und die Akropolis; Le Corbusier und Choisy; Le Corbusier und der englische Landschaftsgarten; De Stijl; Suprematismus resp. Konstruktivismus, die alle in der von Mies mitherausgegebenen Zeitschrift G prominent vertreten waren (1923–26). Kurz, es handelt sich um geschichtete, komplexe Beziehungen statt einer direkten Aufnahme und Weiterverfolgung einer ‚Schule‘. Und an Stelle der Ähnlichkeit zu den Vorbildern operiert Johnson mit analogen und assoziativen Beziehungen. Offen bleibt, ob man diesen Ahistorismus nun modern oder postmodern deuten sollte.

4 . Moderne und postmoderne Spiegelwelten Wenn man dem Kritiker Kenneth Frampton folgt, dann auf jeden Fall postmodern.23 Auch Frampton nähert sich 1978 dem Glass House vergleichend über Mies, für dessen Werk er eine Genealogie eines Loggien-Themas von Schinkel über Barcelona Pavillon zum Farnsworth House konstruiert, um Johnson und 20 | Craig Owens: Philip Johnson: History, Genealogy, Historicism. In: Catalogue 9, Institute of Architecture and Urban Studies, September/October 1978, S. 2–11. 21 | Johnson 1950 (Anm. 12), S. 153ff („copy“, „adapt“, „derive“, „grammar of architecture“). 22 | Ibid., S. 154: „The idea of the glass house came from Mies van der Rohe. Mies mentioned to me as early as 1945 how easy it would be to build a house entirely of large sheets of glass. I was skeptical at the time, and it was not until I had seen the sketches of Farnsworth House that I started the three-year work of designing my glass house.“ 23 | Kenneth Frampton: The Glass House Revisited. In: Catalogue 9, 1978 (Anm. 20), S. 39–59.

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das Glass House auf Basis des Entwurfsprozesses dem Hofhaus-Motiv zuzuordnen, an dem Mies in den 1930er Jahren arbeitete. Das Farnsworth House hingegen stellt für Frampton eine Weiterentwicklung hin zu abstrakten horizontalen Ebenen im Raum dar,24 zu einer autonomen Struktur, die Mies separat vor den Glas-Envelope gestellt hat, während Johnson eine Glashaube über einen stereometrischen Backsteinsockel stülpt, bei der Stahlgerüst und Glas in eine Ebene fallen.25 Framptons vernichtendes Fazit: Johnson liefere Szenographie, Mies hingegen Tektonik – und damit Vergeistigung der Konstruktion (was aber, wie bereits oben dargestellt, nur bedingt stimmt, da der geschweißte Rahmen gerade nicht tektonisch im Sinne sichtbarer Lastabtragung zwischen Decke und Stütze ist, sondern die horizontalen Platten zwischen die H-Träger „spannt“26), um Johnsons Glass House rundheraus zu verurteilen: „And yet is it not this sophisticated intersection of many strands a final closure of bourgeois utopianism, a definitely reductive modernity, a folding in of humanism upon itself, the state of solipsism raised to unparalleled elegance, the end of a trajectory rather than a beginning?“27 Ganz anders urteilt Robert Voyosevich, der 1991 die beiden Glashäuser als Variationen über das Thema der Urhütte deutet,28 und mit Referenz auf Sempers vier Urtechniken nach stereometrischen, keramischen, tektonischen und textilen Elementen sucht: Trotz zahlreicher Parallelen streicht er eine unterschiedliche Behandlung des keramischen Feuers (Öffnung im gemauerten Zylinder vs. Integration in die Primavera Holzverkleidung) und der stereometrischen Erdaufschüttung (erdige Ziegel und aufwachsender Zylinder vs. schwebende Struktur) heraus. Zudem hebt er Johnsons Differenzierung zwischen Bodenplatte und abstrakter Decke hervor, während Mies beide als abstrakte schwebende Scheiben gleich behandle. Andererseits differenzierte Mies zwischen (nichtragenden) Fensterrahmen und der tragenden Stahlstruktur, während Johnson die H-Träger von innen gegen das Glas setze, und so die Unterscheidung zwischen textiler „Haut“ und tektonischen „Knochen“ (im Sinne Sempers) verwische. Peter Eisenman schließlich widerspricht Frampton, wenn er das Farnsworth 24 | Entwicklung der Glashaus-Idee bei Mies: Hochhaus Friedrichstrasse (1921), Barcelona Pavillon (1929), Haus Tugendhat (1928–30), Glashaus (Ausstellung Berlin 1931), Resor House (1937–38), Farnsworth House (1945–51); vgl. auch: Rolle des Materials an sich – Beton oder Backstein – bei frühen konzeptionellen Haus-Entwürfen; hier: Entwicklung der Struktur (StützeWand-Glas): Stütze als „Ecke“ (IIT) und Betonung eines übergeordneten Rasters im Raum (auch Lake Shore Drive Apt und Seagram Building) vs. offene Ecke in Farnsworth. 25 | Frampton 1978 (Anm. 23), S. 51. 26 | Drexler spricht von „magnetism“: Arthur Drexler: Farnsworth House. In: Henry-Russel Hitchcock Arthur Drexler: Built in USA: Post-war Architecture. New York 1952, S. 20–21. 27 | Frampton 1978 (Anm. 23), S. 51. 28 | Robert Dell Voyosevich: Semper and Two American Glass Houses. In: Reflections 8, Spring 1991, S. 4–11.

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House als „Umbrella Diagram“ liest, mit dem Mies die Stahlstützen als „Maske“ konzpiert hätte, also nicht als Konstruktion, sondern als Konstruktionserscheinung, als postmodernes selbstreferentielles Zeichen.29 Doch so weit in die (selbst postmoderne) linguistische Analogie muss man gar nicht vordringen: Das Glass House von Johnson zeigt einen raffinierten, vielschichtigen und mehrdeutigen Umgang mit Geschichte, Referenzen und Autobiographie. Collage, Zitat und persönliche Narration sind nicht allein postmoderne Strategien, sondern verweisen auf den pittoresken Landschaftsgarten, den Johnson auf seinem Anwesen über 50 Jahre angelegt und beständig transformiert hat. Dies ist ein Punkt, der oft vergessen wird: Das Grundstück in New Canaan an der Grenze von Connecticut und New York State ist altes Farmland. Der heutige Park und Wald sind sekundär, ebenso künstlich wie die Bauten oder der angelegte Teich. Dieser literarisch-poetische Umgang mit der Landschaft lehnt sich an Poussins Gemälde Das Begräbnis des Phocion (1648) an, das nicht umsonst (auf einem Stahlrahmen!) von der Sitzinsel aus betrachtet gegen die Landschaft positioniert ist. Das Glass House erscheint als eine private Spielerei oder „Folly“30 in der Tradition des aristokratischen Dilettanten oder Amateurs,31 der für sich selbst baut, wie der für den Palladianismus bekannte Richard Boyle, 3rd Earl of Burlington. Das Glass House war von Beginn Teil einer Gruppe, einer räumlich verteilten Komposition, ganz nach dem klassischen Vorbild der Villa Hadriana in Tivoli, die Johnson 1952 besuchte. Die gesellige Offenheit des Glass House, in der sich Johnson als Gastgeber sowohl intellektueller Salons als auch rauschender Cocktailpartys gefiel, machten den massiven Bruder des Brick House als privaten Ausflugs- und Rückzugsort notwendig, ebenso wie die sukzessiven Ergänzungen um Gartenpavillons, Galerien für die private Gemälde- und Skulpturensammlung, Bibliothek, oder – die eigene Musealisierung fest im Blick – Eingangspavillon und Besucherzentrum. Mit dem Glass House-Komplex begegnet uns der Architekt Johnson als sein eigener Klient und Sammler. Und wie bereits im Englischen Landschaftsgarten bedeutet der Bezug zur Natur immer auch eine Reflexion über Zeit und Tod, präsent durch die Metapher der Ruine, das Elysische als Endpunkt der Biographie – und ist heute Teil des US National Trust. Auch wenn Mies ein einzigartiges Gebäude für einen spezifischen Ort (Anhebung wegen potentieller Überschwemmung) entwirft, unterscheidet sich die Motivation von der Johnsons grundlegend: Nicht das autobiographische, individuelle Liebhaberobjekt respektive das Konzept der ‚Sammlung‘ schwebte ihm

29 | Eisenman 2008 (Anm. 8), S. 56. 30 | Philip Johnson: Full Scale False Scale. In: Show III, June 1963, zit. n.: Whitney; Kipnis 1993 (Anm. 7), S. 25. 31 | So auch z.B. Robert Hughes: The Duke of Xanadu at Home. In: Time, 26.10.1970, zit. n.: Whitney; Kipnis 1993 (Anm. 7), S. 55–57.

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vor, sondern die Suche nach Transzendenz sowohl des Ortes, des Programms und der Auftraggeberin, sogar der Konstruktion und Materialität (wie oben dargelegt das Unterdrücken von Details durch Schweißen, weißen Anstrich bzw. Minimalisierung der Fugen). Die technische Perfektion stellt nicht die Materialien zur Schau, wie noch im Barcelona Pavillon, sondern erreicht gerade das Gegenteil, den Eindruck der Entmaterialisierung. Mies setzt präzise eine abstrakte Skulptur ins Grün unter einen mächtigen Ahornbaum (analog zur Weide im Haus Tugendhat), gefügt aus isolierten, diskreten Elementen. Aber während für Johnson (wie auch für den englischen Garten) der Weg als narratives Element und Aneinanderreihung von gesuchten Bildern von größter Bedeutung ist, verzichtet Mies auf dessen Definition. Nicht der kinematographische Moment der Bewegung im Raum (wie bei Johnson), sondern der stille Blick auf die Natur, gerahmt von der perfekten, neutralen Struktur, weil die Natur, die Saison oder das ephemere Wetter bereits alle Farben und Momente bereitstellen. An Stelle der Events (und deren Folge und Dramaturgie) setzt Mies die spirituelle Suche nach Klarheit, was ein Aussetzten der Zeit bedeutet und das Haus in einen Spiegel oder eine Membran verwandelt,32 wo sich Mensch, Natur und Struktur kontrastierend-komplementär ergänzen.33 Wenn Johnson der bessere Landschaftsarchitekt der beiden ist, so ist Mies der Philosoph, der mit dem Farnsworth eine Zelle schafft – genauer, das Modul eines Hochhauses mit außenliegender Konstruktion, wie für Seagram gewünscht, wegen Brandschutzauflagen aber nicht realisiert – und so paradigmatisch den modernen Aufenthalt in der Welt verhandelt: der Mensch mit sich allein als Dyade, das Ein-Raum-Haus als Ego-Zelle und Selbstcontainer, als Design für die Befriedigung unserer Selbstliebe, wie Peter Sloterdijk knapp 50 Jahre später in der Sphären Trilogie unsere moderne conditio humana kennzeichnet.34

32 | Siegfried Ebeling: Der Raum als Membran. Dessau 1926. 33 | Mies van der Rohe im Gespräch mit Christian Norberg-Schulz 1958: „I hope to make my buildings neutral frames in which man and artworks can carry on their own lives ... Nature, too, shall have its own life. We must beware not to disrupt it with the color of our house and interior fittings. Yet we should attempt to bring nature, houses and human beings together into a higher unity. If you view nature through the glass of the Farnsworth House, it gains a more profound significance than if viewed from outside ... it becomes part of a larger whole.“ Zit. n. Christian Norberg-Schulz: Talks with Mies van der Rohe. L‘Architecture d‘aujourd‘hui, V29, Nr. 79, September 1958, S. 100. 34 | Peter Sloterdijk: Sphären III: Schäume. Frankfurt a. M. 2004, hier speziell Kapitel 2B: Zellenbau, Egosphären, Selbstcontainer: Zur Explikation der ko-isolierten Existenz durch das Apartment, S. 568–603.

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11a/b Werner Sobek: R128, Stuttgart, außen und innen, 1998–2000

5 . Coda: Glashäuser heute? Vielleicht lässt sich von den beiden Glashäusern an der Schwelle der Nachkriegs- und Postmoderne eine alternative Genealogie zu Protagonisten der zeitgenössischen Architektur ziehen, denn analog zu Mies und Johnson zeigen zwei Glashäuser aus dem letzten Jahrzehnt eine ähnliche Dialektik: Auf der einen Seite steht das transparente Geschoss der Maison à Bordeaux von Rem Koolhaas/OMA (1994–98), das zwischen einen halb versenkten Sockel und einen massiven ‚schwebenden‘ rosafarbenen Betonriegel als privates Obergeschoß gespannt ist und auf Träger fast magisch verzichtet,35 vertikal verbunden lediglich durch eine rahmenlosen Hebebühne. Die Technik der Collage heterogener Elemente verweist ebenso auf Johnson wie das Ausspielen des Gegensatzes von Masse und Leere (Glass House vs. Brick House) und der in die Glasbox eingestellte zylindrische Körper (verspiegelt!). Hingegen scheint das eigene

35 | Natürlich gibt es eine ausgeklügelte Statik, für die Cecil Balmond vom Büro Arup verantwortlich war, die aber im Gegensatz zum Acht-Stützen-Diagramm von Mies und Johnson über die heterogene Elemente des Zylinders, eines Rahmens zum Tal und eines Zugspannschlosses über dem massiv als Kastenträger ausgebildeten Betonriegel des Obergeschosses liegenden I-Träger funktioniert.

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Wohnhaus R128 von Werner Sobek in Stuttgart (1998–2000) eher auf der Seite von Mies und dem Farnsworth House angesiedelt zu sein, nicht nur, weil Sobek sich zum Einfluss von Mies bekennt, sondern auch auf Grund der Präzision der Struktur, der Exponierung (und damit strengen Kontrolle und Gestaltung) der Haustechnik und der Zelebrierung des konstruktiven Details, das nicht nur von der Fügung (und der potentiellen Demontage und Überführung ins Recycling) kündet, sondern vielmehr einem entmaterialisierten ‚beinahe Nichts‘ entgegenstrebt.

12 OMA/Rem Koolhaas: Maison à Bordeaux, 1994–98

Auch hier ließe sich mit Mies argumentieren, dass die höchste Perfektion der Konstruktion nicht zeigt, wie etwas gemacht ist, sondern den Blick auf ein Außen lenkt und das Schauspiel der Natur und Witterung rahmt. Natürlich handelt es sich bei beiden Beispielen um Extrempositionen der Architekturproduktion der 1990er Jahre, als die Moderne der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit neu interpretiert und vor dem aktuellen Hintergrund einer globalisierten, postindustriellen und auf Medien bzw. IT beruhenden Gesellschaft neu verhandelt wurde. Während Stahl und Spiegelglas bei Mies und Johnson mindestens ebenso die wirtschaftliche und technologische Potenz der Supermacht USA repräsentieren – wie eine Antwort auf die Suche der (europäischen) Moderne nach einer gläsernen Architektur – so verweisen die beiden Glashäuser der 1990er auf die Historizität der Moderne, auf den technologischen Fortschritt seitdem (das energieeffiziente IT-Sensor-Haus von Sobek ebenso wie der statische Balanceakt von Koolhaas) und auf eine westliche Kultur der sich auflösenden Grenzen von Zeit und Raum des weltumspannenden Flusses von Kapital, Informationen, Gütern und Menschen. Doch wo liegt das Potential transparenter Glasarchitektur heute, nachdem die These der globalen Kreisläufe, der Auflösung der Grenzen und der digital liquiden oder animierten Architektur der 1990er Jahre selbst in eine Krise geraten ist und sich mit neuen Anforderungen nach Kontrolle, Sicherheit und Nachhaltigkeit konfrontiert sieht? Kehren wir nun zurück zu einer opaken Architektur der Masse, jenseits der modernen Hoffnungen von Transparenz und Transzendenz?

R EFLEXIONEN IM S PIEGELGL AS …

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O LE W. F ISCHER

Abbildungen Philip Johnson, Glass House (Johnson house), New Canaan, CT, USA, 1949, Blick von der Zufahrt, Herbst 2006. Foto: Carol M. Highsmith, copyright Library of Congress (LC-DIG-highsm-04817) 2 Ludwig Mies van der Rohe, Edith Farnsworth House, Plano, Il, USA, 1951, Blick vom Foxriver auf den Eingang, Foto: Carol M. Highsmith © Library of Congress (LC-DIG-highsm-15311) 3 Philip Johnson, Glass House (Johnson house), New Canaan, CT, USA, 1949, Innenraum, Herbst 2006, Foto: Carol M. Highsmith © Library of Congress (LC-DIG-highsm-14066) 4 Ludwig Mies van der Rohe, Edith Farnsworth House, Plano, Il, USA, 1951, Innenraum. Foto: owf 2012 5 Philip Johnson, Glass House (Johnson house), New Canaan, CT, USA, 1949, Grundriss. Zit. n. Toshio Nakamura (Hg.): Glass House, New York: The Monacelli Press, 2007, o.S. 6 Ludwig Mies van der Rohe, Edith Farnsworth House, Plano, Il, USA, 1951, Grundriss. Zit. n. Maritz Vandenberg, Farnsworth House. London, New York: Phaidon, 2003, S. 44 7 Philip Johnson, Glass House (Johnson house), New Canaan, CT, USA, 1949, Eckdetail mit Stahlstütze, Fensterrahmen und Anschluss Dach bzw. Sockel. Foto: owf 2010 8 Ludwig Mies van der Rohe, Edith Farnsworth House, Plano, Il, USA, 1951, Detail Anschluss Stahlstütze. Foto: owf 2012 9 Philip Johnson, Glass House (Johnson house), New Canaan, CT, USA, 1949, Innenraum, Gemälde Nicolas Poussin Das Begräbnis des Phocion (1648).Zit. n. Toshio Nakamura (Hg.): Glass House, New York: The Monacelli Press, 2007, o.S. 10 Ludwig Mies van der Rohe, Edith Farnsworth House, Plano, Il, USA, 1951. Baustellenfoto: Stahlbau. 11 Werner Sobek, R128, Stuttgart, 2000, Foto: Werner Blaser. Zit. n. Heinlein, Frank: R 128 by Werner Sobek – Bauen im 21. Jahrhundert. Basel, Boston, Berlin 2002, S. 21 12 Rem Koolhaas/OMA, Maison à Bordeaux, 1998. ©: OMA/Rem Koolhaas 1998. Foto: Hans Werlemann 1

Die An- und Abwesenheit der Villa Tugendhat im Kontext der tschechischen Architektur Vendula Hnídková

Die Wahrnehmung der Villa Tugendhat war im Laufe des 20. Jahrhunderts durch viele politische, soziale, kulturelle sowie nationalistische Vorurteile belastet. Im Folgenden geht es um die Positionierung der Villa Tugendhat im Kontext der tschechischen Architektur unter Berücksichtigung der breiteren gesellschaftspolitischen Zusammenhänge. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem lokalen Bauwesen in Brünn. In der Zwischenkriegszeit wirkten in der Tschechoslowakei die beiden Meister der modernen Architektur, Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe. Im Gegensatz zu Mies van der Rohe blieb Le Corbusiers Tätigkeit auf das Feld der Ideen beschränkt: Die tschechischen Industriellen Tomáš und Jan Antonín Bat‘a hatten ihn für die Planung der Stadt Zlín, wo Fabrikgebäude und Wohnungen für Arbeiter entstehen sollten, herangezogen. Seine Vorschläge blieben jedoch unverwirklicht. Le Corbusiers Konzept einer kollektiven Unterbringung der Arbeiter in Hochhäusern kontrastierte scharf mit der Intention Bat‘as, eine moderne Gartenstadt im Grünen zu erbauen. Zur gleichen Zeit hat Mies van der Rohe mit seiner Villa für die Familie Tugendhat in Brünn ein einzigartiges Objekt hinterlassen, dem der zeitgenössische Brünner Architekt Jan Sapák eine analytische Studie widmete. Diese verdeutlicht die übliche Rezeption der Villa im tschechischen Diskurs und stellt explizit die nationalen Positionen in der Wahrnehmung des Bauwerks dar, wenn es gleich zu Beginn des Textes heißt: „Die Villa Tugendhat ist im Wesentlichen ein deutsches Werk, in die tschechische Umgebung versetzt.“1 1 | Jan Sapák: Vila Tugendhat. In: Umˇení/Art 35, 1987, S. 167-178, hier: S. 167. I. O.: „Vila Tugendhat je z podstatné cˇásti nˇemecké dílo zasazené do cˇeského prosˇredí.“

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Brünn, die ehemalige mährische Landeshauptstadt und zugleich eine Provinzstadt in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, ist zwar die zweitgrößte tschechische Stadt, von Wien trennen sie aber nur etwa 130 Kilometer. Der Wiener Einfluss machte sich insbesondere im Barock oder Historismus bemerkbar. Man bezeichnete Brünn zuweilen sogar als „Wiener Vorstadt“. Hier entwickelte sich eine Baukultur, die durch die Architekten der „Generation Ringstraße“ (Heinrich Ferstel, Theophil Hansen), der Schüler Otto Wagners (Leopold Bauer oder Hubert Gessner) oder auch Adolf Loos geprägt war. Im Januar 1919 wurde die zweite tschechische Universität in Brünn gegründet, also nur zwei Monate nach der Gründung der selbstständigen Tschechoslowakischen Republik. Obwohl es sich dabei um das Ergebnis eines langjährigen Prozesses handelte, wurde es von der lokalen deutschen Bevölkerung als ein Akt gezielter Festigung der tschechischen Position in der Stadt empfunden. Einerseits wurden so nationale Tendenzen stark unterstützt, andererseits brachte die Entstehung der neuen Universität aber auch eine liberale Atmosphäre in die Stadt. Im Jahr 1928 fand in Brünn anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Republik die „Ausstellung der zeitgenössischen Kultur der Tschechoslowakei“ (Výstava soudobé kultury) statt.2 Dieses groß angelegte und von offiziellen Kreisen besonders unterstützte Kulturprojekt wurde zum wichtigen Manifest des Funktionalismus. Bis zu diesem Zeitpunkt galt der sogenannte Nationale Stil (auch Rondokubismus) als die offizielle künstlerische Richtung, während der von den Architekten Josef Gočár und Pavel Janák begründete dekorative Stil in Brünn nie auf fruchtbaren Boden gestoßen war. Das neue Messegelände, auf einer grünen Wiese südlich der Stadt erbaut, wurde als radikaler Ausdruck der progressiven Trends gedeutet, die sich in Industrie, Wissenschaft und Ausbildung sowie in der Kultur bemerkbar machten. Diese Tendenz der „programmierten Modernität“ erfuhr in der architektonischen Auffassung der Ausstellung ihre visuelle Materialisierung. Die Architekten des Hauptgebäudes, Josef Kalous und Jaroslav Valenta, wählten für den Pavillon eine gewagte Konstruktion aus Stahlbeton. Die kühne Lösung symbolisierte das Selbstbewusstsein und den technologischen Optimismus des jungen Staates. Ausgehend von der Inszenierung des Messegeländes in den Formen des „weißen Funktionalismus“ entwickelte sich der hier vorgetragene Stil zur Essenz der künftigen Staatsrepräsentation; die visuelle Macht des Funktionalismus sollte die Idee der demokratischen Republik manifestieren. In der Eröffnungsrede zur Ausstellung bezeichnete der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk das einfache utilitäre und gesunde Wohnen als die grundlegende Aufgabe der Zeit. Damit festigte er von höchster Ebene aus 2 | Alena Janatková: Modernisierung und Metropole. Architektur und Repräsentation auf den Landesausstellungen in Prag 1891 und Brünn 1928. Stuttgart 2008.

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die Rolle des Funktionalismus als dominanter Ausdruck von tschechoslowakischer Architektur und Design. Im Rahmen des Ausstellungsprogramms wurde diese Vision vor allem im Modellwohnhaus des Tschechoslowakischen Werkbunds, entworfen durch Josef Havlíček sowie im Pavillon der Prager Kunstgewerbeschule in Form eines Einfamilienhauses mit Geschäft nach dem Konzept von Pavel Janák, verkörpert. Neben dieser offensiven Manifestation des neuen Stils auf dem Messegelände wurde im gleichen Jahr in der Nähe die Villenkolonie „Das Neue Haus“ (Nový dům) erbaut. Die Siedlung repräsentierte eine eigenständige Bauausstellung, die jedoch mit dem Konzept der Landesausstellung eng verbunden war. Das Bauprogramm wurde durch ein Privatunternehmen finanziert und unter dem Patronat des Tschechoslowakischen Werkbundes organisiert. Das Konzept der Ausstellung war als eines der ersten in Europa von der erfolgreichen Ausstellung des Deutschen Werkbundes inspiriert, die 1927 unter der Leitung von Mies van der Rohe in Stuttgart der Öffentlichkeit präsentiert worden war. Das Brünner Projekt zählt zu den wichtigen Pioniertaten der neuen Wohnkultur, vor allem weil es Interesse unter jenen Architekten erregte, die später, im Jahr 1932, eine weitere wegweisende Siedlung in Prag erbauten. Die skizzierte Debatte zeigt, dass die Frage des Wohnens in der Zeit des Baus der Villa Tugendhat ein besonders aktuelles Thema in der Tschechoslowakei darstellte. Um die Rolle, die die Villa im Kontext der tschechischen Architektur gespielt hat und immer noch spielt, zu erläutern, seien die – mittlerweile gewiss hinlänglich bekannten – Fakten zur Baugeschichte der Villa Tugendhat in Kürze zusammengefasst.3 Die Villa Tugendhat ist in einer bürgerliche Umgebung mit Familienhäusern im Stil der Gründerzeit situiert, da sich das einzigartige Grundstück im oberen Teil des Gartens des Hauses der Familie Löw-Beer befand. Den Baugrund stellte der Vater von Greta Löw-Beer dem jungen Paar zur Verfügung, auch finanzierte er den aufwendigen Neubau. Das Ehepaar Greta und Fritz Tugendhat entstammte dem Milieu deutsch-jüdischer Industrieller und Unternehmer, das in Brünn seit dem 19. Jahrhundert die Finanzelite bildete. Der erhebliche Reichtum, den ihre Elterngeneration in pompösen Villen und prachtvollen Inneneinrichtungen umgesetzt hatte, beeinflusste maßgeblich den Geschmack ihrer Kinder. Die historisierende Umgebung der prunkvollen Häuser bildete einen wesentlichen Faktor für die Sehnsucht nach klaren (Lebens-)formen. Befördert wurde diese Orientierung nicht allein durch individuelle Erfahrungen, sondern von der Kenntnis aktueller architektonischer Strömungen, die insbesondere Greta Tugendhat in Berlin angetroffen hatte. Greta, geborene Löw-Beer (1903-1970), hatte während ihres Deutschland-Aufenthalts 3 | Dušan Riegl: Tugendhatova vila v Brnˇe od architekta Ludwiga Miese van der Rohe. Brno 1995; Wolf Tegethoff: Im Brennpunkt der Moderne: Mies van der Rohe und das Haus Tugendhat in Brünn. München 1998; Zdenˇek Kudˇelka; Libor Teplý: Vila Tugendhat. Brno 2001.

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in den 1920er Jahren die neuesten Entwicklungen in der Architektur bewundert. Insbesondere die Bautätigkeit des Deutschen Werkbundes in Stuttgart scheint der jungen Frau imponiert zu haben. In Berlin pflegte sie regelmäßig das Haus Perls zu besuchen, und ihre Vorliebe für diesen Bau führte sie schließlich zu dem Architekten Ludwig Mies van der Rohe. Gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Fritz Tugendhat (1895-1958) besuchte Greta Löw-Beer schon vor ihrer Hochzeit im Sommer 1928 das Berliner Atelier von Mies van der Rohe, um ihn um einen Entwurf für ihr Einfamilienhaus zu bitten. Hätte Mies abgelehnt, wäre der deutsche, in Brünn ansässige und zudem in der wohlhabenden Gesellschaft der deutschen Industriellen beliebte Architekt Ernst Wiesner eine mögliche Alternative gewesen. Wie bereits erwähnt, wurde der soziale Status im Brünn der Zwischenkriegszeit mit ganz anderen Mitteln dargestellt als es das Formenrepertoire Mies van der Rohes zum Ausdruck brachte. Dennoch ist Mies van der Rohe gleich nach der ersten Anfrage von Greta und Fritz Tugendhat nach Brünn gereist, um das ausgewählte Baugrundstück persönlich anzusehen. Sowohl die Parzelle als auch das Ehepaar und seine finanziellen Möglichkeiten haben den Architekten schließlich überzeugt, das Projekt durchzuführen, dessen Planung bereits zu Silvester 1928 abgeschlossen war, obwohl die Baugenehmigung erst am 26. Oktober 1929 erteilt wurde. Der Bau der Villa dauerte nur 14 Monate – dies war damals eine gewöhnliche Zeitspanne für ein Einfamilienhaus, jedoch nicht für ein Objekt solcher Ausmaße und Ausstattung. Im Herbst 1930 wurden Möbel und Innenausstattung angefertigt und installiert, und am 1. Dezember erhielten die Tugendhats schließlich die Wohngenehmigung und konnten ihr Haus beziehen. Mit Blick auf die technischen und konstruktiven Besonderheiten stellt die Villa eine einzigartig progressive architektonische Leistung der Epoche dar. Zentral ist hier die Konzeption eines fließenden Raumes und dessen optische Verbindung mit dem Außenraum. Der visuelle Effekt des „Glaszimmers“4 wurde durch die massive Verglasung der Außenmauer ermöglicht. Die Verwendung einer Stahlskelettkonstruktion mit besonders subtilen verchromten Stützen hatte nicht nur eine praktische Bedeutung, sondern akzentuierte darüber hinaus die ästhetischen Reize der lichtdurchfluteten Architektur. Um das Leben in diesen großzügigen Räumen hinter riesigen Glaswänden, die teilweise als versenkbare Scheiben konstruiert waren, praktisch zu ermöglichen, musste das Haus im Laufe des Jahres mit einem höchst innovativen Heizungs- und Klimatisierungssystem ausgestattet werden. Die technisch vollkommenen Lösungen

4 | Simon Mawer: The Glass Room. London 2009. Titel des Romans von Simon Mawer, in dem das Haus Tugendhat eine zentrale Rolle spielt. Das Buch wurde im Jahr 2009 für den Man Booker Prize nominiert.

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wurden durch dekorative architektonische Motive aus hochwertigen Materialien ergänzt. Kunsthistorisch wird die Villa Tugendhat als „ein Schlüsselwerk der Moderne in Brünn“ bewertet.5 Das Haus stellte tatsächlich ein großartiges Bauwerk der Moderne in Brünn dar, wurde aber von der lokalen Architekturszene kaum wahrgenommen. In der tschechischen Presse der Zwischenkriegszeit wurde die Villa Tugendhat aufgrund ihrer Bautypologie und der enormen Baukosten als Randnotiz publiziert, blieb jedoch im Großen und Ganzen fast unbeachtet. Lediglich die Brünner Revue Měsíc berichtete über das Projekt.6 Manifestiert hat sich die allgemeine Ablehnung des Werkes von Mies van der Rohe in Brünn seitens der tschechischen Architektenszene durch die demonstrative Vermeidung jeglicher Rezeption in der Fachpresse. Dies ist heute schwer nachvollziehbar, da die Zeitschriften selbstverständlich nicht offiziell zensiert waren. Vielmehr handelte sich hier eher um eine Art innerer Zensur seitens der Redaktionen, die den damaligen Vorstellungen entsprach. Das Thema des neuen Wohnens stand im Zentrum des architektonischen Diskurses, der in der Zeit der Wirtschaftskrise von der politisch links orientierten Avantgarde bestimmt wurde. Für ihren Repräsentanten, den einflussreichen Theoretiker Karel Teige, war die Wohnungsfrage ein zentrales Thema, dem er sich in seinem Buch Die minimale Wohnung (Nejmenší byt) widmete.7 Für diese führende Figur der tschechischen intellektuellen Szene war das Problem nicht allein auf architektonische Aufgaben reduzierbar. So war für Teige die Wohnungsnot nicht mehr im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft lösbar.8 Er verlangte eine radikale Lösung, die den Bedürfnissen des Proletariats entsprechen sollte. Von diesem sozialen Standpunkt aus lehnte er alle üblichen Familien- und Wohnformen des Bürgertums ab und propagierte ein radikales Modell des kollektiven Wohnens nach sowjetischem Vorbild.

5 | Wolf Tegethoff: Im Brennpunkt der Moderne: Mies van der Rohe und das Haus Tugendhat in Brünn. München 1998, S. 19. 6 | W. Bison: Vila arch. Mies van der Rohe, Mˇe síc 1, 1932, Nr. 6, S. 2-7. 7 | Karel Teige: Nejmenší byt. Praha 1932. 8 | Ibid.: Moderní architektura v Cˇeskoslovensku. Praha 1930, S. 230.

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1–5 Ansichten der Villa Tugendhat, Brünn, 1932

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Während sich die deutsche Diskussion nach der Fertigstellung der Villa Tugendhat mit der Frage nach der Bewohnbarkeit beschäftigte,9 haben die tschechischen Architektenkreise das Ereignis beinahe programmatisch ausgeblendet. So eine ‚Reaktion‘ auf das aktuelle Bauwesen stellte keinesfalls eine Ausnahme dar. Als etwa im Jahr 1932 die Werkbundsiedlung „Osada Baba“ (Výstava bydlení) in Prag fertig gestellt wurde, erschienen in der Fachpresse ebenfalls nur spärliche Erwähnungen. Dies lag sicherlich auch daran, dass der tschechische Werkbund nicht imstande gewesen war, die finanziellen Mittel für das ursprüngliche Konzept, das mit kleinsten Einfamilienhäusern sowie mit typisierten Doppel- oder Reihenhäusern gearbeitet hatte, zu beschaffen. Das großzügige Projekt musste deshalb (aus realen ökonomischen Gründen) auf nur einzelne Einfamilienhäuser reduziert werden.10 Dies stellte für die links orientierten Protagonisten der sozialen Utopie jedoch ein ungenügendes Modell dar, schließlich konnten die Villen des Bürgertums kaum etwas zum effektiven Wandel der gesellschaftlichen Ordnung beitragen. Aus einer ähnlich ideologischen Position heraus widmete die Zeitschrift Žijeme, die mediale Plattform des tschechoslowakischen Werkbundes, dem Bau von Mies van der Rohe in Brünn eine gewisse Aufmerksamkeit. Ein Anonymus, bei dem es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um dem renommierten tschechischen Architekten Jaromír Krejcar handelte, bemerkte: „Obwohl es sich um ein Werk handelt, das im Exterieur den Eindruck von einem Zweck- und Konstruktivbau erweckt, überzeugt uns eine detaillierte Besichtigung, dass das Format einer repräsentativen Villa im Grunde nicht aufgegeben wurde. Und deswegen handelt es sich um eine Tat, die nicht der Zukunft sondern der Vergangenheit zuzuweisen wäre. Nur die äußere Hülle war der Zeit angepasst, aber nicht die Logik des gesamten Projektes, die von gestern bleibt.“11 Darauf folgt eine weitere Notiz des Autors: „Diese Kompromissbereitschaft ist für Mies van der Rohe in der heutigen Zeit symptomatisch und erklärt womöglich, wieso sich

9 | Walter Riezler: Das Haus Tugendhat in Brünn. In: Die Form 6, 1931, Heft 9 (September), S. 331-332; Justus Bier: Kann man im Haus Tugendhat wohnen? In: Die Form 6, 1931, Heft 10 (Oktober), S. 392-393; Walter Riezler: Kommentar zum Artikel von Justus Bier. In: Die Form 6, 1931, Heft 10 (Oktober), S. 393-394; Ludwig Hilberseimer: Nachwort zur Diskussion um das Haus Tugendhat. In: Die Form 6, 1931, Heft 11 (November), S. 437-438. ° 10 | Vendula Hnídková: Co nezm uže jednotlivec, zmnˇe že skupina. Zákulisní strategie pˇrípravy ˇ Osada Baba. In: Cyril R íha (Hg.): Nefot‘te mˇe pˇred knihovnou. Praha 2009, s. 95-106. 11 | Stavba architekta Mies van der Rohe v Žijeme Brnˇe 1, 1931, S. 275.: „I když jde o dílo, ˇcinící zevnˇe dojem stavby úˇcelové a konstruktivní, podrobná prohlídka nás pˇresvˇedˇcí, že podstata representaˇcní vily nebyla v podstatˇe opuštˇena a nejde tedy o ˇcin, který by byl bližší budouc° ° nosti než minulosti. Jen šat byl pˇrizp usoben dobˇe, nikoliv logika celého projektu, která z ustává vˇcerejší.“ „Tato kompromisnost jest pro Mies van der Rohe v dnešní dobˇe pˇríznaˇcná a objasˇn uje asi, proˇc se brnˇenský továrník, obklopený nˇekolika lepšími architekty místními, uchýlil s objednávkou do Berlína.“

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der Brünner Industrielle, der von einigen besseren lokalen Architekten umgeben war, mit seinem Auftrag nach Berlin wandte.“12 Mit den „besseren lokalen Architekten“ konnte Krejcar zum Beispiel Jiří Kroha meinen, der nach seiner Reise in die Sowjetunion 1930 ein überzeugter Protagonist des sozialistischen Systems geworden war. Seine Kritik der Architektur, der Stadtplanung und des zeitgenössischen Lebensstils, ist in einer grafisch besonders attraktiven Fotomontage in der Publikation Soziologisches Fragment des Wohnens (Sociologický fragment bydlení) aus dem Jahr 1932 zusammengefasst.13 Im Folgejahr hat sich Jaromír Krejcar in der Zeitschrift Žijeme zu dem Thema noch prägnanter geäußert. In einem Artikel mit dem Titel Die Wohnungshygiene (Hygiena bytu),14 der mit Fotografien seines Baus des Sanatoriums im heute slowakischen Trenčianské Teplice illustriert wurde, definierte Krejcar die Hygiene als eine der Hauptanforderungen der Zeit. Auch hier führte er wieder das Beispiel der Villa Tugendhat an, um zu demonstrieren, wie unpassend eine solche Wohnform sei. Unter dem Begriff der Hygiene verstand Krejcar nicht nur einen modernen Bau mit Skelettkonstruktion und Glasfassade, der für genügend Luft, Licht und Sonne sorgte. Der Begriff entsprach zudem seiner Forderung nach quantitativ ausreichendem, gesundheitlich einwandfreiem Wohnraum für die breite Masse. Aus dieser Perspektive betrachtete er die Villa Tugendhat als einen Rückschritt gesellschaftlicher Entwicklung. Um seine These zu verstärken konstatierte Krejcar, dass „aus der Sicht des technischen Fortschritts und der Hygiene solche Bauten viel weniger bedeutsam sind als eine Tagung eines Gemeinderats zur Errichtung einer primitiven Wasserleitung in einem Dorf.“15 Als einen Gegenpol zur Villa Tugendhat präsentierte Krejcar die zeitgenössische Bautätigkeit in Frankfurt am Main, wo man die Wohnreform auf wissenschaftlicher Ebene gelöst habe. Seit ihrer Entstehung, aber insbesondere seit den 1930er Jahren, stellte die Villa Tugendhat ein Objekt dar, an dem sich die politischen Ereignisse des zentralen Europas paradigmatisch ablesen lassen. Im Jahr 1938 musste die Familie Tugendhat wegen ihrer jüdischen Herkunft die Tschechoslowakei verlassen und emigrierte zunächst ins schweizerische Sankt Gallen und im Jahr 1941 nach Venezuela. Anfang des Krieges wurde das Haus von der Gestapo konfisziert und zwischen 1942 und 1945 von Walter Messerschmidt, Direktor der Klöcknerwerke in Brünn, bewohnt. Während der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im April 1945 wurde der Hauptwohnraum der Villa als Pferdestall genutzt. 12 | Ibid..: „Tato kompromisnost jest pro Mies van der Rohe v dnešní dobˇe pˇríznaˇc ná a objasˇnuje asi, proˇc se brnˇenský továrník, obklopený nˇekolika lepšími architekty místními, uchýlil s objednávkou do Berlína.“ 13 | Jiˇrí Kroha: Socialistický fragment bydlení. Praha 1932. 14 | Jaromír Krejcar: Hygiena bytu, Žijeme 2, 1932, S. 132-134. 15 | Ibid.: „Ze stanoviska technického pokroku a hygieny jsou tyto stavby mnohem ménˇe významné, než jednání obecní rady v Zapadlé Lhotˇe o zaˇrízení primitivní kanalisace ve vsi.“

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Während dieser Zeit wurde beinahe nichts aus dem ursprünglichen Mobiliar und der Ausstattung des Hauses am Ort belassen. Kurz nach dem Krieg wurden die Schäden saniert und in den nächsten Jahren bis zum Juni 1950 leitete hier Karla Hladká eine Tanzschule,16 bevor das Haus im Oktober 1950 in staatlichen Besitz überführt wurde. Seit dem Jahr 1955 diente es als Rehabilitationszentrum für Kinder. Die langsame politische und gesellschaftliche Wende zu Beginn der 1960er Jahre hat auch zur Neubewertung der Villa Tugendhat beigetragen. Der entscheidende Impuls zur Wiederbelebung der Villa kam aber nicht von der staatlichen Denkmalpflege oder den Kunsthistorikern, vielmehr waren es die Brünner Architekten, die ihr Interesse an dem Objekt bekundeten. Aufgrund dieser Initiative betraute der Architektenverband der Tschechoslowakei (Svaz architektů ČSSR) die Architekten František Kalivoda und Jan Dvořák mit der Aufgabe, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, um einen Funktionswandel der Villa und ihre angemessene Renovierung herbeizuführen.17 Der in Brünn geborene Architekt František Kalivoda (1913-1971) bemühte sich in den 1960er Jahren intensiv um die entsprechende Bewertung der Villa Tugendhat. Kalivoda war nicht nur ein lokaler Patriot, sondern zudem vor dem Krieg ein aktives Mitglied der internationalen Avantgarde. Gemeinsam mit Sigfrid Giedion und Jan Tschichold war er Herausgeber der Zeitschrift für visuelle Kultur Telehor.18 Obwohl Kalivoda in den 1930er Jahren in der Linken Front (Levá fronta) tätig war – einer Gruppierung politisch links gerichteter Künstler – übernahm er nach dem Krieg ohne jegliche ideologische Reminiszenzen eine Schlüsselrolle im Kreis derer, die sich für eine würdige Anerkennung der Villa Tugendhat einsetzten. Anfang der 1960er Jahre nahm Kalivoda den Kontakt zu Greta Tugendhat auf. Auf seine persönliche Einladung hin besuchte Greta Tugendhat im November 1967 zum ersten Mal seit dem Jahr 1938 ihre Villa in Brünn. Aus der Initiative von Kalivoda fand in den Wintermonaten 1968-1969 im dortigen Kunsthaus eine Ausstellung zu Ludwig Mies van der Rohe statt. In diesem Rahmen wurde am 17.1.1969 eine Konferenz veranstaltet, auf der auch Grete Tugendhat einen Vortrag hielt. Am 6. Dezember 1963 wurde die Villa Tugendhat in das Denkmalregister (Seznam nemovitých kulturních památek) eingetragen, im Jahre 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal (Národní kulturní památka) erklärt. 2001 erfolgte die Aufnahme in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes.

16 | http://www.tugendhat.eu/en/dance-school.html (Januar 2013) 17 | Dagmar Cˇernoušková; Jindˇrich Chatrný: Architekt František Kalivoda a „kauza“ vila Tugendhat (nˇekolik poznámek). In: Prostor Zlín 14, 2007, Nr. 4, S. 36-43, hier: S. 37. 18 | Jindˇrich Chatrný: František Kalivoda aneb kaleidoskop „obyˇcejného“ života. In: Prostor Zlín 14, 2007, Nr. 2, S. 46-51, hier: S. 49.

D IE A N - UND A BWESENHEIT DER V ILL A T UGENDHAT

Die Villa Tugendhat wurde also ganz unterschiedlich genutzt. Als besonderes Paradoxon erscheint etwa, dass hier im Jahr 1992 das Treffen zwischen Václav Klaus, dem späteren tschechischen Ministerpräsidenten und Vladimír Mečiar, dem späteren slowakischen Ministerpräsidenten zur Unterzeichnung des Vertrags über die Teilung der Tschechoslowakei stattfand. Weiter reichende Konsequenzen für die Architektur hatte jedoch ein anderes Ereignis. In den 1980er Jahren ist der Verein „Gemeindehaus Brünn“ (Obecní dům Brno), bestehend aus den AbsolventInnen und StudentInnen der Brünner Technischen Universität und ihren Freunden, entstanden. Die Mitglieder verfolgten eine Alternative zum staatlichen Bauwesen. Der Verein organisierte Vorträge, thematische Exkursionen aber auch Protestaktionen gegen als sinnlos wahrgenommene Bauvorhaben des kommunistischen Staates. Nach der politischen Wende im Jahr 1989 haben die Mitglieder des Vereins Ausstellungen veranstaltet und Publikationen von Brünner Architekten aus der Zwischenkriegszeit systematisch veröffentlicht. So hatte etwa der bereits erwähnte Architekt Jan Sapák schon im Jahre 1987 der Villa Tugendhat eine umfassende kunsthistorische Studie gewidmet.19 Das Bekenntnis der Architekten aus Obecní dům Brno zur Formensprache der Moderne und ihre umfassenden Kenntnisse der Bauten der Zwischenkriegsperiode führten dazu, dass ihre frühen Werke unter der Bezeichnung „Neofunktionalismus“ gefasst wurden. Obwohl die Architekten die Charakteristika der regionalen Architektur ablehnten, akzeptierten sie zugleich die Faszination in der Brünner (Bau)Kultur der 1920er und 30er Jahre, die sich in ihren Bauten widerspiegelt.20 Die Anknüpfung an die lokale Tradition verläuft hierbei nicht auf einer oberflächlichen Ebene, sondern begründet sich auf dem Respekt vor dem Standort und der hier entwickelten Baukultur der Vergangenheit. In der Gegenwart bildet die Villa Tugendhat einen wichtigen Referenzpunkt der lokalen Architektur und gehört auch institutionell zum nationalen Kulturerbe. Man könnte konstatieren, dass die nationalen Vorurteile gegenüber der Villa erst in den letzten Jahren definitiv überwunden zu sein scheinen. Dies wird insbesondere dadurch belegt, dass sich die moderne Konsumgesellschaft die Villa Tugendhat wie einen luxuriösen Gegenstand angeeignet hat. Es ist gegenwärtig keine Ausnahme, dass Auftraggeber nach einem Haus „wie die Villa Tugendhat“ verlangen. Die Analyse eines solchen soziologischen Phänomens jedoch würde ein neues langes Kapitel über die Stellung der tschechischen zeitgenössischen Architektur eröffnen.

19 | Sapák 1987 (Anm. 1), S. 167-178. ° Brno. In: Obecní d um ° Brno 198820 | Rozhovor Miroslava Masáka se ˇcleny spolku Obecní dum 1997. Brno 1997, S. 7-9; Rostislav Švácha; Tomáš Rusín; Novák Ivan Wahla; Valenta Antonín Petr: Hovory o architektuˇre, Architekt, 2001, Nr. 8, S. 38-45.

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Abbildungen Alle Abbildungen stammen aus der Zeitschrift Mesic (Juni 1932).

Baukunst und Zeitwille Die Nachkriegsarchitektur der BRD im Lichte Mies’scher Architekturethik Arne Schmitt

Am Abend nach dem überraschenden Erfolg der Piraten Partei bei der Berliner Wahl im Jahr 2011 fand sich auf Spiegel online ein Zitat des damaligen Parteivorsitzenden Andreas Baum, das, so schien mir, exemplarischen Wert für das Verhältnis des Deutschen und des Visionären besitzt: „Wir sind visionär, aber vernünftig.“1 Diesem Verhältnis war ich schon in verschiedenen Spielarten in meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit der Nachkriegsarchitektur der BRD begegnet – in dem folgenden Versuch einer Zusammenschau mit den gedanklichen und sprachlichen Hinterlassenschaften Mies van der Rohes erhält es zusätzliche Relevanz. Seit Anfang 2010 recherchiere und fotografiere ich zu spezifischen Städten und architektonischen Konstellationen, die mir exemplarisch für die Zeit des Wiederaufbaus bis in die 70er Jahre hinein erschienen. Das Fotobuch Wenn Gesinnung Form wird,2 aus dem hier zentrale Aspekte präsentiert werden, versteht sich daher als als Sammlung von Essays, die ich anhand dieses Bildarchivs formuliert habe. Das zweite Ausgangsmaterial dieses Beitrags, den ich als Montage verstehe, bildet Mies van der Rohes kompakter Text Baukunst und Zeitwille!, der 1924 in der Zeitschrift Der Querschnitt erschien und sowohl als sein persönliches architektonisches Manifest als auch als nachdrücklicher Appell an seine Zeitgenossen gelesen werden kann. Das emphatische Ausrufezeichen im Titel findet seine Entsprechung dabei weniger in einem exaltierten Sprach1 | www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,786958,00.html (September 2011) 2 | Arne Schmitt: Wenn Gesinnung Form wird. Eine Essaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD. Leipzig, 2012.

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gestus als vielmehr in inhaltlicher Ernsthaftigkeit und argumentativem Rationalismus – in der ganzen Dringlichkeit und Programmatik der avantgardistischen Aufbruchstimmung der 1920er Jahre. Was tun mit zwei so disparaten Gegenständen? Auf der einen Seite ein Fundus von Fotografien 40 bis 60 Jahre alter Bauten, auf der anderen Seite ein 85 Jahre alter Kurztext eines bedeutenden Architekten, der im Jahr dieser Konferenz 125 Jahre alt geworden wäre. Teil meiner künstlerischen Haltung und Arbeitsweise ist es stets, historische Gegenstände aus der Gegenwart heraus zu begreifen. Mir geht es nicht darum, im Sinne einer Zeitreise an den vermeintlichen Quell einer Epoche zurückzukehren, sondern zu versuchen, etwas über einen bestimmten Zeitabschnitt und seine weiterreichenden Implikationen herauszufinden: Zeitwille, Zeitgeist, Gesinnung. So sollen meine Fotografien und Thesen zu einigen Beispielen der westdeutschen Nachkriegsarchitektur in einen neuen, einen entliehenen Mies’schen Kontext gestellt werden. Denn was die Faszination an Mies’ Text ausmacht, ist seine fast prophetische Vorwegnahme von Werten und Maximen, die dreißig Jahre nach seinem Erscheinen die Zeit des bundesdeutschen Wiederaufbaus prägen sollten – und das nach einer historischen Entwicklung, die in dieser Form kaum erahnbar gewesen war. Versuchsweise möchte ich im Sinne dieses Symposiums davon ausgehen, dass die von mir angenommene verspätete Erfüllung von Mies’ Forderungen auch ein durchaus veränderndes Licht auf ihn selbst wirft: Wäre es möglich, dass der junge Mies am Beginn seiner Karriere zu einem der angesehensten Architekten des 20. Jahrhunderts, im vollen Schwung der erwähnten avantgardistischen Aufbruchsstimmung, bereits eine geistige Vaterfigur3 für die so stiefmütterlich behandelte Architektur der deutschen Nachkriegsmoderne abgeben könnte? Dieser Frage möchte ich nachgehen und versuchen, sie nutzbar zu machen für die Neubelebung eines historischen Diskurses über die Architektur, die zwischen deutscher Kapitulation und Deutschem Herbst entstand. So wird im Folgenden Mies’ Text abschnittweise in Erinnerung gerufen, um ihn mit Fotografien teils prominenter, teils weniger bekannter Gebäude der westdeutschen Nachkriegsmoderne zu konfrontieren und dabei einige Gedanken zu einem möglichen Verhältnis beider zu entwickeln. Baukunst und Zeitwille – Fragezeichen.

3 | Dass er dies im baulichen, stilistischen Sinne war, dürfte kaum bestreitbar sein.

B AUKUNST UND Z EIT WILLE Nicht die baukünstlerischen Leistungen lassen uns die Bauten früherer Zeiten so bedeutungsvoll erscheinen, sondern der Umstand, daß antike Tempel, römische Basiliken und auch die Kathedralen des Mittelalters nicht Werke einzelner Persönlichkeiten, sondern Schöpfungen ganzer Epochen sind. Wer fragt angesichts solcher Bauten nach Namen und was bedeutet die zufällige Persönlichkeit ihrer Erbauer? Diese Bauten sind ihrem Wesen nach ganz unpersönlich. Sie sind reine Träger eines Zeitwillens. Hierin liegt ihre tiefste Bedeutung. Nur so konnten sie Symbole ihrer Zeit werden. 4

Wenn Mies hier von den Bauten „früherer Zeiten“ und „ganzer Epochen“ spricht, so müssen wir uns in Bezug auf den Zeitraum der 1950er bis 70er Jahre – der Bundesrepublik vom Wiederauf bau über das Wirtschaftswunder bis hin zu ihrer Konsolidierung – fragen, ob der Begriff der Epoche hier bereits anwendbar ist. Besteht bereits so viel Distanz zu dieser Zeit, um sie als abgeschlossen betrachten und verhandeln zu können? Oder könnte man gar von mehreren Epochen sprechen, müssten die 1950er von den 60er und diese von den 70er Jahren abgegrenzt werden? Oder sollte man sich am Ende ganz vom vereinfachenden Schema der Einteilung in Dekaden verabschieden?

4 | Ludwig Mies van der Rohe: Baukunst und Zeitwille! (1924). In: Ákos Moravánszky (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Wien 2003, S. 414-415.

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1 Kaiserstraße, Frankfurt a. M., 2010

2 Bredero Hochhaus, Hannover, 2010

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In Adrian von Buttlars 2007 erschienenem Text Gefährdete Nachkriegsmoderne – eine Forschungs- und Vermittlungsaufgabe heißt es, dass „Poesie und Eleganz der frühen 50er Jahre bereits ansatzweise von der Enkelgeneration wiederentdeckt wurden“5, wogegen die vehemente Abwehr gegen die Bauten der 60er und 70er Jahre „zum Psychoschema des ‚Vatermordes‘“6 passe. Ein Hang zum Chic ist der heutigen Einschätzung der 1950er jedenfalls kaum abzusprechen: Filme wie Rolf Thieles Das Mädchen Rosemarie rufen nostalgische Erinnerungen an geschwungene Autokarosserien und Treppenhäuser hervor, die – wenn auch in überwachsener Form – noch in heutigen Stadtbildern auszumachen sind (Abb. 1). Formsprachen der 1970er Jahre wecken hingegen ganz andere Assoziationen, lassen eher an dystopische Zukunftsszenarien à la Stanley Kubricks Clockwork Orange denken, deren behaupteter Zusammenhang von rohem Beton und Verrohung des Menschen sich bis heute gehalten hat. Gebäude wie das Bredero Hochhaus am Lister Tor in Hannover lassen heute wohl kaum nostalgische Gefühle aufkommen (Abb.2). Eher stehen sie als „Symbole ihrer Zeit“ für die gegenwärtige wie vergangene Abwehr gegen die Zeugnisse einer Epoche, die die Zukunft in der Maxime „Urbanität durch Verdichtung“ sah – und damit selten mehr als Skepsis von den Benutzern und Bewohnern ihrer Bauten erntete. Mit diesen zwei Extrembeispielen sei das stilistische wie zeitliche Spektrum des Untersuchungsgegenstandes abgesteckt. Gemein ist beiden Beispielen, dass sie je für etwas ganz Bezeichnendes stehen und dabei, ganz im Sinne von Mies’ Forderung, anonyme Zeugnisse ihrer Zeit sind. Mögen ihre Erbauer auch dem einen oder anderen bekannt sein, auf ihre Wirkung und Beurteilung, sei es durch Laien oder Fachleute, hat dieses Wissen bislang wenig bis keinen Einfluss. Baukunst ist immer raumgefaßter Zeitwille, nichts anderes. Ehe diese einfache Wahrheit nicht klar erkannt wird, kann der Kampf um die Grundlagen einer neuen Baukunst nicht zielsicher und mit wirksamer Stoßkraft geführt werden; bis dahin muß er ein Chaos durcheinander wirkender Kräfte bleiben. Deshalb ist die Frage nach dem Wesen der Baukunst von entscheidender Bedeutung. Man wird begreifen müssen, daß jede Baukunst an ihre Zeit gebunden ist und sich nur an lebendigen Aufgaben und durch die Mittel ihrer Zeit manifestieren läßt. In keiner Zeit ist es anders gewesen.7

5 | Adrian von Buttlar; Christoph Heuter: denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche. Berlin 2007, S. 14. 6 | Ibid. 7 | Mies 1924 (Anm. 4).

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Auch wenn sich die Situation des nach Nationalsozialismus und Bombenkrieg moralisch wie materiell völlig ruinierten Deutschlands kaum als „Kampf“ bezeichnen ließe, so liefert die Formulierung „ein Chaos durcheinander wirkender Kräfte“ doch eine durchaus treffende Charakterisierung. Denn auch zu dem Zeitpunkt als man wieder begann, auf eigenen Beinen zu stehen – gestützt von der ideologischen Krücke der Stunde Null –, führende Positionen neu- und nicht selten mit alten Amtsinhabern wiederbesetzt hatte (besonders in Architektur und Städtebau8), so herrschte noch lange kein Konsens darüber, welcher Kurs nun einzuschlagen sei. Programmatische Traditionalisten und Modernisten bildeten nur die äußeren Pole eines Streits, der meistens auf einem viel enger abgesteckten Feld sich einander annähernder Kompromisse geführt wurde. Zurückblickend aus den 1980er Jahren schildert Heinrich Klotz die Situation wie folgt: „Anpassendes Bauen, das in vagen Einzelzügen auf den ehemaligen Baubestand anspielt, im Respekt vor der Ornamentverdammung die genauere Rekonstruktion historischer Formen jedoch scheut und stattdessen einige Formrelikte mit schlechtem Gewissen doch noch unterbringt, reflektiert die Unentschiedenheit dieser Architektengeneration, die, zwischen den Zeiten stehend, auf die vergangene Praxis der Reichsarchitektur verschämt zurückschielte, sich jedoch gleichzeitig nicht entschließen wollte, der Stadt die radikale Alternative des Neuen Bauens aufzuzwingen. Denn die Moderne hatte – wie sich bald bestätigte – die architektonischen Mittel nicht bereitgestellt, auf eine zu Teilen noch bestehende Stadt überhaupt einzugehen.“9 Und so wirken deutsche Nachkriegsstädte nicht selten wie Flickenteppiche verschiedenster Baustile und Gesinnungen (Abb. 3). Neben-, vor- und hintereinander, ineinander verkeilt oder sich voneinander abwendend, in fortlaufenden Verbünden oder als inselartige Fremdkörper – eine erkennbare Ordnung ist in jenen disparaten Ansammlungen oft nicht auszumachen. Demnach wäre Mies’ Setzung – „Baukunst ist immer raumgefaßter Zeitwille“ – voll und ganz erfüllt, wenn auch nicht seinem idealistisch formulierten Diktum entsprechend. Denn eines ist sicher: die „Grundlagen einer neuen Baukunst“ wurden in der BRD weder gesucht noch gefunden; und doch brachte sie etwas Eigenes, etwas Spezifisches hervor, eine Baukunst, die eben doch „an ihre Zeit gebunden“ war und sich an „lebendigen Aufgaben und durch die Mittel ihrer Zeit“ manifestierte. Nur dass damals wie wohl auch heute noch unterschiedliche Ansichten davon kursierten, was diese Zeit und ihr Wille waren. Die emphatische Aufbruchsstimmung, die in Mies’ Worten mitschwingt, hatte sich jedenfalls demütig verkrochen. 8 | Siehe dazu: Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970. Braunschweig 1988. 9 | Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980. Braunschweig, Wiesbaden 1987, S. 95-96.

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3 Am Hauptbahnhof, Mainz, 2011

4 Goethehaus, Frankfurt a. M., 2010

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A RNE S CHMITT Deshalb ist es ein aussichtsloses Bemühen, Inhalt und Formen früherer Bauepochen unserer Zeit nutzbar zu machen. Selbst die stärkste künstlerische Begabung muß hier scheitern. Wir erleben immer wieder, daß hervorragende Baumeister nicht zu wirken vermögen, weil ihre Arbeit nicht dem Zeitwillen dient. Sie sind letzten Endes trotz ihrer großen Begabung Dilettanten, denn es ist bedeutungslos, mit welchem Elan das Falsche getan wird. Auf das Wesentliche kommt es an. Man kann nicht mit zurückgewandtem Blick vorwärts schreiten und nicht Träger eines Zeitwillens sein, wenn man in der Vergangenheit lebt. Es ist ein alter Trugschluß fernstehender Betrachter, für die Tragik solcher Fälle die Zeit verantwortlich zu machen. 10

Die Flucht in die Vergangenheit war in der Tat immer ein beliebtes Mittel der Deutschen zur Lösung – oder besser: zur Vermeidung – des Problems, wie nun nach dem monumentalen Aufleben und dem trümmerreichen Niedergang des Dritten Reiches zu bauen sei. Eine unliebsame junge Vergangenheit lässt sich wunderbar verdrängen durch den Rückbezug auf eine viel ältere und vermeintlich glorreiche und harmonische. Die Frankfurter Innenstadt ist seit den späten 1940er Jahren und bis in die Gegenwart hinein einer jener Orte, an denen diese Tendenz anschaulich wird. Als frühestes Streitobjekt des Wiederaufbaus kann wohl das Goethehaus im Alten Hirschgraben gelten, das 1945 in Schutt und Asche lag, jedoch durch vorliegende Pläne und Dokumentationsmaterial einer detailgetreuen Rekonstruktion offenstand. So war die Entscheidung eine reine Gesinnungsfrage: War die Zerstörung dieses Symbols deutschen Kulturguts ein Unfall – oder war sie eben genau folgerichtig? Ging mit ihm im Bombenhagel ein Teil dessen unter, was zur unmenschlichen Glorifizierung des Deutschen beigetragen hatte – oder musste mit ihm das wiederhergestellt werden, was einmal den überzeitlichen Wert des Deutschen ausgemacht hatte? Schließlich konnten die konservativen Kräfte sich durchsetzen (Abb. 4). Radikale Vorschläge wie die Trümmer als Mahnmal für nachfolgende Generationen zu konservieren, wurden nicht realisiert.11 Und so ist der Prozess der Rückgewinnung deutscher Geschichte bis heute nicht abgeschlossen. Nicht nur der Hirschgraben zeigte sich im letzten Jahr als Baustelle – auch anderswo wird an Geschichte und Baugeschichte gewerkelt. Ein paar Straßen weiter, zwischen Dom und Römerberg, wird in einem Großprojekt darauf hingearbeitet, das Alte Frankfurt wieder weitläufig erlebbar

10 | Mies 1924 (Anm. 4). 11 | Eine Übersicht zu der Debatte, wie sie in der Zeitschrift Baukunst und Werkform am Ende der 40er Jahre geführt wurde, findet sich bei: Ulrich Conrads (Hg.): Die Städte himmeloffen. Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Wiederkehr des Neuen Bauens 1948/49. Basel, Boston, Berlin 2003.

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zu machen, was zuletzt zum Abriss des technischen Rathauses und damit eines anschaulichen Zeugnisses der Nachkriegszeit führte. Nicht nur funktional, auch stilistisch konnte der dreitürmige Koloss, der sich am Rande des gehegten Altstadtareals breit gemacht hatte, als exemplarisch für die Konflikte zwischen gegenwärtigen Notwendigkeiten, zukunftsorientierter Formfindung und Bewahrung des Althergebrachten gelten. Heute wird mit seinem Abriss im Grunde genau das umgesetzt, was schon zu Zeiten des durch lange Wettbewerbsund Vorbereitungsphase viel zu späten Baubeginns Anfang der 1970er Jahre gefordert wurde: Die Rückbesinnung auf die historische europäische Stadt, die als einzige in der Lage sein könnte, endlich und endgültig die Verwerfungen von Kriegs- und Nachkriegszeit vergessen zu machen – zum Wohle von Touristen und Einheimischen. Ganz wie Mies sagt: „Es wäre ein Trugschluß (…) für die Tragik solcher Fälle die Zeit verantwortlich zu machen“ – solche Fälle können auch rückwirkend auftreten, aus viel späterer Zeit zurückgrüßend (Abb. 5). Das ganze Streben unserer Zeit ist auf das Profane gerichtet. Die Bemühungen der Mystiker werden Episode bleiben. Trotz einer Vertiefung unserer Lebensbegriffe werden wir keine Kathedralen bauen. Auch die große Geste der Romantiker bedeutet uns nichts, denn wir spüren dahinter die Leere der Form. Unsere Zeit ist unpathetisch, wir schätzen nicht den großen Schwung, sondern die Vernunft und das Reale.

Der repräsentative Kleinmut der BRD, der in diesen Zeilen anzuklingen scheint, spiegelt sich nirgends deutlicher wieder als in ihrer Hauptstadt. Das Provisorium Bonn, das immer nur Provisorium war und es auch bleiben sollte, konnte diesen Status bis heute nicht abschütteln, wo es längst bemüht ist, die Restbestände seiner Interimsblüte zu musealisieren. Keine Paläste, keine Schlösser, keine Kathedralen – ein Spaziergang durch das ehemalige Regierungsviertel gleicht einer Expedition in vertrautes Gebiet zwischen Vorstadtvillen, Nutzbauten älteren und jüngeren Alters und einigen neuerrichteten Verwaltungsriegeln. Die Perle dieses Geschichtsrundgangs unter freiem Himmel, der Kanzlerbungalow von Sep Ruf, liegt dabei wohlbehütet und eingezäunt in weitläufigen Parkanlagen und beherbergt ein Stück konservierten Staatsgehabes. Frei zugänglich und mit neuen Zwecken versehen hingegen ist einer jener Komplexe, der Mitte der 1960er Jahre entstand, als man sich nach den wenigen Neubauten und zahllosen Umwidmungen bestehender Gebäude frühzeitig entschloss, keine weiteren bundeseigenen Bauten mehr zu errichten. Die Rede ist vom Tulpenfeld, einer kompakten Einheit von Bürogebäuden, die von der Allianz AG errichtet und dann von der Bundesregierung angemietet wurden: ein Hintertürchen, das den aufkommenden und von Ludwig Ehrhardt leidenschaftlich beschworenen Geist des Neoliberalismus anschaulich werden lässt.

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Die Gebäude und das Areal sind funktional und schmucklos, ein einfacher Arbeitsplatz, weit entfernt von repräsentativem Chic oder getragenem Machtgestus (Abb. 6). Ein Land, das aus Büros regiert wird und selbst das nur für eine unbestimmte Zwischenzeit – architektonisch gesprochen könnte der Schwung nicht kleiner, die Geste nicht unpathetischer sein. Als einziges bescheidenes Schmuckstück könnte der hochgebockte Saal der Bundespressekonferenz gelten, ein Raum der Transparenz und Offenheit, wo die Regierung sich der Bevölkerung mitteilt, während hinter gleichförmigen Rasterfassaden weiter die Herrschaft der Vernunft und des Realen verwaltet wird. Die Forderungen der Zeit nach Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit sind zu erfüllen. Geschieht das großen Sinnes, dann werden die Bauten unserer Tage die Größe tragen, deren die Zeit fähig ist, und nur ein Narr kann behaupten, daß sie ohne Größe sei. 12

Was Mies in jenen frühen Jahren in kühnen Entwürfen und Collagen imaginierte, sollte bald alltägliche Wirklichkeit werden. Etwa zur selben Zeit, als sein legendäres Seagram Building in New York errichtet wurde, entstand in Düsseldorf eine Art deutsche Entsprechung, das vielleicht markanteste Zeugnis des deutschen Hochhausbaus. Das Dreischeibenhaus alias Thyssenhaus markiert den nördlichen Eingang zur Düsseldorfer Innenstadt. Vorbei am Grün des Hofgartens passiert man diese Ikone auf dem erhöhten Straßennetz des „Tausendfüßlers“, auf den es wie eine gealterte Diva herabblickt (Abb. 7). Was sich ihr da am Boden zeigt, ist ein weitläufiges Chaos aus Zäunen, Baumaschinen und aufgerissenem Erdreich. Die Umgestaltung des Jan-Wellem-Platzes unter dem Namen Kö-Bogen soll unter anderem die Verlegung des hochgebockten Verkehrs unter die Erde beinhalten – ein derzeit weit verbreitetes Phänomen und in gewisser Weise die zeitgenössische Weiterführung der Autogerechten Stadt13. Der Verkehr wird unsichtbar, die Stadt verwandelt sich in eine ausgedehnte durchgrünte Flaniermeile des Konsums.

12 | Mies 1924 (Anm. 4). 13 | Zit. nach: Hans Bernhard Reichow: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos. Ravensburg 1959.

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CDU Plakat,

Dreischeibenhaus,

Frankfurt a. M., 2011

Düsseldorf, 2010

6 Bürohochhaus auf dem Tulpenfeld, Bonn, 2011

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8 Ost-West-Straße, Hamburg, 2011

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Ehemalige Hauptkirche St. Nikolai,

Chemiecampus,

Hamburg, 2011

Universität Marburg, 2010

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11 / 12 Geisteswissenschaftliche Institute, Universität Marburg, 2010

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Von all dem bleibt das Thyssenhaus zunächst unbeeindruckt. Sein Wert als Designobjekt und städtebaulicher Fixpunkt garantieren ihm eine komfortable Sicherheit vor abrisswütigen Zeiten. Und doch stellt sich die Frage, wie es mit ihm weitergeht: Die Reste des abmontierten Logos des Thyssenkrupp-Konzerns, der nun wieder im heimischen Essen residiert, prangen als Emblem einer goldenen Vergangenheit an der stadtzugewandten Seitenfassade. So unumstritten ihm seine Größe als Baudenkmal geblieben sein mag, so fraglich ist es, ob seine „Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit“ den zeitgenössischen Ansprüchen nach Repräsentation wirtschaftlicher Potenz genügen werden, ob es also je nochmal einen namhaften Nachmieter geben wird, der den drei Scheiben einen neuen klangvollen Namen beschert. Ihre großen Auftritte hat eine alte Diva eben immer schon hinter sich. Fragen allgemeiner Natur stehen im Mittelpunkt des Interesses. Der Einzelne verliert immer mehr an Bedeutung; sein Schicksal interessiert uns nicht mehr. Die entscheidenden Leistungen auf allen Gebieten tragen einen objektiven Charakter und ihre Urheber sind meist unbekannt. Hier wird der große anonyme Zug unserer Zeit sichtbar.14

Eines der Embleme der deutschen Nachkriegsstadt, bekannt als establishing shot aus unzähligen Kino- und Fernsehfilmen, ist die mehrspurige Ein- oder Ausfallstraße – wo sich die Bewegungen der unzähligen Individuen der urbanen Großgemeinschaft überschneiden, parallel laufen und wieder auftrennen. Anonyme Nicht-Orte – und doch von spezifischer historischer Bedeutung. Denn diese dominanten Achsen, die ungebremst in das Herz der Stadt oder in den Ring, der es umschließt, vorstoßen, sind Ergebnisse bewusster Entscheidungen der Stadtplanung nach 1945. Die Hamburger Ost-West-Straße bildet dahingehend ein besonders prägnantes Beispiel (Abb. 8): Sie war weder eine alte Bekannte aus der Vorkriegszeit, noch eine erdachte Neuerfindung der Nachkriegszeit. Sie war vielmehr ein direktes Ergebnis des alliierten Bombardements: Als Bombenschneise vorgezeichnet, wurde sie zur Verbindungsachse nach Altona ausgebaut und lediglich mit dem pragmatischen Namen ihrer Verlaufsrichtung versehen.15 Zusätzlich an Anonymität gewinnt sie durch das architektonische Potpourri, das ihre Ränder säumt: Eine Collage der verschiedensten Bauformen und -funktionen, die wie ein Querschnitt durch zeitgenössische Stadtlandschaften erscheint.

14 | Mies 1924 (Anm. 4). 15 | Die Tatsache, dass sie seit den 1990er Jahren in zwei Abschnitten umbenannt wurde in LudwigErhard-Straße und Willy-Brandt-Straße, konnte den Gebrauch ihres ursprünglichen Namens im Volksmund nicht verdrängen: ein sprechendes Missverständnis zu glauben, dass die Nennung zweier Bundeskanzler historischer und einprägsamer sei als ein direktes Zeugnis deren Wirkens.

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Diese erreicht mit zunehmender Innenstadtnähe seinen Höhepunkt in einem markanten Gegenüber: Die Ruine der ehemaligen Hauptkirche St. Nikolai, konserviertes Denkmal des Bombenkrieges, steht hier dem Hochhaus der Reederei Hamburg Süd gegenüber, das schon als die „erste perfekte Mies-van-Rohe-Kopie in Deutschland“16 bezeichnet wurde. In der Tat versprüht die curtain wall im Zusammenspiel mit der zeittypischen Kunst am Bau einen Hauch von New Yorker Plaza-Atmosphäre. Diese wird jedoch rasch von der anderen Straßenseite aus relativiert und von ihrer deutschen Vergangenheit eingeholt (Abb. 9). Die Stadt wie die Geschichte Deutschlands nach 45 ist ein an Überwerfungen reicher Flickenteppich – die Väter ihrer Neubegründung verbergen sich nicht selten bewusst hinter der Anonymität einer Rasterfassade, hinter der sie verschämt auf die Trümmer ihrer unrühmlichen Vergangenheit niederblicken. Denn die großen Namen unter den Architekten nach 45 waren häufig dieselben wie die vor 45 – so auch im Fall des vorliegenden Baus von Cäsar Pinnau, jahrelanger Unterstellter und Auftragsarchitekt von Albert Speer.17 Unsere Ingenieurbauten sind hierfür typische Beispiele. Riesige Wehre, große industrielle Anlagen und wichtige Brücken entstehen mit der größten Selbstverständlichkeit, ohne daß ihre Schöpfer bekannt werden. Diese Bauten zeigen auch die technischen Mittel, deren wir uns in Zukunft zu bedienen haben. Vergleicht man die mammuthafte Schwere römischer Aquädukte mit den spinnedünnen Kraftsystemen neuzeitlicher Eisenkräne, die massigen Gewölbekonstruktionen mit der schnittigen Leichtigkeit neuer Eisenbetonbauten, so ahnt man, wie sehr sich Form und Ausdruck unserer Bauten von denen früherer Zeit unterscheiden werden. Auch die industriellen Herstellungsmethoden werden hierauf nicht ohne Einfluß bleiben. Der Einwand, daß es sich hier nur um Zweckbauten handle, bleibt ohne Bedeutung.

Oder anders gesprochen: Der Einwand wird zum Argument gewendet, der Zweck zum eigentlichen Bedeutungsträger erhoben. Funktionalismus kann weit mehr bedeuten als die einfachste, ökonomischste und zweckdienlichste Lösung. Ein emphatischer Begriff des Funktionalismus meint viel eher den Ausdruck der Funktion in der Form, eine strukturelle Verwandtschaft zwischen dem Gegenstand und seinem Gebrauch.

16 | Winfried Nerdinger: Aufbrüche – Positionen der Nachkriegsarchitektur in der Bundesrepublik. In: Werner Möller: Die geteilte Moderne. Architektur im Nachkriegsdeutschland. Dessau 2001, S. 49. 17 | Vgl. Durth 1988 (Anm. 8).

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13 / 14 Studentenwohnheim, Braunschweig, 2010

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Der Chemie-Campus der Marburger Philipps-Universität könnte dafür als Paradebeispiel herhalten: seine Organisation gleicht dem Versuchsaufbau auf einem Labortisch. Eine modulare Grundstruktur durchzieht die Anlage auf der Mikrowie der Makroebene. Die Gebäude selbst sind nach einem Baukastenprinzip entworfen, das in gleicher oder ähnlicher Form in einer Vielzahl von Forschungsarchitekturen der Zeit angewendet wurde (Abb. 10): Eine begrenzte Anzahl von Deckenplatten und Wandelementen, die solange aneinandergereiht wurden, bis die veranschlagte Raummenge erreicht war – dann eine Blende, die die Fassade abschließt. Das stellt nicht nur ein einfaches wie flexibles Modell dar, sondern beinhaltet zudem die Möglichkeit, den Komplex im Lauf der Zeit weiterzubauen; das Vorläufige hatte durchaus eine zukunftsgerichtete Perspektive. Als einer der ambitioniertesten Zweige des Bauens in der Nachkriegszeit hatte der Universitätsbau zwei wichtige Funktionen: Einmal sollte er an die klassische deutsche Bildungstradition anknüpfen – außerdem Ausdruck einer geistigen Neuorientierung in demokratischem Geiste sein. Die Marburger Universität gibt mit ihrer fast 500-jährigen Tradition und ihrer bekanntermaßen politisch engagierten Studentenschaft ein interessantes Beispiel dafür ab. Auch im geisteswissenschaftlichen Bereich bietet sie eine aufschlussreiche architektonische Variante (Abb. 11): In unmittelbarer Nähe einer Zubringerstraße, nur durch einen schmalen Grünstreifen von dieser getrennt, liegen die geisteswissenschaftlichen Institute samt Hauptbibliothek. Nicht nur topografisch, auch architektonisch wirkt der Campus wie ein Bürokomplex, eine Firma mit den Abteilungen Germanistik, Philosophie, Soziologie usw. Dass eine solche Architektur keineswegs eine pflichterfüllende studentische Belegschaft hervorbringt, zeigt sich anschaulich in der zeichenhaften Besetzung der ebenerdigen Gebäudeteile (Abb. 12). Ingenieursbauten entstehen, ohne dass ihre Schöpfer bekannt werden – Aneignungen durch ihre Benutzer entstehen, ohne dass ihre Schöpfer bekannt werden. Verzichtet man auf jede romantische Betrachtungsweise, so wird man auch in den Steinbauten der Antike, den Ziegel- und Betonkonstruktionen der Römer sowie in den mittelalterlichen Kathedralen unerhört kühne Ingenieurleistungen erkennen, und es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die ersten gotischen Bauten in ihrer romanischen Umgebung als Fremdkörper empfunden wurden.

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Neue Konstruktionsweisen und daraus resultierende Ästhetiken sind Voraussetzung für jede Entwicklung, jede Fortführung sowie in der Folge auch für jede Verwerfung architektonischer Neuansätze. Wissend um die Hartnäckigkeit des architektonischen Status quo liefert Mies in diesen Zeilen eine implizite Rechtfertigung für die zu erwartenden Schwierigkeiten der Menschen, sich mit unvertrauten architektonischen Formen anzufreunden. Ein Haus soll eben meist doch wie ein Haus aussehen, nicht wie – irgendetwas anderes. Das aus den frühen 1970er Jahren stammende Braunschweiger Studentenwohnheim bietet in dieser Hinsicht einiges an Reibungsfläche (Abb. 13). Seine massive und skulptural aufgefasste Fassade ist eine deutliche Geste der Abgrenzung, die herausstellt, dass hier a) etwas völlig Neues steht, das b) nichts mit dem zu tun hat, was sich in seinem Umfeld befindet. Diese Lossagung von Tradition und Nachbarschaft, diese vehemente Autonomiebehauptung ist ein typisches Merkmal des Brutalismus – eines, das neben seiner Vorliebe für rohe Materialien wie Beton wohl entscheidend mitverantwortlich ist für den schlechten Ruf dieser Bauweise. Kosenamen der Bevölkerung wie „Affenhaus“ sind in diesem Fall kaum mit Augenzwinkern zu verstehen, eher sind sie Ausdruck tief sitzender Ressentiments gegen die Nonkonformität, gegen eine „Ästhetik des Anderen“ – im weitesten Sinne: gegen das Fremde in der Architektur. Wie ein solches Ressentiment gewendet werden kann zeigt sich etwa, wenn die verbrämte Architektur zum Träger von Haltungen wird, die sich explizit gegen die Feindseligkeit dem Fremden gegenüber richtet (Abb. 14): wie hier gegen die rechtsradikale Burschenschaft Thormania. Ist es denkbar, dass eine junge Generation beschließt, das Pauschalurteil ihrer Eltern nicht mehr zu teilen und stattdessen diese unbesetzte, ins Abseits gedrängte Architektur für sich zu vereinnahmen? Erst dann werden unsere Nutzbauten ins Baukünstlerische hineinwachsen, wenn sie bei ihrer Zweckerfüllung Träger des Zeitwillens sind.18

Sowohl Mies’ Formulierung als auch seine Denkweise sind an dieser Stelle markant und durchaus überraschend: anstatt von vornherein als Baukunst vordefiniert zu sein, kann ein Nutzbau ebenso in sie „hineinwachsen“. Genauso muss kein Nutzbau aus sich heraus „Träger des Zeitwillens“ sein – er wird es erst durch Art und Weise seiner Zweckerfüllung.

18 | Mies 1924 (Anm. 4).

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15 Stadtzentrum, Marl, 2011

16 Stadtzentrum, Marl, 2011

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Frei von jeglichem Essentialismus erweist sich Mies’ Appell an dieser Stelle als sehr praktisch und anwendbar und lässt so einen Transfer in die Gegenwart zu, die ja doch in sehr viel geringerem Maße von dem Willen getrieben ist, eine neue gebaute Welt für ein neues zu erwartendes Zeitalter zu entwerfen – wie es für die Avantgarde der 20er oder die Stadtplaner der Nachkriegsjahre noch der Fall gewesen sein mag. Sehr viel häufiger stellt sich heute hingegen die Frage nach dem Umgang mit dem Vorhandenen – eine Frage, die ebenso visionäre Ansätze zulässt, wie es jeder Neuentwurf tut. Baukomplexe wie das Marler Zentrum (Abb. 15), das in den 1960er Jahren völlig unabhängig von historischen Strukturen auf grüner Wiese geplant und errichtet werden konnte, erweisen sich heute einerseits als sehr historisch – im Sinne von: eng an ihre Entstehungszeit gebunden –, andererseits wirken sie jedoch merkwürdig vakant – im Sinne von: nicht mehr von gerichteter Aufmerksamkeit und spezifischen Werturteilen besetzt. Man stelle sich vor, welches latente Potential frei würde, wenn dieser Bestand durch eine veränderte Wertschätzung aktiviert würde – so wie es die maroden gründerzeitlichen Hinterhofhäuser durch das studentische Wohnen der 1960er und 70er Jahre erfahren haben. Wenn die Rasterfassade zum Ausdruck eines neuen Kollektivs werden würde, eines neuen Zeitwillens, der ungeliebten Nutzbauten zu neuen Formen der Zweckerfüllung verhelfen würde. Wenn Umwidmungen und Reinterpretationen – theoretischer wie praktischer Art – ihren Anfang ebenso auf einem weißen Blatt nehmen würden wie einst Skizzen von gläsernen Türmen (Abb. 16).

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Bibliografie Becker, Sven; Sontheimer, Michael: Überraschungserfolg in Berlin. Angriff der Piraten. In: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,786958,00.html (September 2011). Buttlar, Adrian von; Heuter, Christoph: denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche. Berlin 2007. Conrads, Ulrich (Hg.): Die Städte himmeloffen. Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Wiederkehr des Neuen Bauens 1948/49. Basel, Boston, Berlin 2003. Durth, Werner: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900– 1970. Braunschweig 1988. Klotz, Heinrich: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 19601980. Braunschweig, Wiesbaden 1987. Mies van der Rohe, Ludwig: Baukunst und Zeitwille! (1924). In: Moravánszky, Ákos (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Wien 2003, S. 414-415. Nerdinger, Winfried: Aufbrüche – Positionen der Nachkriegsarchitektur in der Bundesrepublik. In: Werner Möller: Die geteilte Moderne. Architektur im Nachkriegsdeutschland. Dessau 2001. Reichow, Hans Bernhard: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos. Ravensburg 1959. Schmitt, Arne: Wenn Gesinnung Form wird. Eine Essaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD. Leipzig 2012.

Abbildungen Alle Abbildungen stammen von Arne Schmitt und entstanden im Rahmen seines Projekts „Wenn Gesinnung Form wird“. Abb. 8, 9, 12, 16. zit. n.: Arne Schmitt: Wenn Gesinnung Form wird. Eine Essaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD. Leipzig 2012. © Arne Schmitt

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1 . Barcelona, die Ikone(n) Ludwig Mies van der Rohes „Repräsentationspavillon des Deutschen Reiches“1 in Barcelona, der anlässlich der Weltausstellung von 1929 errichtet, nach acht Monaten Ausstellungsdauer Anfang 1930 abgerissen und 1983 bis 1986 durch die Mies van der Rohe Foundation wiedererrichtet worden ist, existierte über ein halbes Jahrhundert lang nur in Form von Schwarzweiß-Fotografien. Die wohl von Sasha Stone2 1929 in enger Zusammenarbeit mit dem Architekten für die Agentur Berliner Bild-Bericht angefertigten Aufnahmen (Abb. 1) waren die einzigen, die Mies autorisierte und die sowohl in seinen eigenen als auch in fast

1 | Dieser Titel findet sich auf Mies’ Plänen, vgl. Ursel Berger; Thomas Pavel (Hg.): Barcelona Pavillon. Mies van der Rohe & Kolbe. Architektur & Plastik, Berlin 2006, S. 23, Abb. 4. Bei einer Sitzung des Werkbundes am 5.7.1928 bezeichnet Mies seinen kürzlich erhaltenen Auftrag als „Repräsentationsraum“, vgl. Josep M. Rovira: Barcelona/Berlin/1929. In: Ibid.; Lluís Casals: Mies van der Rohe Pavilion. Reflections, Barcelona 2002, S. 49–71, hier S. 49. In den zeitgenössischen deutschen Kritiken heißt er meist „Reichspavillon“, aber auch „Repräsentationsbau des Deutschen Reiches“, vgl. Hans Bernoulli: Der Pavillon des Deutschen Reiches und Internationalen Ausstellung, Barcelona 1929. In: Werk, Bd. 11, November 1929, S. 350f; Justus Bier: Mies van der Rohes Reichspavillon in Barcelona. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, Bd. 4, H. 16, 1929, S. 423–430; Walter Genzmer: Der Deutsche Reichspavillon auf der Internationalen Ausstellung Barcelona. In: Die Baugilde, Bd. 11, H. 20, 1929, S. 1654–1657; Guido Harbers: Deutscher Reichspavillon in Barcelona auf der Internationalen Ausstellung 1929. In: Der Baumeister, Bd. 27, H. 11, 1929, S. 421–427. 2 | Zur Autorschaft Stones vgl. Thomas Pavel: Der Barcelona-Pavillon als mediales Ereignis. In: Berger; Pavel 2006 (Anm. 1), S. 52–71, hier S. 52ff.

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allen anderen relevanten Publikationen bis 1986 abgedruckt wurden.3 Dieser Umstand war der Bekanntheit des Pavillons nicht abträglich, ganz im Gegenteil: Die alleinige Existenz des Bauwerks im Medium der Fotografie beflügelte die Imagination und bestärkte seine regelrecht magische Wirkung als die Inkunabel der modernen Architektur.4 George Dodds hat den Barcelona-Pavillon – der den durch die Nazi-Diktatur peinlich gewordenen Titelzusatz „Deutsches Reich“ rasch abstreifte – daher zu recht als die „virtuelle Urhütte der Moderne“ bezeichnet.5

1 Sasha Stone (?)/Berliner Bild-Bericht: Innenansicht des Pavillons des Deutsches Reiches, Weltausstellung Barcelona, 1929

Die nicht unumstrittene Rekonstruktion (Rem Koolhaas lästerte z.B. über Disneyworldarchitektur)6 stützte sich auf die zum Teil stark retuschierten BildBericht-Fotos – als ob diese reinen Dokumentarcharakter hätten. Eher geben 3 | George Dodds: Building Desire: On the Barcelona Pavilion. Milton Park, New York 2005, xiif, S. 8ff. 4 | Vgl. Wolf Tegethoff: Der Deutsche Pavillon. In: Alexander von Vegesack; Michael Kries (Hg.): Mies van der Rohe. Möbel und Bauten in Stuttgart, Barcelona, Brno, Ausst.-Kat. Vitra Design Museum, Weil am Rhein 1998, S. 158–166, hier: S. 165. 5 | George Dodds: Body in Pieces: Desiring the Barcelona Pavillon. In: RES, Journal of Anthropology and Aesthetics 39, 2001, S. 168–183, hier: S. 173; ibid. 2005 (Anm. 3), S. 70. 6 | Vgl. Derek Sayer: The Unbearable Lightness of Building: A Cautionary Tale. In: Grey Room 16, 2004, S. 8; zit. n. Christine Conley: Morning Cleaning: Jeff Wall and The Large Glass. In: Art History 32, Nr. 5, Dezember 2009, S. 996–1015, hier: S. 1006; wieder abgedruckt in: Diarmuid Castello; Margaret Iversen (Hg.): Photography after Conceptual Art. Malden-Oxford 2010, S. 172–191.

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Sasha Stones Aufnahmen Mies’ Idealvorstellung des Pavillons wieder, wie er ihn medial verbreitet wissen wollte, und sind mit Dodds als ein eigenes Werk zu betrachten, das sich von den gebauten Pavillons von 1929 und 1986 grundlegend unterscheidet.7 Die für die Replik gewählte Farbigkeit beruht auf (wenn auch gut begründeten) Hypothesen; außerdem war man gezwungen, aus Haltbarkeitsgründen viele konstruktive Details anders auszuführen und zudem manchmal andere Materialien zu verwenden.8 Auch in einem weiteren, meist unbeachteten,9 aber gravierenden Punkt wich man vom Vorbild ab: Von den beiden von Mies knapp vor dem Gebäudesockel aufgestellten 15,5 Meter hohen Fahnenmasten wehen heute nicht mehr, wie in Stones Fotos, riesige Flaggen Spaniens und des Deutschen Reiches,10 sondern jene von Barcelona und der EU, womit die nationalstaatliche Konnotation durch jene des internationalen Städtewettbewerbs ersetzt wird (und für das Stadtmarketing der katalanischen Hauptstadt ist die Mutation des „Reichspavillons“ zum „Barcelona-Pavillon“ essenziell). Die Wiedererrichtung beendete das imaginäre Dasein des Pavillons und signalisierte damit, wie manche Interpreten meinen, auch das Ende der Moderne als einer Vision und den Beginn ihrer postmodernen, neoliberalen Kommerzialisierung: Aus der im Musée imaginaire angesiedelten Urhütte war nun ein – freilich ziemlich neu aussehendes und vom historischen Kontext befreites – Museumsstück mit angegliedertem Souvenirshop geworden.11 Der ikonische Status des Pavillons hängt aber nicht nur mit seiner vorwiegend medialen Existenz zusammen, sondern war von Anfang an intendiert. Da der Pavillon keine Exponate aufzunehmen hatte, sondern nur sich selbst ausstellte, 7 | Vgl. Dodds 2005 (Anm. 3), S. 115. Dodds geht sogar so weit zu behaupten, dass der Pavillon ähnlich wie eine Filmkulisse primär für den Zweck gebaut wurde, um als Fotografie weiterzuleben, und Mies deshalb die angebotene Anmietung als Restaurant, die natürlich mit einer gewissen Profanisierung einhergegangen wäre, abgelehnt hatte. Die für die Rekonstruktion verantwortlichen Architekten meinen, dass die deutschen Behörden nur an einem Verkauf und keiner Vermietung interessiert waren und deshalb die Restaurantnutzung scheiterte; vgl. Ignasi de Solà-Morales; Christian Cirici; Fernando Ramos: Mies van der Rohe. Barcelona Pavilion. Barcelona 1993, S. 21. 8 | Vgl. Solà-Morales u. a. 1993 (Anm. 7); über die Abweichungen dort: S. 29–33. 9 | Eine Ausnahme ist Jonathan Hill: Weather Architecture (Berlin 1929–30, Barcelona 1986–, Barcelona 1999–). In: Ibid. (Hg.): Architecture. The Subject Is Matter. London, New York 2001, S. 57–72, hier: S. 67f. 10 | Vgl. Solà-Morales u. a. 1993 (Anm. 7), S. 19; demnach waren die Fahnen 6 x 9 m groß. Ludwig Glaeser bezieht den schwarzen Teppich, den roten Vorhang und die goldgelbe Onyxwand im Hauptraum auf die heraldischen Farben Deutschlands; vgl. ibid.: Mies van der Rohe: The Barcelona Pavilion’s 50th anniversary, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1979, o. S., vgl. dazu kritisch Dodds 2005 (Anm. 3), S. 119. 11 | „The reconstructed pavilion is a museum, a tourist attraction, a ruin, emptied of utopian social meaning, a testament to the death of the avant-garde, offering instead aesthetic pleasure in the petrified beauty of Mies’ rich, reflective materials.“ Conley 2009 (Anm. 6), S. 1006.

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besaß er keine praktische Funktion und konnte restlos darin aufgehen, ein gebautes Manifest zu sein. Dieses Manifest – so die traditionelle Lehrmeinung12 – verkündete die Idee des modernen, offenen, fassadenlosen Hauses über freiem Grundriss als Ausdruck der liberalen, demokratischen Ideale der Weimarer Republik und stand in scharfem Kontrast zu den pompösen, rückwärtsgewandten Architekturkulissen, welche der spanische Militärdiktator Primo de Rivera für die Weltausstellung errichten ließ. Darunter befand sich auch das „Spanische Dorf“,13 ein Pasticcio berühmter Bauwerke aus verschiedenen Regionen Spaniens, das alle Klischees iberischen Landlebens vergangener Jahrhunderte inklusive kostümierter Bewohner bediente. „Die Wiedergabe der Fassaden“, meinte ein davon begeisterter Kritiker, „ist von einer fast übertriebenen Treue, so daß es recht schwierig ist, zu erkennen, ob das Ganze Wahrheit oder Fiktion ist“14 – ein Satz, der sich heute ironischerweise auch über den rekonstruierten Pavillon sagen ließe. 1929 jedenfalls muss sich der „Reichspavillon“ in der ihn umgebenden romantischen Geschichtsfiktion wie ein kalter, leuchtender Blitz aus der Zukunft erschienen sein. „Wir wollen nichts anderes als Klarheit, Schlichtheit, Aufrichtigkeit“, verkündete der deutsche Generalkommissar Georg von Schnitzler bei der Eröffnung am 26. Mai 1929.15 Aber war wirklich alles so schlicht und klar? Am Eröffnungstag erfüllte der Pavillon seinen einzigen praktischen Zweck: Der spanische König Alfons XIII. wollte mit seinem gesamten Hofstaat die Vertretung jedes Teilnehmerlandes begrüßen, und dafür brauchte es einen repräsentativen Rahmen, in dem der Monarch mit seiner Gattin sich ins Gästebuch eintragen, einen Toast aussprechen und Platz nehmen konnte.16 Der politische Kontext des Pavillons ist somit genauso widersprüchlich wie der Architekt selbst: Mies, der drei Jahre zuvor im Auftrag der KPD das Berliner Revolutionsdenkmal entworfen und, selbst aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, seinen Nachnamen im Jahr seines Durchbruchs zur Moderne  pseudoaristokratisch

12 | Vgl. Claire Zimmermann: German Pavilion, International Exposition, Barcelona, 1928–29. In: Barry Bergdoll; Terence Riley (Hg.): Mies in Berlin, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York 2001, S. 236f, hier: S. 236. 13 | Glaeser 1979 (Anm. 10) sah den Pavillon sogar als eine Art Tor auf dem Weg hinauf zum Spanischen Dorf. Diese Interpretation wurde in der Folge von vielen aufgegriffen, zuletzt von Thomas Pavel: Resultat: Beste Ergänzung. In: Berger/Pavel 2006 (Anm. 1), S. 18–33, hier: S. 19f; kritisch dazu Dodds 2005 (Anm. 3), S. 73f. 14 | Alfredo Baeschlin: Barcelona und seine Weltausstellung. In: Deutsche Bauzeitung, Bd. 63, Nr. 57, 17.7.1929, S. 497–504, hier S. 504. 15 | Lilly von Schnitzler: Die Weltausstellung Barcelona 1929. In: Der Querschnitt, Bd. 9, H. 8, 1929, S. 582ff, hier S. 583; zit. n. Pavel 2006 (Anm. 13), S. 25. 16 | Vgl. Solà-Morales u. a. 1993 (Anm. 7), S. 18; Josep Quetglas: Der gläserne Schrecken. Mies van der Rohes Pavillon in Barcelona. Basel, Boston, Berlin 2001, S. 27.

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um den Zusatz „van der Rohe“ ergänzt hatte,17 konzipierte den Pavillon gewissermaßen als demokratisch-neusachlichen Rahmen für eine monarchistische Zeremonie in einem diktatorisch regierten Land. Zugleich sollte der „Repräsentationspavillon“ eine Republik repräsentieren, die sich immer noch als „Reich“ bezeichnete und deren Organe, vom Reichspräsidenten Hindenburg abwärts, zu einem erheblichen Teil antidemokratisch eingestellt waren. Hat Mies diese Widersprüche gesehen und/oder sind sie in seinem Pavillon „repräsentiert“? Deutschland zeigte damals auf der Weltausstellung Maschinen und Industrieprodukte, die auf verschiedene Pavillons verteilt waren, und einen eigenen Themenpavillon, der allein der Elektroindustrie gewidmet war. Man setzte also auf eine relativ neue, saubere und immaterielle Energieform. Josep Quetglas schreibt: „Die englische Arbeit, unterirdisch und kohlebestaubt, war vorbei: Nun begann die deutsche Arbeit: den Umständen angemessen, transparent, kristallklar, elektrisch.“18 Dass Mies auf eine fließende Abfolge nie ganz abgeschlossener, asymmetrisch hintereinander montierter Räume und größtmögliche Transparenz setzte, scheint dazu zu passen; auch seine Vorliebe für Materialien mit polierten, hochglänzenden Oberflächen entspricht dem Ideal von Sauberkeit und Effizienz. In den Innenaufnahmen der Bild-Bericht-Serie löst sich durch die Verwendung von Blitzlicht die Materialität von Stahl und Stein in zahllosen Reflexionen fast auf. Die geometrisch reduzierten Elemente bekommen dadurch etwas Narzisstisches, beinah Fetischhaftes, und weisen neben dem unterschwellig expressionistischen19 Kult der reinen kristallinen Form auch in eine autoritäre, den Besucher in die Knie zwingende Richtung: Augenfällig wird dies im zentralen Raum, den Quetglas zurecht als „Thronsaal“ interpretiert, mit dem „leeren Thron“, der Onyxwand als „mit Goldfäden durchwobener [...] Wandteppich“ dahinter und dem einzigen freistehenden Pfeiler als „stark stilisierter Ritter in metallener Rüstung“ davor, dem „Wächter des Thronsaals“.20 Der rekonstruierte Pavillon veranlasste seit 1986 nicht nur Architekturfotografen, sondern auch viele zum Teil sehr prominente Fotokünstler, den historischen Fotos eigene Aufnahmen des neuen Pavillons entgegenzusetzen.21 17 | Im Herbst 1921 hängte der als Ludwig Mies geborene Sohn eines Aachener Steinmetzen und Maurers den Mädchennamen seiner Mutter an seinen Familiennamen an und verband beide mit der erfundenen holländischen Herkunftsbezeichnung „van der“. Vgl. Franz Schulze; Edward Windhorst: Mies van der Rohe: A Critical Biography, überarb. Neuauflage. Chicago, London 2012, S. 72f. 18 | Quetglas 2001 (Anm. 16), S. 27. 19 | Vgl. Dodds 2005 (Anm. 3), S. 15ff. 20 | Quetglas 2001 (Anm. 16), S. 146f. 21 | Z.B. Peter Fischli & David Weiss, Thomas Florschuetz, Günther Förg, Thomas Ruff, Hiroshi Sugimoto. Vgl. Anne Schmedding: Moderne ohne dritte Dimension. In: arch+, Nr. 161, Juni 2002, S. 36–45; Pavel 2006 (Anm. 2), S. 65–71.

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Interessanterweise arbeiteten die allermeisten Künstler aber trotzdem „mit dem ikonografischen Programm der Fotogeschichte des [originalen] Pavillons“, wie Anne Schmedding gezeigt hat.22 Dies scheint die poststrukturalistische These zu bestätigen, dass Architektur nicht einfach mit Bauwerken zu verwechseln ist, sondern vielmehr aus den Bildern und Diskursen besteht, die wir von ihr und über sie haben.23 Für das Konzept der Tagung, die der vorliegenden Publikation zugrunde liegt und welche unter anderem „die Rolle von Visualisierungsstrategien im Zusammenhang mit der Etablierung architektonischer Ikonen – hier besonders mittels fotografischer Bilder“24 im Blick hatte, scheint der Barcelona-Pavillon geradezu ein Paradebeispiel darzustellen.

2 Jeff Wall: Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona, 1999

Ich möchte mich im folgenden mit dem wohl bekanntesten fotokünstlerischen Werk beschäftigen, das den rekonstruierten Barcelona-Pavillon zeigt: Es handelt sich dabei um Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona, ein 1999 entstandenes Farb-Großbilddia in einem Leuchtkasten (transparency in

22 | Schmedding 2002 (Anm. 21), S. 44. 23 | Vgl. Kester Rattenbury (Hg.): This Is Not Architecture: Media Constructions. London, New York 2002. Der Titel spielt auf René Magrittes eine Pfeife darstellendes Gemälde Der Verrat der Bilder mit dem Schriftzug „Ceci n‘est pas une pipe“ an, das zufällig ebenfalls 1929, im Jahr des Barcelona-Pavillons, entstanden ist. Zur poststrukturalistischen Interpretation vgl. Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife. München 1974. Als Covermotiv hat Rattenbury ein Bild-Bericht-Foto des Barcelona-Pavillons, gewählt; zu den Fotos vgl. ibid. S. 86–89. Ich danke Margareth Otti, die mich auf diese Publikation aufmerksam gemacht hat, sehr herzlich. 24 | Kerstin Plüm: CFP: Mies 125: Kulturspeicher und Imagefaktor. http://arthist.net/archive/1432 (28.9.2011).

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lightbox) des kanadischen Künstlers Jeff Wall, das die monumentalen Maße von 187 x 351 cm besitzt (Abb. 2).25

2 . Der Kunsthistoriker-Künstler Als Kunsthistoriker über ein Bild von Jeff Wall zu schreiben ist schwer und leicht zugleich. Leicht, weil Wall unter Kunsthistorikern zu den beliebtesten lebenden Künstlern überhaupt zählt, dessen sorgfältig inszenierte Bilder sich wie traditionelle Gemälde lesen lassen und deren „enormous appetite for references“26 breiten Raum für Interpretationen lassen. Schwer, weil sich solche Interpretationen gerne in einem Insiderdiskurs verlieren – Wall ist selbst ausgebildeter Kunsthistoriker, wiewohl er sich nicht als solchen bezeichnet27 – und sich sein Werk auf nahezu alles beziehen lässt, was die Diskurse der Kunst, Kunstkritik und Kunstgeschichte zu bieten haben, wie Wolfgang Brückle kritisch feststellt.28 Mit Morning Cleaning ist es nicht anders: In den beiden dazu bisher publizierten monografischen Arbeiten wird von Michael Fried einerseits versucht, Morning Cleaning mit Bezug auf Ludwig Wittgenstein als Erneuerung der antitheatralischen Form von Selbstversunkenheit zu begreifen, wie sie die Klassische Moderne praktiziert habe, 29 und andererseits von Christine Conley als das Gegenteil dessen, als eine Marcel Duchamp zitierende Kritik an der Klassischen Moderne und ein „Gegen-Denkmal“ zu ihrer heutigen Fetischisierung.30 Damit will ich nicht sagen, dass diese beiden Interpretationen nicht überzeugen: Sowohl die Darlegung der völligen Absorption 25 | Auflage 2 + 1; eines befindet sich im Besitz des Walker Art Center, Minneapolis, Minnesota, das andere in den Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen, K21, Düsseldorf. Das Künstlerexemplar befindet sich als Dauerleihgabe im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main. Vgl. Theodora Vischer; Heidi Naef (Hg.): Jeff Wall. Catalogue Raisonné. Basel, Göttingen 2005, S. 396. 26 | Wolfgang Brückle: Almost Merovingian: On Jeff Wall’s relation to nearly everything. In: Art History 32, Nr. 5, Dezember 2009, S. 977–995, hier S. 990; wieder abgedr. in: Castello/Iversen 2010 (Anm. 6), S. 153–171, hier S. 166. Brückles Hauptargument, Wall mische bewusst inszenierte und dokumentarische Fotografie, um jedes noch so belanglose Foto allegorisch aufzuladen, erinnert in ihrem normativen Beharren auf der Bewahrung von Gattungsgrenzen an Michael Frieds Kritik an der Theatralik der Minimal Art. Vgl. ibid.: Art and Objecthood, 1967, dt.: Kunst und Objekthaftigkeit. In: Gregor Stemmrich (Hg).: Minimal Art. Eine kritische Anthologie. Dresden 1995, S. 334–374. 27 | Vgl. Jeff Wall: To the Spectator [1979]. In: Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), S. 439–441, hier: S. 440; zu seinem Kunstgeschichtestudium vgl. ibid., S. 487. 28 | Vgl. Brückle 2009 (Anm. 26), S. 991. 29 | Vgl. Michael Fried: Jeff Wall, Wittgenstein, and the Everyday. In: Critical Inquiry 33, Nr. 3, 2007, S. 495–526; wieder abgedr. in: Ibid.: Why Photography Matters as Art as Never Before. New Haven, London 2010, S. 63–94. 30 | Vgl. Conley 2009 bzw. 2010 (Anm. 6).

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der Hauptfigur durch ihr Tun als auch die Beziehungen zu Duchamps Großem Glas vermögen wichtige Aspekte von Morning Cleaning zu erläutern. Meine Kritik an den genannten Untersuchungen besteht lediglich darin, dass sie nur relativ oberflächlich das eigentliche Thema des Bildes behandeln: die morgendlichen Reinigung der rekonstruierten Mies-Ikone. Meines Erachtens muss der eigentliche Witz des Bildes und sein erhellender Kommentar zum Pavillon, zu dessen Medialität und Widersprüchlichkeit, zu Mies, der Moderne und der Weimarer „Reichs“-Republik gar nicht so sehr außerhalb, d.h. in komplexen kunsttheoretischen Verweisen gesucht werden, sondern ist auch im Bild selbst zu finden. Geduscht wird hier also nicht mit Wittgenstein oder Duchamp, sondern mit Mies. Jeff Wall (*1946) arbeitet seit 1978 überwiegend mit Leuchtkästen,31 einem Medium, das ursprünglich aus der Werbung kommt und bei dem es um eine Maximierung der Aufmerksamkeit durch das elektrische, selbstleuchtende Bild geht. Das Prinzip Leuchtreklame wird dabei auf Plakate übertragen und erzielt nachts im öffentlichen Raum eine ähnlich beherrschende Wirkung wie Fernsehgeräte im Innenraum, den diese „beleuchten, [...] mit Bedeutung füllen“ und „ideologisch dominieren“, wie Wall in einem frühen Text schreibt.32 Der Künstler verwendet allerdings großformatige Diapositive als Bildträger, sodass man auch an die bei kunsthistorischen Vorträgen früher üblichen Diaprojektionen erinnert wird,33 mit dem Unterschied, dass man aufgrund der enormen Schärfe und dem Detailreichtum der Bilder diese auch von großer Nähe betrachten kann. Aufgrund des von Wall häufiger gewählten Panorama-Formats und den sorgfältig inszenierten Motiven gibt es aber auch Assoziationen zum Kino; er selbst bezeichnet sein Verfahren als „cinematografisch“.34 Im White Cube einer Galerie oder eines Museums wirken solche Großbilddia-Leuchtkästen wie auratische Objekte und folgen der in manchen Museen seit den 1970er Jahren beliebten Präsentationsform, Gemälde in abgedunkelten Räumen zu zeigen und mit punktgenauen Spots auszuleuchten, sodass sie wie aus sich selbst heraus zu strahlen scheinen. Die medienspezifischen Eigenschaften des Großbilddias im Leuchtkasten verbinden also Aspekte oder Rezeptionsweisen der Reklame, des (kunsthistorischen) Lichtbildvortrags, des Kinos und des auratisch präsentierten Museumsobjekts. Tatsächlich sind die Leuchtkästen für Wall quasi die 31 | Zu Walls Biografie vgl. überblicksmäßig Craig Burnett: Jeff Wall. London 2005, S. 9ff; 124ff. Zu seinem Werk von 1978 bis 2004 vgl. Vischer; Naef 2005 (Anm. 25). 32 | Wall 1979 (Anm. 27), S. 440. 33 | „Die Bilder gleichen den hellen, schönen Lichtbildern von Kunstwerken, die ich jahrelang in kunsthistorischen Vorträgen gezeigt habe“, ibid. 34 | „Cinematografisch heißen die Fotografien, bei denen der Gegenstand des Bildes für die Aufnahme in irgendeiner Weise vorbereitet wurde. Dazu gehören minimale Eingriffe oder vollständige Konstruktionen eines Sets, die Herstellung von Kostümen oder anderen Objekten, usf.“ Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), S. 273.

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Erben des traditionellen Tafelbildes (oft auch des monumentalen Salonbildes); er möchte mit ihnen das Projekt einer „Malerei des modernen Lebens“, wie es Charles Baudelaire genannt hat, in einem zeitgenössischen, kommerziellen populären Bildgattungen verwandten Medium fortsetzen.35 Man kann Walls Bilder, die nicht selten an tableaux vivants, an Nachstellungen von Gemälden erinnern,36 auch durchaus wie historische Gemälde lesen. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen37 allesamt inszenierte, sorgfältig komponierte Fotografien, an denen oft professionelle Schauspieler beteiligt sind und manchmal Wochen und Monate gearbeitet (und seit 1991 zur Perfektionierung der Illusion auch digital nachbearbeitet)38 wird. Mit seinen inszenierten Fotografien steht Wall für die postkonzeptuelle Wiederkehr des Narrativen und der historischen Referenz in der Kunst der letzten 40 Jahre, was ihn in den 1980er Jahren zu einer wichtigen Galionsfigur der Postmoderne machte. Ob man ihn, wie Michael Fried argumentiert, nun als einen Erneuerer der modernen Tradition oder eher, wie Christine Conley meint, als deren Kritiker auffassen sollte, kann vielleicht eine nähere Analyse von Morning Cleaning klären, geht es hier doch um den Umgang mit jener Ikone der Moderne, in der sich Historie und Erneuerung auf verwirrende Weise überlagern.

3 . Das Licht-Bild Jeff Wall zeigt uns den „Thronsaal“, das Herzstück des Pavillons (Abb. 2), und zwar aus jener klassischen Perspektive, welche auch für eine der am häufigsten reproduzierten Fotografien des Berliner Bild-Berichts gewählt worden ist (Abb. 1).39 Der Blick fällt diagonal durch den Raum Richtung Norden; wir sehen 35 | Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. In: Ibid.: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5, hg. v. Friedhelm Kemp; Claude Pichois. München, Wien 1989, S. 213–229. Wall hat den Terminus bereits sehr früh auf seine Arbeit bezogen, vgl. Jeff Wall: Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews. Hg. v. Gregor Stemmrich. Dresden 1997, S. 8, 35, 201, 260; Burnett 2005 (Anm. 31), 10f; Jean-François Chevrier: Metamorphose des Ortes. In: Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), S. 12–32, hier: S. 21. 36 | Vgl. Anselm Wagner: Jeff Wall: Fotografie als tableau vivant. In: Noema Art Journal 42, August/September/Oktober 1996, S. 84–93. 37 | Bei Pleading, 1984, und In the Public Garden, 1993, handelt es sich um Schnappschüsse, vgl. Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), Kat.-Nr. 15, 297; Kat.-Nr. 50 u. 50a, S. 345. 38 | Vgl. Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), S. 333ff. 39 | Conley bezeichnet Morning Cleaning deshalb als „mimesis“ der Bild-Bericht-Fotos, nachdem Wall im Entstehungsjahr von Morning Cleaning seine immer stärkere Beschäftigung mit der Fotogeschichte anstelle der Geschichte der Malerei als „Mimesis der Fotografie als Fotografie“ bezeichnet hatte. Conley beschreibt die Unterschiede zwischen den Bildern von Stone und Wall allerdings so, als hätten sie denselben Pavillon fotografiert; vgl. Conley 1999 (Anm. 6), S. 1007;

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die kreuzförmige Stütze aus Edelstahl im Vordergrund, die freistehende Wand aus poliertem, goldgelbem Onyx links, davor den schwarzen Teppich mit den berühmten Barcelona-Stühlen aus verchromtem Stahl und weißem Lederbezug und den roten Samtvorhang rechts. Im Mittelgrund erkennen wir die leicht grau getönte Glaswand und dahinter das Wasserbecken mit der abschließenden Wand aus grünem Marmor, die eine Art Patio bildet und wo sich als Blickfang und Endpunkt fast schwebend über der Wasseroberfläche Georg Kolbes bronzene weibliche Aktfigur von 1925 mit dem Titel Der Morgen erhebt. Die fließenden Übergänge von drinnen nach draußen, die verschiedenen Raumschichten sind gut nachvollziehbar. Man gewinnt aus dieser Perspektive den besten Eindruck von dieser hochkomplexen Architektur: Man sieht nicht nur den Hauptraum, auch nahezu alle verwendeten Materialien kommen in den Blick. Es ist kein Zufall, dass diese Ansicht zu einem Klassiker geworden ist. Das von Wall gewählte monumentale Breitwandformat und das selbstleuchtende Medium verstärken die ohnehin schon auratisch-dominante Wirkung des ikonischen Vorbildes. Während aber die Bild-Bericht-Fotos mehr wie immaterielle, immer wieder ins Abstrakte kippende Ideogramme wirken, erzeugen Format, Farbigkeit und Tiefenschärfe von Morning Cleaning einen völlig entgegengesetzten illusionistischen Effekt, so dass man als BetrachterIn meint, man würde sich selbst in diesem Raum befinden, so wie man auch im rekonstruierten Pavillon „Wahrheit und Illusion“ nicht mehr unterscheiden kann. Auch die Abweichungen im Bildausschnitt (das Cinemascope-Format nimmt die betonte Horizontalität des Pavillons auf und bringt auch den bei Sasha Stone fehlenden Vorhang und die Glaswand rechts ins Bild)40 sowie in der Belichtung (die digitale Montage mehrerer Bilder vereinheitlicht die Lichtsituation in Teppichsaal und Patio)41 dienen dazu, das Vorbild zu optimieren – ganz so, wie auch die Replik des Pavillons eine technische und ästhetische Optimierung des Originals beabsichtigte. Morning Cleaning stellt daher weniger eine Mimesis der Bild-Bericht-Fotos dar, wie Conley meint, 42 sondern eine Mimesis der auf den Bild-Bericht-Fotos beruhenden Pavillon-Replik. Bis hierher ist Morning Cleaning ein perfektes Werbefoto und könnte aus der Marketingabteilung der Mies van der Rohe Foundation stammen. Das einzige Motiv, das der geläufigen Architekturbilderbuchansicht widerspricht, ist die Anwesenheit einer Person, noch dazu einer wenig fashionablen: Im Mittelgrund beugt sich ein Putzmann über seinen Wassereimer und kehrt uns, völlig

vgl. Jeff Wall: Three Thoughts on Photography (Drei Gedanken zur Fotografie), 1999. In: Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), S. 444f, hier: S. 444. 40 | Zur Frage des fehlenden Vorhanges vgl. Dodds 2005 (Anm. 3), S. 110–125. 41 | Zum langwierigen Herstellungsprozess des Bildes vgl. ausführlich Fried 2010 (Anm. 29), S. 363, Anm. 29. 42 | Vgl. Conley 2009 (Anm. 6), S. 1007.

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vertieft in sein Tun, halb den Rücken zu (Abb. 3). Er hat den Teppich etwas umgeschlagen, die rückwärtige Glaswand gerade mit einem Fensterputzmittel eingeschäumt und macht sich daran, diese zu reinigen. Es handelt sich dabei um keinen Schauspieler wie sonst so oft bei Wall, sondern um einen gewissen Alejandro, jenen Mann, der tatsächlich jeden Morgen, bevor der Ansturm der Besucher beginnt, den Pavillon säubert43 und wieder in jenen blitzblanken Zustand versetzt, der für diese Architektur der Transparenz und Spiegelungen besonders wichtig ist. Tatsächlich wurden die Aufnahmen für das Dia eine Stunde nach Sonnenaufgang, zwischen sieben und acht Uhr früh, gemacht.44 Dieses Motiv gibt dem Bild den Titel: Morning Cleaning. Die Fortsetzung Mies van der Rohe Foundation, Barcelona vermeidet die geläufige Bezeichnung „BarcelonaPavillon“, sodass man in Unkenntnis des Bildes auch meinen könnte, es zeige die morgendliche Reinigung eines Büroraumes der Foundation, die ja nicht nur den Pavillon betreibt, sondern auch Ausstellungen und Vorträge veranstaltet und den Mies van der Rohe Award für zeitgenössische Architektur vergibt.45

3 Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Alejandro)

Der betont nüchterne Titel unterstreicht den prosaischen Charakter der allmorgendlichen Reinigung, die klarerweise eine Notwendigkeit darstellt, aber normalerweise off records geschieht und in einem wohl kalkulierten Kontrast zu ihrem ikonenhaften Ort steht. Der Gegensatz zwischen dem feierlichen, noblen Ambiente des Pavillons und dem kleinen, sich bückenden Putzmann, der sogar das Sakrileg begeht, einen Putzlappen achtlos auf einer Stuhllehne 43 | Jeff Wall: A note about cleaning (Eine Bemerkung über das Putzen), 2000. In: Vischer; Naef 2005 (Anm. 25), S. 397. 44 | Vgl. Fried 2010 (Anm. 29), S. 363, Anm. 29. 45 | Vgl. http://www.miesbcn.com/en/foundation.html (17.11.2012).

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hängen zu lassen, zwischen dem großbürgerlich-aristokratischen Bauwerk und dem Werktätigen, oder, weil wir in Spanien sind, zwischen Don Quichote und Sancho Pansa, der die Rüstung des aus seiner Zeit gefallenen Ritters der heroischen Moderne poliert, könnte größer nicht sein. Aber ist es möglich, dass Wall den ganzen Aufwand für dieses Riesenbild, dieses Salonbild mit dem Salon des Deutschen Pavillons, nur betrieben hat, um einen etwas müden Kalauer aus der Mottenkiste namens high and low zu ziehen?46 Die Sache ist ein bisschen komplizierter. Zunächst einmal: Es geht nicht um eine vordergründige Ironisierung. Es ließe sich sogar das Gegenteil, eine rein affirmative Sichtweise behaupten, denn das erste Element, das den Blick auf sich zieht, ist wohl die durch die Strahlen der Morgensonne rotgold erstrahlende Onyxwand links, welche nach dem roten Samtvorhang rechts die farblich am meisten gesättigte Zone des Bildes darstellt. Das Muster des geäderten Steins entfaltet hier seine ganze Pracht, wird noch gesteigert, buchstäblich ins rechte Licht gerückt. Und der transluzente Onyx leuchtet tatsächlich aus sich heraus, weil es sich um ein von hinten mit zahlreichen Neonröhren beleuchtetes Dia, eine transparency in light box, handelt (ein Effekt, den freilich keine Reproduktion vermitteln kann). Das Thema des Morgenlichts und die mediale Erscheinungsform des selbstleuchtenden, „transparenten“ Bildes verstärken sich auf suggestive Weise. Mehr noch: Möglichst viel Licht in seinen Pavillon zu bringen, war eines der zentralen Anliegen von Mies, wie generell das Thema der Transparenz für das „neue bauen“ hohe Priorität besaß. Dieser Kongruenz von Bildträger und Bildsujet verdankt Morning Cleaning viel von seiner visuellen Überzeugungskraft: Walls transparency und Mies’ Transparenzarchitektur verhelfen einander zur Selbstreflexion ihres jeweiligen Mediums. Diese Sichtweise wird von Jeff Wall in einem Interview mit Craig Burnett bestätigt, worin er die Entstehungsgeschichte von Morning Cleaning schildert. Ursprünglich wollte der Künstler die Reinigung eines Fensters in einem Privathaus in der Nähe von Paris aufnehmen, was aber an der Ablehnung des Hausbesitzers scheiterte. Das Angebot für eine Ausstellung im Barcelona-Pavillon,47 in Walls Augen „the most famous glass-walled structure in the world“, bot dafür 46 | Zur Verfremdung hochkultureller Kunst durch die Einbeziehung des Niederen und Trivialen, wie es für die Kunst des 20. Jahrhunderts notorisch ist, vgl. Kirk Varnedoe; Adam Gopnik (Hg.): High & low. Moderne Kunst und Trivialkultur. München 1990. 47 | Wall zeigte bei dieser Ausstellung seinen Leuchtkasten Odradek, Táboritska 8, Prague, 18 July 1994 von 1994 sowie das in diesem Bild zu sehende titelgebende kleine Objekt Odradek, eine sternförmige Drahtspule aus Holz; beide beziehen sich auf Franz Kafkas Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ von 1919; vgl. Conley 2009 (Anm. 6), S. 1009–1012. Conley stellt eine Referenz von diesen Arbeiten zu Morning Cleaning her, um daraus weitere Verbindungen zu Duchamp, Walter Benjamin, dem freudschen Begriff des Unheimlichen, der Shoa und Walls jüdischer Herkunft abzuleiten. Ich halte diese Bezüge für sekundär, da Odradek nicht in Morning Cleaning auftaucht und auch nicht zusammen mit diesem Bild ausgestellt wurde.

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einen willkommenen Ersatz: „The original subject was the maintenance of the transparency of glass architecture through the labour of cleaning, mainly cleaning the glass, but not just cleaning the glass.“48 Da Wall seit Jahrzehnten mit transparencies arbeitet, war ihm die Doppelbedeutung des Wortes hier sicher bewusst. Man könnte also auch sagen: Das, was sich hier in der Morgensonne vollzieht, ist so etwas wie die Wiedergeburt der Moderne und ihres Ideals der Transparenz – eben das, was die titelgebende Mies van der Rohe Foundation mit ihrem Wiederaufbau bezweckte. Die Moderne als – nach Jürgen Habermas – unvollendetes Projekt49 muss quasi immer wieder neu realisiert werden, bedarf immer wieder des Lichtes der Aufklärung. Die Tätigkeit Alejandros – die Wiederherstellung der makellosen Transparenz der Glaswände –, wäre dann eine Metapher für die fortwährend notwendige Arbeit an der Moderne, ihre permanente Revision und Instandhaltung. Die Thematisierung der Transparenz und ganz allgemein der modernen Glasarchitektur in Morning Cleaning wird von einigen Interpreten mit Jeff Walls Essay „Dan Grahams Kammerspiel“ von 1982 in Verbindung gebracht.50 Wall äußert sich darin unter anderem kritisch über die Glasarchitektur von Mies und Philip Johnson, die er als negative Symbole unerfüllter Hoffnungen bewertet, und assoziiert sie mit Benjamins Begriff der Phantasmagorie, dem Freudschen Unheimlichen und der im 19. Jahrhundert so beliebten Figur des Vampirs als Kehrseite der Modernisierung. Dabei wird in meinen Augen zweierlei übersehen: Erstens liegen zwischen der Entstehung des Essays und des Bildes fast zwei Jahrzehnte, in denen sich die Bewertung der Moderne im Allgemeinen und von Mies im Besonderen grundlegend verändert hat. Anfang der 1980er Jahre, der Hoch-Zeit der Postmoderne, konnte noch niemand ahnen, dass die Architekturproduktion im folgenden Jahrzehnt wieder zu vielen (wenn auch oft nur formalen) Prinzipien zurückkehren würde, die Mies und das Bauhaus in den 1920er Jahren aufgestellt hatten, und dass Mies im Zuge dessen zu einer

48 | Burnett 2005 (Anm. 31), S. 90. Ähnlich äußerte sich Wall schon früher im Gespräch mit Léon Krempel; vgl. Léon Krempel (Hg.): camera elinga. Pieter Janssens begegnet Jeff Wall, Ausst.-Kat. Das Städel. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie. Frankfurt a. M. 2002, S. 29. 49 | Vgl. Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt [1980]. In: Ibid.: Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1992. Leipzig 1992, S. 32–54. 50 | Vgl. Jeff Wall: Dan Grahams Kammerspiel [1982]. In: Ibid., Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews. Hg. v. Gregor Stemmrich. Hamburg 2008, S. 89–187; vgl. Tom Holert: Interview mit einem Vampir. Subjektivität und Visualität bei Jeff Wall. In: Jeff Wall Photographs, Ausst.-Kat. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Köln 2003, S. 140–152, hier: S. 150.

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Art Popstar51 avancieren würde. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts berufen sich schließlich Architekten gegensätzlichster Positionen – von Hans Kollhoff bis Rem Koolhaas – auf ihn; er ist, wie es Joachim Krausse auf den Punkt bringt, „der Gott für alle Richtungen“.52 Mies’ Neubewertung beginnt 1986 mit der Feier seines 100. Geburtstages, zu deren Anlass einige bahnbrechende Publikationen erscheinen53 und eben auch der rekonstruierte Barcelona-Pavillon eröffnet wird, und findet ihren vorläufigen Höhepunkt in den großen Retrospektiven „Mies in Berlin“ und „Mies in America“, die 2001 bis 2002 durch Europa und Nordamerika touren.54 Auch wenn Wall seine kritische Sicht von 1982 beibehalten hat, musste er sich mit dem Mies-Revival auseinandersetzen, für das der wieder aufgebaute Pavillon das beste Beispiel ist – und zweifellos hat er das getan. Zweitens – und das scheint mir noch wichtiger – bietet Morning Cleaning nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass es hier um das „Unheimliche“ moderner Glasarchitektur ginge, ein Gefühl, das sich vor allem nachts bei Innenbeleuchtung – man denke an Johnsons Glass House oder Mies’ Farnsworth House – einstellt. Ganz im Gegenteil: Die Morgensonne taucht den Pavillon in ein äußerst mildes und heimeliges Licht, das die Vampire, so es sie gab, längst zurück in ihre Gräber getrieben hat.

4 . Morgendliche Hygiene, moderne Reinheit Die Heranziehung von „Dan Grahams Kammerspiel“ ist auch gar nicht nötig, da sich Jeff Wall 2005 in dem bereits erwähnten Interview mit Craig Burnett ausführlich über Morning Cleaning geäußert hat. Wall spricht darin nicht über das Vampiristische oder Unheimliche, sondern fast ausschließlich über das zentrale Thema des Bildes: das Reinigen. So meint er zur besonderen Pflege, die vor allem die Bauten von Mies bedürfen: „In more traditional spaces a little dirt and grime is not such a shocking contrast to the whole concept. It can even become patina, But [sic] the Miesian buildings resist patina as much as they

51 | Vgl. Brett Steele: Absolut Mies, absolut modern. In: arch+ 161, Juni 2002, S. 46–57; Angelika Schnell: 1986. In: ibid., S. 75ff. 52 | Miesverständnisse. Joachim Krausse im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Susanne Schindler. In: arch+ 161, Juni 2002, S. 18–21, hier: S. 21. 53 | Vgl. Schnell 2002 (Anm. 51), 75ff. 54 | Vgl. Bergdoll; Riley 2001 (Anm. 12); die Ausstellung war zu sehen in: The Museum of Modern Art, New York; Altes Museum der Staatlichen Museen zu Berlin; Fundación la Caixa, Barcelona; Whitechapel Gallery, London. Phyllis Lambert (Hg.): Mies in America, Ausst.-Kat. Canadian Centre for Architecture Montréal; Whitney Museum of American Art, New York; Museum of Contemporary Art, Chicago. New York, Ostfildern-Ruit 2001.

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can.“55 Patina ist nichts anderes als ein Zeichen von Alter und damit Geschichtlichkeit. Patina und Moderne schließen sich ebenso aus wie Geschichte und Moderne: Für die Modernen war und ist die Moderne eben keine Epoche wie alle anderen auch, sondern ein letztlich paradoxes, quasi ewig jung und gültig bleibendes Neues und Heutiges, das kein Gestern und schon gar kein Altern kennt.56 Der rekonstruierte Barcelona-Pavillon, der 1999 erst dreizehn Jahre alt war, hatte noch keine Patina und sollte nach der Intention seiner Architekten wohl auch nie eine bekommen; so entschieden sich letztere dafür, im großen Wasserbecken aus Wartungsgründen keine Wasserlilien mehr anzupflanzen.57 Jonathan Hill interpretiert dies als Versuch, die Veränderungen der Natur und damit die Zeit vom Pavillon fernzuhalten.58 Wall zeigt uns die Paradoxie dieser Bemühungen und ironisiert das prekäre Geschichtsverständnis der Mies van der Rohe Foundation, Geschichte ungeschehen machen zu wollen und einen vermeintlich historischen Zustand, den es so nie gab, in keimfreier Frische erhalten zu wollen. Dazu kommen ein paar kleine signifikante Details. Wie erwähnt, zeigt Jeff Wall kaum Interesse für die immaterialisierenden Spiegelungen und Reflexe auf den glatt polierten Oberflächen, die in den Bild-Bericht-Fotos so augenfällig sind und die man auch heute als Besucher der Pavillon-Replik wahrnimmt, wenn auch in wesentlich geringerem Maße. Walls Pavillon strahlt und leuchtet, aber er ist kein Vexierbild, und man könnte den gezeigten nachgebauten Raum problemlos nachbauen. Die einzige Spiegelung findet sich am rechten Rand des Bildes (Abb. 4): Hier spiegeln sich einerseits der Vorhang und die Hocker, durch sie hindurch erblickt man aber auch etwas von der profanen Welt draußen, was in diesem Tempel der Ästhetik sonst ausgeblendet ist: ein Auto, eine Halteverbotstafel und etwas, das aussieht wie die Rückseite eines Müllcontainers oder Müllwagens. Nun, um sieben Uhr morgens fährt nun einmal die Müllabfuhr. Alejandro ist bei seiner Tätigkeit also nicht allein. Während Sasha Stone und Mies in den Bild-Bericht-Aufnahmen durch die Wahl der Perspektiven und späteren Retuschen jeden Außenbezug vermieden bzw. auslöschten, kommt dieser bei Wall ausgerechnet hinter einer Spiegelung zum Vorschein. Der Putzmann und der PKW machen auch unmissverständlich klar, dass das Foto am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden ist, während die Pavillon-Replik so tut, als stamme sie aus einer zeitlosen Moderne.59

55 | Burnett 2005 (Anm. 31), S. 91. 56 | Zu dieser Paradoxie vgl. Walter Grasskamp: Ist die Moderne eine Epoche? München 2002. 57 | Solà-Morales u. a. 1993 (Anm. 7), S. 19. 58 | Vg. Hill 2001 (Anm. 9), S. 67. 59 | Craig Burnett unterliegt der „zeitlosen“ Rhetorik der Replik, wenn er im Gespräch mit Jeff Wall meint: „The interior has an ageless quality and probably won’t look out-of-fashion or obsolete in a hundred years, but the car will date the picture.“ Burnett 2005 (Anm. 31), S. 91.

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A NSELM W AGNER 4 Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Blick auf die Straße)

6 Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Georg Kolbes Morgen) 5 Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Teppich)

D USCHEN MIT M IES 8 Walter Gropius: Musterfabrik, Werkbundausstellung, Köln 1914

7 Georg Kolbe: Der Morgen, 1925, Ausstellung des Gipsmodells im Glaspalast, München, 1927

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In eine ähnliche Richtung weisen die unzähligen Staubkrümel, die den schwarzen Teppich übersähen, das einfallende Sonnenlicht reflektieren und dabei wie winzige herabgefallene Sterne leuchten (Abb. 5). Diese Art von Reflexion, die sowohl Unreinheit als auch das Verstreichen von Zeit und damit Vergänglichkeit indiziert,60 gilt es natürlich zu beseitigen: Da muss noch der Staubsauger zum Einsatz kommen, den schon Le Corbusier in seinem „Ratgeber zur Wohnungsfrage“ gefordert hatte.61 Nun ist es natürlich kein Zufall, dass Kolbes Figur im Hintergrund Der Morgen heißt. Durch die Stahlrahmen der Glasscheiben wird die Statue gerahmt, zu einem Bild im Bild (Abb. 6). Sie stellt den emblematischen Kern von Morning Cleaning dar; vielleicht war sie für Wall auch die primäre Inspirationsquelle, dieses Foto am frühen Morgen aufzunehmen. Zu sehen ist eine anscheinend gerade erwachende weibliche Gestalt, eine stehende Aktfigur mit eng geschlossenen, leicht abgewinkelten Beinen, die sich reckt und, wie es scheint, die Arme der Morgensonne entgegenstreckt, um ihr Gesicht zu beschatten. Schattenspendung und Hinwendung zum Licht, diese beiden Themen von Mies’ Pavillon, scheinen hier zur Geste geronnen. Auch hier gibt es keine Spiegelungen; dafür kommt etwas ganz anders hinzu: Es sieht so aus, als würde die Figur des Morgens nicht in einem Lichtbad, sondern unter der Dusche stehen: Der an der Glasscheibe herabrinnende Schaum des Fensterreinigungsmittels wird auf die Statue projiziert, scheint an ihr herabzurinnen und bildet unter dem linken Arm eine regelrechte Kaskade; infolgedessen kann man die rahmende Glaswand zur Duschkabine uminterpretieren. Morning Cleaning lässt sich somit doppelt verstehen: als morgendliche Reinigung des Pavillons und als Reinigung der Skulptur Morgen. Mit der morgendlichen „Duschszene“ erhält auch der Putzmann im Mittelgrund einen neuen Kontext: Aus dem Pavillon des Lichts, welches ihn am Morgen wieder neu erstehen lässt, wird ein Pavillon der morgendlichen Körperpflege und Hygiene. Es durchweht die Szene ein Hauch von Wellness, dessen Design sich heute so gerne eines Mies’schen Minimalismus und Materialfetischismus bedient. Man hat sich schon öfter gefragt, warum Mies sich ausgerechnet für eine relativ traditionelle Skulptur des moderat-modernen Georg Kolbe (1877–1947) entschieden hat.62 Es handelt sich dabei um eine ältere Auftragsarbeit für einen völlig anderen Zweck: Kolbe hatte die überlebensgroße Staue bereits 1925 für die Wohnanlage Ceciliengärten in Berlin geschaffen, wo sie – nach mehreren 60 | Vgl. Anselm Wagner: Historie versus Hygiene. Staub in der Architektur(theorie). In: Daniel Gethmann; Anselm Wagner: Staub. Eine interdisziplinäre Perspektive. Berlin, Wien 2013, S. 77–108. 61 | Vgl. Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur (Bauwelt Fundamente Bd. 2). Basel, Berlin, Gütersloh 1982, S. 99. 62 | Vgl. Claudia Beckmann: Die Statue Morgen im Barcelona-Pavillon. In: Berger; Pavel 2006 (Anm. 1), S. 34–51, hier: S. 45f.

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Ortswechseln – seit 1990 wieder aufgestellt ist.63 Die Kombination mit der Wasseroberfläche war Mies’ Idee – Kolbe hatte diese Skulptur ursprünglich ohne Wasser geplant; als ein getöntes Gipsmodell davon 1927 im Münchner Glaspalast gezeigt wurde, stand sie einfach im Zentrum eines Raumes auf einem Backsteinsockel (Abb. 7). Auch den Titel Morgen bekam die Figur, wie Claudia Beckmann nachweist, erst nach Kolbes Tod; die zeitgenössischen Rezensenten des Pavillons sprechen hingegen öfters von einer „Tänzerin“.64 Versuche, die Figur als Allegorie des „neue[n], aufblühende[n] Deutschland der Weimarer Republik“65 zu interpretieren, stellen daher mehr eine durch die Pavillon-Replik evozierte Rückprojektion dar. Darauf basiert auch die Verbindung von Morgen und Morning Cleaning, wodurch Jeff Walls Arbeit einmal mehr die rekonstruierende Arbeit an der Mies’schen Ikone thematisiert. Aber was fand Mies an der später zum Morgen mutierten Tänzerin? Kolbe taucht bereits am Beginn der modernen Architektur in Deutschland an prominenter Stelle auf. Vor der Modellfabrik von Walter Gropius auf der Werkbundausstellung von 1914 in Köln stand eine Badende von ihm, in diesem Fall eine eindeutige Brunnenfigur (Abb. 8). Rückblickend ist es nur schwer nachvollziehbar, dass die jungen modernen Architekten diesem Bildhauer (der sich im Dritten Reich an den herrschenden Geschmack anpasste und von Hitler in die „Gottbegnadetenliste“ aufgenommen wurde) immer wieder eine derart prominente Rolle innerhalb ihrer programmatischen Gebäude einräumten. Nun gehörte Kolbe vor dem Ersten Weltkrieg zu einer kleinen, in ihrem Umfeld durchaus progressiven Gruppe von Bildhauern, die sich für die monumentale Aktfigur im Freien einsetzten – ein Vorhaben, das in der prüden Atmosphäre des wilhelminischen Deutschland zunächst auf beträchtlichen Widerstand stieß.66 Kolbes Bemühungen müssen im Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende gesehen werden, welche die Befreiung vom zivilisatorischen Korsett und ein neues Körpergefühl propagierte. Im liberaleren Klima der Weimarer Republik konnte sich daraus die für Deutschland so typische Freikörperkultur entwickeln. Nackttanz, Nacktbaden und Nacktsport erfreuten sich einer breiteren Akzeptanz und wurden von der Aktfotografie festgehalten und propagiert, welche die schmuddeligen Studios verließ und ins Freie ging.67 Im Sommer 1925 und in einer zweiten Fassung 1926 lief in 63 | Vgl. ibid., hier: S. 34–37. 64 | Vgl. ibid., S. 39f. 65 | Ibid., S. 48; vgl. John Maruhn: Building for Art: Mies van der Rohe as the Architect for Art Collectors. In: Bergdoll; Riley 2001 (Anm. 12), S. 318–323, hier: S. 323. 66 | Vgl. Ursel Berger: Georg Kolbe. Leben und Werk. Mit einem Katalog der Kolbe-Plastiken im Georg-Kolbe-Museum. Berlin 1994, S. 44f, 50f. 67 | Vgl. Michael Köhler: Lebensreform durch Körperkultur. „Wir sind nackt und nennen uns du“. In: Michael Köhler; Gisela Barche (Hg.): Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen

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den deutschen Kinos mit großem Erfolg Wilhelm Pragers staatlich finanzierter Ufa-Propagandafilm Wege zu Kraft und Schönheit, worin Sport, Tanz und Körperpflege „als ein Mittel zur Erneuerung der Menschheit“68 mit zahlreichen Nacktszenen, oft in Zeitlupe, dargestellt wurden. Bislang unbeachtet blieb die große Ähnlichkeit zwischen einem als Postkarte aufgelegten und auch als Plakatmotiv dienenden Filmstill von Gerhard Riebicke (Abb. 9)69 mit Kolbes Morgen. Das Filmstill zeigt zwei nackte Tänzerinnen am Strand bei dem für die lebensreformerische Naturmystik üblichen „Sonnengebet“ bzw. „Lichtgruß“, der den nackten Körper in direkte Zwiesprache mit der heilenden und heiligenden Kraft der Sonne stellt (zu dieser Zeit wurde in der Tuberkulosebekämpfung auch die Heliotherapie, die Bestrahlung des ganzen Körpers mit Höhensonne, praktiziert).70

9 Gerhard Riebicke: Morgen, Filmstill, aus: Wilhelm Prager (Regie): Wege zu Kraft und Schönheit, Deutschland 1924/25

Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie, Ausst.-Kat. Münchner Stadtmuseum. München 1997, S. 341–355; Ulf Erdmann Ziegler: Nackt unter Nackten. Utopien der Nacktkultur 1906–1942. Berlin 1990, hier: S. 7–27. 68 | Siegfried Kracauer in seiner Filmkritik, zit. n. Gisela Barche: Als der siebte Schleier fiel. Tanz und Gymnastik auf dem Weg zu neuem Körperbewusstsein?. In: Köhler; Barche 1997 (Anm. 67), S. 356–362, hier: S. 358; allgemein zum Film vgl. http://www.filmportal.de/film/wege-zu-kraftund-schoenheit_e81ba04777a341bf8de37ac7369e1dbd (November 2012). 69 | Vgl. Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. 2, Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Darmstadt 2001, S. 395. Die Postkarte erschien im Ross-Verlag, Berlin mit der Nummer 27/3. 70 | Vgl. Christof Kübler: Die architektonische Moderne: formgewordene Hygiene! In: Anna Meseure; Martin Tschanz; Wilfried Wang (Hg.): Schweiz (Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 5), Ausst.-Kat. Deutsches Architektur-Museum Frankfurt a. M., London, München, New York 1998, S. 98–103, hier: S. 100f.

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Wie Kolbes Aktfigur hat die rechte Tänzerin das Gewicht auf die Zehenspitzen verlagert, geht bei eng geschlossenen Beinen leicht in die Knie, dreht den Oberkörper auf ihre linke Seite und hebt die abgewinkelten Arme. Diese vom klassisch-antiken Bewegungskanon abweichende Körperhaltung ist typisch für den Ausdruckstanz der 1920er Jahre und muss Kolbe als Vorbild gedient haben; ein Umstand, den auch die frühere Bezeichnung „Tänzerin“ belegt. Die Postkarte trägt zudem den Titel Morgen, sodass die verzögerte Einführung dieses Titels für Kolbes Skulptur erst nach dessen Tod, die, wie Claudia Beckmann annimmt,71 wohl im Einverständnis mit dem Künstler geschah, vermutlich der Verwischung der Spuren zur Vorlage diente. Es liegt nahe, dass die Wahl von Kolbes „Nackttänzerin“ keine zufällige war und nicht bloß damit zu begründen ist, dass Mies mit Kolbe bekannt war und er eine anthropomorphe Figur als Kontrast zu seiner abstrakten Architektur benötigte,72 sondern einen programmatischen Zweck verfolgte: Die moderne Architektur mit ihren glatten, nackten Wänden, mit ihrer Transparenz, mit ihrer Beschwörung von Licht, Luft und Hygiene, diese neue Architektur sollte als Äquivalent des neuen Körpergefühls und der Lichtmystik der Lebensreformbewegung erscheinen. Mies van der Rohe machte mit der Aufstellung der „Tänzerin“ im Wasserbecken aus dieser Gestalt aber auch ein mythisches Bild: Die nackte Frau, die über der Wasseroberfläche schwebt und dabei zum Leben erwacht, erinnert allzu deutlich an die Geburt der Venus. Jeff Wall vervollkommnet nun dieses mythische Bild, indem er den Schaum hinzufügt: Aus der schaumgeborenen Aphrodite wird die badeschaumgeborene, hygienebewusste Frau des lebensreformierten Deutschland, das Typhus, Cholera und Tuberkulose besiegt hat. Morning Cleaning schließt Kolbes Figur also mit den beiden entgegengesetzten Enden der Lebensreform kurz: dem religiös-mythischen und dem hygienischen Aspekt, der bei Mies nur in sublimierter Form – als die Keuschheit des Morgens und die abstrakte Reinheit seiner Architektur – existiert. Die von Wall betriebene Entsublimierung setzt dabei nur konsequent fort, was das Resultat der Rekonstruktion des Pavillons ist: die Umsetzung auratisch-abstrakter Schwarzweißfotografien in Glas, Marmor und korrosionsfreiem Edelstahl. Die Erkenntnis, dass auch die moderne Architektur ein Produkt des Hygienediskurses ist, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Architektenkreisen durchaus geläufig73 und wurde erst in den letzten Jahren wiederentdeckt.74 71 | Vgl. Beckmann 2006 (Anm. 62), S. 40. 72 | Vgl. ibid., S. 45–48. 73 | Vgl. Hermann Muthesius: Die Einheit der Architektur. Betrachtungen über Baukunst, Ingenieurbau und Kunstgewerbe. Vortrag, gehalten am 13. Februar 1908 im Verein für Kunst in Berlin. Berlin 1908, S. 42ff. 74 | Vgl. Kübler 1998 (Anm. 70); Stanislaus von Moos: Das Prinzip Toilette. Über Loos, Le Corbusier und die Reinlichkeit. In: Roger Fayet (Hg.): Verlangen nach Reinheit oder Lust auf Schmutz?

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Die Forderungen nach mehr Licht und Frischluft durch große Fensterflächen, nach glatten, abwaschbaren Materialien wie Stahl, Fliesen, Linoleum und Glas, stammen ursprünglich aus den Hygienevorschriften für die Spitäler des späten 19. Jahrhundert. 1929, im Jahr des Barcelona-Pavillons, veröffentlichte Sigfried Giedion sein Befreites Wohnen, worin er die Krankenhausarchitektur als das große Vorbild für den Wohnbau zitierte. Schon 1898 hatte Adolf Loos in seinem Artikel „Die Plumber“ das amerikanische Sanitärwesen gelobt, um dann angesichts der hiesigen prekären Sanitärverhältnisse „Deutschland gehört ins bad“ auszurufen.75 Im Bezug auf den Barcelona-Pavillon könnte man sagen, Deutschland ist im Bad angekommen – zumindest in seiner Interpretation durch Jeff Wall.76

Gestaltungskonzepte zwischen rein und unrein, Wien 2003, S. 41–58; Anselm Wagner: Otto Wagners Straßenkehrer. Zum Reinigungsdiskurs der modernen Stadtplanung. In: bricolage. Innsbrucker Zeitschrift für Europäische Ethnologie, Nr. 6, 2010, S. 36–61; Wagner 2013 (Anm. 60). 75 | Adolf Loos: Die Plumber [1898]. In: Ibid.: Ins Leere gesprochen. Paris, Zürich 1921, Nachdruck, Wien 1981, S. 101–107, hier S. 105. 76 | Den ersten Anstoß zu diesem Text gab eine Lehrveranstaltung mit Studierenden der Meisterklasse von Walter Obholzer an der Akademie der bildenden Künste, Wien, mit denen ich im Sommersemester 2003 Morning Cleaning in der Ausstellung „Jeff Wall: Photographs“ im Museum Moderner Kunst einer eingehenden Analyse unterziehen konnte. Frühere Fassungen wurden als Vorträge am 7.7.2003 an der Kunstuniversität Linz, am 24.3.2004 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und am 17.3.2005 im Grazer Kunstverein vorgestellt. Für ihre Diskussionsbeiträge danke ich den damaligen Studierenden und ZuhörerInnen sehr herzlich, ebenso den TeilnehmerInnen der Krefelder Tagung „Mies 125“ von 2011, deren kritische Fragen mitgeholfen haben, manches noch präziser zu formulieren. Eine in den Vorträgen ausgeführte feministische Lektüre im Hinblick auf Duchamps Großes Glas wurde hier aus Platzgründen weggelassen, da diese – auf natürlich etwas andere Weise – mittlerweile unabhängig von mir von Conley 2009 (Anm. 6) ausführlich dargestellt worden ist. Für die Mithilfe bei der Bild- und Literaturbeschaffung danke ich Michaela Böllstorf, Florian Engelhardt, Toni Levak und Gerhard Moderitz.

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Bibliografie Baeschlin, Alfredo: Barcelona und seine Weltausstellung. In: Deutsche Bauzeitung, Bd. 63, Nr. 57, 17.7.1929, S. 497–504. Barche, Gisela: Als der siebte Schleier fiel. Tanz und Gymnastik auf dem Weg zu neuem Körperbewusstsein? In: Köhler, Michael; Barche, Gisela (Hg.): Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie. Ausst.-Kat. Münchner Stadtmuseum. München 1997, S. 356–362. Baudelaire, Charles: Der Maler des modernen Lebens, in: Ibid.: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5, hg. v. Kemp, Friedhelm; Pichois, Claude, München, Wien 1989, S. 213–229. Beckmann, Claudia: Die Statue Morgen im Barcelona-Pavillon. In: Berger, Ursel; Pavel, Thomas (Hg.): Barcelona Pavillon. Mies van der Rohe & Kolbe. Architektur & Plastik. Berlin 2006, S- 34–51. Berger, Ursel; Pavel, Thomas (Hg.): Barcelona Pavillon. Mies van der Rohe & Kolbe. Architektur & Plastik. Berlin 2006. Berger, Ursel: Georg Kolbe. Leben und Werk. Mit einem Katalog der Kolbe-Plastiken im Georg-Kolbe-Museum. Berlin 1994. Bernoulli, Hans: Der Pavillon des Deutschen Reiches und Internationalen Ausstellung, Barcelona 1929. In: Werk, Bd. 11, November 1929, S. 350f. Bier, Justus: Mies van der Rohes Reichspavillon in Barcelona. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, Bd. 4, H. 16, 1929, S. 423–430. Brückle, Wolfgang: Almost Merovingian: On Jeff Wall’s relation to nearly everything. In: Art History 32, Nr. 5, Dezember 2009, S. 977–995. Brückle, Wolfgang: Almost Merovingian: On Jeff Wall’s relation to nearly everything. In: Castello, Diarmuid; Iversen, Margaret (Hg.): Photography after Conceptual Art. Malden. Oxford 2010, S. 153–171. Buchholz, Kai u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 2, Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Darmstadt 2001. Burnett, Craig: Jeff Wall. London 2005. Chevrier, Jean-Francois: Metamorphose des Ortes, in: Vischer, Theodora; Naef, Heidi (Hg.): Jeff Wall. Catalogue Raisonné. Basel, Göttingen 2005, S. 12–32. Conley, Christine: Morning Cleaning: Jeff Wall and The Large Glass. In: Art History, Bd. 32, Nr. 5, Dezember 2009, S. 996–1015. Conley, Christine: Morning Cleaning: Jeff Wall and The Large Glass. In: Castello, Diarmuid; Iversen, Margaret (Hg.): Photography after Conceptual Art. Malden, Oxford 2010, S. 172–191. Dodds, George: Building Desire: On the Barcelona Pavilion. Milton Park, New York 2005.

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Abbildungen 1

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Sasha Stone (?)/Berliner Bild-Bericht: Innenansicht des Pavillons des Deutsches Reiches, Weltausstellung Barcelona 1929, SilbergelatineAbzug, 16,5 x 22,5 cm, The Museum of Modern Art, New York, Mies van der Rohe-Archiv (MMA 1814) Jeff Wall: Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona, 1999, Großbilddia im Leuchtkasten, 187 x 351 cm © Jeff Wall Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Alejandro) © Jeff Wall Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Blick auf die Straße) © Jeff Wall Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Teppich) © Jeff Wall Jeff Wall: Morning Cleaning, Detail (Georg Kolbes Morgen) © Jeff Wall Georg Kolbe: Der Morgen, 1925, Ausstellung des Gipsmodells im Glaspalast, München, 1927, Georg-Kolbe-Museum, Berlin © VBK, Wien 2013 Walter Gropius: Musterfabrik, Werkbundausstellung Köln 1914, BauhausArchiv, Berlin © VBK, Wien 2013 Gerhard Riebicke: Morgen. Filmstill zu Wilhelm Prager (Regie): Wege zu Kraft und Schönheit, Deutschland (UFA) 1924/25

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Autorinnen und Autoren

Ole W. Fischer , seit 2011 Assistant Professor for History & Theory of Architecture

an der School of Architecture, University of Utah. Studium an der Bauhaus Universität Weimar und der ETH Zürich. 2008 Dissertation zur programmatischen Übertragung der Philosophie Friedrich Nietzsches in Theorie und Werk Henry van de Veldes, publiziert als Nietzsches Schatten. Henry van de Velde – Von Philosophie zu Form, Berlin 2012. Gastforscher der Klassik Stiftung Weimar (2004/2005), Stipendiat der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart (2008/2009), Research Fellow an der Graduate School of Design der Harvard University (2009–11). Fischer war Co-Veranstalter der Symposien „Explorations“ im Rahmen des Schweizer Pavillons der Biennale di Venezia 2008 und Co-Generalkommissar des deutschen Beitrages der Biennale di Venezia 2010. Internationale Publikationen zu Fragen der Geschichte und Theorie der Architektur (u.a. in Archithese; Journal of Society of Architectural Historians; MIT Thresholds; Archplus und GAM); Co-Herausgeber von Precisions – Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst (mit Ákos Moravánszky), Berlin 2008) und Sehnsucht – A book of architectural longings (mit C. Rau u. E. Tröger), Wien 2010. mail@owfischer.com Vendula Hnídková , Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Architekturgeschichte am Institut für Kunstgeschichte, Akademie der Wissenschaften, Prag (seit 2005). Seit 2012 auch Kuratorin der Window Gallery UDU in Prag. Studium der Kunstgeschichte an der Masaryk Universität, Brno (1996–2004); im Anschluss Studium der Theorie und Geschichte des Designs an der Akademie der Künste, Architektur und Design, Prag (2005 – 2011). Promotion 2011 eben dort mit der Arbeit: Pavel Janák, Organizátor života (Der Organisator des Lebens). Derzeit Forschung zum Thema Moscow 1937 – Architecture and Propaganda from the Western Perspective sowie Konzeption der Ausstellung National Style – Art and Politics in

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der Nationalgalerie in Prag 2013. Publikationen (Auswahl): National Style – Art and Politics, Prag 2013; Pavel Janák. Obrys doby, Prag 2009. In Vorbereitung ist Pavel Janák – Organizátor života (Der Organisator des Lebens), Prag 2014. [email protected] Christiane Lange, Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Bonn und Regensburg. Mitglied des DFG Projektes „Arbeitskreis Werkverzeichnis der Möbel und Möbelentwürfe von Mies van der Rohe“ (Leiter: Wolf Tegethoff, ZIK München) und Mitbegründerin von „projektMIK“, Krefeld. Forschung, Ausstellungen und Filme zum europäischen Werk von Mies van der Rohe und Lilly Reich, darunter die Publikationen Mies und Reich. Möbel und Räume, Ausst. Kat. Haus Lange, Krefeld, Ostfildern 2007; Die Zusammenarbeit von Lilly Reich und Mies van der Rohe, in: Mies und das neue Wohnen, hg. v. H. Reuter und B. Schulte, Ostfildern 2009. Zuletzt erschienen Mies van der Rohe, Bauten für die Seidenindustrie, Berlin 2011 sowie der Film Mies in Krefeld (mit Helge Drafz, produziert von Mic Thiemann), 2011. Ausstellungsprojekte in Vorbereitung: Die Textilingenieureschule von Bernhard Pfau (2013); Mies van der Rohe – Das 1:1 Modell (2013). [email protected] Lutz Robbers , Studium der Theorie und Geschichte der Architektur an der Yale

University (1998–1999) und der Princeton University (2000-2005). Promotion zum Thema: Modern Architecture in the Age of Cinema, 1911-1930: Mies van der Rohe and the Culture of the Moving Image in Princeton. Seit 2010 Research Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM), Bauhaus-Universität Weimar, Mitglied des Forschungsprojektes „Werkzeuge des Entwerfens“. Lehrtätigkeiten in Deutschland, Frankreich und den USA. Kuratorische Tätigkeit an der Cité de l‘architecture et du patrimoine, Paris (2003-2004). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Cities Programme“ der London School of Economics. Zu seinen Publikationen zählen In the City’s Soft Image: Mies van der Rohe and Cinematic Time, in: Design and Cinema: Form Follows Film, hg. v. Belkis Uluoglu, Ayhan Ensici u. Ali Vatansever, Newcastle upon Tyne, 2006 sowie Espaces pour jeux de lumière: Mies van der Rohe, le cinéma, l‘innervation, in: Spielraum: Walter Benjamin et l‘architecture, hg. v. Libero Andreotti. [email protected] Theres Sophie Rohde , Studium der Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar

und der Università degli Studi di Modena e Reggio Emilia, Italien (2003–2009). Seit 2011 Stipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ (Weimar, Jena, Erfurt) mit einem Promotionsprojekt zum Thema Die Bau-Ausstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder ‚Die Schwierigkeit zu wohnen‘. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am „Bauhaus.TransferzentrumDESIGN“ und der

A UTORINNEN UND A UTOREN

Bauhaus-Universität Weimar (2009–2011), Co-Autorin und redaktionelle Mitarbeiterin beim Buchprojekt zum Bauhaus-Spaziergang in deutscher und englischer Sprache: Bauhaus-Spaziergang. In Weimar unterwegs auf den Spuren des frühen Bauhauses (hg. v. Michael Eckardt, Weimar 2009) sowie Herausgeberin von Van-de-Velde-Spaziergang. Auf den Spuren Henry van de Veldes an der BauhausUniversität Weimar (mit Christian Tesch), Weimar 2012. [email protected] Arne Schmitt , Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buch-

kunst, Leipzig (2005–2011), lebt in Brüssel. Künstlerische Beschäftigung mit der Architektur der Nachkriegszeit. Zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen, darunter die Einzelausstellungen Wenn Gesinnung Form wird / Verflechtungen, Sprengel Museum, Hannover, 2012–2013; Un Citie Wien (Galerie Mikro, Düsseldorf, 2010); It was the Streets that raised me, Streets that paid me, Streets that made me a Product of my Environment (mit Andrzej Steinbach), Leipzig, 2009. Aktuelle Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl): F-Stop. The History of Now. 5. Festival für Fotografie, Leipzig, 2012; Kunststudentinnen und Kunststudenten stellen aus, Kunst- und Ausstellungshalle Bonn, 2011. Publikation von zahlreichen selbstverlegten Künstlerbüchern; außerdem erschienen 2012 It was the Streets that raised me, Streets that paid me, Streets that made me a Product of my Environment (mit Andrzej Steinbach) sowie Wenn Gesinnung Form wird. Eine Essaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD bei Spector Books, Leipzig. [email protected] Anselm Wagner, seit 2010 Professor für Architekturtheorie und Vorstand des Instituts für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Graz. Derzeit Arbeit am Forschungsprojekt „Reinheit und Schmutz als ästhetische Kategorien seit der Moderne“. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Klassischen Archäologie an den Universitäten von Salzburg und München (1983–91), 2002 Promotion. Zuletzt Fulbright Visiting Professor an der University of Minnesota, Minneapolis, Department of Art History (2009); Gastprofessuren an der TU Graz (2008) und der TU Wien (2002/03). Autor zahlreicher Aufsätze zur Kunst und Architektur der Gegenwart, der Institutions- und Wissenschaftsgeschichte sowie Herausgeber von Heinrich Schwarz: Techniken des Sehens – vor und nach der Fotografie (Salzburg 2006); Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur (Wien, Berlin 2010, 2. Aufl. 2012); Was bleibt von der „Grazer Schule“? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited (mit Antje Senarclens de Grancy, Berlin 2012); Staub. Perspektiven aus Kunst, Natur- und Kulturwissenschaften (mit Daniel Gethmann, Wien, Berlin 2013). In Vorbereitung sind Konrad Frey: Haus Zankel. Experiment Solararchitektur (mit Ingrid Böck, Berlin 2013) und Is There (Anti-)Neoliberal Architecture? (mit Ana Jeinic, Berlin 2013). [email protected]

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M IES VAN DER R OHE IM D ISKURS Paul Weber , Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in München, Ham-

burg und Berlin. Innovationsforschung. Schwerpunkte: Mies van der Rohe, Kandinsky und Duchamp. Seit 2001 mit Andreas Marx „Projekt Mies van der Rohe“, gemeinsame Publikationen u. a. im Jahrbuch des Landesarchivs Berlin, in architectura, in Mies van der Rohe. Frühe Bauten. Probleme der Erhaltung – Probleme der Bewertung, hg. von Johannes Cramer und Dorothee Sack, Petersberg 2004 und in Mies und das neue Wohnen. Räume, Möbel, Fotografie, hg. v. Helmut Reuter und Birgit Schulte, Ostfildern 2008. Letzte Publikationen: Ludwig Mies’ unrealisierte Teilnahme an der ‚Ausstellung für unbekannte Architekten‘ (1919). Materialien zur Entwicklungsgeschichte Mies van der Rohes, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2009, hg. v. Uwe Schaper, Berlin 2009; Zu Kandinsky: The Special Relationship of IZO NKP‘s ‚International Bureau‘ to the German Revolutionary Workers’ and Soldiers’ Soviet in the Moscow Consulate General (1918/19): Kandinsky’s Art Politics after the November Revolution in Germany and the Role of Ludwig Baehr, Tagungsbeitrag Kongress St. Petersburg 2011; in Vorbereitung ist Kandinskys Pädagogik des inneren Bildes. [email protected]

Architekturen Eduard Heinrich Führ DIE MAUER Mythen, Propaganda und Alltag in der DDR und in der Bundesrepublik Januar 2014, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1909-6

Achim Hahn (Hg.) Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Atmosphären im architektonischen Entwurf 2012, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2100-6

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes 2011, 366 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1551-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Architekturen Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes Februar 2013, 448 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5

Sonja Hnilica Metaphern für die Stadt Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie 2012, 326 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2191-4

Sonja Hnilica, Markus Jager, Wolfgang Sonne (Hg.) Auf den zweiten Blick Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen 2010, 280 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1482-4

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Architekturen Anita Aigner (Hg.) Vernakulare Moderne Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung

Alexandra Klei Der erinnerte Ort Geschichte durch Architektur. Zur baulichen und gestalterischen Repräsentation der nationalsozialistischen Konzentrationslager

2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1618-7

2011, 620 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1733-7

Ekkehard Drach Architektur und Geometrie Zur Historizität formaler Ordnungssysteme

Joaquín Medina Warmburg, Cornelie Leopold (Hg.) Strukturelle Architektur Zur Aktualität eines Denkens zwischen Technik und Ästhetik

2012, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2002-3

Michael Falser, Monica Juneja (Hg.) Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis Januar 2013, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2091-7

Julia Gill Individualisierung als Standard Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1460-2

2012, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1817-4

Gerhard Schnabl Architektur zwischen »Drinnen« und »Draußen« Zugangsinszenierungen metropolitaner Hochhäuser 2012, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2254-6

Tom Schoper Zur Identität von Architektur Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung 2010, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1587-6

Maren Harnack Rückkehr der Wohnmaschinen Sozialer Wohnungsbau und Gentrifizierung in London 2012, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1921-8

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